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German Pages 292 Year 1990
Otto Brusiin
Der Mensch und sein Recht Ausgewählte rechtstheoretische Schriften
Schriften zur Rechtstheorie Heft 143
Otto Brusiin Der Mensch und sein Recht Ausgewählte rechtstheoretische Schriften
Herausgegeben und eingeleitet von
Urpo Kangas
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Brusiin, Otto: Der Mensch und sein Recht: ausgewählte rechtstheoretische Schriften / Otto Brusiin. Hrsg. u. eingel. von Urpo Kangas. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Schriften zur Rechtstheorie; H. 143) ISBN 3-428-06911-0 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-06911-0
Vorwort Der ortsfremde Reisende braucht Wanderkarten und Wegweiser, damit er sicher an seinem Bestimmungsort ankommt. In der Wissenschaft dienen der Realismus und der Idealismus dem Forscher als Wegweiser; sie vermitteln ihm bereits im Vorfeld einen Eindruck davon, wie die wissenschaftliche Landschaft beschaffen ist, die ihn in einem Buch erwartet. Diese Landschaft kann durch die vorgenommene Reduktion vereinfacht wirken oder aber dem Forscher durch die mannigfaltigen Nuancierungen des Bildes besonders üppig erscheinen. Somit stehen wir am Scheideweg. Wir werden den Weg in die realistische Landschaft einschlagen. Diese Landschaft wird dadurch charakterisiert, daß sie aus der Perspektive unterschiedlicher Forscher jeweils andersartig erscheint. Unsere Reise beginnt in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts. Hinter uns liegen der amerikanische und der skandinavische Rechtsrealismus. Wir lassen auch Dänemark und Schweden zurück und nähern uns Finnland. Dort treffen wir einen fünfundzwanzig]ährigen jungen Mann, der sich für Rechtstheorie begeistert. Er wurde am 2. Juni 1906 geboren und hat soeben sein Jurastudium an der Universität in Helsinki abgeschlossen. Er heißt Otto Brusiin. Er soll unser Fremdenführer sein. Wir werden einen vierzig Jahre langen Weg zusammen gehen und erweisen ihm die letzte Ehre am 31. Oktober 1973. Es wird eine ereignisreiche Reise werden. Unterwegs werden wir versuchen, eine Synthese des Denkens Otto Brusiins vorzunehmen. Wir werden aber auch unserem Fremdenführer zuhören und lassen ihn von den Dingen erzählen, die er am höchsten schätzt. Unser Reisehandbuch hat deshalb zwei Teile. Im ersten Teil versuche ich als Reisender, der die weite Strecke schon einmal zurückgelegt hat, zu beschreiben, welche Gestalt die Gedankenlandschaft Otto Brusiins in meinen Augen angenommen hat, das heißt in der Sicht eines Außenstehenden. Der darauffolgende Teil setzt sich aus den Sagen und den Erzählungen Otto Brusiins selbst zusammen. Für viele geistige Anregungen und die von ihnen bereitwillig gewährte kollegiale Hilfe und Unterstützung bei der Verwirklichung dieses Vorhabens danke ich Herrn Prof. Dr. Aulis Aarnio und Herrn Forschungsprofessor Dr. Kaarlo Tuori; beide haben durch ihr nachhaltiges Engagement, jeder auf seine Weise, dazu beigetragen, daß dieses Werk erscheinen konnte. Ohne die mir gebotene Gelegenheit, in den Jahren 1989 - 90 an der Finnischen Akademie der Wissenschaften tätig zu sein, wäre es mir nicht möglich gewesen, die hier
Vorwort
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angestellten Untersuchungen abzuschließen und die gesamte Veröffentlichung vorzubereiten. Für diese Unterstützung bin ich zu großem Dank verpflichtet. Die von mir verfaßte „Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins" wurde von Herrn Dr. Marcus Galdia aus dem Finnischen ins Deutsche übertragen. Dafür danke ich ihm sehr herzlich. Bei der Veröffentlichung und endgültigen Drucklegung dieses Werkes haben mir Herr Prof. Dr. Dr. Werner Krawietz und seine Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialphilosophie, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster, in mancherlei Weise geholfen. Ihnen allen danke ich sehr herzlich, insbesondere Frau Andrea Freund und Frau Maendy Seidel für die Ausführung der notwendigen Korrekturen, Herrn Assessor Antonis Chanos für die Anfertigung des Personenregisters, Frau Assessorin Petra Werner und Herrn Assessor Andreas Schemann für die Anfertigung des Sachregisters. Für seine Aufgeschlossenheit gegenüber den Anliegen der finnischen Rechtstheorie, sein Interesse an dem Rechtsdenken Otto Brusiins und die großzügige Förderung, die er durch die Drucklegung dieses Werks bewiesen hat, bin ich dem Geschäftsführenden Gesellschafter des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Rechtsanwalt Norbert Simon, zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Helsinki, im Februar 1990 Urpo Kangas
Inhalt Vorwort
5 Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins Von Prof. Dr. Urpo Kangas
1. Stationen seines Lebens
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2. Emotives Erfassen des Ganzen
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3. Erzeugungsprozeß des Rechts
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a) Verhältnis zwischen Rechtsordnung und gesellschaftlicher Wertewirklichkeit b) Verhältnis zwischen Macht und Recht 4. Recht als Essentiale der menschlichen Gemeinschaft
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a) Struktur der Rechtsnorm
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b) Geltung der Rechtsnorm
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5. Allgemeine Rechtsgrundsätze
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6. Über das juristische Denken
31
7. Über die juristische Entscheidung
38
8. Über die Bedeutung der Sozialwissenschaften für die juristische Entscheidungsfindung
44
9. Über die Rechtsforschung
49
a) Über die Allgemeine Rechtslehre
51
b) Über die Rechtswissenschaft
54
10. Rückblick und Ausblick
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Schriften von Otto Brusiin I. Über die Rechtstheorie IL Über die Objektivität
56
der Rechtsprechung
62
1. Einleitung
62
2. Recht und Rechtsprechung
66
3. Objektivierende Faktoren bei der Rechtsprechung. Allgemeine Gesichtspunkte
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4. Struktur der Rechtsprechungsorgane. Das Verfahren
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8
Inhalt
5. Soziale Kontrolle
84
6. Die Begründungspflicht
90
7. Gesetzesauslegung und Lückenprüfung: Normen und Theorien
95
8. Die Rechtswissenschaft
105
9. Präjudize
111
10. Maßnahmen der Justizverwaltung
118
11. Sanktionen gegen Richter
121
12. Die Juristenschulung
127
III. Über das Juristische Denken Vorwort
132 132
1. Der Mensch und sein Recht
132
2. Der Juristenstand und die Typen der Rechtshandhabung
147
3. Die juristischen Denkprodukte
167
4. Konstante Züge des juristischen Denkens
188
5. Das Deduktive im juristischen Denken. Die Jurisprudenz
213
6. Die juristische Grundeinstellung. Das Metaphysische im juristischen Denken 239 Bibliographie Otto Brusiin .
265
Personenregister
273
Sachregister
278
Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins Von Urpo Kangas 1. Stationen seines Lebens Es ist unmöglich, sich Otto Brusiin als konsequenten Vertreter einer rechtstheoretischen oder philosophischen Forschungstradition vorzustellen. Er selbst hat auch nur den Gedanken, als Schüler oder Anhänger einer bestimmten Schule angesehen zu werden, energisch von sich gewiesen. Für Brusiin war die Übernahme eines fertigen Systems oder einer Methode aus der Philosophie und ihre „Anwendung" auf die juristischen Phänomene ein unkritisches geistiges Unterfangen. Ein Forscher, der für ein fertiges Modell optiert, bleibt auch an das System, das er sich ausgesucht hat, gekettet. Eine Rechtstheorie, die in eine fertige Form hineingepreßt wird, wirkt deshalb auf den Juristenstand befremdlich und ist nur dazu geeignet, dem Wißbegierigen Steine statt Brot zu reichen. Brusiin hat aber die Bedeutung der Philosophie für die Formung des Weltbildes des Forschers keineswegs unterschätzt. In seiner Sicht erweitern die fremden Gedankengänge den Horizont des Forschers und schärfen seinen Blick. Die unkritische Verwendung fremder Gedanken als Bausteine eigener Theorie bezeugt nur die Tatsache, daß ein derart vorgehender Forscher nichts anderes ist als ein Mosaikenleger, der zum selbständigen Denken nicht fähig ist. Das Kneten fremder Begriffe allein gereicht einem Forscher keinesfalls zum Ruhme. Der Forscher auf dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre darf niemals zu einem passiven Rezipienten fremder Gedanken werden, von dem Kant schrieb: „Er formt gemäß fremden Verstand. Er ist sehr gelehrt und der Gipsabdruck eines lebenden Menschen." Als Forscher zweifelte Brusiin alles an, auch die eigenen früheren Ansichten. Seine kritische Grundeinstellung gegenüber den herrschenden Theorien hinderte ihn jedoch nicht daran, sich mit unterschiedlichen theoretischen Richtungen vertraut zu machen. Brusiin war darum bemüht, das eigene Denken um fremde Gedanken zu bereichern, ohne sich vor ihnen zu demütigen. Seine Laufbahn als Theoretiker begann mit dem Interesse an den Klassikern der Philosophie. Anfang der dreißiger Jahre konzentrierte sich Brusiin auf den amerikanischen Realismus sowie auf die französische-und die italienische Rechtstheorie. Um die Mitte desselben Jahrzehnts scheint der logische Positivismus im Zentrum seines theoretischen Interesses gestanden zu haben. In
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Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins
der Phase der Arbeit an seiner Dissertation forschte Brusiin auf dem Gebiet der französischen, der englischen und der italienischen Rechtstheorie und erwies sich in einer für ihn untypischen Weise als Anhänger der exakten Logik. Das Spektrum seiner Interessen zu dieser Zeit vervollständigten die marxistische Philosophie, die Nationalökonomie und die Soziologie. Brusiin promovierte 1938 über die Problematik des richterlichen Ermessens bei der Füllung von Rechtslücken. Der zweite Weltkrieg bedeutete einen irrevisiblen Einschnitt in der Laufbahn vieler Forscher. Für Brusiin bedeutete der Krieg eine lange Unterbrechung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Diese Unterbrechung war zugleich der erste Wendepunkt in seiner Forscherlaufbahn. Brusiin begann nämlich, seine Theorie um phänomenologische, existentialistische und anthropologische Bestandteile zu ergänzen. Er veröffentlichte 1949 sein Werk „Über die Objektivität der Rechtsprechung". 1951 folgte seine Untersuchung „Über das juristische Denken", eine Schrift mit rechtsanthropologischem Grundtenor. Zur gleichen Zeit versammelte Brusiin um sich den Kreis „Theoria Iuris", der allmählich zur Schule für die Forscher der nächsten Generation der Promovenden wurde. Den zweiten Wendepunkt in der Entwicklung des Denkens Brusiins markiert sein Interesse an der Theorie des Zivilrechts und an der Rechtsvergleichung, das in den fünfziger Jahren aufgekommen ist. Brusiin war seit 1952 als Studienprofessor für Zivilrecht an der Universität in Helsinki tätig. In seinem Werk aus dieser Periode ist die Suche nach Neuem spürbar. Anfang des Jahrzehnts schrieb er das Buch „Über den Ersatz des immateriellen Schadens". 1959 veröffentlichte er eine Untersuchung über die Scheidung, die eine Theorie der Rechtsvergleichung zu entwickeln sucht. Den letzten Abschnitt seiner Forscherlaufbahn bilden die Jahre 1961 1973, in denen er als Professor für Allgemeine Rechtslehre an der Universität in Turku tätig war. Brusiin verfiel dem Zauber der Fachgeschichte und schrieb mehrere Werke über die Geistesgeschichte der finnischen Rechtstheorie und über ihren Rezeptionshintergrund. Es war der große Wunsch Otto Brusiins, in der Nähe seiner geliebten Universität zu sterben. Dieser Wunsch ging in Erfüllung. A m 31. Oktober 1973 hörte das Herz des Forschers auf zu schlagen - am Eingang der Universität. Die Rechtstheorie Brusiins hat nicht in fertiger Form als in sich geschlossenes System das Tageslicht erblickt. Brusiin arbeitete nämlich wie ein Gärtner im Garten der Wissenschaft. Immer dann, wenn er das Erklärungspotential seiner Theorie steigern wollte, veredelte er seine Theorie, indem er ihr neue Zweige aufpfropfte. Aufgrund dieser Tatsache sind die Grundelemente seiner Theorie nicht leicht zu charakterisieren. Sie sind im dichten Laubwerk versteckt.
2. Emotives Erfassen des Ganzen
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Das schriftliche Oeuvre Brusiins ist nicht sonderlich umfangreich. Es umfaßt sechs Bücher und ungefähr vierzig Aufsätze, deren gesamte Seitenzahl 1500 Seiten nicht überschreitet. Viele Forscher haben während ihrer Laufbahn wesentlich mehr geschrieben. Das Verdienst Brusiins kann jedoch nicht an der Seitenzahl seiner Produktion gemessen werden. Vor allem lehrte Brusiin andere selbständig denken. Er faßte die wissenschaftliche Gemeinschaft auf als internationale Plattform für Diskussionen zwischen den Fachkollegen aus allen Weltteilen und baute Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Kulturen. Dies mag Personen, die innerhalb großer Sprachgemeinschaften und Kulturen leben, unbeachtlich erscheinen. Es mag auch für die gesamte Menschheit ein ganz kleiner Schritt gewesen sein. Es war aber ein großer Fortschritt für die finnische Rechtstheorie, denn Brusiin öffnete die Tür nicht nur für sich, sondern auch für die gesamte akademische Gemeinschaft Finnlands. Es scheint gewagt, eine Synthese des theoretischen Denkens Brusiins zu unternehmen. Sie ist nicht zuletzt deshalb schwierig, weil die drei Phasen seines Schaffens sehr unterschiedlich sind. Ein derartiges Vorhaben kann nur dadurch gerechtfertigt werden, daß sich gewisse Themen in allen Entwicklungsphasen seines Schaffens tongleich wiederholen. Ich werde mich daher auf diese Themen konzentrieren und möchte zugleich darauf hinweisen, daß die von mir gewählte Perspektive der Darstellung des Rechtsdenkens Otto Brusiins nur eine von vielen möglichen ist. 2. Emotives Erfassen des Ganzen Brusiin wollte verstehen, worum es dem Recht im Grunde geht. Sein Erkenntnisinteresse war jedoch nicht technischer Art. Es war vielmehr auf die Kultur und die Gesellschaft bezogen. Das Recht als Kulturphänomen und als soziale Machtstruktur sowie das Verhältnis des Menschen zum Recht bildeten den Gegenstand seiner unstillbaren Neugier. Die Aufgabe der Wissenschaft bestand für ihn darin, die Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungsformen zu erforschen. Die Wirklichkeit bedeutete für ihn nicht nur physikalische Partikel. In seiner Ontologie gehören auch die sozialen Verhältnisse, der Mensch und sein Denken der Wirklichkeit an. In methodischer Hinsicht war Brusiin kein reiner Realist. Sein Realismus kam per viam negationis zum Ausdruck in seinem systematischen Bestreben, alle metaphysischen Erklärungsmodelle zu zerstören. Das Haften an metaphysischen Erklärungsmodellen fällt in seiner Sicht ganz aus dem Rahmen der wissenschaftlichen Theoriebildung und macht deshalb die kritische Untersuchung der rechtlichen Phänomene unmöglich. Seine negative Einstellung zu den metaphysischen Erklärungsmodellen hinderte ihn jedoch nicht daran, die metaphysischen Probleme als für den Menschen bedeutungsvoll anzusehen. In ihnen kommt das Bestreben der Menschen zum Ausdruck, die Welt, in der sie
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Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins
leben, gedanklich zu erfassen. So gesehen, sind auch die metaphysischen Probleme wirklich und müssen bei der ganzheitlichen Sicht der Dinge berücksichtigt werden. Nach Brusiin setzt jede fruchtbare Forschungstätigkeit eine ganzheitliche (holistische) Untersuchung voraus. Der führende finnische Philosoph der dreißiger Jahre Eino Kaila hat allem Anschein nach Brusiin bei der Formulierung seiner späteren Lieblingsgedanken über den holistischen Ansatz entscheidend beeinflußt. Nach Kaila ist für die anorganische Natur der Primat der Teile im Verhältnis zum Ganzen charakteristisch. Das soziale Geschehen wird hingegen durch den Primat des Ganzen geprägt. In den sozialen Verhältnissen spielen die holistischen Größen die entscheidende Rolle und dominieren auf diese Weise ihre Bestandteile. Nach Kaila ist das Ganze außerhalb der anorganischen Natur immer dann holistisch dominiert, wenn das Geschehen nicht wesentlich auf das Zusammenwirken verschiedener Faktoren zurückgeht. Das Gesetz oder die Regel des holistisch dominierten Ganzen ist auch einfacher strukturiert und dementsprechend auch leichter zu finden als die Regel, nach der die Bestandteile des Ganzen geordnet werden. Der Verstehensprozeß schreitet stets vom Ganzen zu den Bestandteilen und nicht umgekehrt. Einzig durch die Analyse des Ganzen und nicht etwa durch die Synthese seiner Bestandteile können die Dinge, die Gegenstand einer Untersuchung sind, sinnvoll geordnet werden. Der holistische Untersuchungsansatz bedeutet nicht, daß die Analyse als Untersuchungsmethode verworfen wird. Die Fruchtbarkeit des analytischen Vorgehens wird darin gebührend gewürdigt. Darüber hinaus wird durch den holistischen Ansatz die Bindung der Analyse an ihre Ausgangssituation betont. Der Holismus ist nichts anderes als eine fortwährende Interaktion zwischen dem Ganzen und den analysierten Bestandteilen. Der Forscher wird daher stets von seiner Analyse zum Ganzen hinüberblicken müssen und Überlegungen darüber anstellen, ob und inwiefern die Ganzheitsschau mit Hilfe der Analyse vertieft werden kann. In diesem Zusammenhang dachte Brusiin im Sinne der von Thomas Mann im „Zauberberg" beschriebenen Position: „Die Analyse ist gut als Werkzeug der Aufklärung und der Zivilisation, gut, insofern sie dumme Überzeugungen erschüttert, natürliche Vorurteile auflöst und die Autorität unterwühlt, gut, mit anderen Worten, indem sie befreit, verfeinert, vermenschlicht und Knechte reif macht zur Freiheit. Sie ist schlecht, sehr schlecht, insofern sie die Tat verhindert, das Leben an den Wurzeln schädigt, unfähig, es zu gestalten. Die Analyse kann eine sehr unappetitliche Sache sein, unappetitlich wie der Tod, zu dem sie denn doch wohl eigentlich gehören mag - verwandt dem Grabe und seiner anrüchigen Anatomie . . . " . Brusiin unterstrich die Bedeutung der emotiven Erfassung des Ganzen, weshalb auch jede neue Analyse in der Glut des Denkens mit der vorangehenden Analyse zusammenschmelzen muß, um ein Ganzes bilden zu können. In
2. Emotives Erfassen des Ganzen
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einem Fall, in dem das ermittelte Ergebnis der Analyse nicht auf das Ganze zurückgeführt werden kann, ist die Analyse mangelhaft. In der Theorie Brusiins bedeutete der Holismus das Erfassen der wechselseitigen Relationen zwischen den Dingen, gestützt auf eine wissenschaftliche Basis. Die Vorstellung einer Untersuchung, die mit Hilfe leicht voneinander abgrenzbarer Einzelanalysen zu einer Synthese voranschreitet, blieb Brusiin fremd. Jegliches Aufspalten des Ganzen einzig und allein aus untersuchungstechnischen Gründen faßte er als Verfälschung der Wirklichkeit auf und als Untersuchung eines Dinges, daß in der reinen Form überhaupt nicht existiert. Brusiin schreibt darüber, daß „gesehen vom strikt theoretischen Standpunkt aus, der Forscher natürlich nicht daran gehindert ist, sein Untersuchungsobjekt in einer ihm als erforderlich erscheinenden Art und Weise zu zerlegen. Jedoch kann eine Zerstückelung, die das Untersuchungsobjekt selbst zerfallen läßt, nicht als zweckmäßig angesehen werden." Bedauerlicherweise führt Brusiin nur selten Beispiele dafür an, welche Konsequenzen seine programmatischen Ausführungen für die Praxis haben könnten. Es ist aber sehr wohl vorstellbar, daß Brusiin mit seinen Ausführungen zur Problematik der Analyse keine Untersuchung schlichter Tatsachen oder einfacher Grundrelationen im Sinn hatte. Es ging ihm eher darum, die Wirklichkeit mit Hilfe ihrer Ausgangspunkte und Bedingungen zu verstehen, ohne jedoch vor diesen Bedingungen kapitulieren zu müssen. Mit dieser Methode ist am nächsten die Hermeneutik verwandt. Sie hatte aber in Finnland in den Jahren 1930 - 1950 keine Vertreter. Die hermeneutische Wortsaat fiel jedoch auf einen günstigen Boden. In den folgenden Jahrzehnten haben viele Forscher diese Tradition auf ihre Art fortgesetzt, wobei sie unterschiedliche Aspekte der Problematik akzentuierten. Die Untersuchung Brusiins von 1959 über die rechtlichen Probleme der Ehescheidung weist bereits eine enge Verbindung auf mit der Methode der hermeneutischen Interpretation. In dieser Untersuchung nähert sich Brusiin der Institution der Ehe, indem er aus unterschiedlichen Rechtsordnungen die invarianten Züge herausarbeitet, um den Kern dieser Institution zu erschließen. Mit Hilfe dieser invarianten Züge versucht Brusiin das mannigfaltige Ganze zu charakterisieren und zu ordnen. In seiner Untersuchung kristallisieren sich auf der Basis der herrschenden Grundeinstellungen im Verhalten der Menschen in einer Gesellschaft bestimmte invariante Züge, die mittels einer Analyse der Grundeinstellungen in unterschiedlichen Kulturkreisen mit Inhalt gefüllt werden. Die Wirklichkeit wird somit analysiert unter Rückgriff auf das Ganze. Der hier charakterisierte Forschungsansatz war keinesfalls problemlos. Um das Problem zu lösen, kreiste Brusiin häufig wie ein Wahrsager um seine Kristallkugel herum und meißelte die Eindrücke ins Gedächtnis, die er dabei empfing. Die Ergebnisse seiner Überlegungen erscheinen wie eine zeitlos gül-
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Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins
tige Sicht auf das Problem und beeindrucken den Leser auch als schriftstellerische Leistung. Sobald er aber seine Forschungsarbeit aus der Hand legt, drängen sich ihm Fragen auf: Was war das für ein Problem, das Brusiin zu lösen versuchte? Und hat er überhaupt eine Lösung gefunden? Oder verhält es sich eher so, daß die Bedeutung der Forschungsarbeit Brusiins darin liegt, den Leser zu zwingen, eigenständig über die Probleme nachzudenken und zu versuchen, eigene Lösungen zu finden? 3. Erzeugungsprozeß des Rechts Sein Leben lang unterstrich Brusiin die zentrale Rolle des Menschen für die Ausbildung des Rechts und als wesentliche Bedingung seiner Entstehung. „Das Recht ist nicht Ausfluß des Staates, sondern des Menschen", wie er schrieb. Das Recht wird gebildet zwischen den Mühlensteinen der sozialen Verhältnisse, die zwischen den Menschen herrschen. Die Organisationsarbeit der Menschen bringt somit eigene bindende Richtlinien hervor und setzt ihrerseits Normenkomplexe voraus, die sie ordnen. Das Recht erscheint also sowohl als Ergebnis als auch als Voraussetzung. Das Recht ist nicht Ausfluß des Staates. Es ist vielmehr als soziales Phänomen ein Regelsystem, das die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Menschen, die in einer Gesellschaft leben, ordnet. Die Rechtsgemeinschaft ist eine kollektive Einheit von Menschen, in der das menschliche Verhalten mit Hilfe der Normen gesteuert wird. Der Inhalt des Rechts verändert sich gemäß der Differenzierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, denn „das Recht ist ja in fortwährendem Flusse". Brusiin unterscheidet die inhaltliche Formulierung des Rechts einerseits und das Entstehen des Rechts andererseits. Das Recht ist in seiner Sicht mit den Kommunikationssystemen der Menschen, vor allem aber mit der menschlichen Sprache verbunden. Im Grunde genommen kann man nach Brusiin das Recht als einen speziellen Kommunikationsprozeß beschreiben. Das Recht wäre als Phänomen nicht möglich, wenn die Menschen nicht in der Lage wären, mit Hilfe der Sprache miteinander zu kommunizieren. In allen Rechtsgemeinschaften erscheint das Recht als sprachgebunden, denn durch den Gebrauch der Sprache gelang es den Menschen, die komplexen Strukturen der Natur und der Gesellschaft zu beherrschen. Nach Brusiin offenbart der Sprachgebrauch sogar die Struktur des Rechts, denn er bringt die Existenz abstrakter Normen zum Ausdruck. Nur der Mensch ist in der Lage, aus seiner Sprache ein Netz von Symbolen zu konstruieren, mit dessen Hilfe heterogene Probleme, die in den sozialen Strukturen entstehen, beherrscht werden können. In diesem Bereich der Theorie Brusiins liegen die sprachphilosophischen Komponenten und Implikationen der modernen Diskurstheorie offen wie auf einem Tablett. Einer der Schüler Brusiins, Kaarle Makkonen, entwickelte
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seine Rechtstheorie im Ausgang von der Philosophie der normalen Sprache in seiner 1965 erschienenen Dissertation „Zur Problematik der juridischen Entscheidung". Neben zahlreichen theoretischen Abhandlungen erschien in Finnland in den achtziger Jahren die erste diskursanalytische Untersuchung, namentlich das Werk von Kaarlo Tuori „Die Rationalität des Rechts". In seiner Untersuchung knüpft Tuori auch an die heimische Tradition an, obwohl die theoretische Basis des Werkes unmittelbar in der gesamteuropäischen Tradition verankert ist. Kehren wir jedoch zu unserem eigentlichen Thema zurück. Wie bereits ausgeführt, bildet die menschliche Sprache als Artikulation der sozialen Verhältnisse, in denen die Menschen leben, einen der Grundgedanken der Rechtstheorie Brusiins. Brusiin war jedoch kein Philosoph der normalen Sprache in der eigentlichen Bedeutung dieses Ausdrucks. Er sonderte in seinen Untersuchungen die stark emotionsgeladene Alltagssprache von der rationalisierenden Sprache der Wissenschaft ab. Die Rechtssprache kann nach seiner Auffassung nicht restlos in eine der beiden Kategorien eingeordnet werden. Dennoch ist es möglich, die Rechtssprache mit Hilfe des sprachphilosophischen und des sprachpsychologischen Instrumentariums zu untersuchen. Dabei sollte geklärt werden, welche Elemente der Alltagssprache und der Wissenschaftssprache in der Rechtssprache vorhanden sind. Die sprachphilosophischen Überlegungen Brusiins mögen fragmentarisch erscheinen, obwohl er sich auch mit der Sprachphilosophie der späteren Schaffensphase von Ludwig Wittgenstein beschäftigte. Der Einfluß Wittgensteins auf die Entwicklung der Theorie Brusiins war jedoch entschieden geringer als beispielsweise der Stellenwert seines Ansatzes für die Entwicklung der Theorie Aarnios, deren philosophische Begründung sich direkt auf die Sprachtheorie Wittgensteins stützt. Die Stellung der sprachphilosophischen Untersuchung im Werk Brusiins kann wohl damit erklärt werden, daß er sich dem Gedanken widersetzte, die logisch-sprachliche Komponente des Rechts als Selbstzweck anzusehen und zu untersuchen. Das Recht war für Brusiin vor allem ein soziales Phänomen. Deshalb glaubte er, die sprachliche Struktur der Rechtsnorm nur durch eine Untersuchung erklären zu können, die Rücksicht auf die Komplexität des untersuchten Phänomens nimmt. Er konnte daher das Recht nicht als ein von den sozialen Verhältnissen abgehobenes Phänomen untersuchen. Noch weniger konnte er sich vorstellen, das Recht lediglich als ein verbales Zeichenspiel zu analysieren, denn nach seiner Auffassung beeinflußten alle Gedankenströme in der Gesellschaft den Prozeß der Herausbildung des Rechts. Brusiin faßte das Recht als Ausdruck einer konkreten geschichtlich geformten sozialen Wirklichkeit auf. Ähnlich wie seinerzeit die Vertreter der historischen Schule, stellte sich Brusiin die Entstehung des Rechts als ein Ereignis der Vergangenheit mit gleichzeitiger Ausrichtung auf die Zukunft vor.
