Gesetz und lebendes Recht: Vermischte kleinere Schriften. Hrsg. von Manfred Rehbinder [1 ed.] 9783428460373, 9783428060375


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German Pages 260 Year 1986

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Gesetz und lebendes Recht: Vermischte kleinere Schriften. Hrsg. von Manfred Rehbinder [1 ed.]
 9783428460373, 9783428060375

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 61

EUGEN EHRLICH

Gesetz und lebendes Recht Vermischte kleinere Schriften herausgegeben

von Manfred Rehbinder

Duncker & Humblot · Berlin

Eugen Ehrlich: Gesetz und lebendes Recht

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben von Prof. Dr Maufred Rehbinder

Band 61

EUGEN EHRLICH

Gesetz und lebendes Recht Vermischte kleinere Schriften

herausgegeben

von Manfred Rehbinder

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

CIP-KurzUtelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ehrlich, Eugen: Gesetz und lebendes Recht: vermischte kleinere Schriften I Eugen Ehrlich. Hrsg. von Manfred Rehbinder. - Berlin: Dunck:er und Humblot. 1986. (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd. 61) ISBN 3-428-06037-7

NE: GT

Alle Recnte vorbehalten

© 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Satz: M. Themessl, Berlln 61; Druck: A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Pr!nted in Germany ISBN 3-428-06037-7

INHALT Einleitung des Herausgebers ........................................

7

1. Arbeiterschutz im Privatrechte (aus: Arbeiterschutz 11 [1891], S. 209 - 243 [in Fortsetzungen]) ......

11

2. Die soziale Frage im Privatrechte (aus: Juristische Blätter XXI [1892], S. 97 - 135 [in Fortsetzungen]).

24

3. Anton Menger (aus: Süddeutsche Monatshefte 111 2 [1906], S. 285 - 318) ............

48

4. Soziologie und Jurisprudenz (aus: Osterreichische Richter-Zeitung III 1 [1906], Sp. 57 - 72) ......

88

5. Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts (Inaugurationsrede, gehalten am 2. Dez. 1906, Leipzig und Wien 1907) 104 6. Zur Frage der juristischen Person (aus: Osterreichische Richter-Zeitung IV 1 [1907], Sp. 115 - 127) .... 133 7. Die Neuordnung der Gerichtsverfassung (aus: Deutsche Richterzeitung 1912, Sp. 436 - 465, 563) .............. 146 8. Soziologie des Rechts (aus: Die Geisteswissenschaften 1913/14, S. 202 - 205 und 230 - 234) .. 179 9. Montesquieu and Sociological Jurisprudence (aus: Harvard Law Review 29 [1915/16], S. 582 - 600) ............... 195 10. Eine Hochschule für Gesellschaftswissenschaften (Denkschrift im Selbstverlag des Verfassers, Wien 19'16) ............ 211 11. Gesetz und lebendes Recht (aus: Högaku Kyokai Zasshi 38 [Tokyo 1920] Nr. 12, S. 1 - 22) ...... 228 12. Die Soziologie des Rechts (aus: Högaku Kyokai Zasshi 40 [Tokyo 1922] Nr.2, S. 1 - 22) ...... 241 Autorenverzeichni's .................... . . . ........ . .................. 255 Sachverzeichnis ...................................................... 257

EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS Als ich im Jahre 1967 zusammen mit meiner Monographie über Eugen Ehrlich eine Sammlung einiger Schriften von Ehrlich zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre unter dem Titel "Recht und Leben" herausgab, war mein Ziel, wie ich in der Einleitung hervorgehoben habe, das verlorengegangene Manuskript des von Ehrlich geplanten, nach seinem Tode von Franz Kobler aus Vorveröffentlichungen zusammengestellten Ergänzungsbandes zu seiner berühmten "Grundlegung der Soziologie des Rechts" (1913) zu rekonstruieren. Wenn ich nunmehr einen zweiten Sammelband von Schriften Ehrlichs vorlege, die für sein Lebenswerk heute noch von besonderer Bedeutung, jedoch zum größten Teil nur äußerst schwer zugänglich sind, so geschieht das vor allem im Hinblick auf Veröffentlichungen, die inzwischen in Japan aufgefunden wurden und die der europäischen Forschung bisher entweder nicht zugänglich oder bei der Wiederentdeckung von Ehrlichs Werk entgangen waren. Zwei dieser Schriften wurden entdeckt, als durch meine Vermittlung in dem von Paul Eubel herausgegebenen Standardwerk: Das japanische Rechtssystem (1979) ein Beitrag von Zensuke Ishimura über die japanische Rechtssoziologie erschien. Dort berichtet Ishimura. daß der Begründer der japanischen Rechtssoziologie, Itsotaro Suehiro, damals Professor für Bürgerliches Recht an der Universität Tokyo, zusammen mit weiteren jüngeren Wissenschaftlern aus Japan, im Jahre 1920 Ehrlich in Bern getroffen habe und daß Ehrlich auf ihren Wunsch l der Fakultätszeitschrift in Tokyo zwei Aufsätze zur Verfügung gestellt habe, die dort in japanischer übersetzung, aber auch im Original erschienen seien. Der erste dieser Aufsätze hat nun dieser Sammlung den Titel gegeben: Gesetz und lebendes Recht. Hier geht Ehrlich auf die soziologischen Gründe und Bedingungen der Rezeption des Ersten Entwurfs für das deutsche BGB in Japan ein und empfiehlt Themen für eine Untersuchung des lebenden Rechts in der japanischen Gesellschaft. Welche Bedeutung das Problem der Rezeption für die Rechtssoziologie hat, ist später immer wieder von Ernst E. Hirsch herausgestellt worden2• Ehrlich wußte hierzu Wesentliches zu sagen. Der zweite Aufsatz mit dem 1 Bereits in Arthur T. von Mehren (ed.): Law in Japan, 1963, S.35, hatte Kenzo Takayanagi berichtet, dieses sei auf seinen Wunsch geschehen. 2 Siehe Ernst E. Hirsch: Rezeption als sozialer Prozeß, 1981.

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Einleitung des Herausgebers

Titel "Die Soziologie des Rechts" ist die deutsche Originalversion einer Zusammenfassung seiner soziologischen Rechtstheorie, die Ehrlich kurz vor seinem Tode fertig gestellt hatte und die bisher nur in englischer und italienischer Übersetzung als Veröffentlichung in der Harvard Law Review und in der Rivista Internazionale di Filosofia deI Diritto bekannt war. Sie enthält die für die Einschätzung des staatlichen Rechts sehr wichtige Korrektur Ehrlichs durch Ersetzung des Begriffs der Eingriffsnormen mit dem Begriff der Verwaltungsnormen. Eine weitere Entdeckung von Schriften Ehrlichs verdanken wir dem Spürsinn von Rin-Itsu Kawakami (Universität Kyoto). Dieser wußte, daß Ehrlich in seiner Jugend nicht nur engen Kontakt mit Anton Menger hatte, sondern auch mit dessen Bruder, dem Volkswirtschaftler Carl Menger3. Kawakami fand heraus, daß die Privatbibliothek Carl Mengers nach dem Ersten Weltkrieg nach Japan verkauft wurde und sich heute an der Hitotsubashi-Universität in Tokyo (Kunitachi-shi) befindet. Dort fand Kawakami eine Reihe von handschriftlich gewidmeten Sonderdrucken der frühen Schriften EhrIichs vor. Von diesen Arbeiten habe ich die Aufsätze "Arbeiterschutz im Privatrechte" und "Die soziale Frage im Privatrechte" ausgewählt und zusammen mit seiner Würdigung Anton Mengers veröffentlicht. Sie machen deutlich, daß Ehrlichs soziologische Rechtstheorie als Antwort auf die damals sog. soziale Frage entstanden ist und daß sich Ehrlich nur deshalb von Mengers nicht-marxistischem Sozialismus lossagte, weil er sich von einer Staatswirtschaft im Gegensatz zu Menger nichts versprach. Prof. Kawakami fand auch die Denkschrift über eine Hochschule für Führungskräfte, die Ehrlich während 'des Ersten Weltkrieges als Privatdruck an ausgewählte Persönlichkeiten verteilt hatte und die hier vereint mit seiner Stellungnahme für den Deutschen Richterbund zur Reform der Gerichtsverfassung abgedruckt ist4 • Aus beiden wird die praktische Relevanz seiner Rechtssoziologie deutlich. Die kleine Studie über die juristische Person zeigt, wie das gesellschaftsrechtlich heute noch aktuelle Problem einer Begrenzung der Managermacht in den Kapitalgesellschaften angesichts des Charakters der Generalversammlungen als "Jasager-Gesellschaften" im Sinne einer soziologischen Jurisprudenz angegangen werden kann. Da Ehrlich seiner Rechtssoziologie nicht den heute üblichen historischen Ideenabriß voranstellt, ist seine Stellungnahme zu einem der wichtigsten Vorläufer, Montesquieu, von großem 3

Dessen Bibliothek erwähnt Ehrlich in: Anton Menger (1906), in diesem

Bande S.8I.

4 Die letztere Abhandlung hatte Ehrlich, wie aus der hier nicht wiederabgedruckten Vorrede hervorgeht, eigentlich als Bestandteil der geplanten Neuauflage seiner "Freien Rechtsfindung" und damit seiner "Grundlegung"

vorgesehen.

Einleitung des Herausgebers

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Interesse, und die hier aus der Harvard Law Review entnommene Arbeit macht schmerzlich deutlich, daß eine entsprechende Arbeit von Ehrlich über Jhering fehlt. Es ist zweifelhaft, ob von der Arbeit über Montesquieu eine deutsche Fassung existiert, da Pound hierzu berichtet, Ehrlich habe Englisch so ausgezeichnet beherrscht, daß man sein Manuskript habe ohne jede Änderungen abdrucken könnens. Im übrigen habe ich die verschiedenen Kurzfassungen zum Abdruck gebracht, die Ehrlich von seiner Rechtssoziologie gegeben hat, von der Rektoratsrede aus dem Jahre 1906, wo er das gesellschaftliche Recht noch Gewohnheitsrecht nennt, aber die Lehre von den Rechtstatsachen bereits fertig entwickelt hat, über die gleichzeitig mit der Grundlegung erschienene Zusammenfassung, die für Juristen kaum zugänglich ist, bis zur letzten revidierten Fassung kurz vor seinem Tode. Da eine thematische Gruppierung der Arbeiten wenig sinnvoll gewesen wäre, weil sie sich inhaltlich überschneiden, habe ich sie nur nach ihrer Erscheinungszeit geordnet. Kyoto, im Dezember 1985 Manfred Rehbinder

S

Roseoe Pound: An Appreciation of Eugen Ehrlich, Harvard Law Review 36

(1922/23), S. 129, 130.

ARBEITERSCHUTZ IM PRIVATRECHTE· Es ist eigentlich ein innerer prinzipieller Widerspruch, von einem Arbeiterschutz im Privatrechte zu sprechen. Denn das Privatrecht ist eben jenes Rechtsgebiet, welches Vermögensrecht und Familienrecht umfaßt und das von aItersher und grundsätzlich der staatlichen Einmischung entrückt ist. Es entstand in uralter Zeit, lange bevor wir die ersten Spuren einer staatlichen Organisation finden, und war damals selbstverständlich frei von jeder Einmengung des noch nicht bestehenden Staates. Als 'dann der Staat sich zu entwickeln begann, beschränkte er sich überall darauf, das Privatrecht in dem hergebrachten Umfange zu schützen: er wagt es während einer langen Periode nicht, das Privatrecht zu regeln, sondern läßt Eigentumsrecht, Vertragsrecht, Schadenersatzrecht, Erbrecht und Familienrecht geregelt sein durch alte, noch von der vorstaatlichen Periode herrührende Gewohnheiten und Gebräuche. Und so ist es auch bis heute geblieben. Seinem Grundstock nach ist Eigentumsrecht, Vertragsrecht, Schadenersatzrecht, Erbrecht und Familienrecht altes Gewohnheitsrecht und unterscheidet sich wesentlich von dem öffentlichen Rechte, dem im Staate und durch den Staat entstandenen Rechtssysteme. In dieser Freiheit des Privateigentums vor jedem staatlichen Eingriff besteht eben die viel ge rühmte "Freiheit des Eigentums". Dagegen bedeutet der Ausdruck "Arbeiterschutz" eine Reihe direkt vom Staate ausgehender Reformen, von denen jede nichts anderes ist als ein staatlicher Eingriff in die althergebrachte Eigentumsfreiheit. Diese Reformen, welche die jetzige Gesellschaft dem Arbeiterstande gewähren muß und auch zu gewähren gewillt ist, decken sich selbstverständlich keineswegs mit jenen, welche die Arbeiter verlangen, aber sie bilden einen Teil der letzteren. Der Inbegriff jener Reformen, welche der Arbeiterstand von der Gesellschaft fordert, involviert eine vollständige Änderung der Produktionsweise. Der Arbeiterschutz bedeutet den wichtigsten Teil jener Reformen, welche die moderne Gesellschaft dem Arbeiterstande schon heute zu gewähren Willens und in der Lage ist. Der Arbeiterstand verwechselt keineswegs das Geforderte mit dem Gewährten, aber das hindert ihn nicht, den Wert dessen, was er erhält, anzuerkennen. In der Tat leugnet heute niemand mehr, daß eine ehr• Die Orthographie des Erstabdrucks wurde der heutigen Schreibweise angepaßt (M. R.).

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Arbeiterschutz im Privatrechte

liche und ehrlich gehandhabte Arbeiterschutzgesetzgebung von den wohltätigsten Folgen für die Arbeiterklasse sein kann. Ich gehe daher wohl nicht zu weit, wenn ich behaupte, daß die zukünftige Gesetzgebung noch geraume Zeit unter dem Zeichen des Arbeiterschutzes stehen wird. Aber bisher hatte die Arbeiterschutzgesetzgebung einen ganz eigentümlichen Charakter, welcher zwar mit Rücksicht auf die kurze Zeit, seitdem sie überhaupt besteht, erklärlich ist, aber ihr keineswegs zum Vorteile gereichte. Sie ist nämlich nach allen Richtungen hin eine Ausnahmegesetzgebung. Sie hatte ganz neue Grundsätze in den verknöcherten Bau unserer Rechtsordnung hineingepfropft, aber diese sind ihr fremd geblieben, sie haben sich bisher weder ihr assimiliert, noch assimilierte sich ihnen die Rechtsordnung. Es sind zwei Welten, die ineinander hineinragen. Die Grundsätze des Arbeiterschutzes beziehen sich heutzutage nur auf einen geringen Teil der Bevölkerung: auf das Proletariat; nur auf einen geringen Teil des Proletariats: auf den Arbeiterstand; und nur auf einen geringen Teil des Arbeiterstandes: auf die gewerblichen Arbeiter; und ihrem ganzen Umfange nach nur auf einen geringen Teil des gewerblichen Arbeiterstandes: auf die Fabrikarbeiter. Endlich hat sie der Arbeiterstand stets nur ruckweise erhalten, ohne inneren Zusammenhang und innere Durchbildung, es wurden einzelne Konzessionen gemacht, je nachdem man dazu aufgelegt war, je nachdem sie abgerungen wurden. Mit einem Wort: Die heutige Arbeiterschutzgesetzgebung ist Stückwerk. Diese Mängel der heutigen Arbeiterschutzgesetzgebung zeigen, welche Bedeutung der eigenartige Versuch des Professors an der Wiener Universität, Anton Menger, hat, den dieser bei Gelegenheit einer Kritik des Entwurfes eines bürgerlichen GesetZbuches für das Deutsche Reich machte: den Grundgedanken des Arbeiterschutzes in das allgemeine Privatrecht einzuführen!. Dadurch wäre vor allem erreicht worden, daß die Arbeiterschutzgesetzgebung aufhören würde, eine Ausnahmegesetzgebung zu sein, daß sie nicht, wie dies für jede andere Ausnahmegesetzgebung als Regel gilt, in einer möglichst einschränkenden Weise gehandhabt werden müßte, sondern daß im Gegenteil ihre Grundsätze zu Grundsätzen des ganzen bürgerlichen Rechts erhoben worden wären. Ferner würden dadurch Grundsätze der Arbeiterschutzgesetzgebung, wenn sie prinzipiell anerkannt werden, in einer Menge von Verhältnissen in Anwendung gebracht werden, auf welche sie bisher, infolge der sprungweisen Entwicklung dieses Rechtsgebietes, nicht bezogen wurden. Endlich würden sie in Betreff aller Bevölkerungsklassen in ! Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksclassen. Eine Kritik des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich von Dr. Anton Menger, Professor der Rechte an der Universität Wien. Zweites und drittes Tausend, Tübingen 1890.

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Anwendung kommen, nicht bloß in Betreff eines kleinen Bruchteils der Lohnarbeiter. Der Wert dieser Bestrebungen ist jedenfalls sehr bedeutend. Ihre Wichtigkeit besteht vor allem darin, daß sie sich gerade auf das Privatrecht, oder wie es bezeichnender Weise auch genannt wird, auf das bürgerliche Recht beziehen, und daß sie die Gesamtheit des bürgerlichen Rechts betreffen. Heutzutage ist man sich darüber klar, daß eine Änderung der Staatsverfassung, welche doch auch eine Reform des Rechts ist, und zwar eine Reform, welche man bis unlängst für besonders anstrebenswert hielt, wenigstens unmittelbar keine bedeutenden Vorteile dem arbeitenden Volke bringt. Die Verhältnisse desselben sind ja in wenigen Ländern verwahrloster als im republikanischen Frankreich und im politisch sehr freien Italien. Aber ganz anders verhält es sich mit Änderungen des Privatrechts. Das Privatrecht bezieht sich auf das Vermögen und die Familie, es enthält also das Vermögensrecht und das Familienrecht. Das Vermögen und die Familie sind nun die beiden Säulen der heutigen bürgerlichen Gesellschaft, und jede Bestimmung, die sich auf diese beiden Säulen bezieht, ist somit von einschneidendster Bedeutung für die bürgerliche Gesellschaft. Ob in Österreich der Reichsrat mehr oder weniger Rechte hat, ob da eine parlamentarische oder eine konstitutionelle Regierung besteht, das mag uns zunächst gleichgültig sein, es berührt uns mittelbar erst und in entfernter Weise; aber wie das Eigentum, die Ehe oder der Lohnarbeitsvertrag geregelt wird, das fühlt jeder von uns am eigenen Leibe. Daher stehe ich nicht an zu behaupten, daß uns das Privatrecht, wenn man nur unmittelbare Vorteile berücksichtigt und die mittelharen außer Betracht läßt, sogar als wichtiger gelten könnte als das öffentliche Recht. Wenn das bisher in maßgebenden Kreisen nicht selten verkannt wurde, so liegt der Grund in der noch immer in der Arbeiterpartei sehr verbreiteten Anschauung: bei der herrschenden Produktionsweise sei überhaupt nichts zu erreichen, man müsse vorerst nach einer radikalen staatsrechtlichen Umwälzung streben, um mit der ganzen herrschenden Produktionsweise gründlich aufzuräumen. Diese Ansicht ist gegenwärtig bekanntlich weit und breit bereits aufgegeben worden. Auch die Arbeiterschutzgesetzgebung ist ja zunächst eine privatrechtliche Gesetzgebung, und doch dürfte kaum jemand darüber in Zweifel sein, daß sie auch ohne jede Änderung der Produktionsweise die wohltätigsten Folgen nach sich ziehe. Ich habe soeben hervorgehoben, daß Menger den Zweck verfolgt, den Grundgedanken der Arbeiterschutzgesetzgebung dem ganzen bürgerlichen Rechte einzuverleiben. Dieser Grundgedanke ist so verschieden von dem Grundgedanken des bisherigen Zivilrechtes, daß keinen Augen-

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blick daran zu zweifeln ist, daß damit ein höchst wichtiges Zersetzungselement in dasselbe hineingeführt wird. Der Grundgedanke des bisherigen Zivilrechtes ist nämlich, daß in erster Linie das Vermögen ein Gut ist, welches vom bürgerlichen Rechte geschützt zu werden verdient. Andere Güter wie Leben, Gesundheit, Arbeitskraft, Ehre etc. werden zivilrechtlich entweder gar nicht oder nur in höchst ungenügendem Maße geschützt2• Mit diesem Grundgedanken bricht die Arbeiterschutzgesetzgebung ganz entschieden, sie erklärt eben diese persönlichen Güter als höchst schutzwürdig und schutzbedürftig, und zwar in weit höherem Grade als das Vermögen; wo diese persönlichen Güter irgendwie in Frage konunen, da müssen sich ihnen alle Vermögensinteressen unterordnen. Es ist klar, daß es im Interesse der besitzlosen Volksklasse liegt, den Schutz dieser Lebensgüter nach Möglichkeit im Rechte in den Vordergrund zu stellen. Geschädigt können diese höchsten persönlichen Güter werden: 1. durch einen Vertrag, 2. durch eine unerlaubte Handlung. Ich nehme zuerst den für die Arbeiterklasse wichtigsten Fall vor, den des Vertrages, und zwar des für das arbeitende Volk wichtigsten, des Lohnvertrages. Er ist der einzige Vertrag, durch den bei der herrschenden Produktionsweise ein großer Teil der Nation den Unterhalt sich erwerben kann. Daß er nun sehr häufig einen die höchsten persönlichen Güter gefährdenden Charakter annimmt, ist bekannt. Er kann den Arbeiter zu Leistungen verpflichten, die ihn an Leib und Leben schädigen. Er kann ihn zu Arbeiten unter solchen Verhältnissen verpflichten, daß dabei seine Gesundheit und Arbeitskraft leidet. Er kann ihn schließlich zu solcher Arbeit verpflichten, daß körperliche und geistige Verkümmerung die notwendigen Folgen sein müssen, z. B. durch 16- und 17stündige Arbeitszeit. Das ganze hergebrachte Recht beschäftigt sich mit derartigen Fragen gar nicht. Ihm ist der Lohnarbeitsvertrag ein ganz gewöhnlicher Vertrag wie jeder andere. Wie demjenigen, der sich ein Pferd mietet, jeder vertragsmäßige Gebrauch an dem Pferde gestattet ist, so ist es auch bei dem der Fall, der einen Menschen mietet. Daß zwischen Pferd und Mensch ein Unterschied ist, das hat sich bisher dem Scharfsinn der Gelehrten entzogen. Erst die Arbeiterschutzgesetzgebung brachte hier eine Besserung mit sich, die jedoch, wie eiben hervorgehoben wurde, recht lückenhaft ausgefallen ist. Menger, der überall bestrebt ist, den Grundgedanken der Arbeiterschutzgesetzgebung ins Zivilrecht einzuführen, tut dies hier, indem er der gesetzlichen Regelung des Lohnvertrages ganz allgemein das Prinzip zu Grunde gelegt wissen will: der Arbeitgeber habe, soweit dies von ihm abhängt, dafür Sorge zu tragen, 2

Bisher wurden sie beinahe nur durch das Strafrecht geschützt.

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daß im Arbeitsverhältnisse das Leben, die Gesundheit, die Arbeitskraft, die Ehre und die Sittlichkeit des Arbeiters nicht verletzt werden3. Daraus würden sich folgende drei Schlußfolgerungen ergeben: Erstens darf der Arbeitgeber die Arbeitskraft, welche ihm durch den Vertrag zur Verfügung gestellt wird, nur in dem Umfang und in der Weise gebrauchen, daß dadurch jene persönlichen Güter nicht verletzt werden. Dies führt zu einer Begrenzung der Parteiwillkür, vor allem der Art nach: gewisse Leistungen dürfen somit überhaupt nicht gefordert werden; zweitens aber zu einer zeitlichen Begrenzung derselben, wie sie in den Bestrebungen um Beschränkung des Arbeitstages zum Ausdruck kommt. Eine zweite Konsequenz jenes obersten Grundsatzes würde darin bestehen, daß der Arbeitgeber nach dem jeweiligen Stande der Erfahrung alle äußeren Vorkehrungen zu treffen hat, um eine Verletzung der persönlichen Güter der Arbeiter zu verhindern. Dies ist bloß eine Erweiterung des in der Gewerbeordnung bereits anerkannten Grundsatzes. Endlich muß dem Arbeitgeber die Verpflichtung auferlegt werden, Wohnung, Kost und Bekleidung, wenn diese nach dem Vertrage zu gewähren sind, dem Arbeiter in einer Weise zu leisten, daß dadurch die persönlichen Güter, namentlich die Gesundheit, die Arbeitskraft und die Sittlichkeit nicht gefährdet werden. Das sind jene Grundsätze, welche Menger in dem Lohnarbeitsvertrage im allgemeinen einführen will. Sie passen jedoch offenbar nicht für eine bestimmte Art des Lohnarbeitsvertrages: für den Gesindevertrag. Dieser weist solche Besonderheiten auf, daß infolge dessen auch die erwähnten Grundsätze in bezug auf ihn teils eine Modifikation, teils aber eine Ergänzung erfordern. Im allgemeinen kann man sagen, daß der Gesindevertrag zu den zurückgebliebensten Teilen des Rechtssystems gehört. Kein einziges Rechtsverhältnis erinnert so sehr wie dieses an Sklaverei oder Leibeigenschaft und ähnliche gewalttätige Verhältnisse. Die Gesindeordnungen verschiedener Staaten enthalten manchmal die unglaublichsten Bestimmungen und auch die tatsächlichen Verhältnisse sind, namentlich auf dem flachen Lande, sehr traurig. Das kommt daher, weil eben das positive Recht überall das Spiegelbild der Machtverhältnisse ist: die gewerblichen Lohnarbeiter sind teilweise gut organisiert, trefflich geführt, haben eine nicht unbedeutende Presse und eine noch bedeutendere Literatur zur Verfügung, und dies hat selbstverständlich auch auf 3 Menger unterscheidet zwischen Verletzungen der Gesundheit und der Arbeitskraft: Ein Arbeiter kann durch übermüdung, Einatmen von Staub und schlechter Luft und ähnliche Schädlichkeiten seine Arbeitskraft lange Zeit verloren haben, bevor die Symptome einer Krankheit hervortreten.

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das Recht zu ihren Gunsten eingewirkt. Ganz anders das gänzlich unorganisierte, teilweise geistig zurückgebliebene und zum größten Teile aus hilflosen und gedrückten Frauenspersonen bestehende Gesinde. Es ist der Herrschaft des Dienstherrn in einem Maße unterworfen, wie sonst im modernen Rechte nur vielleicht ein Kind derjenigen seines leiblichen Vaters. Es ist dem Dienstherrn durch das sogenannte Dienstbotenbuch beinahe auf Gnade und Ungnade preisgegeben; sein Arbeitstag dauert eigentlich volle 24 Stunden. Das alles erinnert, wie Menger richtig bemerkt, fast an die "ungemessene" Fronde der früheren Jahrhunderte. Um den Dienstvertrag wenigstens annähernd modernen Erfordernissen anzupassen, beantragt Menger, daß ins Gesetzbuch ein Paragraph aufgenommen werde, welcher den Dienstherrn ausdrücklich dazu verpflichten würde, dem Dienstboten einen freien Zeitraum für Schlaf- und Mahlzeiten und zur Besorgung der persönlichen Angelegenheiten zu gewähren, und zwar wäre es am entsprechendsten, wenn man ihm zu diesem Zwecke an einem oder zwei Werktagen den Nachmittag frei gäbe. Dies wäre bloß eine den Bedürfnissen der Zeit entsprechende Erweiterung der dem Dienstherrn schon früher in vielen Dienstordnungen auferlegten Verpflichtung, den Dienstboten die zum Besuche des Gottesdienstes nötige Zeit frei zu lassen. Mit der eingehenden Regelung und Überwachung dieser Verhältnisse wären die Verwaltungsbehörden zu betrauen. Damit ist jedoch das Recht des Lohnvertrages noch nicht erschöpft. Es ist eigentümlich, daß dieselben Herren, welche gegen jeden staatlichen Eingriff in die Vertragsfreiheit die wichtigsten prinzipiellen Bedenken hegen, bisher so wenig Einwendungen erhoben gegen die Dienstboten- und Arbeitsbücher, welch letztere die österreichische GewerbeOrdnung neuerdings zieren. Einen schneidigeren Eingriff in die Vertragsfreiheit kann man sich wohl kaum denken wie dies'e Bücher, in welchen über die Erfüllung von Verträgen unter öffentlicher Autorität ein Register geführt wird. Wenn sonst jemand einen Vertrag nicht erfüllt, so muß er oft durch einen langen Prozeß dazu genötigt werden. Aber die Nichterfüllung des Dienst- oder Lohnvertrages zieht ohne jede weitere richterliche Entscheidung für das Fortkommen des Arbeiters kaum geringere Folgen nach sich, als sonst eine kriminelle Bestrafung. Dies ist noch auffallender, wenn man bedenkt, daß die Eintragungen in das Buch vollständig einseitig erfolgen und daß die polizeiliche Kontrolle schon ,deswegen nicht immer ein genügendes Korrektiv dagegen bietet, weil es den Arbeitgebern immer möglich ist, durch Vereinbarung geheimer Zeichen deren Wirkungen zu umgehen. Man frage bloß, welcher Geschäftsmann es sich gefallen ließe, daß in seinem Ge-

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schäfte ein Buch aufliege, in welches jeder, der bei ihm etwas gekauft hat, seine Ansicht über dessen Vertragstreue einzeichnen könnte, und wenn jeder Dritte das Recht hätte, dieses Buch einzusehen. Menger befürwortet daher auf das Entschiedenste die Aufhebung aller Dienstund Arbeitsbücher. Der zweite Punkt, in welchem das hergebrachte Recht des Lohnarbeitsvertrages dringend einer Reform bedarf, sind dessen Grundsätze über die Disziplinargewalt des Arbeitgebers. Obwohl ihm dies nirgends ausdrücklich gestattet wird, nimmt überall der Dienstherr das Recht in Anspruch, den Arbeitern Mahnungen und Verweise zu erteilen, Geldstrafen, strafweise Lohnabzüge zu verhängen, strafweise die Leistung unentgeltlicher Dienste zu fordern, sogar die strafweise Entlassung auszusprechen. In der Rechtsübung wird dieses Recht des Dienstherrn auch ganz allgemein anerkannt. Diese Disziplinargewalt des Arbeitgebers steht nun vor allem im Widerspruche mit dem allerersten Grundsatze der Rechtswissenschaft: daß niemand in eigener Sache Richter sein kann, daß der Richter ein unparteiischer Dritter sein muß. Den Grad der sittlichen Reife, welcher dazu nötig ist, um überhaupt Richter zu sein, kann man dem Arbeitgeber so ganz allgemein gewiß nicht zugestehen; dazu kommt noch, daß der Arbeitgeber doch das Recht behält, aus wichtigen Gründen den Arbeiter nach Ablauf einer kurzen, etwa der durch den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich normierten vierzehntägigen Kündigungsfrist, zu entlassen und damit auch die Wirkung der schärfsten Disziplinarstrafe ohne die Parodie eines Disziplinarverfahrens herbeizuführen. Die Disziplinargewalt des Arbeitgebers ist daher womöglich ganz abzuschaffen und jedenfalls gesetzlich zu regeln, die Arten der Disziplinarstrafen und das zu beobachtende Disziplinarverfahren zu bestimmen und dagegen auch gewisse Rechtsmittel, Beschwerden an die ordentlichen Gerichte, zuzulassen. Der Lohnarbeitsvertrag ist, wie ich schon früher hervorhob, der vom Standpunkte des besitzlosen Proletariats wichtigste Vertrag des bürgerlichen Rechtes. Aber die Fragen, welche bei demselben hervortraten, wiederholen sich bei allen anderen Verträgen, und überall muß man vom Standpunkte der besitzlosen Volksklassen die Forderung aufstellen, daß das Recht die höchsten persönlichen Güter, welche eben auch der Proletarier besitzt, Leben, Körper, Gesundheit, Arbeitskraft und Sittlichkeit, ebenso beschütze wie Vermögensinteressen. Diese Forderung hat denn auch Ausdruck gefunden in mannigfachen gesetzlichen Bestimmungen, auf welche hier nicht eingegangen werden kann. Ein einziges Vertragsverhältnis ist jedoch von solcher Wichtigkeit für die besitzlosen Volksklassen, daß es hier näher erörtert werden muß: nämlich der Mietvertrag. Dieser verpflichtet nach dem heutigen Rechte den 2 Eugen Ehrlich

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Vermieter zu nichts mehr als dazu, dem Mieter den Gebrauch der Wohnung zu gewähren. Dies mag den besitzenden Volksklassen genügen, denen ihre Mittel es erlauben, sich von den vorhandenen Wohnungen die besten auszusuchen, es genügt aber nicht den besitzlosen Proletariern, welche sich beim Mieten der Wohnungen in der Regel in einer Zwangslage befinden, welche nehmen müssen, was da ist, was für sie übrig bleibt, und sich dadurch nicht selten genötigt sehen, auch Wohnungen zu beziehen, welche zu Wohnungszwecken für Menschen durchaus nicht geeignet sind, welche geradezu Leben, Gesundheit und Arbeitskraft des Mieters gefährden. Selbstverständlich kann hier auf rein privatrechtlichem Gebiete eigentlich nicht viel geholfen werden, immerhin ist der Vorschlag von Menger sehr dankeswert, den Vermieter für haftbar zu erklären, wenn er vorsätzlich, aus Fahrlässigkeit oder Eigennutz eine Wohnung vermietet, welche nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge durch ihre Beschaffenheit das Leben, die Gesundheit und Arbeitskraft des Mieters ader seiner Angehörigen gefährdet, und wenn infolge der Beschaffenheit der Wohnung eine solche Verletzung wirklich eingetreten ist. Die Notwendigkeit einer Lösung der Wohnungsfrage könnte dieser Vorschlag selbst der Bourgeoisie in die gebührende Nähe rücken. Ich habe schon vorhin bemerkt, daß der Grundgedanke der Arbeiterschutzgesetzgebung darin besteht, daß die höchsten persönlichen Güter des Menschen, das Leben, die Gesundheit, die Ehre, die Sittlichkeit in demselben und noch höherem Maße Schutz verdienen als das Vermögen, auf welches sich bisher der zivil rechtliche Rechtsschutz beinahe ausschließlich beschränkte. Man kann nicht behaupten, daß das geltende Recht diese Grundgedanken der Arbeiterschutzgesetzgebung völlig verleugnete. Der Vorwurf, den man gegen dasselbe erheben müßte, ist ein anderer, nämlich der, daß es diesen Schutz der Persönlichkeit gleich wie irgend ein anderes Vermögensstück der willkürlichen Vereinbarung der Parteien überließ. Die höchsten persönlichen Güter gelten aber selbst nach der heutigen Auffassung als unveräußerlich. Sein Leben, seine Gesundheit, seine Arbeitskraft darf man weder verkaufen, noch vertauschen, noch verpfänden4 • Ebenso wie das heutige Recht eine Ergebung in die Sklaverei nicht duldet, weil die menschliche Freiheit kein Handelsartikel ist, ebensowenig könnte man es als zulässig betrachten, daß Verträge geschlossen werden, durch welche Leben, Körper, Gesundheit, Arbeitskraft, Ehre, Sittlichkeit gefährdet werden, weil eben diese auch keine Handelsartikel sind. Es muß daher als Regel hingestellt werden, daß auf jene gesetz4 Für die Sittlichkeit, die Ehre kann dies heutzutage leider nicht mit dieser Bestimmtheit behauptet werden.

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lichen Bestimmungen, welche den Schutz dieser höchsten persönlichen Güter bezwecken, nicht verzichtet werden kann. Es ist also nicht gestattet, bei Eingehung eines Lohnvertrages den Arbeitgeber, bei Eingehung des Mietvertrages den Vermieter von seiner Haftung für Verletzungen des Lebens, der Gesundheit, der Arbeitskraft, der Ehre oder der Sittlichkeit zu befreien. Vielmehr ist und bleibt trotz einer solchen Vereinbarung der Arbeitgeber und Vermieter schadenersatzpflichtig. Ebenso unzulässig wäre die vertragsmäßige Einräumung einer Disziplinargewalt an den Arbeitgeber. Bei Erörterung der Arbeiterschutzgesetzgebung darf man jedoch wohl über die Grenzen jener Maßregeln hinausgehen, welche bloß die körperliche und sittliche Förderung des Arbeiterstandes bezwecken. Auch jene gesetzlichen Maßregeln, welche die ökonomische Hebung des Arbeiterstandes ins Auge fassen, gehören zum Arbeiterschutze im weitesten Sinne des Wortes. Es unterliegt ja überhaupt keinem Zweifel, daß der Wert des Arbeiterschutzes zum großen Teile auf diesem Gebiete liegt. Auch die Koalitionsfreiheit wird hauptsächlich aus dem Grunde den Arbeiterschutzmaßregeln zugezählt, weil sie die wirtschaftliche Hehung des Arbeiterstandes ermöglicht. Von den Schutzmaßregeln, welche für die ökonomische Hebung des Proletariats ergriffen wurden, ist eine sehr alten Datums: es sind dies die Wuchergesetze. Von der Manchesterpartei sehr entschieden bekämpft, verschwanden sie in den Sechzigerjahren aus der Gesetzgebung mancher europäischer Staaten, namentlich auch Deutschlands und Österreichs, bis man sich von ihrer Unentbehrlichkeit überzeugte und sie in etwas verbesserter Form wieder einführte. Menger hebt mit Recht hervor, daß die Wuchergesetze wohl dem Bauern, dem Beamten, dem Offizier, nicht aber dem eigentlichen Proletarier nützen. Personalkredit hat dieser bekanntlich nicht; will er Geld bekommen, so muß er in der Regel etwas versetzen. Auf den durch Pfand gedeckten Kredit finden die Wuchergesetze aber nur in beschränktem Maße Anwendung, weil hier zur Bestreitung der nicht unbeträchtlichen Verwaltungskosten ein sehr hoher Zinsfuß notwendig gestattet werden muß. Wenn nun wucherische Darlehen deswegen verboten und ungültig erklärt werden, weil ihnen eine an sich stets verwerfliche Ausbeutung des Leichtsinns, der Unerfahrenheit oder der Notlage zu Grunde liegt, so muß man sich unwillkürlich fragen, ob diese Ausbeutung nUT beim Darlehen vorkommt? Und wenn dies keineswegs der Fall ist, woran sich doch kaum zweifeln läßt, warum verbietet man auch andere wucherische Verträge nicht? Es wäre für die besitzlosen Volksklassen zweifellos von großer Wichtigkeit, wenn man nicht bloß wucherische Darlehen, sondern überhaupt alle Arten wucherischer Verträge verbie2*

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ten und mit Strafe belegen wollte, also auch etwa alle Kauf-, Tausch-, Miet-, Pacht- und Lohnarbeitsverträge, die unter so ungünstigen Bedingungen abgeschlossen wurden, daß dabei, ebenso wie bei wucherischen Darlehen, Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit vorliegen muß. Gewiß würden alle diese Bestimmungen ebenso, wie es bei Wuchergesetzen der Fall ist, weit mehr umgangen als befolgt werden. Aber sie würden doch die Stellung des Besitzlosen juristisch und moralisch erheblich verbessern, namentlich in den Fällen, wo sich seine Lage ganz besonders verschlimmert, so daß er diese Lohn-, Miet-, Pacht- und Kaufverträge unter Bedingungen abschließen muß, die viel schlimmer sind als sonst. Es genügt ja, auf den Zustand in Österreich vor und nach dem Inkrafttreten des neuen Wucher gesetzes hinzuweisen, um den Beweis zu führen, daß es, trotz aller Umgehungen, immerhin beträchtlichen Nutzen stiftete. Zwei Fragen, die mit dem Arbeiterschutz aufs Engste zusammenhängen, werden von Menger bei der Besprechung des Familienrechtes abgehandelt; ich sehe mich veranlaßt, sie an dieser Stelle zu erörtern, weil sie hieher dem Gegenstande nach gehören. Die erste dieser Fragen bezieht sich auf einen Fall der Kollision der Pflichten, welcher bei Proletarierfamilien nur allzu häufig vorkommt. Die Eltern sind nämlich nach dem Gesetz zur Wartung, Pflege und Erziehung ihrer Kinder verpflichtet. Wie sollen sie aber dieser Pflicht nachkommen, wenn sie durch die Lohnarbeit den ganzen Tag hindurch in der Fabrik zurückgehalten und gehindert werden, auch nur nach ihren Kindern zu sehen? Eine ihrer Verpflichtungen muß da notwendig den Kürzeren ziehen, entweder die aus dem Gesetze gegenüber den Kindern oder aus dem Vertrage gegenüber dem Arbeitgeber; es fragt sich nur, welche. Gewiß ist uns die Elternpflicht heiliger als eine bloße Pflicht aus dem Vertrage; nach dem Gesetze sollten beide Pflichten mindestens für gleichwertig gehalten werden, aber im Leben zweifelt niemand, daß die Vertragspflicht vorangehen muß. Die Juristen haben sich bisher mit dieser Frage gar nicht beschäftigt. Das Verbot, Wöchnerinnen einige Zeit nach der Geburt in den Fabriken zu verwenden, bezweckt den Schutz der Mutter, nicht des Kindes. Welche Maßregeln direkt zum Schutze der Kinder zu ergreifen wären, wurde bisher nicht einmal in der Literatur erörtert, obwohl es gewiß der Mühe wert wäre. An eine durchgreifende Abhilfe ist selbstverständlich nicht zu denken; sie müßte ja bei Familien, welche Kinder unter 7 Jahren besitzen, in dem Gebote bestehen, bei denselben stets eine erwachsene Person zurück zu lassen; dieses dürfte den wenigsten Arbeitern möglich sein. Menger weist denn auch einen derartigen radikalen Eingriff als bei den heutigen Verhältnissen undenkbar zurück, verlangt

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aber vom Staate, daß er wenigstens durch Errichtung von Kleinkinderbewahranstalten die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit, wenn auch nur notdürftig, überbrücken hilft. Der zweite Punkt bezieht sich auf eine Lücke des Vormundschaftsrechtes. Daß ein jedes Kind und jede jugendliche Person ihre Zeit nicht dem Erwerbe, sondern der Förderung ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung widmen sollte, darüber ist man sich heutzutage allenthalben so ziemlich klar - abgesehen von den sozialen Gefahren, welche Kinderarbeit und Lehrlingszüchtung nach sich zieht. Die Arbeiterschutzgesetzgebung sucht diesen Erfolg zu erreichen durch Verbot und Einschränkung der Arbeit von Kindern und jugendlichen Personen. Sie ist aber auch hier, wie sonst überall, ein Kompromiß zwischen den Forderungen des Proletariats und der Profitlust der Bourgeoisie und geht demgemäß nirgends so weit, als es im Interesse der Kinder zu wünschen wäre. Von den Verteidigern der Arbeit jugendlicher Personen wird hiebei hervorgehoben, daß bei den heutigen Lohnverhältnissen viele Arbeiterfamilien auf den Erwerb der Kinder angewiesen sind und ein Verbot der Kinderarbeit, das so weit ginge, wie es wünschenswert wäre, diese Familien dem wirtschaftlichen Verderben preisgeben könnte. Dieses Argument könnte die Kinderarbeit und Arbeit jugendlicher Personen jedoch nur rechtfertigen, wo die Verhältnisse wirklich so liegen. Das ist aber nicht immer der Fall. Nicht selten verdingt sich das Kind aus Leichtsinn, Nachahmungssucht oder wird von gewissen- oder einsichtslosen Eltern beziehungsweise Vormündern verdungen, wenn auch die Mittel zu einer für sein geistiges und körperliches Wohl förderlichen Erziehung vorhanden wären. Nicht selten dürften auch Fälle vorkommen, wo ein Kind in die Fabrik oder die Lehre geschickt wird, obwohl es Mittel, Lust und Fähigkeiten für einen anderen, ihm zuträglicheren Beruf besitzt; aber seiner Rechte unkundig, vermag es dem Befehl der Eltern und des Vormundes keinen Widerstand zu leisten; endlich dürften Fälle in großer Zahl vorkommen, wo jugendliche Personen aus mangelnder Sach- und Rechtskenntnis Verträge abschließen, die sie in bezug auf Lohn oder Arbeitszeit benachteiligen oder sie sonstwie gefährden. Die Arbeiterschutzgesetzgebung kann hier nicht helfen, denn die gesetzlichen Voraussetzungen der Verwendung des Kindes in der Fabrik können ja vorliegen. An sich ist nun gewiß die Obervormundschaft berufen, darüber zu wachen, daß die Interessen des Kindes nach allen Richtungen hin von seinen Eltern oder Vormunde genügend gewahrt werden. Aber es ist außerordentlich charakteristisch, daß dieselbe gerade hier versagt, wo sie vielleicht zum ersten Male Gelegenheit hätte, nicht bloß den Besitzenden, sondern auch dem Proletariate einen Dienst zu leisten. Nach

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dem heutigen Rechte überwacht die Obervormundschaft zwar mit der größten Sorgfalt die Gebahrung mit dem Vermögen des Mündels, aber darum, wie das Proletarierkind sein einziges Besitztum, seine Arbeitskraft verwertet, kümmert sich niemand: denn sogar die Überwachungspflicht der Eltern und des Vormundes in bezug auf die Eingehung von Lohnverträgen ist nicht ohne eine gewisse Absicht auf ein Mindestmaß reduziert. Menger verlangt daher, daß auch Dienst-, Lehrverträge sowie Lohnverträge von Minderjährigen bloß mit ausdrücklicher Zustimmung der Eltern, des Vormundes und der Obervormundschaft abgeschlossen werden können. Endlich soll noch das Schadenersatz recht kurz erörtert werden. Vom Standpunkte des Arbeiterschutzes ist der wichtigste hier in Betracht kommende Fall der des Schadenersatzes für körperliche Unfälle. Dieses Gebiet des Rechts ist in Österreich, noch mehr aber dort, wo römisches Recht gilt, sehr unentwickelt und benachteiligt namentlich auch das arbeitende Proletariat nach zwei Richtungen hin. Vor allem wird bei Vermögensschäden ein viel ausgiebigerer Schutz gewährt als bei Beschädigungen der höchsten persönlichen Güter: Leben, Gesundheit, Arbeitskraft, Sittlichkeit und Ehre; ferner ist im allgemeinen nur jener zum Schadenersatz verpflichtet, der einen Schaden durch sein eigenes Verschulden verursacht hatte. Dadurch wird in der Regel bei etwaigen Betriebsunfällen etc. dem Unternehmer ermöglicht, sich von jeder Schadenersatzpflicht durch den bloßen Nachweis zu befreien, daß ihn gar kein Verschulden trifft, sondern den Werkführer oder Betriebsleiter, der aber dem Verunglückten keinen Ersatz leisten kann, weil er nichts besitzt. Menger sucht diesen Übelständen abzuhelfen, indem er einerseits verlangt, daß in bezug auf die Schadenersatzfrage die Beschädigung der persönlichen Güter: Leben, Körper, Gesundheit, Ehre, Sittlichkeit ebenso günstig behandelt werden wie die Beschädigung von Vermögen; anderseits will er aber das Maß der Verantwortlichkeit für den einem anderen verursachten Schaden überhaupt erhöhen, indem er nicht bloß für den durch Verschulden, sondern auch für den durch Eigennutz veranlaßten Schaden haften lassen will. Es ist nicht möglich, hier auf diese Frage näher einzugehen; jedenfalls wird aber die Erhöhung der Verantwortlichkeit zu der Konsequenz führen, daß die Schadenersatzpflicht viel häufiger begründet wäre, als dies heutzutage der Fall ist. Noch ein Punkt soll hier hervorgehoben werden. Obwohl heutzutage im großen und ganzen alles, was irgendwie einen Wert besitzt, auch einen Eigentümer hat, so gibt es nichtsdestoweniger hie und da Sachen, die, wie sich Menger ausdrückt, aus der Eigentumsordnung herausfallen, z. B. Sachen, die überhaupt noch von niemandem in Besitz genommen

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wurden (herrenlose Sachen), die von ihrem Eigentümer aufgegebenen und die verlorenen Sachen, deren Eigentümer sich nicht meldet, im Depositenamt erlegte und von niemandem behobene Wertgegenstände. Von größerer Bedeutung sind hier hauptsächlich die erblosen Verlassenschaften, die schon heute ins Gewicht fallen und weit mehr an Bedeutung gewinnen könnten, wenn Mengers Vorschlag durchdringen sollte, das Erbrecht überhaupt auf den zweiten oder dritten Grad in der Seitenlinie (also höchstens bis zum Onkel oder Neffen, beziehungsweise deren Kindern) einzuschränken. Nach dem geltenden Rechte fallen herrenlose oder vom Eigentümer aufgegebene Sachen teils jenem, der sie in Besitz nimmt, teils dem Staate, verlorene Sachen teils dem Finder, teils dem Staate zu, während erblose Verlassenschaften sowie im Depositenamt erlegte und nicht behobene Gegenstände dem Fiskus anheimfallen. Dagegen wendet Menger aber ein, daß es nur gerecht sein könnte, wenn diese Güter, die nun einmal, dank einem Zufall, aus der Eigentumsordnung herausgefallen sind, nicht wieder in die Eigentumsordnung hineingepreßt würden, sondern nunmehr der Gesamtheit zugute kämen. Aber der Vertreter der Gesamtheit ist in diesem Falle nicht etwa der heutige Staat, der seine wichtigste Aufgabe in der Aufrechthaltung der gegenwärtigen Machtverhältnisse erblickt und weit entfernt davon ist, ein Arbeits- oder Wirtschaftsstaat zu sein. Die natürlichen Berechtigten sind vielmehr die besitzlosen Volksklassen, welche bereits in ihren Kranken-, Unfall-, Invaliditäts-, Witwen- und Waisen-Versicherungsanstalten eine Art wirtschaftlicher Vertretung besitzen. Diesen Instituten sollen die Güter erworben werden. Dies ist im wesentlichen der Inhalt der Mengerschen Schrift, insoweit deren Erörterung in den Rahmen dieser Zeitschrift hineinpaßt. Will man sie jedoch gebührend würdigen, so muß man sich vor Augen halten, daß diese Reformen vorgeschlagen werden nicht etwa vom philanthropischen oder juristischen, sondern durchaus vom Standpunkte des kämpfenden Proletariats. Er verlangt sie nicht bloß für das Proletariat, sondern auch im Namen des Proletariats, als unvermeidliche Konzessionen an dessen wachsende Macht. Durch eine Reihe solcher Konzessionen an dieses, glaubt er, werden mit der Zeit ganz neue Ideen in den starren Organismus der alten Eigentumsordnung eindringen, welche, immer weiter fortwuchernd, sie im Laufe der Jahre vollständig zersetzen werden; sie werde einst zerfallen wie die Insel Helgoland, von welcher jährlich ein Stück abbröckelt und die schließlich in den Wellen des Ozeans untergehen muß.

DIE SOZIALE FRAGE IM PRIVATRECHTE" 1.

Es ist heute beinahe ein Gemeinplatz, von der fortwährenden, nie rastenden Entwicklung der Menschheit zu sprechen, und doch wird mit dieser Phrase nur eine bestimmte Seite der Erscheinung bezeichnet. Während sich nämlich mit der Zeit alles unausgesetzt ändert, verfeinert und fortschreitet, der Körperbau, die Intelligenz und das Gefühlsleben, die Religion, Sprache, Literatur, Sitten und Gebräuche, setzen jene Institute, welche bereits durch feste, in Worte gefaßte Rechtssätze geregelt wurden, jeder Umgestaltungsbestrebung einen unverhältnismäßigen Widerstand entgegen. Die archaisierende Tendenz der Rechtsordnung ist ja allgemein bekannt. Das Rom des Kaisers Theodosius hatte mit dem Rom der Decemviren vielleicht keinen Tropfen Blutes mehr gemein, aber es verblieben ihm die Zwölftafelgesetze als ein Eckstein aller juristischen Weisheit, unberührt selbst in der Orthographie und den grammatikalischen Formen von den gewaltigen Umwälzungen, welche die Zeit mit sich brachte, und der englische Richter müht sich noch heute ab mit den juristischen Kunstausdrücken und Formeln im normännischen Französisch des XII. Jahrhunderts, und wenn es auch im einzelnen hier wie dort an eingreifenden und weitgehenden Modifikationen gewiß nicht fehlte, so trotzten doch die Grundlagen und Grundprinzipien des Rechtes Jahrtausenden. Dieser Konservatismus muß nun schließlich einen tiefgehenden Widerspruch zwischen der Rechtsordnung und dem Geiste der Zeit, den sozialen und den Produktionsverhältnissen zur Folge haben und zu gesellschaftlichen Krisen führen, wie wir gegenwärtig deren eine von ganz besonderer Wucht und Gewaltigkeit erleben. Soll nun solch eine soziale Krise ihrer Lösung näher gebracht werden, so muß man selbstverständlich das Recht den veränderten Verhältnissen anzupassen trachten, wenigstens insoferne der hergebrachte Zustand im einzelnen unerträglich wird. Die Bedeutung einer jeden Kodifikation des Rechtes besteht aber darin, daß sie zugleich eine Revision des ganzen Rechtssystemes ist, vom Standpunkte der Bedürfnisse der Zeit und den Anforderungen der weiteren Entwicklung .

.. Die Orthographie des Erstdrucks wurde der heutigen Schreibweise angepaßt (M. R.).

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Es ist nicht hier der Ort, irgendwie näher einzugehen auf das Wesen der großen sozialen Krise der Gegenwart, welche ganz allgemein "die soziale Frage" genannt wird; nur jene Seite derselben, welche ausschließlich dem Privatrecht zugekehrt ist, muß hier kurz berührt werden. In dieser Beziehung ist der Kernpunkt derselben dieser, daß der Grundbesitz und die sonstigen Produktionsmittel immer mehr in den Händen einiger weniger Besitzer sich ansammeln, die Latifundien und die in einer und derselben Hand befindlichen Industrien lawinenhaft anwachsen, während gleichzeitig der selbständige Bauer und der selbständige Gewerbetreibende schwindet, die einstigen Bauern, die einstigen Gewerbetreibenden ins Proletariat hinuntersinken. Diese Entwicklung geht außerordentlich rasch vor sich und muß selbstverständlich tiefgehende Konsequenzen nach sich ziehen; doch liegt das Wesen des Problems noch nicht darin: findet man ja trotz der ungeheueren Volksarmut in Rom während der letzten Zeit der Republik, so wie gegenwärtig in vielen Gegenden des Orients, dort nichts, was als soziale Frage in unserem Sinne bezeichnet werden könnte. Diese beruht vielmehr teils darauf, daß durch den erwähnten Prozeß auch die Gestaltung der Produktion eine andere wird, daß die jeweilige Produktion im Kleinen für den Eigengebrauch in eine vorgeschrittene gesellschaftliche Produktion für die Gesellschaft umgewandelt wird, teils aber auch auf der veränderten Stellung der Volksklassen, die von der Proletarisierung betroffen werden. Bis vor einem Jahrhundert bestanden sie überall meistens aus verkommenen, arbeitsscheuen, verbrecherischen Existenzen; seitdem aber der Großbetrieb und der Großgrundbesitz die gegenwärtige Entwicklung nahm, begannen sie nicht bloß durch Zuwachs aus anderen Klassen sich außerordentlich zu vermehren, sondern gleichzeitig in ein arbeitendes Proletariat sich zu verwandeln; zugleich erhielten sie, namentlich in Deutschland, eine verhältnismäßig bedeutende Schulbildung. Dadurch hob sich schon an sich ihre moralische Bedeutung. Die lokale Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse brachte es aber mit sich, daß sich dieses Proletariat beinahe ausschließlich in größeren Städten und Fabrikorten ansammelte. Dies erleichterte wieder seine Organisation, und so wurde es allmählich aus einer unorganisierten Masse zu einem organischen Körper. Die Folgen dieser moralischen und taktischen Vorteile blieben nicht lange aus. Das Proletariat wurde zu einer politischen Partei; Männer von unbestreitbarer geistiger Begabung übernahmen seine Führung, eine reiche Buchliteratur, eine bedeutende periodische Presse trat in seine Dienste. Unter diesen Umständen ist es leicht begreiflich, daß es bald zu einem immer mächtigeren politischen Faktor wurde, namentlich in jenen Staaten, wo man sich durch verschiedene Umstände veranlaßt gesehen hatte, ihm politische Rechte zu erteilen; aber auch dort, wo dies

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nicht der Fall war, wußte es in großen Arbeitsausständen seine Bedeutung für die Gütererzeugung politisch zu verwerten, wie einst Roms Plebejer ihre Bedeutung für die Wehrkraft des Staates; und wenn auch die Arbeiterunruhen noch überall leicht unterdrückt wurden, so legten sie doch durch ihre Gefährlichkeit die Notwendigkeit der Konzessionen für die Zukunft recht nahe. Die gegenwärtige gesellschaftliche Krise besteht also in letzter Linie nicht bloß darin, daß die herrschende Rechtsordnung den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr entspricht, sondern überdies darin, daß das Proletariat die Mittel besitzt, die zwar nicht ausreichen, um ihm schon heute die Durchsetzung seiner Wünsche zu ermöglichen, aber genügen, um auf die herrschenden Klassen und auf die Stimmung innerhalb der ganzen Gesellschaft einen starken, unausgesetzten Druck auszuüben und dadurch Zugeständnisse zu erzwingen. Inwieferne steht nun die heutige Privatrechtsordnung im Widerspruch mit der Produktionsweise und den sozialen Verhältnissen unserer Zeit? Die Untersuchung muß sich hier durchaus auf das Privatrecht beschränken und die für diese Frage teilweise außerordentlich wichtigen Gebiete der verwaltenden Staatstätigkeit, dem Zwecke dieser Arbeit gemäß, unberücksichtigt lassen. Vor allem haben die Fortschritte der Technik und Ökonomik den Wert des in den Händen einzelner befindlichen Besitzes unendlich erhöht, ohne daß das positive Recht diesem Umstande irgendwie Rechnung getragen hätte. Es mag unglaublich erscheinen, daß eine Fabrikunternehmung, die Maschinen in Betrieb setzt, von denen eine die Arbeit leistet, zu welcher einst 20 000 Menschen nötig gewesen wären, daß eine Eisenbahn, die in einem Tage mehr Güter befördert, als vor nicht allzu langer Zeit alle Fuhrleute der Welt, daß also Unternehmungen, bei denen die Macht des Individuums in solch unermeßlicher Weise gesteigert wurde, im wesentlichen nach denselben Grundsätzen beurteilt werden, welche einst für den kleinen Handwerker galten; es mag unglaublich erscheinen, daß für den Arbeiter in einer solchen Unternehmung kein anderes Recht besteht, als die römischen Bestimmungen über Dienstrniete und die neueren über Taglöhnervertrag, ja teilweise sogar - der Nachweis wäre leicht, würde aber zu weit führen - über Sklavenarbeit; dies alles mag unglaublich erscheinen, doch ist es trotzdem nichtsdestoweniger wahr. Dazu kommt aber noch, daß alle Organisation der menschlichen Gesellschaft, die letzten Reste der alten Geschlechterordnung, die Stände und Klassen der Feudalzeit immer mehr absterben und teils von selber jede Bedeutung verlieren, teils durch besondere Gesetze aufgehoben werden. So richtig es auch ist, daß sie für unsere Zeit gar nicht mehr

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passen, so darf man doch nicht vergessen, daß der Mangel einer Organisation ebensowenig von Vorteil ist wie der Bestand einer schlechten, weil er das Individuum, welches bei der modernen Produktionsweise dem Großkapital immer mehr schutz- und wehrlos ausgeliefert wird, seines letzten Rückhaltes beraubt. Insoferne es sich also um das Privatrecht handelt, muß die Anpassung der Rechtsordnung an die heutige Entwicklung der Menschheit vorläufig wenigstens in zwei Richtungen angestrebt werden: es muß durch Beschränkung des großen Eigentums und der Vertragsfreiheit, die durch Entwicklung der Industrie ins Unermeßliche gesteigerte Macht des einzelnen mit Pflichten gegenüber der Gesamtheit belastet! und es müssen gesellschaftliche Organisationen geschaffen und die bereits vorhandenen Keime lebenskräftig ausgestaltet werden. Es läßt sich nicht verkennen, daß der moderne Staat bei den Aufgaben in der neuesten Zeit mehrmals näher getreten ist. Als Belastung des großen Eigentums mit Pflichten gegenüber der Gesamtheit erscheinen vor allem die sogenannten Haftpflichtgesetze, durch welche zunächst die Eisenbahnen, dann auch, wenigstens in Deutschland, andere größere gewerbliche Unternehmungen für den durch ihren Betrieb, wenn auch ohne jedes zurechenbare Verschulden, veranlaßten Schaden verantwortlich gemacht wurden; ebenso wurden sie verpflichtet, gewisse, teilweise sehr kostspielige und für sie lästige Schutzmaßregeln und Schutzvorrichtungen zur Sicherung des Eigentums, des Lebens und der Gesundheit dritter Personen zu veranstalten. Unvergleichlich wichtiger ist aber die Beschränkung der Vertragsfreiheit durch die sogenannten Arbeiterschutzgesetze: die Beschränkung der Arbeitszeit jugendlicher Personen und der Frauen, hie und da auch der Arbeitszeit erwachsener Arbeiter (in Österreich und der Schweiz) und der Ausschluß gewisser Vertragsbestimmungen für alle Arbeiter (Verbot der Sonntagsarbeit und des Trucksystems). In der Schaffung neuer Organisationen ist der moderne Staat zwar über die ersten Anfänge nicht hinausgekommen. Doch ist durch Regelung und Förderung des Assoziationswesens manches erreicht worden, wenn auch die sozial wichtigsten Vergesellschaftlichungen, die Gewerkvereine, bisher beinahe ganz unberücksichtigt blieben. Auch hier kann ! Alle Beschränkungen der Vertragsfreiheit sind eigentlich nichts als Beschränkungen des Eigentums. Wuchergesetze beschränken das Recht des Eigentümers eines Kapitals, es gegen jedweden Zinsfuß zu verleihen; Arbeiterschutzgesetze beschränken die Freiheit des Eigentümers einer gewerblichen Unternehmung, Arbeiter unter jeder ihm beliebigen Bedingung aufzunehmen. Oft wird freilich ausgeführt, solche Gesetze beschränkten auch die Freiheit jener, zu deren Gunsten sie erlassen werden. Die Behauptung richtet sich meines Erachtens von selber.