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Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins
a) Verhältnis zwischen Rechtsordnung und gesellschaftlicher Wertewirklichkeit Die menschliche Organisationsarbeit formt die soziale Wirklichkeit. Wirklichkeit schafft damit Wirklichkeit. Dabei handelt es sich um einen inhaltlichen Prozeß. Zu den Realitäten des Inhalts der sozialen Wirklichkeit gehören notwendig unter anderem die herrschenden Wertungen. Sie leiten die rechtstechnischen Auswahlprozesse und formen auf diese Art und Weise den Inhalt der Rechtsordnung. Nach Brusiin erwächst die Rechtsordnung auf der Basis der menschlichen Wertungen. Das Recht ist die sprachlich-normative Artikulation des Wertesystems. Der innere Zwang des Systems stabilisiert die Dynamik der Erzeugung der Rechtsordnung. Zwar ist die Rechtsordnung stets für Veränderungen offen; gleichzeitig strebt sie aber danach, die herrschende Wertordnung mit Hilfe der staatlichen Zwangsmittel zu unterstützen. Die Rechtsnormen erneuern - hier benutze ich einen Terminus, auf den Brusiin selbst nicht zurückgegriffen hat - die Werte Wirklichkeit. Nach Brusiin stellt die Wechselbeziehung zwischen dem jeweils vorhandenen Inhalt der Rechtsordnung und der herrschenden Wertewirklichkeit ein Element der Stabilisierung des sozialen Geschehens dar. Methodisch bedeutete dieses Ergebnis für Brusiin, daß man bei der Untersuchung der Rechtsordnung gleichzeitig auch die Wertewirklichkeit erforschen kann, die in der Gesellschaft herrscht. Das Wissen, das sich auf eine historisch vorgegebene gesellschaftliche Struktur bezieht - schreibt Brusiin enthält oft auch Erkenntnisse über die Wertewirklichkeit, die in einer Gesellschaft herrscht. Die wertbezogenen Entscheidungen erscheinen in der Struktur der Gesellschaft; sie verwandeln sich aus „reinen Gedanken und Idealen" in Fleisch und Blut. Damit meint Brusiin die normativen Faktoren, die das Alltagsleben der Menschen entscheidend beeinflussen. Die Werte und Ideale, die in der Gesellschaft herrschen, sind nicht vom Recht getrennt. Man kann sie sich auch nicht als freischwebend außerhalb des Rechts vorstellen. Sie werden in der faktischen Struktur der Gemeinschaft materialisiert. Die sozialen Phänomene enthalten bereits Bewertungsgrundlagen in sich, nach denen sie rechtlich gewürdigt werden sollen. Deshalb sollen die Bewertungsgrundlagen ihrerseits durch die Untersuchung der faktischen sozialen Struktur ermittelt werden. Aufgrund der Verbindung, die zwischen der Rechtsordnung, ihrem Inhalt und der Werte Wirklichkeit in einer Gesellschaft herrscht, wäre es falsch, Sein und Sollen in zwei gänzlich verschiedenen Welten anzusiedeln, obwohl Brusiin sich niemals ausdrücklich gegen die Auffassung wendet, daß aus dem Sein das Sollen logisch nicht abgeleitet werden kann. Brusiin faßt die Beziehung zwischen der Rechtsordnung und der Wertewirklichkeit einer Gesellschaft als eine praktische Notwendigkeit auf, in der das Sein und das Sollen als unterschiedliche Hälften desselben gesellschaftlichen Phänomens miteinander korrespondieren. Aus dieser praktischen Not-
3. Erzeugungsprozeß des Rechts
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wendigkeit ergibt sich für Brusiin die Folge, daß die Rechtsordnung, ihr Inhalt und die Werte Wirklichkeit der Gesellschaft, methodisch betrachtet, nicht als gänzlich voneinander getrennte Dinge aufgefaßt werden können. Jede Analyse muß geeignet und in der Lage sein, auf das Ganze zurückzuführen, das aus den untersuchten Elementen gebildet ist. Die Wechselbeziehung zwischen der Wertewirklichkeit und der Rechtsordnung ist der Schlüssel zur Rechtstheorie Brusiins. Die Rechtsordnung reflektiert unbestritten eine bestimmte Wertebasis der Gesellschaft. Das Eindringen der Wertewirklichkeit in die Rechtsordnung ist Teil der kulturellen Entwicklung und zugleich ein Teil der menschlichen Geschichte. Mit diesen Worten bekennt Brusiin seine wissenschaftliche Position. Nach seiner Auffassung haften die Werte und das Recht den sozialen Realitäten an. Brusiin betrachtet die Geschichte vom Standpunkt des Kulturrevolutionärs. Er hat stets die Entwicklung der Kulturen in Verbindung mit einem Regelsystem gesehen. Aufgrund der wertmäßigen Verbindung, die zwischen der Rechtsordnung und der sozialen Wirklichkeit besteht, erschien ihm die Rechtsordnung als notwendige Bedingung eines jeden Erneuerungsvorhabens. Brusiin hält somit alles Recht für praktisch notwendig. Obwohl die Rechtsordnung stets danach trachtet, die herrschende Wertordnung mit den Mitteln des staatlichen Zwanges zu unterstützen, ist sie nur einer der Faktoren, die die Entwicklung der Kulturen steuern. Man kann jedoch den Gedanken Brusiins auf keinen Fall dahin interpretieren, daß die Rechtsordnung auch die Richtung der Entwicklung der Kultur bestimmt. Als entscheidend für die Entwicklung der Kultur sah Brusiin vielmehr die herrschende Wertewirklichkeit an, die in Konflikt mit den Wertungen geraten kann, die die Rechtsordnung stabilisieren. Eben dieser Konflikt und der Veränderungsdruck, den er erzeugt, steuern die Entwicklung der Kultur. Im Fall eines antagonistischen Verhältnisses zwischen der herrschenden Wertewirklichkeit und der Rechtsordnung wandelt sich die dynamische Entwicklung um in einen Konflikt. So verhält es sich meistens in den Staaten, die durch Diktaturen regiert werden. Unter solchen Umständen scheint die Auffassung, daß das Recht aus der Wertewirklichkeit emporsprießt, offenbar unrichtig zu sein. Die Grundlage der Legitimität der Rechtsordnung ist deren eigener Erzeugungsprozeß, den Brusiin als „Emporsprießen" bezeichnet. Die herrschende Wertewirklichkeit und die Werte, die die Rechtsordnung stabilisieren, brauchen nach der Auffassung Brusiins nicht unbedingt miteinander verschmolzen zu sein. Wenn aber die Kluft zwischen ihnen allzu groß wird, droht der Rechtsordnung der Verlust ihrer Legitimationsgrundlage. Die Verbindung zum Prozeß der Entstehung des Rechts wird unterbrochen. Hingegen führt der totale Bruch im Verhältnis zwischen der Wertewirklichkeit und der Rechtsordnung zur Krise der Rechtsordnung. Als Folge dieses Bruchs mag ein elegantes normatives Gerippe übrigbleiben, das zur formalen Rechtfertigung 2 Brusiin
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Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins
der Machtanwendung benutzt wird, aber dem Willen des Volkes nicht entspricht. Das Recht bleibt dabei nur als Form oder Struktur bestehen. Es ist allerdings inhaltlich gesehen, also hinsichtlich seiner Legitimität, kein Recht. Dies erklärt auch auf eine einfache Art, weshalb die Krise der Rechtsordnung sich nicht als verhängnisvoll für die Struktur der Rechtsordnung erweisen muß. Die Struktur kann unverändert bleiben, auch wenn die Legitimitätsgrundlage der Rechtsordnung gänzlich verschwunden ist. Die Probleme, die mit der Legitimität der Rechtsordnung zusammenhängen, wurden im Europa des vorigen Jahrhunderts besonders deutlich. Man könnte sogar die politische Geschichte Europas aus der Perspektive der Legitimitätskrisen seiner Rechtsordnungen schreiben. Dabei sollte man keinesfalls solchen Fragen aus dem Wege gehen, die mit den Grenzen des Rechts, der Selbstlegitimierung des Rechts oder der Veränderung der Legitimitätsbasis zusammenhängen. Brusiin meint, daß diese Probleme stets auf das Verhältnis zwischen dem Recht und der Wertewirklichkeit der Gesellschaft zurückgeführt werden können. Man kann sich das Problem der Legitimität der Rechtsordnung jedoch besser erschließen, wenn man sich dem Thema vom kulturellen und vom sozialphilosophischen Standpunkt aus nähert. In Finnland hat man die Diskussion des Legitimitätsproblems kontinuierlich in diese Richtung ausgebaut. Indem man diese Tatsache konstatiert, bringt man die Untersuchungen Brusiins nicht um ihre Bedeutung. Es verhält sich eher umgekehrt. Brusiin hat durch den Ansatz seiner Untersuchungen den Weg geebnet für ein Forschungsprojekt, das die Legitimität des Rechts zum Gegenstand hat. Das Projekt, das von der Finnischen Akademie der Wissenschaften getragen und von 1985 bis 1992 unter der Leitung des Forschungsprofessors Kaarlo Tuori realisiert wird, konzentriert sich schwerpunktmäßig auf die von Brusiin initiierte Diskussion. b) Verhältnis zwischen Macht und Recht Für die Rechtsordnung ist die Sonderverbindung zur Macht charakteristisch. Die Rechtsordnung ist ein Komplex faktischer Machtverhältnisse. Der Inhalt der Rechtsordnung wird durch politische und wirtschaftliche Tatsachen gebildet. Die Rechtsordnung wächst nach und nach auf der Grundlage der historischen Wirklichkeit. Die Wertordnung, die die Rechtsordnung trägt, wird nämlich in diesem Prozeß herausgebildet. Andererseits wird die Wertordnung mit Hilfe von Machtstrukturen zu Rechtsnormen verfestigt und petrifiziert. Dieser Prozeß ist jedoch weder mechanisch noch im voraus bestimmt. Brusiin sieht im Hintergrund der Rechtsordnung, die sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausbildet, ein System von Zwecken, das gleichermaßen in Entwicklung begriffen ist. Dieses System ist ein unerreichbares Ideal, zu dem das Rechtsdenken, das alles gesellschaftliche Leben rationali-
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siert und organisiert, unermüdlich hinstrebt. Die Rechtsordnung und die Zwecke, die den Hintergrund ihrer Macht bilden, stellen jedoch kein in sich geschlossenes wissenschaftliches System dar, das Ergebnis des theoretischen Denkens wäre. Die Zwecke bilden ein vernünftiges Ganzes, dessen einzelne Bestandteile nicht voneinander getrennt verstanden werden können. Brusiin denkt sich die Zwecke als im System enthalten. Nach seiner Auffassung ist das System der Zwecke Teil der herrschenden Wertewirklichkeit, die im Laufe der geschichtlichen Entwicklung auf der Basis der Vergangenheit allmählich aufgebaut wurde. Durch den Rückgriff auf den Begriff des Systems der Zwecke will Brusiin die Möglichkeit echter geschichtlicher Wahlalternativen im Prozeß der historischen Entwicklung hervorheben. Die Geschichte ist für ihn kein ausweglos kausal determinierter Prozeß; sie ist vielmehr Ergebnis von Wahlentscheidungen. Die Entwicklung der Kultur, die schrittweise vor sich geht, ist gleichsam fortwährende Organisationsarbeit. Ihre treibende und steuernde „Kraft" ist der Komplex von Zwecken, der in der Wertewirklichkeit enthalten ist. In der Sicht Brusiins erscheint das System der Zwecke als ein Faktor, mit dessen Hilfe der stufenweise Aufbau der Kultur geklärt werden kann. Der Wertekomplex der Gesellschaft treibt unaufhaltsam voran, zu den unerreichbaren Idealen, zu denen das Rechtsdenken, aufgrund seiner organisierenden und rationalisierenden Funktion hinsteuert. In diesem Licht gesehen, erinnert der Forschungsansatz Brusiins entfernt an das teleologische Erklärungsmodell - ohne ihm jedoch zu entsprechen. Der Machtinhalt der Rechtsordnung bildet den Ausgangspunkt für die Regelung der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Macht wächst im Laufe der Geschichte empor, die Geschichte ist die Mutter der Macht. Nach Brusiin stützt sich das Recht stets auf die Macht. Daher reicht es aus, wenn die Grundlage des Rechts ihren Rückhalt im Rechtsbewußtsein findet, das die faktischen Machtverhältnisse in der Gesellschaft unterstützt. Die faktisch herrschenden Machtverhältnisse fördern gemäß Brusiin das Recht nur unter der Voraussetzung, daß die herrschende Rechtsüberzeugung die Machtposition mitträgt. Wenn die Rechtsordnung keine Stütze mehr in der herrschenden Rechtsüberzeugung findet, verliert sie ihre Verbindung mit der eigenen Wertebasis und gerät auf diese Art und Weise in die Legitimitätskrise. Nach Ansicht Brusiins kann sich das Recht nur auf die Macht stützen, die von der herrschenden Rechtsüberzeugung in der Gesellschaft getragen wird und von den Mitgliedern der Gesellschaft gebilligt und als verbindlich angesehen wird. Als „legitim" kann daher nur eine mit Zwangsmitteln operierende Rechtsordnung anerkannt werden, die aus der Wertewirklichkeit „emporwächst", die in der Gesellschaft herrscht. Zerfällt hingegen die Legitimationsbasis, verändert sich das Recht in ein System von Verhaltensregeln, in dem nur willkürlicher Zwang herrscht. 2*
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Nach Brusiin gehören die wirtschaftlichen Faktoren zu den wichtigsten Antriebskräften der Kulturrevolution, die die gesellschaftliche Entwicklung steuert. Sie sind der zentrale Punkt in der Entwicklung der Geschichte und bei der Herausbildung des Inhalts der Rechtsordnung. Das Ansehen des Rechts nimmt keinen Schaden, wenn man diese Tatsache zugibt. Die Machtbasis stabilisiert und unterstützt die Entwicklung und den Aufbau der Gesellschaft. Die wirtschaftliche Macht spiegelt sich in den rechtlichen Normenkomplexen wider, denn zwischen der Ausübung der wirtschaftlichen Macht und den Rechtsnormen besteht eine enge Verbindung. Diese Verbindung ist jedoch nicht kausaler Art. Die Menschen sind Akteure der Geschichte. Die wirtschaftlichen Zielsetzungen, die die Rechtsordnung und den Machtinhalt verändern, sind letztlich Wahlentscheidungen der Menschen. Deshalb können in den Beziehungen zwischen der Macht und dem Recht nur Korrelationen festgestellt werden. Nach Brusiin ist das Recht normativer Bestandteil der sozialen Wirklichkeit, der durch seine verbindlichen Steuerungsmechanismen den Gebrauch der wirtschaftlichen und der politischen Macht in der Gesellschaft normiert. Das Recht kommt in der wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft in Form von verpflichtenden Rechtsnormen zum Ausdruck. Brusiin warnt jedoch nachdrücklich vor einer einseitigen Interpretation der Rechtsordnung, die lediglich die wirtschaftlichen Faktoren im Blick behält. Die Erklärungsgrundlage muß vielmehr um die politischen und die kulturellen Faktoren ergänzt werden. Der Forscher soll seinen Blick auf das vollkommene Spiel des Lebens richten. 4. Recht als Essentiale der menschlichen Gemeinschaft Der Athener Sophokles schreibt in seiner Tragödie „Antigone": „Die Welt ist voller Wunder, aber das größte Wunder ist der Mensch". Brusiin vermutete hinter diesen Worten eine tiefe Wahrheit. Er beschäftigte sich mit anthropologischen Problemen: „Sinn, Verstehen, Geschichte, Kultur, alles Worte, die durch ein großes stolzes Wort getragen werden: Der Mensch". Auch das Recht ist für ihn ein Essentiale der menschlichen Gemeinschaft. Brusiin war in seinem rechtsanthropologisch fundierten Werk „Über das juristische Denken" um die Erschließung dieser Wirklichkeit bemüht. Mit seinem theoretischen Ansatz näherte er sich dabei der geistigen Schwester des Existentialismus und der Phänomenologie, nämlich der philosophischen Anthropologie. Der Mensch erscheint Brusiin als ein Wesen, dessen elementares Bedürfnis die Bezugnahme auf solche Umstände ist, die außerhalb der objektiv erfahrbaren, empirischen Wirklichkeit liegen. Diesen für alle Menschen typischen Charakterzug bezeichnet Brusiin als das metaphysische Grunderlebnis des Menschen. Der Mensch strebt mit Hilfe seiner metaphysischen Erlebnisse danach, seinen Wissenshorizont um solche Phänomene zu erweitern, die mit den empirischen Mitteln der Naturwissenschaft nicht greifbar sind. Die wich-
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tigsten Objekte seines Erkenntnisinteresses sind dabei die ursprüngliche Natur des Seins, die Struktur der Wirklichkeit, Form und Substanz, der Sinn des Daseins, der Charakter der Handlung und die Stellung des Menschen im Universum. Nach der Art der Existentialisten, der Phänomenologen und der philosophischen Anthropologen sucht Brusiin die Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu bestimmen. Es handelte sich bei ihm nicht um ein vorübergehendes Interesse an der Problematik. Die ersten Hinweise auf die Phänomenologie datieren im Werk Brusiins aus den fünfziger Jahren. Später sind vor allem phänomenologische Gedanken in seinen Arbeiten vertreten. A m stärksten wurde Brusiin durch das Werk von Edmund Husserl beeinflußt. Es ging ihm jedoch nicht darum, die phänomenologische Methode auf den Komplex rechtlicher Phänomene „anzuwenden". Er hielt vielmehr ein derartiges Vorgehen für im Grunde unphilosophisch und dogmatisch. Die artspezifische Persönlichkeit des Menschen bildet für Brusiin die Grundlage für die Formulierung von Rechtsnormen, denn nur der Mensch ist in der Lage, sich selbst Ziele zu setzen. Die Normen sind darüber hinaus etwas spezifisch Menschliches; sie sind zugleich ein Instrument der Selbstbindung. Da die Rechtsnormen Ausdrucksform der menschlichen geistigen Kultur sind, werden sie durch Veränderbarkeit und Veränderung gekennzeichnet. Das kreative Organisieren als zentraler Punkt des Veränderungsprozesses der Normen sowie die Gestaltung der Zukunft setzen die Fähigkeit voraus, in Normen zu denken. Denn auf die gleiche Art und Weise, wie der Mensch bewußt die Welt aus dem Chaos in den Kosmos verwandelt, verändert er auch mit Hilfe des normativen Denkens die naturgebundene Gemeinschaft in eine Rechtsgemeinschaft. Gerade wegen dieser artspezifischen Besonderheit des Menschen stellte das Recht für Brusiin einen Gestaltungsprozeß dar, der sich in jahrhundertelangen Zyklen vollzog. Einzig und allein zu diesem Zweck hat der Mensch Geschichte. Das Sprechen von den Rechtsnormen setzt daher stets das Verstehen des Menschen, der die Normen geschaffen hat, voraus. Nach Brusiin handelt es sich an dieser Stelle nur um die Gestaltung des Ausgangspunktes. Die Rechtsnormen müssen unter Rückgriff auf das Ganze auch als soziale Normen analysiert werden. Die holistische Analyse fordert daher die Verschiebung von der Individualebene auf die Kollektivebene. Auf der Kollektivebene kann man Normen, die mit den Institutionen verbunden sind, sowie soziale Normen der Sitte und der Moral unterscheiden, die außerhalb des erstgenannten Kreises stehen. Kennzeichnend für die institutionellen Normen ist, daß sie gemäß der Entscheidung der Institution verändert werden können und daß der Institution darin die Befugnis eingeräumt werden kann, gegen diejenigen vorzugehen, die diese Normen verletzen. Die Veränderung und die Sanktionierung durch sonstige soziale Normen geschieht hingegen außerhalb der Institution, in der Bürgergemeinschaft selbst.
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Zwischen den sozialen Normen und der Wertordnung, die in der Gesellschaft vorherrscht, besteht eine enge Verbindung. Nach Brusiin basiert die verbindliche soziale Norm auf den sozialen Bedürfnissen und der Auffassung von der Billigkeit, wie sie die Menschen im gegebenen Zeitpunkt intuitiv in sich erfassen. Aus sozialen Normen können sich ferner Rechtsnormen entwikkeln. In diesem Spezifikationsprozeß verliert die Rechtsnorm nicht ihre Bindung an die Moral. Auch die Rechtsnormen sind Formen „sozialer Kontrolle" . Eine legitime Rechtsnorm kann von ihrem Inhalt her niemals willkürlich sein; sie geht vielmehr aus den sozialen Bedürfnissen hervor, sie besteht aus den Bausteinen der sozialen Wirklichkeit. Wenn die Legitimationsbasis zusammenbricht, wird das Recht in Willkür verwandelt. Brusiin sagt sogar, daß das Recht unter derartigen Umständen als soziale Ordnung nicht möglich ist. a) Struktur der Rechtsnorm Nach Brusiin setzt die Rechtsnorm stets ein Handlungsschema auf einem möglichst hohen Niveau, ein verbindliches Modell, das sich auf ein bestimmtes Verhalten bezieht. Das faktische Verhalten der Bürger wird durch den Vergleich mit dem im Schema verfestigten normativen Modell bewertet. Die Durchschnittschemata enthalten Handlungsmodelle, die auf die Zukunft gerichtet sind. Jedoch antizipieren diese Schemata nicht die zukünftige Entwicklung. Dies ist auf zwei Gründe zurückzuführen. Erstens folgt das faktische Verhalten der Bürger nicht immer dem Handlungsschema, daß in der Norm enthalten ist. Und zweitens, kann sich das Handlungsschema, das die Norm transportiert, im Laufe der Zeit gänzlich verändern. Trotz dieser Beschränkungen kann die Steuerung der Gesellschaft nur mit Hilfe abstrakter Normen geschehen. Die Wortverbindungen, die in den Gesetzestexten erscheinen, sind ein Mittel der Steuerung des Verhaltens der Bürger und der Behörden zur Erreichung der von der Gemeinschaft aufgestellten Ziele. Brusiin, der in diesem Zusammenhang die Abhängigkeit der legitimen Rechtsnormen von der herrschenden Wertewirklichkeit akzentuiert, hebt gleichzeitig hervor, daß man mit Hilfe der Regeln, die auf diese Weise mit Inhalt gefüllt wurden, die Entwicklung der Gesellschaft steuern kann. Die Steuerung wird gerade deshalb möglich, weil die Rechtsnormen die Auffassungen über die Werte, die in einer Gesellschaft vorherrschen, zum Ausdruck bringen. In diesem besonderen Zusammenhang könnte man Brusiin als Instrumentalisten bezeichnen. In seiner Sicht kommt den Rechtsnormen wegen ihrer Steuerungsfunktion Werkzeugcharakter zu. Dieser setzt seinerseits voraus, daß alle Rechtsnormen unbedingt ein Zweckmäßigkeitselement enthalten müssen. Mit jeder legitimen Regelung wird ein sozial akzeptiertes Ziel angestrebt.