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auf ein großes Werk hingewiesen werden, und zwar: auf die Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung, welche ihrer ganzen Anlage nach zu dem großartigsten gehören, was je vom Staate geleistet wurde, trotz der vielen Mängel der Ausführung, die mit der Zeit wohl werden abgestreift werden. Auch hat der Staat dadurch, daß er den Unternehmer zur Beitragsleistung für die Versicherung zwingt, wieder einmal das Eigentum mit Pflichten gegenüber der Gesamtheit belastet. Ebenso wichtig wie diese gesetzlichen Reformen war auch die Art ihrer Durchführung. An sich ist der Arbeitsvertrag rein privatrechtlicher Natur, und darin, daß die staatliche Arbeiterschutzgesetzgebung gewisse Vereinbarungen verbot, lag nichts besonderes; das kommt ja auch bei anderen Verträgen vor, z. B. bei Wucherverträgen. Aber nie und nirgends hatte sich der Staat noch veranlaßt gesehen, besondere Organe zu bestellen, welche darüber zu wachen hätten, daß Verträge mit verbotenem Inhalt nicht abgeschlossen und die abgeschlossenen nicht erfüllt werden; nur beim Arbeitsvertrag tat er es, und er schuf das Gewerbeinspektorat, eine Institution, welche erst die wirkliche Durchführung der Arbeiterschutzgesetze ermöglichte. Dieser Schritt ist grundsätzlich von größter Bedeutung, da er tatsächlich gewisse Normen über den Arbeitsvertrag ihres privat rechtlichen Charakters vollständig entkleidet und zum Bestandteile des öffentlichen Rechtes erklärt, die immer mehr zum Durchbruche gelangende halb öffentlich-rechtliche Natur des Arbeitsvertraees entschieden anerkennt. Ebenso eigentümlich geartet erscheint auch die staatliche Arbeiterversicherung, denn es ist hier vor allem der Staat, welcher, wenn auch in mehr oder weniger verdeckter Weise, aber immerhin im Gegensatz zu allen Traditionen des Manchesterstaates, es sich zur Aufgabe macht, dem Arbeiter einen Versicherungsanspruch zu gewähren, und noch bedeutsamer ist es, daß er den Arbeiter zwingt, sich unter gewissen Umständen versichern zu lassen. Dadurch hat auch der Versicherungsanspruch des Arbeiters die Natur eines Anspruches öffentlichen Rechtes angenommen, was trotz Adolf Menzels Widerspruch aufrechterhalten werden muß . Diese neueste Entwicklung des Vermögensrechtes - der Ausdruck Privatrecht wird dafür immer ungeeigneter - welche in ihren entschiedenen Anfängen in Deutschland keine zwanzig Jahre alt ist, und in der Welt überhaupt, selbst wenn man die ersten ernstgemeinten englischen Versuche in Betracht zieht, nicht über die Dreißigerjahre dieses Jahrhunderts zurückreicht, führt somit in das geltende Recht durchaus neue Ideen ein, die mit dem Hergebrachten häufig in schroffem Widerspruch stehen: die Idee vor allem, daß das große Eigentum der Gesamtheit gegenüber mit Rechtspflichten belastet sei und daß der Staat berufen ist, zwangsweise Organisationen zu schaffen, welche dem Individuum

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im Kampfe ums Dasein einen gewissen Rückhalt gewähren sollen. Es läßt sich nun jetzt schon mit Bestimmtheit behaupten, daß diese Richtung der Gesetzgebung, selbst innerhalb ihres ursprünglichen Gedankenkreises des Arbeiterschutzes und der Arbeiterversicherung, noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Arbeiterschutzgesetzgebung tritt eben in diesem Augenblicke in ein neues Entwicklungsstadium, die Arbeiterversicherung wird wohl in nicht allzulanger Zeit nicht bloß auf Grund der in der Zwischenzeit gesammelten Erfahrungen innerlich ausgebaut und verbessert, sondern durch eine Witwen- und Waisen- sowie eine Arbeitslosigkeitsversicherung ergänzt werden. Würden doch ohne diese letzteren auch die anderen Versicherungen für einen großen Teil der Arbeiterschaft wertlos sein. Schon die strenge Durchführung dieser bereits geltenden und in sicherer Aussicht stehenden Gesetze, trotzdem auch diese irgendwie weitergehenden Ansprüchen keineswegs genügen, würde zweifellos nicht bloß so manche soziale Schäden beseitigen, sondern auch überhaupt der heutigen Gesellschaftsordnung ein teilweise ganz anderes Gepräge aufdrücken, und haben sie sich einmal eingelebt, sind sie ins sittliche Bewußtsein der Bevölkerung eingedrungen, so wird auch eine tiefere Auffassung der Pflichten der Menschen füreinander, ein engerer Zusammenhang des Individuums mit der Gesamtheit platzgreifen. Dieser Fortschritt des sittlichen Bewußtseins, welcher infolge der Arbeiterschutzgesetzgebung in England tatsächlich bereits, wenn auch in geringerem Maße, eingetreten ist, wird die Menschheit schon allein drängen, auf diesem Wege fortzufahren, und er wird weiteren Reformen den Weg ebnen. Diese werden aber gewiß nicht ausbleiben können; es dauern ja fort die Gründe, welche schon die bisherigen schüchternen Versuche zur Notwendigkeit machten, und am allerwenigsten kann man von deren wohltätigen Folgen einen Stillstand der Bewegung erwarten; es ist eine bekannte Erfahrungstatsache, daß eine körperlich und geistig hochstehende Klasse höhere Ansprüche stellt und selbstverständlich mit größerer Kraft für sie eintritt, als eine körperlich und geistig verkommene. Aber das, was mit jedem Schritte in dieser Richtung schwindet, das ist die Erbitterung des Kampfes, der soziale Klassengegensatz, die Feindseligkeit der streitenden Teile, und es läßt sich wohl heute schon nicht ohne gewisse Zuversicht die Hoffnung aussprechen, daß vielleicht eine nicht allzu ferne Menschengeneration auf diesem Wege der ruhigen Entwicklung die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Friedens, die Lösung der sozialen Frage erleben wird. Aber kaum möglich ist es, daß bloße Spezialgesetze, welche sich auf einzelne, wenn auch noch so wichtige Menschenklassen beziehen, welche bloß einzelne, wenn auch noch so bedeutsame Fälle herausgreifen und

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regeln, diesen Erfolg in dem erwünschten Maße und mit dieser Sicherheit herbeiführen könnten, wie dies neuerdings Andreas Heusler erhofft. Was uns nottut, das ist eine einheitliche, von solchem Geiste getragene bürgerliche Gesetzgebung, eine Gesetzgebung, die von solchen Grundgedanken durchdrungen, durchwirkt und durchwebt wird; nur diese könnte auf die ganze Gesellschaft umgestaltend einwirken und eine friedliche Umwälzung anbahnen. Der moderne Staat ist ein organisches Ganzes, seine einzelnen Teile stehen im engsten Zusammenhange; und wie beim tierischen Organismus alles, was auf ein Organ einwirkt, den ganzen Körper in Mitleidenschaft zieht, so muß auch jede Einwirkung auf ein einzelnes Gebiet der Staatstätigkeit alle anderen Gebiete beeinflussen. In diesem Zusammenhange aller Teile des Ganzen besteht ja eben der berühmte soziale Konsensus, welchen Auguste Comte und Herbert Spencer mit Recht zur Grundlage ihrer Soziologie machten. II.

Eine solche Reform könnte gewiß auch durch ein bürgerliches Gesetzbuch in Angriff genommen werden. Dieses würde dann in der Geschichte der Menschheit dieselbe Stellung einnehmen, welche einst dem Code Napoleon beschieden war, es würde zum Schlußstein und Ausgangspunkt einer großartigen Entwicklung werden. Der jetzt vorliegende Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich hat sich eine derartige Aufgabe freilich nicht vorgesteckt, aber das schafft sie weder aus der Welt, noch wird sie dadurch unerreichbar. Wie sehr diese Idee in der Luft liegt, das beweist die große Anzahl Männer, welche bei Gelegenheit der Beurteilung des Entwurfes auf diese Aufgaben mit Nachdruck und im Bewußtsein ihrer Größe und Wichtigkeit hingewiesen haben. Von den vielen Schriftstellern über den Entwurf, deren Arbeiten sonst in vielen Beziehungen von großer wissenschaftlicher Bedeutung sind - es seien hier nur Bekker, Hartmann, Zitelmann, Bähr, Leonhard, Cosack, Hölder, Laban'd, Kohler, L. Goldschmidt und Seuffert genannt, welche aber die Liste der bedeutendsten keineswegs erschöpfen - haben jedoch nur zwei diesen Punkt zur Grundlage ihrer Erörterungen gemacht: Anton Menger und teilweise 'auch Gierke3• Mengers Verdienste sind so bedeutend und eigenartig, daß es sich verlohnt, seine Ausführungen zum Gegenstande einer näheren Erörterung 2 Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen. Eine Kritik des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich (Sonderausgabe aus dem Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik), Tübingen 1890, 3 1. Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht, Leipzig 1889.2. Personengemeinschaften und Vermögensinbegriffe in dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Berlin 1889. 3. Die soziale Aufgabe des Privatrechtes, Berlin 1889.

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zu machen. Aber wenn auch nur er seine Aufgabe von Anfang an so auffaßte und zielbewußt in Angriff nahm, so gelangt doch auch Gierke, dessen hauptsächlichste Bedeutung auf einem anderen Gebiete liegt, in vielen Fragen zu ähnlichen Ergebnissen. 1. Seine Ziele charakterisiert Menger sofort in der Einleitung mit folgenden Worten: "Meine Aufgabe kann nur dahin gehen zu zeigen, inwieferne die Interessen der besitzlosen Volksklassen, auch wenn man die grundlegenden Prinzipien des heutigen Privatrechtes anerkennt, durch den neuen Entwurf verletzt oder nicht genügend gefördert werden." Von diesem Standpunkte aus durchmustert er alle Teile des Entwurfes. Die Grundlagen der heutigen bürgerlichen Gesellschaft, das Eigentum, den Vertrag, die Familie, das Erbrecht, erkennt er als gegeben an und gegen diese richtet sich sein Angriff nicht, aber er verlangt, daß innerhalb dieser Rahmen jenen Wünschen des Proletariats Rechnung getragen werde, welche nicht bloß als berechtigt, sondern auch als schon gegenwärtig erfüllbar erscheinen. Auf die Erreichbarkeit legt Menger großen Nachdruck: er unterhält seinen Leser nirgends mit Utopien, sondern hat stets ein klares, praktisches Ziel vor Augen. Und gerade diese seine maßvolle Haltung macht einen tiefen Eindruck, namentlich auf den Juristen vom Fache, der wohl selten Gelegenheit hat, das geltende Recht in dieser Beleuchtung zu sehen und dem überzeugenden Nachweis gegenüberzustehen, eine Menge von Rechtsnormen, die er naiverweise als ganz selbstverständlich zu betrachten gewohnt war, sei nichts als ein Ausfluß rücksichtslosen Klassenegoismus. Allerdings wird man nicht so weit wie Menger in dieser Richtung gehen können: mit Absicht haben die Redaktoren des Entwurfes kaum irgendwo die Interessen der Besitzlosen verletzt; ich halte vielmehr an dem Standpunkt fest, die ganze Haltung des Entwurfes sei nichts als logische Folgerung aus den Lehren der historischen Schule4 ; aber gerade dies zeigt, wie notwendig es ist, diesen Standpunkt grundsätzlich anzugreifen und der Gesetzgebung ganz andere Aufgaben zu stellen.

Die prinzipielle Bedeutung der Mengerschen Arbeit ist eine überaus große. Aber auch seine Kritik der einzelnen Bestimmungen des Entwurfes, seine einzelnen Vorschläge und Verbesserungsanträge treten dahinter an Bedeutung nicht zurück. Sie sind nicht das Ergebnis gelehrter Studien, sondern langjähriger praktischer Erfahrung, und indem sie den Grundgedanken der Arbeit ins einzelne ausführen und verfolgen, machen sie ihn erst recht zu einem Wesen von Fleisch und Blut. Es mag 4 Siehe Ehrlich: Soziale Gesetzgebungspolitik auf dem Gebiete des Deutschen Privatrechts, in Unsere Zeit 1890 I, S. 433 - 451, sowie ders.: Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und die sozialpolitischen Bestrebungen der Gegenwart, ebd. II, S. 21 - 35 (Anm. des Hg.).

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mir daher gestattet sein, darauf, soweit es die Raumverhältnisse erlauben, einzugehen. a) Unbestreitbar wird auch das beste bürgerliche Recht den Massen keine großen Vorteile bringen, so lange der Zivilprozeß so kostspielig und dem Armen unzugänglich bleibt, wie es gegenwärtig der Fall ist. Daß das Institut der Armenvertretung hier keine Abhilfe schafft, kann wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Wenn aber alle Reformversuche bisher noch immer keinen anderen Erfolg hatten, als den, einen noch teuereren Zivilprozeß zu schaffen, so liegt der Grund wohl nur darin, daß der Richter heute infolge der den Prozeß beherrschenden "Verhandlungsmaxime" keinen Schritt machen darf, ohne von der einen oder anderen Partei zum Einschreiten ver anlaßt zu sein, "gleich einem verdorbenen Uhrwerk, welches fortwährend gestoßen und geschüttelt werden muß, um wieder auf kurze Zeit in Gang zu kommen". So lange dies der Fall ist, werden auch die Advokaten dabei so viel zu tun haben wie jetzt, und der Zivilprozeß wird nicht billiger werden; denn der Advokat muß doch wie jeder andere, für das was er leistet, bezahlt werden. Der einzige Weg ist der, welchen Menger angibt: den Wirkungskreis der Advokaten zu verringern, ihn auf staatliche Beamte zu übertragen, überall, wo die Parteien keinen Advokaten haben und keinen bezahlen können, einen staatlichen Beamten mit der Prozeßführung zu betrauen, und so lange dies nicht möglich ist, den Richter zu verpflichten, für die arme Partei alle jene Schritte zu machen, zu welchen er sonst durch besondere Anträge der Parteien veranlaßt werden muß. Stehen dem etwa irgendwelche "grundsätzliche" Bedenken entgegen? Selbst die schneidigsten Manchestermänner geben es zu, daß die Justizpflege eine Aufgabe des Staates ist. Hat der Staat aber bloß darüber zu wachen, daß Recht gesprochen, nicht auch daß es gerecht gesprochen werde, oder hat er bloß dafür zu sorgen, daß jenen Gerechtigkeit widerfahre, die einen Advokaten bezahlen können? b) Ein sozial außerordentlich wichtiges Verhältnis ist das der unehelichen Kinder; betragen doch die unehelichen Geburten selbst in Deutschland, wo ihre Z'ahl relativ niedrig ist, 9 Prozent aller Geburten. Aus naheliegenden Gründen liegt es im Interesse der besitzlosen Volksklassen, die Stellung der unverehelichten Mutter und der unehelichen Kinder möglichst zu verbessern, ihnen dem Erzeuger gegenüber möglichst weitgehende Rechte zu gewähren, während das Interesse der besitzenden Volksklassen ein entgegengesetztes ist. Diesem letzteren hat kein Gesetz so sehr Rechnung getragen wie der Code Napoleon, welcher jede Nachforschung der Vaterschaft geradezu verbot, während die Gesetzgebung des französischen Konvents, das preußische Landrecht und das österreichische bürgerliche Gesetzbuch den unehelichen Kindern

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sehr günstig waren. Der Entwurf hält die Mitte zwischen beiden: er gibt zwar dem unehelichen Kinde Ansprüche an den Erzeuger, aber nur in sehr beschränktem Umfange. Vor allem nimmt er aus dem gemeinen Rechte die Einrede der mehreren Beischläfer (exceptio plurium concumbentium) herüber, "die Einrede der Untreue während der Empfängniszeit", obwohl man sich doch wohl fragen muß, wie der Erzeuger dazukomme, von dem Mädchen, das ihm nicht angetraut ist, Treue zu fordern und selbst, wenn man sich darüber hinwegsetzt: warum der Fehltritt der Mutter dem Kinde schaden soll. Hat doch selbst die Untreue der angetrauten Gattin an sich keineswegs zur Folge, daß das Kind als unehelich betrachtet wird. Ferner beschränkt der Entwurf die Rechte des Kindes gegen den Erzeuger auf den notwendigen Unterhalt und beseitigt sogar die Deflorationsklage des gemeinen Rechtes, das ist die Entschädigungsklage der Verführten gegen den Verführer vollständig, und zwar hauptsächlich aus dem Grunde, weil das Mädchen, welches zu ihrer Verführung die Zustimmung gab, daraus "nach allgemeinen Grundsätzen" keine Ersatzansprüche ableiten könne; er berücksichtigt dabei aber nicht, daß die Verführte in der Regel minderjährig, also auch "in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkt" sein dürfte. Nach einer sehr scharfen Kritik der Bestimmungen des Entwurfes, namentlich der ganz unglaublichen, nicht scharf genug zu verurteilenden Forderung oder wenigstens Voraussetzung der Motive,die Mutter müsse im Rechtsstreite beweisen, daß sie anderen Männern als dem Beklagten während der Empfängniszeit den Beischlaf nicht gestattet habe, verlangt Menger folgende Regelung dieser Fragen: vor allem in Fällen der Notzucht oder eines ähnlichen Sittlichkeitsverbrechens für die Mutter die Rechte einer ohne ihr Verschulden geschiedenen Ehefrau oder wenigstens die vermögensrechtIiche Stellung einer solchen, für das uneheliche Kind die Rechte eines ehelichen; in anderen Fällen kann das Kind nicht bloß den notdürftigen, sondern den dem Stande der Mutter angemessenen; vom unehelichen Vater ledigen Standes, der zur Zeit der Zeugung das vierzigste Jahr überschritten hatte, kann es den seinem (des Vaters) Stande entsprechenden Unterhalt fordern. Die Einrede der Untreue soll beseitigt werden, mehrere Beischläfer haften zur gesamten Hand; dem unehelichen Erzeuger kann, wenn die Schwangerschaft feststeht und die Vollziehung des BeischIafes während der Empfängniszeit bescheinigt wird, vom Gerichte einstweilig die Bezahlung der Entbindungskosten und des UnterhaItsbeitrages für drei Monate aufgetragen werden, ein mit Rücksicht auf den hilflosen Zustand der Wöchnerin in dieser Lage nur zu gerechtfertigter Vorschlag. Die Erörterungen über das Familienrecht sind wohl der geistreichste Teil des Mengerschen Buches. Die Knappheit des mir zugemessenen Raumes zwingt mich jedoch, sie zu übergehen, ebenso die Besprechung 3 Eugen Ehrlich

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des Sachenrechtes, welche, wenn auch von einem anderen Standpunkte aus überaus interessant, nicht eigentlich sozialpolitischen Inhaltes ist, um bei der wichtigsten Partie, dem Obligationsrecht, länger verweilen zu können; in diesem Zusammenhange werde ich auch zwei von Menger beim Familienrechte zur Rede gebrachte Fragen kurz berühren. c) Es ist bekannt, daß man überall, wo man die früheren Wucherverbote aufhob, bald wieder sich veranlaßt sah, zu Beschränkungen der Wucherfreiheit in etwas zeitgemäßerer Form zurückzukehren. Dagegen ist selbstverständlich nichts einzuwenden; man muß aber fragen, welchen Sinn es hat, nur ausschließlich wucherische Darlehen oder wucherische Kreditgeschäfte zu verbieten oder zu bestrafen. Daß so beschränkte Wucherverbote auch praktisch ganz unzulänglich sind, ergaben mit größter Klarheit die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik über Wucher auf dem Lande. Menger weist darauf hin, daß Wucherverbote, welche sich bloß auf diese Verträge beziehen, eigentlich nur beschränkten Kreisen, Bauern, Offizieren, Beamten, Vorteile bringen können. Der eigentliche Proletarier schließt kaum je wucherische Kreditverträge ab, weil er keinen Personalkredit hat; bei Darlehen dagegen, welche mit Faustpfand gedeckt sind, müssen in der Regel sehr hohe Zinsen genommen werden und die Wucherverbote berühren diese so gut wie gar nicht. Eine Bedeutung für breitere Volksschichten werden die Wuchergesetze daher erst haben, wenn man sie auf alle anderen Arten der Verträge, namentlich auf Lohn-, Kauf-, Miet- und Pachtverträge ausdehnt, insoferne bei deren Abschluß Notlage, Leichtsinn oder Unerfahrenheit in ganz gewissenloser Weise ausgebeutet wurde: wie dies heute beim Lohnarbeitsvertrage, beim sogenannten Ratenhandel, bei den Wohnungsmieten in großen Städten, bei Verpachtung kleiner Grundparzellen nur zu häufig geschieht. d) Es wurde häufig darauf hingewiesen, daß die Lohnarbeiter ihre Lage hauptsächlich durch gesetzliche Beschränkungen der Vertragsfreiheit zu ihren Gunsten zu verbessern suchen, also durch gesetzliche Beschränkungen der Arbeitszeit aller Arbeiter, oder wenigstens der Frauen und Kinder, und gesetzlichen Ausschluß gewisser ihnen besonders nachteiliger Vertragsbestimmungen. Warum sind aber die Arbeiter der Landwirtschaft, der Hausindustrie und das Gesinde von den Wohltaten dieser Gesetzgebung ausgeschlossen? Wären sie ihnen weniger nützlich? Verdienen sie nicht in demselben Maße die Rücksichten der Gesetzgebung? Beides ist kaum anzunehmen. Die einzige Antwort, die man geben kann, ist die, daß diese örtlich zerstreuten und weniger intelligenten Arbeiter bisher nicht die Macht hatten, ihre Forderungen mit demselben Nachdrucke zu vertreten wie die besser organisierten, intelligenteren gewerblichen Arbeiter; dies kann aber kein Grund sein,

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sie auch fernerhin in diese Gesetzgebung nicht einzubeziehen. Ein Privilegium der gewerblichen Arbeiter würde selbst diesen einen geringeren Vorteil bringen als ein für die ganze Bevölkerung berechnetes Gesetz, da deren bessere Lebenshaltung sofort ein größeres Angebot von Kräften in ihrem Berufe und damit auch eine Verminderung des Wertes der Arbeit zur Folge haben müßte. Das nächste Ziel der Gesetzgebung muß daher sein, auch auf anderen Gebieten des Arbeitsrechtes diese Grundsätze sinngemäß in Anwendung zu bringen. Am reformbedürftigsten ist zweifellos das Gesinderecht, das in seiner jetzigen Gestalt wie kein anderer Teil des Rechtes zurückgeblieben ist, an die Leibeigenschaft und andere gewalttätige Herrschaftsverhältnisse der feudalen Gesellschaftsordnung erinnert. Menger verlangt in erster Linie Abschaffung des Dienstboten- und auch des Arbeitsbuches, wo es noch besteht, wie z. B. in Österreich, welches den einzigen Fall darstellt, daß über die Erfüllung privatrechtlicher Verträge unter öffentlicher Autorität ein Register geführt wird und wo die einfache Verletzung einer Vertragspflicht für das Fortkommen des Arbeiters kaum geringere Folgen nach sich zieht, als bei anderen Bevölkerungsschichten eine kriminelle Verurteilung. Ferner soll folgender Paragraph in das bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen werden, auf die Gefahr hin, daß er sich in dessen vornehmen Umgebung etwas absonderlich ausnehmen würde: "Jedem Dienstboten ist ein bestimmter Zeitraum zum Schlaf, zu den Mahlzeiten und zur Besorgung seiner persönlichen Angelegenheiten zu gewähren. Auf die Gewährung eines solchen freien Zeitraumes kann von dem Dienstboten rechtswir'ksam nicht verzichtet werden. Die höheren Landesverwaltungsbehörden haben das Recht, zur Durchführung dieser Bestimmung allgemeine Vorschriften zu erlassen, welche für die einzelnen Gesindeklassen und für örtlich abgegrenzte Bezirke verschieden sein können." In sozialer Beziehung viel wichtiger als diese Bemerkungen über das Gesinderecht sind Mengers Ausführungen über den Lohnvertrag im allgemeinen, welche nicht bloß eine Fortbildung und Ergänzung der Grundsätze der Arbeiterschutzgese1:zgebung und deren Erweiterung auf alle Arten der Lohnarbeiter, sondern auch die systematische und einheitliche Durchbildung, Anpassung der sonstigen Gesetzgebung an das neugeschaffene Recht und Gewinnung einer wissenschaftlichen Grundlage für dessen Ausbau und Fortentwicklung anstreben. Als eine solche wissenschaftliche Grundlage stellt Menger das Prinzip auf: Der Arbeitgeber habe, so weit dies von ihm abhängt, dafür Sorge zu tragen, daß im Vertragsverhältnisse die höchsten persönlichen Güter des Arbeiters: das Leben, der Körper, die Gesundheit, die Arbeitskraft, die Ehre und die Sittlichkeit nicht verletzt werden. Daraus ergibt sich

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als logische Folgerung vor allem, daß der Arbeitgeber die Arbeitskraft, welche ihm durch den Lohnarbeitsvertrag zur Verfügung gestellt wird, nur in solchem Umfange und in solcher Weise gebrauchen kann, daß dadurch jene persönlichen Güter nicht verletzt werden; es handelt sich somit um eine zeitliche Beschränkung des Arbeitstages, wie sie für Frauen und Kinder überall, in der Schweiz und in Österreich auch für erwachsene Arbeiter besteht und wie wir sie bei Arbeitern, welche dem Arbeitgeber sozial näherstehen, bei Sekretären, Hofmeistern, Ingenieuren etc. für selbstverständlich erachten. Ferner soll der Arbeitgeber verpflichtet sein, alle äußeren Vorkehrungen und Sicherheitsvorrichtungen zu treffen, welche nach dem jeweiligen Stande der Erfahrungen eine Verletzung der persönlichen Güter des Arbeiters: des Lebens, der Gesundheit, der Arbeitskraft und der Sittlichkeit, zu verhindern geeignet sind; darin liegt nichts als eine sinngemäße Erweiterung des schon in § 120 der deutschen Gewerbeordnung ausgesprochenen Grundsatzes (§ 74 der österr. GewO) und dessen Ausdehnung auf alle Arten von Arbeitern. Endlich müßte der Arbeitgeber dem Arbeiter Wohnung, Kost und Bekleidung, wenn er sie nach dem Vertrage zu leisten hat, in einer solchen Weise gewähren, daß dadurch die persönlichen Güter, namentlich die Gesundheit, die Arbeitskraft und die Sittlichkeit, nicht gefährdet werden. Der Arbeitgeber soll für die absichtliche, fahrlässige und eigennützige - die Bedeutung des Ausdruckes wird unten klargelegt werden - Verletzung dieser Pflichten haften: ein vertragsmäßiger Ausschluß oder eine Verminderung der Haftung ist rechtsunwirksam. Jede Verletzung der persönlichen Güter verpflichtet zum Schadenersatz. Eine solche Erweiterung der Schadenersatzpflicht ist um so dringender notwendig, als die Arbeiterversicherung in Deutschland den Arbeitgeber teilweise von der moralischen und juristischen Verantwortlichkeit befreit hat, was leicht eine größere Sorglosigkeit desselben zur Folge haben kann. Endlich fordert Menger Ausschluß jeder Disziplinargewalt des Arbeitgebers, namentlich des Rechtes zur Erteilung von Verweisen, zur Auflegung von Geldstrafen, zu Lohnabzügen, zur Forderung unentgeltlicher Dienste, zum Ausspruch der Entlassung. Dieses Recht des Arbeitgebers widerspricht dem allerersten Grundsatz der Prozeßwissenschaft, daß niemand in eigener Sache Richter sein kann. Der Lohnarbeitsvertrag ist eines der wichtigsten Institute des Privatrechtes; die große Mehrheit der Nation gründet auf ihn ihre wirtschaftliche Existenz. Und doch, wie verhält sich der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches dazu? Acht Paragraphen genügen, um alles, was er darüber zu sagen hat, zu erschöpfen. Der Lohnarbeitsvertrag ist dem Entwurf wie der ganzen bisherigen Gesetzgebung nichts als ein Kauf-

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vertrag: menschliche Arbeitskraft wird verhandelt und wie sonst jede andere Art der Ware; es blieb bisher den verschiedenen Gesetzgebern die Erkenntnis vollständig verschlossen, daß hier lebendige Menschen auch eine Rolle spielen und daß das eine Ware ist von ganz besonderer Art und Gattung. Soweit nicht Spezialgesetze eintreten, könnte der Dienstherr nach dem Entwurfe seinen Arbeiter in Krankheit und sogar in den Tod treiben, z. B. durch überarbeitung, ohne daß er dadurch auch nur schadenersatzpflichtig würde; schikanöse Ausübung eines vertragsmäßigen Rechtes ist ja im Entwurfe gestattet. Erst dadurch, daß nach Mengers Vorschlägen die Rechte aus dem Dienstvertrage durch die Rücksicht auf die persönlichen Güter des Arbeiters eingeschränkt werden, streift der Lohnvertrag die letzte Erinnerung an die Sklaverei ab und erhält einen wahrhaft humanen Charakter, im Gegensatz zur Vermietung oder Verpachtung einer Sache, an welcher jeder vertragsmäßige Gebrauch gestattet ist. Im engsten Zusammenhange mit den Arbeiterschutzbestrebungen stehen zwei Fragen, welche Menger beim Familienrecht untersucht. Der Entwurf überläßt es den Eltern vollständig, die Art und Weise, wie der Unterhalt dem Kinde zu gewähren ist, nach freiem Ermessen zu bestimmen; er verpflichtet also ebensowenig wie irgend ein anderes Gesetzbuch die Mutter, ihre Kinder persönlich zu ernähren und zu stillen, während doch sonst das Recht bei derartigen rein persönlichen Pflichten, wie diese Pflicht der Mutter es ist, eine Stellvertretung und Surrogate nicht zuläßt. Diese an sich unschuldig erscheinende Ausnahme ist ein Zugeständnis an die besitzenden Volksklassen auf Kosten der Besitzlosen; nur sie ermöglicht nämlich das Ammenwesen in seiner jetzigen Gestalt und Entwicklung. Während aber dadurch nur der Bequemlichkeit wohlhabender Frauen ein Dienst erwiesen wird, so werden gleichzeitig in Hunderttausende von Kindern, die später meistens in die arbeitenden Klassen eintreten, durch die unzureichende und gesundheitsschädliche Ernährung mit Surrogaten in der Zeit der größten Empfänglichkeit die Keime des physischen Verderbens gelegt. Menger fordert daher, daß eine Stellvertretung in der Pflicht, das Kind selbst zu stillen, nur durch solche Frauen gestattet werde, denen ihr eigenes Kind gestorben ist, und, wenn dies nicht durchführbar erscheinen sollte, nur dann, wenn nach ärztlicher Untersuchung des Kindes der Amme die Stellvertretung als zulässig erkannt und von dessen Vormundschaftsgericht genehmigt wird; wenn auch bei den heutigen Verhältnissen an eine strenge Handhabung der Vorschrift nicht zu denken ist, so würden doch die Fälle, in welchen das uneheliche Kind durch den Mangel der mütterlichen Pflege dem Tode in die Arme getrieben wird, etwas seltener werden.

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Ebenso einsr.itig wurde vom Entwurfe auch das Vormundschafts recht geregelt. Ein Minderjähriger kann heutzutage auch nicht über einen verhältnismäßig geringen Betrag ohne Zustimmung des Vormundes und der Obervormundschaft verfügen, das bringt jedoch dem Besitzlosen keinen Vorteil, denn sie haben eben kein Vermögen, für dessen gute Verwaltung gesorgt werden könnte; ihr einziger Besitz ist die Arbeitskraft. Wie sie aber diese verwalten, darum kümmert sich kein Vormund, keine Obervormundschaft. Ein Minderjähriger, dem die Eltern oder der Vormund gestattet haben, in Dienst und Arbeit zu treten, bedarf nach dem Entwurfe ihrer Einwilligung zum Eintritte in ein Dienst- und Arbeitsverhältnis der gestatteten Art nicht, und die im einzelnen Falle gegebene Ermächtigung gilt im Zweifel als allgemeine Ermächtigung zur Eingehung eines Verhältnisses derselben Art. Ja selbst dann, wenn das Dienst- oder Arbeitsverhältnis die Gesundheit, die Sittlichkeit und den guten Ruf des Minderjährigen gefährdet, dürfen die Eltern oder der Vormund die sofortige Auflösung nicht verlangen, sofern der Arbeitgeber die Fortsetzung des Verhältnisses beansprucht. So ist die Verantwortlichkeit der Eltern und Vormünder auf das Mindestmaß herabgedrückt, die Obervormundschaft dagegen hat mit solch einem vermögungslosen Minderjährigen überhaupt nichts zu schaffen. In allen diesen Beziehungen entspricht aber der Entwurf vollkommen dem hergebrachten Rechtszustand, und das erklärt auch, wie es möglich war, daß in den ersten Entwicklungsperioden der Industrie Hunderttausende von jugendlichen Personen, teilweise im zartesten Alter, in Fabriken geschickt werden konnten, wo sie an Überarbeitung, Mangel an Licht und Luft und anderen Schädlichkeiten massenhaft zugrunde gingen: Verhältnisse, wie sie noch heute, wenn auch nicht in diesem Maße, bei land- und forstwirtschaftlichen und zahlreichen anderen Gewerbebetrieben (auf welche sich die Fabrikgesetzgebung eben nicht erstreckt) vorkommen sollen und gesetzlich vorkommen können. Es ist daher eine durchaus gerechtfertigte Forderung, daß jedes einzelne Dienst- oder Arbeitsverhältnis eines Minderjährigen nicht ohne Zustimmung seiner gesetzlichen Vertreter (der Eltern oder des Vormundes) und der Obervormundschaft abgeschlossen werden. Eine solche Bestimmung würde nicht bloß viele Vorteile der Fabrikgesetzgebung auch auf die von ihr bisher unberührten Bevölkerungsschichten ausdehnen, sondern auch zur sozialen Kontrolle durch das Gewerbeinspektorat eine individuelle Kontrolle durch die Obervormundschaft ergänzend hinzufügen. e) Ein Vertragsverhältnis von großer Bedeutung für die besitzlose Volksklasse ist schließlich der Mietvertrag. Es wird von sehr verschiedenen Seiten betont, daß eine befriedigende Lösung der Wohnungsfrage im Rahmen des Privatrechtes überhaupt nicht möglich ist, und Menger

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stimmt dem auch teilweise zu; doch erwartet er eInIge Besserung namentlich der oft schrecklichen Wohnungsverhältnisse der großen Städte und Fabrikorte auch von einer Verschärfung der zivilrechtlichen Vertragspflichten des Vermieters. Dieser müßte für haftbar erklärt werden, wenn er vorsätzlich aus Fahrlässigkeit oder Eigennutz eine Wohnung vermietet, welche nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge durch ihre Beschaffenheit das Leben, den Körper, die Gesundheit und die Arbeitskraft gefährdet, und wenn infolge der Beschaffenheit der Wohnungen eine solche Verletzung wirklich eingetreten ist. Eine solche Bestimmung würde nach Mengers Ansicht die Wohnungszustände der ärmeren Volksklassen allmählich viel mehr bessern, als durch alle Einrichtungen der Bau- und Gesundheitspolizei jemals geschehen kann, und sie wäre nicht mehr als billig: denn man sollte doch glauben, daß selbst vom juristischen Standpunkte aus nur solche Räume vermietet werden können, welche auch objektiv zu Wohnungszwecken verwendbar sind. f) Das Schuldverhältnis aus unerlaubten Handlungen, zu dem sich Menger nunmehr wendet, ist das einzige Gebiet des Privatrechtes, welches bisher Gegenstand sozialpolitischer Erörterungen war. Menger findet daher hier einen durchfurchteren Boden als sonst irgendwo. Trotzdem ist seine Arbeit von großer Bedeutung, weil sie viel tiefer ansetzt, als es sonst der Fall ist, und es anstrebt, für alle Reformbestrebungen einen einheitlichen Ausgangspunkt zu gewinnen. Als schadenersatzpflichtig gilt nach römischem und gemeinem Recht und auch nach dem Entwurfe durchgehends nur jener, welcher einen Schaden schuldhaft, das heißt absichtlich oder fahrlässig veranlaßt hat. Wann kann aber der Schaden als schuldhaft veranlaßt angesehen werden? Was gilt als Kriterium und als Maßstab des Verschuldens? Die Antwort lautete bisher stets: das Verhalten eines ordentlichen Hausvaters. Wer den Pflichten eines ordentlichen Hausvaters genügt, ist frei von jeder Verantwortung, erst bei jenem, welcher diese Pflichten nicht erfüllt, kann die Haftungsfrageaufgeworfen werden. Aber dieser ordentliche Hausvater, wer ist das? Darüber sollen die Motive selbst Auskunft geben; "die pflichtmäßige Sorgfalt", sagen sie, "wird gemessen an dem Fleiße, der Umsicht, der Tatkraft eines tüchtigen, sorgsamen Hausvaters, welcher über die Seinigen und das Seine mit Gewissenhaftigkeit und Treue wacht". Das ist ja nichts als eine wörtliche Übersetzung aus dem Römischen, der berühmte bonus pater familias des corpus iuris, der geizige, engherzige, selbstsüchtige Römer, der Frau und Kinder in seiner nüchternen Weise liebt, aber sonst keine höheren Pflichten kennt als die eines Geschäftsmannes, wie er sich in Cato des Älteren bekannter Schrift so naiv und vortrefflich karikierte. Dieser

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Mann, dem obendrein alle großartigen Züge des alten Römertums vollständig abgehen, ist auch das Ideal aes Entwurfes geblieben. Aber wir sind doch wohl dem sittlichen Bewußtsein unserer Zeit schuldig, vom Menschen etwas mehr zu verlangen, als die römischen Juristen der Kaiserzeit, und wenn wir auch einen Idealmenschen als allgemeinen Maßstab nicht brauchen könnten, so paßt uns der praktische römische Mustermann noch viel weniger; ich wüßte nicht, worin der sittliche Fortschritt der Menschheit sonst bestehen könnte, wenn nicht darin, daß man an den Menschen immer höhere sittliche und rechtliche Anforderungen stellt, ihm immer weitergehende Pflichten seinen Mitmenschen gegenüber auferlegt. Es muß daher Mengers Vorschlag, "den wackeren Menschen" als juristisches Maß aufzustellen, im allgemeinen gebilligt werden: den Menschen, "der nie etwas der Schikanen wegen tut, der die höchsten persönlichen Güter, das Leben, die Gesundheit, die Arbeitskraft, die Ehre und die Sittlichkeit des anderen schont, der nicht nur seine eigene Wohlfahrt wahrnimmt, sondern auch für das Wohl der anderen jene Sorgfalt verwendet, zu welcher ein wackerer Mann durch Recht und Volkssitte verpflichtet ist". Jede Verletzung der Pflichten eines wackern Menschen soll als Eigennutz Schadenersatzpflicht zur Folge haben. Das würde freilich einer ziemlich einschneidenden Beschränkung der "persönlichen Freiheit" gleichkommen. Aber der Gegensatz zwischen Egoismus und Gemeinsinn besteht doch nur darin, daß der erstere zu tun gestattet, was einem beliebt, der letztere diese "Freiheit" durch Rücksicht auf das Gemeinwohl einschränkt. Verlangt man von unseren Zeitgenossen, daß sie bessere Menschen seien, als die Römer vor mehr als tausend Jahren es waren, so mutet man ihnen doch wohl nichts anderes zu als ein Opfer ihrer persönlichen Freiheit. Ich halte den Gesichtspunkt, den Menger hier geltend macht, für außerordentlich bedeutend, ist doch die Achse, um welche sich die sittliche Entwicklung der Menschheit dreht: die immer tiefere Auffassung der sittlichen Pflichten. g) Das Erbrecht hat für das Proletariat nur eine geringe Bedeutung. Menger verwirft alle jene Institute, welche selbst die Nachkommen der besitzenden Klassen ins Proletariat hinabstoßen: die Fideikommisse, das bäuerliche Anerbenrecht, ebenso die kostspieligen Formalitäten, durch welche der Entwurf die Testamente zu einem Privilegium der Reichen macht. Überdies verlangt er Einschränkung des Erbrechtes auf jene Verwandtschaftsgrade, bei denen noch ein Bewußtsein der Blutsverwandtschaft vorausgesetzt werden kann, und dieses reicht bei den heutigen Verkehrs- und wirtschaftlichen Verhältnissen in breiten Volksschichten nicht über die dritte Linie hinaus.

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Was soll aber mit den erblosen Verlassenschaften geschehen? Für diese sowie für die gefundenen und die freistehenden Sachen schlägt Menger eine eigentümliche Verwendung vor. Sie sollen den arbeitenden Volksklassen zufallen, und zwar speziell deren ökonomischer Vertretung, die sie heute in den Kassen und Anstalten besitzen, welche zur Versicherung der Arbeiter gegen Krankheiten, Unfälle, Alter und Invalidität teils bereits errichtet worden sind, teils demnächst errichtet werden sollen. Ich kann dem nicht unbedingt zustimmen. Alle diese Versicherungsanstalten können wohl in einem gewissen Sinne als ökonomische Vertretung der Arbeiterschaft angesehen werden, aber sie vertreten sie doch nur in einem sehr geringen Umfange, sie sorgen für den Arbeiter erst dann, wenn er aufgehört hat, für sich selber sorgen zu können, wenn er eigentlich nicht mehr Arbeiter ist, sondern Invalide der Arbeit. Es wäre vielleicht doch besser, für den lebendigen Arbeiter zu sorgen als für den toten, und diese Güter dem Staate zuzuweisen, mit der Auflage, sie zu Gunsten von Arbeiterproduktivgenossenschaften zu verwenden. Was dem heutigen Staate nach Mengers Ansicht noch abgeht, um einer solchen Aufgabe gewachsen zu sein, wird er vielleicht in einer nahen Zukunft erhalten: denn reiner Klassenstaat ist er gegenwärtig längst nicht mehr. h) Ich kann diese Ausführung nicht schließen, ohne einen Einwand zu berühren, welchen man gewiß gegen Menger vorbringen wird, wie er denn schon bisher gegen einzelne seiner Vorschläge vorgebracht wurde, selbst von einem so objektiven Beurteiler wie Gierke: seine Ausführungen seien an sich gut und richtig, aber undurchführbar. Das Mißtrauen gegen diesen Einwand ist gewiß nur zu gerechtfertigt, selbst wenn er von berufener Seite kommt; griffen doch bisher stets professionelle Schönfärber, ein Leroy Beaulieu und Leone Levi, dazu, wenn es sich darum handelte, unbequeme Neuerungen abzuweisen. Man mache nur dem Proletariat jene Zugeständnisse, die moralisch und juristisch geboten sind, und verschanze sich nicht hinter die Frage der Durchführbarkeit, wenn alle anderen Argumente versagen. Nützt es nicht, so schadet es gewiß auch nicht. Gewiß ist es, daß selbst eine an sich undurchführbare Maßregel nützt, denn sie beseitigt wenigstens die schreiendsten übelstände. So wenig z. B. der elfstündige Normalarbeitstag in Österreich je zur Wahrheit wurde, die sechszehn- oder siebzehnstündige Arbeitszeit, wie sie die Fabrikanten in Brünn und anderwärts praktizierten, dürften in Fabrikbetrieben denn doch nicht mehr vorkommen. überdies geben sie eine gesetzliche Grundlage für jene Teile der Bevölkerung, welche daran ein Interesse haben, Maßregeln zur Durchführung zu verlangen; und daß solche möglich sind, ist ganz zweifellos: wurde ja selbst der schwierigste Teil der sozialen Gesetzgebung, die Fabrikgesetzgebung, durch das Gewerbeinspektorat schließlich ins

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Werk gesetzt. Dazu ist nichts mehr nötig als eine Vermehrung des Beamtenpersonales; für eine solche fehlt es aber heutzutage gewiß nicht an Kräften und, bei dem ins Unendliche gewachsenen Nationalvermögen, auch nicht an Mitteln. 2. Der zweite der eingangs erwähnten Schriftsteller, Gierke, stellt ein eigentliches gesetzgebungspolitisches Programm im Mengerschen Sinne nicht auf, sondern steht auf dem Standpunkte der historischen Juristenschule: ihm ist der Zweck der Kodifikation noch immer nur die Zusammenfassung der Grundsätze des geltenden Rechtes; er fordert nur, daß die Grundsätze des Rechtes deutschen Ursprunges bei der Kodifikation in höherem Maße berücksichtigt werden, als dies im Entwurfe der Fall war, daß sie die ihnen gebührende Beachtung finden. Trotzdem steht er hoch über jenen Juristen, deren Anschauungen und Absichten in dem Entwurfe zum Ausdruck gelangen. Denn vor allem ist er von archaisierenden Tendenzen ziemlich frei, nur selten sucht er das moderne Leben in den Zustand früherer Jahrhunderte zurückzuschrauben, ungleich vielen Romanisten, welche sich oft genug bestreben, uns mit möglichst reinem römischen Rechte zu beglücken; er versteht es, daß eine neue Zeit auch neue Bedürfnisse hat und daß diese Bedürfnisse nicht befriedigt werden können durch Wiederherstellung des Rechtes einer Zeit, welche solche Bedürfnisse nicht hatte; wie denn überhaupt der germanistische Zweig der historischen Schule häufig ein tieferes Verständnis für die Bestrebungen der Gegenwart an den Tag legte als der romanistische. Auch die moderne Sozialgesetzgebung und die modernen Bestrebungen auf dem Gebiete der Sozialpolitik, obwohl dabei ausländische Anregungen bekanntlich einen ganz überwiegenden Einfluß hatten, sind in deutsches Recht und deutsches Rechtsbewußtsein gedrungen, und er verlangt deren sorgfältige Berücksichtigung im künftigen deutschen bürgerlichen Gesetzbuch. Dazu kommt noch, daß der Charakter des Rechtes deutschen Ursprungs den modernen Verhältnissen an sich besser Rechnung trägt. Bedürfnisse des Verkehrs fanden bei diesem allerdings teilweise stärkeren Ausdruck als je in Rom, namentlich jene des Großhandels und der Großindustrie, aber daneben behielt das Recht in Dörfern und teilweise selbst in Städten ein gewisses soziales Gepräge: es erhielt sich die gesellschaftliche Organisation noch aus dem Mittelalter, ein gewisses Bewußtsein des Zusammenhanges des Individuums mit der Gesamtheit, endlich mildere, schonendere Bestimmungen über den rechtlichen Verkehr. Gewiß hat sich das meiste davon uberlebt, es paßt nicht mehr in unsere Zeit hinein, aber das hindert nicht, daß die darin enthaltenen organisatorischen und sozialen Elemente sich nicht für die modernen Bestrebungen sinngemäß verwerten ließen. Man kann daher Gierke selbstverständlich mit gewissen Ein-

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schränkungen zustimmen, wenn er in der Schrift "Die soziale Aufgabe des Privatrechtes" behauptet, daß kein anderes Recht so gut für unsere Zeit passe wie das deutsche Recht. Es ist ja überhaupt sehr erfreulich, daß Menger und Gierke trotz des ganz verschiedenen Ausgangspunktes in den meisten Fragen zu durchaus ähnlichen Ergebnissen gelangen. Der Inhalt der Gierkeschen Schriften ist im wesentlichen negativ; er macht selten positive Vorschläge, sondern begnügt sich in den meisten Fällen mit einer möglichst schneidigen Kritik des Entwurfes; es bedarf einer ziemlich eingehenden Kenntnis des deutschen Rechtes, um in der Verneinung die Bejahung herauszulesen, um zu wissen, nicht bloß daß der Verfasser etwas anderes will, sondern auch, was er will. a) Was zunächst das Eigentum betrifft, so muß die auch sozial nicht unwichtige Stellungnahme Gierkes zur Frage des geteilten Eigentums hier übergangen werden; dagegen können seine Andeutungen über die Modifikation, welche der Eigentumsbegriff erfahren soll, nicht unerwähnt bleiben. Bekanntlich beschränkt das moderne Recht das Eigentum an Grund und Boden, namentlich an Wald und Wasser, und das Bergwerkseigentum durch zahlreiche Vorschriften im Interesse der Gesamtheit. Diese Vorschriften wurzeln teils noch im alten deutschen Rechte, teils sind sie modernen Ursprungs, das Eigentum an Fabriken und gewerblichen Etablissements wurde sogar überhaupt erst in der letzten Zeit in dieser Weise geregelt. Gierke fordert nun nicht bloß Festhaltung dieser Vorschriften im bürgerlichen Rechte, sondern Ausgestaltung des Eigentums an Grund und Boden, überhaupt also wohl auch des städtischen und ländlichen Grundbesitzes in dieser Art, selbst insoferne es heute noch verhältnismäßig frei ist von solchen Einschränkungen, im Namen der "im deutschen Volksbewußtsein unaustilgbaren, von der Erinnerung an den Ursprung des Grundeigentums getragenen und alle künstlichen Dämme immer wieder durchbrechenden Anschauung, daß die Erde trotz der Bodenaufteilung niemals völlig aufgehört hat, Gemeingut zu sein, und daß daher alles Sonderrecht an Grund und Boden nur innerhalb der durch das vorbehaltene Recht der Allgemeinheit gezogenen Schranken bestehen kann". Das ist ein sozialpolitisch außerordentlich fruchtbarer Gedanke. Ein im Sinne Gierkes beschränktes städtisches Grundeigentum könnte ja dem berühmten Bauparzellenschwindel ein Ende machen und die scheußlichen Höhlen, auf welche das Proletariat der großen Städte angewiesen ist, in menschenwürdige Wohnungen umwandeln, die Agrarfrage der Lösung viel näher bringen und vielleicht gar das von Gierke so sehr ersehnte Rentengut lebensfähig machen. b) Zur Vertragsfreiheit stellt sich Gierke grundsätzlich ebenso ablehnend wie Menger, doch ohne mit einem eingehenden positiven Pro-

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gramm hervorzutreten. Er verlangt mit Menger ein Verbot wucherischer Ausbeutung des Schulidners in jeder Gestalt und erwähnt dabei insbesondere die Mobilienleihverträge. Gegen die ganz manchesterliche Auffassung des Entwurfes, welcher der Dienstvertrag nichts ist als freier Kauf und Verkauf der Ware: Arbeit, welcher die Selbstergebung in jede Art von Dienstbarkeit, sei sie tatsächlich selbst der Sklaverei verwandt, möglich macht; gegen die Beseitigung aller bisherigen Einschränkungen der Vertragsfreiheit zum Zwecke des Schutzes des Schwachen gegen den Starken; gegen die unbedingte Anerkennung abstrakter Verträge, welche nur dem Wucher in die Hände arbeitet; gegen die Ausgestaltung der Miete und Pacht, namentlich des gesetzlichen Pfandrechtes des Vermieters und Verpächters, welche den Mieter und Pächter beinahe in eine Art von Grundhörigkeit bringen, verwahrt er sich entschieden. Auch beim Lohnvertrage wünscht er einen weitergehenden Schutz der Persönlichkeit, ohne sich aber darüber irgendwie näher auszusprechen. Im Schadenersatzrechte wird, dem Gange der neuen Rechtsentwicklung gemäß, eine Erweiterung der Haftung für einen ohne Verschulden verursachten Schaden und der Haftung für eine Verletzung der persönlichen Güter gefordert. In einer kurz vor dem Erscheinen des Entwurfes veröffentlichten Arbeit erklärte sich Gierke für die Erhaltung des bäuerlichen Anerbrechtes, wenigstens da, wo es bereits besteht, und hält daran auch jetzt noch fest. Der eingestandene Zweck der heute sehr kräftigen Bewegung für diese Reform ist wohl der, eine Güterverteilung im Bauernstande zu schaffen, welche dem Aufsaugungsprozeß durch den Großgrundbesitz besser Widerstand leisten könnte, als dies heute möglich ist. Es ist allerdings hier nicht der Ort, um auf die Vorteile und Nachteile dieser sehr bedenklichen Reform einzugehen. Die ungeheure Härte gegen die nachgeborenen Kinder, die sie einschließt, kann nicht hinweggeleugnet werden, ebensowenig aber, daß Verhältnisse, wie sie heute in vielen Teilen Frankreichs und in Galizien bestehen, wo ein durchschnittliches Bauerngut, infolge fortwährender Grundzerstückelung, zur Ernährung einer durchschnittlichen Bauernfamilie bei weitem nicht mehr ausreicht, dem Idealzustand keineswegs nahe stehen. Eine Lösung der sozialen Frage ist dadurch nicht gegeben, ja kaum näher gerückt. Diese Lösung der Agrarfrage wäre überhaupt schwerlich ohne Eingriffe ausführbar, wie sie in Deutschland heute und wohl noch lange Zeit nicht möglich sind. c) Am bedeutendsten werden Gierkes Ausführungen dort, wo er sich zur Besprechung von Gemeinschaftsverhältnissen wendet: zu den Rechtsverhältnissen der öffentlichen und privaten Körperschaften, Vereinen, Anstalten und Stiftungen, Gesellschaften und Miteigentumsverhältnissen. Auch in dieser Beziehung ist er im wesentlichen konservativ, er will in erster Linie Bestehendes erhalten. Aber man darf wohl sagen,

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daß die Ergebnisse seiner Ausführungen dazu angetan sind, weit mehr zu schaffen, als zu erhalten. Selbst die wohlwollendste Gesetzgebung wird von den Resten des alten Gemeinschaftsrechtes, abgesehen von der Familie, die als soziales Institut heute noch in voller Blüte prangt, nicht viel mehr retten können; aber das deutsche Recht dieser Gemeinschaften enthält eben Elemente, welche auch für durchaus moderne Gemeinschaften sich vortrefflich eignen, und es ist Gierkes nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst, dies mit großem Nachdruck betont zu haben. Leider muß ich mich hier mit einigen Worten begnügen. Im Ganzen strebt Gierke einen möglichst innigen Zusammenschluß der an einer Gesamtheit teilnehmenden Personen an, so weit dies ohne Verletzung ihrer Individualität möglich ist: daher auch eine stärker ausgeprägte Einheitlichkeit nach außen und nach innen. Er stellt sich dadurch sehr in Widerspruch zum Entwurf, der selbst im Gemeinschaftsrecht nur Individuen mit gen au abgegrenzten Rechtssphären kennt. Am stärksten treten die Bestrebungen Gierkes im Familienrechte hervor, wo neben vielem Gerechtfertigten ein gewisser archaisierender Geist sich störend bemerkbar macht, doch kann man wohl behaupten, daß ein nach seinen Grundsätzen geregeltes Gemeinschaftsrecht ein bedeutender Schritt wäre, der uns ermöglichen würde, innerhalb unserer heutigen Gesellschaft Mittelpunkte für die künftige Organisation der Menschheit herauszubilden, insoweit überhaupt der Weg dazu durch das Privatrecht führt, was allerdings in nur sehr beschränktem Maße der Fall ist. Auch zu zwei sozial sehr wichtigen modernen Gemeinschaftsverhältnissen hat Gierke in sehr charakteristischer Weise Stellung genommen. Über das eine, die Gewerkvereine der Lohnarbeiter, äußert er sich in folgender Weise: "Unmöglich wird man auf die Länge das Bedürfnis einer berufständischen Organisation der Lohnarbeiter verkennen und die Anfänge einer solchen in Bahnen drängen dürfen, welche außerhalb unserer offiziellen Rechtsordnung liegen. Reicht das gemeine Recht nicht aus, so handelt es sich hier gerade um eine Aufgabe der sozialpolitischen Reichsgesetzgebung, in deren Zusammenhange ein besonderes Gesetz über Gewerkvereine das Erforderliche anordnen kann, um die Bewegung in das richtige Bett zu leiten und die öffentliche Einwirkung auf ihren Fortgang zu sichern." An einer anderen Stelle bemerkt er über ein modernes Gemeinschaftsverhältnis ähnlicher Art: "Es mag verfrüht sein, von einer Kodifikation die Ausgestaltung des wirtschaftlichen Verbandes, den ein Unternehmer mit den seinem Betriebe als dienende Glieder eingefügten Beamten und Arbeitern bildet, zu einer geschlossenen rechtlichen Einheit zu verlangen. Allein in einer Zeit, in welcher die selbständige Be-

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deutung solcher Verbandseinheiten im Handels- und Gewerberecht, und in der gesamten sozialpolitischen Gesetzgebung mehr und mehr zur Quelle eigentümlicher Rechtssätze geworden ist, darf auch ein bürgerliches Gesetzbuch nicht einfach die Augen vor ihnen verschließen." Keine zwei Jahre verflossen seit dem Zeitpunkte, welchen Gierke als verfrüht zu einer solchen gesetzgeberischen Tätigkeit bezeichnete, und es erschienen die Erlässe des deutschen Kaisers, welche die gesetzliche Einführung von Arbeitsausschüssen in Aussicht stellten und damit den ersten Schritt zu der so erwünschten Reform taten. Es wird kaum jemand behaupten, daß wir allzu langsam leben in unserer Zeit, und in einer solchen Zeit mag der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, daß es jenen Einflüssen, welche vorläufig viel mächtiger sind als ein Kaiser, nicht lange mehr gestattet sein wird, sich zwischen ein Volk und seine Zukunft zu stellen. 3. Weder Menger noch Gierke wollen erschöpfend sein. Menger, der auch durch die ihm durch den Umfang des Braunschen Archives auferlegten Schranken offenbar beengt war, hebt es mehrmals hervor, daß er sich auf die Besprechung des Allerwichtigsten einschränke; Gierke will überhaupt kein positives Programm aufstellen. Zu Ergänzungen und Nachträgen bleibt daher Raum genug, aber es kann hier nicht der Ort sein, es mit solchen zu versuchen: es hat genügt, die Richtung vorzuzeichnen, welche die Rechtsentwicklung der Zukunft nehmen muß, wenn sie ihrer Aufgabe genügen soll; das Einzelne festzustellen ist heute noch weder erforderlich, noch auch möglich. Ich will mich daher auf zwei ganz kurze Bemerkungen beschränken. Vor allem wäre eine Bestimmung im Entwurfe erwünscht, welche nach Art des Art. 1244 des Code Napoleon dem Richter gestatten würden, in berücksichtigungswürdigen Fällen dem Schuldner Zahlungsfristen zu gewähren und Ratenzahlungen zu bewilligen. Ferner ist eine gesetzliche Regelung jener Verbindungen der Unternehmer und Fabrikanten höchst notwendig, welche unter verschiedenen Bezeichnungen (Kartelle, Trusts, Ringe) immer mehr die Produktion und den Markt beherrschen. Es scheint mir ganz unzulässig zu sein, daß der Staat dem oft ganz unverantwortlichen Treiben derselben noch lange, wie bisher, ratlos zuschaue. Was soll da aber getan werden? Soll man sie ganz verbieten? Das würde schwerlich Nutzen bringen, selbst wenn das Verbot strafgesetzlich sanktioniert werden sollte. In Frankreich besteht ja ein solches Verbot, es blieb aber bisher ganz unbeachtet, und das einzigemal, wo man, dem Kupferring gegenüber, einer der gewissenlosesten und verwegensten dieser Verbindungen, versucht hatte, es ins Leben zu setzen, ist das Gesetz an der Macht der Klassen, die hier in Frage kommen, beinahe ganz abgeprallt. Andererseits kommen diese Verbände auch teilweise einem wirk-

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lich bestehenden Bedürfnisse entgegen, denn es kann nicht unser Ideal sein, daß Fabrikanten ins Blaue hinein produzieren, ohne sich um die Erzeugung anderer zu kümmern, daß dann die Güter - da sie den Bedarf weit übersteigen - in den Magazinen unverkäuflich liegen bleiben oder gänzlich entwertet werden. Das einzige, was den Mißbräuchen steuern und auch dem vorhandenen Bedürfnisse Rechnung tragen könnte, wäre eine gesetzliche Regelung der Verbände, bei der sich der Staat ein gewisses Recht des Eingriffes und der Kontrolle vorbehalten würde; das wäre auch der erste Schritt zu der anderen großen Aufgabe der Zukunft, der staatlichen Organisierung der Gütererzeugung. Vielleicht wird so mancher, bei dem die Einleitung der vorliegenden Arbeit ungerechtfertigte Hoffnungen erweckte, das Heft enttäuscht bei Seite legen; er wird sich kaum mit dem Gedanken befreunden, daß solche unschuldige Reformen, wie die, welche hier vorgeschlagen werden, die Lösung der sozialen Frage anbahnen könnten. Aber man darf nicht vergessen, daß nur das in diesem Augenblick Mögliche, Erreichbare anstrebenswert erscheinen kann und daß diese Erreichbarkeit das Ergebnis einer Bewegung ist, die in Deutschland kaum ein Vierteljahrhundert lang dauert. Und doch wäre es ungerechtfertigt, dieses Ergebnis, so gering es auch erscheinen mag, zu unterschätL:en. Hat schon die ehrlich durchgeführte Arbeiterschutzgesetzgebung allein genügt, um in England, wo die große Chartistenbewegung den Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern drohte, ein zur Verzweiflung getriebenes Proletariat zu beruhigen und es für Jahrzehnte, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, zufrieden zu stellen, so wird der Erfolg einer durchaus in diesem Geiste gehaltenen, alle Gebiete des Lebens umfassenden, legislatorischen Tätigkeit gewiß ein viel tieferer sein. Aber auch diese kann nichts anderes sein als eine Etappe, weitere Reformen werden ihr nachfolgen, immer entscheidender und tiefgehender; ist doch die Luft mit Keimen und Ansätzen förmlich gesättigt und geschwängert.