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Nach Brusiin gibt es keine Hinweise darauf, daß die Rechtsnormen schrittweise ihre Bedeutung als wichtiges Mittel der bewußten Steuerung des Verhaltens und der sozialen Planung einbüßen sollten. Er charakterisiert die Steuerungsaufgabe der Rechtsordnung, indem er den Normenkomplex, der aus einzelnen Rechtsnormen gebildet wird, mit einem Netz vergleicht. Die Rechtsordnung ähnelt einem riesigen Netz, das über die Wirklichkeit ausgebreitet wird und in dem die Bürger zu bestimmten Zielen hingesteuert werden. Die Pflichten erscheinen den Bürgern in diesem Netz als regelhafte Schemata. Das Aufstellen von Pflichten und das Befolgen von Pflichten sind jedoch zwei unterschiedliche Dinge. Deshalb stand auch für Brusiin fest, daß die Rechtsnormen als ein gewaltiger Versuch der Rationalisierung der Wirklichkeit nicht geeignet sind, die historischen Ereignisse lückenlos vorauszusagen. Die Steuerung der Gesellschaft mit Hilfe der Rechtsnormen geschieht auf dem Wege der doppelten Verallgemeinerung. Die Rechtsnormen regeln grundsätzlich eine zahlenmäßig uneingeschränkte Klasse gleichartiger Fälle. Im Gesetzgebungsprozeß wird der allgemeine Denktypus für diese Fälle entwickelt. Mit Hilfe des Denktypus wird die Klasse charakterisiert, der die zu lösenden Fälle angehören. Wenn man bestrebt ist, allgemeingültige Regeln aufzustellen, sollte der allgemeine Typus ohne Beachtung der Ausnahmefälle anhand von durchschnittlichen Fällen gebildet werden. Darüber hinaus setzt die Rechtsnorm im Normalfall die Annahme der Regelhaftigkeit der zu regelnden Phänomene voraus. Die Regelhaftigkeit des sozialen und des historischen Geschehens konstituiert die zweite Bedingung für die Formulierung der Normen. Diese zwei Faktoren, die „Regelhaftigkeit" und die „Repräsentativität" müssen bei der Formulierung von Rechtsnormen beachtet werden. Brusiin bezeichnet das zwischen den Begriffen Regelhaftigkeit und Repräsentativst herrschende Verhältnis als Identitätsrelation der Rechtsnorm: die notwendige Bedingung einer jeden Rechtsnorm ist eine Serie der sich wiederholenden gleichartigen Fälle. Immer dann, wenn die Machtstrukturen in der Gesellschaft sich in dem Maße stabilisiert haben, daß sie in Form von abstrakten Normen gefaßt werden können, drängt die Struktur des Normenkomplexes auf die Berücksichtigung der Identitätsrelation. Nach Brusiin kann die Rechtsordnung mit Hilfe von parallelen Identitätsrelationen charakterisiert werden. Die Fälle, die zur gleichen Serie gehören, müssen auch gleich entschieden werden. Dies ist für Brusiin aus praktischen Gründen erforderlich. Die Gleichartigkeit der Entscheidungen trägt zur Stabilität des Systems bei. Brusiin sieht aber keine logischen Hindernisse dafür, daß gleichartige Fälle unterschiedlich und unterschiedliche Fälle gleich behandelt werden könnten, wenn es dem Herrscher so gefiele. Ein geordnetes soziales Zusammenleben wäre jedoch unter solchen Umständen unmöglich.
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b) Geltung der Rechtsnorm Brusiin sieht die Aufgabe der Rechtswissenschaft in der Erforschung der sozialen Wirklichkeit unter juristischen Gesichtspunkten. Das Forschungsobjekt ist realistisch im Sinne der ontologischen Konzeption, die im Hintergrund des Denkens Brusiins steht. Die realistische Qualität des Forschungsobjekts bestimmt die Methode der Untersuchung. Nach Brusiin kann das Recht nicht als eine fiktive Erscheinung erforscht werden. Wenn die Rechtswissenschaft sich auf eine Fiktion stützen würde, schreibt er, würde dies bedeuten, daß die Rechtswissenschaftler ihr Lebenswerk auf einer bewußten Lüge aufbauen würden. Ein derartiges Ergebnis hielt Brusiin für tragisch und zutiefst entwürdigend. Brusiin selbst vermied bewußte Lügen. Deshalb bezeichnete er seine Auffassung von der Geltung der Rechtsnorm 1938 als eine „Nicht-fiktive Theorie der Geltung". Nach Brusiin konnte die Geltung der Rechtsnorm nicht aus der formalen Struktur des Staates abgeleitet werden. A m Normativismus Kelsens kritisierte er das Fehlen jeglicher realistischen Erklärungsgrundlage. Die Verbindung der Geltung der Rechtsnorm mit der Wirklichkeit war für ihn auf theoretischem Wege nur durch die Bindung der Geltung der Rechtsnorm an die herrschende Rechtsüberzeugung erreichbar. Nach der Auffassung Brusiins kann die formale Geltung der Rechtsnorm bereits auf dem Umstand basieren, daß die Norm in einem gültigen Normsetzungsverfahren zustandegekommen ist, insbesondere aber, daß bei ihrer Bildung staatsrechtliche Normen beachtet wurden. Das Erklärungspotential der Theorie der formalen Geltung erstrecke sich jedoch weder auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze noch auf das Gewohnheitsrecht. Daher müsse diese Theorie um den Satz erweitert werden, daß die Gewohnheitsnormen und die positivierten Normen sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine allgemeine Geltungsbasis bekommen. Daraus folgt, daß sie zur Begründung ihrer faktischen Geltung des Rückbezugs auf die Rechtsüberzeugungen bedürfen, die in einer Gemeinschaft vorherrschen. Die herrschende Rechtsüberzeugung, die Voraussetzung der faktischen Geltung der Rechtsnorm ist, wächst aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit hervor. Die herrschende Rechtsüberzeugung ist die Explikation der wertungsbedingten Entscheidungen in der Gesellschaft. Nach Brusiin unterscheidet dieses Kriterium sie von den Meinungen. Die Meinung ist „etwas Alltägliches, das auf der Oberfläche des Wissens reflektiert wird". Sie wird künstlich erzeugt, um die im Augenblick vorhandenen Bedürfnisse einer Interessengemeinschaft zu fördern. Dagegen ist die herrschende Rechtsüberzeugung in der geschichtlichen Wirklichkeit verankert. Sie ist Ausdruck der Werteauffassung der Bürger, die aus der Tiefe der Kultur hervorquillt.
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Die Wertebasis der Gesellschaft ist jedoch nicht homogen. Die Vielfalt der Wertungen wird in den unterschiedlichen Weltbildern der Bürger widergespiegelt. Daher wäre es nach Brusiin empirisch falsch zu behaupten, daß die herrschende Rechtsüberzeugung in der Gesellschaft inhaltlich integrativ wirke. Eine Rechtstheorie, die eine solche Behauptung aufstellt, idealisiert die gesellschaftliche Wirklichkeit und baut auf einer unfruchtbaren Fiktion auf. Die faktische Geltung der Rechtsnorm setzt nach Brusiin nicht voraus, daß die Rechtsnorm restlos von allen Mitgliedern der Gemeinschaft akzeptiert wird. Den Anforderungen der faktischen Geltung wird Genüge getan, wenn die Rechtsnorm in einem verfassungsgemäßen Verfahren zustande gekommen ist und ihr inhaltlicher Regelungsanspruch im Einklang mit der herrschenden Rechtsüberzeugung in der Gesellschaft steht. Brusiin bemerkt jedoch, daß die Rechtsnorm in der beschriebenen Konstellation alle Bürger verpflichtet. Die Art und Weise, in der Brusiin die herrschende Rechtsüberzeugung untersucht, erinnert an die Beschreibung der volonté générale durch Jean-Jacques Rousseau. Zumindest aber gleicht sie der Interpretation der volonté générale durch den Schüler Brusiins Juha Tolonen. Nach Tolonen ist volonté générale der Wille der Menschen, die von ihren egoistischen Partikularinteressen absehen, die nicht im Einklang mit dem Gemeinwohl stehen und sich stattdessen auf das Interesse der Gemeinschaft konzentrieren. Obwohl die volonté générale den faktischen Willen beschreibt, ist sie stets interpretierter Wille. Empirisch gesehen, sind die Ziele und Ansichten der Menschen stets unterschiedlich und sogar entgegengesetzt. Darüber hinaus gibt es Menschen, die nicht wissen, was sie wollen und sich deshalb widersprüchlich verhalten. Die volonté générale ist insofern ein konstruktiver Begriff, mit dessen Hilfe expliziert wird, unter welchen Voraussetzungen das Volk zum Willenssubjekt werden kann. 1 Mutatis mutandis: die herrschende Rechtsüberzeugung ist ein konstruktiver Begriff, der es erleichtert, das Verhältnis zwischen dem Recht und der Wertewirklichkeit zu verstehen. Trotz der Tatsache, daß die Menschen in unterschiedlicher Weise denken und werten, zerfällt die Rechtsüberzeugung nicht in soviele Einzelteile, wie es Mitglieder in der Gemeinschaft gibt. Sie wird vielmehr vereinheitlicht und objektiviert. Die Mitglieder der Gemeinschaft sind seit ihrer Kindheit an die Machtverhältnisse ihres Lebenskreises gebunden. Diese Machtverhältnisse setzen sich im Wertebewußtsein der Bürger derart fest, daß mancher anfängt, sie als unveräußerliche Werte anzusehen. Die Vereinheitlichung der Wertungen ist jedoch nur unter der Bedingung möglich, daß die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft, die als Akteure der Geschichte wirken, die Machtverhältnisse als legitim auffassen. 1
Juha Tolonen, Valtio ja oikeus (dt.: Staat und Recht), Turku 1989, S. 58f.
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Wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt wird, kann sich auch keine Rechtsüberzeugung entwickeln, die die Machtstruktur stützen könnte. Eine derartige Rechtsordnung verliert allmählich ihre Verbindung zur Wertebasis der Gesellschaft und gerät damit in die Legitimitätskrise. Nach der Auffassung Brusiins lebt das Recht vor allem in den Wertungen, die die Bürger vornehmen. Die faktische Geltung der Norm hängt daher stets von der Stärke und von der Spontaneität ab, mit der die Bürger ihre Wertungsentscheidungen treffen. Die herrschende Rechtsüberzeugung ist somit keine begriffliche Fiktion, sondern sie gibt ein gewisses sozialpsychologisches Phänomen und ein bestimmtes soziales Faktum wieder. Die herrschende Rechtsüberzeugung ist hinsichtlich ihres Inhalts weder versteinert noch statisch. Der Inhalt der Rechtsüberzeugung schwankt, weil die geschichtliche Wirklichkeit, die die Basis des Rechts darstellt, selbst ständigen Veränderungen unterliegt. Die sich wandelnde geschichtliche Wirklichkeit formt das Wertebewußtsein der Bürger. Damit verändert sich das geltende Recht gemäß den Veränderungen in den Wertungen der Gemeinschaftsmitglieder. Brusiin hat wiederholt hervorgehoben, daß die Wertungen der Menschen konkrete und beobachtbare Phänomene sind. Er hat es häufig in der Weise ausgedrückt, daß er anstatt von der herrschenden Rechtsüberzeugung von der sozial herrschenden Grundeinstellung sprach. Die Grundeinstellung, die in der Gemeinschaft herrscht, setzt sich aus den Überzeugungen der Gemeinschaftsmitglieder über die sozial wertvollen und die sozial nachteiligen Dinge zusammen. Die sozial herrschende Grundeinstellung erhält durch die Gesetzestexte ihre rechtlich verpflichtende Form. Indem Brusiin die Rechtsüberzeugung zur Bedingung der faktischen Geltung der Rechtsnorm erhebt, ist er darum bemüht, die Antwort auf die Frage zu finden, wie eine soziale Ordnung überhaupt zur Rechtsordnung wird. Die formellen Umstände, d.h. die Feststellung, daß die Normen durch eine bestimmte Autorität gesetzt werden oder daß sie Teil der sozialen Machtstrukturen sind, reichen als Antwort nicht aus. Die formellen Umstände müssen vielmehr um inhaltliche Kriterien ergänzt werden. Denn die Rechtsordnung schöpft ihre Legitimation aus der Wertebasis der Gesellschaft. Während seiner Forscherlaufbahn kehrte Brusiin mehrmals zum Problem der Geltung der Rechtsnorm zurück. Es scheint, daß dieses Problem für ihn deshalb so wichtig gewesen ist, weil es ihn zwang, die Stellung dazu zu beziehen, was realistisch ist und was nicht. 1938 hob Brusiin in seinem Konzept des Realismus vor allem die zentrale Stellung der herrschenden Wertewirklichkeit hervor; 1949 ergänzte er seine Theorie, indem er ihr funktionale Elemente hinzufügte. Diesen Durchbruch reflektiert sein Werk „Über die Objektivität der Rechtsprechung". Bei der Neuformulierung seiner Position zum Problem
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der Normengeltung wurde Brusiin offensichtlich durch den skandinavischen Realismus inspiriert. Nach Brusiin kann die Geltung der Rechtsnorm als Funktion des Verhaltens der Bürger beschrieben werden. Die Rechtsnorm gilt, wenn die unmittelbaren Normadressaten, allen voran also einzelne Individuen, sie in den meisten Fällen befolgen. Auf die Frage, warum dies auf diese Art und Weise geschieht, antwortet Brusiin wie dargelegt. Der erklärende Faktor ist die herrschende Rechtsüberzeugung. Die sozialpsychologische Seite der Normgeltung stellt sich Brusiin als einen Kreis vor, der aus dem Wertebewußtsein verschiedener Menschen und aus ihrem Verhalten gebildet wird. Die Probleme der Normgeltung erschöpften sich jedoch nicht in der Darstellung der sozialpsychologischen Aspekte. Brusiin entwickelte seine Geltungstheorie im Geiste des skandinavischen Realismus, denn nach seiner Ansicht setzt die Normgeltung neben dem sozialpsychologischen Element auch die Erfüllung der Sanktionierungspflicht voraus, die der staatlichen Institution auferlegt ist. 2 Die Rechtsnorm gilt daher nur dann, wenn auch die zur Sanktionierung des verbotenen Verhaltens verpflichteten Organe ihrer Pflicht nachkommen. Die Einheitlichkeit des Verhaltens der Bürger und die Verwirklichung der Sanktionierungspflicht bilden die Minimalanforderungen der Geltung der Rechtsnorm. Ein derart formuliertes Problem der Normgeltung wird damit ergänzt um den Aspekt der Effizienz der Norm. Nach Brusiin kann man das Verhalten zwischen der Geltung und der Effizienz mit Hilfe einer numerischen Skala darstellen. Wenn man die beiden Endpunkte der Effizienzskala entsprechend mit den Werten 0 und 1 kenntlich macht, wird die Grenze der Normgeltung in der Nähe des Wertes 1 zu finden sein. Eine genaue Stelle der Normgeltung auf der Skala kann jedoch nicht aufgezeigt werden. Die Grenzen der Normgeltung sind schwankend und müssen letztlich aus sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten abgeleitet werden. 5. Allgemeine Rechtsgrundsätze Nach der Auffassung Brusiins enthalten die geltenden Rechtsnormen in gewissem Sinn einen Kern von Werten, die in der Gemeinschaft vorherrschen. Mit Hilfe der Normen kann jedoch die Erklärung aller rechtlich verbindlichen Auffassungen einer Gemeinschaft erschöpfend nicht vorgenommen werden. Dazu sind die Rechtsnormen ein allzu steifes Ausdrucksmittel der Wertungen. 2 Ausführlicher zum Einfluß des skandinavischen Realismus auf die finnische Rechtstheorie: Markku Heiin, Lainoppi ja metafysiikka. Tutkimus skandinaavisen oikeusrealismin tieteenkuvasta ja sen vaikutuksesta Suomen siviilioikeuden tutkimuksessa vuosina 1920 - 1960 (dt.: Rechtslehre und Metaphysik. Untersuchung des Wissenschaftsbegriffs des skandinavischen Rechtsrealismus und seines Einflusses auf die finnische zivilistische Forschung in den Jahren 1920 - 1960), Vammala 1988.
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Es kommt häufig vor, daß eine formell geltende Rechtsnorm aufgrund der Verzögerungen im Gesetzgebungsprozeß der gesellschaftlichen Wertewirklichkeit nicht mehr entspricht. Deshalb bedarf es nach Brusiin des Rückgriffs auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die in der Rechtsordnung herrschen. Brusiin war ein Denker vor-dworkinschen Typs. Nach seiner Auffassung sind es die Regeln und die Grundsätze, die gemeinsam die Rechtsordnung konstituieren. Die Werte Wirklichkeit der Gesellschaft wird durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze subtiler vermittelt als durch die Rechtsnormen. Die Rechtsnormen sind unbestritten Kompromißentscheidungen der Vergangenheit, die zum Ziel haben, die Gegenwart zu erfassen und in die Zukunft zu weisen. Wenn der erhoffte soziale Einfluß, der in den Normen ausgedrückt wird, im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr der Sachlage in der Gesellschaft entspricht, werden andere Richtlinien zur Bewältigung der vorliegenden Probleme benötigt. Der Bedeutungsinhalt des allgemeinen Rechtsgrundsatzes unterliegt Schwankungen und paßt sich damit der gesellschaftlichen Entwicklung an. Darin zeigt sich nach Brusiin die unmittelbare Verbindung zwischen der Rechtsnorm und der Wirklichkeit, in der die Wertungen gebildet werden. In einem Fall, in dem die formal gültige Rechtsregel faktisch nicht als gültig angesehen werden kann, weil sie von der herrschenden Rechtsüberzeugung nicht getragen wird, kann der Richter seine Entscheidung gemäß den allgemeinen Rechtsgrundsätzen treffen. Brusiin stellt sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze als rechtliche Weltbilder vor, deren entscheidender Bestandteil der Glaube der Individuen an andere Menschen und an den Inhalt eigener Erwartungen ist. Da der Inhalt der Glaubensvorstellungen Veränderungen unterliegt, enthält die Rechtsordnung die allgemeinen Rechtsgrundsätze häufig in formloser Gestalt. Auch im positiven Recht brauchen keine Normen ersichtlich zu sein, die unmittelbar auf den einschlägigen Grundsatz hinweisen. Dennoch erlauben es zahlreiche Regelungen, auf die Geltung des allgemeinen Grundsatzes rückzuschließen. Obwohl der allgemeine Grundsatz nirgends ausdrücklich hervorgebracht wird, kann seine Geltung trotzdem offensichtlich sein, denn sie folgt aus dem Geist der Rechts- und Sozialordnung. Nach Brusiin wäre es Positivismus im pejorativen Sinne des Wortes, wenn man die Voraussetzung aufstellen würde, daß der allgemeine Grundsatz stets ausdrücklich positiviert sein muß. Es gibt prinzipiell auch keine Hindernisse dafür, daß der allgemeine Rechtsgrundsatz im Gesetzestext eine präzise Gestalt annimmt. Die schlichte Formulierung des Grundsatzes nach der Form der Rechtsordnung bedeutet noch nicht, daß seine Generalisierbarkeit verworfen wird. Indem Brusiin diesen Gedanken zum Ausdruck brachte, antizipierte er die Diskussion über das Verhältnis zwischen den Regeln und den Prinzipien und lokalisierte damit viele Probleme, die heutzutage Gegenstand ernsthafter Debatten sind. Ich erlaube mir die
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Behauptung, daß sich gerade an dieser Stelle der Einfluß Brusiins auf das Denken von Aulis Aarnio besonders deutlich zeigt. 3 Ungeachtet der Frage, ob der allgemeine Grundsatz präzise nach Art der Gesetzesregeln gebildet wird oder nicht, setzt seine Geltung die Zugehörigkeit zu einer konkreten Rechtsordnung voraus. Es ist nicht einmal möglich, von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen so zu sprechen, als ob sie von der positiven Rechtsordnung getrennt wären. Nach Brusiin sind auch solche Grundsätze nicht denkbar, die außerhalb der Rechtsordnung in einer mehr oder minder allgemeingültigen und überzeitlichen Form gelten würden. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind nicht überpositive, unbestimmte naturrechtliche Postulate, die an die Rechtsordnung gerichtet sind. Brusiin charakterisiert in diesem Zusammenhang das Naturrecht als eine Menge von utilitaristischen Grundsätzen,.die häufig zu hierarchischen Systemen zusammengefaßt werden und anschließend als eine solche Hierarchie für überzeitlich und in allen Rechtsordnungen gültig erklärt werden. Brusiin hebt hervor, daß die Grundsätze, die im Naturrecht zum Ausdruck kommen, lediglich als Wunschvorstellungen über das positive Recht aufzufassen sind. Sie drücken eine Möglichkeit aus, wie man ein ideales Rechtssystem aufbauen könnte. In diesen Wunsch Vorstellungen spiegeln sich Wertungen wider, die Teil der sozialen Wirklichkeit sind. Eine Rechtsgemeinschaft, die sie tragen und ihnen auf diese Weise Bindungskraft verleihen würde, existiert jedoch nicht. Wenn die Wertungen in einer Gesellschaft hinsichtlich einer gewissen Sachlage derart zusammenfallen, daß ein ansehnlicher Teil der Individuen die gleiche wertmäßige Ausgangsposition annimmt, kommt es zur Herausbildung der allgemeinen Rechtsgrundsätze. Daher kann ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der in einem solchen Prozeß seine Gestalt gewonnen hat, auch mit einem naturrechtlichen Postulat identisch sein. Aus diesem Grund ist es auch möglich, daß in verschiedenen Rechtsordnungen gleichzeitig allgemeine Rechtsgrundsätze gleichen Inhalts gelten. Brusiin weist jedoch darauf hin, daß dieser soziologische Umstand meistens eine metaphysische Färbung erfährt und dazu führt, daß man im Ergebnis von absolut verpflichtenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen spricht. Nach Brusiins Auffassung beruht die Bindungskraft der nicht ausdrücklich formulierten positivrechtlichen Grundsätze auf denselben sozialen Faktoren wie die Bindungskraft der Rechtsnormen. Die Geltung der allgemeinen Rechtsgrundsätze ist durch ihren Bezug auf die herrschende Rechtsüberzeugung mit der gesellschaftlichen Werte Wirklichkeit verbunden. Für Brusiin ist dies die einzig denkbare Möglichkeit, die Bindungskraft dieser Grundsätze zu 3 Vgl. hierzu: Aulis Aarnio , Taking Rules Seriously, in: Urpo Kangas (ed.): Enlightenment, Rights, Revolution. A collection of Finnish papers for the 14th World Congress of the IVR 17. - 23. 8. 1989 Edinburgh. Publications of the Departement of Jurisprudence and Comparative Law, University of Helsinki, Helsinki 1989, S. 1 - 16.
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erklären. Die Geltung der Rechtsgrundsätze stützt sich unmittelbar auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Darüber hinaus spiegeln die allgemeinen Rechtsgrundsätze besser als andere soziale Tatsachen die faktische Struktur der Gesellschaft wider. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze gelten daher auch nicht ewig, sondern sind mit der Basis der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden. Die Verbindung der allgemeinen Rechtsgrundsätze mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist nach Auffassung Brusiins derart unmittelbar, daß es sogar möglich ist, die Grundlinien der Struktur einer Gemeinschaft offenzulegen, sofern die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die in dieser Gemeinschaft gelten, bekannt sind. Diese These könnte man als Korrelationsthese bezeichnen. Die These besagt, daß zwischen den Grundlinien der Struktur der Gemeinschaft und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die in dieser Gemeinschaft gelten, ein beobachtbares Korrelationsverhältnis besteht. Brusiin scheint bei der Formulierung seiner Korrelationsthese an das Ganze gedacht zu haben, das aus den einzelnen allgemeinen Rechtsgrundsätzen gebildet wird. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind für ihn inhaltliche Grundsätze, deren faktische Geltung der Unterstützung seitens der herrschenden Rechtsüberzeugung bedarf. Wenn hingegen nur einige Grundsätze mit der erforderlichen Überzeugung getragen werden, kann die Gesellschaft, gestützt auf gänzlich voneinander abweichende inhaltliche Grundsätze, nicht legitim funktionieren. Sofern die allgemeinen Grundsätze, die das Handeln in der Gesellschaft steuern, vollends von der Werte Wirklichkeit, die in ihr herrscht, abweichen, gerät die Gesellschaft in eine ernsthafte Krise. 4 Die Feststellung der Krise setzt ein Mittel voraus, mit dessen Hilfe der Inhalt der Rechtsordnung ermittelt werden könnte. In Fällen, in denen der allgemeine Rechtsgrundsatz ausdrücklich in der Form der Rechtsnorm gebildet wurde, stößt man bei seiner Ermittlung auf keine wesentlichen Schwierigkeiten. Die Situation wird erst dann problematisch, wenn der Entscheidende den gesetzlichen Regeln keinen direkten Hinweis auf einen Grundsatz entnehmen 4 Brusiin verfaßte seine Theorie der allgemeinen Grundsätze Ende der dreißiger Jahre. Diese Zeit war besonders empfänglich für die Bedeutung der Beschäftigung mit den allgemeinen Grundsätzen im Recht. Die Auffassung Brusiins von der Bedeutung der allgemeinen Grundsätze für die Legitimation der Gesellschaft kann als Kritik der Gesellschaften interpretiert werden, in denen zwischen der Wertewirklichkeit und den allgemeinen Grundsätzen ein klar feststellbarer Konflikt besteht. Die Legitimität des Rechts wurde im Laufe der Zeit zu einem der wesentlichsten Probleme der rechtstheoretischen Debatte. Man kann daher das heutige Stadium der finnischen Rechtstheorie als einen Dialog bezeichnen zwischen den Forschern, die sich mit dem Legitimationsproblem beschäftigen, und denen, die sich der juristischen Argumentation widmen. Vgl. zu diesem Dialog: Kaarlo Tuori, Legitimität des modernen Rechts. Rechtstheorie 20 (1989), S. 221 - 243; Georg Henrik von Wright: Legitimität des Rechts. Rechtstheorie 20 (1989), S. 137 - 141 und Aulis Aarnio: Zur Legitimität des Rechts. Ein begrifflicher Überblick. Rechtstheorie 20 (1989), S. 143 - 151.
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kann. In dieser ungewissen Lage können die allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht induktiv aus den einzelnen Rechtsnormen oder aus dem Wesen der Dinge abgeleitet werden. Die Frage nach dem Wesen der Dinge führt den Entscheidenden auf den Holzweg. Das einzige Mittel, das geeignet ist, die Unsicherheit zu beseitigen, ist die Untersuchung aller sozialer Tatsachen und des Ganzen, das aus ihnen besteht. Die sozialen Tatsachen bilden das Beweismaterial, auf dessen Grundlage die Existenz und der Inhalt der Grundsätze ermittelt werden können. Brusiin zählt zu den sozialen Tatsachen die Geschichte der Gesellschaft sowie die geistigen Strömungen, die in der Gesellschaft herrschen. Er glaubt, daß nur die Geschichte eine zuverlässige Grundlage für die Ermittlung der allgemeinen Rechtsgrundsätze abgeben kann, weil die Grundsätze keine von Zeit und Raum losgelösten metaphysischen Postulate an die Rechtsordnung sind. Aus dem gleichen Grund müssen bei der Ermittlung der allgemeinen Rechtsgrundsätze die geistigen Strömungen, die in der Gesellschaft herrschen, ausdrücklich in die Untersuchung einbezogen werden, weil sie die Veränderungen in der Wertewirklichkeit explizieren und die Entwicklung der wertungsbedingten Grundpositionen aufzeigen. Für Brusiin weist das Verfahren zur Ermittlung der allgemeinen Rechtsgrundsätze empirische Züge auf. Die Rechtswissenschaft darf nach seiner Ansicht keine allgemeinen Rechtsgrundsätze „aus sich heraus" entwickeln. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze sind keine Schreibtischphilosophie. Sie sind genauso wirklich wie die gesellschaftliche Werte Wirklichkeit. Deshalb ist die logisch-philosophische Ableitung der allgemeinen Rechtsgrundsätze schlichtweg fruchtlos und gefährlich. Der Prozeß der Ermittlung der allgemeinen Rechtsgrundsätze verläuft von der empirischen Beobachtung des geschichtlichen Geschehens bis hin zur Feststellung des Bedeutungsinhalts der Rechtsgrundsätze. Der Entscheidende bildet durch Verbindung seines Wissens über das Ganze der Rechtsordnung, das er durch Sinneserfahrungen erworben hat, den Bedeutungsinhalt des allgemeinen Rechtsgrundsatzes aus. Auf diese Art und Weise ergänzen zwei Elemente einander: das Empirische und das Realistische. 6. Über das juristische Denken Bei der Formulierung einer wissenschaftlichen Theorie müssen nach der Ansicht Brusiins stets die Eigenschaften des Menschen, seine metaphysischen Grunderfahrungen sowie sein Bedürfnis, den Blick auf die „ewigen Sterne und den Tod" zu richten, berücksichtigt werden. Gleichzeitig aber ist der Mensch ein Wesen, das untrennbar mit der eigenen Kulturform verbunden ist. Der Mensch ist eine zielgebundene Funktion der Totalität. Dieser Umstand muß auch der Theorie des juristischen Denkens zugrunde gelegt werden.
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Brusiin glaubt, daß es nicht sinnvoll ist, eine normative Lehre darüber aufzustellen, wie der Jurist zu denken hat, denn es ist nicht möglich, Wissen über alle bisher unbewiesenen Umstände zu erlangen. Eine Richtlinie würde stets die subjektive Auffassung ihres Urhebers darüber enthalten, was für die richtige und die erstrebenswerte Denkart gehalten werden sollte. Daher strebt Brusiin danach, anstelle eines normativen Konzeptes solche gemeinsamen Züge des juristischen Denkens aufzuspüren und hervorzuheben, die gerade für das Denken der Juristen charakteristisch sind. Es geht ihm also darum, anstatt einer idealistischen normativen Theorie eine realistische Deskription vorzunehmen. Eine Theorie, die sich auf das juristische Denken bezieht, muß geeignet sein, die Struktur des juristischen Denkens und seine inhaltlichen Elemente zu erfassen. Deshalb ist eine holistische Theorie unausweichlich zweiteilig. Erstens muß sie geeignet sein, die formellen Denkprozesse und ihre formellen Grundzüge darzustellen und auf diese Weise das Verstehen juristischer Denkprozesse zu erleichtern. Das Verstehen setzt die Sammlung von Beobachtungsmaterial voraus, das sich auf das juristische Denken bezieht. Den Ausgangspunkt bildet die konkrete Wirklichkeit. Brusiin faßt auch das juristische Denken als Funktion einer konkreten gesellschaftlichen Lage, die durch die eigene Zeit bedingt ist. Sie hängt von der sozialen Atmosphäre einer jeden Gemeinschaft ab sowie von den Machtstrukturen, die in einer Gemeinschaft vorherrschen. Die Grundkategorie des juristischen Denkens ist die Kategorie des Ganzen, die in der Theorie Brusiins das geordnete soziale Leben symbolisiert. Das Recht ist seiner Qualität nach kritische und fortwährende soziale Organisationsarbeit. Es dient der gleichförmigen Steuerung des menschlichen Verhaltens. Um die gesellschaftlichen Phänomene regeln zu können, werden in den Prozessen des juristischen Denkens die menschlichen Bedürfnisse klassifiziert. Die Klassifizierung der menschlichen Bedürfnisse schafft die Grundlage für die Herauskristallisierung der Normen, die sich auf diese Bedürfnisse beziehen. Brusiin räumt auch ein, daß der Richter mit Hilfe juristischer Denkwerkzeuge den Strom des sozialen Geschehens steuert. 5 Deshalb steht der Jurist bei der Rechtsanwendung vor einer verantwortungsvollen sozialen Aufgabe. Brusiin war Kognitivist. Nach seiner Ansicht beeinflußt der Umfang des Wissens und Könnens eines Menschen die Art, in der er das Recht als soziales 5 Das Problem der Steuerungsfunktion der Entscheidungshandlung taucht immer wieder auf der Oberfläche der rechtstheoretischen und der verfassungsrechtlichen Debatte auf. Gewöhnlich wird das Problem im Zusammenhang mit den Präjudizien und der Rechtsquellenlehre diskutiert. In Finnland wurde eine lebhafte Diskussion über dieses Problem geführt, nachdem der Präsident des Obersten Gerichts verkündet hatte, daß die Entscheidungen des Obersten Gerichts für die Gerichte unterer Instanzen bindend sind. Vgl. zu dieser Diskussion: Pekka Timonen, Ennakkotapaukset ja niiden merkitys oikeuslähteenä (dt.: Präjudizien und ihre Bedeutung als Rechtsquelle), Mänttä 1987.
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Phänomen wahrnimmt. Brusiin unterschied in seiner Analyse das juristische Denken der Laien, der praktisch tätigen Juristen und der Rechtswissenschaftler. Er stellte fest, daß der Laie aufgrund der Tatsache, daß er juristisch nicht geschult ist, die soziale Wirklichkeit häufig in einer offeneren und gestaltlosen Form wahrnimmt als der geschulte Jurist. Präzise Wahrnehmungen der sozialen Wirklichkeit setzen daher ein Wissen über die Wirklichkeit, das der Wahrnehmungssituation vorgelagert ist, immer schon voraus. Alle Wahrnehmungen sind nicht nur theorieabhängig, sondern auch betont wissenabhängig. Die Wahrnehmungen ergänzen einander, der Wissenserwerb in der Gesellschaft ist ein Lernprozeß. Das Lernen kann unsystematisch, lediglich gestützt auf Alltagserfahrungen geschehen. Es kann aber auch als ein konzentrierter und systematischer Annäherungsprozeß an das Wissen gestaltet werden. Die rechtswissenschaftliche Grundausbildung stellt einen Teil des konzentrierten Lernprozesses dar. In diesem Prozeß wird der Laie zum Fachmann, der rechtlich bedeutsame Aussagen von den rechtlich irrelevanten Faktoren unterscheiden kann. Deshalb, schreibt Brusiin, kann ausschließlich der Jurist den Kosmos anstatt des bruchstückhaften Chaos erleben. Anhand dieser Überlegungen behauptet Brusiin, daß das juristische Denken ein autonomes Gebiet konstituiert, das Außenstehenden unzugänglich ist. Fachleute denken über die Angelegenheiten ihres Faches in Fachbegriffen und in Fachtermini. Fachleute sind für Brusiin unter anderen der Richter, der Rechtsanwalt, der Jurist, der am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist, der Verwaltungsbeamte und der Unternehmensjurist. Sie alle vereint die Tatsache, daß sie über die Angelegenheiten ihres Faches aufgrund des Wissensvorsprungs denken, der ihnen im Ausbildungsprozeß vermittelt wurde. Brusiin bezeichnet auch das Denken des praktisch tätigen Juristen, der mit der Rechtsanwendung befaßt ist, mit dem Terminus „das juristische Denken". Das Denken des Forschers unterscheidet sich nach Brusiin von der Denkart des praktisch tätigen Juristen. Es handelt sich aber um eine Stufendifferenz, der Grundtenor ist derselbe. Die Stufendifferenz beschreibt Brusiin mit Hilfe der Unterscheidung abstrakt/konkret. Wenn der Forscher versucht, die juristischen Phänomene zu systematisieren, bewegt sich sein Denken im Rahmen der abstrakten Situationstypen.6 Dagegen ist das Denken des praktisch tätigen Juristen an konkrete, endlos differenzierte Rechtsfälle gebunden. Die Stufendifferenz ist daher zwar nicht bodenlos, sie ist aber nach Auffassung Brusiins allgemein verbreitet. Diese Sachlage ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Zielsetzungen der Forscher und der praktisch tätigen Juristen unterschiedlich sind. Die unterschiedlichen Denkkategorien werden jedoch dadurch vereinigt, daß sich die geschilderten Denkarten auf dieselben Grundbegriffe beziehen. 6
Zu den epistemologischen Unterschieden im Rechtsdenken vgl. Aulis Aarnio, Laintulkinnan teoria (dt.: Theorie der Gesetzesauslegung), Juva 1989, S. 56ff. 3 Brusiin
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Die Art, in der beide Berufsgruppen die juristischen Begriffe in ihrer Tätigkeit anwenden, ist auffallend different. Wenn der Forscher einen juristischen Begriff für problematisch hält, stellt er Überlegungen über seinen Bedeutungsinhalt und die rechtlich relevanten Folgen seines Gebrauchs an. Der praktisch tätige Jurist hingegen benutzt den problematischen Begriff unbekümmert weiter. Es differieren hier also die finalistischen Begründungen des Gebrauchs des juristischen Begriffs. Beide Personengruppen sind an der Lösung des Problems interessiert, aber ihr Interesse bezieht sich stets auf wesentlich unterschiedliche Abstraktionsstufen. Der praktisch tätige Jurist gebraucht nach Brusiin in den eigenen Denkprozessen juristische Begriffe sowie juristische Grundformen, um die juristischen Phänomene besser in den Griff zu bekommen. In seinen Denkprozessen wendet der Jurist Begriffe an wie zum Beispiel Rechtsordnung, Rechtssubjekt, Rechtspflicht oder juristische Person. Diese Grundbegriffe verbindet er mit Hilfe verschiedener Denkformen. Denkformen sind nach Brusiin zum Beispiel die Ausdrücke „wenn-dann", „berechtigt sein", „verpflichtet sein" und dergleichen. Der entscheidende Unterschied zwischen den juristischen Begriffen und den Grundformen liegt nach der Auffassung Brusiins darin, daß das Rechtsdenken des praktisch tätigen Juristen an den Grundformen ansetzt und verschiedene Grundbegriffe als Denkelemente benutzt. Es scheint, daß das analytische Instrumentarium, dessen sich Brusiin bei der Beschreibung juristischer Denkprozesse bedient, auf die Verfahrensweise der formalen Logik zurückgeht. In der formalen Logik definieren die zentralen Satzbildungsregeln, welche Symbolketten als Sätze anzusehen sind und welche nicht. Bestimmte Grundbegriffe werden miteinander durch Konnektive verbunden, die Grundformen werden durch Abwandlungsregeln variiert. Mit Hilfe solcher Analysen können alle benötigten Schlußfolgerungen gezogen werden. Brusiin hebt das Prinzip des zweckmäßigen Gebrauchs der Begriffe im juristischen Denken besonders hervor. Der praktisch tätige Jurist gebraucht die Begriffe „Geltung" oder „subjektives Recht" aufgrund von Prinzipien, die wesentlich von denen des Rechtswissenschaftlers, der mit der Grundlagenforschung befaßt ist, abweichen. Der Forscher denkt also an verschiedene Theorien der Geltung und an ihre Adäquanz, der praktisch tätige Jurist argumentiert hingegen mit Hilfe des Begriffs der Rechtsgeltung zugunsten der von ihm vorgelegten Entscheidungsalternative. Obwohl Brusiin die Bedeutung der Begriffe im juristischen Denken hervorgehoben hat, hat er nicht einmal daran gedacht, daß die juristischen Entscheidungen aus dem Inhalt dieser Begriffe abgeleitet werden könnten. Er strebte auch nicht danach, die Grundbegriffe zu systematisieren und sie in einem geschlossenen System zu erfassen. Brusiin hat auch keine Empfehlungen darüber aufgestellt, wie die Begriffe zur präziseren Charakteristik der rechtlichen
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Phänomene gebraucht werden könnten. Die juristischen Begriffe waren für ihn deshalb relevant, weil der praktische Jurist mit Hilfe verschiedener Denkformen diese Begriffe miteinander verknüpft. Brusiin glaubte, daß der praktische Jurist das Wissen, das er benötigt, um die Grundbegriffe in den Griff zu bekommen, in der juristischen Grundausbildung erwerben kann. Der Inhalt dieser Ausbildung wird gemäß den internen Wertungen der betriebenen Forschung gestaltet. Die herrschende Ideologie bestimmt den Inhalt der Ausbildung. Brusiin unterschied deshalb den rechtswissenschaftlichen Denkprozeß und die mit seiner Hilfe gebildeten mannigfachen Sachverhaltskonfigurationen. Die endgültige Form, in der ein rechtlich relevanter Sachverhalt zum Ausdruck kommt, bezeichnet Brusiin als Objektivation. Nach seiner Auffassung besteht das Recht aus aufeinander aufbauenden Elementen, aus den Objektivationen. Die Objektivationen sind Ausdruck des rechtswissenschaftlichen Denkprozesses, die vom Denkprozeß selbst, in dem sie erzeugt werden, getrennt werden können. Zwischen ihnen herrscht jedoch ein Korrelationsverhältnis. Die Objektivationen des rechtswissenschaftlichen Denkens kommen häufig erst in schriftlicher Form zum Vorschein. Auf diese Art und Weise können sie auch relativ lange Zeit nach ihrer Erzeugung noch zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung werden. Nach Brusiin sind beispielsweise Gesetzestexte, Gerichtsentscheidungen, Entscheidungen der Verwaltungsbehörden sowie Urkunden und sonstige Materialien der Rechtspflege Objektivationen, die in schriftlichem Gewände erscheinen. Bei der Untersuchung der gedanklichen Struktur von Objektivationen müssen der funktionale und der geschichtliche Gesichtspunkt voneinander getrennt werden. Nähert man sich den Objektivationen mit Hilfe des funktionalen Instrumentariums, erscheint die Fragestellung, welchem praktischen Ziel die Struktur der Objektivation dient, angemessen zu sein. Als Ausgangspunkt der Untersuchung kann nach Brusiin in diesem Fall die Forderung angesehen werden, daß jedes Element der Objektivation in ihrem Rahmen eine konkrete Funktion erfüllen soll. Denn die Elemente der Objektivation können nur als Teile eines Ganzen sinnvoll erfaßt werden. Voraussetzung für das Erfassen der Tiefenstruktur des juristischen Denkens, das die Objektivationen transportiert, ist jedoch, daß die Objektivationen nicht unter dem eingeschränkten Gesichtspunkt der praktischen Zielsetzung untersucht werden. Um seine Perspektive zu erweitern, wird der Forscher stets seinen Blick auch auf die geschichtlichen Implikationen des Erzeugungsprozesses der Objektivationen richten müssen. Die geschichtliche Perspektive ermöglicht damit dem Forscher in seiner funktional angelegten Untersuchung den Einblick in die Tiefenstruktur des analysierten Phänomens. 3*
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Nach Auffassung Brusiins werden aufgrund des Korrelationsverhältnisses zwischen dem rechtswissenschaftlichen Denkprozeß und den Objektivationen die Eigenschaften des rechtswissenschaftlichen Denkens in einer gewissen Weise in der gedanklichen Struktur der Objektivation reflektiert. Es ist aber auch möglich, den rechtswissenschaftlichen Denkprozeß mit Hilfe der Analyse der gedanklichen Struktur der Objektivation zu verstehen. Um ein möglichst wahrscheinliches Bild zu bekommen, muß die Objektivation als ein aus verschiedenen Elementen gebildetes Ganzes aufgefaßt werden. Brusiin hebt hervor, daß das Gesetz, die Gesetzesmaterialien, das Urteil und seine Begründung, das Plädoyer des Rechtsanwalts gemeinsam eine qualitative Einheit und eine Objektivation im eigentlichen Sinne des Wortes bilden. Die einzelne Rechtsnorm, der Satz eines Gesetzestextes und die Gesetzesmaterialien sind für ihn lediglich Rohstoffe einer einzigen Objektivation. Aus diesem Grund ist es auch unmöglich, mit Hilfe der Untersuchung eines Elements der Objektivation das Korrelationsverhältnis zwischen der Objektivation und dem rechtswissenschaftlichen Denken oder die rechtswissenschaftliche Denkstruktur, die sich darin widerspiegelt, zu erklären. Brusiin bemüht sich um die Vervollständigung der äußeren Seite des juristischen Denkprozesses und der Untersuchung seiner Struktur, indem er sie um die Theorie der inhaltlichen Elemente des rechtswissenschaftlichen Denkens ergänzt. Das rechtswissenschaftliche Denken setzt nach seiner Auffassung die gedankliche Schematisierung der sozialen Wirklichkeit, den teleologischen Ansatz sowie die holistische Sicht auf die juristischen Phänomene voraus. Nach Brusiin kann man durch die Untersuchung der Objektivationen bestimmte konstante Züge des rechtswissenschaftlichen Denkprozesses heraussondern, die in diesem Prozeß wiederholt zum Vorschein kommen. Zuerst ist für das rechtswissenschaftliche Denken des praktisch tätigen Juristen die gedankliche Schematisierung der sozialen Wirklichkeit charakteristisch. Das Streben nach der Schematisierung im rechtswissenschaftlichen Denken kann bezeichnet werden als Sichten der Umstände, die auf die Dinge in der häufig chaotischen Wirklichkeit einwirken. Die Schematisierung ist eine Art der Analyse der Dinge, in welcher der untersuchte Gegenstand gedanklich vereinfacht wird. Die gedankliche Vereinfachung der Wirklichkeit bedeutet für Brusiin, daß die soziale Wirklichkeit beispielsweise im Urteils- oder im Gesetzestext mit Hilfe schematisierender Elemente strukturiert wird. Die Schematisierung ermöglicht ferner die soziale Planung in der Gesellschaft und das Aufstellen von Zielen für die Zukunft. Die Strukturierung der Wirklichkeit ist ein kognitiver Prozeß. Wenn der Mensch nicht über ausreichendes Wissen über die Gesellschaft verfügt, fehlt ihm zugleich die Fähigkeit, die Gesellschaft mit gedanklichen Mitteln zu strukturieren. Brusiin mißt deshalb der Juristenausbildung gerade in dieser Hinsicht eine besonders große Bedeutung zu. Anders
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als der Laie, schreibt Brusiin, hebt der praktisch tätige Jurist in der sozialen Wirklichkeit die rechtlich relevanten Züge hervor. Gerade die Fähigkeit, diese Züge der sozialen Wirklichkeit zusammenzufassen, macht den Juristen aus. Das juristische Denken besteht aber nicht nur aus der gedanklichen Strukturierung der sozialen Wirklichkeit. Es umfaßt stets auch Überlegungen über die teleologische und rationale Verwirklichung der gesetzten Ziele, in denen Vergangenheit und Zukunft miteinander verbunden werden. Brusiin ist der Überzeugung, daß das Sprechen vom teleologischen Charakter des juristischen Denkens solange als leeres Gerede bezeichnet werden muß, bis der Maßstab der Wertungen offengelegt wird. Die Wertordnung des teleologischen juristischen Denkens stützt sich auf die Rechtsordnung als Ganzes, das auf geschichtlich-gesellschaftlichem Grunde gewachsen ist. Die Rechtsordnung bildet mithin den Bewertungshintergrund für die Ziele, die das finalistische Denken setzt. Die rechtlich relevanten Ziele erscheinen dem praktisch tätigen Juristen keinesfalls als ein ungeordnetes Ganzes, das aus Zielen besteht, die von der Wirklichkeit losgelöst wären. Nach Brusiin werden die relevanten Ziele durch die Werte Wirklichkeit in der Gesellschaft definiert. Durch die Unterstützung, die die Rechtsordnung aus der Werte Wirklichkeit der Gesellschaft erfährt, werden dem Entscheidenden die legitimen sozialen Zielsetzungen in der Form von Rechtssätzen vermittelt. Auf diese Art und Weise führt ein jeder, scheinbar von der Wirklichkeit losgelöster juristischer Denkprozeß und die Zielsetzung, die in ihm enthalten ist, in die Wirklichkeit zurück. Der Gedanke vom teleologischen Charakter des Rechts enthält auch die Vorstellung davon, daß das Recht nicht nur Mittel der Konfliktlösung ist. Die rechtlichen Prozesse sind stets auch Mittel zur Bewältigung der Probleme der Zukunft. Brusiin faßt daher das Recht als kausal bestimmte soziale Technik auf. Er versteht die soziale Dynamik als bewußte Steuerung des Verhaltens der Bürger mit Hilfe des staatlichen Zwangsapparates. Es wäre unmöglich, diesen Steuerungsprozeß realistisch zu erfassen, wenn man auf den Begriff der Teleologie verzichten würde. Brusiin ist der Auffassung, daß die Hervorhebung der kausalen Gesichtspunkte in der Untersuchung zugleich das eigentliche Problem in den Mittelpunkt rückt, nämlich die Zielsetzung. Die Einstellung des Juristen zum Recht ist kausaler Art; die Ursache und das Ziel sind untrennbar miteinander verbunden. Denn immer, wenn der Mensch sich selbst Ziele setzt, erwägt er nach Auffassung Brusiins auch die tatsächlichen Möglichkeiten der Realisierung der gesetzten Ziele. Anders ausgedrückt, wendet der Mensch seine Aufmerksamkeit dem Kausalzusammenhang zwischen seinen Handlungen und den selbstgesezten Zielen zu. Jeder Mensch bildet sich aufgrund seiner Erfahrungen eine Vorstellung von den Relationen, die zwischen den Dingen bestehen.