ANTON MENGER Vielleicht gibt es nicht mehr viele Juristen - es sind bereits achtzehn Jahre her - , die sich die Umstände lebhaft zu vergegenwärtigen vermöchten, unter denen der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich ("Erste Lesung") veröffentlicht worden ist. Seit Savigny die gründliche historische Erkenntnis, ein tiefes wissenschaftliches Erfassen des geltenden Rechts als die wichtigste Voraussetzung eines bürgerlichen Gesetzbuchs verkündete, war die Arbeit auf dem Gebiete der Privatrechtswissenschaft bewußt oder unbewußt fast ausschließlich der Vorbereitung dieses großen nationalen Werkes gewidmet. Das dauerte beinahe sechzig Jahre. Was damals geleistet worden ist, dürfen wir nicht unterschätzen. Für die Geschichte des deutschen und römischen Rechts wurde die Grundlage geschaffen und ein gutes Stück des Oberbaues. Eine gewisse Art von Rechtswissenschaft, die mit den Engländern als die analytische bezeichnet werden mag, hat auf deutschem Grund und Boden eine Blüte entfaltet, wie bei keinem andern Volke Europas. Gewiß waren es nicht durchaus gesunde Sprößlinge, die diese Richtung trieb: sie ist aber selbst in ihren bedauerlichsten Auswüchsen begreiflich, wenn man bedenkt, worum es sich gehandelt hatte. Aus all dem sollte ja das bürgerliche Gesetzbuch erwachsen, so vollendet nach Form und Inhalt, so fein in seiner begrifflichen Durchbildung, so unmittelbar aus der historischen Entwicklung heraus gestaltet, wie noch kein andres Gesetz bis dahin. Die Kommission, in die eine Reihe hervorragender Praktiker und der bedeutendsten Rechtslehrer der Zeit berufen worden sind, beriet dreizehn Jahre bei geschlossenen Türen. Kein Laut drang in die Öffentlichkeit. Das alles steigerte außerordentlich die Spannung. Als aber endlich, im Dezember 1887, der Entwurf samt fünf dickleibigen Bänden an Motiven veröffentlicht worden ist, da war die Enttäuschung um so größer. Das bodenlose Werk mit seiner geschraubten, höchst technischen Sprache, mit seinen angeblich alle Möglichkeiten voraussehenden und doch oft das Wichtigste übersehenden Vorschriften, seinen überspitzten Feinheiten, seinen blutleeren Abstraktionen, mit rücksichtsloser, ganz unhistorischer Härte alles kurz und klein schneidend, was sich in das Prokrustesbett seiner Begriffswelt nicht hineinzwängen ließ, warf jeder Unbefangene, der es in die Hand nahm, unwillig von sich. Das soll das bürgerliche Gesetzbuch für das deutsche Reich werden? Die Krönung der deutschen Ein-

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heit, die Frucht langjährigen Strebens, der Mitarbeit der Besten? Unmöglich. Darüber waren alle einig. So einmütig man aber auch in der Ablehnung war, so wenig wußte man, wie man es besser machen könnte. Man mäkelte mit Allgemeinheiten an "Form" und "Geist" herum, suchte nach verfehlten Einzelheiten, verbiß sich in den im Entwurf übernommenen Satz des gemeinen Rechts "Kauf bricht Miete": und doch war es sicher, daß durch einzelne Verbesserungen und Änderungen nichts erreicht werden könnte. Es war klar, daß es nicht an den Personen lag, die den Entwurf verfaßten, sondern an der ganzen Gedankenrichtung, aus der er hervorging. Deutschland verspürte noch einmal den Hauch seines Geistes, des Begründers der historischen Juristenschule, des großen Feindes jeder staatlichen Gesetzgebung, der seine beste Jugendkraft dazu verwendete, ein deutsches bürgerliches Gesetzbuch zu hintertreiben, der auch nachher stets jeden gesetzgeberischen Eingriff lahmzulegen suchte und während der sechs Jahren seiner preußischen Ministerschaft für Gesetzgebung nicht ein einziges Gesetz zusammenbrachte. Unter dem Einflusse der Lehren Savignys wurde deutsches Rechtsbewußtsein und deutsche Rechtswissenschaft so arm, so kraftlos, so hinfällig, daß sie nicht nur die deutsche Gesetzgebung, daß sie nicht einmal die Kritik mehr zu befruchten vermochte. Nur zwei Männer wußten sich auf eine höhere Warte zu stellen. Sie kamen beide nicht von der historischen Juristenschule her. Der eine war Otto Gierke. Er war allerdings Rechtshistoriker der strengsten Richtung, aber das, was er jetzt zu sagen hatte, gaben ihm nicht die Lehren Savignys und seiner Jünger ein, sondern eine ganz ursprüngliche Begeisterung für altes deutsches Recht. Die gewaltige Kritik des Entwurfs, die er in Schmollers Jahrbuch veröffentlichte, beruhte auf seiner lebendigen Anschauung ursprünglicher Rechtseinwirkungen, die er den deutschen Rechtsaltertümern verdankte. Jeder ursprüngliche Mensch ist weit mehr als der moderne auf seine Genossen angewiesen, er verfolgt seine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ziele nicht vereinzelt, sondern mit andern in Gruppen vereinigt. Daher spielen in seinem Leben durch die Sitte gebildete, vom Recht zum Teil anerkannte menschliche Gemeinschaften eine große Rolle, und auch sonst ist sein Recht und seine Sitte von einer fortwährenden Rücksicht auf seine Genossen durchsetzt. Das galt von den mittelalterlichen Germanen nicht mehr als von den auf gleicher oder ähnlicher Entwicklungsstufe stehenden Juden, Assyrern, Griechen, Römern des Altertums, von den heutigen Slaven und Arabern. Aber in dem römischen Rechte der Kaiserzeit waren nur noch wenige Spuren davon vorhanden. Die Römer, für die dieses Recht gegolten hatte, waren keine ursprünglichen Römer 4 Eugen Ehrlich

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mehr, es waren Reichsangehörige verschiedenster Abstammung, die nach Italien eingewandert und in das römische Bürgerrecht aufgenommen worden sind. Sie hatten zweifellos in ihrer Heimat Gemeinschaften gehabt, aber sie haben sie nicht nach Italien mitgenommen, und so kamen sie für das römische Recht nicht in Betracht. Für die Entstehung neuer Gemeinschaften war aber im sinkenden römischen Reiche die ganz zersetzte Gesellschaft wenig geeignet. So trägt dieses in Deutschland am Ausgange des Mittelalters rezipierte römische Recht durchaus individualistisches Gepräge. Dagegen ist Deutschland, dessen Volk seit undenklichen Zeiten dieselbe Heimat bewohnt, heute noch voll von Überbleibseln seiner ursprünglichen gesellschaftlichen Verfassung. Ebenso ist für die Entstehung neuer Gemeinschaften, die durchaus modernen Bedürfnissen dienen sollen, der Boden heute durchwegs günstig, allerdings nicht bloß in Deutschland, sondern auch in England, Amerika, Frankreich und Italien. Es sind neue Formen des Gemeinsinns, die neue Organisationsformen zeitigen. Diese Gemeinschaften, und der Gemeinsinn, der sie erzeugt und dem sie dienen, ist ein überaus anheimelnder und wertvoller Bestandteil des deutschen Rechts, und Gierke verlangte daher auch vom neuen deutschen Recht, daß es das Überkommene pflege und dem Neuen, das da wächst und sich entfaltet, den Weg ebne. Er verlangte wohl einigermaßen zu viel, denn unter dem Hergebrachten gab es viel Veraltetes, das der Pflege nicht mehr wert war, und neue Gemeinschaften müssen doch zum größten Teil aus der Gesellschaft hervorgehen, nicht aus der Gesetzgebung. So enthält seine Kritik einiges Anfechtbare, aber das Ganze gehört zu den großartigsten Leistungen auf dem Gebiete der Gesetzgebungspolitik. Der andere war Anton Menger. Eine Reihe von Aufsätzen, die er unter dem Titel: "Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen" in dem damals noch Braunschen Archiv für soziale Gesetzgebung der Öffentlichkeit übergab, enthielt eine flammende Verwahrung gegen den Inhalt des Entwurfs vom Standpunkte der besitzlosen Volksklassen und formulierte zugleich in ihrem Namen die Forderungen, die sie schon in diesem Zeitpunkte an die Gesetzgebung zu stellen hätten. Der Entwurf enthalte nur ein Recht für die besitzenden Klassen; er gebe nur das, was ihnen frommt, er schließe grundsätzlich alles aus, woran sie kein Interesse hätten. Selbst in der Anordnung, in der Sprache des Entwurfs trete die alleinige Rücksicht auf die Besitzenden zu Tage. Vor einigen Jahrzehnten wäre eine von diesem Geiste beseelte Privatrechtskodifikation immerhin möglich gewesen, denn die besitzlosen Volksklassen waren im Staate und der Gesellschaft machtlos, und die Gesetzgebung hätte sich um sie nicht zu kümmern gebraucht. Jetzt haben sich aber die Machtverhältnisse offenbar zu ihren Gunsten verschoben, und sie könnten verlangen, daß ihre Interessen in einem Ge-

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setzbuch, das dazu bestimmt sei, das Privatrecht Deutschlands auf Jahrhunderte hinaus festzulegen, einigermaßen berücksichtigt werden. Mengers Kritik des Entwurfs ist nach Form und Inhalt eine köstliche Leistung. Die viel gerühmten Vorzüge des Mengerschen Stiles treten in keiner seiner Schriften so wie hier hervor. Jeder Satz wie in Stein gehauen, kein Wort zu viel oder zu wenig, die Gedanken, fest aneinandergefügt, stehen wie ein aus Quadern errichtetes Mauerwerk da. Hie und da veranschaulicht ein treffliches Bild die abstrakte Erörterung: so wenn er den alten Zivilprozeß mit seiner Verhandlungsmaxime mit einem verdorbenen Uhrwerk vergleicht, "das fortwährend gestoßen und geschüttelt werden muß, um wieder auf kurze Zeit in Gang zu kommen". Unübertrefflich ist der Hohn, mit dem er den Entwurf behandelt. Wenn der Entwurf dem verführten Mädchen den ihr bisher nach gemeinem Rechte zustehenden Entschädigungs-(Deflorations)anspruch gegen den Verführer mit der Begründung abspricht, "da sie doch eingewilligt habe", so bemerkt Menger, die Motive vergäßen, daß es sich zum großen Teil um Mädchen handelt, die noch minderjährig (unter 21 Jahren) sind und deshalb, "um den geschmackvollen Kunstausdruck des Gesetzbuchs zu gebrauchen, in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkt sind". "Glücklicherweise" - meint er an einer andern Stelle - "stehen die körperlichen Reize der Frauen mit ihrer ,Geschäftsfähigkeit' in umgekehrtem Verhältnis; bei allzu zweifelloser ,Geschäftsfähigkeit' werden sie regelmäßig der natürlichen Mittel zur Verführung entbehren." Gegenüber der Bestimmung des Entwurfs, der Unterhalt, (auch der, den die Eltern den Kindern zu gewähren haben) sei regelmäßig in einer Geldrente zu leisten, erinnert er an das Witzblatt, das täglich, mit Ausnahme der Wochentage, erscheint. Und erst das konzentrische Feuer, das er gegen den Grundsatz des Entwurfs richtet, eine Haftung für Schadenersatz entstehe nur für den, der "die Sorgfalt des ordentlichen Hausvaters" außer Acht gelassen habe: "Und doch, welch scheußliches Zerrbild, wert von der Hand eines Juvenal oder eines Dickens gezeichnet zu werden, ist dieser ,ordentliche Hausvater' des deutschen Entwurfs. Obgleich weder im Entwurf noch in den Motiven eine Begriffsbestimmung des ordentlichen Hausvaters gegeben ist, so läßt sich doch aus ihnen ein klares Bild dieser kläglichen Erscheinung gewinnen. Läßt der ordentliche Hausvater jemand in Gefahr oder Not verkommen, dem er leicht hätte helfen können, so antwortet er, daß ein ordentlicher Hausvater nur ,über die Seinigen und das Seine mit Gewissenhaftigkeit und Treue wacht' (Mot. I, 379). Hat er ein Mädchen verführt un'd verlangt es Entschädigung, so entgegnet er der Verführten, ,daß sie trotz der Verführung der Willensfreiheit nicht beraubt war, demjenigen aber, welcher in eine beschädigende Handlung eingewilligt, naCh § 706 d. E. ein Anspruch auf Schadenersatz nicht zustehe' (Mot. IV, 914). Hat ein

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Arbeiter im Dienste oder ein Mieter in einer ungesunden Wohnung seines Hauses die Gesundheit oder die Arbeitskraft eingebüßt, so tröstet er sie damit, daß er seine vertragsmäßigen Verpflichtungen genau erfüllt habe (§ 503 - 505, 559 d. E.). Hat der ordentliche Hausvater dem Nachbarn - ohne eigentlichen Nutzen und lediglich aus Gehässigkeitseine Fenster durch eine Mauer verbaut, so verweist er einfach auf die Motive (11, 727), wonach derjenige, ,der ein besonderes Recht' (hier das Eigentumsrecht) ,ausübt, immer haftfrei sein muß, auch wenn er aus Chikane handelt'." So schlagend die Kritik, so zutreffend waren die Vorschläge, die Menger machte. Nur eines muß nachdrücklich gesagt werden: sozialistisch waren diese Vorschläge keineswegs. Versteht man unter Sozialismus, wie billig, das Streben nach einer gemeinwirtschaftlichen Gestaltung der Gütererzeugung, so sind bei Gierke viel zahlreichere Ansätze dazu vorhanden als bei Menger. Gierke will überall die bereits vorhandenen Gemeinschaften, den Staat, die Gemeinden, die Vereine, möglichst genossenschaftlich ausbauen und sie so befähigen, auch Träger wirtschaftlicher Funktionen zu werden; er will neue Gemeinschaften genossenschaftlichen Gepräges schaffen, insbesondere die Arbeiterverbände dazu erheben; daß sich daraus mit der Zeit umfassendere gemeinwirtsch'aftliche Organisationen entwickeln würden, ist mindestens denkbar, und dieser Gedanke scheint Gierke auch in der Tat vorgeschwebt zu haben. Mengers Anläufe in dieser Richtung sind sehr unbeträchtlich: so wenn er auf die "Entleerung" des Eigentums zu Gunsten des Staates hinweist, oder wenn er die herrenlosen Sachen und die erblosen Verlassenschaften den Arbeiterkranken-(Unfall-)Invaliditätsund Altersversorgungsanstalten als der "Vertretung der besitzlosen Volksklassen" zuweisen will. In diesem Sinne ersehnt er auch eine Erstarkung der Familie und wünscht ein festgefügtes Eherecht. "Die Familie ist in unsrer Zeit die einzige Gemeinschaft, in der das Gefühl der Brüderlichkeit und der Hingebung praktisch betätigt wird, und die besitzlosen Volksklassen haben deshalb kein Interesse, die Festigkeit der Ehe, des Fundaments der Familie, durch allzugroße Ausdehnung der Scheidungsgründe zu erschüttern. Erst dann, wenn die höhern Lebenskreise, die Arbeitergruppe, die Gemeinde, der Staat, sozial organisiert sind und die Familie in ihren wohltätigen Wirkungen einigermaßen ersetzen, wird zu erwägen sein, ab das Band der Ehe ohne Schaden der Gesellschaft gelockert werden kann." Aber im allgemeinen ist er nur darauf bedacht, individuelle Ansprüche Besitzloser an Besitzende zu steigern. Es liegt gewiß im Vorteile der besitzlosen Volksklassen, die Rechte der Verführten gegenüber dem Verführer, des unehelichen Kindes gegenüber dem Erzeuger zu erweitern: denn die Mutter und das Kind gehören in der Regel den besitzlosen, der Verführer und der Erzeuger, wenigstens in den Fällen, auf

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die es ankommt, den besitzenden Klassen an. Ebenso haben die besitzlosen Volksklassen gewiß ein Interesse daran, daß mindestens in gleichem Maße wie für Vermögensschäden auch für Schaden an Leben, Körper, Gesundheit gehaftet werde: denn die Beschädigung dieser Güter spielt bei ihnen eine viel größere Rolle als die etwaige Beschädigung ihres meist unbeträchtlichen Vermögens. Aber sozialistisch ist das nicht gedacht. Es widerspricht geradezu den sozialistischen Grundsätzen, den Schaden, der aus dem Verhalten des einzelnen entspringt, in seinem meist ganz zufälligen Umfange, ausschließlich dem Beschädiger aufzubürden und ihn so vielleicht über das Maß seiner Kräfte heranzuziehen. Viel sozialistischer ist es, gemeinwirtschaftIiche Anstalten, meinetwegen hauptsächlich aus den Beiträgen der Besitzenden, die für den Unterhalt unehelicher Kinder, für den zufälligen Schaden aufzukommen hätten, zu schaffen, den Beschädiger aber nach Maß seines Verschuldens in andrer Weise zu büßen. Die Findelhäuser, die Tourniquets, die Menger so entschieden verwirft, die Arbeiterunfallversicherung sind ihrem Grundgedanken nach sozialistischer als Mengers Vorschläge. Höchst anregend ist auch Mengers Gedanke, wenigstens teilweise den ordentlichen Hausvater des bisherigen Rechts durch den "wackern Menschen" zu ersetzen. Er schlägt vor, in das Gesetzbuch folgenden "sehr einfachen und volkstümlichen Paragraphen" aufzunehmen: Jedermann ist verpflichtet, für andre die Sorgfalt zuzuwenden, zu der ein wackrer Mensch verpflichtet ist. Jede Verletzung dieser Verpflichtung ist eine unerlaubte Handlung. Man hat darüber viel gelächelt: der wackere Mensch sei ein Ideal, der ordentliche Hausvater ein Durchschnitt; zum allgemeinen Maßstab des Verhaltens könne nicht ein Ideal, sondern nur ein Durchschnittsmensch dienen. Das ist ungerecht. Auch der wackre Mensch Mengers ist ein Durchschnitt, nur ein sittlich etwas höher stehender als der wohlbehauste und wohl begüterte Mastbürger, der bonus pater familias des gemeinen Rechts. Es stünde schlecht um unsre Gesittung, wenn man die Sorgfalt, zu der ein wackrer Mensch nach Gesetz und Volkssitte verpflichtet ist, nur einem Ideal ansinnen könnte. Selten hat eine juristische Schrift auf weite Kreise so tiefen Eindruck gemacht, wie die Mengersche Kritik des Entwurfs. Fast alles, was heute das bürgerliche Gesetzbuch für das deutsche Reich an sozialpolitischen oder sozialpolitisch gefärbten Vorschriften enthält, ist Menger zu verdanken: die verbesserte Stellung der Verführten ader sonst zum Opfer einer unsittlichen Handlung gewordenen Frau und des unehelichen Kindes, die Ausdehnung des Wucherbegriffs auf alle Verträge, die Haftung des Dienstgebers und Vermieters für eine Leben und Gesundheit gefährdende Vertragsausübung. Noch stärker war der Einfluß Mengerscher Gedanken auf den schweizerischen Zivilgesetzentwurf, zum al in

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seiner ersten, noch unmittelbar von Huber herrührenden Fassung. Auch die österreichische Zivilprozeßordnung hat mehrere seiner Gedanken verwirklicht, die sich vortrefflich bewähren: war doch ihr Urheber, Franz Klein, Mengers unmittelbarer Schüler. Schwerer zu übersehen, aber jedenfalls sehr groß war der Einfluß der Schrift auf die Gedankenwelt des lebenden Juristengeschlechts. In dieser Beziehung dürfte er bahnbrechend gewirkt haben. In die Jurisprudenz des bürgerlichen Rechts ist die soziale Gesetzgebungspolitik zum großen Teile erst mit ihm eingezogen. Schon in einem frühem Werke, dem zuerst im Jahre 1886 erschienenen: Recht auf den vollen Arbeitsertrag, kündigte Menger seine weitergehenden Absichten an: er sei damit beschäftigt, den Sozialismus als Rechtssystem darzustellen; die vorliegende Schrift, die das Schicksal einer einzigen sozialistischen Forderung, des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag, geschichtlich behandele, sei ein Fragment dieses Werkes. An diesem sozialistischen Rechtssystem arbeitete Menger, der es für das Hauptwerk seines Lebens ansah, unausgesetzt viele Jahre. Es erschien endlich im Jahre 1903 unter dem Titel: Neue Staatslehre; ein verhältnismäßig schmächtiges Buch, mit dem Register 335 Seiten sehr ausgiebigen Druckes enthaltend. Aus Mengers eigenen Mitteilungen weiß ich, daß sein jetziger Umfang ein Ergebnis fortwährender Kürzungen ist: es war ursprünglich, wenn ich nicht irre, auf drei Bände berechnet. Menger legte den größten Wert auf die Kürze seiner Bücher. "Wer wirken will, muß damit rechnen, daß die meisten Menschen der Arbeit und nicht dem Bücherlesen leben. Sie haben für die Bücher nur kleine Bruchstücke ihrer Zeit übrig. Ist das Buch zu lang, um in dieser Zeit gelesen zu werden, dann bleibt es liegen, es gehört nicht dem Leben, sondern der Literatur an." Diese Neue Staatslehre ist nun wirklich ein höchst merkwürdiges Buch. Sie will ein Bild des Rechts und der Verwaltung des "volkstümlichen Arbeitsstaates" geben. "Durch die Neue Staatslehre", sagt Menger in der Vorrede, "soll der sozialistische Gedankenkreis, der in solcher Vollständigkeit noch niemals dargeboten wurde, den herrschenden und gebildeten Klassen in Deutschland und in andern Ländern näher gebracht werden. Der fast ausschließlich kritische Sozialismus mußte notwendig den Widerspruch weiter Kreise hervorrufen, weil wenige Klugheitsregeln so allgemein anerkannt sind, wie das alte Sprichwort, daß Kritisieren leicht, Bessermachen schwer ist." Hier kann nun jedermann erfahren, wie es aussehen wird, wenn einmal der volkstümliche Arbeitsstaat Tatsache werden sollte, wie der Staat, die Gemeinde, die Arbeitergruppe, die Schule, die Kirche gestaltet wird, und endlich, mit welchen Mitteln das alles erreicht und das Erreichte festgehalten werden soll.

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Man könnte versucht sein, das Buch den vielen Utopien an die Seite zu stellen, die seit Platos Republik in so großer Zahl veröffentlicht worden sind, aber man täte sowohl den Utopien als auch Menger damit Unrecht. Es handelt sich gar nicht um eine phantastische Schilderung des Zustandes ewiger Glückseligkeit, den eine vernünftige Ordnung menschlicher Dinge, zumeist einhergehend mit einer erheblichen sittlichen und intellektuellen Verbesserung der Menschen überhaupt, mit sich bringen soll. Es ist eine höchst wissenschaftliche, überaus nüchterne, fast durchaus juristisch-kritische Auseinandersetzung. Das Buch will eine Bewährung des sozialistischen Ideals bieten, indem es "nur die heute schon wirksamen Triebfedern des menschlichen HandeIns anerkennt, indem es ferner überall an die überlieferten Anschauungen von Recht und Staat anknüpft, und nur die der weltgeschichtlichen Praxis bisher geläufigen Mittel der politischen und sozialen Umgestaltung empfiehlt". Bei jeder Frage wird zunächst mit erstaunlicher, 'allumfassender Gelehrsamkeit angegeben, was die Sozialisten aller Jahrhunderte vorgeschlagen haben. Gegenüber jedem Lösungsversuche, der in der Literatur aufgetaucht ist, wird umsichtig das Für und Wider erörtert und endlich der eigne Standpunkt mit kurzer Begründung dargelegt. Wenn man Anton Menger als Sozialisten bezeichnet, so ist das ebenso einfach wie nichtssagend. Es gibt keine sozialistische Partei und keine sozialistische Welt-, Rechts- oder Staatsanschauung. Eine bestimmte Bedeutung hat nur der Ausdruck Sozialdemokratie: da handelt es sich um eine politische Partei mit einem scharf umrißnen und sehr umfassenden Programm und fester Organisation. Im übrigen darf sich jeder Sozialist nennen, der eine wesentliche Umgestaltung der Gesellschaft durch sehr einschneidende Maßregeln für möglich oder wünschenswert hält. So gIbt es einen königstreuen Sozialismus, einen (Beamten-) Staatssozialismus, einen aristokratisch'en, feudalen, christlichen, kleingewerblichen, und ähnlich verschiedene Richtungen des proletarischen, demokratischen Sozialismus. Aber innerhalb dieser im einzelnen sehr verschiedenen Gedankengänge lassen sich doch zwei geschlossne Gruppen unterscheiden. Entweder stellt man sich die Sache so vor, es werde von einer Person oder Klasse, die sich am Ruder befindet, vom König, dem Adel, der Kirche eine bessere Ordnung der Gesellschaft durchgesetzt werden, oder die heute unterdrückten Bevölkerungsschichten würden einmal, unter günstigen Umständen, den auf ihnen lastenden Druck abschütteln und das Schicksal der Menschheit sowie das eigne Schicksal in ihre Hand nehmen. Es stehen einander also im wesentlichen zwei Strömungen gegenüber: eine autoritäre, die es von oben herab, und eine demokratische, die es von unten hinauf machen will. In der demokratischen ist die sozialdemokratische in Deutschland und Österreich die mächtigste, fast die einzige, die in Betracht kommt; dagegen überwiegen

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unter den demokratischen Sozialisten Englands, Amerikas und wohl auch Frankreichs andre Lehren. Nun, Anton Menger war gewiß kein Sozialdemokrat. Er war nie auf das Programm der Sozialdemokratie eingeschworen. Mit großer Schärfe heben es die Sozialdemokraten, selbst die ihm sonst freundlich gesinnten, hervor. So schrieb ein führendes Blatt erst jüngst, aus Anlaß seines Todes: "An ton Menger handelt es sich immer nur um die besitzlosen Volksklassen, uns ist es um das kämpfende Proletariat zu tun. Er war unser Mitstreiter, aber nicht Parteigenosse." Er wurde sogar nach seinem ersten Auftreten heftig von den Sozialdemokraten befehdet. Das hatte allerdings zunächst nur einen persönlichen Grund. Er hat sich nämlich in seiner ersten dieser Richtung angehörenden Schrift, im Recht auf den vollen Arbeitsertrag, am Purpur vergriffen: er hat Karl Marx (ebenso übrigens auch Rodbertus) des Plagiats an älteren englischen Sozialisten, insbesondere William Thompson beschuldigt. Das wurde von der Sozialdemokratie auch gehörig heimgezahlt. Engels und Kautsky veröffentlichten - übrigens ohne Zeichnung - eine gemeinsam verfaßte höchst verletzende Erwiderung in der Neuen Zeit, die jedoch nichts Tatsächliches enthielt. Das Sakrileg wurde Menger von den Sozialdemokraten lange, von Kautsky wohl bis auf den heutigen Tag, nicht vergessen. Menger hielt jedoch an seiner überzeugung fest. Ich hatte noch kurz vor seinem Tode Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen. Als ich ihm gegenüber erwähnte, daß selbst nach seinen eignen Angaben Marx (und Rodbertus) doch nur einige unwesentliche Einzelheiten Thompson entlehnt hätte, die bei einem so außerordentlich Reichen nicht viel ausmachten - schließlich gäbe es niemand, der seinen Ahnen nicht etwas schulden würde - , da erwiderte er fast gereizt: "Nein, das ist nicht so. Als ich mich mit Marx eingehender zu beschäftigen begann, da fiel es mir auf, daß er alle Welt anführt, nur die älteren englischen Sozialisten nicht. Dann begann ich zu vergleichen und fand, daß er nicht etwa bloß einzelne Worte, sondern ganze Gedankenreihen von ihnen, zumal von Thompson, herüber nimmt. Wer das tut, der will plagiieren." Dem sei wie immer, der Wert, den Menger auf diese seine Entdeckung legte, schaffte ihm in der Sozialdemokratie nicht nur Gegner, sondern auch Feinde und lag seiner sachlichen Würdigung in diesem Lager sehr im Wege: es ist bezeichnend für die Rolle, die rein persönliche Fragen im angeblich streng wissenschaftlichen Meinungskampfe spielen. Wenn aber auch keineswegs Sozialdemokrat, so gehört Anton Menger doch zu den demokratischen Sozialisten. Es kann nach dem ganzen Inhalt seiner Werke gar keinem Zweifel unterliegen, daß er sich nie an die heute bestehenden Autoritäten, sondern immer nur an die untern,

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nach seiner eigenen Ausdrucksweise an die "besitzlosen" Volksklassen wendet. Sein Gedankengang ist immer derselbe: Jede Klasse, die einmal am Ruder ist, gestaltet den Staat, die Verwaltung, das Recht, wie es ihr vorteilhaft erscheint. Bisher waren überall die besitzenden Volksklassen die herrschenden, folglich haben auch Staat und Recht nur für sie bestanden, haben nur ihren Interessen gedient. Jetzt sind die besitzlosen Volksklassen immerhin soweit vorgeschritten, daß sie wenigstens gewisse Änderungen in ihrem Interesse durchzusetzen vermöchten. Das was sie jetzt verlangen können, sagt er ihnen in seiner Kritik des Entwurfs. Werden sie aber einst die ganze Macht an sich reißen, so werden sie auch Staat und Recht vollständig in ihrem Sinne umgestalten: wie das zu machen, das soll eben die neue Staatslehre lehren. Hier liegt hauptsächlich der Gegensatz zwischen Anton Menger und dem offiziellen Glaubensbekenntnis der Sozialdemokratie. Für beide ist die soziale Frage vor allem eine Machtfrage: es handelt sich immer darum, di-e Machtmittel des Staates dem arbeiteniden Proletariat in die Hände zu spielen, damit es ihn seinen Interessen gemäß ordnen könne. Aber nach der von den Sozialdemokraten angenommenen Lehre von Marx hat diese Lösung eine Reihe rein wirtschaftlicher Voraussetzungen. So lange sich die Gütererzeugung ausschließlich oder vorwiegend in kleinen bäuerlichen und gewerblichen Betrieben vollzieht, in denen ein Bauer oder Kleingewerbetreibender mit wenigen Hilfskräften genügend hervorbringt, um sich und die Seinigen zu ernähren, allenfalls noch einen kleinen Überschuß auf den nahen Markt zu bringen, kann von einem solchen Umschwung keine Rede sein. Zunächst muß die Gütererzeugung konzentriert werden: an Stelle der bäuerlichen Wirtschaften müssen Latifundien, an Stelle der kleingewerblichen Betriebe müssen Fabriken treten; das wird durch ein fortwährendes Aufsaugen des kleinen Besitzes durch den großen bewirkt. Auf diesen Latifundien, in diesen Fabriken geht die Arbeit zunächst "gesellschaftlich" vor sich: da sind nicht einige wenige Familienmitglieder und freie oder unfreie Knechte oder Gesellen, sondern Tausende und Abertausende freier Arbeiter nebeneinander und miteinander tätig. Die Gütererzeugung findet aber jetzt auch "für die Gesellschaft" statt: das Erzeugnis ist nicht mehr, wie einst das des Bauers oder des Kleingewerbetreibenden für die von ihnen beschäftigten Personen, die Familienmitglieder und Hilfskräfte, höchstens noch für den kleinen örtlichen Markt bestimmt, sondern für den Weltmarkt. Durch a11 das wird zunächst die Macht der Arbeiterschaft ungeheuer gesteigert. Sie ist nicht wie früher in kleinen Arbeitsstätten zersplittert, sondern zu großen Massen vereinigt. Die bloße Tatsache der Zusammenarbeit und das Bewußtsein gemeinsamer Interessen, das sie erzeugt, legt aber den Keim zu einer Organisation, der sich in der Folge gewaltig entwickelt. Andererseits wird jetzt erst

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die Bedeutung der Arbeiterschaft für die Gütererzeugung vollständig klar: "Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!" In demselben Maß sinkt die Bedeutung des Kapitalisten, des Eigentümers von Grund und Boden und der Arbeitsmittel. Als er noch Bauer oder Kleingewerbetreibender war, ist er die Seele des Ganzen gewesen; ohne seine leitende, organisatorische, beaufsichtigende Tätigkeit wäre die Arbeit in den meisten Fällen gar nicht möglich gewesen. Jetzt tritt er ganz in den Hintergrund. Schon heute wird er in der Regel als Leiter und Organisator von einem Direktor und seinen Hilfskräften ersetzt. Wird diese Entwicklung zum Abschlusse gelangt und die Macht des Proletariats auf diesem Wege genügend angewachsen sein, um vom Staate selbst Besitz zu ergreifen, so wird es ihm ein Leichtes sein, den für die Gütererzeugung ganz überflüssigen Unternehmer vollständig auszuschalten. Anton Menger unterscheidet sich von Marx hauptsächlich dadurch, daß er diese ganze Geschichts- und Wirtschaftsphilosophie schlechthin verwirft. Er sagt einfach: die besitzlosen Volksklassen werden immer mächtiger - und gibt dafür fünf Gründe an, die allerdings zum Teile offenbar mit wirtschaftlichen Umwälzungen zusammenhängen: 1) die Erschütterung des gesamten Rechtszustands in Europa durch eine Reihe von Revolutionen und Staatsstreichen, 2) das Zurückdrängen der religiösen Überzeugungen, die die besitzlosen Volksklassen einst gefesselt hatten, durch die Erfahrungswissenschaften, 3) den internationalen Charakter der sozialen Bewegung; 4) das Zusammenleben der Industrie- und Landarbeiter in großen Massen, 5) die Steigerung der geistigen Ausbildung infolge der allgemeinen Schulpflicht und anderer volkstümlicher Bildungsanstalten. Jedenfalls hängt aber nach ihm der volkstümliche Arbeitsstaat von irgend welchen wirtschaftlichen Vorgängen ganz und gar nicht ab: wo immer und wann immer die besitzlosen Volksklassen die Macht dazu haben würden, könnten sie ihn ins Werk setzen. Hätte Gaius Marius mit seinen Proletarierheeren gewußt, was zu tun ist, so hätte er es ebenso durchführen können, wie etwa der Konvent der ersten französischen Republik. Die Lösung der sozialen Frage ist ausschließlich Rechtsfrage: mit dem sozialistischen Recht wäre jederzeit auch der volkstümliche Ar'beitsstaat da. Allerdings nähert sich Menger wieder Marx, indem er doch auch eine Art von Entwicklung annimmt. In der Kritik des Entwurfs weist er mehrmals darauf hin, daß es wünschenswert wäre, wenn die herrschenden Klassen der steigenden Macht der besitzlosen Volksklassen jetzt schon in der Gesetzgebung Rechnung tragen und so den Übergang zum volkstümlichen Arbeitsstaat langsam vorbereiten würden, damit er sich ohne Gewalttätigkeiten vollziehen könne. Das ist immerhin Entwick-

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lung, wenn auch eine dekretierte, nicht eine aus innerer Notwendigkeit herauswachsende. Bezeichnender ist es, wie er an einer andern Stelle von der stufenweise vor sich gehenden "Entleerung" des Eigentums spricht: einerseits dadurch, daß der Eigentümer einen immer wachsenden Teil des Ertrages als Steuer dem Staatsschatz abliefern muß, andererseits dadurch, daß er infolge der immer mehr um sich greifenden Flur-, Forst-, Berg-, Wasser-, Straßen-, Gewerbe-, Feuer-, Bau- und Gesundheitspolizei sowie des Enteignungsrechts, bei Benützung des Eigentums auf Schritt und Tritt der Aufsicht und Zustimmung der Verwaltungsbehörden unterworfen ist. "Das Ende dieses geschichtlichen Prozesses wird allerdings darin bestehen, daß das Eigentum und damit das ganze Privatrecht vollständig vom öffentlichen Recht überflutet wird, ähnlich der Insel Helgoland, von der jährlich ein Stück abbröckelt, und die schließlich in den Wellen des Ozeans untergehen muß." Hier erscheint die Entwicklung schon mehr als Ergebnis des Waltens dunkler Naturkräfte. Aber in der neuen Staatslehre suche ich vergeblich nach deutlichen Spuren dieses Gedankenganges. Gewiß ist der marxistische Gedankenbau außerordentlich lückenhaft. Menger sagt mit Recht: Staats- und Rechtseinrichtungen, Religion, Sittlichkeit, Kunst, Wissenschaft, alles in der Welt im Sinne der marxistischen "materialistischen Geschichtsauffassung" von der Art und Weise der Gütererzeugung abhängig zu machen, das ist eine Einseitigkeit, die ans Lächerliche streift. Nicht einmal für die Rechts- und Staatseinrichtungen trifft das durchgehends zu. Aber es ist schon ziemlich viel, den außerordentlichen Zusammenhang zwischen der Gütererzeugung und den Rechts- und Staatseinrichtungen so wie Marx dargelegt zu haben. Andere mögen ja noch andere Zusammenhänge nachweisen: schon Montesquieu hat damit begonnen. Daß sich aus dem von Marx behaupteten Zusammenhange der schließliche Sieg des Kollektivismus ergäbe, das soll wieder nicht behauptet werden: die neueste Entwicklung, zumal in England und den Vereinigten Staaten, scheint sehr dagegen zu sprechen l . Menger beruft sich gegen Marx auf die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland, die von den deutschen Fürsten veranlaßt worden sei; auf die Art, wie Napoleon den Code Napoleon Völkern in den verschiedensten wirtschaftlichen Verhältnissen aufgedrängt habe und wie sich dieser gerade in den rückständigen Ländern, Neapel und Polen, länger als in fortgeschrittenen erhalten hätte. Aber die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands zur Zeit der Aufnahme des römischen Rechts entsprachen in hohem Grade denen des römischen Reichs zur Zeit, als das in Deutschland aufgenommene römische Recht dort entstanden war; wie sehr es aber trotzdem von der t

Vgl. den Anhang über die Verelendungs-Theorie.

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Wissenschaft und Rechtspflege für die deutschen Verhältnisse erst zurechtgeschnitten werden mußte, wie sehr das gemeine Recht auch in der Folge den jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zuständen angepaßt worden ist, das weiß jeder Kundige. Auch die rückständigsten Länder des Code Napoleon, auch Neapel und Polen, standen in keinem allzu großen Gegensatz zu dem Frankreich, das sich im Code Napoleon ein technisch vortreffliches bürgerliches Recht geschaffen hatte; es ist also immerhin verständlich, daß dieser anwendbar blieb. Insoweit es aber Unterschiede gab, wurde ihnen durch gesetzgeberische Maßregeln, zahlreiche Änderungen seines Wortlautes, noch mehr aber in der Rechtspflege, Rechnung getragen. Daß der Code Napoleon in Polen und Neapel, ja sogar in Belgien oder im rechtsrheinischen Deutschland ganz anders angewendet worden ist als in Frankreich, dürfte kaum bezweifelt werden können: der jüngst erschienene Livre du centenaire du Code Civil gibt über dessen Schicksale in den verschiedenen Ländern seiner Geltung sehr interessante Aufschlüsse. Selbst das österreichische bürgerliche Gesetzbuch ist ein ganz anderes Ding in Niederösterreich oder Böhmen einerseits und in Galizien oder Dalmatien andererseits. Aber ist es je einem Volke auf höherer Entwicklungsstufe eingefallen, sein Recht einem ganz tief stehenden Volke aufzudrängen? Galt je der Code Civil für den Eingeborenen Algeriens, das englische Recht für den Hindu, das amerikanische für den wilden Indianer, das russische für die Steppenvölker Asiens, das österreichische bürgerliche Gesetzbuch für die Bosniaken? Bekanntlich sind alle Versuche, ähnliches durchzusetzen, gescheitert. Dabei überschätzt aber Menger gar sehr die Bedeutung all dieses aufgedrängten Rechts. Es bleibt regelmäßig doch nur an der Oberfläche haften. Die Bevölkerung findet schon die Mittel, um sich mit den Bestimmungen, die ihr nicht passen, abzufinden. In Österreich ist bei der bäuerlichen deutschen Bevölkerung das hergebrachte Anerbenrecht, bei der slavischen und italienischen die Freiteilbarkeit des Grundbesitzes bestehen geblieben, obwohl formell seit fast vierzig Jahren überall dasselbe bürgerliche Gesetzbuch gelten sollte. So ist es auch in unzähligen andern Fällen. Und wenn das aufgedrängte Recht einmal dazu geführt hat, daß in einem Prozesse gegen den bisherigen Brauch entschieden wurde, so ist das doch von keiner großen Tragweite. Das kommt ja doch nur sehr selten vor; wie oft werden denn überhaupt Prozesse geführt? Deswegen können sich die Leute ein ihnen wenig angemessenes bürgerliches Recht ruhig gefallen lassen; es berührt sie noch weniger als die Verfassungsänderungen, deren geringe Wirkung auf das tägliche Leben Menger selbst mehrmals hervorhebt. Aber ganz etwas anderes wäre die Einführung des "volkstümlichen Arbeitsstaats" . Das müßte nicht nur das ganze öffentliche, sondern das ganze private Leben voll-

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ständig umstülpen; jede Anordnung würde wirklich durchgreifen, ins Leben umgesetzt werden müssen. Am besten zeigt der stille Aufruhr, an dem Kaiser Joseph 11. schließlich gescheitert ist, wie wenig sich die Leute derartige allzustarke staatliche Eingriffe in ihr Privatleben ruhig gefallen lassen. Hätte Napoleon es versucht, anstatt des Code Civil die Grundsätze der Neuen Staatslehre zu verwirklichen, ich glaube, er wäre trotz aller seiner Machtmittel noch viel früher weggefegt worden, als es ohnehin geschehen ist. Aber auf einen solchen Gedanken wäre Napoleon selbstverständlich nie verfallen. Der Standpunkt Mengers wird erst verständlich, wenn man sich daran erinnert, daß er in der sozialen Frage ausschließlich ein Verteilungsproblem sieht: er sagt es ausdrücklich an mehreren Stellen der Neuen Staatslehre. Die einmal auf der Erde vorhandenen Arbeitsmittel, worunter Grund und Boden, Maschinen, Werkzeuge und Rohmaterialien zu verstehen sind, liefern den Ertrag an unmittelbar verbrauchbaren Gütern, von dem die Menschheit ihr Leben fristet. Heute wird dieser Ertrag, meint Menger, nach einem ganz unberechtigten Schlüssel verteilt: die herrschenden Klassen erhalten den Löwenanteil, die unterdrückten möglichst wenig. Es handelt sich also nur darum, eine andere Verteilung festzusetzen: entweder jedem den Anteil nach Maßgabe des Bedürfnisses zuzubilligen, wie es die subjektiven sozialistischen Verteilungssysteme fordern, oder nach Maßgabe seiner Leistung ("das Recht auf den vollen Arbeitsertrag") im Sinne der objektiven Verteilungssysteme. Das scheint allel"dings sehr einfach: das Dekret einer allmächtigen Regierung könnte genügen, um es durchzusetzen. So liegen die Sachen aber in Wirklichkeit doch nicht. Der Laie pflegt allerdings gerne auf die ungeheuren Vermögen hinzuweisen, die sich, immer wachsend, in den Händen der einzelnen Angehörigen der herrschenden Klassen ansammeln, und könnte man diesen Zuwachs ohne weiteres verteilen, dann wäre allerdings allen recht bald geholfen. Allein der Volkswirt weiß, daß der größte Teil dieses Zuwachses nicht in Gebrauchsgegenständen besteht, die zur Verteilung reif wären, sondern in Arbeitsmitteln, in Maschinen, Werkzeugen, Rohmaterialien. Dieser Teil des Ertrages wird also von den herrschenden Klassen nicht verzehrt, sondern "kapitalisiert". Auch wer für seine Ersparnisse Staatspapiere oder Aktien kauft, kapitalisiert im volkswirtschaftlichen Sinne, wenn der Staat oder die Aktiengesellschaft dafür nicht Verbrauchsgegenstände, sondern Maschinen, Werkzeuge oder Rohmaterialien erzeugen läßt; wer von seinen Ersparnissen ein Darlehen gibt, kapitalisiert, wenn der Darlehensnehmer das Darlehen nicht verbraucht, sondern damit Arbeitsmittel, also Werkzeuge, Maschinen, Rohmaterialien anschafft. Aber das, was heute die herrschenden Klassen

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tun, müßte der volkstümliche Arbeitsstaat auch tun. Auch er müßte kapitalisieren: einen Teil der Arbeitskraft und der Arbeitsmittel dazu verwenden, nicht Verbrauchsgegenstände, sondern Werkzeuge, Maschinen, Rohmaterialien zu erzeugen, um die vorhandenen Bestände zu ergänzen, zu verbessern, neuen Forderungen nachzukommen. Nur vom Luxus gilt etwas anderes. Insoferne die herrschenden Klassen einen Teil des gesellschaftlichen Ertrages dazu verwenden, um ihren Luxus zu bestreiten, also die Maschinen und Rohmaterialien, die zur Herstellung von lruxusgegenständen notwendig sind, zu erzeugen und die Arbeiter, die dabei beschäftigt sind, zu erhalten, so ist das vom Standpunkte der unterdrückten Volksklassen Verschwendung und könnte im volkstümlichen Arbeitsstaate vermieden werden. Aber so groß uns heute der Luxus Einzelner erscheinen mag, so bildet er doch, wie ich glaube, nur einen geringen Bruchteil des Ertrages des ganzen Volksvermögens. Würde man ihn selbst ganz beseitigen, würde man alle Maschinen, Rohmaterialien, Arbeiter, die heute beim Luxus beschäftigt sind, dazu verwenden, nützliche Gebrauchs- und Verbrauchsgegenstände zu arbeiten, die Lebenshaltung des einzelnen Proletariers würde sich kaum merklich heben. Menger selbst nimmt an, daß im volkstümlichen Arbeitsstaate sogar die Lebenshaltung der städtischen Arbeiter, der aktivsten Klasse des Arbeiterstandes, "wenn für diese der Durchschnitt des ganzen Staats genommen würde, trotz der Abschaffung des arbeitslosen Einkommens, in manchen Fällen nicht erhöht, ja vielleicht ausnahmsweise sogar erniedrigt werden müßte". Würde man also das ganze arbeitslose Einkommen abschaffen und so jeden Luxus unmöglich machen, so würde die damit erzielte Ersparnis selbst nach Mengers Meinung nicht hinreichen, um auch nur allen Arbeitern eine bessere Lebenshaltung als die heutige zu sichern. Und wäre die Abschaffung des Luxus unbedingt ein Segen? Gewiß, ein Teil des Luxus ist, vom Standpunkte eines gesitteten Menschen aus betrachtet, ganz überflüssig; Austern und ungesalzenen Kaviar, Perlen und Brillanten, zum al die falschen, könnte die Menschheit o'hne Schaden entbehren; und es wäre ein Gewinn für die Volkswirtschaft, wenn man die Arbeitsmittel und Arbeitskraft, die bei deren Herstellung verloren gehen, nützlichen Dingen zuwenden würde. Aber ein Teil des Luxus ist gerade das, was unser Leben mit dem höchsten Inhalt erfüllt: Kunst, Literatur, Wissenschaft, Bildung. Und ich glaube nicht, daß e6 möglich ist, den sittlich und ästhetisch gerechtfertigten Luxus vom ungerechtfertigten zu trennen. Die höchsten Güter der menschlichen Gesittung können nach meiner besten überzeugung nur in Freiheit gedeihen. Das ist der berechtigte Kern des Kampfes, der heute um die Freiheit der Kunst tobt: nicht als ob alles tatsächlich Kunst wäre, was

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dafür ausgegeben wird, sondern weil man die angebliche Kunst nicht treffen kann, ohne die wirkliche arg zu bedrängen. Das ist auch der große Wert der wohl endgültig errungenen Freiheit der wissenschaftlichen Forschung. Menger will wenigstens die Religion der Oberaufsicht der Organe des volkstümlichen Arbeitsstaates entziehen, der er die Sittlichkeit unterwirft: ich würde mir sie auch in Bezug auf meine wissenschaftlichen, ästhetischen und ... Luxusbedürfnisse nach Möglichkeit verbitten. Verschiedene Gründe haben mich veranlaßt, diese Kritik der Mengerschen Lehren so ausführlich vorzubringen. Einst sein begeisterter Jünger, allerdings lange vor dem Erscheinen der Neuen Staatslehre, und hauptsächlich von der Kritik des Entwurfs angeregt, habe ich mich schon seit Jahren von ihm innerlich getrennt, den freundschaftlichen Verkehr fortsetzend. So konnte ich nicht umhin, ihm meine Bedenken gegen seine, mir meistens in Gesprächen mitgeteilten Ansichten vorzubringen. Menger wies nun gegen meine Zweifel, ob die bloße Verteilung des Volkseinkommens genügen werde, um den gewünschten Erfolg zu erzielen, auf die kommunistischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten von Amerika hin. Diese kommen mit ihrer kommunistischen Organisation vortrefflich aus, sammeln ungeheure Reichtümer und gehen in der Regel nur daran zu Grunde, daß sie, reich geworden, keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen: so stürben sie langsam aus; die wenigen übrig Bleibenden verteilen den Reichtum unter sich. Ich fand das wenig überzeugend. Die kommunistischen Gemeinden, fast ausschließlich auf religiöser Grundlage, bestehen aus besonders auserlesenen, tüchtigen Menschen. Sie arbeiten viel und gerne, bedürfen wenig Aufsicht, wer sich nicht dazu eignet, wird ausgestoßen. Wo die Verhältnisse weniger günstig lagen, blieb auch der Erfolg bekanntlich aus. Der volkstümliche Arbeitsstaat müßte aber selbstverständlich mit einem viel minderwertigeren Materiale rechnen. Aber den kommunistischen Gemeinden deckt ihre eigene Arbeit doch auch nur ihr Nahrungsbedürfnis und einigermaßen das Bedürfnis nach Kleidung, Wohnung und Hauseinrichtung: alles in größter Einfachheit. Da sie für Komfort, Kunst und Wissenschaft, Bildung nichts oder nur sehr wenig ausgeben, so können sie umso mehr erübrigen. Ob der volkstümliche Arbeitsstaat seinen Bürgern die spartanische Lebensführung dieser vom religiösen Eifer beseelten Asketen zumuten könnte, mag dahingestellt werden. Aber um so schwerer fällt es in die Wagschale, daß diese, indem sie den, allerdings sehr namhaften, überschuß ihrer Bodenerzeugnisse gegen Erzeugnisse fremder, also kapitalistisch, nicht kommunistisch arbeitender Betriebe austauschen, doch an dem ganzen technischen und wirtschaftlichen Fortschritt der übrigen, kapitalistischen,

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Welt, wenn auch nur mittelbar teilnehmen: es ist sehr fraglich, ob die ganze Welt, wenn sie kommunistisch organisiert wäre, ihnen etwa die Ackerbaumaschinen, die sie brauchen, so wohlfeil und in solcher technischen Vollendung liefern könnte. Und vollends, wenn sie ihre überschüssigen Bodenerzeugnisse gegen Häuser, die sie vermieten, Grundbesitz, den sie verpachten, oder gegen zinstragende Wertpapiere eintauschen, so legen sie ihren Reichtum ganz kapitalistisch in Rente an, nehmen also, um wieder in Mengers Sprache zu sprechen, an dem in der kapitalistischen Welt erzeugten arbeitslosen Einkommen teil. Endlich besorgt der individualistische Machtstaat den kommunistischen Gemeinden eine Menge sehr kostspieliger Dinge, liefert ihnen, was sie an Armee und Marine, Eisenbahnen, Telegraphen, Schiffen, an höherm Unterricht, Kunst, Wissenschaft, Erfindungen brauchen oder brauchen würden, wenn sie die ganze Menschheit umfassen würden. Menger widerlegte diese Einwürfe, die ich vorgebracht habe, nicht mehr, sondern brach das Gespräch mit den Worten ab: "Ja, Sie sind älter und konservativer geworden." Daß die soziale Frage nicht bloß die Frage einer arrdern Verteilung des Ertrages der Volkswirtschaft ist, wird heute wohl von allen wissenschaftlich gebildeten Sozialisten anerkannt: zumal Marx selbst und die Marxisten erwarten das Heil weder vom Recht auf Existenz, noch auch vom Recht auf Arbeit oder auf den vollen Arbeitsertrag. Sie gehen vielmehr alle davon aus, daß eine nach einem bestimmten Plan geordnete Gütererzeugung nicht nur eine gerechtere Verteilung des Volkseinkommens, sondern auch eine solche Steigerung des Ertrages mit sich bringen würde, daß damit der Bedarf aller Volksgenossen reichlich gedeckt wäre2 • Wie sie sich das vorstellen, darüber ist allerdings aus ihren Schriften nicht viel zu entnehmen. Vielleicht die ernsteste Arbeit darüber ist die vor mehreren Jahren erschienene kleine Schrift: Ein Blick in den Zukunftsstaat. Produktion und Konsum im Sozialstaat von Atlanticus (Stuttgart, Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. 1898). Die Schrift ist in einem bekannten sozialdemokratischen Verlage erschienen und wurde von Kautsky, dem wissenschaftlichen Vertreter des strengsten Marxismus, bevorwortet. Zwar sagt Kautsky in der Vorrede, der Verfasser stehe Anton Menger näher als Marx und wende sich in seiner Arbeit zu wiederholten Malen sowohl gegen einzelne Marxisten wie auch gegen ihre ganze Richtung, die Schrift sei nur deswegen von ihm herausgegeben worden, weil sie keine Aussicht hätte, in einem bürgerlichen Verlage angenommen zu werden. Der Verfasser trete aus naheliegenden Gründen unter einem Pseudonym vor das Publikum, 2 Ähnliches erwarten die Anarchisten von einer jedem Einzelnen ganz frei gegebenen Gütererzeugung.