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Die gedankliche Schematisierung der Wirklichkeit und die Teleologie des juristischen Denkens sind nach Brusiin ohne eine Ganzheitsbetrachtung der juristischen Phänomene nicht möglich. Sie hilft dem praktischen Juristen, die Probleme, die Gegenstand seiner Untersuchung sind, auf dem Hintergrund des Ganzen der Rechtsordnung besser zu verstehen. Die Ganzheitsbetrachtung hilft auch, die rechtlichen Phänomene in ein Verhältnis zueinander zu setzen und ihre Bedeutung zu veranschaulichen. Die Rezeptivität des praktisch tätigen Juristen setzt nach Brusiin eine unverbrüchliche Einheit der konstanten Züge des juristischen Denkprozesses voraus. Aus den drei Elementen, nämlich aus dem Streben nach Schematisierung, der Akzentuierung des finalen Elements und aus der Ganzheitsbetrachtung der rechtlichen Phänomene, muß nach Brusiins Auffassung ein harmonisches Ganzes gebildet werden. Die Wechselbeziehung der konstanten Züge des Denkens kristallisierte Brusiin 1951 in einer Art, die es verdient, an dieser Stelle im Wortlaut zitiert zu werden: „Jetzt sehen wir auch den Zusammenhang, der im juristischen Denken zwischen Schematisieren, Zweckbetrachtung und Ganzheitsschau besteht. Alle die konstanten Züge des juristischen Denkens bedingen einander gegenseitig. Ohne Schematisieren keine Ganzheitsschau, die eben ein Sichten und Beherrschen des riesigen Materials voraussetzt. Ohne Zweckbetrachtung ein leeres Schematisieren. Schon das Schematisieren an sich ist von einem großen Zwecke geleitet: die Lenkung des menschlichen Verhaltens im Rahmen der menschlichen Kultur. Ohne Ganzheitsschau keine durchdachte Zweckbetrachtung: das Recht würde sich in ein chaotisches Spiel unzusammenhängender Bestrebungen auflösen." 7. Über die juristische Entscheidung Nach Auffassung Brusiins muß die Rechtsordnung stets eine gerechte Ordnung sein. Als Maß der Gerechtigkeit dient ihm die herrschende Wertewirklichkeit. Die rechtlichen Lösungen einzelner Fälle beruhen auf Rechtsregeln, deren Geltung die Unterstützung seitens der herrschenden Wirklichkeit voraussetzt. Deshalb müssen bei der Konstruktion einer Theorie, die sich auf die Struktur der juristischen Entscheidung und auf ihren Inhalt bezieht, diese Ausgangsvoraussetzungen berücksichtigt werden. Die Anwendung einer Rechtsnorm basiert gänzlich auf den Wertungsprozessen des Richters. Deshalb kann die juristische Entscheidung nicht mit Hilfe formallogischer Schlußfolgerungen zustande kommen. Obwohl das Zustandekommen der Entscheidung kein logischer Prozeß ist, handelt es sich dabei nicht um eine irrationale Handlung. Die Entscheidung setzt sich aus rationalen Wahlentscheidungen des Richters zusammen. Es liegt ihr eine Interaktion zugrunde zwischen dem Entscheidenden und dem Problem, das es zu lösen gilt. In dieser Interaktion werden die Auffassung des Entscheidenden und die
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rechtliche Information, die seine Auffassung ergänzt, von Rechts wegen harmonisiert. Nach Brusiin geht dem Wertungsprozeß des Entscheidenden die Feststellung der rechtlichen Relevanz der Umstände, die dem Gericht dargelegt werden, voraus. Anschließend muß der Entscheidende feststellen, welche der dargelegten relevanten Umstände als bewiesen gelten sollen. In der Welt der rechtlich relevanten Umstände ist die Wahrheit ein sehr relativer Begriff. Brusiin geht davon aus, daß im Prozeß der Entscheidungsfindung häufig Umstände berücksichtigt werden müssen, die niemals endgültig bewiesen werden können. Mit Hilfe der juristischen Entscheidung wird das real Unmögliche zum rechtlich Möglichen und Vollstreckbaren gemacht. Als Beispiel dafür führt Brusiin die Festsetzung der Höhe des immateriellen Schadens an. Der Schadensersatz, den das Gericht als Folge des eingetretenen immateriellen Schadens anordnet, drückt nicht die absolute Höhe dieses Schadens aus. Der Umfang des festgesetzten Schadens beruht stets auf einem Wertungsakt des Gerichts, der aufgrund des mehr oder minder unpräzisen Beweismaterials vollzogen wird. Wenn es hingegen darum geht, die absolute Höhe des wirtschaftlichen Schadens zu ermitteln, ist die eindeutige Feststellung des Schadens in einem rationalen Entscheidungsprozeß möglich, wenn das relevante Beweismaterial vollständig ist. Die juristische Entscheidung setzt sich jedoch aus unterschiedlichen Faktoren zusammen. Aus der Unanfechtbarkeit eines Faktors folgt nicht die Unanfechtbarkeit der ganzen Entscheidung. Bei einer Streitigkeit über den Schadensersatz wird der Entscheidende stets auf Widersprüche hinsichtlich der Fahrlässigkeit, des Vorsatzes oder des Kausalzusammenhanges stoßen. Die Entscheidungsfaktoren, die sich auf diese Begriffe beziehen, bleiben mit einer gewissen Unsicherheit über ihre Nichtanfechtbarkeit belastet. Die sorgfältige Analyse des Tatsachenmaterials ist ein unausweichliches und zugleich ein unbestrittenes Element der juristischen Entscheidung. Die juristische Entscheidung wird jedoch nicht auf eine natürliche Art erzeugt werden können, auch wenn der Entscheidende seine gesamte Energie auf die Feststellung der Tatsachen verwenden würde. Die Entscheidungsfindung setzt stets die Stellungnahme dazu voraus, welche rechtliche Relevanz dem vorgelegten Material eines Einzelfalls zukommt. Die Feststellung der rechtlichen Relevanz ist eng mit den Wertungen verbunden, die der Entscheidende trifft. Es handelt sich dabei nach Brusiin letztlich um subjektive Wertungen des Entscheidenden. Schließlich hängt es auch von ihnen ab, welche von den prima facie gleichzeitig in Betracht kommenden Normen zur Begründung der Entscheidung herangezogen werden. Die Wahlentscheidungen steuern also die Entscheidungsfindung. Brusiin unterscheidet neben der Entscheidungsfindung die Begründung einer bereits getroffenen Entscheidung. Der Entscheidende kann nämlich ein Begründungsnetz um die eigene Wahlentscheidung aufbauen,
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ohne gleichzeitig gezwungen zu sein, offenzulegen, weshalb er letztlich aus den vorhandenen Entscheidungsalternativen diejenige gewählt hat, die er auch begründet. Nach Auffassung Brusiins werden die juristischen Entscheidungen häufig durch den Hinweis darauf begründet, daß sie logische Syllogismen seien. Er verwirft das Syllogismus-Denken aus mehreren Gründen. Ein großer Teil des juristischen Denkmaterials steht in keiner Beziehung zur Deduktion. Der Anteil der deduktiven Schlußfolgerung an der Entscheidungsfindung ist wesentlich geringer als man häufig annimmt. Die Entscheidung wird in einem Wertungsprozeß erzeugt, sie ist ein Kontinuum rationaler Wahlentscheidungen, in denen das Subjekt verschiedene Entscheidungsalternativen diskursiv ermittelt. Der Entscheidende ist frei, auf andere als die deduktiven Wahlentscheidungen zurückzugreifen. Denn dem Syllogismus als Mittel der Begründung von Entscheidungen sind auch im nachhinein Grenzen gesetzt. Die Entscheidung folgt nicht immer den Prämissen, die sie selbst offenlegt und akzeptiert. Um diese Sachlage zu veranschaulichen, führt Brusiin als Beispiel das Strafzumessungsproblem aus dem Strafrecht an. Die Strafzumessungsskala, die ein Ermessen ermöglicht und sogar dazu verpflichtet, räumt dem Entscheidenden Bewegungsfreiheit ein, ohne daß er die Prämissen seiner Entscheidung abändern muß. Die Entscheidung des Richters folgt nicht und kann auch nicht aus den logischen Prämissen folgen. Auf der Grundlage der logischen Prämissen kann lediglich geschlossen werden, daß die anstehende Entscheidung sich innerhalb der Strafzumessungsskala einer bestimmten Strafnorm zu bewegen hat. Das fertige Urteil samt seinen Begründungen erinnert in der Tat äußerlich an den logischen Syllogismus. Man kann aber aufgrund dieses Eindrucks nicht schließen, daß die Entscheidung tatsächlich auf diese Art und Weise erzeugt worden ist. Diese täuschende Form ist eine Konstruktion der Entscheidung im nachhinein. Deshalb hält Brusiin die Auffassung von der logischen Natur der gerichtlichen Entscheidung für eine gefährliche Fiktion, denn sie verdeckt die tatsächliche Bedeutung der wahren Urteilsbegründungen. Der Syllogismustheorie kommt nach Ansicht Brusiins eine politische und ideologische Funktion zu. Man versucht mit ihrer Hilfe, die juristische Entscheidungsfindung zu objektivieren und den Bürgern eine Rechtsanwendungstechnik vorzugaukeln, die von Wertungen unabhängig sei. Brusiin schreibt dazu: „Eine so offensichtlich unrichtige Theorie wie diejenige, daß ein richterliches Urteil ein Syllogismus sei, wäre wohl kaum entstanden und hätte sich jedenfalls nicht so lange und zäh behauptet, wenn sie nicht der Ausfluß einer liberalen Rechtsideologie gewesen wäre. Eine Kritik der Syllogismustheorie wird hier als etwas Gemeinschädliches, etwas, was die Rechtssicherheit der Staatsbürger gefährdet, abgelehnt." Brusiin will damit hervorheben, daß die richterliche Entscheidungstätigkeit keine logische Spielerei ist, die von wertmäßigen und subjektiven Gesichts-
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punkten befreit sei. In einer dynamischen Rechtsgemeinschaft wird der Richter nicht als ein Subsumtionsautomat eingesetzt, der in der Entscheidungssituation die Rechtsnorm in einem logischen Schema unterbringt. So kann nur ein Schulmeister reden, bemerkte 1938 Brusiin. Man kann sich nach Brusiin der Entscheidungssituation fruchtbar nähern, indem man sie in Auslegungs- und Analogiesituation spaltet. In der Auslegungssituation wählt der Entscheidende die abstrakte Rechtsnorm N ( l ) , die er der Entscheidung zugrunde legt. 7 In der Analogiesituation hingegen gelangt der Entscheidende nach der vollzogenen Auslegung zu der Feststellung, daß es keine Rechtsnorm gibt, die exakt auf diese Situation zugeschnitten wäre. Deshalb muß die implizit in der Rechtsordnung enthaltene Verpflichtung durch die Formulierung einer neuen Regel mit Hilfe der Begründungsregeln expliziert werden. Brusiin geht davon aus, daß der Entscheidende in der Auslegungssituation zuerst abschätzt, ob es eine Rechtsnorm gibt, die exakt auf den zu lösenden Fall angewendet werden könnte. Diese wertungsgebundene Feststellung ist ein zweigliedriger Auslegungsprozeß, den Brusiin mit Hilfe zweier Begriffe charakterisiert. Im ersten Stadium des Prozesses vollzieht sich die präliminäre Auslegung, eine vorläufige Stellungnahme zum Problem, ob eine Rechtsnorm auf den zu entscheidenden Fall anwendbar ist. Nur im Fall einer bejahenden Antwort geht der Entscheidende zur endgültigen Auslegung über. Nach Brusiin bezieht sich die Rechtsnorm N ( l ) auf eine gedanklich festgelegte abstrakte Fallklasse ( L ( L 1 , L2 . . . L n ) ) . Brusiin trennt die abstrakte Fallklasse ab von der Klasse konkreter Fälle, der stets einzelne Dinge der realen Welt angehören. Die Klasse der konkreten Fälle beschreibt Brusiin mit ( K ( K 1 , K2, . . . Kn)).
7 In der finnischen rechtstheoretischen Forschung galt die meiste Aufmerksamkeit dem Problem der juristischen Entscheidungsfindung. Dabei ist Otto Brusiin als Vater der theoretischen Erforschung der Struktur des Entscheidungshandelns zu betrachten. Als repräsentative Arbeiten zu diesem Problembereich seien hier genannt: Osvi Lahtinen, Zum Aufbau der rechtlichen Grundlagen, Helsinki 1951. Kaarle Makkonen, Zur Problematik der juridischen Entscheidung, Turku 1965. Aulis Aarnio, Oikeudellisen ajattelun perusteista (dt.: Über die Grundlagen des juristischen Denkens), Vammala 1971. Ders., On Legal Reasoning, Turku 1977. Ders., Legal Point of View. Six Essays on Legal Philosophy. Ders., Denkweisen der Rechtswissenschaft. Forschungen aus Staat und Recht 48, Wien - New York 1979. Ders., Philosophical Perspectives in Jurisprudence. Acta Philosophica Fennica, Vol. 36, Helsinki 1983. Ders., Wegen Recht und Billigkeit. Vorträge und Aufsätze aus 10 Jahren, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 126, Duncker & Humblot, Berlin 1988. Ders., The Rational as Reasonable, Dordrecht 1976. Hannu Tapani Klami, Finalistinen oikeusteoria (dt.: Finalistische Rechtstheorie). Tutkimus oikeudellisen päätöksenteon ja oikeusnormipropositioiden tavoitteellisesta justifioinnista ja kontrollista, Turku 1979. Ders., Ihmisen säännöt (dt.: Die Regeln des Menschen). Tutkimus oikeuden olemuksesta, synnystä ja toiminnasta, Turku 1983 sowie Lars D. Eriksson: Marxistisk teori och Rättsvetenskap, Helsingfors 1980.
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Brusiin dachte folgendermaßen. Die abstrakte Fallklasse ist die Beschreibung der Fakten der Rechtsnorm, die Klasse konkreter Fälle hingegen die Beschreibung gewisser Dinge, die der empirischen Wirklichkeit angehören. In der Auslegungssituation werden zuerst die Beschreibungen ausgelegt und anschließend miteinander verglichen. Wenn der Entscheidende der Meinung ist, daß die Beschreibungen sich auf dasselbe Ding beziehen, stellt er anschließend auf der Grundlage der gesamten Rechtsordnung fest, daß die Rechtsnorm auf den vorliegenden Einzelfall anwendbar ist. Die Wahl der Rechtsnorm ist im Rahmen des juristischen Entscheidungshandelns für Brusiin ein Schritt in Richtung auf die Entscheidung, ohne selbst ein Teil der Entscheidung zu sein. Im nächsten Stadium muß der Entscheidende dem Geschehen in der rechtlichen Wirklichkeit normative Bedeutung verleihen, indem er daran eine Rechtsfolge anschließt. Auch die Rechtsfolge muß gewählt werden, denn in den meisten Fällen läßt die Rechtsnorm mehrere unterschiedliche Folgen zu. Nach Brusiin vollzieht sich die Wahl der Rechtsfolge formal nicht etwa dadurch, daß der Entscheidende für sich selbst eine Individualnorm aufstellt, gemäß der er zu handeln hätte. Der Entscheidende erteilt sich selbst keine fiktiven Befehle. Die Wahl der Rechtsfolgen ist ein Wertungsprozeß, in dem der Entscheidende mehrere unterschiedliche Umstände gegeneinander abwägt. Im Wahlprozeß verflechten sich das Normative und das Faktische, das rechtlich Verpflichtende und das gesellschaftlich Rationale. Nachdem der Entscheidende zu einem konkreten Ergebnis gelangt ist, wird das Recht in der verkündeten Entscheidung konkretisiert. In der Entscheidung selbst wird eine lex specialis, eine konkrete Rechtsnorm gesetzt. Die konkrete Rechtsnorm, die sich aus der schriftlichen Begründung der Entscheidung ergibt, präzisiert die abstrakte Rechtsnorm. Die endgültige Form des Rechts wird erst durch die Anwendung dieser Norm auf den konkreten Fall gebildet. „Die abstrakten Rechtsnormen leben, werden zu Fleisch und Blut durch ihre Anwendung auf die konkreten Fälle. Dann wird auf der Basis der Norm historische Wirklichkeit in der verstärkten Bedeutung des Wortes erzeugt, es ereignet sich die Verschiebung vom Normativen zum Faktischen." Das schrieb Brusiin 1938. Nach der Auffassung Brusiins ist die Auslegungssituation die einfachste Situation der juristischen Entscheidungsfindung und als solche sehr selten feststellbar. In den meisten Fällen wird der Entscheidende nunmehr feststellen müssen, daß es keine Rechtsnorm gibt, die exakt auf seinen Fall zugeschnitten wäre. Bei dieser Sachlage geht der Entscheidende von der Auslegungssituation zur Analogiesituation über. Der Übergang vollzieht sich oft unmerklich; es ist schwierig festzustellen, wo jeweils die Auslegung endet und die Analogie beginnt. Bei der Unterscheidung zwischen der Auslegung und der Analogie neigt man nach Brusiin häufig dazu, durch die im juristischen Sprachgebrauch beheimatete Redeweise von der analogen Anwendung einer Rechtsnorm das
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Problem zu verdecken. Von der analogen Anwendung einer Rechtsnorm zu sprechen, ist im Grunde genauso irreführend, wie wenn man vom Sonnenaufoder -Untergang nach der kopernikanischen Revolution spricht. Weder geht die Sonne auf noch geht sie unter noch wird eine Rechtsnorm analog angewendet. Die Analogiesituation unterscheidet sich von der Auslegungssituation dadurch, daß es schlichtweg keine Norm gibt, die direkt auf den zu entscheidenden Fall angewendet werden könnte. Der Richter unterliegt jedoch dem Entscheidungszwang. Er kann die Beteiligten nicht sich selbst überlassen, damit sie über diese Paradoxie der Rechtsordnung nachdenken können. In der Analogie- und in der Lückensituation bildet der Richter selbst die Entscheidungsnorm. Nach Auffassung Brusiins ist der Prozeß der Ausbildung der Rechtsnorm nicht willkürlich. Er vollzieht sich wie folgt. Im ersten Stadium ereignet sich die Selektion. Der Entscheidende stellt fest, daß zwischen der Fallbeschreibung einer Rechtsnorm und den Dingen der empirischen Wirklichkeit keine Gemeinsamkeiten bestehen. Nach der Selektion bleibt eine Menge von Rechtsnormen übrig, die gewisse Gemeinsamkeiten mit der Beschreibung der Dinge der empirischen Wirklichkeit aufweisen. Einzig ein erfahrener Richter ist in der Lage festzustellen, daß es eine oder mehrere Rechtsnormen gibt, in deren Fallbeschreibungen „dieselben rechtlich relevanten Züge" wie in der Beschreibung der Dinge der empirischen Wirklichkeit enthalten sind. Die „Gleichartigkeit", welche die Grundlage der Analogie ist, ist nicht nur eine interpretierte Gleichartigkeit der Fallbeschreibungen. Die Feststellung der Gleichartigkeit setzt die Feststellung der Rechtsfolgen voraus. Auch wenn die Fallbeschreibung gemeinsame Züge enthalten würde, kann die Entscheidung mit Hilfe der Analogie gleichwohl nicht herbeigeführt werden, wenn die Rechtsfolge, die die anvisierte Rechtsnorm ausspricht, in der Entscheidungssituation irrational erscheinen würde. Maßstab der Rationalität der Rechtsfolge ist die gesamte Rechtsordnung. Der Richter kann jedoch durch Untersuchung der einzelnen Rechtsnorm die in ihrem Hintergrund verborgene Rationalität nicht feststellen. Dies wäre nach Brusiin reine Zauberei. Noch weniger kann die Entscheidung als eine rein logische Operation angesehen werden, bei der man sich mit Hilfe von Schlußformeln an das Ergebnis herantastet. Die „Gleichartigkeit", welche die Voraussetzung der Analogie ist, stellt nach Auffassung Brusiins letztlich nichts anderes dar als eine Ganzheitsbetrachtung der Rechtsordnung durch den Entscheidenden, angewendet auf den Einzelfall. Aus dem Ganzen wählt der Entscheidende die für die Formulierung der Grundlage der Entscheidungsnorm erforderliche Rechtsnorm oder ein Bündel von Rechtsnormen, in deren Fallbeschreibungen er Eigenschaften vorfindet, die aus seiner Sicht wesentliche Gemeinsamkeiten mit der Beschreibung der Tatsachen des Falls aufweisen. Die Entscheidungsnorm ist eine gedankliche
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Zwischenstufe auf dem Weg zur endgültigen Entscheidung. Sie ist im Grunde die Bezeichnung Brusiins für die Situation, in der der Entscheidende sich nach mannigfachen Variationen und Abwägungen zur Feststellung der Gleichartigkeit entschlossen hat. Auf der Grundlage der von ihm formulierten Norm trifft der Richter die endgültige Sachentscheidung. A n dieser Stelle gelangt der Entscheidende abermals in die Auslegungssituation. Durch die getroffene Entscheidung wird eine konkrete Rechtsnorm gesetzt, die als Vollstreckungsrichtlinie für die Behörden fungiert. Brusiin schreibt auch, daß der Urteilsakt - die Anwendung der Rechtsnorm - im Fall der Lücke und in der Analogieentscheidung keinesfalls vom Urteilsakt im Bereich der gewöhnlichen Auslegungssituation abweicht.
8. Über die Bedeutung der Sozialwissenschaften für die juristische Entscheidungsfindung Die Analyse der juristischen Entscheidung erschöpft sich nicht in der Untersuchung der logischen Bestandteile und der formalen Würdigung der mannigfaltigen Entscheidungssituationen. Die juristische Entscheidungsfindung ist vor allem inhaltliches Handeln. Eine interessante Herausforderung für die Theorie der juristischen Entscheidungsfindung bildet die Frage danach, ob man auf der Ebene der Theorie praktisch notwendige Bedingungen aufstellen kann, die sich auf den Inhalt einer jeden Entscheidung beziehen. Es geht also darum, zwingende Bedingungen zu erforschen, die allen Entscheidungen gemeinsam sind. Im Rezitativ der Positivisten wiederholen sich die negativen Antworten Nein, Nein und noch einmal Nein. Die Antwort Brusiins war jedoch nicht so starr. Nach seiner Auffassung ist die Fragestellung sinnvoll, obwohl die Ermittlung der Antwort sich als äußerst kompliziert erweist. Nach Auffassung Brusiins kommt dem Wertesystem, das alle Entscheidungssituationen dominiert, die Schlüsselposition zu. Die Wertungen, die in der Gemeinschaft vorherrschen, bilden nach Brusiin indirekt den Inhalt der Rechtsordnung. Die Rechtsordnung reflektiert stets eine bestimmte gesellschaftliche Wertebasis. Die Persönlichkeitsstruktur der Bürger einer Gemeinschaft und der Richter wird durch die Struktur der Rechtsgemeinschaft gebildet. Die Rechtsordnung wirkt dahin, daß die Wertungen vereinheitlicht werden. Es wäre jedoch nicht sinnvoll, abzustreiten, daß es Meinungsunterschiede hinsichtlich der Wertungen gibt. Die Vereinheitlichung der Meinungen über die Werte kann im Grunde genommen auch gar nicht erfolgen, ohne daß zumindest anfänglich Meinungsunterschiede vorhanden sind. Darüber hinaus geht es in der Problematik der Vereinheitlichung der Wertungen eher um Tendenzen als um Endergebnisse. Denn es ist stets
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möglich, daß die Auffassung des Entscheidenden von der Bewertung der sozialen Phänomene im herrschenden Wertesystem abweicht. Die Rechtsordnung findet in der herrschenden Wertewirklichkeit ihre Legitimitätsbasis. In einem Fall, in dem die herrschende Wertewirklichkeit die Rechtsordnung unterstützt, kann der Richter seine Entscheidung nicht nur aufgrund seines eigenen Weltbildes treffen. Der Richter ist verpflichtet, bei der Entscheidungsfindung stets von der tatsächlich in der Gesellschaft herrschenden Werte Wirklichkeit auszugehen. Wenn der Richter dabei die herrschende Rechtsordnung mißachtet, ist er in der Sicht Brusiins parteiisch. Die eigentliche, realistisch aufgefaßte Unparteilichkeit bedeutet - schreibt Brusiin - , daß sich der Richter auf den Boden der faktischen Struktur der Gesellschaft stellt. Brusiin faßt damit die Unparteilichkeit als Beachtung der Legitimität der Rechtsordnung auf. Es ist dem Richter nicht erlaubt, sein eigenes Weltbild der Entscheidung zugrundezulegen, solange es nicht konkretisiert wurde, sich also in der sozialen Wirklichkeit in Fleisch und Blut verwandelt hat. Als Richter kann daher nur eine Person fungieren, die eigene weltanschauliche Überzeugungen mit der geschichtlich gewachsenen Rechtsordnung korrelieren kann. Der Weg des unparteiisch Entscheidenden ist der Weg der Selbstverleugnung. Dem Entscheidenden ist es auch nicht erlaubt, die Grundsätze für die Bewertung der rechtlichen Probleme wie Feldblumen in der Tagespolitik zu pflücken. Die Tagespolitik ist nach Brusiin kein Interpret der Werteordnung. Die vorläufigen politischen Entscheidungen reflektieren nicht immer die herrschende Werte Wirklichkeit. Der Entscheidende darf niemals vor den wirtschaftlichen und politischen Nützlichkeitsüberlegungen des Augenblicks kapitulieren. Die Selektivität des Wertesystems ist etwas Stabileres, etwas Dauerhafteres. Der Richter ist aber auch kein einsamer Held, der gleichsam in der Lage wäre, sich außerhalb der Gesellschaft zu stellen und von daher die Wertewirklichkeit zu interpretieren. Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, die Vorstellung davon aufrechterhalten zu wollen, daß sich der Richter aus dem gesellschaftlichen Tagesgeschehen zurückziehen könne, um von außerhalb seine objektiven Urteile zu fällen. Nach Brusiin ist der Richter nicht einmal in der Lage, sich dem politischen Kräftespiel zu entziehen, dessen Teil er als Bürger ist. Der Richter kann den Einfluß der Tagespolitik, der ökonomischen und politischen Entscheidungen auf sich selbst nicht verhindern. Der Richter - wie auch alle anderen Menschen - wird von den Bestrebungen nach der Veränderung der gesellschaftlichen Struktur in einer gewissen Richtung beeinflußt. Der Entscheidende vermag auch nicht zu verhindern, daß diese Wertungen seine anstehende Entscheidung beeinflussen. Es geht dabei aber um die geistige Einstellung, die der Entscheidende in einer solchen Situation entwikkelt. Der Richter soll sich bemühen, seine Entscheidung so zu treffen, daß er damit die Legitimität der Rechtsordnung stärkt.