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,;dank der famosen Freiheit, die die Wissenschaft im Lande der Dichter und Denker genießt". Nichtsdestoweniger bestätigt es Kautsky dem Verfasser, daß seine Arbeit eine Lücke in der sozialistischen Literatur ausfülle oder zum mindesten ihre Ausfüllung anbahne. Und an einer andern Stelle der Vorrede sagt er: Die vorliegende Schrift ist unseres Wissens die erste, die ziffernmäßig den Beweis zu erbringen versucht, daß schon mit den heutigen Produktivkräften, bei liberalster Entschädigung der bisherigen Kapitalisten und auch noch ihrer Nachkommen, Wohlstand für alle Mitglieder der Gesellschaft möglich ist, wenn die Gesellschaft die planmäßige Produktion wenigstens aller notwendigen Konsummittel in die Hand nimmt. Dieser Nachweis behält seine Beweiskraft auch dann, wenn man sich die Zukunfts gesellschaft anders vorstellt als der Verfasser, und auch, wenn man der sichern überzeugung ist, daß diese Gesellschaft ganz anders aussehen wird, als sie uns heute erscheinen kann. Kautsky findet daher in der Schrift den ziffernmäßigen Beweis, daß "die heutigen Produktivkräfte bei planmäßiger gesellschaftlicher Anwendung hinreichenden Wohlstand für alle zu erreichen vermöchten". Aber auch Menger, dem der Verfasser, der sich mehrmals auf ihn beruft, übrigens unbekannt geblieben ist, hat sich über dessen Arbeit mir gegenüber anerkennend ausgesprochen. Umso interessanter ist die Schrift für uns. Sie will zunächst einen rechnungsmäßigen Beweis erbringen, daß die bloße planmäßige Organisation der Gütererzeugung Deutschlands, wie sie in einem sozialistischen Gemeinwesen bestehen wird, genügen würde, um deren Leistungsfähigkeit so zu heben, daß sie den ganzen Bedarf von 60 Millionen Menschen reichlich decken könnte. Sie gibt zu diesem Zwecke einen ziemlich ins einzelne gehenden Wirtschaftsplan, mit großer Sachkenntnis und eingehenden Berechnungen. Die Schrift ist also gewissermaßen eine technische und volkswirtschaftliche Ergänzung der Neuen Staatslehre Mengers. Daß sie vom Mengerschen Standpunkte aus geschrieben und von einem so strenggläubigen Marxisten wie Kautsky anerkannt wortien ist, läßt sie nur um so wertvoller erscheinen. Die Methode des Verfassers ist an sich recht einfach. Er geht bei der Betrachtung der verschiedenen Zweige der Gütererzeugung überall von einem Betriebe aus, der heute schon besteht und mit den besten technischen Hilfsmitteln versehen ist. Dann wird angenommen, daß alle Betriebe in Deutschland in diesem Zweige der Gütererzeugung so ausgestattet werden könnten wie dieser. Sohin wird der rechnungsmäßige Beweis erbracht 1) daß ein Volk von sechzig Millionen genügend arbeitsfähige Männer und Weiber hat, um alle diese Betriebe mit Arbeitskräften zu versehen; 2) daß die auf solcher Höhe stehenden Betriebe genügend erzeugen werden, um für ein Volk von sechzig Millionen 5 Eugen Ehrlich

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Genußmitteln aller Art reichlich zu liefern. Dabei müssen allerdings auch die Kolonien in Anschlag gebracht werden, in denen Arbeitszwang eingeführt wird, denn "freiwillig wird der Neger bei seiner Bedürfnislosigkeit selten arbeiten". So hofft er, den Fleischverbrauch, der gegenwärtig etwa 70 kg auf den Kopf beträgt, auf 100 kg, den Butterverbrauch von 9 Pfund auf 30 - 32 Pfund, den Zuckerverbrauch von 12 kg auf 30 kg, den Bierverbrauch von 1001 auf 200 1 zu heben. Bezüglich der Einzelheiten verweise ich auf die Schrift selbst. Hier müssen einige wenige Beispiele genügen. "In der Landwirtschaft wird für den Sozialstaat nichts übrig bleiben, als mit dem bisherigen Bewirtschaftungssystem zu brechen und fast sämtliche Wirtschaftshöfe neu zu erbauen. Jeder Wirtschaftshof müßte inmitten eines Landguts liegen von rund 160 ha Ackerfläche und 40 ha Wiesen. Die Bodenbearbeitung könnte mittels Elektrizität geschehen, und es wäre zu diesem Zwecke auf etwa je 10 Wirtschaftshöfe der gedachten Größe eine elektrische Zentralanlage einzurichten, von der aus dann auch die Dreschmaschinen, Futterschneider, Milchzentrifugen usw. in Bewegung gesetzt sowie für elektrische Beleuchtung gesorgt werden könnte. Nach dem im Mai 1897 ausgegebenen Prospekt der Firma L. Borsig ist zum Betrieb von fünf elektrischen Pflügen, die je 5 ha in zehn Stunden auf 35 cm Tiefe umackern könnten, eine Zentrale von 250 Pferdekraft in Aussicht genommen, die zusammen 177 000 Mk. kosten würde, einschließlich des Gebäudekapitals würden sich die Kosten wohl noch um 30 000 bis 50 000 Mk. erhöhen." - "Die sehr gut eingerichtete Bäckerei von Vooruit in Gent bäckt wöchentlich mit Hilfe von 30 Bäckern ca. 70000 kg Brot, es entfallen also 335 kg Brot pro Bäcker und Tag. Nehmen wir nun den künftigen Brotkonsum zu 10 Millionen Tons an, zu dessen Herstellung außer 7 Millionen Tons Mehl 21/2 Millionen Tons Kohle benötigt würden, so wären, unter Voraussetzung der Leistungen von Vooruit bei 300 Arbeitstagen bloß 100 000 Arbeiter erforderlich." "Sämtliche landwirtschaftliche Betriebe, Villenkolonien, staatliche Warenlager müßten, soweit sie nicht an einer Vollbahn gelegen sind, den Anschluß einer Kleinbahn von 60 bis 75 cm Spurweite erhalten. Der Verkehr von schwerfälligen Lastfuhrwerken sowohl auf dem Lande wie in den Städten müßte verschwinden. Zu dem Zwecke wären wohl an 150 000 bis 200 000 km Kleinbahnen neu zu erbauen." Das alles ist gewiß recht anziehend. Es ist wohl auch anzunehmen, daß eine in dieser Weise ausgerüstete Landwirtschaft und Industrie genügen würde, um ziemlich weitgehenden Forderungen zu entsprechen. Aber eine Frage drängt sich auf, die noch nicht beantwortet ist: woher wird die sozialistische Gesellschaft die Mittel nehmen, um alle diese Verbesserungen herzustellen? Denn es handelt sich keineswegs um ein

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Kinderspiel. Zur sozialistischen Gesellschaft müßten doch mindestens alle Staaten Europas, höchstens mit Ausnahme der Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika gehören. Und umfassen soll sie, nach den Vorschlägen des Atlanticus - andere Sozialisten gehen noch viel weiter - die ganze Landwirtschaft mit Ausnahme des Gartenbaus und der heutigen Parzellenwirtschaft, und von der Industrie: die Getreidemüllerei, Bäckerei, Fleischerei, Bierbrauerei, Tabakfabrikation, Schuhmacherei, Gerberei, Schneiderei und Wäschekonfektion, Textilindustrie, Ziegelerzeugung, Maurerarbeit, Zement-, Eisen-, Maschinen-, Glas- und chemische Industrie, die Bergwerke, die Tischlerei, Parquettfabrikation, Zimmermannsarbeiten, Klavierfabrikation, Böttcherei, Papier-, Seifenund Lichtfabrikation und das gesamte Verkehrswesen. Ausgenommen sollen nur werden: die Erzeugung von Luxusgegenständen, Möbeln, das Bauen von Wohnhäusern, die Besorgung des Haushalts, das Herausgeben von Büchern und Zeitschriften. Diese würden der Privatinitiative überlassen werden. Nun, die Landwirtschaft und die Industrie in diesem Umfange mit allen Errungenschaften der modernen Technik auszustatten, für sie die Ergebnisse der Wissenschaft vollständig zu verwerten, das ist eine Aufgabe, wie sie die Menschheit bisher noch nie zu bewältigen hatte. Unübersehbar sind die Mengen von Arbeitsmitteln und Arbeitskraft, die dazu notwendig wären. Diese werden aber der sozialistischen Gesellschaft vorerst nicht in größerem Umfange zur Verfügung stehen wie der heutigen; dadurch, daß das "Endziel" erreicht, das Kapital niedergeworfen, die Eroberung der Produktionsmittel durch ,die Arbeiterklasse vollendet ist, ist der Gesellschaft weder an Maschinen, noch an Rohmaterialien noch auch an Arbeitskraft etwas zugewachsen. Ja, auch an Arbeitskraft nicht. Es werden zwar alle vorhandenen Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, aber diese werden doch nur soweit verwertet werden können, als Arbeitsmittel da sind, um sie zu beschäftigen. Und bis zur Durchführung aller in Aussicht genommenen Verbesserungen wird die sozialistische Gesellschaft ebenso wie die heutige leben müssen: die Arbeitsmittel und Arbeitskräfte werden daher vor allem Güter zu erzeugen haben, die notwendig sind, damit die Gesellschaft vorläufig ihr Leben fristet; erst wenn diese gedeckt sind, könnte man daran denken, sie dazu verwenden, um all die technischen Verbesserungen, von denen der Verfasser spricht, in Industrie und Landwirtschaft einzuführen. Die sozialistische Gesellschaft wäre dabei der heutigen Gesellschaft gegenüber insofern im Vorteile, als die Erzeugung eigentlicher Luxusgegenstände entfallen würde. Diese Ersparnis würde aber dadurch aufgewogen werden, daß sie die Arbeitskräfte unmöglich in dem Maße wie die heutige ausbeuten könnte. Ich kann mich jedoch der überzeugung 5*

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nicht erwehren, daß die Gütererzeugung auch sonst nach einigen Richtungen weniger ergiebig wäre: der Stachel des Gewinnes, der heute den Treiber abgibt, würde fehlen, die sozialistische Organisation würde, wie jede neue Organisation, zum mindesten bis sie sich einlebt, schlecht arbeiten. Eher würde es ins Gewicht fallen, wenn es gelänge, die Kriegsrüstungen abzuschaffen oder mindestens einzuschränken: dann könnten allerdings unermeßliche Mengen von Arbeitsmitteln und Kräften für nützliche Arbeit frei werden. Dazu brauchen wir jedoch keinen Sozialismus. Ich wüßte nicht, warum die Abschaffung oder Einschränkung der Kriegsrüstungen in einer sozialistischen Gesellschaft leichter zu erreichen wäre als in der heutigen. Sie würde der Menschheit heute schon alle Vorteile bringen, die sie von der großen gesellschaftlichen Umwälzung erwarten könnte. Die große technische Vervollkommnung der Betriebe, die uns in Stand setzen könnte, die Welt mit allen Genußmitteln bis zum Überflusse zu versorgen, sind daher allem Anscheine nach in der sozialistischen Gesellschaft nicht eher möglich als in der heutigen. Wenn die einzelnen Betriebe heute nicht mit den besten Einrichtungen arbeiten, so ist das deswegen der Fall, weil es ihnen an Arbeitsmitteln, an Kapital und Unternehmungsgeist und an Arbeitskräften mangelt: aber es ist gar nicht klar, warum die sozialistische Gesellschaft mehr Unternehmungsgeist, Arbeitsmittel und Arbeitskräfte haben sollte. Auch rechtlich würde die Sache nicht viel anders als heute stehen. Für die großen Verkehrswege und für den Schurf besitzt schon die heutige Gesellschaft das Enteignungsverfahren: sind deswegen alle Schienenstränge gelegt, alle Kanäle gebaut, alle Bergwerke erschlossen? Und mehr als enteignen wird auch die sozialistische Gesellschaft nicht können3• Allel"dings findet man nicht selten allen Ernstes die Ansicht vertreten, die Technik habe heute einen Grad der Entwicklung erreicht, daß sie jeder Aufgabe, die an sie herantritt, gewachsen sei. Wäre das richtig, dann könnte man wohl annehmen, naß es schon unseren heutigen Maschinenfabriken möglich wäre, der Landwirtschaft und der Industrie die Einrichtungen zu liefern, die notwendig wären, um ihre Erzeugung zu verzehnfachen oder auch zu verhundertfachen. Daß das ein Irrtum ist, liegt jedoch auf der Hand. Es werden aus gewissen Erscheinungen in der heutigen Gesellschaft Schlüsse gezogen, die für eine sozialistische Gesellschaft unzulässig sind. Die Gütererzeugung in einer solchen muß selbstverständlich die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach Maßgabe ihrer 3 Allerdings sagt auch Atlanticus gelegentlich (S.2), "daß eine bedeutende Hebung der Produktion nicht im Handumdrehen erfolgen kann, sondern auch nach Durchführung der Verstaatlichung dazu Jahre erforderlich sind". Wie leicht er sich die Sache trotzdem vorstellt, ergibt sich aus dem, was er S.64 über die Maschinenindustrie (im Eingange) sagt.

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Dringlichkeit decken: sie könnte unmöglich an einem unterirdischen Tunnel, der Europa mit Amerika verbindet, arbeiten lassen, wenn sie die Arbeitskräfte und Arbeitsmittel unumgänglich brauchen würde, um viel dringendere Bedürfnisse zu befriedigen, um etwa Nahrung oder Kleider zu erzeugen. Die kapitalistische Gesellschaft könnte das. Denn ihre Erzeugung besitzt einen Leitstern, der in der sozialistischen fehlen wird: das Geld. Sie erzeugt ausschließlich das, was die, die Geld haben, von ihr verlangen. Sie ist jederzeit bereit, die für die europäische Bevölkerung wichtigsten Arbeiten liegen zu lassen, wenn Kriegsschiffe, die sie für eine südamerikanische Republik liefern soll, mehr Gewinn verheißen. Ihre große Leistungsfähigkeit beruht eben darauf, daß sie, um sich auf ein einziges Ziel zu sammeln, alles andere straflos vernachlässigen darf. Wenn Rußland ein Milliardenanlehen zu Kriegszwecken aufnimmt, so bedeutet das, daß von nun eine große Anzahl von Bergwerken und Fabriken unmittelbar und mittelbar nur Waffen und Kriegsschiffe für Rußland arbeiten werden, daß ein großer Teil der Landwirtschaft mit ihren Erzeugnissen Arbeiter unterhalten werde, die nichts als Waffen und Kriegsschiffe für Rußland herstellen. Wollte der Sozialistenstaat nach diesem Muster vorgehen, er müßte sich dazu verstehen, es ebenso wie der heutige es zum Teile tut, seine Bevölkerung für lange Zeit auf halbe Ration zu setzen, um die Landwirtschaft und die Industrie mit technisch vollendeten Werkzeugen auszustatten. Diese Eigentümlichkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unterscheidet sie sehr wesentlich übrigens nicht bloß von der sozialistischen, sondern auch von der des Altertums und des Mittelalters. Sie war es auch, 'die Carlyle und andere mittelalterlich angehauchte Romantiker mit so tiefem Abscheu gegen die "moderne Geldwirtschaft" erfüllte. So hart auch die mittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse gewesen sein mögen, der Herr verkaufte seine Erzeugnisse nicht für Geld an den Meistbietenden, sondern sorgte damit vor allem für das leibliche Wohl seiner Untergebenen. Deren Gegenleistung braucht man sich nicht allzu drückend vorzustellen; sie war es auch zum großen Teile nicht, im Verhältnisse zu der so manches modernen Fabrikarbeiters. Es scheint mir nach alledem klar zu sein, daß jeder politische Sozialismus Mengerscher, Marxscher oder auch anarchistischer Färbung ein bedenklicher Irrweg ist. Dadurch allein, daß die arbeitenden Volksklassen die Zügel der Regierung ergreifen, durch das Dekret ihrer allmächtigen Regierung eine andere Gesellschaftsordnung einführen, würde sich weder das Gesamteinkommen noch die Lebenshaltung der großen Massen erhöhen. Das ist der große Fehler jeder Zusammenbruchstheorie. Sie glaubt, aus dem Zusammenbruch werde, gewissermaßen von seIhst, eine bessere Gesellschaft hervorgehen; aber jeder Zusammenbruch

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wirkt zunächst wertzerstörend und organisationszerstörend, und es hat noch immer recht lange gedauert, bis nach einem solchen die kulturelle und wirtschaftliche Höhe erreicht worden ist, die früher geherrscht hatte. Unser Leben kann nur so schöner und auskömmlicher gestaltet werden, daß die vorhandene Gütermenge vergrößert wird, sei es durch größere Arbeitsleistung, sei es durch größere Ergiebigkeit der Arbeit. Alles übrige ist volkswirtschaftliche Alchemie. Aber wenn auch die sozialistische Organisation der Gesellschaft gewiß nicht Ursache des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs zu werden vermöchte, so könnte sie doch als Folge davon auf die Welt kommen. Je größer das Volkseinkommen, umsomehr kann davon der Masse des Volkes zugute kommen, sei es als Lohnsteigerung, sei es in der Form von großen gemeinnützigen Anstalten und Anlagen (Munizipal- und Staatssozialismus). Es ist vor allem Aufgabe der Sozialpolitik, dafür zu sorgen: eine Aufgabe, der sie sich auch im individualistischen Machtstaat unter dem Drucke der wachsenden Macht der Arbeiterschaft schon bisher einigermaßen gewachsen gezeigt hat und sich, wenn nicht alle Anzeichen trügen, in der Zukunft viel besser gewachsen zeigen wird. Aber selbst die heutige, gewiß recht bescheidene Sozialpolitik, hat doch nur der infolge des technischen und politischen Fortschritts sehr gesteigerte Volksreichtum ermöglicht: denn dieser ist es, der dem heute lebenden Geschlecht bereits gestattet, auf die unmenschlichsten Formen der Ausbeutung der Arbeitskraft zu verzichten und einen größeren Teil des Arbeitsertrages, als bis dahin, unmittelbar den besitzlosen Volksklassen zuzuwenden. Dabei wird die Entwicklung dadurch nicht geschädigt, daß in absehbarer Zeit noch immer ein großer Teil des Ertrages den herrschenden Klassen zufallen wird. Soweit sie ihn nicht für ihre notwendigen Bedürfnisse und nicht für den Luxus verwenden, der doch auch einem Kulturbedürfnis dient, werden sie ihn nicht vergraben, sondern kapitalisieren, also Arbeitsmittel erzeugen. Und die so erzeugten Arbeitsmittel werden wieder dazu verwendet werden können, einen Ertrag zu liefern, von dem ein immer wachsender Anteil, in folge der Sozialpolitik, den besitzlosen Volksklassen zufallen wird. Es scheint mir daher die soziale Frage im Rahmen des Individualismus ganz wohl lösbar: es ist die Auffassung der sozialen Frage, die in den wirtschaftlich vorgeschrittensten Ländern der Welt, in England und Amerika, auch in der Arbeiterschaft die herrschende ist. Selbstverständlich ist es gar nicht ausgeschlossen, daß der Staat einmal mächtig und reich genug werden könnte, um einige für die Massen besonders wichtige Zweige der Gütererzeugung in seine Hand zu nehmen. Ansätze dazu sind ja schon heute vorhanden. Der Staat erzeugt wohl im allgemeinen kostspieliger und unbeholfner als der Privatunternehmer, immer trifft das aber doch nicht zu; immerhin vermag er besser als die Privatunter-

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nehmer die Interessen der Gesamtheit zu wahren. Ob die Gütererzeugung je eine solche Stufe der Vollendung erreichen wird, um eine kostspielige, verwickelte, schwierige Organisation wie die der Neuen Staatslehre oder eine ihr ähnliche zu tragen, das mag dahingestellt bleiben. Wahrscheinlich ist das nicht. Es kann sich dabei jedoch immer nur um eine nahe Zukunft handeln; wie es in vielen Jahrhunderten ausschauen wird, darüber zu streiten, ist wohl müßig. Die Erschöpfung der Kohlenlager oder die Entdeckung einer neuen Kraftquelle werden für die Gestaltung der fernen Zukunft wichtiger sein, als alle Vorausberechnungen. So ist es mir ganz unmöglich, in der sozialen Frage mit Menger bloß eine Verteilungsfrage zu erblicken. Sie ist für mich vor allem eine Frage des technischen Fortschritts in der Gütererzeugung, der dank der Organisation der Arbeitermassen und sozialpolitischen Maßregeln schließlich dem ganzen Volke zu gute kommen muß. Ich kann jedoch nicht umhin, noch auf eine andere Schwäche der neuen Staatslehre hinzuweisen, schon deswegen, weil das zum Verständnis des Mengerschen Systems und Gedankenganges beitragen dürfte. Wenn der volkstümliche Arbeitsstaat dem individualistischen in irgend einer Richtung überlegen wäre, so wäre es in der Großartigkeit und Einheitlichkeit der Anlage. Heute wird es jedem einzelnen, seinem Talent, seinem Spürsinn, seiner Tatkraft überlassen, ob er sich zur Geltung zu bringen vermag oder nicht, ob er etwas leistet, wonach ein Bedarf vorhanden ist, ob er sich als Rad in eine unübersehbare, gar nicht zu meisternde Maschine einfügen mag oder von ihrem Gang sich zermalmen läßt. Das könnte im volkstümlichen Arbeitsstaateanders sein, allerdings wohl nur unter der Voraussetzung, daß er von übermenschen organisiert und geleitet, von Automaten bedient würde. Alle zur sozialistischen Organisation gehörenden Länder müßten unter einer Behörde vereinigt werden, die alles sehen, alles übersehen, alles bestimmen, alles anordnen könnte. Diese leitende Behörde müßte den Bedarf der ganzen Menschheit an wirtschaftlichen Gütern, der in den zur sozialistischen Organisation gehörenden Ländern zu beschaffen wäre, wenigstens annähernd veranschlagen. Hierauf müßte sie die landwirtschaftlichen und gewerblichen Betriebe organisieren, in denen diese Güter erzeugt werden, die Lagerhäuser, in denen sie bis zum Verbrauche aufbewahrt, die Beförderungsanstalten, durch die sie an den Ort des Verbrauchs gelangen sollten; sie müßte allen diesen Betrieben und Anstalten die erforderlichen leitenden, technischen, schreibenden, rechnenden und Handarbeitskräfte zuweisen. Dann müßte sie die Erzeugung des Bedarfs an diese Betriebe verteilen, ihnen die Erzeugung auftragen. Sie müßte die von aller Welt einlaufenden Bestellungen entgegennehmen und die erzeugten Güter aus den geeignetsten Ursprungsorten auf den besten Wegen dorthin lotsen, wo sich ein Bedarf darnach

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gezeigt hat. Eine solche Ordnung würde, ihre Durchführbarkeit vorausgesetzt, ganz außerordentliche Vorteile bieten. überall könnte das erzeugt werden, was gerade hier am besten erzeugt werden kann, jede Arbeitskraft dort verwertet, wo sie am meisten leisten kann; jedes Bedürfnis könnte die Befriedigung finden, die in diesem Augenblicke die denkbar beste wäre, nichts überflüssiges würde gefördert werden, nichts Brauchbares würde verloren gehen. Außer diesen zentralistischen Wirtschaftsbehörden könnten allerdings für die Rechtspflege und die sonstige Verwaltung andere, örtliche Behörden bestehen. Mengers Sozialismus ist dagegen "Gemeindesozialismus" . Die Gemeinde,zu der im Durchschnitte 2000 Personen gehören, ist Trägerin des Eigentums und der Wirtschaft. Nur große Städte sollen zur Erleichterung der wirtschaftlichen Tätigkeit in Bezirke geteilt werden und diese wieder in Arbeitergruppen, die die Angehörigen desselben Berufes vereinigen. Doch sind die Bezirke und Arbeitergruppen nichts als Verwaltungskörper. Die Gemeinde hätte zunächst für die Erzeugung der Sachgüter und Dienstleistungen zu sorgen, die die Gemeindemitglieder brauchen, sie würde zu diesem Zwecke die erforderlichen Arbeitergruppen bilden, ihnen die Mitglieder und Arbeitsmittel zuweisen, deren Vorsteher ernennen und entlassen. "Die Vorsteher sind für die Arbeitsleistung der Gruppe verantwortlich, sie müssen aber auch die Macht haben, die Arbeiten der Mitglieder zu leiten und über träge oder widerspenstige Genossen unter Vorbehalt der Beschwerde an die Ordnungsbehörden Disziplinarstrafen zu verhängen. Diese Bestimmungen wären natürlich auch dann anwendbar, wenn die Gemeinde die Arbeiten ihrer Mitglieder ohne Dazwischenkunft von Arbeitergruppen leitet." Die Gemeinden würden die von ihren Gemeindegenossen erzeugten Waren und zu leistenden Dienste, soweit sie sie nicht selbst verwerten könnten, unter einander als selbständige Wirtschaftssubjekte, jedoch unter Aufsicht oder Leitung vorgesetzter Wirtschaftsbehörden, austauschen. Je nach dem Verkehrsgebiete der Austauschobjekte würden höhere oder niedere Wirtschaftsbehörden als leitende Organe, als Abrechnungsstellen und als statistische Ämter dienen. Den so gestalteten Gemeinden gegenüber hätten die Heimatberechtigten das Recht auf Existenz und das damit verbundene Recht auf Arbeit sowie andererseits die Arbeitspflicht. Daher wäre ein jeder an seine Heimatgemeinde gefesselt. Menger schrickt auch davor nicht zurück: "Der übertritt ist in der Regel nur dann zulässig, wenn die Austrittsgemeinde den abziehenden Genossen seiner Arbeitspflicht enthebt, die Eintrittsgemeinde ihm das Recht auf Existenz verleiht. Aber auch wenn nicht alle Beteiligten zustimmen, müßten die vorgesetzten Wirtschaftsbehörden das Recht haben, einem Antrag auf Änderung der Gemeindezugehörigkeit Folge zu geben."

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Wie weit diese Beschränkung der Freizügigkeit, die Arbeitspflicht (die Pflicht, jede von den Wirtschaftsbehörden zugewiesene Arbeit zu leisten) den Empfindungen des modernen Menschen entspricht, mag dahingestellt bleiben. Eine andere Frage nimmt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Menger setzt allerdings voraus, jede Gemeinde würde vorwiegend für die Gemeindeangehörigen Sachgüter erzeugen. In Wirklichkeit würden aber alle Gemeinden ziemlich viel, die meisten, bis auf die rein landwirtschaftlichen, wohl vorwiegend, manche ausschließlich für andere Gemeinden, als für den Markt, erzeugen. Denn der Bürger des volkstümlichen Arbeitsstaates hätten gegenüber den Proletariern des heutigen Machtstaates wenig voraus, wenn sie sich ausschließlich von den Cerealien 'der Heimatgemeinde nähren, mit ihren Erzeugnissen kleiden und ihre Wohnungen einrichten, keinen Komfort, keine Kunstwerke, keine Bildungsmittel von auswärts beziehen würden. Und was geschähe dann mit den großen Städten? Die könnten doch nicht einmal ihren Bedarf an Nahrungsmitteln selbst decken und müßten den größten Teil ihrer gewerblichen Erzeugnisse an die Gemeinden abtreten, die ihnen die Nahrungsmittel liefern. Die Gemeinden würden also im allgemeinen für den Markt arbeiten. Ist dem so, dann würden sie ganz die Stellung kapitalistischer Unternehmer einnehmen. Sie würden wie diese ohne einheitlichen Plan, auf gut Glück erzeugen müssen, auf die Hoffnung hin, die Erzeugnisse irgendwie vorteilhaft eintauschen zu können. Was nicht so verwertet werden könnte, müßte wie heute zu Grunde gehen oder verschleudert werden. Die wertvollsten Arbeitskräfte würden verkümmern, wenn sie in der Heimatgemeinde keine entsprechende Beschäftigung und bei der leitenden Wirtschaftsbehörde kein Verständnis fänden, was doch gewiß oft genug der Fall wäre. Und die Wirtschaftsbehörden hätten viel Arbeit, die hohe Kulturstufe und den Reichtum großer Städte mit der Armseligkeit und Kulturfremdheit der Gebirgsdörfer auszugleichen. Es würden also im allgemeinen auch große Vermögens- und Bildungsunterschiede bestehen, wenn auch nicht zwischen Einzelpersonen, so doch zwischen den Gemeinden und daher auch zwischen den Angehörigen verschiedener Gemeinden. Das gibt Menger in der Neuen Staatslehre zu und bezeichnet es sogar als wünschenswert. Der Unterschied vom heutigen Zustand würde daher hauptsächlich darin bestehen, daß der auf seinen Vorteil bedachte Unternehmer, der findige, nach Absatz suchende Kaufmann durch den Gemeindebeamten ersetzt werden würde und daß beim Austausch der Erzeugnisse verschiedener Gemeinden die Leitung oder Aufsicht der vorgesetzten Wirtschaftsbehörden und endlich noch die statistischen Ämter dazukämen. Ob es sich lohnen würde, deswegen die ganze Wirtschaftsordnung auf eine neue Grundlage zu stellen?

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Menger hat sich diesen Mängeln des Gemeindesozialismus nicht ganz verschlossen. Er kann nicht umhin anzuerkennen, daß der Gemeindesozialismus "mit seiner Zersplitterung wirtschaftlicher Kräfte, mit der Ungleichheit der Lebensbedingungen und der föderalistischen Gestaltung des gesamten Wirtschaftslebens" als eine Art Mittelalter erscheint, von dem aus das Auge wieder in unendliche Fernen schweifen kann, wo sich dem forschenden Blick ein sozialer Zustand zeigt, "in dem das ganze Menschengeschlecht einen Bund von gleichberechtigten Brüdern, ohne politische und wirtschaftliche Gegensätze bilden wird." Wem das als letztes Ziel vorschwebt, der müßte wenigstens darauf bedacht sein, sobald als möglich mit der Grundlegung zu beginnen. über Nacht könnte der ganze Bau gewiß nicht geschaffen werden; aber er könnte unter allen Umständen besser vorbereitet werden, als durch eine so rückständige und unbeholfene Einrichtung, wie es der Gemeindesozialismus ist. Man müßte ja nicht sofort mit der ganzen Welt beginnen, es würde wohl für den Anfang genügen, die am höchsten entwickelten Länder Europas und Amerikas hineinzuzwängen; man müßte auch nicht sofort die ganze Gütererzeugung der Organisation unterwerfen, sondern sich zufrieden geben, wenn es gelingt, ihr die wichtigsten Zweige anzugliedern: etwa Brot, Früchte, Fleisch, Zucker, Kohle, Holz, Eisen, Kleidung, Schuhwerk. Mengers Gemeindesozialismus steht aber der Gemeinwirtschaft in der Urzeit der Menschheit, der heutigen joint undivided family der Hindus und dem russischen Mir näher als einer die Welt umspannenden Organisation der Gütererzeugung. Und doch hat schon die heutige kapitalistische Gesellschaft in den amerikanischen und in manchen europäischen Trusts und Kartellen Gebilde geschaffen, die für die letzte vorbildlich sein könnten, und es wurde an eine derartige Organisation der landwirtschaftlichen Gütererzeugung, selbst im Rahmen des "individualistischen Machtstaates" , mehr als einmal gedacht (Antrag Kanitz!). Derartige Gedanken sind in der Tat nicht kühner als das meiste, was die Neue Staatslehre vorschlägt. Immerhin erklärt Mengers Vorliebe für Gemeindesozialismus so manche Unzulänglichkeit seines Systems und erklärt es auch, daß er in dem Erfolge der amerikanischen Kommunistengemeinden einen unwiderleglichen Beweis dafür erblicken konnte, daß die Sozialisierung der ganzen Menschheit auf derselben Grundlage möglich sein werde. Auffallend ist es endlich auch, wie wenig die Neue Staatslehre mit den Notwendigkeiten der geschichtlichen Entwicklung rechnet. Nicht als ob es Menger an historischem Sinn gemangelt hätte. Mehr vielleicht noch als seine Schriften lehrte der persönliche Verkehr mit ihm, wie sehr er die verborgenen Fäden und die geheimnisvollen Triebfedern geschichtlicher Ereignisse bloßzulegen wußte, wie gründlich er in Klios Werkstätte geblickt hatte. Aber sein geschichtlicher Sinn war ihm das

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Glas, mit dem er deutlich und scharf in die Vergangenheit sah, nicht das Werkzeug, um die Zukunft zu bestimmen oder zu meistern. Ganz wie die ungeschichtlich denkenden Rationalisten aller Zeiten, so glaubt auch er, daß es genügt, den Menschen zu zeigen, wie man Staat und Gesellschaft am Vernünftigsten einrichten könnte, um sie, wenn sie die Macht dazu haben, zu veranlassen, das Vernünftigste zu tun. Der Gedanke, daß sich jeder gesellschaftliche und politische Zustand unmittelbar aus dem vorhergehenden entwickelt haben muß, daß nicht das Zweckmäßige und Vernünftige, sondern das historisch Notwendige geschieht, scheint ihm meist abhanden gekommen zu sein: eine der wenigen Spuren des Bestrebens, an bereits Vorhandenes anzuknüpfen, ist wohl der unglückselige Gemeindesozialismus. Trotz all dieser offenbaren Mängel ist die Neue Staatslehre das Werk eines bedeutenden Denkers und Forschers. Sie ist mit einer Gelehrsamkeit geschrieben, die selbst in unserer Zeit ihres gleichen sucht, einer Gelehrsamkeit, für die er überdies selbst in seiner zu einer Berühmtheit gewordenen Bibliothek die Grundlage geschaffen hatte. Die fast unübersehbare sozialistische Literatur ist in einer reichen Auswahl so dargelegt, daß man in wenigen Jahren eine Übersicht über die Dogmengeschichte jeder sozialistischen Lehre erhält. Und gerade die Auswahl, die er trifft, ist das Bewunderungswürdigste daran: man fühlt bei jedem Worte, daß er aus dem Vollen geschöpft, daß hinter dem, was er sagt, ein unendlich reicheres Wissen sich verbirgt und ihm gestattet, aus dem Wust des Nebensächlichen und Vergänglichen das herauszuschälen, was von geschichtlicher Bedeutung oder bleibendem Werte ist. Allerdings vermißt man hier wieder schmerzlich eine über die Dogmengeschichte hinausgehende, wahrhaft geschichtliche Behandlung, die Erörterung des Zusammenhanges der einzelnen Lehren mit den geschichtlichen Umständen und gesellschaftlichen Zuständen, aus denen sie hervorgegangen sind. Und wie faßt er seinen großen Vorwurf an! Zwar fehlt ihm die reiche Einbildungskraft eines Thomas Morus. Menschen, die leben, handeln und empfinden, von Leidenschaften bewegt, von Trieben hingerissen werden, sucht man bei ihm vergebens. Aber wie scharf ist dafür die juristische Begriffsbildung, wie klar und durchsichtig die Systematik, wie erschöpfend, trotz aller Knappheit, die Darstellung. Selten ist noch auf so engem Raume diese Fülle von Gedanken, von Anregungen geboten worden. Das alles wird aber in eine unendliche Höhe gerückt durch solch erhabene Auffassung eines in sittlichem Pflichterfüllen aufgehenden Lebens, durch solch rückhaltlose Hingebung an das Ideal einer dem Wohle der Menschheit gewidmeten Arbeit, daß man sich stellenweise in die Gefühlswelt eines großen, von echt religiösem Geiste beseelten Propheten versetzt glaubt.

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Wie die Neue Staatslehre das Recht, so sucht die Neue Sittenlehre die Sittlichkeit aus den Machtverhältnissen abzuleiten. Durch zahlreiche teils dem täglichen Leben teils der Geschichte entnommene Beispiele wird bewiesen: daß die Menschen immer das für sittlich gehalten haben, was dem Interesse der Mächtigen entsprach, daß sie von der herrschenden Sittenlehre die Mächtigen immer entbanden, daß sich die sittlichen Lehren immer änderten, wenn die gesellschaftlichen Machtverhältnisse andere wurden. Nur für ganz vereinzelte Personen, "die Heiligen und Edlen" gilt das nicht, wenigstens nicht in demselbem Maße wie für die Gesamtheit des Volkes. Eine andere Ausnahme bildet der Buddhismus, für dessen Sittenlehre Menger das höchste Lob findet, ohne ihr Dasein erklären zu können. Die Neue Sittenlehre ist wohl das Schwächste im Lebenswerk Anton Mengers. Nicht als ob es ihr an geistvollen, tiefen, feinen Ausführungen mangelte. Es gibt hier deren viel mehr als in der Neuen Staatslehre; wohl weil der Gegenstand dazu mehr Anlaß gab. Wie fein ist die Bemerkung: "Zu wessen Gunsten die Wahrheit im öffentlichen und Privatleben am meisten gebeugt wird, der ist der Mächtigste im Land; von ihm geht eine Stufenleiter der Lüge und Täuschung bis hinab zu den Ärmsten und Machtlosesten, die immer nur die Wahrheit zu hören bekommen." - Oder, wenn er Kants erhabene Sittenlehre ironisierend, sagt: "Aus dieser Darstellung ergibt sich, welch geringer Wert dem Wortgepränge großer sittlicher Prinzipien beizumessen ist. Wer übermenschliche Anforderungen an andere stellt, wird leicht den Verdacht erregen, daß er sich selbst gemäßigten Ansprüchen entziehen will." Oder: "Oft rühmen sich die Reichen und Vornehmen ihrer Offenheit und Aufrichtigkeit im Vergleich mit der List und Unwahrhaftigkeit ihrer Untergebenen, ohne zu erwägen, daß dieser Unterschied, soweit er überhaupt besteht, nur der sittliche Reflex ihrer rechtlichen Privilegien ist." Aber der Grundgedanke der Schrift, der Versuch die ganze Sittlichkeit als Ausfluß der Macht hinzustellen, wirkt unerträglich. Er erinnert an das Bestreben der Naturphilosophen im Altertum und Mittelalter, die ganze Welt aus dem Feuer oder aus dem Wasser abzuleiten. Für viele Erscheinungen ließ sich so eine befriedigende, weil zutreffende Erklärung gewinnen, wo das nicht der Fall war, half man den Tatsachen mit einigem Zwange nach oder - verschwieg sie. Nicht viel besser ist es, wenn man so außerordentlich verschiedenartige Erscheinungen, wie es die des sittlichen Bewußtseins sind, alle aus einem Prinzip "abzuleiten" sucht: immer nach dieser einen Seite verzerrt, werden sie uns in einem Hohlspiegel gezeigt. Wahr ist es, daß die Sittlichkeit von den Machtverhältnissen sehr beeinflußt wird, daß sie mit ihnen nicht seIten

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wechselt: aber falsch ist es, daß sonst nichts auf sie einwirke. Wie oft wurde schon dem mutigen Kämpfer gegen die Mächtigen in Staat und Gesellschaft von den breitesten Volksschichten zugejubelt, zu einer Zeit, wo der Sieg noch gar nicht entschieden, wo er höchst unwahrscheinlich war. Gerade den Märtyrern einer guten, wenn auch unglücklichen Sache werden am reichlichsten Lorbeeren gespendet: nicht nur von den Anhängern, sondern auch von den Unbeteiligten, die ja stets die große Masse bilden, manchmal sogar von den Gegnern. Menger berichtet sorgfältig, wie der allezeit kaisertreue Ghibelline Dante die Mörder Cäsars in den tiefsten Abgrund der Hölle verbannt: sollte er nichts davon wissen, wie oft sie in begeisterten Oden und Tragödien gefeiert worden sind? Sollte er nichts davon wissen, mit welcher überzeugungstreue Dante selbst gegen die damals siegreiche Ethik des geistlichen Schwertes für die besiegte des weltlichen Schwertes eintrat? So ist auch der Widerstand gegen die Macht, zumal gegen deren Mißbrauch, eine Quelle der sittlichen Erkenntnis. Eine genauere Untersuchung könnte deren noch viele feststellen, die mit ebensoviel Recht oder Unrecht für sich die Alleinherrschaft ansprechen könnten wie Anton Mengers "Machtprinzip" . Man konnte sich damit immerhin abfinden, wenn Menger in der Neuen Staatslehre alles Recht als Ausfluß der Macht hinstellte, obwohl dabei selbstverständlich neben viel Wahrem auch Schiefes mitunterlief. Das war zwar der Ausgangspunkt, aber nicht der hauptsächliche Inhalt des Buches, und das ganze Interesse wurde doch vom Bau des volkstümlichen Arbeitsstaates gefesselt. In der Neuen Sittenlehre bildet aber die Zurückführung aller Sittlichkeit auf die Macht den Hauptinhalt. Und da muß man sich doch fragen: wenn die herrschende Sittlichkeit damit verurteilt ist, was hat ihr Menger entgegenzusetzen. Gibt es keine andere Quelle der Sittlichkeit als die Macht, dann ist auch die Sittlichkeit des volkstümlichen Arbeitsstaates nur auf Macht gegründet. Menger sagt das zwar nicht mit dürren Worten, aber doch deutlich genug, da er ja die Sittlichkeit durch bloße Umgestaltung der sozialen Machtverhältnisse bessern will. Nun, daß die besitzlosen Volksklassen, einmal ans Ruder gelangt, die rechtlichen und wirtschaftlichen VerhältniS'se in ihrem Sinne ordnen, muß man gelten lassen; ja man wird es wohl auch gerne hinnehmen, wenn es sich zeigen sollte, daß es sich dabei besser als jetzt leben läßt. Aber einen gleichen Einfluß auf die Sittlichkeit wird man ihnen doch nicht ohne weiteres zugestehen wollen. Daß damit eine "Verbesserung" der Sittlichkeit gewonnen wäre, wird zwar von Menger behauptet, aber gewiß nicht bewiesen. Es hat, wie ich glaube, seit jeher unter den Menschen zwei Arten von Sittlichkeit gegeben. Die eine, die tatsächlich im Volke lebt: das sind die jeweilig herrschenden Ansichten über das, was gut und böse, emp-

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fehlenswert oder anstößig ist; die andere ist die Sittlichkeit der "Heiligen und Edlen", deren Dasein Menger auch nicht leugnen kann. Beide Arten der Moral stimmen zum Teile miteinander überein, stehen aber auch nicht selten miteinander im Widerspruche. Ein Schlag ins Gesicht, ruhig hingenommen, macht einen Mann ehrlos, und doch wird ein solches Verhalten von den Edlen und Heiligen gepredigt. Die Volksmoral hat, wie bereits hervorgehoben ist, sehr verschiedene 'Quellen; sie wird auch zweifellos stark von Machtverhältnissen beeinflußt, wenn auch wohl weit mehr von den gesellschaftlichen als den politischen, was Menger allerdings ganz zu verkennen scheint. Die Sittlichkeit der "Heiligen und Edlen", ein Werk der Religionsstifter, Propheten, Philosophen, und von intellektuell und emotionell besonders hoch stehenden Menschen fortgebildet, bietet in der Tat, wie auch Menger betont, "manche Eigentümlichkeiten dar", - aber diese bestehen keineswegs, wie Menger meint, darin, daß solche Menschen von der herrschenden Sittlichkeit4 mehr als gewöhnliche Menschen beeinflußt werden: denn höher stehende Naturen werden von der herrschenden Sittlichkeit nicht beeinflußt, sondern weisen ihr neue Wege. Die Grundlagen für die heutige altruistische, allgemein-gültige Moral haben Sokrates, die Stoiker und Christus gelegt, die romantische Liebe ist das Werk einiger Dichter und Schriftsteller, ein über jede volkliche und örtliche Beschränkung erhabenes Menschheitsideal geht auf die Humanisten des 16. Jahrhunderts und die Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts zurück, das Nationalgefühl in seiner heutigen Form wurde von einigen Publizisten am Ende des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffen; und was alles sehen wir mit eigenen Augen entstehen? Die Rechte des Individuums gegenüber der Konvention, ein Gedanke der Romantiker, die Sublimierung der Ehe bei Ibsen und Ellen Key, der Kampf um die Wahrheit im öffentlichen und Privatleben bei Björnson und Ibsen und schließlich - ich habe gar nicht die Absicht, erschöpfend zu sein und der noch nicht geschriebenen Geschichte der ethischen Ideen vorzugreifender Kampf für die Rechte und Ansprüche der besitzlosen Klassen bei Anton Menger. Es handelt sich in erster Reihe oft nur um Worte, um Lehren und Predigten, aber man müßte doch blind sein, um nicht zu sehen, wie viel von all dem zu allen Zeiten in die Volksmoral durchgesickert ist, die öffentliche Meinung bezwungen hat und so tatsächlich zur Richtschnur des menschlichen HandeIns geworden ist. Von dieser Aufnahme der Moral der Edlen und Heiligen in die Volksmoral, allerdings einem sehr langwierigen Vorgang, erwarte ich viel mehr für den 4 Darunter versteht Menger hier (S. 70) wieder etwas ganz anderes als sonst: eine von den Machtverhältnissen unberührte Sittlichkeit, deren Dasein er an andern Stellen bestreitet. Immerhin, ich will es so nehmen, wie er es gemeint haben dürfte.

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sittlichen Fortschritt der Menschheit, als von der Umgestaltung der Machtverhältnisse. Und darauf beruht auch die Bedeutung Mengers. Er verdient es, den größten Ethikern aller Zeiten beigezählt zu werden, er mag es gewollt haben oder nicht. Daran vermag seine verwirrende und oberflächliche Machttheorie nichts zu ändern, die höchstens dafür ein Zeugnis abgibt, wie wenig sich die großen Geister über die geheimen Triebfedern ihres HandeIns, über all das, was unter der Schwelle des Bewußtseins schlummert, Rechenschaft zu geben vermögen. Was berechtigt Anton Menger, von den herrschenden Klassen zu fordern, freiwillig heute schon Zugeständnisse den Besitzlosen zu machen? Deren gesteigerte Macht? Nun, wenn sie die Macht haben, so mögen sie sich selber so viel nehmen, als sie können: man könnte es ja darauf ankommen lassen. Und wenn sie nichts erzwingen können, so liegt doch schon darin der Beweis, daß sie die Macht dazu nicht haben. Was berechtigt Menger dazu, den volkstümlichen Arbeitsstaat als ein nicht nur für die Besitzlosen, sondern für uns alle anstrebenswertes, großes Ziel zu preisen? Die Vorstellung allein, daß die besitzlosen Volksklassen einmal die Macht haben würden, ihn durchzusetzen, kann es nicht sein: von der Macht geschaffen, ist er nicht mehr wert, als jedes andere Gebilde der Macht, den individuellen Machtstaat miteinbegriffen. Nein, hinter diesem Machtgespenst, mit dem Menger die herrschenden Klassen zu schrecken sucht, wie man kleine Kinder schreckt, steht seine sittliche Überzeugung, daß die herrschenden Klassen in Gegenwart schon den Besitzlosen etwas schulden und in Zukunft noch mehr schulden werden. Sie ist gewiß nicht sein geistiges Eigentum. Die Demokraten aller Zeiten haben so gedacht. Rousseau und andere Naturrechtslehrer des 18. Jahrhunderts bauten darauf einen Teil ihrer politischen Lehren auf. Sie war es, die die berühmte Benthamsche Formel zeugte: das Ziel aller Gesetzgebung sei das größte Glück für die größte Zahl. Die Sozialisten aller Systeme, bis auf die Marxisten, arbeiten damit jeden Augenblick - und wie oft kommt selbst über die Marxisten eine schwache Stunde. Aber Menger stellt sie auf solch breite Grundlage, weiß ihr eine solche Fülle von Seiten abzugewinnen, so einheitlich und folgerichtig durchzuführen, daß sein Lebenswerk wohl ein Markstein in der Entwicklung bleiben wird. Dem sei wie immer, ihrem innersten Kerne nach ist es doch eine ethische Lehre. Was war der Grund der großen Erfolge Anton Mengers? Äußere Umstände haben dazu gewiß nicht wenig beigetragen. Man denke: ein ordentlicher Professor an der Universität Wien, der ersten des Reiches, einer der größten deutscher Zunge, ein kaiser-königlicher Hofrat (entspricht so ziemlich dem deutschen Geheimrat), der sich so rückhaltlos

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zu dem offiziell noch immer verpönten Sozialismus, überdies äußerst demokratischer Färbung, bekennt, so schonungslos die bestehende Rechts- und Gesellschaftsordnung bekämpft: die Sache mußte schon wegen ihrer Pikanterie einigermaßen auffallen. Auch die Sozialdemokraten, nachdem sie den Groll wegen der Marx-Verlästerung und das Mißtrauen gegen den Hofrat überwunden hatten, begannen einzusehen, daß es keinen Sinn hätte, sich diesen Trumpf entgehen zu lassen, auf einen berühmten Gelehrten in ihrem Gefolge hinzuweisen, der überdies k. k. Hofrat war. Inwieweit Menger als sozialwissenschaftlicher Schriftsteller seinen Ruhm verdient, das dürfte sich aus dem ganzen Inhalt der vorliegenden Abhandlung ergeben. Ich kann jedoch nicht umhin, bedauernd zu bemerken, daß ich mir bewußt bin, den allgemeinen Fehler aller derartiger Darstellungen nicht vermieden und der Kritik der Anerkennung gegenüber einen viel zu breiten Raum gegeben zu haben. Ich glaube nicht, daß dieser Fehler hier vermeidbar war. Ich war genötigt, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Grundlagen des Mengerschen Gedankenbaus zu lenken, auf die Einzelheiten dagegen nur kurz hinzuweisen oder auch sie mit Stillschweigen zu übergehen: und doch scheinen mir gerade die Grundlagen teilweise anfechtbar zu sein, während zahlreiche Einzelheiten des höchsten Lobes würdig wären und unsere Erkenntnis bleibend gefördert haben. Das dürfte wohl heute schon vielfach anerkannt sein, wird aber der Welt mit der Zeit noch mehr zum Bewußtsein gelangen, wenn die unübersehbare Fülle von Anregungen, die er ihr in seinen Werken hinterlassen hat, wissenschaftlich aufgearbeitet sein wird. Über derartige Dinge wird man sich aber aus zweiter Hand eine Vorstellung kaum je verschaffen können: wer sich vom Werte der Einzelheiten überzeugen will, der muß die Arbeiten des Schriftstellers schon selbst in die Hand nehmen. Hier möchte ich jedoch dem Gelehrten und Forscher als solchem einige Worte widmen, da dieser in der bisherigen Darstellung sehr zu kurz gekommen ist. Seine Bedeutung in dieser Richtung tritt zunächst in seinen zivilprozessualen Arbeiten in den Vordergrund, die hier außer Betracht geblieben sind, so vor allem in seinem, leider nicht über den ersten Band herausgekommenen, System des österreichischen Zivilprozeßrechts: einer unerschöpflichen Fundgrube gelehrten Materials, in klarer, übersichtlicher Anordnung, musterhaft in dessen tiefeindringender, scharfsinniger Verwertung. Unter den sozialwissenschaftlichen Schriften zeichnen sich durch diese Eigenschaften hauptsächlich: Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag und die Neue Staatslehre aus. Aber auch die Werke, die den gelehrten Apparat geflissentlich vermeiden, blenden nicht nur durch Eigenartigkeit der Auffassung und Gedanken-

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reichtum, sie lassen auch auf Schritt und Tritt das ungeheure Wissen ahnen, aus dem sie hervor gewachsen sind. In der Tat, seine Studien gingen in die Breite fast ebenso weit wie in die Tiefe: sie bezogen sich z. B. auf die Geschichte aller Zeiten und Völker, auf die Kirchenväter, auf die entlegensten Gesetzgebungen. Ganz im Vorbeigehen konnte er einem erzählen, daß er, um zu erfahren, in welcher Weise das Christentum aus dem Glaubensbekenntnis einer kleinen Minderheit durch bewußte Staatstätigkeit zur Volksreligion in einem der größten Staaten der Welt geworden ist, den Codex Theodosianus und einige Historiker des sinkenden römischen Reiches durchgenommen hatte; um festzustellen, daß in der alten polnischen Republik die Tötung eines hörigen Bauern vollkommen straflos war, die neun dickleibigen Volumina legum durchlas. Aus solchen Studien sollten vielleicht einige Zeilen einer unscheinbaren Anmerkung hervorgehen. So sehr war er sich dessen bewußt, daß das, womit man vor die Öffentlichkeit tritt, dem Tropfen Rosenöls gleichen muß, der aus zwanzigtausend Rosen gezogen ist. Daß auch seine vielgenannte Bibliothek eine wissenschaftliche Leistung hohen Ranges ist, daran braucht der Kundige wohl nur erinnert zu werden; um eine Bibliothek von großer wissenschaftlicher Bedeutung zu schaffen, dazu gehört oft mehr Wissen und Können als für so manches gelehrte Buch. Schon heute beruhen mehrere wertvolle Schriften auf seiner (un!d seines Bruders, des Hofrats Carl Menger) BibliothekS. Auch sein vielgerühmter Stil hat gewiß zu seinen Erfolgen viel beigetragen. Ich wüßte ihn nicht besser zu schildern, als es sein erfolgreichster Schüler getan hat: "Mengers Stil war klassisch, einfach und klar, wie sein Charakter, und sein kräftiger Geist wußte die schwierigsten Probleme so zu formen, daß sie dem Leser in bezaubernder Einfachheit erschienen, befreit, könnte man sagen, von aller Erdenschwere. Diesem glänzenden Stil verdankt Menger einen guten Teil seiner Erfolge und seiner literarischen Geltung" (Klein in der "Zeit" vom 8. Februar 1906). Aber ich glaube, bei ihm, wie bei jedem andern großen Schriftsteller, ist die Hauptsache nicht das, was er schreibt, sondern das, was er ist. Hinter den vierundzwanzig Zeichen in all ihren Zusammenstellungen sucht man doch den wirklichen, lebendigen Menschen. Und dieser trat hier in seiner ganzen Größe in die Erscheinung. Wer immer eines seiner kleinen Büchlein in die Hand nahm, der fühlte aus jeder Zeile heraus die Tiefe des Geistes, die Weite des Blickes, die Reinheit seiner Absichten. Der Leser überließ sich gerne und willig seiner Führung; nach S Ich erwähne hier Diehl: Proudhon, sein Leben und seine Lehre; Singer (Sieghart): Das Recht auf Arbeit in geschichtlicher Darstellung; Stammhammer: Bibliographie der Sozialpolitik. 6 Eugen Ehrlich

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einer Weile war er sein Gefangener. So hat er einen guten Teil der Welt gezwungen, den größten Vorwurf unserer Zeit, die soziale Frage, wenigstens einen Augenblick durch seinen Geist hindurch zu sehen. Und solche Augenblicke genügen, um den Ruhm eines Schriftstellers und Denkers aufzubauen. Man hat Menger eine asketische Natur genannt. Er war mehr als das. Nicht nur, daß er Freude und Genuß für sich nicht anstrebte; er hatte dafür überhaupt nicht das rechte Verständnis. Noch heute steht es mir vor Augen, was ich vor einigen Jahren in Rom erlebt habe. Er bewohnte damals mit einer Dame, einer nahen Verwandten, die die schönsten Jahre ihres Lebens der Bemutterong des halberblindeten, kränklichen, hilflosen Greises gewidmet hatte, einige bescheidene Zimmer in der Via Liguria. Die Dame klagte sehr über Vereinsamung in der fremden Stadt: wäre das Stubenmädchen und der Bäcker nicht, sie würde fast die Sprache verlernen. Menger aber fuhr auf: "Ja, wozu brauchst denn du Verkehr mit Menschen? Da hast du den Bücherkasten. Greif nur hinein, und du verkehrst mit den größten Geistern aller Zeiten." Daß der Mensch dem Menschen selbst im gewöhnlichsten Gedankenaustausch etwas anderes ist als ein Buch, daß ein Buch den Verkehr mit lebenden Menschen ebenso wenig ersetzen kann, wie der Verkehr eine Bibliothek ersetzt, diese Wahrheit war ihm in der Tat verschlossen. Ebenso bezeichnend waren noch andere Erlebnisse. Als jemand in meiner Gegenwart, den Fall eines berühmten reichsdeutschen Gelehrten besprechend, der eine Frau veranlaßt hatte, sich von ihrem Gatten scheiden zu lassen, um ihn zu heiraten, den schüchternen Versuch machte, das Recht des Indivi:duums, sich in Liebe auszuleben, zu verteidigen, da schaute er ihn groß an: "was wÜl'den Sie dazu sagen, wenn jemand in Ihre Nordbahnaktie so verliebt wäre, daß er sie durchaus mitnehmen müßte." Ich glaube, selbst die, die grundsätzlich das Verhalten des berühmten Gelehrten verurteilen, werden zugeben, daß der Fall hier etwas anders lag, als bei der Nordbahnaktie. Und als er einmal bemerkte, daß ich im späteren Alter Zigarren zu rauchen begonnen habe, fragte er mich, vielleicht doch nicht ganz scherzhaft: "sagen Sie mir, welches Laster ist Ihnen eigentlich noch fremd?" An sich hat dieser asketische Geist sein Lebenswerk zweifellos nachteilig beeinflußt. Der Mensch, wie er wirklich ist, der Mensch, der Freude und Genuß ebenso nötig hat wie ein Stück Brot, war es nicht, der seine Gedankenwelt erfüllt. Auch in seinen Werken tritt immer nur der strenge, auf das Nützliche und Große gerichtete Blick zu Tage, nie findet man ein Zugeständnis an Schwäche, Leidenschaften oder Eitelkeit. Konnte er doch schon außer Rand und Band geraten, wenn er auf die im allgemeinen doch ziemlich harmlose Eitelkeit zu sprechen kam, die

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der Titel- und Ordensstreberei zu Grunde liegt. Ebensowenig war er im Stande, den feineren Verästelungen der Frage nachzugehen, die der neueren Sozialpolitik die Frau gestellt hat. Darüber habe ich mich bereits an einer andern Stelle ausgesprochen: "Es wird dem großen Manne gewiß nicht nahe getreten, wenn im Vorhinein zugegeben wird, daß auf diesem Gebiet nicht seine Stärke lag. Den vielen Frauenfragen, die man unter dem verwirrenden Sammelnamen der Frauenfrage zusammenzufassen pflegt, kann wohl nur der Mann gerecht werden, den die Frau als solche interessiert, nicht bloß als gesellschaftliche Erscheinung, sondern auch als Geschlecht und Individuum. Das war bei dem weltfremden Gelehrten von fast asketischer Lebensanschauung keineswegs der Fall. Gewiß hat er sich auch mit der Frau eifrig und gewissenhaft befaßt: aber seine Studien galten nicht dem lebendigen Wesen, sondern einem für wissenschaftliche Zwecke hergestellten Präparat" (Neues Frauenleben XVIII 2, S. 1). Andrerseits dürfte aber diese asketische Strenge auch zu seinem Erfolge das ihrige beigetragen haben. Es waren immer gerade asketische Männer, mit ihrem starken, auf ein einziges Ziel gesammelten, nie durch Nebenabsichten abgelenkten Willen, die auf die Welt am suggestivsten gewirkt haben. Es ist keine einfache Sache, die Geister durch geistige Mittel regieren zu wollen: es ist nicht bloß eine Frage der Intelligenz, sondern auch der Kraft und der Reinheit des Willens. Und dann sein herrliches Temperament. Im persönlichen Verkehr brach es manchmal mit unangenehmer Heftigkeit durch. Aber wie großartig pocht und stürmt es dahin in den abgerundeten, jedes unnütze Wort vermeidenden und doch so volltönenden Perioden seiner Kritik des Entwurfs. Wie zittert und bebt es noch in der von den Zeichen des Alters und der Krankheit gewiß nicht verschonten Neuen Sittenlehre. Wie glüht die tiefe Leidenschaftlichkeit seiner Seele selbst in den nüchternen Auseinandersetzungen der Neuen Staatslehre. Und das alles durch eine tadellos schöne Form gebändigt. Le style c'est l'homme meme. Jede Zeile, die er schrieb, war innerlich erlebt. Man hat zuweilen ein Gefühl wie vor einem klassischen Bildwerk, wenn uns das heiß pulsierende Leben, in die kalte, glatte Schönheit des Marmors gebannt, entgegenglänzt. Und deswegen reißt er einen so widerstandslos mit. Groß gewachsen, hager, in nachlässiger, gebückter Haltung, mit seinen schwachen, hinter einer Brille versteckten Augen mehr in sich hinein als in die Welt hinausschauend, mitten im eleganten Wien, wo selbst der Gelehrte auf einen guten Schneider etwas zu geben pflegt, in einen unmöglichen Anzug und Röhrenstiefel angetan, zeigt er schon äußerlich, - gewiß ohne jede Absicht, denn nichts war ihm ferner als Pose wie wenig ihm an der Welt und ihrem Tand gelegen war. Seine Lebens-

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weise, selbst die Kost, war spartanisch einfach; bis ans Ende verblieb er in seiner bescheidnen, büchergefüllten Wohnung im vierten Stocke eines Hauses der rauchgeschwängerten Innenstadt von Wien. Er gönnte sich nichts als das Kaffeehaus, wo er sich in Zeitungen vergrub, und Reisen, zumal nach dem Süden, der seinem anämischen Körper und seiner schwächlichen Lunge wohl tat. Sein Augenlicht zerstörte er schon früh durch Lesen; in den letzten Lebensjahren konnte er nur mehr bei hellem Tageslicht die Buchstaben erkennen. Was er von dem nicht unbeträchtlichen Einkommen erübrigte, verwendete er zunächst für Bücherkäufe und für kleinere Unterstützungen; den Rest bestimmte er für die Stiftung, die er seit langem plante. Aber auch an sich schätzte er die Sparsamkeit als Tugend ein: "Wirklich unabhängig, nach oben und unten", meinte er "ist nur, wer weniger braucht, als er erwirbt". Alles in allem: welch ein Mann. Ganz aus einem Gusse. Nie auf seinen persönlichen Vorteil bedacht, unerschrocken und unbeugsam nach oben, schaute er weder nach rechts noch nach links, ging seinen Weg und ließ die Leute schwätzen. In günstigen Vermögensverhältnissen, angesehener Stellung, hochbegabt, hätte er alles anstreben können, was selbst die Besseren unter den Besten zu erfreuen pflegt: Glanz, Luxus, Würden, äußere Ehrenzeichen, Einfluß, persönliche Beziehungen, ein behagliches Heim. Mit einer verächtlichen Handbewegung hat er all das von sich geschoben, gab schließlich freiwillig in verhältnismäßig jungen Jahren auch die bequeme und einträgliche Professur an der Wiener Universität auf, um sich ganz seinem Lebenswerke widmen zu können. Die einzige Leidenschaft, die er hatte, war ein auf die edelsten Ziele gerichteter Ehrgeiz. Ihr zu Liebe verzichtete er selbst darauf, eine Familie zu begründen. "Wer in ideale Höhen strebt, darf sich nicht mit dem Bleigewicht von Frau und Kindern beschweren," sagte er, so oft darauf die Rede kam. Und doch war er sich selbst über die Nichtigkeit dieses Zieles im Klaren. "Die ganze Unsterblichkeit auf diesem winzigen Planeten, für die Paar Menschen, die darauf sind, ist nicht wert, daß man darüber ein gutes Frühstück versäumt", schrieb er mir einmal auf einer Postkarte.