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Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins
Deshalb ist das Handeln des Entscheidenden nicht unpolitisch. Das Paradox des Richters besteht vielmehr in der Verwicklung des Politischen und des Unparteiischen. Die unparteiische Entscheidung festigt die Legitimität der Rechtsordnung. Die Festigung der Legitimität der Rechtsordnung ist jedoch eine politische Stellungnahme. Die eigentliche, realistisch aufgefaßte Unparteilichkeit setzt nach Brusiin voraus, daß der Richter nicht entgegen dem Geist der legitimen Rechtsordnung entscheidet. Der Entscheidende muß sich selbst verleugnen und von der Ideologie des Rechtsstaates ausgehen. Der Weg der Selbstverleugnung und der Weg der Ermittlung des rechtlichen Zustandes der Gesellschaft sind zugleich die Wege zur bestmöglichen Entscheidung. Der Richter kann nicht den Weg der Ermittlung des Zustandes der Gesellschaft mit geschlossenen Augen gehen. Wenn der Richter die zentrale Bedeutung der sozialen Faktoren für die Entscheidung unterschätzt, wird er auch die subjektiven Faktoren übersehen, die ihn dazu verleiten wollen, von der Rechtsordnung abzuweichen. Aufgrund seines mangelhaften Wissens wird der Entscheidende nicht in der Lage sein, die Situation wahrzunehmen, in der er von der Rechtsordnung abweicht. Nach der Auffassung Brusiins muß der Richter daher die Faktoren feststellen und analysieren, die sein Handeln beeinflussen, denn sonst könnten seine Entscheidungen in Widerspruch zu dem herrschenden Wertesystem und der Rechtsordnung geraten. Wenn zwischen der herrschenden Wertewirklichkeit und den Werten, die die Rechtsordnung stabilisieren, eine Kluft erwächst, gerät die Rechtsordnung in eine Legitimitätskrise. Der Ausweg aus einer solchen Krise kann sich als äußerst kompliziert erweisen. Nach der Auffassung Brusiins sind die Entscheidungen, die im Widerspruch zur Werteordnung stehen, parteiische Entscheidungen. Sie können auf der formalen Ebene einer Norm der Rechtsordnung entsprechen, sie durchbrechen aber zugleich die wertmäßige Grundlage der Einheit der einschlägigen Norm. Deshalb sind solche Entscheidungen parteiisch. Zu wessen Gunsten aber ergehen sie und gegen wen richten sie sich? Sie wenden sich gegen die Gemeinschaft der Bürger, sie negieren die Werte, die die Geschichte und die Gemeinschaft mit sich bringen und fördern entweder die Individualmoral oder die autoritäre Machtausübung. Solche Entscheidungen basieren nach Ansicht Brusiins auf rechtsfremden Machtfaktoren. Sie sind die größte Gefahr für die soziale Stabilität. Vom Standpunkt der Inhaltskontrolle der juristischen Entscheidungsfindung erfährt die Frage, wie der Entscheidende sein Wissen über die herrschende Wertewirklichkeit erwerben kann, angesichts der Tatsache, daß dem Wissen eine derart entscheidende Bedeutung bei der Ausarbeitung der Entscheidung zukommt, noch zunehmende Bedeutung. Nach Brusiin enthalten bereits die sozialen Phänomene die Bewertungsgrundlagen in sich, nach denen sie rechtlich bewertet werden sollen. Diese Grundlagen der rechtlichen Bewertung sollen durch die Untersuchung der faktischen Struktur der Gesell-
8. Bedeutung der Sozialwissenschaften für die E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g 4 7
schaft ermittelt werden. Das Wissen über die Gesellschaft und über ihre faktische Struktur ist im Grunde zugleich Wissen über das Wertesystem, das sie befördert. Es gibt nach Brusiin prinzipiell zwei Wege, auf denen der Entscheidende das Wissen über die rechtlichen Beurteilungsgrundlagen und damit auch das Wissen über die soziale Wirklichkeit erlangen kann. Erstens erlangt der Entscheidende sein Wissen aufgrund der eigenständigen Beobachtung der Phänomene der realen Welt. Zweitens kann er auch auf die Beobachtungen, die Andere gesammelt und systematisiert haben, zurückgreifen, um sein Wissen über die Wirklichkeit zu steigern. Der Entscheidende sollte sich bewußt beide Wege zueigen machen. Der Richter wird seiner Aufgabe nicht gerecht schreibt Brusiin - , ohne daß er eigene Beobachtungen und wissenschaftliche Untersuchungen heranzieht, denn „die theoretische Untersuchung erweitert seinen Horizont und schärft seinen Blick für die Wahrnehmung der sozialen Realitäten. Das Wichtigste aber ist die persönliche Kenntnis der konkreten Gesellschaften". Brusiin warnt jedoch vor einer laienhaften Anwendung der Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen und der billigen Verallgemeinerung in der juristischen Entscheidungsfindung. Die Anwendung des Wissens erscheint ihm nicht möglich ohne den gesunden Menschenverstand. Die Feststellung des Inhalts des Wertesystems setzt eine Untersuchungsperspektive voraus, in der juristische, ökonomische, politische und geschichtliche Gesichtspunkte miteinander verbunden werden. In der Perspektive der sozialen Entwicklung erscheinen die wesentlichsten Faktoren oft als wirtschaftliche Macht, als wirtschaftlicher Druck, der für die Entwicklung richtungweisend werden soll. Daher muß der Richter in der Entscheidungssituation die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft analysieren. Nach Auffassung Brusiins darf der Richter jedoch nicht seine Aufmerksamkeit einseitig der Feststellung der „materiellen" Verhältnisse der Gemeinschaft zuwenden. Läßt der Richter die Ideen, die Ideale und die Werte, die in der Gesellschaft herrschen, in der Entscheidungssituation gänzlich außer Betracht, wird er nur ein recht armes und einseitiges Bild der sozialen Wirklichkeit ermitteln können. Der gewählte Gesichtspunkt muß stets geschichtlich sein, er muß in die Tiefe führen. Man kann nach Brusiin das Wertesystem der Gemeinschaft nur in der geschichtlichen Perspektive offenlegen. Die Geschichte muß im Denken des Richters lebendig sein. Nur dann kann der Richter auch seine eigene Zeit verstehen. Brusiin stellt an den unparteiischen Entscheidenden strenge Anforderungen. Der Entscheidende muß in der Lage sein, mannigfaltige Sichtweisen auf die soziale Wirklichkeit zu vereinbaren. Die isolierte Untersuchung der juristischen, wirtschaftlichen, politischen und geschichtlichen Aspekte erklärt dem Richter weder die Komplexität der Entscheidungssituation noch das Verhältnis der verschiedenen Aspekte zueinander. Die einzige Untersuchungsperspektive, in der sich die verschiedenen Gesichtspunkte kreuzen, bietet nach
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Brusiins Auffassung die Soziologie an. Die soziologische Analyse legt die Bewertungsgrundlage sozialer Phänomene offen. In der Entscheidungssituation geht der Richter aber nicht wie der Soziologe vor - er ist auch kein Soziologe! - muß aber soziologisch denken können. Die soziologische Perspektive bedeutet für Brusiin die Erweiterung des Gesichtsfeldes des Juristen um die sozialen Phänomene, die Schärfung seines Blicks für mannigfache Facetten des sozialen Lebens und den Untergang des ausschließlich normierenden Rechts. Dies bedeutet jedoch nicht, daß das Recht sich vor den „reinen Tatsachen" beugen sollte. Es bedeutet aber den Weg zur Erforschung der Kultur. Brusiin schreibt auch sehr treffend, daß die Soziologie der Rechtswissenschaft sehr wenige sichere Ergebnisse liefern kann. Sie schenkt ihr aber eine in vielerlei Hinsicht wertvollere Gabe, nämlich die sozialwissenschaftliche Sichtweise. Die Bedeutung der Soziologie soll aber nicht überbewertet werden. Ihre Aufgabe ist es, das Denken des Richters zu stimulieren und auf diese Weise das Tor zum Verstehen der herrschenden Werte Wirklichkeit zu öffnen. Der Richter wird in der Entscheidungssituation ganz unvermeidlich in die Lage geraten, in der ihm weder Zeit noch sonstige Ressourcen zur Verfügung stehen, um sich das Wissen über die soziale Wertewirklichkeit anzueignen. In einer solchen Situation kann er nur auf das Wissen zurückgreifen, das er bisher erworben hat. Woher soll der Richter aber wissen, wie er das Wissen, worüber er verfügt, auch anwenden kann? Auf diese Frage hat Brusiin keine fertige Antwort parat. Er meint aber, der Richter solle sich bemühen, eine solche Entscheidung zu treffen, die der allgemein akzeptierten Vorstellung von der richtigen Entscheidung entspricht. Ausgedrückt in der Redensart der traditionellen Juristensprache bedeutet dies soviel wie das Vertrauen auf das Judiz. Nach Brusiin ist der Richter in der Entscheidungssituation durch den kategorischen Imperativ des Richteramtes gebunden. Jeder Entscheidende soll in der Weise urteilen, daß er wollen könnte, daß sein Urteil zur verbindlichen Grundlage einer Richtlinie für alle zukünftigen Urteile werden könnte. Um eine willkürliche Entscheidung vermeiden zu können, muß der Entscheidende in seinen Überlegungen sorgfältig prüfen, ob auch jeder andere Richter die gleiche Sachentscheidung treffen würde. Ausgedrückt mit den Begriffen der rechtstheoretischen Diskussion um das moderne Recht, geht es Brusiin um das Problem des regulativen Prinzips, das die Entscheidungsfindung steuert. 8 Brusiin scheinen die Probleme, die mit dem metaphorischen Gebrauch des kategorischen Imperativs zusammenhängen, durchaus bewußt gewesen zu sein. Der kategorische Imperativ ist nicht geeignet, das Problem der Kollision zwischen zwei gleichwertigen Regeln zu lösen, noch kann er den wie auch immer gearteten Verhaltensanweisungen inhaltliche Einschränkungen auferlegen. 8
Vgl. dazu ausführlicher: Aulis Aarnio, The Rational as Reasonable. S. 65ff.
9. Über die Rechtsforschung
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Er gibt auch keine Antwort darauf, wann der Richter sein Wissen über die Gesellschaft in einer vernünftigen Weise anwendet. Der Entscheidende kann niemals mit Sicherheit feststellen, wie andere Gerichte über die Sache, die er entscheiden muß, geurteilt hätten. Dennoch sah Brusiin den so verstandenen kategorischen Imperativ nicht als wertlos an. Trotz seiner Dürftigkeit verlangt er dem Richter eine gewisse Geisteshaltung ab, nämlich die Überwindung seiner privaten Ansichten und das Streben nach einer möglichst großen Objektivität.
9. Über die Rechtsforschung Die Freiheit des Denkens bildet für Brusiin die Grundlage der wissenschaftlichen Forschung. Dem Forscher muß das Recht zugestanden werden, den Ausgangspunkt seiner Untersuchung eigenständig zu bestimmen und die untersuchte Problematik eigenverantwortlich bis zur Begründung der Ergebnisse der Untersuchung zu entwickeln. Die Freiheit des Forschers ist aber ohne seine Verantwortung nicht denkbar. Der Forscher hat dafür einzustehen, wie er von seiner Freiheit Gebrauch macht. Diese Verantwortung relativiert die Freiheit des Forschers und bestimmt den Ausgangspunkt der Untersuchung mit. Der Forscher kann zum Beispiel seine Arbeit nicht auf der Grundlage einer zufälligen Fragestellung entwickeln. Gedankenfreiheit bedeutete für Brusiin die Freiheit, vernünftig zu sein. Für Eigensinn sah er in der Wissenschaft keinen Platz. Jede vernünftige Fragestellung, die das Objekt erklären und verstehen hilft, wird vom Freiheitsbereich des Forschers gedeckt. Für den Forscher sind gute Fragen wichtiger als fertige Antworten. Bei der Formulierung sinnvoller Fragen wird der Forscher durch die Forderung nach Objektivität geleitet. Objektivität ist nicht mit der Unterwerfung unter das Objekt gleichzusetzen. Sie setzt jedoch die Überwindung eigener Vorurteile und Glaubensüberzeugungen voraus. Man kann sich der Wahrheit nur durch vorurteilsfreies Werten nähern, schreibt Brusiin. Der einzelne Forscher kann jedoch nicht restlos seines Ichs beraubt werden. Trotz der objektivierenden Elemente, die der Forschung innewohnen, sind die Forschungsergebnisse stets in einem gewissen Maße von den subjektiven Ansichten der Forscher abhängig. Der Wissenschaftler wird sich von seiner Persönlichkeit nicht befreien können, denn letztlich ist auch er ein Mensch, dessen Denken auf einem bestimmten Weltbild basiert. Jeder Denker, Forscher und Wissenschaftler geht bei seiner Arbeit von Voraussetzungen aus, die in der Tiefe seiner Seele verankert sind und die ihm oft unbewußt bleiben. Zum Teil werden auch die Hintergrundvoraussetzungen der Forschung nicht offengelegt; eine feststellende Explikation ist in diesem Rahmen oft nicht möglich. Was aber dem einzelnen Forscher nicht möglich ist, kann dennoch 4 Brusiin
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Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins
einer Person, die bestrebt ist, die Ausgangsvoraussetzungen der Arbeit eines anderen Forschers zu verstehen, möglich werden. Nach Brusiins Ansicht können die Hintergrundvoraussetzungen der wissenschaftlichen Arbeit bestimmt werden, wenn das Ganze der Denkarbeit des Forschers betrachtet wird. Denn einer jeden Theorie wohnen metaphysische Postulate inne, auf die sie sich letztlich stützt. Es gibt keine Forschungsergebnisse, die frei von den Wertungen des Forschers wären. Brusiin charakterisiert diesen Umstand als die Kraft, aber auch zugleich als die Schwäche der wissenschaftlichen Forschung. Da sich die Wissenschaft jedoch niemals von den sie tragenden Forschern trennen kann, kommt auch keinem Forscher das göttliche Recht zu, den Ansätzen anderer Forscher die Anerkennung zu verweigern. Wenn der Forscher aus dem einen oder anderen Grund sich eine philosophische Grundeinstellung zueigen gemacht hat, darf er nicht annehmen, daß seine Position die einzig richtige wäre. Er muß stets die Tatsache berücksichtigen, daß der von ihm gewählte Gesichtspunkt nur einer von vielen anderen denkbaren Ansätzen ist, sich dem Untersuchungsobjekt zu nähern. Wenn die untersuchten Phänomene einem anderen Forscher andersartig erscheinen und wenn er sich dem Objekt mit Hilfe einer anders angelegten Analyse nähert und daher auch andere Ergebnisse erzielt, kann daraus nicht geschlossen werden, daß alle anderen Forscher „unrecht" hätten oder daß sie oberflächlich, naiv und töricht seien. Brusiin bezeichnet die Toleranz als den Grundwert der wissenschaftlichen Arbeit. Die Wissenschaft ist keine Gerichtssitzung, in der der Forscher seine Kollegen, die einen anderen Standpunkt als er eingenommen haben, verurteilt. Mit der Berufung auf den Grundsatz der Toleranz können aber unkritische Einstellungen gegenüber den Ergebnissen der Wissenschaft nicht legitimiert werden. Der Forscher ist stets dazu berechtigt, die Folgerichtigkeit der Begründungen, die ein anderer Forscher anführt, sowie ihren Erklärungswert und ihre Universalisierbarkeit kritisch zu würdigen. Im Rahmen derselben Forschungstradition ist auch strenge Kritik möglich. Wenn der Forscher aber vom Standpunkt der eigenen Forschungstradition andersartige Ausgangspunkte kritisiert, sollte er dabei nicht vergessen, daß die Vielfalt der alternativen Ansätze zugleich der Reichtum der wissenschaftlichen Forschung ist. Brusiin glaubte an die Fruchtbarkeit einer wissenschaftlichen Forschung, in der dasselbe Objekt mit Hilfe verschiedener Methoden untersucht werden kann. Die unterschiedlichen Methoden erschließen dem Forscher das Objekt aus unterschiedlichen Richtungen und können auch zu unterschiedlichen Interpretationen der Wirklichkeit führen. Nach Brusiin kann das auf diese Weise erlangte Wissen ausschließlich mit Hilfe der Theorie geprüft werden, mit der es auch erzielt wurde.
9. Über die Rechtsforschung
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a) Über die Allgemeine Rechtslehre Für Brusiin ist das Recht als soziologische Konstante an keine bestimmte Rechtsordnung gebunden, obwohl es als kulturelles Phänomen in einer bestimmten Nationalkultur angesiedelt ist. Das nationale Recht ist dennoch kein Gegenstand der Allgemeinen Rechtslehre. Diese untersucht das Recht als universelles Phänomen. Nach Auffassung Brusiins ist das Recht seiner Struktur nach ein in allen Gemeinschaften konstanter Faktor, obwohl es inhaltlich häufig von Gemeinschaft zu Gemeinschaft variiert. Die in jeder Forschungsdisziplin erforderliche Einschränkung des Untersuchungsobjekts setzt daher voraus, daß die Forschung sich auf solche Fragen konzentrieren muß, die allen Rechtsordnungen gemeinsam sind. Das Untersuchungsobjekt der Allgemeinen Rechtslehre ist in der Theorie Brusiins daher das Recht als eine soziologische Konstante. Dabei stellt Brusiin die invarianten, sich stets wiederholenden Züge des Rechts heraus. Die Allgemeine Rechtslehre ist ihrer Natur nach international; sie ist eine universale Wissenschaft. Die Akzentuierung der Universalität im Denken Brusiins in den dreißiger Jahren weist deutliche Berührungspunkte auf mit der Akzentuierung der Einheitlichkeit der wissenschaftlichen Methode in der positivistischen Wissenschaftstheorie. Dies kommt besonders prägnant in der Feststellung Brusiins zum Ausdruck, daß das Feld der Allgemeinen Rechtslehre zeitlich und räumlich uneingeschränkt ist. Die Rechtslehre genießt uneingeschränkte Bewegungsfreiheit im Koordinatensystem von Zeit und Raum. Sie darf sich nicht auf die Analyse eines bestimmten, knappen Zeitabschnitts beschränken. Die Rechtslehre hat die Aufgabe, das Recht als soziales Phänomen in den unterschiedlichen Gesellschaften zu untersuchen. Nach Brusiin zeichnet sich die Rechtslehre durch die Akzentuierung der geschichtlichen Perspektive und die enge Verbindung mit der Rechtsvergleichung aus. Die Rechtslehre betrachtet ihr Untersuchungsobjekt immer vom Standpunkt einer bestimmten Rechtskultur aus. Die Allgemeine Rechtslehre ist daher stets durch die Lebenserfahrungen des Forschers mit einer konkreten Rechtsordnung geprägt und verbunden. Jedes Kulturmilieu verleiht der Untersuchung eine eigenständige Prägung und Färbung. Der Forscher ist darüber hinaus dem Druck seiner Umgebung ausgesetzt und steht unter dem Einfluß seiner eigenen Persönlichkeit. Dies ist nach Brusiin darauf zurückzuführen, daß der Untersuchungsbereich der juristischen Phänomene im Grunde vulkanischer Boden ist und daß zahlreiche juristische Phänomene emotional gefüllt sind. Der Forscher muß daher aktiv um die Objektivität seiner Untersuchung ringen. Der Kampf um die Objektivität darf jedoch nicht mit der Kapitulation vor dem Objekt enden. Nach Brusiin muß die Rechtslehre die Grundpositionen, die Ideologien und die Werte einer Gesellschaft so kritisch wie irgend möglich untersuchen. 4'
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Einführung in das Rechtsdenken Otto Brusiins
Aufgrund ihrer Kulturgebundenheit drückt die Rechtslehre in der Sicht Brusiins gleiche juristische Probleme mit Hilfe unterschiedlicher Begriffe aus. Gerade darin liegen die Brauchbarkeit und der Reichtum der Rechtslehre. Der tatsächliche Hintergrund des Denkens eines jeden Forschers und Wissenschaftlers hat sich durch seine persönlichen Erfahrungen auf dem Gebiet des eigenen Rechts gebildet. Diese Tatsache hat nach der Auffassung Brusiins grundlegende Bedeutung für die Vertreter der Allgemeinen Rechtslehre. Die persönlichen Erfahrungen sind empirisch vorgegebenes Material, worauf sich freies und undogmatisches Denken stützen kann. Der Forscher benutzt in seiner Arbeit unvermeidlich die Rechtsordnung des eigenen Staates als empirische Basis und Probierstein für seine Theorie. Nach Brusiin setzt die fruchtbare rechtstheoretische Forschung zwingend voraus, daß der forschende Jurist mit der juristischen Praxis vertraut ist. Die für das Recht charakteristischen konstanten Züge können nämlich nicht aus dem Nichts herauskristallisiert werden. Sie sind im Recht selbst vorhanden, weshalb auch die Erforschung des Rechts die praktische Kenntnis des Rechts voraussetzt. Die Tatsache, daß Brusiin diesen Umstand einräumt, bedeutet jedoch nicht, daß die Theorie nunmehr der Praxis unterworfen wird. Die einzelnen Phänomene des positiven Rechts sind für den Juristen, der sich als Rechtstheoretiker betätigt, zunächst lediglich Illustrationen eines theoretischen Problems. In diesem Sinne können sie auch bei der Entwicklung rein theoretischer Probleme verwertet werden. Bei der Untersuchung der juristischen Praxis beachtet die Allgemeine Rechtslehre besonders die logische Struktur des Rechts und die Methode des juristischen Denkens. Die Methode des juristischen Denkens kann durch die Offenlegung der Arbeitsverfahren, die die Vertreter der positivrechtlichen Richtungen faktisch anwenden, untersucht werden. Die Methodenanalyse offenbart die gesellschaftliche Bindung der Rechtslehre und ermöglicht die kritische Untersuchung dieser Disziplin. Eine derartige Kritik dient der Entwicklung der Rechtslehre und fördert damit auch die Rechtspraxis. Die Allgemeine Rechtslehre darf sich jedoch der Rechtspraxis nicht unterwerfen. Die Rechtslehre muß sich selbst treu bleiben. Nur auf diese Art und Weise wird sie in eine Kulturwissenschaft umgewandelt werden können, die die strukturellen und sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten erklären kann, die in verschiedenen Gesellschaften in unterschiedlichen Epochen ihrer Entwicklung auftreten. Eine fruchtbare rechtstheoretische Untersuchung muß nach Brusiin zwei Voraussetzungen erfüllen. Die Untersuchung muß sich auf einen engen Sektor eines juristischen Phänomens beschränken. Ferner muß das juristische Phänomen beschränkt auf eine konkrete Zeit und einen konkreten Raum untersucht werden. In der Methode der Allgemeinen Rechtslehre werden daher die Einschränkung und die Offenheit miteinander verbunden.
9. Über die Rechtsforschung
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Der Forscher muß sich im Verlauf seiner Untersuchung auf dem von ihm gewählten Sektor auf präzise abgegrenzte theoretische Probleme beschränken und sich ausschließlich ihrer Erforschung widmen. Brusiin bezeichnet diese Objektspezifikation im Rahmen des untersuchten Problems als Mikrosystem des Sektors. Zwischen dem Mikrosystem des Sektors und seiner vorläufigen Einschränkung herrscht nach der Auffassung Brusiins eine Wechselbeziehung, ein kontinuierlicher Diskurs. Im Verlauf der Forschungsarbeit beeinflußt das Makrosystem des Sektors das untersuchte Ganze. Die Analyse verweist somit auf das Ganze. Der Rechtstheoretiker betrachtet die juristischen Phänomene im gewählten Sektor stets durch das eigene rechtstheoretische System. Nur auf diese Art und Weise können die Probleme sein theoretisches Interesse erwecken. Die rechtstheoretische Forschung darf sich jedoch nicht auf die Analyse eines einzigen Sektors beschränken. In der Sicht Brusiins muß der Forscher einen Sektor nach dem anderen analytisch erforschen. Anschließend soll er die Tiefenanalysen unterschiedlicher Sektoren vergleichen. Dieses Verfahren eröffnet dem Forscher eine neue Ebene des Vergleichs. Die Untersuchung erfährt eine Veränderung bereits im Stadium des Übergangs von der Analyse einzelner Sektoren zum Vergleich der einzelnen Sektoren untereinander. Brusiin hebt hervor, daß vom Standpunkt der Allgemeinen Rechtslehre erst auf der Ebene des Vergleichs der einzelnen Sektorenanalysen das theoretisch interessante Stadium erreicht wird. Die rechtstheoretischen Richtungen, die sich auf unterschiedliche theoretische Ausgangsvoraussetzungen stützen, akzentuieren auch unterschiedliche Faktoren im Rahmen einzelner Sektoren. Für Brusiin eröffnet diese Sachlage abermals eine neue Ebene des Verstehens dieser Theorien. Brusiin ging es darum, eine Theorie der Theorien, eine epistemologisch fundierte Metatheorie zu schaffen. Als Objekt der Metatheorie des Rechts sah er die Aussagen der Rechtstheoretiker über die juristischen Phänomene sowie das Verhältnis dieser Aussagen untereinander an. Erst der Vergleich dieser unterschiedlichen Ebenen untereinander offenbart dem Juristen die Problematik seines Berufs und bereichert seine Persönlichkeit. Anstelle der instinktiven Selbstsicherheit wird das Suchen gesetzt, sichere Antworten wiederum werden durch Fragen aus dem sich eröffnenden Bereich der noch nicht untersuchten Dinge ersetzt. Auf diese Art und Weise zwingt die Allgemeine Rechtslehre den Forscher zur Erweiterung seiner Horizonte und zum Verständnis des Problems der relativen Berechtigung der Gegensätze. Der Forscher verfügt selten über direkte Macht. Aber er beobachtet. Er nimmt hinter den rivalisierenden Ideen- und Interessengemeinschaften den Menschen wahr. Darin liegt nach der Theorie Otto Brusiins die Bedeutung der Allgemeinen Rechtslehre.
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b) Über die Rechtswissenschaft Brusiin sieht die Aufgabe der Rechtswissenschaft in der systematischen Erforschung und Darstellung des in einem gewissen Zeitpunkt geltenden Rechts. Die Rechtswissenschaft beschränkt sich auf die Untersuchung des Rechts eines bestimmten Staates, sie ist für den Hausgebrauch bestimmt und an Zeit und Ort gebunden. Die Rechtswissenschaft gehört trotz dieser Einschränkungen zu den Sozialwissenschaften und muß deshalb in einem engen Interaktionsverhältnis zu den anderen Disziplinen stehen. Die wissenschaftliche Erforschung des Rechts auf der Ebene der Rechtswissenschaft ist nicht einmal ohne die Kenntnis der wirtschaftlichen politischen und geschichtlichen Realien einer Gesellschaft möglich. Die Rechtswissenschaft kann nur dann verläßliches Wissen über die Gesellschaft zustande bringen, wenn sie im Einklang mit der realistischen Methode betrieben wird. Die sophistische Argumentation, die die Bedeutung des Realwissens für die Rechtswissenschaft negiert, ist schädlich für das gesamte Rechtswesen. Da das Untersuchungsobjekt der Rechtswissenschaft die normativ geregelte soziale Wirklichkeit ist, unterliegt ihr Objekt ständigen Veränderungen. Die Rechtswissenschaft muß deshalb ihre Ergebnisse ständig überprüfen. Sie darf nicht zu einer statischen oder rückwärtsorientierten Forschungsrichtung werden. Die Rechtswissenschaft muß auch methodisch offen bleiben, damit die Mitglieder der Gesellschaft ihre Positionen ungehindert artikulieren können. Jeder verantwortungsbewußte Forscher muß daher versuchen, die sozialen Zielsetzungen der Rechtsregeln zu ermitteln und das Verhältnis dieser Regeln zueinander festzustellen. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, der Praxis zu dienen, ohne sich ihr jedoch zu unterwerfen. Die Ausübung der Forschungstätigkeit setzt daher die Kenntnis der Verhältnisse in der Praxis voraus. Die Praxis steuert die Fragestellung und die Wahl des Untersuchungsobjekts. Die Praxis hilft ebenfalls, das Ergebnis der Untersuchung zu verifizieren. Erst in der Anwendung in der Praxis erweisen sich die Ergebnisse der Rechtswissenschaft als endgültig wahr oder falsch. Indem Brusiin die realistische Methode als einzig sinnvolles Werkzeug der Rechtswissenschaft bezeichnet, akzentuiert er zugleich die Tatsache, daß das Recht nur dann verstanden werden kann, wenn die verhaltensbestimmenden Ziele, die die Basis des Rechts ausmachen, bekannt sind. Die realistische Methode fördert eine sinnvolle Auslegung, eine Auslegung, die optimal die Verwirklichung des Postulats der Rechtssicherheit garantiert.
10. Rückblick und Ausblick
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10. Rückblick und Ausblick Auf unserer Reise erreichen wir die erste Raststätte. Der Weg, den wir bisher zurückgelegt haben, führte entlang einer abwechslungsreichen Landschaft. Die Wahl der Strecke war jedoch nicht zufällig. Ich glaube, daß Otto Brusiin uns den Reichtum der Wirklichkeit vor Augen führen wollte. Er mochte sich nicht mit einer Analyse der juristischen Phänomene abfinden, die die Wirklichkeit vereinfacht. Es ist eine aufregende Beobachtung, daß wir im Laufe der Entwicklung der Wissenschaft an einer Stelle angekommen sind, an der die Erklärungsmodelle immer komplizierter werden, weil man verhindern will, daß die Theorie durch die Vereinfachung ihres Objekts gerettet wird. Ein gutes Beispiel dafür ist die Entwicklung der Geometrie. Die klassische hellenische Geometrie reduzierte die Wirklichkeit auf Linien und Kreise, um anschließend eine allgemeine Theorie darüber aufzustellen. Die Linien waren gerade, die Kreise waren rund und die Schemata waren einfach. Alles schien einwandfrei zu funktionieren bis der französische Mathematiker Benoit Β. Mandelbrot sich die Freiheit nahm, zu bezweifeln, ob die Wirklichkeit aus geraden Linien und Kreisen bestehe. Dann könnte eine Theorie, die sich auf Linien und Kreise bezieht, nicht etwa eine Theorie der Wirklichkeit sein, sondern schlicht eine Theorie der Linien und Kreise. Mandelbrot wollte die Wirklichkeit besser beschreiben und entwickelte zu diesem Zweck die Fraktaltheorie. Ihre Grundidee lautet, daß die Komplexität der Wirklichkeit mit bestimmten festen und wiederkehrenden Zügen zusammenhängt, die die Dinge miteinander verbinden. Die Fraktale wiederholen sich selbst, alle Formen, unabhängig vom Lebensbereich, wiederholen sich selbst. Diese Wirklichkeit ist Gegenstand der Fraktaltheorie. Otto Brusiin würde sich wohl nicht gekränkt fühlen, wenn jemand sich in der Pause die flüchtige Bemerkung erlauben würde, daß zwischen den Theorien Brusiins und Mandelbrots auffällige Gemeinsamkeiten bestehen. Beide Theorien verbindet derselbe Grundgedanke. Eine Theorie der Wirklichkeit kann durch die Verfälschung ihres Objekts nicht entwickelt werden.
Schriften von Otto Brusiin I . Über die Rechtstheorie Die rechtstheoretische Forschung ist zu einem gewissen Teil Auslegung des positiven Rechts in systematischer, wissenschaftlicher Form (d.h. eine Gesetzeskunde der Rechtswissenschaft'). Daneben gibt es eine rechtswissenschaftliche Forschung, deren Aufgabe und grundsätzliche Ausrichtung eine andere ist. Während die Gesetzeskunde die in einer bestimmten Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit geltende Rechtsordnung zum Objekt hat, ist das Objekt jener anderen Forschung die von allen denkbaren positiven Rechtsordnungen gebildete Klasse. In beiden Fällen ist das ,RecKt' das Objekt, aber die Bedeutung dieses Wortes, seine logische Stufe, ist jeweils eine andere. Im ersteren Fall ist das Objekt eine konkrete, in einem gewissen geschichtlichen Rahmen gegebene Rechtsordnung, in der der Forscher lebt und von der er geistig geprägt ist, während es im letzteren Fall um eine soziale Konstante geht, um das ,Recht4 und die in seinem Bereich feststellbaren Phänomene konstanter Natur, die Invarianzen. 1 Die Ergebnisse der juristischen Forschung dienen den praktischen Bedürfnissen der Gemeinschaft unmittelbar dadurch, daß sie die reibungslose Funktion des Rechtsapparats fördern (d.h. die Klärung zweifelhafter Rechtsfragen). Oft wird diese Forschung von Personen ausgeübt, die als Ausbilder der künftigen Juristen bei uns in Finnland als Hochschullehrer tätig sind. Da die an den Hochschulen betriebene juristische Forschung, bedingt durch die praktischen Bedürfnisse, rein quantitativ die Menge der auf jenes andere Recht gerichteten Forschung erheblich übertrifft und damit als die Phänomene im Bereich des Rechts untersuchende Forschung eine sichtbarere Form gewinnt, wendet man die Bezeichnung Rechtswissenschaft auch auf die Gesetzeskunde an. Ist die Gesetzeskunde eine Wissenschaft? Die Antwort hängt davon ab, wie man das Wort ,Wissenschaft' semantisch eingrenzt. Wenn man einen derartigen, in gewisser Hinsicht eigentümlichen Begriff wie praktische Wissenschaft' akzeptieren kann, dann hindert nichts daran, ihn auch auf die Gesetzeskunde anzuwenden, zumal diese ja unvergleichlich rationalistischer ist als zum Beispiel gewisse, unter dem Gewände der Wissenschaftlichkeit einhergehende 1
Die Zweideutigkeit des Wortes „Recht" (sowie noch die Bedeutung subjektives Recht, Gerechtigkeit) hat in der Theorie zu Verwirrung und Fehlschlüssen geführt.
. Über die R e c h t s o r
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Formen des theologischen Denkens (Exegetik, Dogmatik), denen die Gesetzeskunde allerdings in gewisser Hinsicht ähnelt ^Rechtsdogmatik'). Die Gesetzeskunde hat sich auf der Grundlage des kasuistischen römischen Rechtsdenkens entwickelt, das bezüglich seiner Methode den Anforderungen, die wir heute an eine Wissenschaft stellen, nicht entsprach. In unserer Zeit strebt die Gesetzeskunde jedoch nach Systematik. Sie ist bestrebt, ihre Sätze in allgemeingültiger sachlicher Weise zu begründen, d.h. sie gemäß den in allem wissenschaftlichen Denken zu befolgenden logischen Prinzipien miteinander zu verknüpfen. Da die Gesetzeskunde im Grunde jedoch Gesetzesauslegung bleibt, ist in ihren Konstruktionen stets ein ihre Wissenschaftlichkeit schwächendes Wertungsmoment mit enthalten. Mittels ihrer sachlichen Begründungen objektiviert die juristische Forschung indessen diese Wertungen. Sie setzt die gedankliche Arbeit des Gesetzgebers fort, nicht nur indem sie die Resultate der Gesetzgebung, die Rechtsnormen, klärt und systematisiert, sondern auch dadurch, daß sie von dieser Grundlage aus die Voraussetzungen zur Entwicklung der Rechtsordnung erkundet. Wir für unseren Teil erkennen unsere moderne juristische Forschung ohne zu zögern als wissenschaftlich an. (In dieser Abhandlung verwenden wir um der Klarheit willen den Begriff der ,Gesetzeskunde' anstelle des Begriffs Rechtswissenschaft'.) Auch wenn man der traditionellen Gesetzeskunde den Wissenschaftscharakter abspräche, so würde dies ihren erheblichen, durch jahrhundertelange Erfahrung erhärteten praktischen Wert nicht um das geringste schmälern. Der praktische Wert der Gesetzeskunde mag gerade dann am augenfälligsten sein, wenn man sie in der - vom wissenschaftlichen Standpunkt - primitiven Form des Paragraph um Paragraph einzeln erläuternden Kommentars betreibt. Die von der allgemeinen wissenschaftlichen Methode abweichenden Eigenheiten, die mit der Gesetzesauslegung unabdingbar verbunden werden, sind in der letzten Zeit besonders in den skandinavischen Ländern und den Vereinigten Staaten Anlaß dafür gewesen, neue Wege bei der Bestimmung der Aufgabe der Rechtswissenschaft zu suchen.2 Eine derartige soziologisch angehauchte, positivrechtliche Wissenschaft ist jedoch nicht imstande, die gesellschaftliche Aufgabe zu verrichten, die die traditionelle Gesetzeskunde seit altersher verrichtet hat und dürfte somit die Gesetzeskunde nicht ersetzen können. Vom Standpunkt der positivrechtlichen Forschung aus gesehen, könnte man fragen: Braucht man neben der Gesetzeskunde noch eine andersartige rechtstheoretische Forschung? Wird diese Frage verneint, so lautet die halb unbewußte Begründung oft wie folgt: Die Gesetzeskunde erhält ihre Daseinsberechtigung aus den Bedürfnissen der Praxis, sie ist notwendig und sie erfüllt 2
Siehe ζ. Β. Κ. N. Llewellyn , The Normative, the Legal and the Law-Jobs: the Problem of Juristic Method, in: The Yale Law Journal 49 (1940), S. 1355 - 1400, P0ul Mikael Sachs: Retsvidenskabens Stilling i U.S.A., in: Tidsskrift for rettsvitenskap 1938, S. 423 ff. - Siehe ferner die methodologischen Studien von Axel Hägerström, Karl Olivecrona, Alf Ross und Vilhelm Lundstedt.
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Schriften von Otto Brusiin
ihre Aufgabe recht gut, sie mag also ausreichen. Da die juristische Forschung nicht theoretisch im strengen Sinne des Wortes ist, besteht jedoch ein theoretischer Bedarf 3 dafür, eine auf das Recht gerichtete Forschung zu betreiben, die Wissenschaft der Wissenschaft willen ist und nicht darauf ausgerichtet ist, praktischen Zwecken zu dienen. Durch ihren rein theoretischen Charakter kann eine solche Forschung auch für die Praxis bedeutsame Ergebnisse zeitigen, zu denen man mittels gesetzeskundlicher Methode nicht gelangt; zum Beispiel die Rechtsquellen- und Gesetzesauslegungslehre sowie die Lehre von den Methoden der Jurisprudenz. Die Klärung der Methode der Gesetzeskunde ist dann in erster Linie deskriptiv, aber auf der Grundlage einer sorgfältigen Deskription kann man Hinweise dafür finden, welche Arbeitsmethoden auf dem Gebiete der Gesetzeskunde für weniger zweckmäßig und welche hingegen als verwendungsfähig angesehen werden können. Eine solche rein theoretische Forschung, wie sie in der westlichen Welt seit Jahrtausenden, nämlich seit Piatons und Aristoteles' Tagen betrieben wird, bezeichnet man allgemein als Rechtsphilosophie.4 In der Geschichte der Wissenschaften hat man oft festgestellt, daß eine neue Wissenschaft sich von ihrer Urmutter, der Philosophie, abzulösen beginnt, wenn die Voraussetzungen für ihre eigenständige Existenz gegeben sind. Die Rechtstheorie befindet sich zur Zeit in dieser Phase. Sie kann sich in unseren Tagen nur als selbständige, ihren eigenen inneren Anforderungen gerecht werdende Disziplin zu einer fruchtbaren Wissenschaft entwickeln. Im folgenden wollen wir diese Wissenschaft,Allgemeine Rechtslehre' nennen.5 Die Forscher auf dem Gebiet der Allgemeinen Rechtslehre möchten oft an der Bezeichnung Rechtsphilosophie' festhalten. Vielleicht wollen sie hiermit das Streben nach einer breiten Gesamtanschauung im Gegensatz zur Gesetzeskunde ausdrücken, werden aber dabei nicht gewahr, daß diese Benennung zugleich das Eingeständnis der Infantilität dieser Forschung beinhaltet. Desgleichen wird für gewöhnlich von der Allgemeinen Rechtslehre' als Gegenpol zur Rechtsphilosophie' ein Zerrbild gezeichnet, das aufzeigen soll, daß eine von der Philosophie losgelöste Rechtslehre nur eine Art von Enzyklopädie sein kann, mit anderen Worten: ein aus 3
Ein solcher theoretischer Bedarf tritt auf oder wird zumindest öffentlich anerkannt nur in einer Gemeinschaft, in der auch andere Forschung als nur auf materiellen Nutzen abzielende geschätzt wird und in der außerdem der wissenschaftlichen Forschung auch dann völlige Freiheit zuerkannt wird, wenn sie sich auf gesellschaftliche Phänomene richtet. 4 Die Beziehung der antiken griechischen Kultur zu den Erscheinungen des Rechtsgebiets war eine andere als die der römischen Kultur. Der griechische Geist hinterließ uns als Erbe nicht die kasuistische Gesetzeskunde, sondern die Rechtsphilosophie. Der Beitrag der griechischen Rechtsphilosophie bei der Erweiterung des Geistes der römischen Gesetzeskunde war jedoch nicht gänzlich unbedeutend: die Erforschung des römischen Rechts hat in den letzten Jahrzehnten hierfür Nachweise erbringen können. 5 Rein sprachlich gesehen wäre ,Rechtstheorie' der beste Terminus, er würde aber zu Verwechslungen mit der bereits etablierten Rechtswissenschaft' (= Gesetzeskunde) führen.
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einigen allgemeinen Begriffen der Gesetzeskunde zusammengefügtes Herbarium. Ein solches könnte vielleicht in früheren Zeiten einen Nutzen für die Studenten gehabt haben, die am Anfang ihres Studiums standen, aber seine wissenschaftliche Bedeutung ist heutzutage so gut wie belanglos (vgl. C. G. Bergman : „Eine Reminiszenz der Methode vergangener Zeiten, Jura zu studieren": Svensk Juristtidning 1928, S. 144). Man muß jedoch konstatieren, daß die allgemeinen Lehren von Spezialzweigen der Gesetzeskunde, zum Beispiel des Zivil- und des Strafrechts, sich im Grenzgebiet zwischen der Gesetzeskunde und der Allgemeinen Rechtslehre ansiedeln, da in ihnen in erster Linie metapositive Fragen behandelt werden. In den Werken der Gesetzeskunde kann man daher auch oft Gedankengänge vorfinden, die denen der Allgemeinen Rechtslehre recht nahestehen. Dies ist zum Beispiel sehr oft in den theoretischen Einführungen 4 der Fall, die üblicherweise den juristischen Dissertationen in Finnland vorangestellt werden. Der auf dem Gebiet der Gesetzeskunde sich bewegende Forscher beschränkt sich hierbei allerdings darauf, einen - wie man sagt - ,Standpunkt einzunehmen4, ohne diesen eingehender zu begründen. Die Allgemeine Rechtslehre geht von dem Postulat aus, daß das Recht konstanter Natur ist, mit anderen Worten: daß es etwas ist, das von seiner Struktur, nicht von seinen Inhalten her, in allen Gemeinschaften gleich ist. Auf der Grundlage dieses Postulats kann das Recht als eine von den in der Gemeinschaft geltenden Normen gebildete Gesamtheit definiert werden, die von der arbeitsteilig organisierten, durch besondere Organe zu verwirklichenden Zwangsgewalt aufgestellt werden. (Hinter den in einer Gemeinschaft geltenden, d.h. üblicherweise befolgten Moral- und Gewohnheitsnormen steht kein über die Organe der Gemeinschaft ausgeübter öffentlicher Zwang.) Die Erfahrung hat gezeigt, daß in dieser Zwangsnormierung von menschlichen Gemeinschaften, die sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gebildet haben, Invarianzerscheinungen auftreten. Die Möglichkeit einer Allgemeinen Rechtslehre basiert im Grunde auf der Annahme von Invarianzen in der geistigen Struktur des Menschen, wie sie in den von diesem Zoon politikon gebildeten Gemeinschaften (in unseren Tagen also vor allem im Staat) zutage treten. 6 Als derartige Erscheinungsformen können zum einen die in bestimmten positiven Rechtsordnungen sich wiederholenden formellen Beziehungen gelten, zum anderen auch gewisse, in allen positiven Rechtsordnungen herrschende sozialpsychologische Gesetzmäßigkeiten. Hans Kelsen und seine Schule haben die erstgenannten Konstanten betont, Axel Hägerström und seine Schüler die letztgenannten. Beide Aspekte sind nach wie vor 6
Hierin liegt der berechtigte Kern des sog. Naturrechts und der katholischen Rechtsphilosophie. Diese Richtungen begnügen sich jedoch im allgemeinen nicht hiermit, sondern unternehmen es, aus metaphysischen Glaubensvorstellungen den Inhalt von Rechtsnormen zu deduzieren. Siehe z.B. R. P. Sertillanges, La philosophie des lois, Paris 1946, S. 51 ff.
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möglich, aber möglich ist auch ihre Synthese. Beide Richtungen, denen eine sehr große Bedeutung zuzuschreiben ist, streben bewußt danach, alle metaphysischen Elemente aus dem rechtstheoretischen Denken zu eliminieren. Die vergleichende Rechtslehre ist das Übergangsgebiet zwischen der an die positive Rechtsordnung gebundenen Gesetzeskunde und der Allgemeinen Rechtslehre. Auch als Voraussetzung der Rechtsvergleichung gilt eine Invarianz gewissen Grades: inkommensurable Phänomene können nicht miteinander verglichen werden. Wenn die Rechtsvergleichung als wissenschaftliche, eine systematische Ordnung anstrebende Forschung betrieben wird und nicht als geistloses Ansammeln von Material, steht sie der Allgemeinen Rechtslehre recht nahe. In solcher Form kann sie der letztgenannten ein empirisches Fundament bereitstellen. 7 Das absolut wichtigste von den Verifizierungsmitteln der Allgemeinen Rechtslehre ist jedoch die positive Rechtsordnung in der Gemeinschaft, in der der jeweilige Forscher lebt. Die von der Allgemeinen Rechtslehre behandelten Fragen gelangen für gewöhnlich dadurch in den Lichtkegel der Forschung, daß sie von der positiven Rechtsordnung aufgeworfen und von der Gesetzeskunde als ,Themen' bearbeitet werden, aber die endgültige Ausformung der Fragen und ihre Beantwortung geschehen über das rein theoretische Denken der Allgemeinen Rechtslehre. 8 Wenn auch die Allgemeine Rechtslehre zu einem wichtigen Teil die kritische Klärung des gedanklichen Inhalts der Sätze der Gesetzeskunde ist, so ist sie dies jedoch nicht ausschließlich. Wollte man die Aufgabe der Allgemeinen Rechtslehre im logistischen Sinne auf diese Weise begrenzen, so würde dies erfordern, daß es nur eine Gesetzeskunde gäbe und nicht, wie in Wirklichkeit, eine unbegrenzte Menge von Gesetzeskunden, die an inhaltlich unterschiedliche positive Rechtsordnungen gebunden sind. Wenn auch die auf der westlichen Rechtstradition gewachsenen Gesetzeskunden in ihren gedanklichen Inhalten Gemeinsamkeiten aufweisen, so kann dies gleichwohl die zwischen diesen gedanklichen Inhalten herrschende grundsätzliche ,Fremdheit' nicht beseitigen. Damit die als Satzanalyse auszuübende Allgemeine Rechtslehre sich zu einer lebensfähigen Disziplin entwickelt, ist es unserer Ansicht nach 7
Die vergleichende Rechtslehre kann als universale Rechtsgeschichte aufgefaßt werden, d.h. als Brücke zwischen der Rechtstheorie und der Geschichtswissenschaft. Der von der Rechtsgeschichte der Jurisprudenz bereitgestellte Rückhalt ist grundlegender Natur. 8 So enthält zum Beispiel die positive Rechtsordnung Finnlands die Vorschrift, daß die Entscheidungen der Gerichte obligatorisch begründet werden müssen. Die Gesetzeskunde (die Prozeßrechtswissenschaft) legt diese Vorschrift aus. Die allgemeine Rechtslehre stellt auf Grund all dessen die allgemeine Frage nach der Verknüpfung der konkreten Entscheidungen der Organe der Rechtsgemeinschaft mit den abstrakten Funktionsschemata (den Rechtsnormen). - In gleicher Weise enthält das finnische Recht Vorschriften über die Strafverfolgung gegen Richter wegen eines Amtsdelikts. Die Gesetzeskunde (die Strafrechtswissenschaft) legt diese Vorschriften aus. Die allgemeine Rechtslehre stellt die Frage nach der Lenkung der Funktion von Organen der Rechtsgemeinschaft mittels Straf- und Entschädigungssanktionen.
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zudem nötig, daß das gedankliche Material der Gesetzeskunde methodisch in eine ebenso klare und kompakte Form gegossen wird wie zum Beispiel das der theoretischen Physik. Auch diese Voraussetzung ist nicht gegeben. Auch Kelsens ,Reine Rechtslehre', die zu einem erheblichen Teil eine derartige kritisch klärende Satzanalyse darstellt, ist dies nicht allein. Ferner könnte man fragen, ob es nicht - wollte man die Allgemeine Rechtslehre als Satzanalyse aufbauen - fruchtbarer wäre, diese Analyse direkt auf die Gesetzestexte zu richten, die den Konstruktionen der Gesetzeskunde zugrunde liegen. Wenn sich die Allgemeine Rechtslehre bewußt zum Diener einer bestimmten metaphysischen oder politischen Richtung macht, dann verneint sie sich als Wissenschaft selbst. Der gewöhnlichere Fall ist der, daß sich in die Gedankenkonstruktionen der Rechtslehre vom Forscher unbemerkt derartige unwissenschaftliche Elemente einschleichen.9 Es ist sogar verschiedentlich - besonders von einigen Theoretikern, die unter dem Einfluß des Nationalsozialismus standen - behauptet worden, daß man sich eine von metaphysisch-politischer Weltanschauung freie Allgemeine Rechtslehre überhaupt nicht denken könne. Der Forscher ist derartigen Auffassungen zufolge in seinem Denken immer, ob bewußt oder unbewußt, an ein bestimmtes soziales Umfeld gebunden, ist ausschließlich eine Funktion desselben. Es ist zugegebenermaßen schwer, die über die Persönlichkeit des Forschers einwirkenden und die Theoriebildung störenden irrationalen Faktoren völlig auszuschalten. So spiegelt zum Beispiel in unseren Tagen die Forschung auf dem Gebiet der Allgemeinen Rechtslehre gerade die in den Rechtsstaaten westlicher Prägung vorherrschende Ideologie wider. In den Gedankenkonstruktionen des Naturrechts spiegelte sich der für das betreffende historische Zeitalter typische Ideeninhalt wider. In der Sowjetunion wiederum wird nur eine der marxistischen Weltanschauung entsprechende Rechtstheorie als wissenschaftlich und damit als allgemeingültig anerkannt. Die nichtmarxistischen Theorien werden dort als Widerspiegelungen des in der privatkapitalistischen Gesellschaft stattfindenden Klassenkampfes gesehen. Ein jedes Kulturmilieu verleiht also dem Inhalt der Allgemeinen Rechtslehre eine eigene Färbung, und es läßt sich aufzeigen, wie im Grunde gleiche Rechtsprobleme sich theoretisch in unterschiedlichen Begriffen ausdrücken. Das Wichtigste ist, daß der Theoretiker seine Waffen auch dann nicht vor den irrationalen Kräften streckt, wenn sie in ihm selbst zu wirken bestrebt sind. 10 9
So sagt zum Beispiel Robert Hermanson in seinem Werk „Das Recht und die religiösen Wahrheiten", Porvoo 1921, auf S. 70, daß die Verbindlichkeit des Rechts auf keine andere Weise erklärt werden könne als von Gott her: die Rechtsordnung sei eine heilige Ordnung. Eine solche Erklärung ist bar jeder wissenschaftlichen Bedeutung. 10 Die politisch-weltanschaulichen Umbruchphasen sind vom Standpunkt der rechtstheoretischen Forschung fruchtbare Zeiten, denn sie machen aus Axiomen Probleme. Siehe zum Beispiel Carl Schmitts Kritik an der Ideologie des liberalen Rechtsstaates und die Kritik A. J. Vy shins kis an der Unparteilichkeit des Gerichtswesens im sog. bürgerlichen Staat (Die Theorie der gerichtlichen Beweisführung im sowjetischen Recht, 2. Auflage, Moskau 1946, S. 12 - 13, 84; in russischer Sprache).