Anhang: Verelendungstheorie Von Marx wird die Lehre vertreten, daß sich unter der Herrschaft des Kapitalismus die Lage der Arbeiterschaft notwendig bis zur vollständigen Verelendung verschlimmern müsse. Als Beweis dient Marx die Tatsache, daß "jede Zunahme des konstanten Kapitals sich auf Kosten des variablen Kapitals vollzieht", ins Gemeinverständnis übersetzt: je vollkommener die Einrichtungen in der Industrie und Landwirtschaft sind, je besser insbesondere die Maschinen (das nennt Marx: konstantes Kapital), umsoweniger Arbeitskräfte sind für ihre Bedienung und umsoweniger Lohn ist für ihre

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Entlohnung (variables Kapital) nötig. Infolge jeder Erhöhung des konstanten Kapitals, die in einer Verbesserung der Maschinen oder Rohmaterialien besteht, werden daher fortwährend unübersehbare Arbeitsmassen aufs Pflaster geworfen und aus arbeitenden in Lumpenproletarier verwandelt. Aber als "variables Kapital" im volkswirtschaftlichen Sinne sind nicht die Geldlöhne, die den Arbeitern bezahlt werden, sondern die wirtschaftlichen Güter zu betrachten, die sich die Arbeiter für die Geldlöhne kaufen. Diese Gütermengen nehmen jedoch infolge der Verbesserung der Einrichtungen in Industrie und Landwirtschaft offenbar nicht ab. Der Kapitalist, der Verbesserungen einführt, also sein konstantes Kapital vergrößert, tut es entweder, um mit geringerem Gesamtkapital (das ist: konstantem und variablem Kapital zusammen) ebensoviel wie bisher zu erzeugen oder um mit demselben Gesamtkapital mehr zu erzeugen. Das Gesamtkapital wird daher im Verhältnis zum Erzeugnis immer kleiner sein als vorher, und da es jetzt mehr konstantes Kapital enthält, so wird unter allen Umständen umsomehr an variablem Kapital, an Geldlöhnen, erspart sein. Aber vermindert hat sich deswegen nur die Zahl der Arbeiter, die diese Gütermengen zutage fördern, und der ihnen bezahlte Geldlohn; das Erzeugnis selbst hat sich nicht vermindert, es ist sogar unter Umständen infolge der technischen Verbesserungen größer geworden als vorher. Wenn also jetzt in den Unternehmungen ebenso wie früher Massenverbrauchs,gegenstände erzeugt werden, so können damit ebensoviel oder mehr Arbeiter erhalten werden wie früher. Mit andern Worten: die Kapitalisten werden unter diesen Umständen das, was sie an variablem Kapital ersparen, dazu benützen, um die bestehenden Anlagen zu erweitern, neue zu begründen, die freigewordenen Arbeiter werden dabei beschäftigt und mit dem gleichgebliebenen oder vermehrten Erzeugnis der früheren und der erweiterten Anlagen ihrer Unternehmungen erhalten werden. So wird ein erhöhtes konstantes Kapital, bessere Maschinen und bessere Rohmaterialien, in der Regel die Menge und die Güte des Erzeugnisses, daher nicht bloß den Reichtum der Kapitalisten, sondern auch die Lebenshaltung der übrigen Bevölkerung mit Einschluß der Arbeiterschaft erhöhen. Anders läge die Sache nur dann, wenn das erhöhte konstante Kapital nicht mehr so viel Massenverbrauchsgegenstände erzeugen würde wie früher, oder wenigstens nicht mehr im Verhältnis zu den wachsenden Bedürfnissen der Bevölkerung. Dann würden die Marxschen Voraussetzungen allerdings eintreffen. Es muß zugegeben werden, daß das möglich ist. Die Gütererzeugung kann sich vorzüglich auf Luxusgegenstände oder sonstige Erzeugnisse richten, die für den Arbeiter bedeutungslos sind (Kriegsrüstungen!). Sie kann sich ferner in höherem Maße als bis dahin der Ausfuhr zuwenden: wird aber die Ausfuhr nicht in einer für den Massenverbrauch geeigneten Einfuhr, sondern in Luxusgegenständen bezahlt oder in Geld, das die Kapitalisten etwa in Rente, ausländischen Wertpapieren anlegen: dann wird die Menge der Verbrauchsgegenstände wenigstens im Ursprungslande jedenfalls nicht in demselben Maße wachsen, wie sich die Industrie und Landwirtschaft erweitert haben. Oder die Unternehmungen können vor allem nicht Verbrauchsgegenstände, sondern wieder "konstantes Kapital", Arbeitsmittel, insbesondere Maschinen erzeugen: der Arbeiter, der Arbeitsmittel erarbeitet, muß während seiner Arbeit aus den vorhandenen Vorräten erhalten werden, trägt aber vorläufig nichts zu ihrer Vermehrung bei. All das war im Laufe des 19. Jahrhunderts tatsächlich in großem Maße der Fall. Die englische Industrie arbeitete bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenigstens in den entscheidenden Zweigen

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(Baumwoll-, Eisenindustrie), außerordentlich viel für die Ausfuhr, die wegen der hohen Kornzölle nicht in Massenverbrauchsgegenständen bezahlt werden konnte). In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verschlangen die Kriegsrüstungen in ganz Europa ungeheure Mengen an Arbeit und Gütern. Von unermeßlicher Bedeutung war es aber, daß in derselben Zeit das Verkehrswesen sowie die gewerbliche und zum Teile auch die landwirtschaftliche Gütererzeugung auf eine neue Grundlage gestellt werden mußten: die weltenverbindenden Schienenstränge, die Dampfschiffe, die Dampfmaschinen mußten mit einem Aufwand an Arbeit und Arbeitsmitteln hergestellt werden, wie ihn die Menschheit bis dahin nie für irgend einen Zweck aufzubringen hatte. Wenn Arbeitskraft und Arbeitsmittel verwendet werden, um andere als Massenverbrauchsgegenstände zu erzeugen, so vermindert sich selbstverständlich die Menge der Arbeitskraft und der Arbeitsmittel, die für Massenverbrauchsgegenstände verfügbar sind, es vermindert sich daher auch die Menge der erzeugten Massenverbrauchsgegenstände. Die außerordentlich gestiegene, nicht in Massenverbrauchsgegenständen bezahlte Ausfuhr, die Kriegsrüstungen, die ungeheuren Investitionen, zumal für Dampfmaschinen und Verkehrswege, erklären daher wohl zur Genüge die Zuckungen und Erschütterungen, deren Zeuge das 19. Jahrhundert gewesen ist. Wenn nicht alles trügt, so waren das vorübergehende Erscheinungen. An der Linderung des Elends hatten in England die Aufhebung der Korngesetze mindestens so viel Anteil wie die Fabrikgesetzgebung: von nun an wurde die englische Ausfuhr in einer Ware bezahlt, die dem englischen Arbeiter zugute kam. Seither scheint wohl in allen Industriestaaten ein, wenn auch durch entgegengesetzte Strömungen immerhin durchkreuztes, Streben zu bestehen, sich die Ausfuhr in landwirtschaftlichen Erzeugnissen bezahlen zu lassen, die für den Massenverbrauch tauglich sind. Die Investitionen, die man im 19. Jahrhundert vorgenommen hat, tragen bereits seit langer Zeit Früchte; daß die Menschheit in so kurzer Zeit je welche von ähnlicher Bedeutung vornehmen könnte, ist wohl ausgeschlossen. Und wenn auch gegen die Militärlasten, wie es scheint, in absehbarer Zeit vergeblich gekämpft wird, so haben doch die anderen soeben angeführten Umstände genügt, um in den letzten Jahrzehnten die Wucht der sozialen Kämpfe erheblich zu mildern und die Lebenshaltung der Arbeiterschaft sichtlich zu heben. Ob das nicht seine Grenzen hat? Die Gefahr der absoluten überbevölkerung ist allerdings schwerlich vorhanden: wenn nicht alle Zeichen trügen, so wird es den Staatsmännern der Zukunft weit mehr Sorge machen, die Bevölkerung zu erhalten, als der übervölkerung zu steuern. Eine andere Frage ist es aber, ob die Ertragsfähigkeit der Industrie, namentlich aber der Landwirtschaft den mit der fortschreitenden Gesittung immer s,teigenden Bedürfnissen wird Schritt halten können. Nach einzelnen Richtungen scheint das heute schon nicht der FalI zu sein (Fleischfrage). Bessere Löhne helfen selbstverständlich nichts, wenn die vorhandenen Gütermengen nicht hinreichen, denn es steigen sofort auch die Preise. Marx beruft sich außerdem noch darauf, daß infolge des steigenden Arbeitspreises die Akkumulation des Kapitals abnehme, "weil der Stachel des Gewinns abstumpfe", dann aber auch sofort ihre Ursache verschwinde, nämlich "die Disproporzion zwischen Kapital und exploitierter Arbeitskraft", die die Löhne bisher gesteigert hat. Ich gestehe, daß mir das nicht ganz vers,tändlich ) Gleichzeitig wurden in England große Landstrecken dem Ackerbau entzogen und als Parks und Wiesen für Luxuszwecke brachgelegt.

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ist. Daß bei hohen Löhnen das Kapital SJich langsamer vermehre als bei niederen, ist richtig. Daß aber ein großes Kapital sich bei kleinem Gewinn rascher vermehre, als ein kleines bei großem Gewinn, ist eine Wahrheit, die schon Adam Smith nicht entgangen ist. Ich glaube daher nicht, daß die "akkumulierten" großen Kapitale wegen steigender Löhne weiter zu akkumulieren aufhören würden. In der Tat lehrt die Erfahrung" daß das Kapital in den Ländern der höchsten Löhne, England und Amerika, viel rascher und eifriger akkumuliert, als in Ländern der niedrigsten Löhne, etwa Italien, Galizien, Türkei. Daß einzelne schlecht gehende Unternehmungen bei hohen Löhnen den Betrieb einstellen müssen, mag zutreffen, aber das ist doch von keiner Bedeutung. Von einer durch hohe Löhne verursachten Krise hat man kaum je gehört.

SOZIOLOGIE UND JURISPRUDENZ Jedem, der ein Gesetz mit einem darüber geschriebenen juristischen Werk verglichen hat, wird aufgefallen sein, daß das Buch das Gesetz um ein vielfaches, manchmal sogar um mehrhundertfaches übersteigt. Es liegt gewiß sehr nah, nach dem Grunde dieser Erscheinung zu fragen. Wie konnte über ein so kurzes Gesetz ein so dickes Buch geschrieben werden? Wird diese Frage gestellt, so haben die Juristen eine ganz annehmbare Antwort gleich bei der Hand. Jedes Gesetz, es mag noch so klar und ausführlich sein, läßt noch vielen Zweifeln Raum; diese Zweifel zu lösen, sei die Aufgabe der juristischen Literatur. Nun, die Zweifel müssen recht ausgiebig sein, wenn sie nur in Werken zu lösen sind, die viel umfangreicher sind als die Gesetze selbst. Da ist doch wohl die andere Frage berechtigt: warum werden denn die Gesetze nicht so gefaßt, daß keine Zweifel übrig bleiben? Gewonnen ist doch bei der heutigen Methode nichts, wenn man, um sich über alles, was das Gesetz anordnet, Klarheit zu verschaffen, erst nach einem Buch greifen muß, das darüber geschrieben worden ist. Entweder sollten also die Gesetze ausführlicher sein oder die juristische Literatur ist überflüssig. Einst dachten auch die Juristen so. Sie suchten die Gesetze so ausführlich zu fassen, daß Zweifel über ihren Sinn gar nicht mehr möglich wären. Der Erfolg war zunächst, daß die Gesetze dicker wurden; aber die juristischen Bücher wurden deshalb nicht dünner. Mit der Zeit kam man darauf, daß jedes Wort, das man einem Gesetz hinzufügt, eben nur zu neuen Zweifeln Anlaß gibt. Heute neigen fast alle einsichtigen Juristen der Ansicht zu, je kürzer, je wortkarger ein Gesetz, um so besser sei es. Die landläufige Antwort auf die Frage, warum das, was die juristischen Bücher bringen, nicht schon im Gesetz enthalten sei, kann daher unmöglich befriedigen. Bei tieferem Eindringen überzeugt man sich in der Tat, daß der Unterschied zwischen Gesetz und einem Werk, das sich mit dem Gesetz befaßt, nicht ein quantitativer, sondern ein qualitativer ist: nicht ein Mehr, sondern ein Anderes bringen die juristischen Bücher. Sie enthalten eben die juristische Wissenschaft. Die Wissenschaft gehört nicht in das Gesetz. Nimmt man sie in das Gesetz auf, wie von denen versucht worden ist, die alles im Gesetz selbst geben wollten, so verliert sie sofort ihre Eigenart: ein Zwitterding entsteht, das die Wissenschaft nicht

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fördert, das Gesetz aber verunstaltet und nicht selten auch in seiner Wirkung schädigt. Wenn bisher immer vom Gesetz gesprochen wurde, so liegt der Grund darin, daß es die anschaulichste und auch dem Laien geläufigste Form des Rechtes ist. Dasselbe gilt aber von jeder andern Form, insbesondere auch vom Gewohnheitsrecht. Die Frage, die hier aufgeworfen wird, ist die nach dem Verhältnis der juristischen Wissenschaft zur Rechtsnorm. Es ist eine der schwierigsten Fragen, die eine Wissenschaft überhaupt bieten kann. Ein Beispiel soll zunächst zeigen, was ich meine. Das Familienrecht des österreichischen bürgerlichen Gesetzbuches ist bekanntlich streng individualistisch, vielleicht das individualistischste unter allen, die heute in Europa gelten. Die Frau steht dem Mann und die Kinder stehen den Eltern im allgemeinen selbständig gegenüber, fast als ob sie einander ganz fremd wären. Das Kind kann eigenes Vermögen haben und verfügt dann darüber ebenso frei, wie die Eltern über das ihrige; jedes Einkommen des Kindes kommt dem Kinde selbst, nicht den Eltern zugute. Das Kind hat volles Selbstbestimmungsrecht und kann auch seine Arbeitskraft mit voller Freiheit für sich selbst verwerten. Nur solange das Kind minderjährig ist, steht es unter väterlicher Gewalt; aber der Vater, der Inhaber dieser Gewalt, ist nicht viel mehr als ein Vormund: seine Aufgabe besteht ausschließlich in der Vorsorge, daß das Kind sich nicht durch Unerfahrenheit, Leichtsinn oder Schwäche schädige. Nur in diesem Sinne kann der Vater über das Vermögen, Arbeitskraft, das Schicksal des Kindes bestimmen; selbst dabei wird er noch von dem Obervormundschaftsgericht beaufsichtigt, das auch über Beschwerde des Kindes gegen den Vater entsche~det. Aber in der Bukowina, die ja zu ÖSterreich gehört lind wo doch das Bürgerliche Gesetzbuch ganz so wie in anderen Teilen Österreichs gilt, ist es mit der väterlichen Gewalt bitterer Ernst. Der rumänische Bauer, vielleicht der einzige echte Römer, der sich bis in unsere Zeit erhalten hat, kennt eine patria potestas, die den Kenner des alten römischen Rechtes ganz eigentümlich anheimelt. Da gehören die Kinder wirklich noch dem Vater, wenn auch nicht ihr Leben lang, so doch bis zu der im vierundzwanzigsten Jahre eintretenden Volljährigkeit, zwar nicht so unbeschränkt wie einst in Rom, immerhin aber noch mit ihrem Leib, mit ihrem Vermögen, mit ihrer Arbeitskraft. Nicht nur solange sie beim Vater zuhause sind, sondern auch in der Fremde. Ist solch ein Hauskind im Dienst, so erscheint in jedem Monat pünktlich der Vater oder auch die Mutter beim Dienstherrn und trägt den Dienstlohn ruhig nachhause. Ebenso frei verfügen die Eltern über das Vermögen des Kindes und über das Einkommen von dem Vermögen. Fragt man, warum die Kin-

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der sich das ruhig gefallen lassen, so erhält man die Antwort, daß ein Widerstand etwas Unerhörtes wäre. Wie erklärt sich der Widerspruch zwischen der klaren Rechtsregel und der Regel, die das Leben beherrscht? Der Jurist, dem die Frage vorgelegt würde, wäre auch hier um eine Antwort nicht verlegen. Es handle sich, würde er sagen, einfach um den Gegensatz zwischen Sitte und Recht. Was Rechtens ist, das bestimmt ausschließlich das bürgerliche Gesetzbuch; im Leben geschehe aber manches, was mit dem Rechte nicht übereinstimmt, außer der Rechtsnorm gelte doch im Leiben auch noch die Sitte. Käme der Fall zur richterlichen Entscheidung, so müßte er doch nach dem bürgerlichen Gesetzbuche entschieden werden. Diese Auffassung beruht auf einer flüchtigen Betrachtung der Dinge. Ich wies schon darauf hin, daß Bestimmungen ähnlichen Inhalts und gleicher Prägung bereits im römischen Recht zu finden waren. Da schufen sie aber zweifelloses Recht und mußten auch richterlichen Entscheidungen zu Grunde gelegt werden. Es ist gar nicht einzusehen, warum ganz gleich geartete Normen, Normen, die alle wesentlichen Merkmale gemein haben, Recht sein sollen oder nicht, je nachdem sie für richterliche Entscheidungen maßgebend sind. Das wäre doch offenbar ein ganz äußerliches Erkennungszeichen. Der Fehler liegt darin, daß die Juristen gewöhnt sind, nur das als Recht anzuerkennen, was vom Staate ausgeht, durch angedrohten staatlichen Zwang gefestigt ist: alles andre sei Sitte, Moral oder ähnliches Gebilde. Allein eine Rechtsnorm unterscheidet sich von einer sittlichen Norm durch ihre Natur und ihren Inhalt, ebenso wie sich eine sittliche Norm durch ihre Natur und ihren Inhalt von einer religiösen Norm, einer Anstandsnorm oder einer Regel des guten Tones unterscheidet. Gewiß fließen die Grenzen solcher bloß gesellschaftlich sanktionierter Normen sehr ineinander, und es hat auch manche dieser Normen im Laufe der Zeiten ihre Zugehörigkeit geändert. Aber im allgemeinen ist sich doch jedermann im klaren, wohin er das Fastengebot, das Gebot: ehre Vater und Mutter, und wohin er die Regel, beim Essen das Messer nicht zum Munde zu führen, zählen solle. Es gab eine Zeit, wo alles Recht vorwiegend gesellschaftlich sanktioniert war, und so ist es heute noch für große Rechtsgebiete. Das gilt, vom Völkerrecht ganz zu schweigen, vor allem vom Verfassungsrechte. Niemand wird behaupten, daß die durch keinen Richter erzwingbaren Vorschriften der Verfassung, vor allem die, die den Monarchen binden sollen, kein Recht, sondern bloß Sitte enthalten, selbst soweit der Minister für den Verfassungsbruch nicht verantwortlich ist. Und auch das Völkerrecht wird heute von der bloßen Sitte, die im Völkerverkehre gilt ("Das Recht der Gesandten, sechsspännig zu fahren") genau unterschieden. Ob eine Norm

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Recht ist oder nicht, kann also nur von ihrer Natur abhängen, die davon, welche Bedeutung sie für den entscheidenden Richter hat, ganz unabhängig ist. Die Sache liegt anders. Nicht auf den Gegensatz von Recht und Sitte kommt es hier an, sondern das Recht tritt uns in diesen Fällen in seiner doppelten Funktion entgegen: als Organisationsform und als richterliche Entscheidungsnorm. Der Grundsatz der Vermögenslosigkeit der Hauskinder herrscht in der Bukowina heute noch fast genau so, wie er einst in Rom geherrscht hatte, weil die Familie offenbar ähnlich organisiert ist; aber die Rechtsstreitigkeiten werden nach anderen Grundsätzen entschieden als in Rom. Wäre die Bukowina ein selbständiges Rechtsgebiet, hätte sie eine eigene Gesetzgebung, so hätten sich seine zur Ordnung des Familienrechts berufenen Gesetzgeber schwerlich der Notwendigkeit zu entziehen vermocht, die Besitzlosigkeit des Hauskindes in aller Form Rechtens anzuerkennen. In der Bukowina gilt aber das österr. bürger!. Gesetzbuch, ein fremdes Gesetz, dessen Familienrecht aus einer ganz andern Familienorganisation herausgewachsen ist. Seine Geltung ist aber rein äußerlich, als bloße Entscheidungsnorm, es kommt zur Anwendung in den sehr spärlichen Fällen, wo das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern Anlaß zu einem obrigkeitlichen Eingriff bietet. Im übrigen wächst und gedeiht die Familie, nach ihrem eigenen urwüchsigen Recht, unbekümmert um die Entscheidungsnormen. Ein anderes Beispiel für den Gegensatz zwischen den beiden Funktionen des Rechts ist folgendes: Bekanntlich muß jeder Verein eine Vereinssatzung haben. Was ist der Zweck der Vereinssatzung? Der Jurist wird auch hier geneigt sein, anzunehmen, die Vereinssatzung diene zur Entscheidung von Streitigkeiten in Vereinsangelegenheiten, sie sei Entscheidungsnorm. In Wirklichkeit ist aber ihre Aufgabe eine andere: sie hat den Verein zu organisieren; sie bestimmt über den Zweck des Vereins, über die Organe, über deren Rechte und Pflichten, über das Vereinsvermögen und dessen Verwaltung, über die Rechte und Pflichten der Mitglieder. Entstehen Streitigkeiten in Vereinssachen, dann können sie allerdings auch nach der Vereinssatzung entschieden werden. So ist die Vereinssatzung vor allem Organisationsform, in zweiter Linie aber auch Entscheidungsnorm; die Entscheidungsnorm wird hier, wie sonst in der Regel, von der Organisationsform abgeleitet, stimmt mit ihr im allgemeinen inhaltlich überein. Dasselbe gilt auch von anderen Gemeinschaften: von den juristischen Personen, wie Staat, Gemeinde, Kirche, Stiftung, wie auch von den Gemeinschaften ohne juristische Persönlichkeit. Verfassung, Gemeindeordnung, Stiftungsgeschäft, Gesellschaftsvertrag, spielen hier dieselbe Doppelrolle, als Organisationsform und Entscheidungsnorm, wie beim Verein die Vereins-

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satzung. Eine solche, wenn auch ungeschriebene Satzung hat jede Familie: die Rechte des Vaters, der Mutter, der Kinder über Person und Vermögen sind darin geordnet. Im einzelnen in jeder Familie verschieden, stimmt sie doch in demselben Volk, zu derselben Zeit im allgemeinen überein; denn die Organisation der Familie ist doch schließlich überall Ergebnis der in diesem Volk zu dieser Zeit herrschenden Überlieferung, der sittlichen Anschauung und der wirtschaftlichen Verhältnisse. Aus der übereinstimmenden Familienorganisation ergibt sich das Familienrecht des Volkes, ausschließlich als Organisationsform betrachtet. Die Entscheidungsnormen des Familienrechtes können, wie sich gezeigt hat, auch einen von der Organisationsform abweichenden Inhalt haben. Dieser Gegensatz erklärt auch die Erscheinung der Aufnahme fremder Rechte, vor allem die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland. Rezipiert wurden nicht die römischen Organisationsformen, sondern nur die römischen Entscheidungsnormen. Ehe und Familie behielten in Deutschland ihr früheres Gepräge, die verschiedenen, den Römern unbekannten Arten der Unfreiheit blieben bestehen, an dem Eigentum, den dinglichen Nutzungsrechten, den Dienstbarkeiten, hat sich kaum etwas geändert, die Verträge wurden so ziemlich mit demselben ausdrücklichen und herkömmlichen Inhalt abgeschlossen wie zuvor. Andrerseits hat kaum ein dem deutschen Leben ganz fremdes Gebilde des römischen Lebens in Deutschland infolge der Rezeption Eingang gefunden, soviel auch davon im Corpus juris die Rede sein mag: etwa die Sklaverei, die Stipulation oder die Emanzipation. Die Ausnahmen sind meist nur scheinbar. Das Testament wäre wohl, sobald die Zeit dafür reif geworden wäre, auch ohne Rezeption in Deutschland ebenso aufgekommen, wie es ohne Rezeption in England und Rußland entstanden ist: es ist ja bis heute in Deutschland seinem Wesen nach kein eigentliches römisches Erbeinsetzungstestament, sondern ein ganz unrömisches Vergabungstestament. Das Leben blieb also auch nach der Rezeption so, wie es war, nur die Prozesse wurden nach andern Grundsätzen entschieden. Von einer Einschränkung dieses Satzes wird aber noch die Rede sein. Wirtschaftlich wird unsere Gesellschaft organisiert durch Eigentum, Vertrag und Erbrecht. Das sind ihre Organisationsformen, freilich in sehr verschiedener AusgestaltungI. Aus dieser wirtschaftlichen Organisation ergeben sich die Befugnisse des Eigentümers (des dinglich Berechtigten) und des Gläubigers, ergibt sich in weiterer Folge, was als I Das "Eigentum" begreift wirtschaftlich auch die dinglichen Nutzungsrechte, das Miet- und Pachtverhältnis; der Vertrag als wirtschaftliche Organisationsform die dinglichen Sicherungsrechte, das Pfandrecht.

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Eingriff in einen fremden Rechtskreis gelten muß, ergibt sich endlich die große Mehrzahl der Entscheidungsnormen über dingliche Ansprüche, Schadenersatz und Vertragsklagen, Geschäftsführung ohne Auftrag und ähnliche Vorgänge, in denen verschiedene Rechtskreise ineinandergegriffen haben. Da die Organisationsformen bei den gesitteten Völkern seit der Entstehung der Eigentumsordnung im wesentlichen gleichartig sind, so sind auch die Entscheidungsnormen, trotz aller äußerlichen Verschiedenheit, in den Grundgedanken sehr gleichförmig. Die deutsche Rechtswissenschaft bezeichnet die Organisationsformen häufig als Natur der Sache; sie leitet die Entscheidungsnormen von der Natur der Sache ab. Der Gegensatz zwischen den beiden Funktionen der Rechtsnorm als Organisationsform und als Entscheidungsnorm trat bei der Betrachtung der Familie des romänischen Bauern aus dem Grunde besonders klar zu Tage, weil in diesem Falle zwischen ihnen offenbar ein Widerspruch besteht. Das ist zum Glück nicht immer so. Wie in Rom die Vermögenslosigkeit der Hauskinder nicht nur der Familienorganisation entsprach, sondern auch den Entsche~dungsnormen zu Grunde lag, so werden auch heute noch Eigentum, Dienstbarkeiten, Pfandrecht, Verträge, Familienverhältnisse, Land, Gemeinde, Kirche, Stiftung, Verein nach Normen beurteilt, die sich aus der Gestalt, die diese Einrichtungen im Leben angenommen haben, unmittelbar ergeben: sie konnten oder sollten es wenigstens. In der Regel stimmen also die Entscheidungsnormen mit der Natur der Sache überein. Womit befaßt sich nun die Rechtswissenschaft: mit den Organisationsformen oder mit den Entscheidungsnormen? Den praktischen Juristen kümmern allerdings nur die Entscheidungsnormen; da aber eine große Zahl der Entscheidungsnormen sich unmittelbar aus den Organisationsformen ergibt, so muß er auch diese kennen lernen. Für den Mann, der mitten im Leben steht, ist das nicht schwer. Hat er ein offenes Auge für alles, was um ihn her geschieht, so lernt er ziemlich bald, was ihm nottut. Wichtiger als das Wissen ist aber hier, wie bei jeder Kunst, die "Empfindung", der Ausdruck all der Denkvorgänge, die sich unter der Schwelle des Bewußtseins vollziehen. Und im Wissen sowohl als auch im Empfinden gibt es Gradunterschiede; es gibt große und kleine Juristen: die kleinen sollen von den großen lernen. Das sind die Anfänge der Jurisprudenz. Sie lehrt den Juristen aus der lebendigen Anschauung der Verhältnisse, wie sie das Leben erzeugt, die Normen zu gewinnen, deren er für die Beurteilung der Rechtsfälle bedarf. Im allgemeinen hat der juristische Praktiker eine ganz auffallende Verachtung gegen all die Bücherweisheit. Das ist leicht begreiflich. Die lebendige Anschauung lehrt ihn mehr, als Bibliotheken könnten. Für

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den theoretisch angelegten Geist hat aber diese Literatur eine ganz andere Bedeutung. Da die Entscheidungsnormen sich unmittelbar aus den gesellschaftlichen Gestaltungen ergeben, so sind sie selbst gewisserl11.aßen eine Projektion dieser Gestaltungen und können zum großen Teile nicht anders dargestellt werden, als in und mit diesen Gestaltungen. Die Darstellung der Entscheidungsnormen muß daher zugleich eine Darstellung gesellschaftlicher Einrichtungen sein, von Männern entworfen, die solcher Beobachtung ihr Leben gewidmet haben, dafür besonders geschult sind und ein feines Gefühl für die Wirklichkeit der Dinge besitzen. In diesem Sinn wurde die Jurisprudenz von einem römischen Juristen divinarum atque humanarum rerum notitia, von einem modernen die sonnenhelle Wissenschaft des täglichen Lebens genannt. Daher trotz des geringen praktischen, der große pädagogische Wert dieser Art der juristischen Literatur. Sie ersetzt der cupida legum iuventus, die das. Leben noch nicht kennt, all die Beobachtungen, die man sonst selbst machen müßte, um Jurist zu werden, und sie gibt ihr andere, die sie selbst nie machen würde, die ihren Gesichtskreis erweitern und ihre Empfindung verfeinern. Jurisprudenz dieser Art ist deshalb in der Tat eine Morphologie der menschlichen Gesellschaft. Es ist unmöglich, das Recht zu lehren, ohne zugleich ein Bild der Gesellschaft zu geben, für die es gelten soll. Jetzt ist auch klar, warum die Jurisprudenz nicht ins Gesetz gehört. Das Gesetz kann eben nicht Morphologie sein. Wenn sie ins Gesetz aufgenommen ist, wird sie sofort etwas anderes: aus eine Darstellung dessen, was ist, eine Vorschrift darüber, was sein soll. Sie verliert auch die Schmiegsamkeit, die sie befähigt, jeder besseren Erkenntnis und jeder Entwicklung zu folgen. Wie oft wurde schon eine juristische Lehre über Bord geworfen, von einer anderen abgelöst, obwohl sich unter dem Vorwand besserer Erkenntnis doch nur das Bedürfnis verborgen hatte, einer neuen Entwicklung Rechnung zu tragen! Was aber einer Lehre gegenüber ohne weiteres angeht, wäre einem Gesetz gegenüber gar nicht oder wenigstens nicht so leicht möglich. Den Entscheidungsnormen, die sich in dieser Weise unmittelbar aus den gesellschaftlichen Gestaltungen ergeben, stehen all die gegenüber, die den gesellschaftlichen Gestaltungen widersprechen. Ein Widerspruch von der Art, wie er am Anfang dieses Aufsatzes geschildert worden ist, kann sehr verschiedene Gründe haben. Er kann zunächst unbeabsichtigt sein. Ich will dafür einige Beispiele geben: 1. Eine durch Gesetz oder Wissenschaft festgelegte Entscheidungsnorm wird beibehalten, obwohl das Leben darüber bereits hinweggegangen ist. "Es erben sich Gesetz und Rechte, wie eine ewige Krank-

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heit fort." In diesem Sinn meint Herbert Spencer, das Gesetz sei stets eine Form der Herrschaft des Toten über den Lebenden. 2. Eine Entscheidungsnorm wird "rezipiert", von der Fremde herübergenommen, obwohl sie den gesellschaftlichen Gestaltungen nicht entspricht. 3. Die Natur der gesellschaftlichen Gestaltungen wird verkannt, die Entscheidungsnorm daher fehlerhaft festgelegt. Es gibt daher zwei Arten von Entscheidungsnormen: die sich aus den Verhältnissen unmittelbar ergeben und die den Verhältnissen, wie sie in der Gesellschaft entstehen, von Gesetz oder Wissenschaft aus einem der erwähnten Gründe aufgedrängt werden. So wenig es geraten ist, über die Entscheidungsnormen die Lebensverhältnisse zu übersehen, ebensowenig darf der Einfluß der Entscheidungsnormen auf das Leben unterschätzt werden. Selbst die unmittelbar aus den Lebensverhältnissen abgeleitete Entscheidungsnorm wirkt auf das Leben in ihrer Anwendung zurück. Jede Entscheidung setzt einen Zusammenstoß der Interessen, setzt Kampf voraus, und die Lebensverhältnisse gehen aus dem Kampf kaum je so hervor, wie sie in den Kampf getreten sind. Erst im Kampfe ergibt sich die Notwendigkeit, die beiden Kreise scharf auseinanderzuhalten, das, was verschwommen ineinandergriff, zu trennen; dadurch, daß man sich der Grenzen von Mein und Dein, von Recht und Pflicht klar bewußt wird, kommt selbst dann ein neues Element hinein, wenn diese Grenzen schon früher vorhanden waren. Dabei muß über eine Menge von Fragen mitentschieden werden, für die man aus den Lebensverhältnissen nichts zu entnehmen vermag, weil darin eine Antwort in der Tat nicht enthalten ist. Es genügt nicht, dem Eigentümer des Grundstückes das Eigentum so zuzusprechen, mit all' den Befugnissen, die im Leben das Eigentum am Grundstück gewährt: was geschieht mit den Früchten, die der bisherige Besitzer angebaut, mit der Arbeit und den Aufwendungen, die er geleistet hatte? Es genügt nicht, den Vertrag so zur Geltung zu bringen, wie er abgeschlossen worden ist; man muß auch über Dinge entscheiden, an die die Parteien gar nicht gedacht haben: Was geschieht, wenn die geschuldete Sache vor der Leistung untergegangen ist? Wenn sie von ganz anderer Art ist, als vorausgesetzt worden ist? Auf Fragen dieser Art kann die Jurisprudenz nur schöpferisch eine Antwort finden, angeregt durch die Gestalt, die die Lebensverhältnisse nicht in friedlicher Entwicklung, sondern im Prozeß angenommen haben, und diese Entscheidungsnormen, die die Jurisprudenz nicht dem Leben ablauscht, sondern selbständig schafft, wirken wiederum auf das Leben zurück.

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Die Entscheidungsnormen vermögen daher zweifellos die Lebensverhältnisse mit einem neuen Inhalt zu erfüllen. Insoweit das geschieht, erlangen sie eine ganz neue Bedeutung; denn dadurch wird es möglich, Entscheidungsnormen im vorhinein mit der Absicht festzusetzen, damit in die Entwicklung der Lebensverhältnisse einzugreifen. Das versuchte wohl von je die Jurisprudenz, in viel größerem Umfange aber der Staat durch die von ihm ausgehende Form der Rechtsbildung: die Gesetzgebung. Wie immer die Entscheidungsnorm auch das Leben gestaltend beeinflußt: im Gesetze wird sie zu einer selbständigen gesellschaftlichen Kraft, die gesellschaftliche Wirkungen erzeugt. So einfach, wie man sie sich gewöhnlich vorstellt, ist die Sache allerdings nicht. Meist nimmt man an, es genüge, ein Gesetz zu erlassen, um eine beliebige Wirkung zu erzielen. Das würde voraussetzen, 1. daß jedes erlassene Gesetz auch tatsächlich gelte, 2. daß es die Wirkungen erzeuge, die die, von denen es ausgeht, beabsichtigten, 3. daß es keineandern Wirkungen als die beabsichtigten erzeuge. Alle diese Voraussetzungen sind jedoch hinfällig. Unrichtig ist die Annahme, daß jedes erlassene Gesetz auch wirklich gelte. Man würde gar nicht glauben, wie sehr das unwirksame Recht das wirksame überwiegt. Die Zahl der Paragraphen des vor fast hundert Jahren erlassenen österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuches, die am Leben spurlos vorbeigegangen sind, deren Aufhebung ohne jede Bedeutung fürs Leben wäre, ist mit einem Drittel des Ganzen vielleicht nicht zu hoch gegriffen. Darunter sind einzelne, die Bestimmungen von großer Tragweite zu enthalten scheinen, jeden Augenblick zur Anwendung kommen könnten und in der ganzen Glaser-Unger'schen Sammlung von Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes, deren es bereits an die 15000 gibt, nicht ein einziges Mal angeführt sind. Wenn ein Rechtssatz aber auch manchmal in einer Entscheidung angewendet wird, so beweist diese Tatsache noch nicht, daß er wirklich ins Leben gedrungen ist und Handel und Wandel beeinflußt. Daß ein Rechtssatz aber die beabsichtigte Wirkung ganz verfehlt, daß er Wirkungen erzeugt, die bei seiner Formulierung gar nicht geahnt wurden, das erlebt man doch jeden Tag. Wie groß war die Literatur über Verfassung in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts? Ist dort eine der wichtigsten Folgen der verfassungsmäßigen Regierungsform auch nur mit einem Worte angedeutet? Ich meine die Folge, daß durch die Verfassung der bis dahin entscheidende Einfluß der Haupt- und Residenzstadt gebrochen wird. Das wurde so wenig geahnt, daß in Österreich seinerzeit die am lautesten nach der Verfassung gerufen hatten, die jetzt am schwersten darunter zu leiden haben: die deutschgesinnten Zentralisten. Als Verfassungsstaat hat Österreich aufgehört, deutsch zu sein. In diesem

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Augenblicke hat das deutsche Wien und die deutsche Wiener Bureaukratie auf den größten Teil ihres bis dahin ganz überwiegenden Einflusses auf den Staat zu Gunsten der slawischen Provinz verzichtet. Wäre die Geschichte nicht eine Wissenschaft, aus der man nur das eine lernt, daß man aus ihr gemeiniglich nichts lernt, die Zahl derer, die jeden gesellschaftlichen übelstand durch ein neues Gesetz heilen wollen, müßte erheblich kleiner sein. Man muß sich an den Gedanken gewöhnen, daß gewisse Dinge durch eine Rechtsvorschrift überhaupt nicht bewirkt werden können, daß die Macht des Rechtes ziemlich enge Grenzen hat. Man muß sich an den Gedanken gewöhnen, daß für die Folgen einer Rechtsregel die Absicht dessen, von dem sie ausgeht, ganz gleichgültig ist. Einmal in Kraft getreten, geht das Recht seine eigenen Wege: ob der Rechtssatz wirkt, ob er so wirkt, wie gewollt worden ist, das hängt ausschließlich davon ab, ob er ein taugliches Mittel ist, um diesen Erfolg zu erzielen. Man muß sich endlich an den Gedanken gewöhnen, daß für die Folgen eines Rechtssatzes nicht die Auslegung maßgebend ist, die etwa die Juristen geben; daß andere Umstände dafür viel wichtiger sind: die Eigenart des Volkes, dessen gesellschaftliche Schichtung und Bildung, die herrschenden sittlichen Anschauungen, die Beschaffenheit der Personen, die berufen sind, ihn zur Geltung zu bringen, die Machtmittel, die ihn durchsetzen sollen, die Art des Streitverfahrens. Auch hier will ich ein Beispiel anführen. Österreichische Juristen, die vor etwa zwanzig Jahren zur Eröffnung des Justizpalastes als Festgäste nach Brüssel gekommen waren, hörten hier zu ihrem Erstaunen, daß Kaiser J osef 11. in Belgien als der verehrt wird, der dort das mündliche Prozeßverfahren eingeführt hatte. Das Gesetz, durch das dieses Wunder bewirkt wurde, war die Allgemeine Gerichtsordnung, die vielverlästerte Josephina, die ja auch in Österreich mehr als ein Jahrhundert gegolten hatte, ohne daß ihr jemand hier die Fähigkeit, ein mündliches Verfahren zu schaffen, zutraute. Die Gerichtsordnung bestimmt allerdings, daß "auf dem Lande" (überall außerhalb der Provinzhauptstädte) mündlich zu verfahren sei. In Österreich bestand das "mündliche" Verfahren in der Regel darin, daß die Schriftsätze nicht eingereicht, sondern, in der Form von Protokollen verfaßt, dem Richter übergeben wurden; manchmal kam es allerdings vor, daß die Parteien tatsächlich ihre Äußerungen bei der Tagfahrt zu Protokoll gaben. Entschieden wurde der Prozeß aber jedenfalls nur auf Grund der Protokolle, in der Regel von einem Richter, der die Verhandlung nicht mitgemacht hatte. In den damals österreichischen Niederlanden hat man dagegen das mündliche Verfahren ernst genommen. Es wurde wirklich vor Gericht verhandelt, über die Verhandlung am Schluß ein Protokoll aufgenommen, und der 7 Eugen Ehrlich

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Richter, der die Tagfahrt geleitet hatte, entschied, wenn auch mit Hilfe des Protokolls, so doch unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung. So führte dasselbe Gesetz in Österreich zu einem protokollarischen und mittelbaren, in den Niederlanden zu einem mündlichen und unmittelbaren Verfahren; nicht im Gesetz, sondern in den Völkern lag der Unterschied. Für eine Rechtsregel können deshalb Umwälzungen wichtig werden, die sich gar nicht in ihrem Bereich vollzogen haben. Heute wird anerkannt, daß dem gemeinen Recht in Deutschland wohl ein römisches Gesetz zu Grunde lag, daß aber das römische Recht in der Tat nie als gemeines Recht gegolten hatte: alle Versuche, das corpus iuris civilis römisch aufzufassen und in dieser Auffassung zur Anwendung zu bringen, scheiterten an der Unmöglichkeit, für zwei so gänzlich verschieden organisierte Gesellschaften, wie es die römische und die deutsche ist, dasselbe Recht 'zur Geltung zu bringen. In Österreich hat man es erlebt, daß Hunderte von Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches, an denen die neue Zivilprozeßordnung auch nicht einen Beistrich geändert hatte, doch durch sie ein ganz anderes Gesicht erhielten. Wenn nach österreichischem Recht zur Trennung einer katholischen Ehe (von Tisch und Bett) wiederholte schwere Mißhandlungen und sehr empfindliche wiederholte Kränkungen, zur Scheidung einer akatholischen Ehe wiederholte schwere Mißhandlungen erforderlich sind, so wird heute von unseren Gerichten doch etwas ganz anderes als schwere Mißhandlung oder empfindliche Kränkung betrachtet als im Jahre 1811, da die Bestimmung erlassen worden ist: die sittlichen Anschauungen sind darüber hinweggegangen. Noch heute gilt ein Strafgesetz, dessen Bestimmungen zum großen Teil aus dem Jahre 1803 stammen: trotzdem wird ein armer Teufel, der aus Hunger ein Stück Brot stehlen würde, gewiß ganz anders behandelt als vor hundert Jahren. Aus alledem ergibt sich, daß es neben der rein juristischen noch eine gesellschaftliche Betrachtung des Rechtes gibt. Die rein juristische Betrachtung will vor allem jede Rechtsregel im Sinn und Geist dessen, von dem sie stammt, auslegen; nicht viel von ihr unterscheidet sich die historisch-juristische, die die Rechtsregel im Sinn und Geist der Zeit, in der sie entstanden ist, aufgefaßt und angewendet wissen will. Ihren letzten Ausdruck hat die juristische und die historisch-juristische Betrachtungsweise in der historischen Juristenschule in Deutschland gefunden, die etwa bei einer ins gemeine Recht Deutschlands übergegangenen Vorschrift des prätorischen Rechtes der Römer es darauf ankommen lassen wollte, was sich der römische Prätor dabei gedacht hatte, vorausgesetzt, daß Kaiser Justinian, der sie ins corpus iuris aufgenommen hat, nicht einen anderen Sinn damit verbunden habe. Die gesellschaftswissen-

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schaftliche Betrachtung fragt, wie ein Rechtssatz gilt, welches Maß und welche Art gesellschaftlicher Kraft davon ausgeht. Dabei darf selbstverständlich auch die Absicht dessen, von dem der Rechtssatz herrührt, nicht unberücksichtigt bleiben, denn auch sie ist eine gesellschaftliche Kraft; aber nur eine, die neben den anderen wirkt und keineswegs immer die entscheidende. Es ist klar, daß die rein juristische und die historisch-juristische Betrachtung unwissenschaftlich und unpädagogisch sind; sie sind unwissenschaftlich, denn sie sind einseitig: Einseitigkeit und Wissenschaftlichkeit sind aber Gegensätze. Sie sind unpädagogisch, denn es ist töricht, nur zu lehren, was gelten sollte, und zu übersehen, was wirklich gilt. Wie verhält sich nun diese Rechtswissenschaft zu den andern Wissenschaften? Welche Stellung nimmt sie im Gliedbau der Wissenschaften ein? Es wäre wohl überflüssig, hier auf die vielen Bestrebungen, eine Systematik der Wissenschaften zu schaffen, einzugehen: sie mögen alle berechtigt sein, insofern sie von verschiedenen, an sich berechtigten Standpunkten vorgenommen werden. Für meinen Zweck eignet sich am besten der alte Gliedbau Comtes2 , dessen Grundgedanken auch Spencer angenommen hat. Er empfiehlt sich vor allem durch seine großartige Einfachheit und Einheitlichkeit, durch die Art, wie er eine Hierarchie der Wissenschaft aufbaut, jede auf die vorausgehende gegründet und deren Ergebnisse verwertend, wobei freilich von der unzulässigen Annahme der zeitlichen Aufeinanderfolge der Wissenschaften abgesehen werden muß: die Mathematik, die Lehre von der abstrakten Größe, ist die Grundlage jeder Wissenschaft; ihr folgt die Physik, die Lehre von den physischen Körpern, die Ergebnisse der Mathematik verwertend; dieser die Biologie, die Lehre von den belebten Körpern, auf die Physik gegründet; dann die Psychologie, die Physik des Bewußtseins der belebten physischen Körper, endlich die Soziologie, die ihrem Wesen nach Massenpsychologie ist. Wenn Comte die Geschichte nicht erwähnt hat, so entspricht das der französischen Auffassung, die die Geschichte nicht zu den sciences, sondern zu den beIles lettres zählt. Der Deutsche hat die Wahl, den Gliedbau der Wissenschaften im Sinn der Franzosen auf die Gesetzeswissenschaften zu beschränken, dann ergibt sich der Ausschluß der Geschichte, eben so wie der Geologie, der beschreibenden Naturwissenschaften, der Geographie, der Zoologie, der Botanik, der Mineralogie von selbst; oder die beschreibenden Naturwissenschaften der Physik und der Biologie, die Geschichte, etwa mit der Völkerkunde und der Statistik, der Soziologie, sei es als Materiale, sei es als selbstän2 Mit einigen kleinen Änderungen: Die Astronomie wird nicht als selbständige Wissenschaft behandelt, sie ist Anwendung der Physik auf kosmische Vorgänge. Die Einschaltung der Psychologie fordert die moderne Entwicklung. Chemie ist Molekularphysik.

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diges Gebiet, beizuzählen. Grundsätzlich berechtigt ist im comtischen Gliedbau die scharfe Trennung der Wissenschaften, die der reinen Erkenntnis dienen, und der praktischen Disziplinen, die die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung für praktische Zwecke verwerten. Ohne diese Trennung ist ein Gliedbau der Wissenschaften nicht möglich, schon deswegen, weil für einen einzigen praktischen Zweck die Ergebnisseder Forschung auf den verschiedensten Wissensgebieten nutzbar gemacht werden können. Vollends ist es nur so möglich, der Rechtswissenschaft die ihr gebührende Stellung anzuweisen. Die Jurisprudenz ist nun zunächst zweifellos eine praktische Disziplin: sie lehrt die praktische Rechtsanwendung. Als solche besteht sie schon seit Jahrtausenden. Aber diese Aufgabe kann sie, wie gezeigt wurde, doch nur in vollem Umfang erfüllen, wenn sie eine Morphologie der menschlichen Gesellschaft gibt, und die Kräfte, die in der Gesellschaft wirken, auf ihr Wesen und ihr Maß untersucht. So wird die Jurisprudenz zur Rechtswissenschaft, zur Lehre vom Recht als gesellschaftlicher Erscheinung; als solche ist sie ein Zweig der Soziologie. Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, möge mit allem Nachdrucke hervorgehoben werden, daß es sich hier nur um die Soziologie in dem Sinne handelt, wie sie von Auguste Comte verstanden worden ist und wie sie sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts allmählich zu einer besonderen Wissenschaft ausgebildet hat. Sie ist eine Naturlehre von den Gruppenbildungen, zunächst im Sinne Comtes wohl nur der Menschen, obwohl diese Beschränkung weder geboten noch wünschenswert ist. Ihr Zweck ist ausschließlich, die gesellschaftlichen Einrichtungen zu erforschen und klarzustellen. Die gesellschaftlichen Strömungen und Strebungen kommen für sie nur als Gegenstand der Forschung in Betracht; sie hat nicht die Aufgabe, ihnen zu dienen, sie irgendwie zu fördern: je n'impose rien, je ne propose meme, j'expose. Sie ist von der Sozialpolitik ebenso streng zu trennen wie von jeder anderen Politik und von der politischen Ökonomie. Die theoretische Nationalökonomie allerdings, die die Gestaltung und Gesetzmäßigkeit der wirtschaftlichen Erscheinungen erforscht und darstellt, gehört zur Soziologie. Die Entwicklung der Jurisprudenz zur Rechtswissenschaft und damit zu einem Zweige der Soziologie entspricht durchaus dem Gang auf anderen Gebieten. Alle theoretischen Wissenschaften wurzeln in praktischen Disziplinen. Wir hätten vielleicht keine Astronomie ohne Kalenderkunde und Astrologie, keine Geometrie ohne Erdmessung, keine Chemie, wenn man nie versucht hätte, aus unedlen Metallen Gold zu erzeugen, fast die ganze Biologie ist aus der Heilkunst vergangener J ahrhunderte herausgewachsen. Wohl allgemein wird anerkannt, daß wir den großen Aufschwung der wissenschaftlichen Forschung in den letzten

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Jahrhunderten dieser Verschiebung der Ziele der wissenschaftlichen Arbeit verdanken. Und dieser Aufschwung besteht nicht nur darin, daß unser Wissen in ungeahntem Maße bereichert wurde: auch unser Können ist in erster Linie dadurch gehoben worden. Hätte die wissenschaftliche Arbeit immer nur praktische Ziele verfolgt, so hätte sie auch in praktischer Richtung unmöglich das zu leisten vermocht, was tatsächlich geleistet worden ist: die Forscher, nicht die Praktiker, haben für die moderne Medizin, für die moderne Technik die Grundlagen gelegt. So darf vielleicht der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, daß auch die Juristen eine Umwandlung der juristischen Fakultäten in gesellschaftswissenschaftliche nicht zu bedauern haben werden. Sie ist ohnehin im Zuge. Sie vollzieht sich sacht, wie alles Große auf geistigem Gebiete. In Deutschland hat schon vor hundert Jahren die historische Schule das erste Wort gesprochen: ihre Bedeutung liegt hier, nicht in ihrer grundsätzlich verfehlten Dogmatik und Gesetzgebungspolitik. Eine fast unübersehbare Menge von Anregungen ging von Jhering und von einzelnen Germanisten aus. In den letzten Jahren mehren sich die Anzeichen einer neuen Zeit; bewußt un:d klar wird freilich noch nicht vorgegangen. Viel klarer ist eine Bewegung, die vor einigen J ahren in Frankreich begonnen hat. Als Führer kann Saleilles in Paris gelten, einer der feinsten Geister in der an feinen Geistern wahrlich nicht armen französischen Rechtswissenschaft. Geny (Dijon, jetzt Nancy) hat in seinem Werk: Methode d'interpn?tation et sources en droit privc~ positif (Paris 1889) ein fast unübersehbares Materiale gesammelt. Vor allem ist aber Lambert in Lyon zu erwähnen. Er trägt seine Lehre in einem umfangreichen Werk vor (La fonction du droit dvil compaTl?), von dem bisher der erste, einleitende Band erschienen ist. Mit großartigem Temperament und Gelehrsamkeit geschrieben, legt die bahnbrechende Schrift in mächtigen Quadern den Unterbau für die neue soziologische Rechtswissenschaft3• Auf meine eigenen Bestrebungen, die ihrem Beginne nach zeitlich vor denen der Franzosen liegen und von ihnen unabhängig waren, will ich hier nur hinweisen: ihr Programm habe ich an anderer Stelle4 entwickelt und in mehreren Monographien ins Werk zu setzen versucht. Zu dieser soziologischen Rechtswissenschaft verhält sich die praktische Jurisprudenz so, wie etwa die Medizin zur Biologie, die Baukunst zur Mathematik und Physik. Damit ist wohl auch gesagt, daß sie nie darin aufgehen wird; wir werden immer eine Unterweisung brauchen, die vom Wissen zum Können eine Brücke schlägt. Auf einen sehr wichtigen 3 Sehr nahe steht den Franzosen die vortreffliche Arbeit Stembergs: Allgemeine Rechtslehre (Leipzig 1904, Sammlung Göschen). 4 Freie Rechtsfindung und Freie Rechtswissenschaft, Leipzig 1903.

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Umstand ist bereits hingewiesen worden: keine praktische Disziplin entnimmt die Anregungen ausschließlich einer einzigen Wissenschaft; welche Fülle von Kenntnissen muß etwa der Gartenkünstler außer den botanischen besitzen! Die Jurisprudenz arbeitete b~sher allerdings mit einem unsäglich armseligen Materiale: einige Kenntnis des geltenden Rechtes, nicht selten nur des Gesetzes, verbunden mit der Kunst, in den hergebrachten Handbüchern nachzuschlagen, dazu ein bischen Logik und der berüchtigte "gesunde Menschenverstand" genügten, um einen "guten Praktiker" zu schaffen. Daß die dem "guten Praktiker" nicht genügten, um selbst verhältnismäßig einfachen Aufgaben gerecht zu werden, hat man allmählich erkannt: dieser Erkenntnis verdankt der Beweis durch Sachverständige sein Dasein. Er soll dem Juristen aus den verschiedensten Gebieten die Kenntnisse vermitteln, deren er zur Ausübung seines Berufes bedarf und die er doch sich anzueignen nicht für seines Amtes hält; es ist ein kümmerlicher Notbehelf. Hier und da führte er zu einer neuen juristischen Disziplin: der wichtigste Fall ist der der gerichtlichen Medizin, die eigentlich eine medizinische Jurisprudenz ist. Wie wenig der juristische Mediziner den medizinischen Juristen zu ersetzen vermag, davon kann man sich allerdings jeden Tag überzeugen. Auch nach dieser Richtung bereitet sich ein Umschwung vor. Die kunstgerechte Verwertung der Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit für juristische Aufgaben findet mit jedem Tage mehr Verständnis. So vor allem die der Wirtschaftspolitik, insbesondere der Sozialpolitik: so weit wir heute noch davon entfernt scheinen, dürfte doch recht bald der Tag kommen, wo es Gemeinplatz sein wird, daß es ohne Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik weder eine Jurisprudenz noch auch eine diesen Namen verdienende Rechtspflege geben kann. In einer andern Weise bahnbrechend wirken die Arbeiten von Hans Groß: die von ihm begründete Kriminalistik bedeutet zunächst die Heranziehung der Naturwissenschaften und der Technik für die Zwecke der Strafrechtspflege. Der Wert der Psychologie ist selbstverständlich: ist die Rechtswissenschaft ein Zweig der Soziologie, dann nimmt sie die soziale Psychologie unmittelbar auf, denn soziale Tatsachen sind nichts als psychische Tatsachen in der Massenerscheinung. Hier handelt es sich aber um Verwertung der Psychologie für die juristische Technik. Man las in letzter Zeit viel von der Psychologie der Zeugenaussage. Es waren Sachen, die dem Psychologen kaum etwas Neues brachten: nicht dem Psychologen, wohl aber dem Juristen. Es ist ganz unglaublich wie leichtfertig Zeugenaussagen in der Rechtspflege gewürdigt werden: nicht aus Bosheit, möchte man fast betonen. Die Unzuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung, die leichte Suggestibilität, all das war jedem, der damit je zu tun hatte, längst bekannt: nur dem Juristen nicht. Der Vorsitzende ruft allerdings dem Verteidiger (nicht dem Staatsanwalt) oft genug zu: stel-

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len Sie keine Suggestivfragen! Daß der Vorsitzende und der Staatsanwalt andere als Suggestivfragen fast gar nicht stellen, pflegt den meisten zu entgehen. So ist die Richtung, die die Jurisprudenz als rein praktische Disziplin einschlagen muß, vorgezeichnet: indem sie ihren gesellschaftswissenschaftlichen Inhalt an die Soziologie abgibt, erobert sie sich neu ihr ureigenstes Gebiet.

DIE TATSACHEN DES GEWOHNHEITSRECHTS Recht und Rechtsverhältnis ist ein gedankliches Ding, das nicht in der greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit, sondern in den Köpfen der Menschen lebt. Es gäbe kein Recht, wenn es keine Menschen gäbe, die darüber nachdenken würden. Aber wie sonst überall, so sind auch hier unsere Gedanken aus einem Stoffe geformt, den wir der greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit entnehmen. Allen unseren Vorstellungen liegen Tatsachen zu Grunde, die wir beobachtet haben. Solche Tatsachen müssen vorhanden gewesen sein, bevor im menschlichen Hirn überhaupt der Gedanke an Recht und Rechtsverhältnis aufzudämmern begann. Und auch in der Gegenwart müssen jedenfalls gewisse Tatsachen vorliegen, bevor wir uns entschließen, von einem Recht und Rechtsverhältnis zu sprechen. Um diese Tatsachen handelt es sich hier. 1. Der heutige Jurist ist gewöhnt, auf eine von Recht und Rechtszwang beherrschte Welt zu blicken. Dieser Welt, die die seinige ist, verdankt er seine Weltanschauung, die Recht und Rechtszwang in den Anfang aller Dinge verlegt. Ohne sie vermag er sich ein menschliches Zusammenleben kaum vorzustellen. Eine Familie, die nicht behördlich zusammengehalten oder mindestens beaufsichtigt, ein Eigentum, das nicht von den Gerichten geschützt, ein Vertrag, der nicht klagbar, ein Erbe, das nicht auf dem Rechtswege durchsetzbar wäre, scheint ihm wenigstens als allgemeine Erscheinung unmöglich. So verbinden sich in seiner Gedankenwelt Rechtsordnung, Gericht und Rechtszwang zu einer Einheit, und da der Rechtszwang gerichtliche Entscheidung und diese wieder feste Rechtsnormen voraussetzen, so pflegt er Gericht, Rechtszwang und feste, alles vorausbestimmende Rechtsnormen überall zu suchen, wo immer er eine Rechtsordnung findet.

Dem geübten Auge des Rechtsforschers entgeht es aber nicht, daß der uns wohlbekannten, von Gericht, Rechtszwang und Rechtsvorschriften in Schranken gehaltenen Gesellschaft eine andere Gesellschaft vorausging, der all das noch fremd gewesen ist, die sich aber doch bereits einer leidlichen Ordnung erfreute. Diese Ordnung beruhte darauf, daß die Menschen schon damals gewisse Regeln als für ihr Handeln verbindlich anerkannten und unter der Herrschaft dieser Regeln zum Teile bereits so gehandelt, sich so verhalten, ähnliche Ziele angestrebt und bis zu

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einem gewissen Grade auch erreicht hätten, wie später unter der Herrschaft fester Rechtsnormen, die durch Gerichte gehandhabt und mit Rechtszwang zur Geltung gebracht werden. Ob wir da schon von einer Rechtsordnung sprechen dürfen, darauf kommt es allerdings nicht viel an. Was wir hier begegnen, mag zunächst als bloße Tatsache gelten: denn "Tatsache" ist dem Juristen alles, was nicht oder noch nicht Recht und Rechtsverhältnis ist; aber diese Tatsachen sind bereits keimende und werdende Rechte und Rechtsverhältnisse, und als solche finden wir in etwas späterer Zeit gleichgeartete Tatbestände wieder. Wir haben also damit zu rechnen, daß es schon auf dieser Entwicklungsstufe Regeln gibt, von denen sich die Menschen in ihrem Handeln leiten lassen, und daß bei den Menschen, die so handeln, gewisse bewußte oder halbbewußte Vorstellungen, Empfindungen und Gefühle vorhanden sein müssen, die sie dazu veranlassen, die Regeln zu befolgen. Diese Regeln und Handlungen, die Vorstellungen, Empfindungen und Gefühle, die sie begleiten, sind es, woraus in der Folge die Rechtsordnung herauswächst. Aber auch wo eine gefestigte Rechtsordnung bereits vorhanden ist, stoßen wir jeden Augenblick auf rein gesellschaftliche Einrichtungen, um die sich das Recht gewissermaßen gar nicht kümmert, von denen es daher zweifelhaft sein muß, ob sie als Rechtseinrichtungen bezeichnet werden können. In etwas späterer Zeit treten uns aber Einrichtungen ganz derselben Art, vom Rechte anerkannt, in Rechtsnormen gefaßt, von Gerichten geschützt, entgegen. Und auch hier verlohnt es sich, den Weg zu verfolgen, der vom rein gesellschaftlichen Lebensverhältnis zum Rechtsverhältnis hinüberleitet. Auch hier ist es für den Juristen von größtem Werte, den Vorstellungen, Gefühlen und Empfindungen nachzu~hen, auf denen das Lebensverhältnis in seinem rein gesellschaftlichen Bestande beruht, und die schließlich bewirken, daß es vom Rechte anerkannt wird. Demselben Vorwurf begegnen wir aber noch in anderer Form. Denn ganz gleichgeartete Lebensverhältnisse erscheinen in verschiedenen Ländern das eine Mal als Bestandteil der Rechtsordnung, das andere Mal nicht. Ja, in demselben Rechtskreise sehen wir zuweilen Lebensverhältnisse von durchaus derselben Art, von denen das eine in die Rechtsordnung aufgenommen erscheint, während dem anderen, zuweilen sogar dem wichtigeren und bedeutungsvolleren, die Aufnahme ins Recht versagt wird. Endlich gibt es zweifellos auch Fälle, wo ein Lebensverhältnis im Laufe der Zeiten jede rechtliche Wirksamkeit verloren hat, aber als gesellschaftliches Verhältnis bestehen blieb. Die Zahl der Beispiele, die für das Gesagte angeführt werden könnten, ist unübersehbar. Es soll daher nur auf einige wenige hingewiesen werden. So vor allem darauf, daß das römische prätorische Eigentum zweifellos schon lange im Leben bestanden haben muß, bevor es vom

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Prätor mit Rechtsmitteln ausgestattet worden ist, ferner darauf, daß es in Rom, wie in anderen Rechtsordnungen, neben den klagbaren Verträgen (contractus) immer unklagbare (paeta) gegeben hat, die zum Teile mindestens ebenso wichtig waren, wie die anderen. Aber auch wir heute würden nicht ohne weiteres annehmen, daß die Vereinbarung mit einem Freunde, er werde bei einem voraussichtlich überfüllten Schnellzug für den anderen rechtzeitig einen Platz belegen, ein Verhältnis mit Zwangswirkungen begründe, obwohl vielleicht sehr wichtige Interessen daran hängen. Hier haben wir es überall mit Lebensverhältnissen zu tun, dip später zum Teile in die Zwangsordnung aufgenommen worden sind, ohne daß sich sonst etwas Wesentliches an ihnen veränderte, während andere, gleichgeartete, nach wie vor außerhalb der Zwangsordnung verbleiben. Ein Lebensverhältnis, das überall auch zweifellos ein Rechtsverhältnis ist, das ist die Ehe. Wir haben jedoch im Oriente mehrere Arten der Ehe, und auch in Rom gab es schon sehr früh neben der Manusehe auch die gewalt freie Ehe, später etwas vielleicht ein matrimonium juris gentium, und endlich hat es auch das Konkubinat zu einer gewissen Beachtung im Rechte gebracht. Dagegen werden wir es im Umkreise der christlichen Gesittung gewiß nie über die einzige rechtlich und sittlich vollwertige Art der Ehe bringen. Das Recht lehnt also bei uns die auch hier tatsächlich vorkommenden geschlechtlichen Beziehungen grundsätzlich ab, während das anderwärts nicht der Fall ist. Wenn endlich der Adel, wie etwa in unserem Nachbarlande, gesetzlich aufgehoben wird, so besteht er, wie man sich mehrmals überzeugt hatte, noch lange gesellschaftlich fort, und ebenso hat ,die Einführung der Ziviltrauung oder der Ehescheidung die gesellschaftliche Geltung der 'kirchlichen Trauung und der Unauflösbarkeit des Ehebandes in manchen Kreisen gar nicht oder nicht sofort beseitigt. 2. Was ist es nun, was ein Lebensverhältnis zum Rechtsverhältnis stempelt oder ihm diesen Stempel benimmt? Auf die Anerkennung durch ein Gesetz, durch die Gerichte oder andere Behörden kann man es gewiß nicht abstellen, denn das ist nicht eine Eigenschaft, sondern eine historische Zufälligkeit des Verhältnisses. Es ist ganz nebensächlich, ob von einem Lebensverhältnis in irgend einem Gesetze Erwähnung geschieht, da es ja ohnehin klar ist, wie wenig der Wust der Gesetze die ganze bunte Mannigfaltigkeit des Lebens umfassen kann. Und die Möglichkeit, die Ansprüche aus dem Verhältnis vor Gericht oder andern Behörden geltend zu machen? Wie soll man es den Verhältnissen, die nie ein Gericht oder eine Behörde beschäftigt haben und nie beschäftigen werden, denn im vorhinein ansehen, welche Geltung ihnen Gericht und Behörden zuschreiben würden, zum al wenn dafür ein Anhaltspunkt in den Gesetzen und der bisherigen Rechtsprechung - und um solche Fälle handelt es sich hier - nicht vorhanden ist? Und doch ist es wohl

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zweifellos, daß von der unübersehbaren Zahl der Lebensverhältnisse nur ganz ausnahmsweise welche die Aufmerksamkeit der Gerichte und anderer Behörden auf sich ziehen. Unser Leben spielt sich doch nicht vor den Behörden ab. Es gibt Millionen von Menschen, die in zahllose Rechtsverhältnisse treten und die so glücklich sind, nie eine Behörde anrufen zu müssen. Da das der Geset~gebung und Rechtsprechung fern gebliebene Verhältnis also immerhin das regelmäßige ist, so würde also gerade in den Fällen, die die Regel bilden, alles fehlen, was nötig wäre, um festzustellen, ob man es mit einem Rechtsverhältnis zu tun habe. Dabei verschiebt sich jeden Augenblick die Grenze zwischen dem, was die Gerichte und die Behörden zu veranlassen im Stande sind und das sie unterlassen zu müssen glauben, nicht nur durch die Gesetzgebung, sondern auch durch die tatsächliche Übung; soll jede solche Änderung, jedes unmerkliche Schwanken, auch auf alle die Verhältnisse zurückwirken, die nie vor ein Gericht gebracht worden sind oder gebracht werden sollen? Man wird mir selbstverständlich wieder einwenden, daß ich Recht und Sitte mit einander verwechsle. Ich verwechsle jedoch gar nichts, ich weiß insbesondere Recht und Sitte sehr gut von einander zu unterscheiden. Ich bestreite nur, daß die vom Staate ausgehende Norm, der von den Gerichten oder andern Behörden gehandhabte Rechtszwang, ein wesentliches Merkmal des Rechts bilden. Recht und Sitte unterscheiden sich ebenso, wie sich Normen der Sitte von sittlichen Normen - Sitte und Sittlichkeit sind eben auch verschieden - und diese wieder von religiösen Normen, aber auch von andern minder wichtigen Norn1en, von Regeln des Anstands, des guten Tones, der Mode, unterscheiden. Recht, das sind die gesellschaftlichen Einrichtungen und Maßregeln, die von den in der Gesellschaft maßgebenden Kreisen als Grundlage der staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung empfunden werden. Es kommt aber nur darauf an, ob sie als Grundlage dieser Ordnung empfunden werden, nicht, ob sie es sind, und es kommt gar nicht auf den Schutzwall an, mit dem die in der Gesellschaft maßgebenden Kreise die grundlegenden Maßregeln und Einrichtungen umgeben. Im Altertum gehörte die nationale Religion stets zu den grundlegenden staatlichen Einrichtungen, aber der antike Staat hielt es nur ganz ausnahmsweise für notwendig, die Glaubenseinheit gegen Widerstrebende zu schützen. Im Mittelalter und der Neuzeit, bis ins XVIII. Jahrhundert, war bekanntlich das Verhalten der maßgebenden Kreise zu dieser Frage anders, und es ist heute wieder ganz anders. In jeder Gesellschaft auf tiefer Entwicklungsstufe besteht das Gefühl, daß eine wirkliche Ehe nur zwischen Personen, die in einem engen gesellschaftlichen und volklichen Zusammenhange stehen, möglich ist. Die Regeln über das connubium sind da eine Rechtseinrichtung, weil sie als Grundlage der gesellschaft-

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lichen und staatlichen Ordnung empfunden werden, wenn man· auch von Rechtszwang zu ihrer Durchsetzung wenig hört. Ähnliche Gefühle herrschen auch heute noch in weiten Kreisen, sie haben aber, mit wenigen Ausnahmen, mit Recht gar nichts mehr zu tun. Als Grundlage der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung sieht sie eben heute niemand mehr an, sie sind bloß Sitte. Selbstverständlich ist aber nicht jede gesellschaftliche Einrichtung oder Maßregel, die als Grundlage der staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung von den maßgebenden Kreisen behandelt wird, Recht und Sitte zugleich: Recht ist sie aber unter allen Umständen. Alle diese gesellschaftlichen Einrichtungen, die zum Teile in das Recht eindringen, zum Teile am Recht vorbeigehen, zum Teile auf halbem Wege dorthin stecken bleiben, sind für den Juristen und Rechtshistoriker von größter Wichtigkeit. Denn hier ist die eigentliche Werkstätte der Rechtsbildung. Die Lehre von den Rechtsquellen, von Gesetz und Gewohnheitsrecht, darf nur von hier aus in Angriff genommen werden. Es ist im wesentlichen immer dieselbe Frage, die die ganze Rechtsgeschichte bis auf unsere Zeit beschäftigt: wie tatsächliche Beziehungen zu Rechten und Rechtsverhältnissen werden. 3. Auf diese Frage hin sollen die grundlegenden Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft untersucht werden. Zunächst die Gemeinschaften und Verbände, aus denen die heutige Gesellschaft herausgewachsen ist: die Familie, die Sippe, die Gemeinde. Dann die Herrschaftsverhältnisse, die in der Gesellschaft bestehen, die familienrechtlichen Gewalten und die Vormundschaft, die Sklaverei, die Hörigkeit und die sonstigen Dienstverhältnisse. Darauf folgen die Rechtsverhältnisse an Grund und Boden, die Grundlage jeder gesellschaftlichen Ordnung. Sohin das Recht der Rechtsgeschäfte, der Handlungen, die die Menschen vornehmen, um rechtliche Wirkungen zu erzielen. Endlich das Erbrecht, die Ordnung des Nachlasses eines Verstorbenen. a) Die erste Tatsache des gesellschaftlichen Lebens ist die Menschengruppe. Wir begegnen ihr in der Urzeit in verschiedenen Gestalten, als Sippe (Geschlecht, gens, clan), Familie, Hausgenossenschaft, später als Dorfgemeirrde, Marktgemeinde. Sippe und Familie sind die ursprünglichen Formen. Es muß heute noch dahingestellt bleiben, welche von ihnen als die eigentliche Urform zu betrachten ist, ob die Sippe nichts anderes ist als eine ausgewachsene, großgewordene Familie oder die Familie erst viel später als die Sippe, innerhalb der Sippe, entstanden ist. Nicht zweifelhaft scheint es mir aber zu sein, wodurch Sippe und Familie erzeugt worden sind. Den Kitt geben für sie die gesellschaftlichen Gefühle ab, die den Menschen mit dem Menschen verbinden und die bei ihm von der Empfindung erzeugt werden, daß er den schweren

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Kampf ums Dasein mit der Natur und mit anderen Menschen in Gruppen vereinigt leichter und erfolgreicher werde kämpfen können, als vereinzelt, bloß auf seine eigene Kraft angewiesen. Von dem Augenblick an, da sich die Menschen zu Gruppen vergesellschaften, wird selbstverständlich die größre Vergesellschaftsfähigkeit des Menschen für ihn zu einer Waffe im Kampfe ums Dasein. Sie bewirkt daher auch das allmähliche Ausschalten und den Untergang derer, bei denen Eigensucht und Raubtiertriebe überwiegen, und das Überleben der Vergesellschaftungsfähigen, die jetzt die Stärkeren sind, weil ihnen auch die Kraft ihrer ganzen Gruppe zugute kommt. So führt natürliche Auslese und Vererbung zu einem immer vergesellschaftungsfähigeren Menschengeschlecht. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, in der Ahnung, daß man aufeinander angewiesen ist, wurzelnd, erzeugt die Sippe und, durch das Bewußtsein gemeinsamer Abstammung verstärkt, die Familie, aus der, bei Viehzüchtern und Ackerbauern auf eine bestimmte wirtschaftliche Grundlage gestellt, sich die agnatische Hausgenossenschaft, wie aus der ansässig gewordenen Sippe die Dorf- und Marktgemeinde, entwickelt. Es sind daher keineswegs Rechtssätze, sondern die ursprünglichen gesellschaftlichen Gefühle des Menschen, die der Menschheit ihre älteste Verfassung gegeben haben. Die darauf beruhende Ordnung kann nach der heutigen Ausdrucksweise wohl nur als Sitte bezeichnet werden. Wie diese Sitte ins Recht übergeht? Die Frage ist gewiß nicht leicht zu beantworten; wenige Ergebnisse der rechtsgeschichtlichen Forschung sind allgemein anerkannt wie die, daß Sitte und Recht sich um so schwerer scheiden lassen, je mehr wir in der Betrachtung zeitlich zurückgehen. Man darf aber wohl annehmen, daß es -der Zusammenschluß zu höheren Einheiten - der Sippen zu Stämmen und der Stämme zum Sippenstaate - war, der auf diesem Gebiete den Rechtsgedanken zuerst zum Keimen gebracht hat. Von nun an wird die Sippen- und Hausverfassung immer mehr zum Bestandteil der Stammes- und Staatsordnung, und die Zugehörigkeit -des Einzelnen zu seiner Familie, seinem Hause, die Befugnisse des Haupts der Gruppe, die Pflichten der Angehörigen sind nicht mehr mit deren Gefühlen und Neigungen gegeben, sondern hängen von der Anerkennung der anderen Gruppen ab, die sich zusammengeschlossen hatten. Die Sitte wird zum Recht, sobald sie als Grundlage der Stammes- und Staatsverfassung allgemein empfunden wird. b) Ich wende mich nun den Herrschafts- und Unterwerfungsverhältnissen zu. Zwei Arten von Unterwerfung sind zu unterscheiden: solche, die sich aus dem Familienverbande ergeben - die Unterwerfung der Kinder unter die väterliche, der Frau unter die eheherrliche Gewalt und Unterwerfungsverhältnisse rein gesellschaftlichen Ursprunges, die

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Sklaverei und die Hörigkeit. Es ist außerordentlich naheliegend, die verschiedenartigen und mannigfach abgestuften Herrschafts- und Unterwerfungsverhältnisse, die sich auf allen Entwicklungsstufen der Gesellschaft, bis auf die allerletzte, nur von den vorgeschrittensten Völkern Europas und Amerikas erreichte, finden, auf Rechtsvorschriften zurückzuführen. In der Tat scheint überall die Auffassung zu herrschen, das Recht sei es, das die Frau dem Manne, die Kinder der väterlichen Gewalt, den Mündel dem Vormund, den Sklaven und den Hörigen seinem Herrn unterwerfe. In Wirklichkeit ist aber hier wie anderwärts das Recht nicht Grund, sondern Ausdruck eines bestimmten tatsächlichen Verhältnisses. Jede Herrschaft ist nur die andere Seite der Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des Beherrschten. Er wird beherrscht, weil er keinen Rechtsschutz genießt, und er wird vom Recht nicht beschützt, weil er zu schwach ist, um sich selbst zu schützen. Der Rechtsschutz in der Urzeit wurzelt in der Selbsthilfe und der Selbstverteidigung. Die Gemeinschaften gestehen Rechtsschutz zunächst ihren vollwertigen Genossen zu, die sich allenfalls auch mit eigener Kraft eines Angriffs erwehren könnten und im Stande wären, die Hilfe, die sie von anderen ansprechen, anderen selber zu leisten. Die Frau, das Kind, der noch nicht waffenfähige Jüngling können es nicht, denn sie sind dazu zu schwach; der vereinzelt lebende Fremde kann es nicht, denn er hat keine Gemeinschaft, die sich seiner annähme; der Angehörige des besiegten Volkes oder Stammes kann es nicht, denn der Schutz, den ihm seine Gemeinschaft angedeihen lassen möchte, ist wirkungslos angesichts der Übermacht des Siegers. Sie alle, die Frau, das Kind, der Fremde, der Besiegte stehen unter der Gewalt dessen, der sie zu beschützen geneigt ist: des Gatten, des Vaters, des Gastfreundes, des Siegers. Wer sonst seiner eigenen Kraft mißtraut, begibt sich freiwillig in fremden Schutz. Findet sich kein Beschützer, dann gehört er dem, der sich des Wehrlosen bemächtigt und seines Lebens schont: er wird sein Knecht. Der Schwache, der einen Herrn hat, ist nicht mehrhilfslos, denn jetzt ist jeder Angriff auf ihn zugleich ein Angriff auf seinen Herrn!.

1 Ein österreichischer Marineoffizier, der Afrika kennt, sagte mir einmal, er schreibe die Erfolge Stanleys zum großen Teile den Verträgen zu, die dieser mit seinen schwarzen Trägern zu schließen pflegte. Die anderen Afrikareisenden nahmen die Träger gewöhnlich für kurze Strecken auf, für das Gebiet, das von deren Stammesgenossen bewohnt war, entließen sie, wenn sie an die Grenze kamen, und suchten hier nach anderen Trägern unter denselben Bedingungen. Stanley dagegen dang sie schon an der Küste für die ganze Reise auf. Nun ist der Neger in Afrika außerhalb der Grenzen seines Stammes zumeist vogelfrei. Sobald Stanley daher in ein fremdes Gebiet gekommen ist, war seine Karawane für die Träger der einzige Hort. Und so waren sie ihm auf Gnade und Ungnade ergeben. Er war ihr Beschützer und eben deswegen ihr unbeschränkter Herr und Gebieter.

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Das Schutzverhältnis hat allerdings auch wirtschaftliche Voraussetzungen. Die Herrschaft ist zum Vorteile des Herrschenden, nicht den Beherrschten zu Liebe da. So lange der Mensch, selbst bei größter Anstrengung, nicht mehr hervorzubringen vermag, als notwendig ist, um sein eigenes Dasein zu fristen, wie dies bei sehr armen Jägern und Hirten der Fall ist, hat er auch keinen Herrn. Die Herrschaft würde dem Herrschenden nichts eintragen. Der gefangene Feind wird daher noch nicht versklavt, sondern niedergemacht oder - ausnahmsweise - ins eigene Volk aufgenommen. Nur die Frau hat schon auf dieser Entwicklungsstufe einen Wert, da sie nicht bloß Gegenstand wirtschaftlicher, sondern auch geschlechtlicher Ausbeutung ist. Dieser zu Liebe wird sie am Leben erhalten und zu den Arbeiten verwendet, die der Mann von sich weist, weil er sie für unter seiner Würde oder zu anstrengend hält. Die Herrschaft beruht daher in der Urgesellschaft auf diesen beiden Tatsachen: auf der Wehrlosigkeit des Beherrschten, auf seiner wirtschaftlichen und geschlechtlichen Ausbeutung durch den Starken. Diese tatsächlichen Beziehungen werden auch hier zu Rechtsverhältnissen, sobald sich die Sippen zu Verbänden höherer Ordnung, zu Stämmen und Staaten, vereinigen. Denn solche Verbände sind immer nur Vereinigungen der Herrschenden: Frauen, Kinder, Sklaven nehmen daran keinen Teil; und ihre Spitze ist nicht bloß gegen den äußern Feind, sondern, wenn auch vielleicht unbewußt, gegen Auflehnung im Innern gerichtet. Der Sippenstaat ist daher bereits eine Herrschaftsordnung, und die tatsächlichen Herrschaftsbeziehungen werden auch hier zu Rechtsverhältnissen, weil sie als Grundlage der staatlichen Ordnung empfunden werden. Innerhalb des Staates ändert sich die Natur der Herrschaftsverhältnisse, sobald sich ihre beiden tatsächlichen Voraussetzungen ändern: Hilflosigkeit des Schwachen und die darauf gegründete wirtschaftliche Ausbeutung. Die vorstaatliche Gesellschaft vermag den Schwachen und Hilflosen nicht zu schützen; der Staat kann es immer mehr nach Maßgabe, als seine Machtmittel steigen. Daher verlieren die familienrechtlichen Gewalten in dem Maße das Gepräge eines selbstnützigen Vermögensrechtes, als den ihnen Unterworfenen, den Frauen und Kindern, selbständiger Rechtsschutz gewährt wird: die väterliche und noch mehr die vormundschaftliche Gewalt wird dann zu einem öffentlichen Amt, die eheherrliche Gewalt zu einer rechtlichen Vertretung der Frau durch ihren Mann. Dagegen versagt der Staat den Rechtsschutz, wenn es sich ihm darum handelt, die Herrschaftsordnung zu erhalten; dadurch wird die Wehrlosigkeit des Schwachen zur Rechtlosigkeit, zur Sklaverei. Der mit Boden ausgestattete angesiedelte Knecht wird dank seiner gesteigerten wirtschaftlichen Bedeutung zum Hörigen. Wird der Wert der Ar-

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beitskraft infolge der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse und damit auch die wirtschaftliche Bedeutung des Hörigen gesteigert, so führt das zu leichteren Formen der Hörigkeit und schließlich zur Bauernbefreiung; das Übergewicht der politischen Macht der Herrschenden und das Bedürfnis nach gründlicheren Bodenausnützungen zum Bauernlegen. c) Wie steht es nun um die Rechte an Grund und Boden? Sind es Rechtssätze gewesen, die Stücke unseres Planeten dem Menschen zu eigen gegeben haben? Wenn wir ausschließlich das gewohnheitsrechtlich entstandene Eigentum an Grund und Boden betrachten, so finden wir, daß es nie etwas anderes war, als die rechtliche Seite der wirtschaftlichen Bodenverfassung, und mit ihr so enge verwachsen, daß es unmöglich ist, das Bodenrecht anders als in und mit der ganzen Bodenverfassung darzustellen. Was bedeutet es, wenn man von Jäger- und Hirtenvölkern spricht? Das bedeutet offenbar, daß diese Völker ein Eigentum an Grund und Boden im allgemeinen nicht kennen, daß sie an dem von ihnen eingenommenen Gebiete nur ein Stammeshoheitsrecht ansprechen, das jedem Angehörigen ihres Stammes Jagd und Weide gestattet. Schon der älteste Ackerbau, die wilde Feldgraswirtschaft, bringt einen zum mindesten durch rechtliche Eigenrnacht geschützten Besitz an dem gerade angebauten Gebiete mit sich. Feste Verhältnisse entstehen mit der Zweifelder- und Dreifelderwirtschaft: unbeschränktes Eigentum an der Hofstätte und am Garten, Aufteilung der Feldmark an die einzelnen in den Höfen angesiedelten Familien, ein durch Flurzwang und Nachbarrecht beschränktes Eigentum am Acker in Gemenglage, Gemeineigentum an der Allmende, an Wald und Wiese. Alle diese Verhältnisse werden aber erst durch die Anerkennung im allmählich erstarkenden Sippenstaate zu Rechtsverhältnissen. Die einmal begründete Bodenverfassung ändert sich, so oft die wachsende Bevölkerung es notwendig macht, den Boden durchgreifender auszunützen, denn jeder Wandel in der wirtschaftlichen Bodenverfassung bedeutet immer zugleich eine Änderung des Bodenrechts: zuerst wird die sich in festen Zeiträumen wiederholende Aufteilung der Feldmark eingestellt, dann die Rodung in der gemeinen Mark verboten, endlich die gemeine Mark in der Hauptsache verteilt. Nicht ,anders wie mit dem bäuerlichen verhält es sich mit dem Großgrundbesitz, der sich aus der Landbesiedlung entwickelt. Seine Entstehung setzt immer zahlreiche, mächtigen Führern folgende Scharen voraus, die aus Unfreien oder aus Freien im Dienstverhältnisse bestehen. Die rechtlichen Beziehungen derer, die den Boden bebauen, sind auch hier mit der Bodenverfassung unmittelbar gegeben. Aber sie sind sehr erheblich durch das Verhältnis zum Grundherrn, der zugleich Dienstherr ist, beeinflußt. Selbstverständlich ist auch das ein wirtschaftliches Verhältnis: von der Art des Wirtschaftsbetriebs

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hängt es ab, wie der Grundherr seine Hörigen und Knechte sowie die zu ihm in ein Dienstverhältnis tretenden Freien ausnützt und verwendet und was diese ihm leisten. Aber es ist auch ein Schutzverhältnis: das Maß und die Art der gegenseitigen Leistungen wird durch das Maß und die Art der Herrschaft und des Schutzes mitbestimmt. Dagegen gilt der Zusammenhang der wirtschaftlichen Bodenverfassung mit dem Bodenrecht nicht für den Großgrundbesitz, der rechtlich auf staatlichem Eingriff oder staatlicher Verleihung, also nicht auf Gewohnheitsrecht beruht. Das ist allerdings die regelmäßige Entstehungsart des Großgrundbesitzes. Hier ist dieser im Gegensatz zum wirtschaftlichen Eigentum des Bauern ein politisches Eigentum der herrschenden Klasse. Er ist daher in letzter Linie nur der rechtliche Ausdruck der politischen HerrschersteIlung. Wenn der populus Romanus sich das Eigentum des solum provinciale zusprach, der König von England sich als Eigentümer des ganzen Bodens von England erklärte, so bedeutete das, daß sie kraft des Rechts des Eroberers nach Willkür darüber verfügen wollen. Der Grundsatz: nulle terre sans seigneur spiegelt nur die Tatsache wieder, daß es dem Könige und dem Adel jetzt gelungen ist, den Widerstand des bäuerlichen Grundbesitzes zu brechen. Und ebenso war es stets nur Ausfluß der staatlichen Machtstellung, wenn der König seine Großen mit herrenlosen oder auch mit besiedelten Ländereien belehnt. Und nichts anderes war es, wenn im Mittelalter Grafen und Fürsten sich Rechte an Wald, Flüssen und Bergwerken aneignen, wenn sie ihre Untertanen zwingen, ihr Eigentum von ihnen als Lehen zu empfangen. Und ohne Beihilfe der staatlichen Macht, die nur der im Staate herrschenden Klasse zuteil wird, ist wohl zu keiner Zeit das Bauernlegen in größerem Umfange gelungen2 • Gerade deswegen aber, weil dieser Großgrundbesitz auf einem Eingriff der Staatsgewalt beruht, ist er auch rechtlich von der wirtschaftlichen Bodenverfassung unabhängig. Noch ein anderer staatlicher Eingriff führt zu einem von der wirtschaftlichen Bodenverfassung unabhängigen Bodenrecht: die Grundentlastung. Es wurden zahlreiche Grundentlastungen schon im Altertum vorgenommen, so bei den Römern eine allerdings nicht ausdrücklich bezeugte etwa im vierten Jahrhundert der Stadt, wenigstens in der nächsten Umgebung Roms. In England fand sie im Jahre 1660 (12. Car. II.), in Frankreich nach mehreren früheren Anläufen endgültig im Jahre 1789, im übrigen Europa im Laufe des XIX. Jahrhunderts fast überall statt. 2 Einer der berühmtesten Fälle ist die Entstehung des Großgrundbesitzes im schottischen Hochland. Als die Engländer nach der Schlacht bei Culloden daran gingen, die alte Clanverfassung der Gälen zu zerstören, taten sie es so, daß sie einfach die Clanhäuptlinge für Eigentümer des ganzen, bisher eine Gemeinschaft bildenden Stammesgebietes erklärten. Ähnlich gingen die Engländer bekanntlich auch in Bengalen vor.

8 Eugen Ehrlich

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Der Zweck jeder Grundentlastung ist es, eine durchgreifende Ausnützung des Bodens zu gestatten und den Eigentümer zu diesem Zwecke von allen anderen Rücksichten zu entbinden. Ihr Ergebnis ist daher ein möglichst von allen Schranken freies Bodeneigentum, nach Art des begrifflich unumschränkten römischen dominium: der Eigentümer darf alles tun, was ihm nicht im öffentlichen Interesse oder infolge einer von ihm oder seinem Besitzvorgänger ausdrücklich auf das Grundstück gelegten Last verwehrt ist, er ist zu nichts verpflichtet, wozu er sich nicht selbst, persönlich, verpflichtet hätte. Es ist ein fast rein juristisches Eigentum, das mit der Bodenwirtschaft gar nicht mehr zusammenhängt, ein Eigentum, das für bewegliche Sachen ebenso paßt wie für unbewegliche. Nichts ist für die rein juristische Natur des römischen Bodenrechts bezeichnender, als die sich fortwährend wiederholenden Versuche der Juristen, die verschiedenartigen, zumal die deutschrechtlichen Bodenverhältnisse mit römischen Rechtsbegriffen zu konstruieren. So interessant das auch ist, so beweist es doch, daß das römische Recht dem Bodenrecht fast nichts mehr gegeben hat als eine sehr klare und feste Terminologie. In der Tat, in der Sprache der römischen Juristen ließe sich auch das chinesische Bodenrecht zweifellos ausdrücken. Während es kaum möglich ist, ein urwüchsiges Bodenrecht darzustellen, ohne jeden Augenblick auf die tatsächliche Bodenbewirtschaftung Bezug zu nehmen, geben uns die römischen Rechtsbücher, und ebenso die diesen nachgebildeten modernen Gesetzbücher, über die jeweilige Bodenverfassung gar keine Auskunft; wir müssen sie mühsam aus anderen Quellen zusammensuchen. Die Tatsache des Gewohnheitsrechtes an Grund und Boden ist daher die Art der Bodenbewirtschaftung. Wenn es auch zweifellos ein Bodenrecht gibt, das mit der wirtschaftlichen Bo'denverfassung nichts zu tun hat, so ist dieses nie gewohnheits rechtlich entstanden, sondern verdankt ausschließlich staatlichen Eingriffen seinen Ursprung. d) Und nun gelangen wir zur Betrachtung des Rechtsgeschäftes. Die neuere deutsche Rechtswissenschaft pflegt die Geschäfte, die die Parteien vornehmen, um rechtliche Wirkungen zu erzielen, als Rechtsgeschäfte zu bezeichnen, und als "Geschäfte des Rechtes" aufzufassen. Sie meint damit, diese Geschäfte: der Vertrag, das Testament, die Stiftung, seien "juristische Tatsachen", an die das Recht selbständige Rechtsfolgen knüpfte. Das Recht sei es, das die Rechtsgeschäfte erfunden, das Recht sei es, das bestimmt habe, welche Folgen es haben solle, wenn ein Vertrag abgeschlossen, ein Testament errichtet, eine Stiftung gegründet wird. Den Parteien stehe es nun frei, wenn sie diese Rechtsfolgen herbeiführen wollen, sich des Mittels zu bedienen, das ihnen das Recht zu diesem Zwecke zur Verfügung stelle.

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Wird diese Auffassung durch die Geschichte bestätigt? Wir finden zunächst, daß Geschäfte, an die das Recht heute Folgen knüpft, meist viel früher da waren als der Rechtssatz, der die Rechtsfolgen an sie geknüpft hat. Der Kauf, der tatsächliche Austausch von Gegenständen des Bedarfes, ist gewiß viel älter als das Recht des Kaufvertrages. Die ersten Kaufleute waren Fremde, die aus fernen Ländern eingeführte Güter gegen Erzeugnisse des Landes austauschten, zu einer Zeit, da sich noch kein Fremder auf irgend einen Rechtssatz berufen konnte. Auf einer Stufe der Gesittung, da es noch mit Lebensgefahr verbunden ist, sich in das Gebiet eines fremden Stammes zu begeben, finden wir den stummen Handel. Der eine Teil legt die Sachen, die er anbringen will, auf einem herkömmlich dazu bestimmten Orte nieder und versteckt sich in der Nähe; die Kauflustigen nahen darauf, besichtigen sie, nehmen sie an sich, wenn sie ihnen gefallen, den Gegenwert zurücklassend, oder gehen weg, wenn sie es nicht haben wollen. Darauf kommt der Verkäufer aus dem Versteck hervor und legt soviel neue Ware dazu, bis sie einen Käufer anlocken. Das sind gewiß keine "Geschäfte des Rechtes". Auch die Schuld ist älter als das Schuldrecht. Der Mann, der Vieh oder Korn für seine Wirtschaft entlehnt, oder das Geld für die gekauften Gegenstände nicht sofort bezahlt, oder im Spiele mehr verloren hat, als er leisten kann, begibt sich in die Gewalt des Gläubigers, der ihn in der Gefangenschaft halten oder arbeiten lassen kann, bis er bezahlt ist. Oder er stellt dem Gläu'biger Geiseln, die dieser gefangen nimmt; oder er gibt ihm ein Pfand, das er behalten mag, bis die Schuld beglichen wird. Etwas später genügen Bürgen, die darüber zu wachen versprechen, daß der Schuldner seine Verpflichtung erfülle. Auch der Eid kommt zuweilen vor: der Schuldner, der den Eid bricht, beschwört göttliche Rache auf sich und die Seinigen herauf. Hier überall hat daher das abgeschlossene Geschäft zunächst nur tatsächliche Folgen: tatsächlichen Güteraustausch, tatsächliche Gewalt des Gläubigers über den Schuldner oder die Geiseln, das Drängen der Bürgen, die Angst des Eidbrüchigen vor der drohenden Rache der Götter. Aber sie werden ziemlich bald als Rechtsfolgen empfunden. Das tritt ein, sobald es der allgemeinen Anschauung entspricht, daß der Gläubiger, der den Schuldner ader die Geiseln in seiner Macht behält, tötet oder sie weiter verkauft, der das Pfand, das sich in seinen Händen befindet, nicht herausgibt, der es verkauft oder vernichtet, nicht Gewalt, sondern ein Recht ausübt, daß nicht er, sondern der, der diese Personen befreit, der ihm das Pfand entreißt, einen Friedensbruch begeht. Darin liegt aber bereits der Keim zur weiteren Entwicklung. Der Schuldner begibt sich nicht mehr sogleich in die Gewalt des Gläubigers, sondern verpfändet ihm bloß seinen Leib, er gibt ihm nicht ein wirkliches Pfand,

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sondern ein wertloses Scheinpfand; wird aber die Schuld nicht berichtigt, dann hat der Gläubiger das Recht, sich des Schuldners zu bemächtigen, i:hn in sein Gewahrsam zu nehmen, als Knecht dienen zu lassen, als Sklaven zu verkaufen, eigenmächtig auf sein Vermögen zu greifen. Die tatsächlichen Folgen, die die Parteien einst eintreten ließen, damit sie den gewollten Erfolg des Rechtsgeschäfts gewährleisten, schwächen sich von nun an zu einer bloßen Form ab, seit vom Recht Rechtsfolgen angeordnet werden. Die durch Geschäfte begründeten Beziehungen werden zu Rechtsverhältnissen erst, nachdem eine ziemlich hohe Entwicklungsstufe erreicht worden ist; also nicht schon durch den Zusammenschluß der Sippen, sondern viel später. Bis dahin gibt es wohl tatsächlichen Austausch, unter den Schutz der Götter gestellte Vereinbarungen, aber es ergeben sich daraus keine rechtlichen Ansprüche und Pflichten. Vollends Testamenten und Stiftungen begegnen wir erst in wohlgeordneten Staatswesen der historischen Zeit. Zu jeder Z'eit haben die rechtlich anerkannten Geschäfte nur einen Bruchteil der im Verkehre wirklich vorkommenden Geschäfte ausgemacht. Aber nur langsam und zögernd, Schritt für Schritt zurückweichend, findet sich das Recht mit bisher unerhörten Geschäftsarten ab. Das römische Recht ist nie über die Anerkennung einiger weniger, sehr wichtiger Geschäfte hinausgekommen. Und noch unter der Herrschaft des Grundsatzes der Vertragsfreiheit stehen wir jeden Augenblick vor der Frage, ob eine Geschäftsart vorliegt, die bereits ins Recht Eingang gefunden hat oder der man ins Recht Eingang verschaffen soll. Die Frage wird in der Regel erst nach einigem Schwanken und einigen Kämpfen bejahend beantwortet, wenn die Wichtigkeit und Nützlichkeit des neuen Geschäfts jedermann einleuchtet. Die Mittel, deren die Parteien sich in der Zwischenzeit bedienen, wenn ihnen nicht die Rechtswissenschaft, die Kautelarjurisprudenz oder 'die juristische Konstruktion zur Hilfe kommt, sind immer dieselben: die tatsächliche Ausführung, die Sicherung des Erfolges durch Pfand oder andere Deckung und der Treuhänder. Der Treuhänder spielt eine besonders wichtige Rolle. So hat sich das römische testamentum per aes et libram, so hat sich das Fideikommiß als Treuhandgeschäft den Weg ins Recht gebahnt. Welche Bedeutung den Treuhanldgeschäften,den uses und trusts, in der Geschichte des englischen Rechts zukommt, ist allgemein bekannt. Schwieriger ist es, den Gedankengängen nachzuspüren, die dieser Entwicklung zu Grunde lagen. Eine sehr verbreitete Ansicht geht dahin, die Nichterfüllung einer übernommenen Pflicht sei zunächst als Untat erschienen, die Stl'affolgen und Schadenersatzansprüche erzeuge; das habe schließlich dazu geführt, den Vertragsbrüchigen auch zur Erfüllung des

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Vertrages zu verhalten. Diese Ansicht hat gewiß viel für sich. Str'af- und Schadenersatzklagen sind im allgemeinen älter als Erfüllungsklagen, und es ist nachweisbar, daß sie in vielen Fällen Erfüllungsansprüche vermittelt haben. Aber immer war das zweifellos nicht der Fall. Dagegen scheint die Nichterfüllung eines Versprechens in sehr weitem Umfange als grobe Missetat, Treubruch, wohl auch als unmittelbare Beschädigung empfunden worden zu sein, wenn sie auch nicht Schadenersatzansprüche und Strafklagen erzeugte. Jhering hat es zuerst für das römische Recht angedeutet, Pollack und Maitland haben es für das englische Recht bewiesen, wie wenig man anfänglich zwischen Entziehung einer Sache und Nichtzuruckstellung einer Sache unterschieden hat, wie sehr man geneigt war, darin, daß nach Empfang einer Leistung die Gegenleistung ausblieb, die Entziehung der geleisteten Sache oder der Gegenleistung zu erblicken und den Mann, der eine Schuld in Geld, Korn, Vieh oder anderen vertretbaren oder unvertretbaren Sachen, die er empfangen hatte, nicht bezahlte, dem gleichzustellen, der diese Sachen entwendet habe. Man findet noch heute eine ähnliche Bmpfindung. Eine Treulosigkeit, die vor Gericht nicht verfolgt werden kann, gilt auch in der Gegenwart noch als besonders arge Schelmerei. Wer aber wirkliche übung im Leben, Rechtsprechung und Gesetzgebung aufmerksam verfolgt, der weiß, daß sie aus solchen Tatsachen und Empfindungen herauswachsen, nicht aber sie erzeugen. e) Es war möglich, die bisherigen Ausführungen auf allgemein anerkannte Ergebnisse der vergleichenden Rechtswissenschaft und der Rechtsgeschichte zu gründen. Nicht ganz dasselbe gilt vom Erbrecht. Die herrschende Lehre führt das Erbrecht auf das Familieneigentum zurück: selbst dort, wo es nicht mehr bestehe, wirke es insofern nach, als es gewissen Verwandten, die einst an der Familiengemeinschaft teilgenommen hatten, ein unentziehbares Warte recht gebe. Wäre das richtig, dann hätte sich das Erbrecht aus einem andern Recht entwickelt, und wir hätten nicht den Tatsachen, die zum Erbrecht, sondern den Tatsachen, die zum Warterecht der Verwandten geführt hatten, nachzuforschen. Schon Henry Sumner Maine äußerte jedoch Zweifel an der Richtigkeit dieser Lehre. Sie scheint mir, wenigstens für die germanischen Völker, von denen sie bekanntlich ausgegangen ist, widerlegt von Ficker. Ficker hat, wie ich glaube, überzeugend nachgewiesen, daß das Erbrecht auch bei den Germanen älter sei als das Warterecht, 'daß der Eigentümer zu einer Zeit, da bereits ein ausgebildetes Verwandtenerbrecht besteht, über sein Eigentum frei verfügen kann, ohne sich um die Ansprüche

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seiner Kinder, geschweige denn der entfernten Verwandten, zu kümmern. Die Urgeschichte des Erbrechts muß vielmehr davon ausgehen, daß es schon auf tieferen Entwicklungsstufen neben der Sippenordnung noch eine Familienordnung gibt. Die Sippe besitzt als solche Gemeineigentum an Grund und Boden, das bei den Ackerbauern zumeist den einzelnen Familien zur Benützung zugewiesen wird. Wenn dieses nun nach dem Tode des Familienoberhauptes, oder auch nur, was öfter vorkommt, nach dessen unbeerbtem Tode, an die Sippe zurückfällt, so wird das wohl nirgends als Erbfall, sondern als Ausfluß des fortdauernden Gemeineigentums der Sippe betrachtet. Nachdem sich die Sippenverfassung aufgelöst hatte, mag ihr ursprüngliches Gemeineigentum wahl auch zu erbrechtlichen Bildungen geführt haben; sie verschwinden jedoch sehr rasch und sind meist unbeträchtlich. Die Wurzeln des Erbrechts liegen meist in der Familienordnung. Und hier handelt es sich um zwei Fragen: vor allem, wem gehörte der Nachlaß eines Verstorbenen, wenn er in einer Familiengemeinschaft lebte, und wem gehörte er, wenn er als Einzelner wirtschaftete? Dieser letzte Fall ist offenbar in der ursprünglichen Gesellschaft sehr selten, kommt vielleicht gar nicht vor, wird aber später, innerhalb eines starken Staatswesens, das auch dem Einzelnen das Dasein ermöglicht, immer häufiger. Es ist nun leicht zu begreifen, daß das Eigentum des Verstorbenen, soweit es ihm nicht ins Grab mitgegeben wurde, denen verblieb, die mit ihm zusammen gewirtschaftet, in demselben Hause gewohnt haben. Das betrifft allerdings zunächst nur die bewegliche Habe, denn diese Ordnung herrscht schon bei Jägern und Viehzüchtern, ist also älter als der Grundbesitz. Dieser Zustand ist jedoch keineswegs Ausfluß des Miteigentums der Hausgenossen. Es handelt sich hier um die Tatsache, daß die Hausgenossen die Hinterlassenschaft des Verstorbenen in Besitz nehmen, weil sie zu ihr näher und daher in der Lage sind, jeden Angriff eines Dritten mit denselben Mitteln abzuwehren wie zu seinen Lebzeiten. Die Hausgenossen bleiben auf den hinterlassenen Gütern sitzen und wirtschaften weiter, wie sie gewirtschaftet haben; es hat sich nicht viel geändert, es gibt jetzt nur um einen weniger im Hause. über dieses Sitzenbleiben der Hausgenossen auf den hinterlassenen Gütern hat es aber das ursprüngliche Erbrecht nicht gebracht. Hat der Verstorbene daher nicht in einer Gemeinschaft gelebt, so wird sein Nachlaß herrenlos. Bei den Römern und den Germanen sind noch im historischen Erbrecht deutliche Spuren dieses Zustandes vorhanden; die wichtigsten finden sich aber wohl bei den Slaven, deren älteste Rechtsdenkmäler überhaupt eine höchst interessante sehr frühe Entwicklungsstufe darstellen, die bei den andern Völkern Europas lange schon überwunden war, bevor deren Rechtsüberlieferung schriftlich abgefaßt worden ist. Den Russen, den Polen, den

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Masowiern, den Czechen und Mährern und wohl auch den Serben des XIII. Jahrhunderts ist das Erbrecht der Seitenverwandten noch unbekannt; im Falle des unbeerbten Todes wird der Nachlaß "leer" und fällt an den Fürsten oder, bei Hörigen, an deren HerrnJ . So weit die slavischen Rechtsbücher des XIV. Jahrhunderts das Erbrecht der Seitenverwandten, übrigens nur in beschränktem Maße, anerkennen, das Statut von Wislica und das Gesetzbuch der Zaren Duschan (Art. 41 und 48), zeigt schon die Fassung, daß es sich um eine Neuerung handelt. Bei den Slaven hat offenbar die rasch erstarkte Fürstenmacht die Ausbildung des Seitenverwandtenerbrechts, das ihr Heimfallrecht verkürzte, lange verzögert. Das Heimfallrecht des Fürsten dürfte bei den Czechen und Polen auf deutsche, bei den Russen und Serben auf byzantinische Einflüsse zurückzuführen sein. 4. So verschiedenartig sind die Quellen, aus denen das gesellschaftliche Gewohnheitsrecht fließt. Die ursprünglichen Gemeinschaften beruhen auf den ursprünglichen gesellschaftlichen Trieben der menschlichen Seele, die Herrschaftsverhältnisse auf der Hilflosigkeit der Schwachen und Verlassenen; die Rechte an Grund und Boden werden durch die wirtschaftliche Bodenverfassung bestimmt, die Rechtsgeschäfte haben sich aus tatsächlichen Verfügungen entwickelt; das Erbrecht verdankt im allgemeinen sein Dasein der räumlichen Nähe gewisser Personen zum Verstorbenen. Selbstverständlich kann davon keine Rede sein, diese Rechtsquellen hier irgendwie erschöpfend darzustellen: das Angeführte soll nur die Bedeutung eines Wegweisers haben. Woher stammt aber, was heißt die gemeinrechtliche Theorie des Gewohnheitsrechts, die derzeit die Wissenschaft in Deutschland beherrscht? Von welcher Art sind die Tatsachen, die ihr zu Grunde liegen? a) Vergleicht man das, Was hier als das älteste Gewohnheitsrecht der Menschheit dargelegt worden ist, mit dem Inhalt der ältesten auf uns gelangten Rechtsbücher, so steht man zunächst vor der befremdenden Tatsache, daß darin von diesem Gewohnheitsrecht nur sehr wenig zu finden ist. Als Recht, und zwar als altes Gewohnheitsrecht erscheint hier etwas ganz anderes. Zunächst, wenigstens wenn es sich um eine amtliche Aufzeichnung handelt, prangen darin einige öffentlich-rechtliche Anordnungen: der junge Staat liebt es offenbar, sich derartige Kraftproben zu stellen, in den späteren Rechtsbüchern sucht man sie vergebens. Davon mag in der Folge abgesehen werden. Den Hauptinhalt bilden aber sehr ins einzelne gehende Bestimmungen über Bußen für Untaten und die Schilderung des Verfahrens vor Gericht, gewöhnlich ebenfalls mit vielen, zum Teil unwesentlichen Einzelheiten ausgestattet. Endlich 3 Anm. des Hg.: Die sehr umfangreichen Nachweise Ehrlichs an dieser Stelle möge der historisch interessierte Leser dem Original entnehmen.

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kommen auch noch familien- und vermögens rechtliche Bestimmungen vor, deren Ärmlichkeit und Lücken'haftigkeit von der reichen Ausbildung des Strafrechts und des Streitverfahrens merkwürdig absticht. Der Leser kann sich des Erstaunens nur selten erwehren, daß aus dem offenbar ziemlich reichen Vorrat an privatrechtlichen Gewohnheiten gerade diese manchmal sehr nebensächlichen und gleichgültigen Dinge ins Rechtsbuch aufgenommen worden sind. Diese merkwürdige Haltung der ältesten Rechtsbücher gibt uns wertvollen Aufschluß darüber, was der Mensch auf tiefer Entwicklungsstufe als Recht betrachtet hat. Es sind dies, wie wir gesehen haben, zumeist Regeln über Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung, über Streitverfahren und Entscheidung der Streitsachen. Da sich die Rechtsstreitigkelten fast ausschließlich auf Tötung, Körperverletzung, Menschenraub, Sachbeschädigung, Diebstähle beziehen, so enthalten die Rechtsbücher eine Unzahl von Bestimmungen darüber. So erklären sich auch die wenigen Regeln privatrechtlichen Inhalts. Auch sie betreffen nur Fragen, die bei Entscheidungen von Streitigkeiten zur Sprache kamen. Vielen sieht man es an, daß sie aus Anlaß eines Rechtsstreits gefunden worden sein müssen. Dieses ganze Recht, das bestimmt ist, der Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zu Grunde gelegt 2)U werden, nenne ich Entscheidungsnormen. Hat es aber wirklich kein anderes Recht gegeben? Ein Blick auf eine moderne Rechtsgeschichte, die urkundliches und anderes historisches Material verwertet, zeigt, wie viel leben'diges Recht außerdem noch vorhanden war und wie wenig davon in die Rechtsbücher gedrungen ist. Jeder Rechtssatz über die vom Dieb dem Bestohlenen zu zahlende Buße setzt bereits ein ziemlich fest gefügtes Eigentum an beweglichen Sachen voraus; es muß daher auch Regeln gegeben haben über Erwerb, Verlust und Verwirkung des Eigentums, eine Vorstellung darüber, wie sich der rechtmäßige Erwerber vom Dieb oder Räuber unterscheide. Oder es sind im Rechtsbuch Bestimmungen über 'die Buße enthalten, die im Falle des Frauenraubes der Entführer ihrem Vater oder ihren Verwandten zu zahlen hat. Diese Vorschrift hängt offenbar mit einer bestimmten Gestaltung der Familie 2JUsammen, bei der die Frau unter der Gewalt ihrer männlichen Angehörigen steht, denen auch das Recht, sie zu verheiraten, zukommt. über all das schweigt das Rechtsbuch, denn es enthält nur die Entscheidungsnormen, nicht aber die gesellschaftliche Ordnung, 2IU deren Schirm und Schutz die Entscheidungsnormen dienen sö1len. Ist aber diese Ordnung selbst nicht Rechtens? Sie ist mehr als das, sie ist überdies geradezu ein Bestandteil des Inhalts der Entscheidungsnormen. Der Satz, daß der Bestohlene vom Dieb das Doppelte des Wertes der gestohlenen Sache verlangen kann, mag sich ganz oder fast

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gleichlautend bei den verschiedensten Völkern finden; wenn es aber wahr ist, daß bei den Römern ursprünglich nur Sklaven, Zug- und Tragvieh, die sogenannten res mancipi, Gegenstan1d eines wirklichen Eigentums waren, so bedeutete er in Rom eben wegen dieser Ausgestaltung des Eigentums etwas anderes als anderwärts. Daher wechselt mit der gesellschaftlichen Ordnung der Inhalt der Entscheidungsnonnen, auch wenn sich nichts an ihrem Wortlaute geändert hätte. Die gesellschaftliche Ordnung ist es aber, die sowohl für die bereits entstandenen, als auch für die neu entstehenden Entscheidungsnonnen die Grundlage abgibt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie ännlich und lückenhaft das Privatrecht der ältesten Rechtsbücher ist. Das erklärt sich zur Genüge damit, daß es einer sehr einfachen und einförmigen Gesellschaft zu dienen hat. Sobald sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, für die es bestimmt i-st, ausgestalten, wird auch das Privatrecht reicher und mannigfacher. Es genügt, zwei Fassungen desselben Rechtsbuches, die etwa um fünfzig Jahre auseinanderliegen, zu vergleichen, um die Wahrheit dieser Lehre zu erproben. Alle die Rechtssätze, die neu hinzugekommen sind, sind der Niederschlag, der sich aus den einmal bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen im Laufe dieser Jahre, meist ohne jede Mitarbeit des Gesetzgebers, abgesetzt hat. b) Auf welche Weise werden aber die Entscheidungsnonnen gewonnen? Ein vor mehreren Jahren erschienenes Werk des Franzosen Lambert hat diese Frage auf Grund eines unendlich reichen rechtsvergleichenden Materials wohl endgültig gelöst. Sie werden teils vom Richter bei Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten, teils von den Juristen als Rechtsweiser ihres Volkes, als Lehrer und Schriftsteller, gefunden. Manchmal arbeitet auch der Gesetzgeber mit, der für vorgekommene oder ausgeklügelte Fälle, die noch gar nicht oder nicht befriedigend entschieden scheinen, die beste Entscheidung zu geben sucht. Die Justinianischen Konstitutionen und Novellen sind besonders reich an solchen gesetzgeberischen Entscheidungsnormen. Damit also das Gewohnheitsrecht, das in der Gesellschaft entstanden ist, zu festen, bestimmten, in Worten gefaßten Entscheidungsnormen erstarre, muß es entweder durch die Rechtwissenschaft oder durch die Rechtsprechung oder durch die Gesetzgebung hindurchgehen. Es ist daher wohl klar, daß die herrschende Lehre vom Gewohnheitsrechte zwei sehr verschiedene Dinge vermengt: die gesellsch-aftlichen Einrichtungen einerseits und die aus ihnen gezogenen Entscheidungsnormen anderereits, die sie beide als Gewohnheitsrecht bezeichnete. Auch Lambert verfällt in diesen Fehler, da er in seinem grundlegenden Werke fast ausschließlich von Entscheidungsnormen spricht, aber das ganze Gewohnheitsrecht zu behandeln glaubt. Wird aber an dem hier

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vertretenen Standpunkte festgehalten, so gelangt man, an Stelle der von ganz äußerlichen Merkmalen ausgehenden Zweiteilung der Rechtsquellen in Gesetz und Gewohnheitsrecht, zunächst zu einer Dreiteilung: 1. vor allem das eigentliche Gesetz, die nicht nur äußerlich vom Gesetzgeber ausgehende, sondern auch inhaltlich von ihm geschaffene, also im bisherigen Rechte noch nicht enthaltene obrigkeitliche Anor'dnung, dann 2. die von der Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Rechtswissenschaft ausgehende Entscheidungsnorm, 3. das eigentliche gesellschaftliche Gewohnheitsrecht. Damit müssen wir uns für den Augenblick begnügen, obwohl nicht verkannt werden soll, daß eine tiefer eingreifenlde Rechtsquellenlehre finden wir'd, auch diese Einteilung knüpfe zu sehr an das Hergebrachte an und hänge vorwiegend an äußern Merkmalen. Denn der Gesetzgeber kann sowohl die Entscheidungsnormen, die die Rechtswissenschaft und Rechtspflege geschaffen hatte, ins Gesetz aufnehmen, als auch durch Befehle an Richter und andere Behörden neues Recht schaffen; er kann endlich neue staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen begründen: so durch die Grundentlastung, in neuerer Zeit hauptsächlich neue Einrichtungen für wirtschaftliche und sozialpolitische Zwecke. Andererseits können die in der Wissenschaft und Rechtspflege aufgenommenen Entscheidungsnormen von ihnen frei gefunden oder dem gesellschaftlichen Gewohnheitsrechte entlehnt sein. Jedes modeme privatrechtliche Gesetzbuch enthält neben eigentlichem gesellschaftlichen Gewohnheitsrecht - das sind die ins Gesetzbuch aufgenommenen Begriffsbestimmungen der Lebensformen unld Verkehrseinrichtungen - zum großen Teile Entscheidungsnormen, die es der Rechtswissenschaft und Rechtspflege verdankt, die zuweilen auch vom Gesetzgeber gefunden worden sind. Daneben findet sich auch wirkliches Gesetzesrecht. Alle diese sehr verschiedenartigen Bestandteile leben ihr eigenes Leben und behalten vieles von ihrer ursprünglichen Eigenart, auch nachdem sie in Paragraphen gefaßt worden sind. Eine der nächsten Aufgaben der Wissenschaft wird es sein, diese Bestandteile des Rechts zu sondern und auf ihre Natur zu untersuchen. Der von Gierke zuerst dargelegte Gegensatz der genossenschaftlichen und herrschaftlichen Rechtsbildung tritt hier mit großer Deutlichkeit zu Tage. Nur das eigentliche Gesetz, die obrigkeitliche Anordnung, die materiell neues Recht schafft, ist immer herrschaftliches Recht. Das Gewohnheitsrecht, das aus selbsttätiger gesellschaftlicher Entwicklung hervorgeht, und die Entscheidungsnormen, die in der Wissenschaft und Rechtsprechung entstanden, sind genossenschaftliches Recht im Gierkesehen Sinne. Aber auch die vom Gesetzgeber gefundenen Entscheidungsnormen dürften eher zum genossenschaftlichen als zum herrschaftlichen Recht gehören. Es sollte jedoch nicht verkannt werden - und es wurde von mir bereits an anderer Stelle hervorgehoben - daß auch die rein

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gesellschaftlichen Entscheidungsnormen, seitdem der moderne Beamtenstaat entstanden ist, zum herrschaftlichen Recht abgeschwenkt haben, da sie jetzt, gerade wie das eigentliche Gesetzesrecht, als Befehle des Staates an seine Beamten erscheinen. Den Entscheidungsnormen ihre ursprüngliche genossenschaftliche Eigenart zurückzugeben, ist wohl eine der wichtigsten unter den nächsten Aufgaben der Rechtspolitik. Wenn die Wissenschaft bisher zu einer befriedigenden Lehre vom Gewohnheitsrecht nicht zu gelangen vermochte, so liegt der Grund darin, daß sie es hartnäckig verschmähte, die Gesellschaft selbst in ihrer rechtsbildenden Arbeit zu beobachten und ihrer scholastischen überlieferung folgend es vorzog, das Pergament für 'den heiligen Bronnen anzusehen, aus dem ein Trank den Durst auf ewig stillt. Die Grundlage der noch heute geltenden Theorie des Gewohnheitsrechtes sind einige Stellen im Corpus iuris, die Schriften der Glossatoren und der Kanonisten, endlich die Lehren der deutschen gemeinrechtlichen Juristen des XVII. und XVIII. Jahrhunderts. Was man dort fand, wurde rein dogmatisch behandelt: man sah darin nichts als eine vom Gesetzgeber ausgehende Vorschrift, nach der die Ge1tung des Gewohnheitsrechts in jedem einzelnen Falle zu beurteilen sei. Wenigen fiel es auf - unter den wenigen befindet sich allerdings Windscheid - in welchen Widerspruch man sich verwickelt, wenn man einerseits Gesetz- und Gewohnheitsrecht als vollständig gleichberechtigte und gleichgeordnete Rechtsquellen betrachtet, und andererseits dem Gesetze die Macht zugesteht, dem Gewohnheitsrecht vorzuschreiben, unter welchen Bedingungen es rechtliche Geltung anzusprechen vermag. Aber das war nicht der einzige Schaden, den die Wissenschaft dabei davontrug: ihr dem Papier zugewandter Blick verlor auch vollständig das Augenmaß für die Wahrheiten, die sie darin fand; die Aussprüche der unmittelbar aus dem Leben schöpfenden römischen Juristen, die Ziele, die die Glossatoren, Kanonisten und die gemeinrechtlichen Praktiker des XVII. und XVIII. J ahrhunderts verfolgten, blieben ihr unverständlich. c) Die Auffassung des Gewohnheitsrechtes, die bei den Römern herrschte, habe ich an anderer Stelle dargelegt4 • Den Römern war ihr Gewohnheitsrecht gleichbedeutend mit der römischen Rechtswissenschaft, mit den Lehren der römischen Juristen, zu deren Aufgaben es bekanntlich gehörte, nicht bloß Entscheidungen, sondern auch Recht zu finden, iura condere. Dieses (weltliche) Gewohnheitsrecht nannten die Römer ius dvile, im Gegensatze zum ius sacrum, dem geistlichen Gewohnheitsrecht und dem ius publicum, das im wesentlichen Gesetzesrecht war. Ein anderes Gewohnheitsrecht kannten sie nicht. Selbst un4 Ehrlich, Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen, I. Teil. Das ius civile, ius publicum, ius privatum, Berlin 1901.

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mittelbar im Leben entstandene Rechtseinrichtungen waren nur dann Rechtens, wenn sie von den Juristen anerkannt und behandelt worden sind: dadurch wurden sie aber ius civile. lus civile wal." daher 'die Pupillarsubstitution, das testamentum per aes et libram, das Verbot der Schenkungen unter Ehegatten, die mancipatio und in iure cessio. lus civile waren aber auch die von den römischen Juristen gefundenen Entscheidungsnormen, alles was aus dem cavere, agere, respondere an Rechtsregeln hervorging: alle Lehren und Schriften, ja das ganze Lebenswerk des Mudus und Servius, des Labeo und Celsus, des Julian und Papinian. Daneben sprechen die Juristen allerdings von mores, von der consuetudo. Diese waren aber als solche nicht Rechtsquelle. Es gibt in dieser Beziehung nichts überzeugenderes als die Ausführungen von Brie5 und Pernice6 , gerade weil sie vom entgegengesetzten Standpunkte ausgehen. Unter den aus der klassischen Zeit stammenden Stellen des Digestentitels: De legibus senatusque consultis et longa consuetudine und des Kodextitels: Quae sit longa consuetudo handelte von Anfang an nur eine einzige von einem römischen Gewohnheitsrecht: das fr. 1, 3, 36. Hier ist vom gewohnheitsrechtlichen Verbot der Schenkungen zwischen Ehegatten die Rede. Aber auch diese Stelle enthält nichts als ein akademisches Lob dieser Vorschrift. Der ganze sonstige Inhalt des erwähnten Digesten- und Kodextitels, soweit er aus der klassischen Zeit stammt, hatte ursprünglich mit den Fragen des Gewohnheitsrechts nichts zu tun. In der berühmten Julianstelle (fr. 2 d.T.) wurde im ursprünglichen Zusammenhang die lex Papia Poppaea behandelt, wahrscheinlich die darin enthaltenen Bestimmungen über lästige Gemeindeämter und Gemeinclefronden. In dieser Beziehung wurde nicht etwa auf Gewohnheitsrecht, sondern offenbar nur auf die in den Provinzen herrschende übung verwiesen. Daß die belden Ulpianstellen fr.33 und 34 d. T. ebenso wie die Konstitution des Kaisers Alexander (C. 1.8, 52) nicht römisches Gewohnheitsrecht, sondern provinzialen Brauch zum Gegenstande hatten, ergibt sich schon daraus, daß sie aus dessen Schrift De officio praconsulis stammen. Die den 'Quaestionen des Paulus und den 'Quaestionen des Callistratus entnommenen Stellen (fr. 36, 27 d. T.) beziehen sich ausschließlich auf die herkömmliche Gesetzesauslegung. Die Paulusstelle fr.37 d. T. ist den Erörterungen Ad legem municipalem entnommen: daß sie nur vom municipalen Herkommen handelt, beweist schon ihr Wortlaut: quo iure civitas retra in eius modi casibus usa tuisset. Mit einem Worte: die klassischen römischen Juristen meinen römisches Gewohnheitsrecht, wenn sie vom ius civile, nicht aber wenn sie ganz allgemein von mores oder consuetudo sprechen. 5

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Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht, Breslau 1899. Pernice, Zeitsehr. der Sav. St., R. A., XX. Bd. S. 127.

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Die nachklassischen Juristen standen allerdings vor einer anderen Aufgabe. Seit der constitutio Antonina galt das römische Recht für Völker der verschiedensten Art, Rasse und Abkunft, deren Angehörige zwar römische Bürger geworden sind, aber römisches Recht und römischen Brauch nicht einmal äußerlich angenommen haben. Sie lebten nach wie vor nach ihrem bisherigen Recht und Herkommen. Es ging nicht an, sich darüber einfach hinwegzusetzen. So sehr die Kaiser geneigt wären, ihre consuetudines einfach abzuschaffen, bis zu einem gewissen Grade mußten sie doch damit rechnen. So erklärt eine nachklassische Digestenstelle, Hermogenian entnommen, ausdrücklich, quae longa consuetudine comprobata sunt, für verbindlich. Drei kaiserliche Konstitutionen, die sich damit befassen, stehen im Codex. Justinian, der in seinem Rechtsbuch an der Geltung des Partikularrechts nicht stillschweigend vorbeigehen durfte, legte sich dafür die oben besprochenen, aus dem Zusammenhange gerissenen und dem Sinne nach zumeist entstellten Aussprüche klassischer Juristen zurecht und fügte hinzu, was er darüber in der nachklassischen Literatur gefunden hat. Die consuetudo der Justinianischen Rechtsbücher ist daher in der Hauptsache provinziales Partikularrecht, für die einstigen Provinzialen, jetzt römische Bürger, zumeist gewohnheitsrechtlich in Geltung. Die Glossatoren, Postglossatoren, Kanonisten und gemeinrechtlichen Praktiker hatten eine ähnliche Aufgabe zu lösen, wie die nachklassischen römischen Juristen und Gesetzgeber. Auch sie sollten römisches Recht auf Völker verschiedenster Art, Rasse unld Abkunft anwenden, denen römischer Brauch und römisches Recht meistens ganz fremd war, die ihr eigenes Recht und eigenes Herkommen besaßen. Auf diesen Fall waren die justinianischen 'Quellenstellen geradezu gemünzt und konnten daher unmitte~bar angewendet werden. Es handelte sich aber nur um die Frage, wie weit man gewohn!heitsrechtliches Partikularrecht gelten lassen müsse und wie es vom gemeinen Recht abzugrenzen sei. Daß dafür ein dem gemeinen Rechte entnommener Maßstab sehr willkommen sein mußte, ist klar, ebenso sehr aber,daß die auf das gemeine Recht geeichten Juristen dabei lieber etwas engherziger vorgingen. Jedenfalls waren diese Quellenstellen denen, die sich seit dem Beginne der romanistischen Jurisprudenz bis zur Wirksamkeit der historischen Schule darauf beriefen, alles andere eher als eine Theorie der RechtsqueUen: für sie waren es gesetzliche Bestimmungen über die Geltung des Partikularrechtes und lokaler Gewohnheiten. Wer aber die Leistungen der historischen Juristenschule so unbefangen überblickt, wie dies heute möglich ist, der weiß, daß sie bei aller Großartigkeit der Anlage, hier wie anderwärts, im einzelnen nur selten etwas anderes war als eine Fortsetzerin der Lehren der deutschen gemeinrechtlichen Jurist-en des XVII. und XVIII. Jahrhunderts.

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Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts

d) Wie verhält es sich nun mit 'der modernen, auf dieser Grundlage beruhenden gemeinrechtlichen Lehre vom Gewohnheitsrechte? Mit dem usus longaevus non interruptus, mit der consuetudo tenaciter servata, iuge observata, mit der opinio necessitatis, mit der so interessanten und zu so vielen scharfsinnigen Bemerkungen Anlaß gebenden Frage des Beweises eines Gewohnheitsrechtes, mit der Lehre von der Kraft des Gewohnheitsrechtes, zumal gegenüber einem entgegenstehenden Gesetzesrechte? Es ist bezeichnend, daß Lambert auf seiner langen Wanderung fast durch alle Gewohnheitsrechte der gesitteten Welt außerhalb des Geltungsgebietes des gemeinen Rechtes nichts davon gefunden hat. Es ist bezeichnend, daß die Römer, die Deutschen des Mittelalters, die Engländer, also Völker, bei denen wirkliches lebendiges Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle bewußt fortgewirkt hat und fortwirkt, nichts von all dem wissen. Für die Römer und die Deutschen ergibt sich das aus der unbefangenen Prüfung des reichen von Brie beigebrachten Materiales, das umso beweisender ist, als es vom Standpunkte der herrschenden Lehre mit großer Sorgfalt gesammelt worden ist; für die Engländer ein Blick auf den berühmten Abschnitt bei Blackstone. Die Römer hatten für ihr ius dvile, die Deutschen des Mittelalters für ihr angestammtes Recht, die Engländer haben für ihr common law in der Tat ganz andere Prüfsteine des Bestandes und :der Verbindlichkeit. Aber mit großer Pünktlichkeit stellen sich solche "Erfordernisse" des Gewohnheitsrechtes ein, sobald es sich nicht um gewohrrheitsrechtliche Rechtsbildung, sondern um gewohnheitsrechtliches Partikularrecht oder um lokale Gewohnheiten und Gebräuche handelt. Dem römischen Präses, der in den Provinzen urteilen sollte, dem juristisch gebildeten Beamten, der als Richter in eine ihm ganz fremde Gegend geschickt wird, mußte doch gesagt werden, woran er es zu erkennen hat, inwieweit ein verbindliches Partikularrecht vorliege. So gelangt man zwar gewiß zu keiner Theorie des Gewohnheitsrechtes, wohl aber zu gesetzlichen oder wissenschaftlichen Regeln über dessen Anwendung als Entscheidungsnorm. Und so findet sich auch eine ähnliche Lehre bei den Engländern, aber selbstverständlich nicht für das eigentliche Gewohnheitsrecht, für das common law - den Gegensatz bildet: statute law -, sondern für den special and local custom. A custom in order that it may be legal and binding must have been used so long, that the memory 0/ man runneth not to the contrary; it must be continued (non interrupted) and pe aceably enjoyed; must be reasonable; must be certain; must be compulsory; customs must be consistent with each other; endlich as to the allowance 0/ special customs: no custom can, 0/ course, prevail against the express provisions 0/ an Act 0/ Parliament. Der gemeinrechtliche Jurist fühlt sich ganz angeheimelt. Nur muß er sich sagen lassen, daß sich alle diese

Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts

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"Kautelen" nicht auf Gewohnheitsrecht, sondern eben auf special oder

loeal eustoms beziehen.

5. So stehen die ganze Rechtsgeschichte hindurch gesellschaftliches Gewohnheitsrecht, das in gesellschaftlichen Einrichtungen besteht, und juristische Entscheitlungsnormen einander gegenüber: selbstverständlich nicht ohne sich wechselseitig fortwährend zu beeinflussen. Wie die Entscheidungsnormen aus der gesellschaftlichen Ordnung hervorgehen, so wirken sie auch ihrerseits auf die gesellschaftliche Ordnung zurück. Daß sich die Menschen im allgemeinen danach einrichten, wie ihre Lebensformen von den Behörden geschützt werden, ist den meisten so einleuchtend, daß man eher vor der Überschätzung dieser Wahrheit warnen muß, vor der Annahme, daß das immer und überall der Fall ist, und besonders davor, daß damit immer das erreicht wird, was dem, von dem die Norm ausging, vorgeschwebt hatte. Denn die Menschheit wird selbstverständlich noch von anderen Kräften beherrscht als von den Verfügungen der Behörden. Es möge gestattet sein, zwei Fälle anzuführen, wo eine der Grundlagen der heutigen gesellschaftlichen Ordnung durch Entscheidungsnormen geschaffen worden ist, die von der Rechtspflege oder Wissenschaft herrühren. Der eine betrifft das Erbrecht der Seitenverwandten. Wenn in der Urzeit der Nachlaß des vereinzelt lebenden, zu keiner Sippenoder Familiengemeinschaft gehörenden Menschen herrenlos wurde und daher dem verblieb, der sich seiner bemächtigte, so fiel das leicht ins Gewicht, so lange vereinzelt lebende Menschen selten vorkamen. Als sich aber deren Zahl vermehrte, wurde dieser Zustand unerträglich. Immer häufiger wenden sich aber die nächsten Verwandten an die Gerichte, um dem Freibeuter seine Beute zu entreißen, und wohl mit steigendem Erfolge. Mit der Zeit bilden sich darüber bei den Gerichten feste Grundsätze aus, welchen Verwandten und in welcher Reihenfolge der Nachlaß eines Verstorbenen, der nicht in Familiengemeinschaft gelebt hatte, zuzusprechen ist. So kommt es bei den Slaven im Laufe des XIV. Jahrhunderts überall zum Erbrecht der Seitenverwandten, wie es bei den Römern und Germanen wohl schon in vorhistorischer Zeit entstanden ist: nur vollzieht es sich hier vorwiegend auf Kosten des bereits ausgebildeten Heimfallrechtes der Fürsten und adeligen Grundbesitzer. Aus dem Gesetzbuch des Zaren Duschan ist der Übergang sehr deutlich zu entnehmen. Art. 41 bestimmt: "Welcher adelige Grundbesitzer kein Kind hat oder aber ein Kind bekommen hat, das stirbt, so bleibt sein ererbtes Gut erblos, bis sich von seinem Stamme jemand findet, bis zum dritten Bruderkinde; dieser soll von ihm erben." Wie diese Bestimmung sich schon in ihrem Wortlaut als Neuerung gibt, darauf soll nur hingewiesen werden. Dazu Art. 48: "Stirbt ein adeliger Grundbesitzer, so ge-

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Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts

hört sein gutes Roß und seine Rüstung dem Zaren, das große perlenbesetzte Festkleid und der goldene Gürtel dem Sohn, und der Zar soll es ihm nicht nehmen; hat er keinen Sohn, so soll es die Tochter haben, die darüber verfügen darf1." Eine Tat von größter Tragweite, die durch Entscheidungsnormen vollbracht wurde, ist die Festsetzung des abstrakten Eigentumsbegriffs. Sie ist ausschließlich das Werk der römischen Juristen, die sich in dieser Weise mit dem durch die Grundentlastung geschaffenen Zustande abgefunden hatten. Bis zur Grundentlastung steht das Eigentum im allgemeinen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang: der Hof in der Dorfansiedlung, der Acker in Gemenglage, Wald und Wiese in der Allmende, alles das ist in die ganze gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung der Gegend eingeschachtelt. Und ebenso sind die Ansprüche des Obereigentümers, die Lasten und Pflichten des Nutzungseigentümers durch ihre gesellschaftliche und staatliche Stellung und den ganzen wirtschaftlichen Zusammenhang gegeben. So ist der Umfang und der Inhalt des Eigentums fast für jedes Grundstück durch das Recht positiv und negativ bestimmt: wie das Eigentum an einem bestimmten Grundstück beschaffen ist, das läßt sich nicht aus dem Eigentumsbegriff ableiten; bei jedem Acker im Gewann, bei Wald un!d Wiese in der Allmende, bei jedem Bauernhof im Dorfe und jedem Rittergute ist Art und Maß der Benützung, alles was der Nachbar fordern kann und gewähren muß, was der Obereigentümer ansprechen darf und der Nutzeigentümer zu geben hat, individuell festgestellt. Diese Schranken und Fesseln, wie sie wohl auch in Rom einst, wenn auch gewiß nicht in dem Maße wie im deutschen Mittelalter, bestanden hatten, sind mit der Grundentlastung gefallen. Aber von dem Augenblick an, da die Grundentlastung vorgenommen wird, ist es nicht mehr notwendig, etwas über den Inhalt des Eigentums zu sagen; der Eigentümer braucht weder auf seinen Nachbarn noch auf einen Übergeordneten Rücksicht zu nehmen, kann alles tun und lassen, was ihm gefällt. Jetzt gelangt man daher zu dem begrifflich unbeschränkten, unbedingten "römischen" Eigentum, das nicht eine bestimmte, sondern fast jede denkbare Benützung gestattet. Das römische Eigentum ist ein aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhange gerissenes Eigentum. Ist einmal der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem das Eigentum an Grund und Boden stand, aufgehoben, so gibt es nur noch eine einzige Frage, mit der sich das Recht des Eigentums befaßt: die Eigentumsklage. Um die Eigentumsklage in ihren verschiedenen Gestalten und die damit wohl zusammenhängenden possessorischen Klagen sam7

Vgl. dazu Novakovic, Sakonnik Zara Duschana, Beograd 1899, S. 171 ff.

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melt sich daher alles, was uns die römischen Juristen über das Grundeigentum zu sagen haben. Der Erwerb und Verlust des Eigentums und des Besitzes, die Parteien bei der Eigentumsklage und bei den Interdikten, die Beweisfrage: das ist fast alles, womit sie sich beschäftigen. Nach allen diesen Richtungen unterscheidet sich das Grundstück aber fast gar nicht von einer beweglichen Sache: der fundus ist eine res mancipi wie der Sklave, wie ein Stück Zugvieh. Hätten sich nicht einige Stücke der älteren Ordnung erhalten, die Dienstbarkeiten, zumal die servitutes praediorum rusticorum, die actio damni infecti, die opens no vi nuntiatio, die actio aquae pluviae arcendae, es gäbe im klassischen römischen Rechte, wenigstens für den ager privatus, so ziemlich keine Besonderheiten. Das Recht der unbeweglichen Sachen wurde ebenso wie das Recht der beweglichen Sachen fast ausschließlich von den von den Juristen für die Eigentumsklage gefundenen Entscheidungsnormen bestimmt. Das sollte ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung werden. 6. Diese Beispiele beweisen, wie mächtig der Einfluß ist, den die Entscheidungsnormen auf gesellschaftliche Einrichtungen ausüben können. Eine andere Frage ist es, wie weit das eigentliche Gewohnheitsrecht seinerseits auf die Entscheidungsnormen zurückzuwirken vermag. Versteht man, wie hier, unter Gewohnheitsrecht die Lebensformen, die ohne staatlichen Eingriff, nur durch die im Leben selbst wirkenden Kräfte zur Grundlage der staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung geworden sind, so gewahrt man, daß nicht nur in historischer Vergangenheit, daß selbst heute noch sich alles im ewigen Flusse befindet. Das kann wohl jeder bezeugen, der auch nur auf eine Erfahrung von dreißig oder vierzig Jahren zurückblickt. Die heutige Familie ist nicht die, in der wir unsere Jugend verlebten, die heutige Ehe nicht die, für die wir als Jünglinge schwärmten, Handel und Wandel sind anders geworden, ganz andere Käufe, Mieten, Pacht-, Dienst- und Lohnverträge als einst werden jetzt abgeschlossen, anders als einst steht heute der Herr dem Diener, der Unternehmer dem Eigentümer, der Erzeuger dem Kunden gegenüber, Aktiengesellschaften, Transportunternehmungen, Genossenschaften, Banken, Börse, Terminhandel sind kaum noch wiederzuerkennen, und wo waren vor wenigen Jahrzehnten Trusts, Kartelle, Gewerkvereine, Massenausstände, Tarifverträge? Gewiß hat noch keine Zeit so rasch gelebt wie die unsrige, noch nie war der Abstand zwischen Vater und Sohn in Denken, Empfinden, in Tun und Lassen so beängstigend groß wie heute. All das sind neue Lebensformen, zum Teile von Grund aus veränderte Formen des ganzen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, also neues Gewohnheitsrecht. Diesem unaufhaltsamen Wandel gegenüber scheinen die Entscheidungsnormen das Stetige im Wechsel darzustellen. Denn es ist nicht 9 Eugen Ehrlich

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etwas ins Recht zufällig Hineingetragenes, sondern eine im Wesen der richterlichen Tätigkeit begründete Forderung, daß jede richterliche Entscheidung eines Rechtsfalles sich mit bereits feststehenden EntscheidungsITormen abfinden müsse. Selbst wo dem Richter die freie Rechtsfindung gestattet ist, darf er von ihr, wenigstens grundsätzlich, nur Gebrauch machen, wenn sich der überlieferte Rechtsstoff als lückenhaft erweist; das wird selbstverständlich umsoweniger erwartet, je mehr der Wust im Laufe der Jahrhunderte angewachsen ist. Aber auch die Wissenschaft zeigt immer mehr das Bestreben, mit dem Vorhandenen auszukommen und auf schöpferische Gedankenarbeit zu verzichten. Die Aufnahme der Ergebnisse der Rechtswissenschaft und Rechtspflege in die Gesetzbücher, die Legalisierung des Juristenrechts, wie ich sie einmal genannt habe, bringt diese Entwicklung zu einem vorläufigen Abschlusse. So schaut Rechtspflege und Rechtswissenschaft heutzutage bei jeder Gelegenheit hilfesuchend und hilfeheischend auf die Gesetzgebung. Selbst eine verhältnismäßig einfache Aufgabe, die Ausbildung des Urheberrechts, konnte nur mit Hilfe des Gesetzgebers bewältigt werden. Und doch ist diese Tat mit dem gar nicht zu vergleichen, was in vergangenen Jahrhunderten von Rechtspflege und Rechtswissenschaft geleistet worden ist, als es galt, für das Sachenrecht, Vertragsrecht, Schadenersatzrecht, einen großen Teil des Erbrechts- und Familienrechts die Entscheidungsnormen zu finden und so die rechtlichen Grundlagen des ganzen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu schaffen. Die Gründe aber, aus denen die Gesetzgebung schon an sich, und seit dem sie von der schwerfälligen parlamentarischen Maschine gehandhabt wird, weniger als je, Aufgaben von so außerordentlichp.r Größe und Feinheit gewachsen ist, habe ich an anderer Stelle anzudeuten versucht. Trotzdem ist es heute leichter, als es je gewesen ist, neue Lebensformen in das Recht hinüberzuleiten. Während in vergangenen Jahrhunderten jede neue gesellschaftliche Einrichtung hart um ihr Dasein kämpfen, bei fremden Gewalten, bei dem Richter, dem Juristen, dem Gesetzgeber um Anerkennung und um die Entscheidungsnormen betteln mußte, die sie brauchte, um ihr Leben zu fristen, gibt das moderne Recht in einem ungeheueren Umfange neuen Lebensformen die Anerkennung im Vorhinein und überläßt es der Gesellschaft, selbst die Entscheidungsnormen zu finden, die sie darauf angewendet wissen will. Das wird bewirkt durch die Grundsätze der Vertragsfreiheit, Vereinsfreiheit und Testamentsfreiheit, die in das heutige Recht eingezogen sind. Sie bilden einen weiten Rahmen, der die ganze Fülle des modernen Lebens fast restlos aufzunehmen vermag. Und alles, was in diesem Rahmen hineinpaßt, ist rechtsverbindlich, jede wirksam gewordene Vereinssatzung,

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Vertragsvereinbarung, Testamentsbestimmung schafft nicht nur ein neues Lebensverhältnis, sondern erhebt es zugleich zum Rechtsverhältnis, und setzt zumeist auch die Entscheidungsnormen fest, nach denen es von den Gerichten und Behörden beurteilt werden soll. Es handelt sich dabei aber, wie eine eingehende Betrachtung zeigt, nie um vereinzelte, für sich allein bestehende Tatsachen; alle diese Verträge, Vereine, Testamentsinhalte sind gesellschaftliche Erscheinungen, Flußbetten vergleichbar, in denen das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der Gegenwart ruhig und geordnet dahinzufließen vermag. So tritt die Usance, die Regel des Lebens, den anderen Rechtsquellen gleichberechtigt zur Seite. Aber ein großer und vielleicht grade der mächtigste Teil der gesellschaftlichen Strömungen läßt sich auch in der Gegenwart in keine vorauszubestimmende Regelung einzwängen. Jedem staatlichen Eingriff, auch dem mittelbaren durch Entscheidungsnormen, entzieht er sich, teilweise schon durch seine Natur, manchmal mit ausgesprochener Absicht; ein anderes Mal geht ihr der Staat und sein Recht, die Grenzen seiner Macht erkennend, scheu aus dem Wege. Kaum notwendig ist es, eingehender auszuführen, wie wenig die märchenhafte Entwicklung der letzten dreißig und vierzig Jahre, deren Zeuge das heute noch lebende Geschlecht ist, auf Gesetzgebung, Rechtspflege, ja sogar auf die Rechtswissenschaft geübt hat; sie haben sich alle an ihr nach Möglichkeit vorbeizudrücken gesucht. In bezeichnender Weise haben die englischen Trade Unions nicht bloß die längste Zeit keine gesetzliche Regelung gewünscht, sie haben sogar jede gesetzliche Anerkennung ausdrücklich verschmäht. Und wie verhält sich das staatliche Recht zu den Trusts und Kartellen, wie verhalten sich diese zu ihm? Sie tun zumeist, als ob sie einander nicht sähen. Und doch wäre es lächerlich, wenn wir, die wir im armseligsten Kaufvertrage ein Stück der Rechtsordnung erblikken, die mächtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verbände unserer Zeit nicht als Rechtseinrichtungen gelten lassen wollten. Sie sind es, allerdings nicht auf Grund staatlichen Rechts, nicht auf Grund von Entscheidungsnormen, die von Gerichten und anderen Behörden gehandhabt würden, sondern kraft gesellschaftlichen Gewohnheitsrechtes. Und so wird heute noch, ebenso wie in der Urzeit, die große Masse gesellschaftlicher Arbeit auch auf diesem Gebiete von der Gesellschaft unmittelbar verrichtet. Die jeweilige gesellschaftliche Ordnung ist ein Werk der großen gesellschaftlichen Kräfte, die vom Staate und seinem Recht geleitet und gebändigt, aber nicht unterdrückt oder vernichtet werden können. Denn die gesellschaftlichen Kräfte sind elementare Kräfte. Was vom Staate ausgeht, selbst das Recht, das er schafft, ist 9*

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doch nur ein Gebilde der Menschenhand. Die Aufgabe des Staatsmanns ist nicht, Dämme zu bauen, die der Strom der gesellschaftlichen Entwicklung in reißenden, die edelsten Werke vernichtenden Fluten überschwemmen würde; die Aufgabe des Staatsmannes ist, dem Strom den Weg in die Ebene zu bahnen, wo er Äcker befruchten und Mühlen treiben wird.

ZUR FRAGE DER JURISTISCHEN PERSON * 1. Es ist nicht lange her - es war so ziemlich um die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts -, da gehörte die Frage der juristischen Person zu den beliebtesten Gegenständen der juristischen Literatur. Soviel man sich jedoch damit beschäftigte, so selten wurde das, worauf es dabei eigentlich ankommt, hervorgehoben. Es war nämlich nicht, wie man nach der Literatur schließen könnte, eine konstruktive Frage, um die es sich handelte, sondern es han(}elte sich dabei vielmehr um die Auffassung von der Natur des subjektiven Rechtes. Ist es wirklich wahr, daß ein subjektives Recht einen Menschen voraussetzt und nur einem Menschen zustehen kann, oder gibt es doch Gebilde auf der Welt, die Rechte haben, ohne Menschen zu sein?

Diese ganze Auffassung, daß subjektive Rechte immer nur Menschen zustehen können, ist aber, wie die meisten vermeintlich ewigen Wahrheiten, durchaus historisch bedingt. Es handelt sich daher gar nicht um eine ewige Wahrheit, sondern um etwas, was für unsere heutige Menschheit stimmt, was aber keineswegs immer so sein muß. Denn es ist einerseits unrichtig, daß zu jeder Zeit alle Menschen Rechtssubjekte waren, und anderseits unrichtig, daß immer nur Menschen Rechtssubjekte sein könnten. Jedem primitiven Rechte liegt immer der Gedanke zu Grunde, daß Rechtssubjekt nicht jeder Mensch, sondern nur der Volksgenosse ist. Diese Auffassung herrschte bei 'den Römern und auch bei allen anderen Völkern auf früheren Entwicklungsstufen. Erst unter dem Einflusse sehr entwickelter Vorstellungen, der Bedürfnisse des Handels und des Verkehrs, hat in manchen noch entwickelten Rechten des Altertums, zumal im römischen, der Gedanke zu keimen begonnen, daß auch ein Nichtbürger Rechtssubjekt sein kann, und auch da immer nur in bescheidenem Maße. Es ist komisch, daß man unter dem Einfluß des modernen Rassenschwindels selbst diese Sache als Rassenfrage, als Besonderheit eines nationalen Charakters auffassen wollte. Das ist selbstverständlich ganz unrichtig. Auf einer gewissen Entwicklungsstuf€ finden wir diese Einschränkung immer. Andererseits finden wir, insbesondere im Mittelalter, eine davon ganz verschiedene Vorstellung. Gar nichts mehr von der Vorstellung, daß nur Menschen Rechtssubjekte sein können, sondern auch Wesen gar anderer Art: z. B. die Vorstellung, daß Gott, die Hei-

* Vortrag, gehalten in der Juristisch-staatswissenschaftlichen Gesellschaft in Czernowitz. Nach einer stenographischen Aufnahme.

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ligen oder die Verstorbenen Rechtssubjekte sind. So wird im Mittelalter dem heiligen Petrus ein großes Vermögen verschrieben, mit der mehr oder weniger klaren Vorstellung, daß Petrus das Rechtssubjekt sein wird. Aus mittelalterlichen Urkunden ergibt sich, daß dieser heilige Petrus oder auch ein andrer Heiliger Schenkungsurkunden, Kaufurkunden gefertigt hat, und die Leute haben das allem Anscheine nach gar nicht bildlich genommen. Man ging sogar soweit, davon zu sprechen, daß der heilige Petrus eine Besitzstörung begangen habe. Dies wird aus England berichtet. Heute sind wir allerdings beinahe nicht im Stande, etwas anderes als Rechtssubjekt zu betrachten, als einen Menschen, und wenn uns ein Rechtssubjekt aufstößt, das kein Mensch ist, so suchen wir unwillkürlich nach einem dahinter steckenden Menschen. So kommt es vor, daß beispielsweise für ein Denkmal ein Vermögen ausgesetzt wird, oder für die Erhaltung eines Denkmals. Es wird uns aber nicht einfallen, dieses Denkmal als Subjekt des ihm vermachten Vermögens anzusehen. Auf diesen Standpunkt vermögen wir uns gar nicht zu stellen, sondern denken immer daran, daß irgend welche menschlichen Interessen dahinter stecken müssen. Wir denken immer an irgend einen Menschen und suchen ihn. Es ist ja möglich, daß irgendwo ein Verrückter seinen Hund oder sein Roß zum Erben einsetzt. Wir sagen, das gibt es nicht, weil kein menschliches Interesse dabei in Frage kommt; aber wenn man derartige Einsetzungen als gültig betrachten wollte, so werden wir doch wieder einen Menschen suchen müssen, also etwa sagen, diese Verfügung wird aufrechterhalten aus Achtung vor dem Willen des Verstorbenen. Wir werden eben die Interessen des Verstorbenen schützen wollen. Die Schwierigkeit, uns die juristischen Personen als Rechtssubjekte vorzustellen, ist also nur für uns vorhanden, als Folge der einmal bei uns herrschenden Vorstellung, nur ein Mensch könne Rechtssubjekt sein, das ganze Recht sei nur um des Menschen willen da. In Wirklichkeit ist also das die Frage, mit der sich die Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrunderts befaßte: wie kommt es, daß wir als "juristische Personen" Rechtssubjekte finden, die keine Menschen sind? Wie haben wir dies zu verstehen? Ich wer'de mir erlauben, die Ansichten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die meisten Anhänger gewonnen haben, kurz anzuführen und daran die Ausführung meiner eigenen Ansicht zu knüpfen. 2. Die alte Ansicht, die auf Innocenz IH. zurückgeht, ist die Theorie der fingierten Person. Wirkliche Menschen sind juristische Personen nicht, aber das Recht fingiert sie, und als fingierte Personen werden sie im Rechte ebenso behandelt, wie die physischen. Die Rechtsidee der juristischen Person wird also auf eine Fiktion zurückgeführt. Diese Theorie war bis ins 19, Jahrhundert unbestritten. Sie wird noch von Savigny

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und Puchta ganz unbefangen vorgetragen, und sie kann auch bis heute als die herrschende bezeichnet werden, denn die meisten Schriftsteller schließen sich ihr heute noch an. Diese Theorie hat aber eine Schwäche, und es ist sehr merkwürdig, daß sie von Savigny nicht bemerkt worden ist, obwohl er gewiß der Mann gewesen wäre, darauf hinzuweisen, denn er ist der erste, der das Wesen der juristischen Fiktion aufdeckt. Er hat bewiesen, daß eine Fiktion doch nie etwas anderes ist, als ein Rechtssatz: ein gewisser Tatbestand wird in/olge einer Rechtsvorschri/t ebenso behandelt wie ein anderer. Nehmen wir z. B. die Fiktion des Usucapionsbesitzes, die Fiktion, die der actio Publiciana zu Grunde liegt. Der Kläger, der sie anstellt, ist ein Nichteigentümer, weil er die Sache noch nicht ersessen hat. Aber der Prätor gibt dem Richter den Auftrag: dieser Mann, der Nichteigentümer, sei so zu behandeln, wie wenn er Eigentümer wäre. Das bedeutet offenbar nur: es besteht ein Rechtssatz, dem zufolge jemand, der die Sache noch nicht ersessen hat, so zu behandeln ist, wie einer, der die Ersitzung vollendet hat. So ist es auch hier. Eine juristische Fiktion ist also nie die Erklärung eines Tatbestandes, sondern sie ist nur der Ausdruck für einen Rechtssatz. Man könnte ja den Tatbestand der actio Publiciana auch ausdrücken: ein Mann, der die Sache in gutem Glauben erworben hat, kann sie von jeldem zurückfordern, der sie ihm vorenthält. Es handelt sich bei der Rechtsfiktion nur um einen anderen, leichteren, kürzeren, aber immer nur um einen Ausdruck für einen Rechtssatz. Es ist daher klar, daß auch die Theorie der fingierten Person nur einen Rechtssatz zum Ausdruck bringt, und diese Schwäche der Theorie der fingierten Person hat nun Brinz aufgedeckt, der erste, der sich mit der juristischen Person eingehend beschäftigt hat. In der berühmten Vorrede zu seinen Pandekten gebraucht er den zu einem geflügelten Worte gewordenen Vergleich: die juristische Person gehöre ebensowenig in die Lehre von der Person, wie die Vogelscheuche in die Lehre vom Menschen. Die juristische Person sei nichts als eine Fiktion, und diese ist nur ein Rechtssatz. Infolge dessen ist die juristische Person gar nicht ein Werk der Rechtswissenschaft, denn diese habe keinen Rechtssatz aufzustellen. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, zu erklären, was hinter der Fiktion stecke. Damit, daß wir sagen, es wird etwas fingiert, haben wir es noch nicht erklärt. Was sind die Tatsachen, die hinter der Fiktion stecken? Von weIcher Art ist das, was wir als juristische Person mit dem Menschen gleichstellen? Es sei ein anderes Problem, das sich die Wissenschaft der juristischen Person gegenüber zu stellen habe.

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Was sagt nun Brinz zur Erklärung der juristischen Person? Er sagt: Hier bei den juristischen Personen liegt eigentlich ein subjektloses Vermögen vor. Es gibt überhaupt kein Rechtssubjekt, es gibt niemand, dem das Vermögen gehört. Aber dieses Vermögen ist durch einen Zweck gebunden. Es besteht ein Zweck, für den es da ist, und da es ein durch einen Zweck gebundenes Vermögen ist, so tritt es in eine ganze Reihe von Verhältnissen, die denen ähnlich zu behandeln sind, bei denen Menschen in Frage kommen. Das Vermögen der Gemeinde gehört nicht einem oder mehreren Menschen, sondern es ist ein Vermögen, das niemand gehört, aber einem bestimmten Zweck gewIdmet ist. Es liegt nicht der Wesfall, sondern der Wemfall vor, nicht der Genitiv, sondern der Dativ. Brinz sagt also: es ist nicht notwendig, daß ein Subjekt da sei; es kommen ja auch subjektlose Vermögen vor. Diese Vermögen werden nicht durch Personen zusammengehalten, sondern dadurch, daß sie für einen bestimmten Zweck bestehen. Diese Theorie führt Brinz mit einem ganz ungewöhnlichen Geist durch. Namentlich 'das, was er darüber in der zweiten Auflage seiner Pandekten sagt, gehört zu den großartigsten Leistungen menschlichen Geistes. Es ist nach Form und Inhalt ein Meisterwerk. Etwas später als Brinz trat Jhering dieser Frage näher, und zwar im dritten Bande seines Geistes des römischen Rechtes. Seine Rechtsauffassung ist bekannt: Recht sei das durch Klage geschützte Interesse. Rechtssubjekt sei also der, dem zuliebe ein subjektives Recht besteht: Von diesem Standpunkt aus beantwortet Jhering auch kurz und bündig die Frage, wer Subjekt einer juristischen Person sei: die Menschen nämlich, denen das Vermögen, das den juristischen Personen gehört, Vorteile bringt, denen zuliebe es besteht. J'hering verwandelt also, wie Brinz bemerkt, den Pfründner in einen Kapitalisten. Endlich ist hier der germanistischen Theorie zu gedenken, die in Gierke den bedeutendsten Vertreter hat. Er hat sie historisch in dem umfangreichen Werke: Das deutsche Genossenschaftsrecht, und dann dogmatisch in dem kleineren, bekannteren Werke: Die Genossenschaftstheorie begründet. Er gibt Jhering zu, daß Rechtssubjekt der juristischen Person Menschen sind; aber nicht der einzelne Mensch ist bei der juristischen Person Rechtssubjekt, sondern Menschengruppen, die sozialrechtliche Organismen sind. Diese in sozialrechtliche Organismen ausgestalteten Menschengruppen wie die Stadt, die Gemeinde, der Staat, die Vereine sind keine Fiktionen, sondern sie sind wirklich vorhanden. Besteht in der Tat nur das in Wirklichkeit, was man sehen und tasten kann? Ganz gewiß nicht. Staat, Gemeinde, Verein sind gerade so wirklich bestehende Wesen wie ein einzelner Mensch, wenn auch nicht als einzelne Person und nicht als natürliche Wesen, sondern durch die Ge-

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seIlschaft oder, wie Gierke wohl etwas zu enge meint, durch das Recht geschaffene Organismen; denn die Gesellschaft ist es, die gesellschaftliche Organismen schafft. Wir finden solche Organismen schon in der Urzeit, lange bevor es noch ein Recht gab, das sie hätte schaffen können: die Sippe und die Familie. Das sind die vier Hauptauffassungen, die im Laufe der Zeit es zur Geltung und Anerkennung gebracht haben. In Wirklichkeit werden allerdings noch eine Menge von Schattierungen dieser Ansichten in der Literatur vertreten. Aber alle diese anderen Auffassungen lassen sich mehr oder weniger einer der angeführten unterordnen. Und jetzt möchte ich die Frage stellen: 1. wozu das alles, 2. wer hat recht und 3. was kommt dctbei heraus? 3. Zunächst die Frage, welche dieser vier Ansichten ist die Wahrheit? Die Antwort darauf ist: alle vier haben recht. Jede von ihnen hat eine bestimmte Seite des Vorwurfes beleuchtet. Da aber jede von ihnen nur eine Seite beleuchtet hat, war jede einseitig. Wir müssen sie zusammenfassen und etwas aus Eigenem dazutun, dann werden wir dem Vorwurf näher kommen. Es wiederholt sich hier, was so häufig vorkommt, wo die Menschen einen verschiedenen Standpunkt einnehmen, wir uns aber schließlich überzeugen, daß ihre Ansichten nicht so sehr verschieden sind, daß sie vielmehr aneinander vorbeireden. Die Ansicht, die juristische Person sei eine Rechtsfiktion, hat 4 bis 5 Jahrhunderte lang der Rechtswissenschaft gute Dienste geleistet, und sie leistet sie auch heute noch. Sie verdient daher gewiß nicht den Spott und den Hohn, mit dem sie behandelt wird. Sie sagt aber weiter nichts, als daß gewisse Gebilde so behandelt werden wie andere, das heißt gewisse Rechtssätze, die für den Menschen bestehen, sollen Anwendung finden auf Erscheinungen, die keine Menschen sind. Weiter will und soll sie auch nichts sagen. Eine juristische Person kann im Prozeß auftreten wie ein Mensch, sie kann Verträge schließen wie ein Mensch, sie unterliegt der Zwangsvollstreckung wie ein Mensch, und das für ihre Zwecke ausgesetzte Vermögen wird im Falle einer gegen sie gerichteten Zwangsvollstreckung so behandelt, wie wenn es einem Menschen hören würde, gegen den Zwangsvollstreckung geführt wird. Selbstverständlich darf man in dieser Theorie aber nicht eine Erklärung der Erscheinungen suchen, auf die sie sich bezieht: denn eine juristische Fiktion erklärt nichts. Und dann darf man aus ihr keine Folgerungen ziehen, die unzulässig sind. Schon wenn man sagt, daß die juristische Person Verträge schließt, Prozesse führt und der Zwangsvollstreckung unterliegt wie ein Mensch, ist es bereits eine Übertreibung. Denn für die Prozeßführung, für die Vertragsschließung und die Zwangsvollstreckung gibt es doch zum Teile andere Regeln für die juristische Person und andere für den

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Menschen. Es bestehen andere Bestimmungen über die Zustellung prozessualer Schriften, Abgabe prozessualer Erklärungen, über Parteieneid und Zeugenvernehmung, andere über den Irrtum, Zwang, Kollusion bei Verträgen. Also gar zuweit reicht schon hier die Fiktionstheorie nicht. Noch mehr tritt das hervor, wenn man die Gebiete, für die die Fiktionstheorie eigentlich aufgestellt ist, den Prozeß, den Vertrag und die Zwangsvollstreckung verläßt und sich anderen Gebieten zuwendet. Selbst die älteren Schriftsteller gaben zu, daß eine juristische Person keine Vormundschaft führen, nicht heiraten, keine Kinder (auch keine Adoptivkinder) haben und kein Testament errichten kann. Ich möchte aber den Satz umkehren. Ich möchte behaupten, daß wir bei jedem einzelnen bestimmten Rechtssatz, der für die natürliche Person gilt, erst nachweisen müssen, daß er auf die juristische Person Anwendung findet. Ich erinnere nur an die bekannte Streitfrage, ob eine juristische Person deliktsfähig ist. Aus der Fiktion ergibt sich nichts darüber. Die Fiktion ist für diesen Fall nicht da. Wir müssen uns die Antwort von wo andersher holen. 4. Wenn wir uns nun der Frage nach dem Subjekte der juristischen Person zuwenden, so müssen wir etwas weiter ausholen. Die Frage des Rechtssubjektes gehört zu denen, die seit Jhering nicht geruht haben. Wer ist Rechtssubjekt? Offenbar der, dem ein subjektives Recht zusteht. Das fUhrt aber zu der dornigen Frage nach dem Wesen des subjektiven Rechts. Die ältere Theorie nimmt an, subjektives Recht sei die einer Person vom objektiven Rechte verliehene Macht, und Rechtssubjekt sei die Person, der vom Rechte diese Macht verliehen ist. Jhering hat dieser Auffassung eine andere entgegengestellt, die mehr auf das wirtschaftliche Wesen des Rechtes Nachdruck legt. Recht sei das durch die Klage geschützte Interesse: im Rechte handle es sich um bestimmte wirtschaftliche Interessen. Das ist gewiß etwas zu eng. Auch Anhänger Jherings geben zu, daß es sich im Rechte auch um solche Interessen handeln könne, die in anderer Weise als durch Klage rechtlich geschützt sind; und daß nicht bloß wirtschaftliche, sondern auch andere Interessen rechtlich in Betracht kommen. Man kommt daher zum Schlusse, ein rechtlich geschütztes Interesse sei subjektives Recht. Infolgedessen ist Rechtssubjekt der, dessen Interessen rechtlich geschützt werden. Bei jedem Rechtskonflikte müssen wir uns fragen, wessen Interessen rechtlich geschützt werden, dann haben wir auch die Lösung der Frage nach dem Rechtssubjekte. Gegen die Auffassung Jherings hat schon Bekker eine Einwendung erhoben. Jhering habe soweit recht, daß es vor allem auf das rechtlich geschützte Interesse beim Rechte ankäme, aber andererseits sei auch die herrschende Lehre einigermaßen im Rechte, die den Rechtsbegriff

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auf den Willen abstelle. Die Wahrheit ist: der Begriff des Rechtes umfaßt noch etwas mehr als [das, was Jhering darin findet: auch die rechtliche Verfügung. Wir hätten daher auch im Rechtssubjekte den Verfüger und den Genießer zu unterscheiden. Ich glaube, daß in dem, was Bekker sagt, ein gesunder Kern enthalten ist, den aber Bekker nicht zu Ende gedacht hat. In Wirklichkeit ist das Rechtssubjekt aus mehreren Elementen zusammengesetzt, und ich glaube mindestens aus dreien. Rechtssubjekt ist zunächst der, dessen wirtschaftliches Interesse rechtlich geschützt ist. Wenn ich beispielsweise Eigentümer eines Gutes bin, so bedeutet das, daß da wirtschaftliche Interessen zu meinen Gunsten rechtlich geschützt werden. Es bedeutet aber außerdem, daß ich über das Gut rechtlich verfügen, es verkaufen, belasten, verpfänden kann. Es ist aber noch etwas da: das Moment der Verwaltung. Wenn wir vom Rechtssubjekt sprechen, so denken wir uns den, der die Sache bewirtschaftet, anbaut, erntet, kraft eigenen Rechts. So weit ist aber Jhering wieder im Rechte, daß doch nur das wirtschaftliche Moment wesentlich ist, Die zwei anderen Momente, Verfügung und Verwaltung, können fehlen, ohne daß darum das Recht aufhört zu sein. Wenn jemandem aber das wirtschaftliche Moment genommen wird, so wird ihm sein ganzes Recht genommen. Das sieht man bei Personen, welche unter Vormundschaft oder Pflegschaft stehen. Die Verfügung und Verwaltung wird ihnen genommen, aber der wirtschaftliche Genuß wird ihnen belassen, deswegen sind sie noch immer Rechtssubjekte. Wenn aber bestimmt wird, daß im Falle eine Person unter Vormundschaft kommt, die Nutznießung seinen Verwandten zufällt, wie z. B. in der Urzeit, so wird ihnen auch von ihrem Recht ein Stück genommen. Von diesen drei Elementen ist also das wirtschaftliche das wesentliche. Es kann aber auch einer Person die Verfügung abgenommen, die Verwaltung jedoch belassen werden. Das ist in Rom bei Frauen und Minderjährigen so gewesen. Ein Unmündiger hatte weder Verwaltung noch Verfügung. Ein Minderjähriger aber mußte, wenn er verfügen wollte, unter Umständen die Zustimmung seines Pflegers haben. Die Verwaltung verblieb ihm (wenigstens ursprünglich). Wenn wir jetzt an die Frage der juristischen Person herantreten, wird die Sache klarer. Wir trennen die wirtschaftliche Frage von der der Verfügung und Verwaltung. Bei den juristischen Personen ist zweifellos die Verfügung und Verwaltung in die Hände von Personen gelegt, die nicht Rechtssubjekte sind. Um wessen Interesse handelt es sich aber bei ihnen? Auf diese Frage hat wieder Jhering die richtige Antwort gefunden. Immer um die Interessen von Menschen, nicht um solche eines über oder außer ihnen stehenden

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Rechtssubjektes. Nun kommt aber das, was Gierke mit solchem Glück und solcher Gelehrsamkeit hervorgehoben hatte. Bei den juristischen Personen handelt es sich nicht um die Interessen vereinzelter Menschen, sondern um die Interessen menschlicher Gemeinschaften. Wenn wir sagen, Stadt oder Gemeinde dder Staat besitzen irgend ein Vermögen, so sagen wir damit, die Menschen, die in der Stadt, in der Gemeinde oder im Staate zu einer Gemeinschaft verbunden sind, diese sind Subjekte des Vermögens, und so müssen wir die Sache auch in anderen Fällen nehmen. Es war Brinz, der gesagt hat, Jhering verwandle den Pfründner in einen Kapitalisten. Das liegt aber nicht in seiner Theorie. Subjekt des Stiftungsvermögens ist die menschliche Gemeinschaft, der Personenkreis, aus dem die Personen entnommen werden, denen das Stiftungsvermögen zu gute kommen soll. Wer ist Subjekt einer Familienstiftung? Nicht der Einzelne, sondern die ganze Gemeinschaft von Personen, aus denen der Einzelne entnommen werden muß, dem die Stiftung zukommt. Wenn eine Stiftung zu Gunsten der Armen einer Stadt ausgesetzt wird, so ist Subjekt des Stiftungsvermögens die Gemeinschaft, der die Armen angehören, also etwa die Bürger dieser Stadt: diesem Kreise müssen die Personen angehören, denen die Stiftung zu gute kommen soll. Und so können wir bei jeder juristischen Person den Menschen herausfinden, dessen Interessen geschützt werden sollen. 5. Nun kommen wir aber auf etwas anderes. Solche Gemeinschaften, als Rechtssubjekte gedacht, sind verwickelte, ungemein zusammengesetzte Wesen. Es gehört daher eine ungeheure juristische Technik dazu, um mit den Gemeinschaften als Rechtssubjekten fertig zu werden. Selbst das hochgepriesene juristische Volk, die Römer, wußten sich mit den verschiedenen Gemeinschaften, die in ihrer, wie in jeder anderen Gesellschaft vorhanden waren, keinen Rat. Nur in dieser Rat- und Hilflosigkeit liegt der Grund, warum der pater familias als der Eigentümer des ganzen Familienvermögens behandelt wurde, während es in Wirklichkeit, - dafür haben wir zahlreiche Beweise - , die ganze Familie war. Schon mit der Gütergemeinschaft der Familie konnten sich die Römer nicht abfinden: darin liegt der Grund, daß sie an deren Stelle das Alleineigentum des pater familias setzten und es der Sitte überließen, das Verhältnis zwischen dem pater familias und den mitgenießenden Familiengenossen zu regeln. Es handelt sich in Wirklichkeit um eine Ohnmacht der römischen Jurisprudenz. So gehen auch sonst die Juristen nicht selten vor, wenn die schwierige Frage der Regelung der verwickelten Verhältnisse einer Gemeinschaft an sie herantritt, z. B. an die Engländer die Gemeinschaften des indischen Rechtes oder an unsern obersten Gerichtshof die südslavischen Gemeinschaften. Heute

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findet man sich damit etwas besser ab. Aber in den 60. Jahren des 19. Jahrhunderts stand die Sache ähnlich wie bei den Römern. Die Engländer haben ein indisches Familienhaupt, das nicht mehr ist als ein Vereinspräsident, als Eigentümer des ganzen Familienvermögens behandelt, der oberste Gerichtshof die Zadruga als Gesellschaft des bürgerlichen Gesetzbuches. Stellen Sie sich nun vor, wie schwer es ist, bei einer Gemeinschaft zu entscheiden, was einem gehört und was nicht, welche Rechte dem Oberhaupt zustehen, wie viel Recht jedem einzelnen Genossen, welche Pflichten den Rechten gegenüberstehen. Dem allem entgeht man, wenn man so wie die Römer oder die Engländer irgend einen Alleineigentümer herausfindet und im übrigen die Ordnung der inneren Verhältnisse der Sitte und dem Herkommen überläßt. Nicht viel anders liegt aber die Sache, wenn man einfach das sehr schwierige Verhältnis als Miteigentum konstruiert. Wir nehmen gewöhnlich an, bei einer Communio sei das Rechtsverhältnis im allgemeinen dasselbe wie bei einer einzelnen Person; das Vermögen gehöre eben nicht einer, sondern mehreren Personen, das sei der ganze Unterschied. Das ist aber gewiß nicht richtig. Wenn 'dieses Vermögen dreien oder vieren gehört, so kommen unzählige Fragen vor, die selbstverständlich bei einem AIleineigentümer nicht vorkommen können. Durch die Tatsache der Mehrheit wird die Sache ungeheuer kompliziert. Das alles wiederholt sich auch bei den juristischen Personen, die selbstverständlich noch schwieriger zu behandeln sind, als die Familien und Geschlechter der Urzeit. Für diese Konstruktionsschwierigkeiten hat nun Brinz in der Tat das entscheidende Wort gefunden, und das ist "Zweckvermögen": ein durch einen bestimmten Zweck gebundenes Vermögen. Ich habe gesagt, bei einer juristischen Person haben wir das Merkwürdige, daß ihr Rechtssubjekt von der Verfügung und Verwaltung ausgeschlossen ist. Wo immer aber eine solche Trennung der Verfügung und Verwaltung vom Rechtssubjekte vor sich geht, da sollten wir mit dem Zweckbegriffe operieren. Stellen Sie sich das Verhältnis zwischen Vormund und Mündel vor. Rechtssubjekt ist das Mündel, dem Vormunde gebührt Verfügung und Verwaltung. Wie faßt man die Sache juristisch? Hat der Vormund oder Pfleger wirklich die freie Verfügung und Verwaltung in dem Sinne und dem Umfange wie der Eigentümer in betreff seines Eigentums? Gewiß nicht. Wir müssen sagen, er hat die Verfügung und Verwaltung, aber er ist gebunden durch den Zweck. Ebenso auch wo eine eheherrliche Gewalt besteht, in bezug auf den Ehemann. Der Ehemann verfügt und verwaltet das Vermögen der Frau, aber er ist durch den Zweck der Ehe gebunden. überall wo diese Trennung vor sich geht, müssen wir den Zweckgedanken einfügen, und dieses ist der Hauptunterschied zwischen dem einem einzelnen gehörenden und einem gemeinschaftlichen Vermögen. Wer Alleineigentümer ist, kann damit tun,

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was er will, er kann das Vermögen sogar zu Grunde richten. Dagegen ist jeder, der über fremdes Vermögen verfügt, durch den Zweck gebunden. Durch die Einführung des Zweckgedankens hat Brinz für die ganze Theorie der juristischen Person die Grundlage geschaffen. Es ist ein Vermögen, bei dem die Gemeinschaft, der dieses Vermögen zugute kommen soll, Rechtssubjekt ist. Die Verwaltung und Verfügung ist in die Hände der Verwaltungsorgane der juristischen Person gelegt, aber immer für die Zwecke der juristischen Person. Zu demselben Ergebnisse kommt ja auch das englische Recht, wenn auch auf anderem Wege. Abgesehen von den wenigen Körperschaften, für die die juristische Persönlichkeit nach Herkommen oder kraft gesetzlichen Privileges feststeht, ist in England fast alles, was bei uns juristische Person ist, trust: ein Ausdruck, der uns heute sehr geläufig ist, aber bloß zur Bezeichnung einer einzigen bestimmten Art von Trust, der großen Unternehmerverbände. Bei einem trust ist die Verfügung und Verwaltung eines Vermögens, das einer oder mehreren Personen oder sonst einer Gemeinschaft, etwa einem Vereine, gehört, Treuhändern übergeben: diese sind aber durch die Zweckbestimmung, die den Trust geschaffen hatte, so gebunden, daß sie nur im Sinne dieser Zweckbestimmung darüber verfügen und es nur in diesem Sinne verwenden dürfen. Damit wird offenbar im wesentlichen dasselbe erreicht, wie bei uns mit den juristischen Personen. 6. Und nun komme ich auf eine Frage, die von ganz außerordentlicher Bedeutung. ist. Die Rechtsprechung, die ja ziemlich vollständig im Banne der Fiktionstheorie steht, zieht aus der Fiktion die unzulässige Folgerung, daß die juristische Person durch ihre dazu gehörigen Organe über das Vermögen mit derselben Freiheit verfügt wie eine einzelne Person. Wenn also eine Aktiengesellschaft durch ihren Vorstand oder durch ihre Generalversammlung beschließt, was immer mit dem Vermögen anzufangen, so soll das für die ganze Gesellschaft verbindlich sein. Das kann aber nicht richtig sein, da es sich eben um ein fremdes Vermögen handelt. Die wirklichen Rechtssubjekte sind nicht der Vorstand und die Generalversammlung, sondern die Gesamtheit der Aktionäre. Der Vorstand und die Generalversammlung sind nur mit der zweckentsprechenden Verwaltung des Vermögens betraut. Sie können es nur zweckentsprechend, aber nicht, wie die einzelnen Rechtssubjekte, auch zweckwidrig verwenden. Das wäre offenbar ebenso unzulässig wie etwa der Beschluß, das Vermögen zum Fenster hinauszuschmeißen. Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Folgerung in einem Falle auch wirklich gezogen; in der vielbesprochenen Entscheidung über den Kirchenbau der Gemeinden. Es ist vorgekommen, daß in Österreich ver-

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schiedene Gemeindevertretungen beschlossen haben, aus dem Gemeindevermögen Kirchen zu bauen oder Kirchenbauten zu unterstützen. Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Beschlüsse als unzulässig aufgehoben mit der Begründung, daß das Gemeindevermögen für bestimmte Zwecke bestehe, für Zwecke der katholischen Kirche aber nach dem Gesetze über die äußeren Verhältnisse der katholischen Kirche die katholischen Kirchengemeinden allein aufzukommen haben. Die politischen Gemeinden sind nicht berufen, ihr Vermögen für Kirchenzwecke zu verwenden. Der Zusammenhang der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes mit der hier vertretenen Auffassung ist klar. Wäre die Gemeinde ein Rechtssubjekt, ein Einzelner, so könnte man es ihr nicht verbieten wie einem Einzelnen, mit dem Vermögen was immer zu tun. Die Gemeinde ist aber die Organisation einer Gemeinschaft zu einem bestimmten Zweck. Ich möchte Sie hier erinnern an eine Sache, an der mein Kollege, der hier anwesende Professor Adler, einen rühmlichen Anteil genommen hat. Als die österreichische Kreditanstalt für Handel und Gewerbe in den 60iger Jahren gegründet wo~den ist, wurden einigen Aristokraten und Finanzmännern Gründerrechte zugesichert, d. h. das Recht auf den Bezug einer gewissen Zahl von Aktien zu einem bestimmten Preise; ein ungeheuer wertvolles Recht, denn sie konnten am selben Tage die Aktien um einen bedeutend höheren Preis an den Mann bringen. Dieses Recht ist, wie Adler mit Recht behauptet hat, bereits längst aufgezehrt gewesen, als vor einigen Jahren das Aktienkapital der Kreditanstalt erhöht worden ist. Die Gründer haben schon ihre Rechte ausgeübt und es war nicht der geringste Anlaß vorhanden, ihnen zum zweitenmale dieses Recht zu geben. Die Verwaltung der Kreditanstalt war anderer Ansicht, und die Generalversammlung hat dem zugestimmt, daß die Gründerrechte weiter bestehen bleiben. Adler hat diesen Beschluß angefochten, weil er nichts anderes gewesen ist, als eine Schenkung des Gesellschaftsvermögens. Das könnten allenfalls nur die sämtlichen Aktionäre als Subjekte dieses Vermögens, nicht aber ein bloßes Organ der Gesellschaft, und sei es auch die Generalversammlung, vornehmen. Dies ist die einzig richtige Auffassung, die aus dem Wesen der juristischen Person als eines Vermögens, das durch einen bestimmten Zweck gebunden ist, folgt. Der Oberste Gerichtshof hat allerdings jene Beschlüsse als zu recht bestehend anerkannt. Sie sehen wieder eine falsche Folgerung aus der an sich ganz harmlosen Lehre, daß eine juristische Person in einzelnen Richtungen so zu behandeln sei, wie eine einzelne Person. Der Oberste Gerichtshof hat dem Beschlusse der Generalversammlung, die nur ein Organ der wirklichen Rechtssubjekte, der Aktionäre ist, dieselbe Wirkung zuerkannt, wie einem Entschlusse des wirklichen Rechtssubjektes. Hätten nicht bloß die in der Generalversammlung ver-

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tretenen, sandern die wirklichen Rechtssubjekte, alsO' alle Personen, die in diesem Augenblick Aktionäre sind, einstimmig den Beschluß gefaßt, das Gesellschaftsvermögen an die Gründer zu verschenken, dann wäre dagegen allerdings nichts einzuwenden. 7. In dem Ausbau der Lehre und des Rechts nach dieser Richtung liegt eine ungemein wichtige, die eigentliche Aufgabe der Zukunft. Wenn die juristische Persan ihrer Aufgabe genügen sall, müssen wir dafür sargen, daß ihr Vermögen seinem Zweck nicht entfremdet wird. Es muß Gewähr gebaten werden, daß dieses Vermögen dem wirklichen Zwecke, für den es bestimmt warden ist, zugeführt wird. Wie 'dies zu erreichen sei, das könnte man sich in verschiedener Weise denken. Daß die Organe der Gesellschaft ihrer Aufgabe nach dieser Richtung sehr häufig gar nicht gewachsen sind, lehrt die tägliche Erfahrung. Das gilt zumal van der Generalversammlung, denn auch diese ist nicht die juristische Persan selbst, sandern blaß ein Organ der juristischen Persan, und überdies ein ganz besanders unfähiges Organ. Mit seltenen Ausnahmen weiß es der Varstand sO' einzurichten, daß die Generalversammlung zu allen Dingen "ja" sagt; und wenn ein Gegensatz zwischen den Bestrebungen des Varstandes und den wirklichen Interessen des tatsächlichen Rechtssubjektes, der Gesamtheit der Aktianäre varhanden ist, dann steht die Generalversammlung fast immer auf Seiten des Varstandes, nicht auf der der Aktianäre. Es würde gegen alle Erfahrung streiten, wenn man annehmen wallte, die Interessen der Gesamtheit der Angehörigen der juristischen Persan seien bei 'der Generalversammlung ader ähnlichen Veranstaltungen gut aufgehoben. Wir wissen aber, daß auch die Staatsaufsicht nicht viel hilft. Der einzige Weg, der, saviel ich sehe, wirklich zum Ziele führt, ist der, das Indivi'dualinteresse hervarzukehren. Den wirklichen Rechtssubjekten, diesen muß ein Einfluß auf die Geschäftsgebahrung gewährt werden, und dies geht nur durch einen möglichst feinen Ausbau des Grundsatzes der Sonderrechte. Dem Einzelnen muß die Möglichkeit gewährt werden, in Wirklichkeit sein Interesse innerhalb der juristischen Persan zu verfalgen. Hier wird wahl in der Regel die Ausgestaltung der gewöhnlichen privatrechtlichen Leistungsklage oder Anerkennungsklage nach dieser Richtung genügen; daneben könnte man nach an ein der römischen actio popularis nachgebildetes Rechtsmittel denken. Hier liegt aber wieder unverkennbar eine graße Schwierigkeit. Wenn wir hierbei zu weit gehen, sO' legen wir den ganzen Organismus lahm. Wenn wir aber nichts machen, sO' öffnen wir jedem Schwindel das Tar. Es muß alsO' ein Mittelweg gesucht werden; und das ist die graße Aufgabe der Zukunft, van der ich saeben gesprachen habe. Aber auch im Staate und in der Gemeinde wird eine wirklich gerechte Wahrung des allgemeinen Wohles erst möglich sein,

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wenn jedem Einzelnen Rechtsmittel in die Hände gegeben werden, wodurch er sein Interesse innerhalb der Gemeinschaft verfolgen kann. Bei den Gemeinschaften öffentlichen Rechts, bei Staat, Land, Gemeinde, liegt die Sache allerdings insofern etwas anders, als ihre Organe häufig daneben auch gesetzgebende oder wenigstens eine der gesetzgebenden ähnliche Gewalt haben. Gegen Verfügungen und Beschlüsse, die Gesetzeskraft haben, den Rechtsweg einzuräumen, ist auch nicht unmöglich: so hat der Supreme Court in den Vereinigten Staaten verfassungsmäßig das Recht, ein Gesetz, das Sonderrecht verletzt, es mag von der Legislative eines einzelnen Staates oder sogar vom Kongreß ausgehen, in einem von dem Beteiligten geführten Rechtsstreit für ungültig zu erklären. Aber es ist klar, daß die Sache hier doch anders liegt als bei den Organen anderer juristischer Personen. Nach dieser Richtung ist unser heutiges Recht ganz besonders im Argen. Die Interessen, die dem Einzelnen innerhalb der juristischen Person zustehen, sind vom Rechte, wie Sie sich im Staate, in der Gemeinde, in den Vereinen überzeugen können, so gut wie gar nicht gewahrt. Würde etwa der Gemeinderat in formell unanfechtbarer Weise den Beschluß fassen, den Stadtpark, der bisher öffentlich war, zu schließen und ihn dem Bürgermeister für seine Privatzwecke einzuräumen, den einzelnen Bürgern, und wären ihre Rechte auf Benützung des Stadtparks noch so gut begründet und verbrieft, stünde dagegen gar kein Rechtsmittel offen. In besonders krassen Fällen wird vielleicht die Aufsichtsbehörde einschreiten, aber in unzähligen Fällen, die weniger kraß sind, nichtsdestoweniger aber einen argen Eingriff in die Rechte der Angehörigen der juristischen Person bedeuten, bleibt es beim Beschlusse der Vertretung, einfach deswegen, weil dem Einzelnen keine Rechtsmittel dagegen zustehen. Wir sind eben heute kaum erst beim Begriffe des Sonderrechtes angelangt. Hoffentlich wird es dem kommenden Juristengeschlecht gelingen, auch dieser außerordentlich schwierigen Aufgabe mit der Zeit Herr zu werden.

10 Eugen Ehrlich

DIE NEUORDNUNG DER GERICHTSVERFASSUNG Zu den wertvollsten Ergebnissen, die die freirechtliche Bewegung bisher gezeitigt hat, gehört wohl die Einsicht in den innigen Zusammenhang zwischen der Art der richterlichen Rechtsfindung und der historisch gegebenen Stellung des Richters. Wir wissen heute, daß die Regeln über die Anwendung der Gesetze, die sich in den ersten Paragraphen der Lehr- und Handbücher finden und die man als ewige, über alle Anfechtung erhabene Wahrheiten zu betrachten gewohnt war, weiter nichts sind, als Ausfluß des Verhältnisses des Richters zur gesetzgebenden Gewalt, wie es sich im absoluten Polizeistaate des XVII. Jahrhunderts ausgebildet und ihn, wie so manches andere, was er schuf, viel zu lange überdauert hat. Es wird daher wohl auch gestattet sein, die Quellen der frei rechtlichen Bewegung tiefer zu suchen, als es gewöhnlich geschieht: es handelt sich nicht etwa um eine neue Lehre von der Anwendung des Rechts, es handelt sich um einen Ausdruck der vorläufig noch schwachen und unsicheren, aber allmählich immer mehr anschwellenden Strömung, daß die überkommene Stellung des Richters im gesellschaftlichen Körper den Bedürfnissen einer neuen Zeit, der Natur eines durchgreifend umgestalteten Staatswesens angepaßt werden muß. Solange der Richter das sein wird, was er heute ist, wird er im wesentlichen nach denselben Grundsätzen wie heute sein Amt ausüben, mag man auch in den Abschnitten von der Anwendung des Rechts oder von der Auslegung der Rechtssätze etwas anderes vortragen, und so lange wird daher auch der Erfolg der freirechtlichen Bewegung notwendig ein rein äußerlicher bleiben. Es muß also zunächst Klarheit darüber gewonnen werden, nach welchen Grundsätzen das Richteramt ausgestattet werden müßte, um dem Bedürfnis nach einer modernen Rechtspflege zu genügen. Ohne ein wenigstens in großen Zügen ausgeführtes Bild einer zu solchen Zielen hinstrebenden Gerichtsverfassung kann jedoch diese Frage nicht beantwortet werden. Bestimmte praktische Vorschläge müssen von einem gegebenen Zustande ausgehen und setzen dessen gen aue Kenntnis voraus. Es soll dabei in der Folge nur von Österreich die Rede sein, das einzige Land, dessen Justizverhältnisse mir genauer bekannt sind. Aber die österreichische Gerichtsverfassung, auf derselben historischen Grundlage aufgebaut wie die deutsche, zeigt mit ihr eine so nahe Verwandt-

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schaft, daß das meiste, was von ihr gesagt werden kann, wenigstens grundsätzlich auch für Deutschland passen dürfte, mit wenigen Ausnahmen übrigens wohl auch für Frankreich und Italienl . So ist die Frage, die seit Jahrzehnten bereits die öffentliche Meinung und Gesetzgebung Deutschlands beschäftigt, nun auch an Österreich herangetreten: die Überlastung der dritten Instanz. Die österreichische Regierung hat schon wiederholt im Reichsrate eine Vorlage eingebracht, die dem Übel steuern soll. Das Auskunftsmittel ist das schon von Deutschland her bekannte: die Revisionssumme soll erhöht, der Rekurs in einigen Fällen ausgeschlossen werden. Und doch hat kein geringerer als der erste Präsident des Obersten Gerichtshofes, Ignatz von Ruber, die Unzulänglichkeit dieses Mittels überzeugend dargelegt. In einem der Reform des Obersten Gerichtshofes gewidmeten Aufsatze weist er zunächst darauf hin, der eingeschlagene Weg sei unrichtig, denn sobald die Revision notwendig sei, müsse "ihre Notwendigkeit für jede Rechtsangelegenheit und für jede Rechtsfrage gelten", und es gehe nicht an, "Rechtsfragen von anscheinend niederem Belange davon auszuschließen"; der Weg sei aber auch unbrauchbar, denn es habe sich gezeigt, daß die Zahl der an die höchste Instanz ergriffenen Rechtsmittel mit I Zum besseren Verständnis bemerke ich, daß es in Österreich in der Justiz folgende Arten von ordentlichen Gerichten gibt: Bezirksgerichte, Kreisgerichte (in Landeshauptstädten Landesgerichte, deren Präsidenten höheren Rang haben) und ihnen gleichgestellt Handels- und Berggerichte, Oberlandesgerichte und den Obersten Gerichtshof in Wien. Die Bezirksgerichte sind in Zivilsachen in erster Instanz zuständig: in Bagatellsachen bis 100 K., sonst bis 1000 K. Wert; in Strafsachen entscheiden sie in Übertretungsfällen. Die Kreis- und Landesgerichte sind Berufungsgerichte gegen bezirksgerichtliche Urteile in bürgerlichen und Strafsachen (in Bagatellsachen ist die Berufung in letzter Instanz nur bei Nichtigkeit zulässig); im übrigen sind sie erste Instanz in bürgerlichen Sachen über 1000 K., in Strafsachen bei Verbrechen und Vergehen, bei schweren Verbrechen, bei politischen Verbrechen und Vergehen und solchen durch die Presse mit einer Geschworenenbank. Der Rechtszug gegen kreis- und landesgerichtliche Urteile in bürgerlichen Sachen geht in zweiter Instanz an die Oberlandesgerichte, in dritter Instanz immer an den Obersten Gerichtshof; in Strafsachen gibt es bei Verbrechen und Vergehen eine Berufung wider das Strafausmaß an das Oberlandesgericht, sonst nur eine Nichtigkeitsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof. Die Richter sind in Rangklassen eingeteilt, in die sie befördert werden müssen. In der neunten Rangklasse sind die Richter, in der achten die Bezirksrichter, in der siebenten die Landesgerichtsräte, in der sechsten die Oberlandesgerichtsräte, in der fünften die Hofräte. In der ersten Instanz wirken als Stimmführer in der Regel die Landesgerichtsräte und Bezirksrichter, zuweilen auch Richter und Oberlandesgerichtsräte, in der zweiten Instanz Oberlandesgerichtsräte, beim Obersten Gerichtshof Hofräte. Der Vorstand des Bezirksgerichts ist Bezirksrichter oder Landesgerichtsrat. Bei den Bezirksgerichten wird durchwegs von Einzelrichtern Recht gesprochen; bei den Landesgerichten urteilen in Zivilsachen drei Richter, in Strafsachen vier Richter, mit Geschworenen drei Richter, bei Oberlandesgerichten fünf Richter, beim Obersten Gerichtshof ebenfalls fünf, bei Rekursen drei (Originaltext von Ehrlich berichtigt auf Sp. 563).

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jedem Jahre steige: "Die Folge wäre dann, daß man nach vielleicht wenigen Jahren abermals vor derselben Frage stünde, wie dies ja im Nachbarreiche erlebt wurde. Und wo wäre da das Ende zu erreichen?" In der Tat, sogar die erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage müssen kleinlaut zugeben, daß in Deutschland die Novelle vom Jahre 1905, die die Revisionssumme von 1500 Mk. auf 2500 Mk. erhöht hat, gar keinen Erfolg hatte. "Die Belastung hat sich bereits über das Maß der früheren erhoben." Aber der Vorschlag Rubers, der von der Kommission des Herrenhauses für Justizgegenstände aufgenommen worden ist, die Revision in geringfügigeren Angelegenheiten an die Oberlandesgerichte zu überweisen, ist nicht weniger bedenklich. Wenn die Arbeit einmal getan werden muß, warum soll sie bei den neun Oberlandesgerichten leichter getan werden als in Wien? Und wenn, wie Ruber annimmt, die Richter bei den Oberlandesgerichten ihre Sache nicht schlechter machen als die beim Obersten Gerichtshofe, warum sollen sie dann die Arbeit nicht als Hofräte des Obersten Gerichtshofes machen? Der Vorschlag läuft offenbar darauf hinaus, die Richter der zweiten Instanz unter die Richter der dritten Instanz aufzunehmen, ohne ihnen Rang und Gehalt der Richter dritter Instanz zu geben: eine Lösung, die fast so aussieht, als ob sie vom Finanzminister, nicht von einem hohen Justizbeamten erdacht wäre. Die sehr zweifelhaften Vorteile einer solchen Gestaltung sind jedenfalls recht teuer erkauft, schon durch die drohende Einbuße an Rechtseinheit. Durch die von Ruber vorgeschlagene, überaus schwierige und den Obersten Gerichtshof wieder sehr belastende Aufsicht über die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ließe sich die Rechtseinheit gewiß nicht wahren: denn nicht bloß auf die ganz äußerliche Einheitlichkeit der Rechtsgrundsätze kommt es an, sondern auch auf die Einheitlichkeit des Geistes, wie er sich nicht in letzter Linie aus dem amtlichen und gesellschaftlichen Verkehre, der fortwährenden Fühlung und den vielfachen persönlichen Anregungen der Richter untereinander ergibt. Erfreulich ist dabei nur, daß sowohl die Regierung als auch der Oberste Gerichtshof den Gedanken entschieden zurückweisen, der Schwierigkeit etwa durch eine Verdoppelung der Richterzahl Herr zu werden. Zwischen den Zeilen der erläuternden Bemerkungen schimmert der wahre Grund, für jeden deutlich lesbar, hindurch: man kann Richter für den Obersten Gerichtshof nicht aus dem Boden stampfen. Schon heute ist es gar nicht leicht, einigermaßen geeignete Persönlichkeiten zu finden, und es wurde über die Besetzun~ bereits so manches herbe Urteil gefällt, - sollte aber die Zahl der Hofräte ins Ungemessene steigen, dann drohen unserer Rechtspflege in der Tat unabsehbare Gefahren.

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Hier, an dieser Stelle, hört die Frage auf, eine Sonderfrage der höchsten Instanz zu sein, und wird zur Kernfrage der ganzen festländischen Organisation der Rechtspflege. Es besteht ein schwerer innerer Widerspruch zwischen der Gestaltung des Richteramts auf dem europäischen Festlande, zumal in Österreich und Deutschland, und der immer wachsenden Erkenntnis der Größe und Wichtigkeit seiner Sendung. Wir können den Richter als Menschen, Charakter und Juristen gar nicht hoch genug stellen. Wir legen ihm eine der schwierigsten, verantwortungsvollsten, großartigsten Aufgaben in die Hand, die an einen Menschen überhaupt herantreten können: die Aufgabe, Richter über andere zu sein. Wer ihr in vollem Umfange gerecht werden soll, muß wohl über dem Durchschnitt der anderen stehen. Der Richter soll ein hervorragender Mann sein. Und nun soll es in Deutschland fast neuntausend, in Österreich, dem um vieles volks- und verkehrsärmeren, über fünftausend Richter geben. Tausende hervorragender Männer, die sich überdies auch für 'das Richteramt eignen würden, gibt es bei keinem Volke der Welt. Hervorragende Männer sind, wie alles Große hienieden, selten. Tiefe Weltund Menschenkenntnis, gründliches juristisches Wissen, Größe der Gesinnung, Unabhängigkeit des Geistes und Reife des Urteiles, die den Richter auszeichnen sollen, sind. eine so seltene Vereinigung von Eigenschaften, daß sie sich nur bei wenigen auserlesenen Naturen finden können. Die Vorstellung von der Größe und Heiligkeit des Richteramtes, die bei allen Völkern mit gesunder, bodenständiger Rechtsentwicklung herrscht, läßt sich daher durchaus nicht vereinigen mit der Tatsache, daß der Richter gegenwärtig auf dem europäischen Festlande fast wie eine Art Massenartikel betrachtet wird, den die juristischen Fakultäten in jeder gewünschten Menge zu liefern vermöchten. Auch das ist ein unseliges Erbstück des absoluten Polizeistaates, der, mit einer großen alten Überlieferung brechend, den Richter zuerst durch den staatlichen Beamten ersetzte, der in erster Linie nicht dazu da war, dem Rechte zu dienen, sondern ein gefügiges Werkzeug des staatlichen Willens sein sollte. Für diesen sehr bescheidenen Zweck dürfte er sich allerdings mit dem Mindestmaß an Eignung begnügen, das ein junger Mensch, der eben die Schule verläßt, durch die Prüfungszeugnisse zu belegen vermag. Unter dem frischen Eindrucke der namentlich in den politischen Tendenzprozessen der Reaktionszeit zuweilen in erschreckender Weise hervortretenden Erbärmlichkeit des ganz in die Beamtendisziplin eingeschnürten "Richtertums" haben die liberalen Parteien, wo sie Einfluß gewannen, die Unabhängigkeit und UnabsetZ'barkeit des Richters gesetzlich gewährleistet: ein kläglicher, in Eile hergestellter Notbau, der längst

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schon etwa im Sinne der wohldurchdachten Vorschläge Schrutkas in seiner Rektoratsrede2 hätte ergänzt, erweitert und befestigt werden sollen. Die Welt ist den jungen Richtervereinigungen in Österreich und Deutschland zum größten Danke verpflichtet, daß sie, ganz erfüllt von ihrer Aufgabe, dem Richter seine ursprüngliche Stellung, die durch Gesetze nicht gegeben, sondern bestenfalls nur verbürgt werden kann, aus eigener Kraft wiedererobern wollen. Der vom Standes- und Rechtsausschusse der Vereinigung österreichischer Richter ausgearbeitete Entwurf einer Dienstespragmatik für Richter sowie ein lehrreicher Aufsatz darüber von Putzker ist in den Mitteilungen der Vereinigung österreichischer Richter vom 1. Juli 1910 enthalten. Soweit ein Urteil nach dem flüchtigen Einblicke möglich ist, ist die Dienstespragmatik eine sehr bedeutende Arbeit, und ihre Annahme würde gegenüber dem heutigen Zustand einen großen Fortschritt bedeuten. Sehr bemerkenswerte Vorschläge hat der zweite deutsche Richtertag in Dresden im September 1911 erstattet. Auf beide wird, soweit sie in den Rahmen dieser Arbeit passen, in der Folge Bezug genommen. Nur ein einziger Staat Europas hat dem Richteramt seine alte Würde über alle Klippen hinweg bis auf unsere Zeit gewahrt: England, dessen Gerichtsverfassung in Schottland, Irland, in den sonstigen britischen Besitzungen und Kolonien und in den Vereinigten Staaten von Amerika nachgebildet worden ist. Die englische Gerichtsverfassung zeichnet sich vor allem durch eine außerordentliche Zentralisation aus. Die Gerichtshöfe in London sind sachlich und örtlich für ganz England und Wales, in bürgerlichen und Strafsachen in einem gewissen Sinne sogar für jeden Engländer, wo immer er auch sein möge, in erster Instanz zuständig. Außerhalb Londons gibt es nur Grafschaftsgerichte: es sind Bagatell gerichte im allgemeinen für Sachen bis 100 Pfd. Ster!. Um das Recht, wie die Engländer sagen, "vor Jedermanns Tor zu bringen", bereisen die Richter der Londoner Gerichtshöfe das ganze Land, die Grafschaftsrichter ihren Bezirk, und halten dabei Gerichtstag. In zweiter Instanz urteilen stets Gerichtshöfe in London in verschiedener Zusammensetzung: die Richter sind zum Teil dieselben wie beim Gerichtshof erster Instanz. Von diesen geht in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten noch der Rechtszug an das Haus der Lords, übrigens formell und materiell sehr beschränkt. Der englische Richter, sowohl bei den in London bestehenden, für ganz England und Wales sachlich zuständigen Gerichtshöfen erster und zweiter Instanz als auch bei den über das ganze Land zerstreuten Grafschaftsgerichten, ist immer ein gewesener Barrister (Rechtsanwalt erster Ordnung), ein Mann in reifen Jahren, der es in seinem früheren Berufe 2

über die Stellung des Richters, Wien 1900/01.

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zu einem weitschallenden Namen, 'bedeutendem Ansehen unter seinen Berufsgenossen und selbst nach englischen Begriffen reichen Einkommen gebracht hatte; er ist mit ungemein großen amtlichen Machtbefugnissen und mit einem hohen Gehalte ausgestattet (5000 - 10000 Pfd. Sterl. bei den Gerichtshöfen in London, 1500 Pfd. Sterl. bei den Grafschaftsgerichten). Was die gesellschaftliche Stellung betrifft, so gehören die Richter zu den Ersten des Reiches: die Richter bei den Gerichtshöfen in London erhalten herkömmlicherweise schon bei ihrer Ernennung den erblichen Adel; viele werden später ins Oberhaus berufen, werden also Lords. Die Beförderung im Dienste spielt dagegen eine geringe Rolle: die Zahl der Richter höheren Ranges ist nicht groß und die Ernennung erfolgt manchmal auch sofort im höheren Rang. Die Berufung eines Grafschaftsrichters zu einem Richter der Londoner Gerichtshöfe ist zwar nicht ausgeschlossen, kommt jedoch tatsächlich nicht vor. Dieser Gerichtsverfassung entspricht die außerordentlich geringe Zahl der Richter. In ganz England mit Wales (also mit Ausschluß von Schottland, Irland und den Kolonien) wird in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nur von 93 Richtern Recht gesprochen, darunter 35 Richter bei den Gerichtshöfen in London, die auch den Geschworenengerichten in Strafsachen vorsitzen, und 58 Grafschaftsrichtern, ausschließlich für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten. Außerdem urteilen noch Friedensrichter, deren Zahl nicht gen au bestimmt werden kann, jedoch nur in Polizeistrafsachen. Wie es den Engländern möglich ist, mit so wenigen Richtern auszukommen, diese Frage hat in Deutschland in der letzten Zeit eine reiche Literatur hervorgerufen. Gewiß genügen sie längst nicht mehr; aber gegenüber den Tausenden festländischer Richter kommt es darauf in der Tat gar nicht an, ob es geraten wäre, die Zahl der Richter in England um fünf oder zehn - von mehr ist nicht die Rede - zu erhöhen. Des Rätsels Lösung hängt so sehr mit der ganzen englischen Rechtsund Gerichtsverfassung zusammen, daß sie hier nur angedeutet werden kann. Es fällt zweifellos stark ins Gewicht, daß in erster Instanz durchwegs Einzelrichter urteilen, allerdings - auch in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten auf Parteiantrag - meist mit Geschworenen; nur in der zweiten Instanz gibt es Zweier- und Dreierkollegien, während im Haus der Lords, das dann ein Gericht, nicht eine gesetzgebende Versammlung ist, nicht etwa alle Lords, sondern nur die ins Oberhaus berufenen Richter der Londoner Gerichtshöfe Stimmführer sind; außerdem gibt es vier Richter, die eigens für das Oberhaus ernannt sind. Ferner ist der Instanzenzug überhaupt sehr beschränkt: ein Rechtsmittel in Strafsachen gegen ein Urteil der Geschworenengerichte gibt es erst in der letzten Zeit. Es wird aber auch selbst von den zulässigen Rechtsmitteln unver-

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gleichlich weniger Gebrauch gemacht als auf dem Festlande. Beide Erscheinungen erklären sich zur Genüge aus dem Ansehen, das der Richter in England genießt; es ist nicht notwendig, die Autorität des Gerichtes durch eine Vielheit der Stimmführer zu mehren, und das Gewicht des Spruches der ersten Instanz ist so groß, daß sich die Partei dabei in der Regel beruhigt. Andererseits ist der Rechtszug beschränkt und zum Teile (an das Oberhaus) auch sehr kostspielig. Entscheidend ist jedoch das ungeschriebene Grundgesetz der englischen Rechtspflege: mit der teuren und wertvollen Kraft des Richters nach Möglichkeit zu sparen. Der Richter ist für die Arbeit da, für die man eben eines hervorragenden Mannes bedarf, alles andere, was jeder Durchschnittsjurist ebensogut leisten könnte, ist auf Hilfspersonen abgewälzt. Ein kunstvoller Mechanismus wirkt wie ein Filter, der alles abhält, was den Richter nicht erreichen soll. An Gerichten in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten ist zunächst ein Stab von juristisch gebildeten Beamten angestellt, die bei den Gerichtshöfen in London master, bei den Grafschaftsgerichten registrar heißen; die Beamten der Billigkeitsabteilung des Londoner Gerichtshofes erster Instanz, die den masters entsprechen, heißen chief clercs und haben eine von den masters etwas verschiedene Stellung, doch kommt es hier nicht darauf an. Der Richter kann aber auch andere Beamte, ja sogar Personen außerhalb des Beamtenkörpers der Gerichte zu seiner Unterstützung heranziehen (taxing masters, referees, exarniners, commissioners for oaths). Diese haben zum Teile dieselben Aufgaben wie die masters, ersetzen sie insbesondere, wenn es sich um Vornahmen außerhalb Londons handelt oder wenn die masters mit Arbeit überhäuft sind. Will man nun die Zweiteilung richtig würdigen, so muß man sich vor allem hüten, die Hilfskräfte des Richters etwa mit unseren Kanzleibeamten zu vergleichen. Die ihnen zugewiesenen Aufgaben sind, wie sofort dargelegt werden soll, die eines Richters im festländischen Sinne, aber auch ihre Stellung und Bildung ist die eines festländischen Richters, ebenso die Gewähr, die sie den Parteien geben. Das gilt vor allen von den Masters 'der Londoner Gerichtshöfe. Ihr Gehalt beträgt 1500 PM. Sterl. jährlich, also fast das dreifache eines österreich ischen Hofrats. Sie müssen fünf Jahre vor ihrer Ernennung Rechtsanwälte erster oder zweiter Ordnung (Barristers ader Sollicitors) gewesen sein, mit seltenen Ausnahmen werden dazu Barristers ernannt. Sie gehören also demselben Stande an wie die Richter, haben auch dieselbe juristische Bildung. Freilich wird sich nur ein Barrister mit bescheidenem Einkommen und ohne bedeutenden Ruf darum bewerben, zum Master ernannt zu werden. Aber der einmal erlangte Grad eines Barristers wird nicht mehr verloren; daher bleiben Richter und Master auch nach ihrer

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Ernennung Barrister, sie sind Standesgenossen. Endlich ist der Master ebenso wie der Richter unabsetzbar: er wird für Lebenszeit, oder wie die technische Formel lautet, during good behaviour berufen. Die Stellung der anderen genannten beamteten Hilfskräfte ist nur wenig von der des Masters verschieden. Ebenso unrichtig wäre es jedoch, wenn man im Master nichts sehen wollte, als einen schlechter bezahlten Richter, wenn man etwa ernstlich annehmen wollte, daß man in Englartd "bloß mit dem Namen, Rang und Gehalt, aber nicht mit der Stellung ,des Richters spare". Zwischen Master und Richter gähnt ein Abgrund: wer diesen nicht sieht, der hat eben kein Verständnis dafür, daß sich im englischen Richter, und nur im Richter, nicht auch im Master, heute noch die ursprüngliche Sendung des Richters verkörpert. Der Master ist allerdings einem hochgestellten Richter im festländischen Sinne, etwa einem Richter der VI. oder V. Rangklasse in Österreich zu vergleichen. Ist aber dieser Vergleich richtig, dann muß man auch sagen, daß es auf dem Festland überhaupt nichts gibt, womit der englische Judge verglichen werden könnte, weil für die Aufgaben, die er dort in Staat und Gesellschaft zu erfüllen hat, auf dem Festlande jedes Organ fehlt, oder besser gesagt: im Laufe der letzten vier Jahrhunderte abhanden gekommen ist. Man möge nur nicht immer den einzelnen Rechtsstreit ins Auge fassen; es kommt nicht darauf an, was die Entscheidung für die Parteien im Rechtsstreite bedeutet, sondern auf ihr Gewicht für die Allgemeinheit. Es ist bezeichnend, daß dieser Punkt in der Literatur über die englische Gerichtsverfassung, die in den letzten Jahren in Deutschland so üppig in die Halme schießt, regelmäßig übersehen wird; nur in der Schrift VOn Mendelssohn Bartholdy: Das Imperium des Richters, wurde diese Seite der Frage richtig und eingehend gewürdigt. Diese Zweiteilung ist es also vor allem, die es den Engländern ermöglicht, dem eigentlichen Richter eine so hohe Stellung einzuräumen. Sie hängt mit der sonstigen Gerichtsverfassung nicht zusammen, auch nicht, wie man oft behauptet, damit, daß die Gerichtshöfe der ersten Instanz für ganz England sich in London befinden und die Richter VOn hier in die Bezirke entsendet werden, wo sie als Reiserichter Recht sprechen. In den englischen Kolonien und in den Vereinigten Staaten ist 'die Häufung der Gerichte in einem Mittelpunkte und der Reiserichter bereits ganz oder wenigstens zum Teil verschwunden, trotzdem ist die Stellung des Richters und sein Verhältnis zu den Hilfskräften im wesentlichen überall nach englischer Art geordnet. Auf die englische Gerichtsverfassung als die einzige, deren Grundsätze geeignet wären, einen großen Zug in die Rechtspflege zu bringen, habe ich zuerst in meiner im Jahre 1903 erschienenen Schrift "Freie

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Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft" hingewiesen. Schon damals habe ich hervorgehoben, daß auch die festländische Rechtspflege nach diesem Muster gestaltet werden sollte: "Die Muster sin/d wohl eher in Rom oder in England zu suchen, in Organisationen, die im Richteramte die höchste geistige Auslese versammeln, die es den bedeutendsten Männern der Nation als höchstes Ziel und würdigen Abschluß ihres Strebens erscheinen lassen. Die Namen der großen englischen Richter, eines Lord Mansfield, Lord Eldon, Lord Bowen oder Sir George J essel sind in England so bekannt, wie auf dem Festlande die eines bahnbrechenden Künstlers oder Gelehrten. Wenn auf dem Festlande Männer von diesem Range Richterstühle einnehmen, weiß davon höchstens der engste Kreis der Eingeweihten etwas zu erzählen und ihr Ruhm stirbt mit denen, die sie wirken gesehen haben." Am 30. März 1906 hielt im preußischen Herrenhause Adickes, Oberbürgermeister von Frankfurt a. M., eine seither berühmt gewordene Rede, worin er aus denselben Gründen, zum Teile mit fast denselben Worten, darauf hingewiesen hatte, daß es notwendig sei, die deutsche Rechtspflege unter Verwertung der Grundsätze der englischen neu zu gestalten. Er hat diesen Vorwurf in einer Reihe von Schriften näher ausgeführt und damit in Deutschland eine reiche Literatur angeregt, die sich mit der englischen Rechtspflege und Gerichtsverfassung und den Lehren, die daraus für die heimatliche zu ziehen wären, befaßt. So sehr ich mit Adickes im allgemeinen übereinstimme, so kann ich nicht umhin, auf diese Fragen hier einzugehen: nicht nur wegen der vielen Verschiedenheiten im einzelnen, sondern auch, weil ich doch nicht ganz darauf verzichten möchte, die von mir ausgesprochenen Gedanken auch selbständig zu verwerten. Klar ist es wohl, daß die scharfe Trennung von Richter und Hilfsrichter, wie sie in England in der Spaltung des Richteramtes in das eines Judge und Master Ausdruck findet, auch bei uns vor allem in der ersten Instanz fruchtbar werden könnte. Allerdings würde das hier auf Gerichtsverfassung und -verfahren einigermaßen zurückwirken. Das zweiteilige Richteramt führt von selbst zur Zweiteilung des Verfahrens und der Gerichtsverfassung. In der Tat, beides findet sich nicht nur bei den Engländern, sondern auch bei dem zweiten klassischen Rechtsvolk der Welt, den Römern. Der englische Prozeß zerfällt, entsprechend der Zweiteilung des Richteramts, in ein geheimes Vorverfahren vor einer richterlichen Hilfskraft (in chambers) und in eine öffentliche Hauptverhandlung vor dem Richter. Im vorbereitenden Verfahren werden von dem Hilfsrichter vor allem die Anerkennungs- und Versäumnisurteile sowie die ungemein wichtigen und häufigen Urteile nach Order XIV (im wesentlichen über richtige, unbestreitbare Ansprüche) geschöpft. Ist der Fall für eine solche

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Erledigung nicht geeignet, so ordnet der Hilfsrichter eine Tagfahrt an. Bei dieser bringen die Parteien zwangslos und formlos alles vor, was sie zur Begründung ihrer Ansprüche anzuführen haben, geben die Beweise an, zeigen allenfalls auch die Urkunden vor, auf die sie sich berufen3• Der Leiter der Verhandlung, dem selbstverständlich auch das Hecht zusteht,an die Parteien Fragen zu steHen, hat sohin darüber Beschluß zu fassen, was vor der Hauptverhandlung noch vorgenommen werden muß, damit diese rasch und anstandslos vor sich gehen könne. Dieser Beschluß ist eine Art Zivilprozeßordnung für den einzelnen Fall, dessen besonderen Bedürfnissen angepaßt. Er soll etwa darüber entscheiden, ob dem Beklagten die Klagebeantwortung aufzutragen sei, ob noch vor der Hauptverhandlung ein Augenschein vorzunehmen, ob ein Zeuge, der bei der Hauptverhandlung nicht werde erscheinen können, zuvor - allenfalls durch einen ersuchten Richter - werde vernommen werden müssen4 • Da so das ganze vorbereitende Verfahren bis zur Verhandlung auf die Hilfskräfte überwälzt ist, so bleibt dem Richter fast ausschließlich 3 Nur ausnahmsweise wird Augenschein vorgenommen, wenn er bei der Verhandlung nicht möglich sein sollte, und auch Zeugen verhört, wenn sie zur Verhandlung nicht würden kommen können; beides sehr seltene Fälle. Dasselbe soll auch in dem von mir vorgeschlagenen Vorverfahren gelten (Ergänzung des Originals durch Ehrlich auf Sp. 563). 4 Ein solcher Beschluß heißt: Order for directions. Diese wird (in der Regel) vom Kläger beantragt, hierauf ergeht vom Master folgende Vorladung: (Nach dem englischen Formular, das Geschriebene ist hier kursiv): Alle Parteien mögen erscheinen vor dem Master A. in der Central Office, Royal Courts of Justice, Strand, London am Tage ... 12 Uhr, zur Tagfahrt auf Antrag des Klägers, um zu zeigen, warum in dieser Sache nicht Order for directions erfolgen soll wie folgt: 1. Schriftsätze (werden gewechselt). 2. Einzelheiten (Kläger hat Einzelheiten anzugeben über ... bei sonstigem Ruhen des Verfahrens bis die Einzelheiten angegeben werden [oder] bei sonstigem Ausschluß vom Beweise darüber bei der Verhandlung). 3. Zugeständnisse (von Tatsachen). 4. Urkundenverzeichnis. (Der Geklagte wird in zehn Tagen ein Affidavit über die Urkunden einreichen.) 5. Fragestücke. (Erlaubnis, dem Geklagten Fragestücke vorzulegen. Antworten sind binnen zehn Tagen einzureichen.) 6. Urkundeneinsicht. 7. Augenschein vorzunehmen. 8. Auswärtige Zeugenvernehmung. 9. Hauptverhandlung, Ort, Middlesex. 10. Art der Verhandlung (Special Jury). 11. Andere Zwischenfälle. Datum. über diesen Vorschlag des Masters wird nun von den Parteien bei der Tagfahrt verhandelt. Auf Antrag eines der beiden Teile können die directions noch nachträglich vom Master durch Beschluß geändert oder ergänzt werden.

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die Aufgabe, die Hauptverhandlung zu leiten und das Urteil zu fällen. Der Richter kann einer der genannten Hilfskräfte unter Umständen auch eine bestimmte für einen Rechtsstreit wichtige Frage und einen ganzen Rechtsstreit zur Untersuchung und Erledigung überweisen. Dieser erstattet dann ein Gutachten, an das der Richter allerdings nicht gebunden ist, das er aber, wenn er es 'billigt, seinem Urteil ebenso wie den Wahrspruch der Geschworenen zugrunde legt. Endlich werden regelmäßig diese Hilfskräfte mit allen Kostenbestimmungen, Berechnungen, Feststellungen mehr technischer und mechanischer Art betraut. Von der Entscheidung der Hilfspersonen steht iden Parteien zumeist ein Rekurs an den Richter zu. In der Hauptverhandlung finden Parteienvorträge statt, Zeugen werden vernommen und das Urteil samt Begründung, zu der der Richter übrigens nicht verpflichtet ist, wird mündlich gefällt. Trotz der Wichtigkeit der Urteilsgründe, die ja präjudiziell wirken, werden diese doch nicht von Amts wegen ausgefertigt, sondern von den Berichterstattern der juristischen Zeitschriften, die Privatunternehmen sind, aufgenommen und sohin veröffentlicht. Die Zwangsvollstreckung ist überwiegend Sache der Sheriffs, unter gelegentlicher Mitwirkung des Masters oder Registrars; der Richter hat damit kaum etwas zu tun. Auch das römische Verfahren zerfiel bekanntlich in zwei Abschnitte, von denen sich der erste vor einem hochgestellten Beamten der Republik, in der Stadt Rom dem Prätor, der zweite vor einem Geschworenen oder vor mehreren Geschworenen abspielte. Der Prätor hatte ganz außerordentliche lVIachtbefugnisse und Machtmittel. Er durfte nach freiem Ermessen die Klage, auch wenn sie rechtlich begründet war, zur Verhandlung gar nicht zulassen und eine Klage berücksichtigen, für die sich im Rechte keine Begründung fand. SobaM die Verhandlung vor dem Prätor soweit gediehen war ,daß der Streitpunkt dadurch geklärt wurde, verwies er den Rechtsstreit zur Entscheidung der noch streitigen Rechts- und Tatfrage vor den Geschworenen, den er jedoch gleichzeitig anwies, wie er das Klagebegehren juristisch zu behandeln, inwieweit er die Einwendungen des Beklagten zu berücksichtigen habe. Der Geschworene war daher nur in der Beweisfrage einigermaßen frei, in der Rechtsfrage im wesentlichen an die Weisung des Prätors gebunden. Ließ sich der Anspruch des Klägers auf das geltende Recht gar nicht gründen, so konnte der Prätor nichtsdestoweniger kraft seiner amtlichen Machtvollkommenheit einen Geschworenen ernennen und ihn anweisen, den Geklagten zu verurteilen, sobald es sich zeigen sollte, daß gewisse Tatsachen richtig sind. Hier hatte der Geschworene nur die Tatfrage zu prüfen, eine Rechtsfrage gab es überhaupt nicht. So war der Prätor nicht etwa bloß Anwender, sondern auch FortbiIdner des Rechtes.

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Der Grundgedanke dieser Ordnung ist klar. Über alles grundsätzlich Bedeutungsvolle soll der Prätor entscheiden; nur über die Zufälligkeiten des Rechtsstreites wird dem Geschworenen die Entscheidung überlassen. Der Nachdruck liegt also hier auf dem ersten Teil des Verfahrens. Das ist jedoch nicht die Hauptsache dabei. Worauf es vor allem ankommt, das ist die Rolle, die im römischen Prozeß die eigentlichen Herren des römischen Rechtes, die großen römischen Juristen, die prudentes, iuris conditores, spielten. Trotz der vielen Arbeit, die seit einem Jahrhundert auf den römischen Zivilprozeß gewendet wird, ist gerade dieser Punkt noch sehr wenig geklärt; einige Fragen habe ich in meiner Schrift: Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen keineswegs erschöpfend erörtert. Obwohl die Juristen sich geflissentlich stets im Hintergrunde hielten, eine rechtlich bestimmte Stellung im Verfahren weder besaßen noch auch anstrebten, so hatten sie doch einen sehr maßgebenden Einfluß auf allen Stufen: als Berater der Parteien, des Prätors, des Geschworenen. Sie waren wohl, wenigstens in irgendwie zweifelhaften Fällen, in der Regel die Verfasser der Weisung, die der Prätor dem Geschworenen erteilte. Nur so erklärt es sich, daß das römische Recht, das im wesentlichen ein Werk der hervorragenden Juristen war, bis heute als Muster formaler, zum Teil auch materieller Vollendung gelten kann. Die römische Ordnung hängt jedoch offenbar so sehr mit den Eigentümlichkeiten der römischen Rechtsentwicklung zusammen, daß sie kaum je auf einen anderen Boden wird verpflanzt werden können. Es verbleibt daher nur das englische Muster, das im zweiteiligen Verfahren den Nachdruck auf den zweiten Abschnitt legt. Der erste Abschnitt soll die Hauptverhandlung so weit vorbereiten, daß sich diese auf die wesentlichen streitigen Rechts- und Tatfragen beschränkt, vor den Augen des urteilschöpfenden Richters abwickle. Dieser Grundgedanke ist im Keime auch in der österreichischen Zivilprozeßordnung enthalten und findet Ausdruck in den Bestimmungen über die erste Tagsatzung und über das vorbereitende Verfahren. Von diesen Einrichtungen erreicht aber die erste nur sehr unvollkommen, die zweite so gut wie gar nicht ihren Zweck. Die erste Tagsatzung soll die Sachen ausscheiden, bei denen es zu einer Streitverhandlung nicht kommen wird, weil sie durch Zurücknahme der Klage, durch Säumnis, Anerkenntnis oder Vergleich abgetan werden; sie dient ferner, um gewisse prozessuale Fragen, insbesondere prozeßhindernde Einreden zu erledigen. Das wird j-edoch tatsächlich nur in bezug auf Zurücknahme der Klage und Säumnis erreicht, aber auch dafür ist das Mittel zu umständlich und zu kostspielig. Vielmehr würde es genügen, nach englischem Muster das Verfahren überhaupt erst mit der Einlassung des Geklagten, die dieser binnen einer kurzen Frist mit

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Eingabe oder mündlich vor Gericht zu erklären hätte, beginnen zu la~ sen. Hat der Geklagte die Einlassung nicht erklärt, dann kann der Kläger mit Eingabe das Säumnisurteil beantragen, das ohne Tagfahrt zu fällen wäre. Diese Ordnung ist offenbar sehr vorteilhaft für den Kläger, denn sie erspart ihm für den Fall der Säumnis eine Tagfahrt; sie ist vorteilhaft für den Geklagten, denn sie gibt ihm zur Einlassung eine Frist anstatt einer Tagfahrt mit allen ihren Gefahren und Kosten; sie ist vorteilhaft für das Gericht: denn wenn ihm auch die erste Tagsatzung im Falle des Säumnisses nicht allzu viel Mühe macht, so ist doch auch diese ganz überflüssig. Dagegen ist die erste Tagsatzung ein sehr mangelhaftes Mittel, um Anerkenntnisse und Vergleiche herbeizuführen. Es ist wenig damit gewonnen, daß die Parteien einander vor Gericht sehen; von erheblichem Nutzen wäre das, wenn ihnen dabei Gelegenheit geboten wäre, sich, wie das im englischen Vorverfahren der Fall ist, über ihre Sache eingehend unter dem Vorsitz des Richters auszusprechen, ihren Standpunkt in der Rechts- und Tatfrage und ihre Beweismittel gegenseitig kennen zu lernen. In dieser Richtung versagt aber die erste Tagfahrt bekanntlich vollständig. Um den schon in unserer ersten Tagsatzung keimenden Gedanken volle Geltung zu verschaffen, müßte daher der jetzige einheitliche Prozeß durch einen dem englischen nachgebildeten, zweiteiligen ersetzt werden: ein vorbereitendes Verfahren vor dem Hilfsrichter und ein Hauptverfahren vor dem Richter. Das vorbereitende Verfahren ist im allgemeinen nach englischem Muster zu ordnen. Sobald feststeht, daß es zur öffentlichen Verhandlung kommen wird, soll der leitende Beamte durch Beschluß bestimmen, welche prozessuale Handlungen von den Parteien noch vorzunehmen sind, um deren ungehinderten Verlauf zu gewährleisten (Order for directions). Außerdem kann der Hilfsrichter kraft eigenen Rechts alles ermitteln und feststellen, was schon gegenwärtig nach der Zivilprozeßordnung (§§ 245 - 526) in einem vorbereitenden Verfahren zur Beschleunigung und Vereinfachung der Hauptverhandlung erhoben werden kann. Endlich sollen prozeßhindernde Einreden im vorbereitenden Verfahren erledigt werden. Jede Entscheidung im vorbereitenden Verfahren kann durch ein Rechtsmittel angefochten werden. Darüber hat der Richter zu erkennen. In den meisten Fällen wird die Angelegenheit schon im vorbereitenden Verfahren geordnet werden. Die Parteien kennen jetzt die Sachlage in der Regel vollständig, werden auch von dem Leiter der Verhandlung in unparteiischer Weise über die Rechtsfrage belehrt, so daß sie den Ausgang voraussehen: sie werden sich daher viel leichter dazu entschließen, die Klage zurückzuziehen, den Anspruch anzuerkennen oder einen

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Vergleich abzuschließen. In England gab es vor der Kings Bench Division des Supreme Court of JU!dicature, der einzigen Abteilung dieses Gerichtshofes, die mit einem festländischen Gerichte zu vergleichen ist, im Durchschnitte der Jahre 1902 - 1906 (spätere Ziffern stehen mir nicht zur Verfügung) auf 31308 Streiteinlassungen, denen 38426 vorbereitende Verhandlungen (mit Einschluß der vertagten) folgten, nur 3512 Hauptverhandlungen; vor den Grafschaftsgerichten im Durchschnitte derselben Jahre auf 1330796 Klagen 461 973 Verhandlungen. Wie viele davon auf die Grafschaftsrichter selbst, wie viele auf die Registrars entfielen, ist nicht ersichtlich. Für das Jahr 1907 gibt Weidlich an, die Richter hätten etwa 40 000 Fälle gehört, während die Registrars zehnmal soviel erledigten5 • Nach Abschluß des Vorverfahrens wird die Angelegenheit vor dem Gericht, das die Verhandlung geleitet hat, dem Richter vorgelegt, der die Hauptverhandlung anordnet. Bei dieser finden die Vorträge der Parteien statt, es werden Zeugen und Sachverständige vernommen, das Urteil geschöpft. Selbstverständlich kann der Richter die Sache auch zur Ergänzung des vorbereitenden Verfahrens an das Gericht zurückverweisen. Der Schriftführer hat die Aufgabe, die schriftliche Begründung des Urteils im Sinne der vom Richter in der öffentlichen Verhandlung verkündeten Erwägung zu verfassen. Die Zwangsvollstreckung gehört wieder vors Gericht; doch steht den Parteien auch hier der Rekurs an den Richter zu. Um das Verfahren in dieser Weise nach englischem Muster zu ordnen, dazu brauchte an den gegenwärtig geltenden Vorschriften über die Zuständigkeit unserer Gerichte nichts geändert zu werden. Die Parteien bringen die Klagen im Sinne der geltenden Bestimmungen bei den Bezirksgerichten oder den Gerichtshöfen ein; der Richter übernimmt die Sache erst nach Abschluß des vorbereitenden Verfahrens. Für Bagatellsachen müßten wohl Erleichterungen zugestanden werden: dem Hilfsrichter könnte hier wohl auch das Urteil überlassen werden, es sei denn, daß er selbst aus eigenem Antriebe oder auf Antrag einer Partei wegen Schwierigkeit oder grundsätzlicher Wichtigkeit den Fall dem Richter zur Entscheidung abtreten wollte; doch müßte es dem Richter auch freistehen, insbesondere grundsätzlich sehr wichtige Angelegenheiten an sich zu ziehen. Das hätte dann die Folge, daß diese Sachen auch im Rechtszuge wie die größeren Angelegenheiten behandelt werden müßten. Noch leichter als das Zivilverfahren würde sich das Strafverfahren dieser Ordnung anpassen. Es stammt ja aus England, und die Spuren dieses Ursprunges konnten nie ganz verwischt werden. Die Änderung 5

Rheinische Zeitschrift Bd. VII, S.50.

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würde sich darauf beschränken, überall, wo gegenwärtig Senate entscheiden, den Richter eintreten zu lassen6 • Die Zweiteilung des Verfahrens könnte aber einen Nebenvorteil bringen. Bekanntlich führt unsere Zivilprozeßordnung den Grundsatz der Mündlichkeit sehr folgerichtig durch. So dankenswert das auch ist, so sollte doch nicht übersehen werden, daß es für die Partei oft eine fast unerträgliche Last bedeutet. Soll eine mittellose Partei ihr Recht bei einem entlegenen Gerichte verfolgen, so bedeutet der Grundsatz der Mündlichkeit für sie nicht selten Rechtsverweigerung. Ob die Mündlichkeit nicht schon gegenwärtig ohne jeden Nachteil eingeschränkt werden könnte, mag dahin gestellt bleiben. So unentbehrlich sie aber auch bei der Hauptverhandlung sein mag, im vorbereitenden Verfahren wird in vielen Fällen von ihr abgesehen werden können. Es kann den Parteien ohne jede Gefahr gestattet werden, im vorbereitenden Verfahren Anträge schriftlich einzubringen, schriftlich Einwendungen oder Gegenansprüche geltend zu machen; dem Verhandlungsleiter muß es allerdings freistehen, sie, wenn es ihm notwendig scheint, zum persönlichen Erscheinen vorzuladen. Es ist wohl zweifellos, daß sowohl die Einlassung als auch das vorbereitende Verfahren einen bedeutenden Fortschritt bedeuten würden. Nicht bloß deswegen, weil die Einlassung viel müheloser die Säumnisse von den streitigen Sachen absondert, das vorbereitende Verfahren ein viel besseres Mittel ist, die Zurücknahme der Klage, Vergleiche und Anerkenntnisse herbeizuführen, als die erste Tagfahrt, sondern vor allem deswegen, weil durch das vorbereitende Verfahren in viel vollkommenerer Weise, als es heute der Fall ist, eine glatte, rasche und doch erschöpfende Verhandlung in der Sache selbst, wo sie eben notwendig ist, gesichert wäre. Aber mit allem Nachdrucke muß ich hervorheben, daß es sich mir keineswegs um diese technischen Vorteile handelt. Mir ist es nur darum zu tun, auf diesem Wege für den festländischen Richter eine seiner würdige Stellung zu gewinnen. Nur so wäre es möglich, ihn von der ihn heute erdrückenden Last subalterner Arbeit zu befreien, damit er sich ausschließlich den großen Aufgaben widmen könnte, für die er eigentlich da ist, nur so kann man darandenken, für die Richterstühle die besten Kräfte zu gewinnen, die verfügbar sind, und dem Richter eine seinem Berufe angemessene gesellschaftliche Würde und hinreichendes Einkommen zu sichern. Wie sehr man auf diese Weise die Richterzahl beschränken könnte, darüber hat 'auf meine Bitte Herr Landesgerichtsrat v. Engel (Salzburg) Berechnungen aufgestellt. In Zivil6 Die folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Rechtspflege im bürgerlichen Streitverfahren. Ihre Anwendung auf den Strafprozeß und das Verfahren außer Streitsachen ist leicht, ergibt sich zum Teile von selbst.

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sachen würde wohl, abgesehen von den fünf oder sechs großen Landesgerichten, ein Richter bei jedem Gerichtshof genügen. Ein zweiter oder dritter Richter, der an Stelle der biSherigen Senate träte, wäre bei den meisten Gerichtshöfen für die Strafsachen notwendig; hoffentlich wird ja den Strafgerichten die Strafrechtsreform die unumgängliche Entlastung bringen, indem sie die Zahl der Verbrechen und Vergehen auf ein erträgliches Maß einschränken wird. Noch ein Wort über die Laienrichter in der ersten Instanz. Die sehr verbreitete Vorstellung, der englische Richter sei in erster Instanz stets Einzelrichter, ist, wie Gerland in dankenswerter Weise hervorhebt, ungenau. Mit Ausnahme der Polizeirichter und Friedensrichter in Polizeistrafsachen entscheidet der Richter in Strafsachen immer mit Geschworenen. In bürgerlichen Sachen werden Geschworene in der Regel nur auf Antrag einer Partei zugezogen; nur in der Chancery Division sind sie ausgeschlossen, was allerdings nur historisch begründet ist. Eine Geschworenenbank ist bei dem Gerichtshof in London die Regel, bei den Grafschaftsgerichten eine Ausnahme. In Strafsachen denkt in England wohl niemand daran, die Jury zu beseitigen; in bürgerlichen Sachen wird sie von vielen, wenn auch nicht für schädlich, so doch für überflüssig gehalten. Der Zug der Gesetzgebung geht schon seit Jahren dahin, den Parteien in bürgerlichen Sachen den Verzicht auf die Geschworenenbank nahe zu legen. Dagegen scheinen die Richter selbst der Jury günstig gestimmt zu sein und dankbar für den Teil der Verantwortung, den sie ihnen abnimmt; sie rühmen sehr ihre Pflichttreue, Menschenund Sachkenntnis. Auf dem Festlande ist von Geschworenen in bürgerlichen Streitigkeiten wohl keine Rede. Gegen Geschworene in Strafsachen wird wenigstens in Österreich und Deutschland ein erbitterter und (erbitternder) Kampf gekämpft, obwohl fast jeder Tag neue Beweise für ihre Unentbehrlichkeit bei der heutigen rein beamtischen Organisation der Rechtspflege bringt. So wie heute die Verhältnisse liegen, scheint mir die Geschworenenbank ein unantastbares Gut, und gegen alle Versuche, sie etwa durch das harmlose Schöffengericht zu ersetzen, muß nachdrücklichst auf die Staatsgrundgesetze hingewiesen werden, die zunächst abgeändert werden müßten. Anders wäre es aber, wenn eine von großen Gedanken getragene Neuordnung der Rechtspflege im Richteramte eine bessere Gewähr für Leben, Freiheit und Ehre des Bürgers, als wir sie heute besitzen, schaffen würde. Aber selbst dann würde der Laie in der Rechtspflege unentbehrlich sein: wenn selbst der englische Richter, bei seiner oft bewunderungswürdigen Kenntnis des Lebens und der Menschenseele, auf den Beistand des Laien Wert legt, warum sollte man auf dem Festlande darauf verzichten? Es handelt sich nur darum, für diese Mitwirkung eine entsprechende Form zu finden. Auf dem Festlande kommt der Laie in der Rechtspflege, abgesehen 11 Eugen Ehrlich

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vom Geschworenen und Schöffen, noch als Beisitzer bei verschiedenen Sondergerichten und als Sachverständiger zu Wort. Beide erfüllen ihre Aufgaben gewiß nicht tadellos. Die Sachverständigen zeichnen sich nicht immer durch Sachverständigkeit und auch nicht immer durch Unbefangenheit aus; und der Beisitzer bei Handelsgerichten, sowie er jetzt nach der Reihe, ohne irgend welche Rücksicht auf Beruf und Wissen, beigezogen wird, ist oft nicht viel mehr als eine Karikatur seiner selbst. Viel besser schneiden die Beisitzer bei den Gewerbegerichten ab, offenbar deswegen, weil bei ihrer Auswahl Beruf und Fachkenntnisse in der Regel entscheiden. In England gibt es Beisitzer, die den Richter durch ihr Fachwissen unterstützen sollen. Sie werden vom Richter auf Vorschlag der Parteien nach eigenem Ermessen ausgewählt, es kommt dabei auf die Kenntnisse an, die der Fall erfordert. Regelmäßig sitzen zwei Kapitäne dem Seegericht bei, wenn es über Schiffszusammenstöße erkennt. Das ist wohl die angemessenste Lösung der Laienfrage, sowohl im bürgerlichen als auch im Strafprozesse, allerdings auch in England nicht genügend ausgebaut. Ist nun eine der vorgeschlagenen ähnliche Ordnung auch in der dritten Instanz, vor dem Obersten Gerichtshofe, durchführbar? Bietet sie auch hier Vorteile vor der heute herrschenden? Das rein Technische, Mechanische, Schablonenhafte, das in der ersten Instanz eine große Rolle spielt, fällt beim Obersten Gerichtshof selbstverständlich wenig ins Gewicht. Darf man aber von irgendwelchen Erkenntnissen, die von der höchsten Instanz in der Sache selbst gefaßt werden, annehmen, sie seien zu wenig wichtig, als daß sich nicht der beste Richter, der verfügbar ist, damit befassen müßte? So sonderbar das auch scheinen mag, diese Frage ist unbedingt zu bejahen. Der Fehler der heutigen Ordnung liegt gerade darin, daß sie es ganz den Parteien überläßt, die feine und wertvolle Maschine des Obersten Gerichtshofes nach ihrem Belieben in Bewegung zu setzen, die kostbare Zeit der ersten Richter des Reiches auch für ihre ganz privaten Zwecke in Beschlag zu legen. Dazu ist sie aber gewiß nicht da. Die Folge ist, daß jeder Querulant, jeder verzweifelte oder verstockte Schuldner es in seiner Hand hat, die höchste Instanz mit Fragen zu behelligen, die bereits unzählige Male entschieden sind, die überhaupt nie hätten aufgeworfen werden sollen, die vielleicht nicht einmal er selbst ernst genommen hat. In einem gewissen Sinne ist es gewiß richtig, daß niemand einen Anspruch auf die dritte Instanz habe: denn in der Tat, die dritte Instanz ist im öffentlichen Interesse da, nicht bloß um der Einheitlichkeit der Rechtsprechung willen, sondern auch damit ihre Entscheidungen den anderen Gerichten als Leitstern dienen sollen. Dann aber soll sie nur insoweit angerufen werden können, als damit dem öffentlichen Interesse wirklich gedient isf.

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Daraus folgt zunächst, daß der Rechtszug an den Obersten Gerichtshof nicht von der Höhe der Streitsumme und nicht von der Art der Streitsachen abhängig gemacht werden darf: denn sie geben keinen Maßstab für die Wichtigkeit der Angelegenheit, weder für die Parteien noch für das Gemeinwohl. Bei gewissen Sachen, deren Bedeutung für die Allgemeinheit immer besser erkannt wird, handelt es sich immer um geringfügige Beträge (Lohnstreitigkeiten, Ratenhandel und viele andere); sollen die vielen nur bei solchen Sachen vorkommenden Fragen dem Einflusse der höchsten Richter unter allen Umständen entzogen sein? Und dabei ist nicht zu übersehen, daß es Fragen gibt, die in großen Rechtsstreitigkeiten nie oder nur seIten entschieden werden: soll man hier auf jede Leitung der Rechtsprechung durch den Obersten Gerichtshof und auf die Einheitlichkeit ganz verzichten? Auf Hunderte von kleinen Prozessen kommt nur ein größerer: ist es für die Allgemeinheit nicht genug wichtig, daß der Oberste Gerichtshof auch zu den Fragen Stellung nehmen könne, die die Gerichte hundertmal häufiger beschäftigen? Mit einem Worte: jeder Rechtssache muß, ganz unabhängig von ihrer Art und ihrem Betrage, die Möglichkeit geboten sein, an die obersten Richter des Reiches zu gelangen, aber nur die soll zu ihnen tatsächlich vordringen, die für die Allgemeinheit bedeutungsvoll genug ist. Auch hier muß es einen Filter geben, der von den besten Männern des Reiches alles fern hält, was andere Männer ebenso gut machen können. Ähnliches besteht ja schon anderwärts und auch bei uns auf manchem Gebiete. Es sei zunächst an die Chambre des requetes des Pariser Kassationshofes erinnert, die über die formelle Zulässigkeit der Revision entscheidet, bevor diese an die Chambre civile gelangt. In England kann ein Rechtsmittel in der Regel nur mit Zustimmung des Richters ergriffen werden, der die Entscheidung gefällt hat (unter Umständen mit Zustimmung des übergeordneten Richters). Die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes in Strafsachen kann schon jetzt in Österreich nicht von der Partei, sondern nur von der Generalprokuratur eingelegt werden. Auch die sogenannte außerordentliche Revision in Strafsachen darf in Österreich von der Partei nicht beantragt werden. Ganz ausnahmsweise sind auch nach der österreichischen Zivilprozeßordnung gegen gewisse Beschlüsse des Berufungsgerichtes und Entscheidungen des Rekursgerichtes Rechtsmittel nur statthaft, wenn das Gericht sie zuließ. Alle diese Ordnungen haben ihre Nachteile, die es nicht geraten erscheinen lassen, sie schlechthin zu verallgemeinern, aber es liegt ihnen ein gesunder Gedanke zugrunde. 7 Die freiwillige Gerichtsbarkeit bliebe bei dieser Ordnung selbstverständlich Sache der Gerichte, nicht der Richter. Aber wenigstens in Vormundschaftsund Pflegschaftssachen müßte den Parteien ein Rekursrecht an den Richter, nicht etwa an die Oberlandesgerichte zustehen.

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Um diesen Gedanken in entsprechender Weise in die Verfassung des Obersten Gerichtshofes einzuführen, empfiehlt es sich zunächst, diesen zu spalten. Innerhalb des Obersten Gerichtshofes soll ein Körper, aus den auserlesensten Juristen des Reiches bestehend, gebildet werden. Es mag dafür der altösterreichische Name: Oberste JustizsteIle gewählt werden. Zehn bis fünfzehn Männer würden wohl genügen. An der heutigen Stellung der anderen Richter des Obersten Gerichtshofes brauchte dagegen nichts geändert zu werden. Sie bleiben Hofräte der fünften oder Senatspräsidenten der vierten Rangsklasse, unabhängig und unabsetzbar. Jede Angelegenheit, die an den Obersten Gerichtshof gelangt, wird zunächst einem Hofrat zugewiesen. Dieser entscheidet darüber als Einzelrichter, in der Regel ganz selbständig. Nur wenn er es im öffentlichen Interesse, sei es um der Einheitlichkeit der Rechtsprechung, sei es um der höheren Leitung der Rechtspflege willen für geboten hält, bringt er die Sache als Berichterstatter vor die Oberste JustizsteIle, die in öffentlicher Verhandlung kollegiaIischdarüber erkennt. Damit soll aber nicht etwa eine neue Instanz geschaffen werden. Der Oberste Gerichtshof muß ein einheitliches Gericht bleiben. Die Oberste Justizstelle ist bloß eine Abteilung dieses Gerichtes. Ein Parteiantrag, die Sache der Obersten Justizstelle zu unterbreiten, wäre selbstverständlich unzulässig; das hängt ganz vom gewissenhaften Ermessen des Hofrates ab, dem 'die Angelegenheit zugewiesen ist. Daß die Gewähr der Rechtspflege bei einer Entscheidung durch den Hofrat nicht herabgemindert werden soll, ergibt sich daraus, daß die Stellung der Hofräte ganz dieselbe bleiben würde, wie sie heute ist. Die Vorteile einer solchen Ordnung liegen auf der Hand. Ihre Frucht müßte eine Instanz werden, die die Blüte des Juristenstandes im ganzen Reiche in sich vereinigte: und wir könnten den Männern, von denen wir das Höchste verlangen, das bieten, was sie dafür erwarten dürfen: eine ihrem Werte entsprechende gesellschaftliche Stellung, ein angemessenes Einkommen, und, was vielleicht das wichtigste ist, Ruhe und Muße für die Arbeit. Gegenwärtig ist die Arbeitslast unserer höchsten Instanz nicht im geringsten durch das öffentliche Interesse bestimmt. Es hängt ausschließlich von der Willkür der Parteien ab, von ihrem ganz subjektiven Dafürhalten, ihrem häufig nicht einmal eingebildeten, sondern nur vorgeschützten Interesse an einer höchstrichterlichen Entscheidung, wie oft der Oberste Gerichtshof angegangen wird. Diesem Bedürfnis der Parteien, das man, wenn es auch oft auf sehr anfechtbaren Beweggründen beruht, nicht aus der Welt schaffen wird, am wenigsten mit so mechanischen, äußerlichen Mitteln wie der ErhOhung der Revisionssumme, hätten nach der hier vorgeschlagenen Ordnung die Hofräte des Obersten Gerichtshofes zu entsprechen, deren Zahl beliebig vermehrt

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werden kann. Der Obersten JustizsteIle aber, die bloß dem öffentlichen Interesse dient, soll keine andere Arbeit an gesonnen werden als die, die im öffentlichen Interesse notwendig 'ist. Diese Ordnung leIdet allerdings an einem Schönheitsfehler, da der Hofrat, der doch dem Wesen nach Hilfsrichter sein soll, danach berechtigt wäre,