I I . Über die Objektivität der Rechtsprechung 1. Einleitung Diese Untersuchung fällt in das Gebiet der ,allgemeinen Rechtslehre'. Wenn man die Sprachtradition außer acht lassen könnte, würden wir unser Forschungsgebiet einfach mit dem Worte ,Rechtstheorie' bezeichnen. Dieser Terminus könnte aber zu einer Vermischung mit der auf das positive Recht gerichteten Jurisprudenz (Rechtswissenschaft') führen. Die Wortzusammenstellung ,allgemeine Rechtstheorie' würde wohl die zweckmäßigste sein, scheint aber der deutschen wissenschaftlichen Sprachtradition gegenüber fremd zu stehen. Wenn wir im folgenden den Terminus ,allgemeine Rechtslehre' brauchen, sollten damit keinerlei traditionelle methodologische Vorstellungen verknüpft werden. Eine auf Grundlage des positiven Rechts abstrahierend aufgebaute ,Rechtsenzyklopädie' ist eine pädagogische Disziplin, die als Einführung in das Rechtsstudium Wertvolles leisten mag. Eine pädagogische Disziplin kann aber nicht zugleich eine reine Theorie sein. Ist eine allgemeine Rechtslehre möglich? - Nur wenn es ein immer wiederkehrendes soziologisches Gebilde, das ,Recht', gibt, ein Gebilde also, bei dem in den verschiedensten geschichtlich gegebenen Gemeinschaften eine genügend große Anzahl von strukturellen und sozialpsychologischen, immer wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten, Invarianzen, feststellbar sind. Diese Voraussetzung ist nicht nur bei den heutigen abendländischen Kulturstaaten vorhanden, obgleich jene Invarianzen bei ihnen besonders zahlreich sind. Man könnte allerdings fragen, ob es nicht zweckmäßig sei, eine ,allgemeine Rechtslehre' eben auf jene Rechtsgemeinschaften zu beschränken. In unserem Buche werden manche Aussagen tatsächlich in diesem Sinne beschränkt. Wenn aber so verfahren wird, dürfte es nicht notwendig sein, das Forschungsgebiet der allgemeinen Rechtslehre an sich in dieser Weise prinzipiell einzuschränken. 1 Die Aussage „Gegenstand der Rechtstheorie ist das Recht" ist nicht eindeutig. Das Wort,Recht' kann hier zwei grundverschiedene Bedeutungen haben. 1
Die ,allgemeine', ,reine' Rechtslehre, so wie sie in den heutigen Kulturstaaten betrieben wird, ist aber tatsächlich meistens auf diese Weise eingeschränkt, obgleich dies nur in den seltensten Fällen klar ausgesprochen wird. - Es könnte sogar gefragt werden, ob nicht der Gedanke einer allgemeinen Rechtslehre erst da'durch möglich gemacht wurde, daß eine einheitliche abendländische Kulturwelt vorhanden war.
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Es kann im Sinne vom positiven Recht verstanden werden. Dann bedeutet Rechtstheorie einfach Rechtsdogmatik, Jurisprudenz. Oder es kann das Recht als soziologische Konstante gemeint sein. Dann bedeutet Rechtstheorie die allgemeine Rechtslehre. In diesen zwei Fällen ist die logische Dignität des Wortes ,Recht' eine gänzlich verschiedene. Das Recht als soziologische Konstante könnte vielleicht als ein Klassenbegriff angesehen werden: die Elemente der Klasse wären dann die verschiedenen, räumlich und zeitlich individualisierten positiven Rechtsordnungen. Wenn diese Verschiedenheit der logischen Dignität nicht beachtet wird, entstehen Zweideutigkeiten. Ist eine allgemeine Rechtslehre nötig? - Um diese Frage zu beleuchten, könnte es angebracht sein, einige Feststellungen über ,die allgemeinen Lehren des Privatrechts', ,die allgemeinen Lehren des Strafrechts' usw. zu machen. Diese Lehren bilden einen Bestandteil der positivrechtlichen Jurisprudenz, enthalten aber Aussagen, die in das Gebiet der allgemeinen Rechtslehre fallen und nicht durch Induktion aus den Normen des positiven Rechts hergeleitet worden sind. In den allgemeinen Lehren des Privat- und Straf rechts ist somit ein Streben nach Invarianzen feststellbar. Es wird aber auf das betreffende Rechtsgebiet beschränkt. Nun können zwei Fragen gestellt werden: Besteht das praktische Bedürfnis einer allgemeinen, alle Spezialgebiete umfassenden Rechtslehre? Besteht ein theoretisches Bedürfnis dazu? Wenn man die Literatur der allgemeinen Rechtslehre (einschließlich der Reinen Rechtslehre, der Rechtsphilosophie' usw.) mit der Literatur auf dem Gebiete der positivrechtlichen Jurisprudenz vergleicht, fällt es auf, daß hier eine recht beschränkte Produktion stattfindet, dort aber eine Riesenmenge von Kommentaren, Lehrbüchern, Monographien und Aufsätzen hervorgebracht wird. Diese rein äußerliche Tatsache dürfte wohl als ein Indizium dafür angesehen werden, daß das praktische Bedürfnis einer allgemeinen Rechtslehre geringer ist als das praktische Bedürfnis einer positivrechtlichen Jurisprudenz. Von diesem Standpunkte aus gesehen könnte eine allgemeine Rechtslehre vielleicht als entbehrlich erscheinen. Anders aber, wenn wir nach dem theoretischen Bedürfnis fragen. Durch die ganze abendländische Geistesgeschichte hat es sich konstant fühlbar gemacht. Die Fackel der Rechtsphilosophie wurde von den Hellenen angezündet, und jene rein theoretische Beschäftigung mit dem Rechte ist seitdem zu einem zwingenden Bedürfnis des abendländischen Menschen geworden. Wenn auch die Mehrzahl der Juristen eine praktische, durch ihre Erwerbsarbeit bedingte Einstellung zum Rechte haben mögen, so kann doch die theoretische Einstellung dazu als eine Invarianz der abendländischen Kultur angesehen werden. Geschichtlich ist es aber von Bedeutung gewesen, daß die Gründer unserer Jurisprudenz, die Römer, so wenig Fähigkeit und - folglich - so wenig Interesse für eine rein theoretische Betrachtung des Rechts hatten. 2
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In den letzten Jahrzehnten haben wir beobachten können, wie sich eine rein theoretische Beschäftigung mit dem Rechte immer mehr von der Urmutter, der Philosophie, loslöst, sich als eine selbständige Wissenschaft konstituiert. Dieser Entwicklungsgang ist ja in der Geschichte der Wissenschaften eine normale Erscheinung. Wir behaupten: die theoretische Rechtsforschung ist jetzt bei einem Punkte angelangt, wo sie sich verselbständigen muß, will sie weiter fruchtbar arbeiten. Nach den glänzenden Leistungen von Hans Kelsen kann darüber kein Zweifel mehr bestehen. - Der Terminus Rechtsphilosophie' mag ehrwürdig erscheinen, zeugt aber zugleich davon, daß das betreffende Forschungsgebiet sich noch auf embryologischem Stadium, im großen Mutterschoß der Philosophie, befindet. Das Wort Rechtsphilosophie' ist auch durch eine metaphysische Tradition schwer belastet. Auf dem Gebiete der allgemeinen Rechtslehre geht ein erfolgreicher Forscher immer von seinem eigenen positiven Rechte aus, mag dieses ihm bewußt werden oder nicht. Grundlage seines ganzen Denkens ist die persönliche Rechtserfahrung. Das positive Recht gibt ihm aber nur das Rohmaterial. So ist es ja auch in der Jurisprudenz der Fall. Der Blickpunkt ist in diesen beiden Situationen ein verschiedener. Wenn die Jurisprudenz z.B. untersucht, wie die Verantwortung der Beamten für Dienstversehen in einer bestimmten positiven Rechtsordnung geregelt ist, so geht die allgemeine Rechtslehre auf ein allgemeineres Problem zu: Sanktionen gegen Organpersonen. Oder wenn die Jurisprudenz die prozeßrechtliche Frage der Begründungspflicht bei Urteilen positivrechtlich beleuchtet, so stellt die allgemeine Rechtslehre das Problem auf: Inwieweit sind rechtliche Entscheidungen effektiv an positivrechtliche Normen zu binden? Wie es aus den angeführten Beispielen hervorgehen dürfte, sind sozialpsychologische Fragestellungen der allgemeinen Rechtslehre keineswegs fremd. Der schwedische Denker Axel Hägerström, den wir neben Kelsen für den vielleicht bedeutendsten neueren Forscher auf dem Gebiete der allgemeinen Rechtslehre halten, hat diesen sozialpsychologischen Blickpunkt stark hervorgehoben. Sozialpsychologische Experimente und statistisch verarbeitetes Fragenmaterial könnten auf dem Gebiete der allgemeinen Rechtslehre sehr nützlich sein (z.B. Motivationszusammenhänge, das Rechtsgefühl). Es lassen sich auf dem Gebiete des Rechts sozialpsychologische Gesetzmäßigkeiten aufzeigen, die für das Verständnis der sich fortwährend bewegenden Rechtsmaschinerie wesentlich sind. In der allgemeinen Rechtslehre liegt aber das Hauptgewicht bei den Strukturfragen. Die positivrechtlichen Gebilde mögen auf den ersten Blick eine 2 Es kann andererseits an literarischen Quellen festgestellt werden, wie wenig sich das hellenische Geistesleben für spießbürgerliche Fragen der Jurisprudenz interessierte. Auf die Frage, inwieweit die römische Jurisprudenz der Blütezeit durch hellenistische Philosophie und hellenistische Lehrerpersönlichkeiten bedingt war, wird hier nicht eingegangen.
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noch so große Mannigfaltigkeit bieten: bei näherem Zusehen können hier aber manche strukturelle Invarianzen festgestellt werden. Denken wir z. B. an die Stufenordnung, die in den verschiedensten positiven Rechten bei der Rechtserzeugung und bei der Rechtsverwirklichung vorhanden ist. Die allgemeine Rechtslehre kann als eine Kombinatorik der Rechtsformen aufgefaßt werden. Es können Modelle verschiedener Strukturen konstruiert werden. In der pandektologischen Jurisprudenz wurde viel von Konstruktionen geredet. Die allgemeine Rechtslehre verfährt durchaus konstruktiv. Sie hat ein stark deduktives Gepräge: nur so kann sie als Theorie fruchtbar arbeiten. Das von den positiven Rechten dargebotene Rohmaterial wird gedanklich vollkommen frei verarbeitet; die auftauchenden Fragen werden nach dem Leitgedanken der Invarianz möglichst einfach formuliert. Die so entstandenen Gedankengebilde sind von den positiven Rechtsordnungen losgelöst und dienen rein theoretischen Zwecken. Wenn die allgemeine Rechtslehre als eine Kombinatorik von Rechtsformen aufgefaßt wird, so ist es prinzipiell gleichgültig, ob eine untersuchte Konstruktion jemals geschichtlich vorgekommen ist oder nicht. Welche sind die Kriterien dafür, daß die durch ein positives Recht aufgeworfenen Probleme wirklich ,allgemein4 sind, d.h. Invarianzen auf dem Gebiete des Rechts zum Ausdruck bringen? Die Rechtsvergleichung kann hier Wahrscheinlichkeitsgründe zur Stütze der Invarianzhypothese bei einer bestimmten Frage liefern. Die Rechtsvergleichung könnte also als eine Durchgangsstufe auf dem Wege von der Jurisprudenz zur allgemeinen Rechtslehre angesehen werden. Sie ist für den Forscher auf dem Gebiete der allgemeinen Rechtslehre nützlich. Aber nur als Kontrollmittel. Denn die spezifischen Probleme der allgemeinen Rechtslehre entstehen nicht durch eine immer weiter getriebene Abstraktion aus den Daten der positiven Rechtsordnungen. Sie sind aber soziologisch betrachtet eine Funktion der rechtsphilosophischen Tradition. Der Forscher begegnet einer Menge von Problemen, die herkömmlich in der Rechtsphilosophie behandelt worden sind. Schon durch diesen Umstand tendieren sie, auch seine persönlichen Probleme zu werden. Manche von ihnen können aber Scheinfragen sein, durch falsche oder wenigstens ungenaue Forschungsmethoden heraufbeschworen. Die größtmögliche Vorsicht ist hier vonnöten: immer liefert die Tradition nur ein Indizium dafür, daß ein echtes Invarianzproblem vorliegt. Die traditionellen Probleme und der hergebrachte Begriffsapparat der Rechtsphilosophie sollten kritisch durchgemustert werden. Eine Axiomatisierung ihrer Sätze im Sinne der modernen wissenschaftlichen Logik ist dabei anzustreben. Dadurch werden manche unklare Begriffe und Fragestellungen ausgemerzt. Jede wissenschaftliche Forschung ist soziologisch gesehen eine Funktion der herrschenden Gemeinschaftsideologie. Sie bestimmt letzten Endes, ob eine rein theoretische, von allen metaphysischen und politischen Glaubenslehren 5 Brusiin
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absehende Rechtsforschung möglich ist, oder ob sie als etwas Gemeinschädliches abgewiesen wird. Im theologischen Mittelalter hätte eine allgemeine Rechtslehre im modernen streng wissenschaftlichen Sinne zum Scheiterhaufen geführt. Die geistige Freiheit des abendländischen Menschen, die seit der Renaissance mühsam erkämpft worden ist und schließlich auch vom Staate anerkannt wurde, bietet die beste Grundlage für eine rein wissenschaftliche Erforschung des Rechts. Stellt man sich einen modernen Staat vor, der auf metaphysisch-theoretischer Grundlage errichtet wäre, so ist Eines sicher: hier könnte niemals eine allgemeine Rechtslehre entstehen.3 2. Recht und Rechtsprechung Einen Normenkomplex, hinter dem die organisierte Gemeinschaft steht, d.h. der durch die Organe dieser Gemeinschaft sanktioniert und teilweise auch geschaffen wird, nennen wir ,Recht4. Recht und Rechtsordnung sind somit in unserem Sprachgebrauch synonym. Es ist zweckmäßig, den Begriff Rechtsordnung 4 vom Begriffe ,Rechtssystem4 zu trennen 1 : das Rechtssystem wird für jede positive Rechtsordnung durch die (dieses Recht auslegende) Rechtswissenschaft in nie endigender Arbeit angestrebt. Das positive Recht ist ja in fortwährendem Flusse. Nach Kelsen (op. cit., S. 5) ist das Recht ,a specific technique of social organization 4, die für sozialschädliche Handlungen sozial organisierte, sich gegen Leben, Gesundheit, Freiheit oder Vermögen richtende Zwangsmaßnahmen (Sanktionen) androht. Ihre Verwirklichung wird bestimmten Gemeinschaftsorganen zur Pflicht gemacht (S. 18ff.). Es scheint uns, daß dieses von Kelsen richtig hervorgehobene Unterscheidungsmerkmal eine Folge 3 Diese Untersuchung wurde im Sommer 1947 abgeschlossen. Die äußerst anregenden Werke von Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, in: Aarsskrift for Aarhus Universitet XIX, 2, Kopenhagen 1947, S. 2 und von N. S. Timasheff, An Introduction to the Sociology of Law, in: Harvard Sociological Studies 3 (1939), haben wir damals noch nicht gekannt. - Die Belastung mit Fußnoten ist auf ein Minimum eingeschränkt. - Ausdrücklich sei hervorgehoben, daß wir den in dieser Studie häufig vorkommenden Begriff ,der abendländische Mensch' nicht in einem politischen Sinne gebrauchen, etwa als Gegensatz zum marxistisch eingestellten Menschen. Der abendländische Mensch, den man als einen Idealtypus im Sinne Max Webers auffassen kann, symbolisiert für uns eine geistige Grundeinstellung. Wir möchten betonen, daß in der marxistischen Weltanschauung ,die Wissenschaft' als ein Grundwert anerkannt wird. Allerdings wird dabei von der „einzigen richtigen Sozialwissenschaft" geredet. Nirgends dürfte aber das Interesse aller Bevölkerungsgruppen für die naturwissenschaftliche, aus den Fesseln einer religiös-metaphysischen Einstellung befreite Forschung so lebhaft sein wie in der Sowjetunion. 1 Gegen Hans Kelsen, General Theory of Law and State, S. 3, Cambridge / Massachusetts, 1945: „Law is an order of human behavior. An 'order' is a system of rules ..." - Dieses Werk, das eine in manchen Einzelfragen neue und vertiefte Formulierung von Kelsens theoretischem Denken bietet, nimmt eine zentrale Stelle in der modernen Rechtstheorie ein.
II.2. Recht und Rechtsprechung
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davon ist, daß hinter dem Recht die organisierte Gemeinschaft mit ihren Organen steht. Um Zwangsmaßnahmen androhen und verwirklichen zu können, müssen Organe da sein. Kelsen selbst hebt ja treffend hervor, daß das Recht eine Organisation der Macht sei, deren Ausübung von der Gemeinschaft monopolisiert ist. Das Machtmoment wurde durch eine idealisierende Rechtstheorie gern in den Hintergrund geschoben. Durch die politischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte hat es, wie es uns scheint, seinen gebührenden Platz in der Rechtstheorie gefunden. Die offiziellen Rechtstheorien der autoritären Staaten sind stark machtpolitisch gefärbt, allerdings unter ideologischer Verkleidung. Die soziologische Konstante , Recht' setzt ein hochgradiges Organisationsvermögen bei den Mitgliedern der Gemeinschaft voraus, d.h. sie ist durch eine biologische Konstante bedingt: das geistige Niveau des Menschen. Wenn somit die katholische Rechtsphilosophie die Rolle des Menschen als ,Vernunftswesen' hervorhebt, liegt darin ein berechtigter Kern. Überall erscheint das Recht an die menschliche Sprache gebunden. Diese Sprache aber bedeutet eine Fähigkeit, die nur beim Menschen, dem aristotelischen zoon politikon, konstatiert worden ist: das Vermögen, sich ein Befehls- und Mitteilungszwekken dienendes Symbolennetz aufzubauen. Durch diese Symbolfunktion (vgl. die Sprache des mathematischen Denkens) ist es dem Menschen gelungen, komplizierte Strukturen aus dem Gebiete der Natur und der Gemeinschaft gedanklich zu beherrschen, sie ist eine Grundvoraussetzung für eine aus gedanklichen Gebilden, Normen, bestehende Rechtsordnung. Wenn wir den formellen Bau der Rechtssprache mit dem Bau der Alltagssprache vergleichen, zeigt sich eine Tendenz zur Rationalisierung. Es besteht in dieser Hinsicht eine Analogie zwischen dem rechtlichen und dem wissenschaftlichen Denken, die sich besonders beim Objektivitätsproblem fühlbar macht. Die ,Norm' ist einer von den Grundbegriffen der allgemeinen Rechtslehre, gehört aber zugleich einem weiteren Gebiete an. Die Rechtsnorm ist ein Handlungsschema, sie ist verpflichtend', d.h. hinter ihr steht die organisierte Gemeinschaft. Die Komponente ,Handlungsschema' deutet auf den eben berührten geistigen Bau des Menschen, mit großen Spannungsweiten. Die Komponente verpflichtend' deutet auf die soziale Verbundenheit des Menschen: er lebt ja unter einem ständigen sozialpsychischen Druck. Die Komponente ,hinter' weist auf das Faktum des Rechts als einer soziologischen Konstante hin. - Der Begriff der Norm in möglichst allgemeinem Sinne setzt nur ein Handlungsschema voraus. Bei den sozialen Normen, zu denen auch die Rechtsnormen zählen, kommt die Komponente verpflichtend' hinzu. Wenn ein Individuum sich eine Maxime aufstellt, ist sie für ihn ein Handlungsschema, nicht aber verpflichtend' in demselben Sinne, wie es die sozialen Normen sind. 5*
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Recht, Sitte und Moral sind eng verbunden. Eine klare Grenze zwischen der in einer Gemeinschaft herrschenden Sitte und der in ihr herrschenden Moral läßt sich schwerlich ziehen. Als den wichtigsten Differenzierungsgrund bei der Scheidung dieser beiden Begriffe kann wohl der Umstand angesehen werden, daß bei den Werturteilen der Sitte vor allem die äußeren Handlungen, bei den Werturteilen der Moral aber die Gesinnung in Betracht gezogen werden. Die Sanktionen gegen das nicht sittengemäße und gegen das unmoralische Handeln sind aber artgleich: eine Mißbilligung seitens der Gemeinschaftsmitglieder, die in der Regel durch ihr äußeres Handeln hervortritt. Das Gewissen bedeutet, daß diese Sanktionen - vor allem durch Erziehung von Kindheit an in das Wertbewußtsein des einzelnen ,Verbrechers' projiziert werden. - Die Verbundenheit von Recht, Sitte und Moral tritt in der Parallelwirkung ihrer Sanktionen klar hervor. Die durch Gemeinschaftsorgane angedrohten und verwirklichten sozialen (rechtlichen) Zwangsakte tragen wesentlich zur Befestigung der Sitte und der Moral bei. Voraussetzung ist hier allerdings, daß die Inhalte der Rechts-, Moral- und Sittennormen parallel laufen. Daß diese Voraussetzung im Normalfalle erfüllt ist, ist ein zusätzlicher Beweis für die Verbundenheit von Recht, Sitte und Moral. Wie z.B. Kelsen richtig hervorgehoben hat, wird die Effektivität des Rechts durch die Sanktionen der Sitten- und Moralordnung wesentlich gefördert. In sog. ,primitiven' Gemeinschaften sind Recht, Sitte und Moral besonders eng miteinander verwoben: man könnte vielleicht von einem fortschreitenden Differenzierungsprozeß sprechen. 2 Wenn die ,Geltung' der Rechtsnormen in einem rein normativen, nicht kausal-sozialpsychischem Sinne verstanden wird, entsteht die Frage von dem gegenseitigen Verhältnis der Begriffe ,Geltung' und ,Effektivität'. Kelsen, der früher die kompromißlose Verschiedenheit dieser beiden Blickpunkte vertrat, hat nunmehr - wohl unter Einfluß der Tatsachen des anglo-amerikanischen Gewohnheits- und Richterrechts - bei einer Beibehaltung der Grenzlinie doch Berührungspunkte anerkannt, die allerdings mit seiner Theorie als einem Ganzen kaum im Einklang stehen.3 2 Wenn Rudolf Stammler die Rechtsnormen von denjenigen der Sitte dadurch unterscheiden will, daß die Rechtsnormen „selbstherrlich verbindend", die Sittennormen aber nur „einladend" seien, liegt hier die richtige Unterscheidung zwischen äußerer Zwangsmaschinerie und sozialpsychischem Druck vor. Dieser Druck ist aber keineswegs vom Gutdünken des Individuums abhängig. 3 Besonders beim Geltungsproblem haben in der Rechtstheorie religiös-metaphysische, aus der menschlichen Gesamtpersönlichkeit ableitbare, theoretisch aber gänzlich wertlose Gesichtspunkte eine störende Rolle gespielt, so z.B. beim tiefreligiösen finnischen Rechtsphilosophen Robert Hermanson, Det rätta och staten, in: Tidskrift, utgiven af Juridiska Föreningen i Finland, 1929. - Dieser Vorwurf trifft natürlich Kelsen nicht. Er schreibt (FN 1, S. 119ff.): The relation between validity and efficacy thus appears to be the following: A norm is a valid legal norm if (a) it has been created in a way provided for by the legal order to which it belongs, and (b) if it has not been annulled either in a way provided for by that legal order or by way of desuetudo or by the fact that the legal order as a whole has lost its efficacy.
II.2. Recht und Rechtsprechung
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Wir stellen definitorisch fest: eine Rechtsnorm ,gilt', wenn folgende Mindestvoraussetzungen erfüllt sind: 1. die betreffende Norm wird von den unmittelbaren Normadressaten in der überwiegenden Anzahl der Fälle befolgt, und 2. die für die eventuelle Nichtbefolgung dieser Norm vorgesehene Sanktionsnorm wird von den sanktionierenden Organen so regelmäßig befolgt, daß ihre Nichtbefolgung eine verschwindend kleine Größe ausmacht. In unserem Sprachgebrauche bedeutet die ,Geltung einer Rechtsnorm' somit eine Stufe ihrer Effektivität. Wenn man die Endpunkte der Effektivitätsskala mit 0 und mit 1 bezeichnet, so liegt die Geltungsgrenze mehr in der Nähe des Zeichens ,1'. 4 Unter den heutzutage bestehenden Rechtsgemeinschaften nimmt der Staat eine zentrale Stelle ein. Das soziologische Gebilde ,Staat' steht nämlich in organisatorischer Hinsicht auf einer hohen Stufe: durch die in ihr erfolgte Machtkonzentration wird eine Effektivität des Rechts gefördert. Der Staat ist aber keineswegs die einzige Rechtsgemeinschaft und früher war seine Monopolstellung noch schwächer. Im Mittelalter war die von der katholischen Kirche gebildete Rechtsgemeinschaft höher entwickelt und deren Recht effektiver als dasjenige mancher weltlichen Gemeinschaft (so z.B. in Finnland). Heutzutage ist die Struktur der internationalen Rechtsgemeinschaft noch sehr unbefriedigend in betreff der Zwangsmaßnahmen. Wahrscheinlich ist aber, daß der heutige Nationalstaat sich nur als eine Durchgangsstufe zu höheren, territorial umfassenderen Formen der Rechtsgemeinschaft herausstellen wird. Als Beispiel von Rechtsgemeinschaften innerhalb des heutigen Staates seien Berufsorganisationen (Advokaten, Ärzte) genannt, die ihr internes Recht durch eigene Organe formulieren, in concreto feststellen und verwirklichen. Das gegenseitige Verhältnis solcher Organisationen - soweit sie überhaupt mit einander in Berührung treten - wird durch das staatliche Recht geregelt, das hier die Rolle einer internationalen Rechtsordnung' spielt. Solche Organisationen (z.B. wissenschaftliche, künstlerische, politische) dehnen aber manchmal ihre Wirksamkeit über das Gebiet vieler Staaten aus, ja oft ist ihre Tätigkeit überhaupt nicht in territorialer Hinsicht begrenzt. Rechtsgemeinschaft und Rechtsordnung können unmöglich miteinander identifiziert werden. Die Rechtsgemeinschaft ist eine Kollektivität von Menschen. Das Handeln dieser Menschen wird u.a. durch einen Komplex von besonders gearteten Normen, durch Rechtsnormen, geregelt. Eine Kollektivität von Menschen und ein Komplex von Normen können nie identisch sein. Unter Rechtsprechung' wird hier eine von Organen der Rechtsgemeinschaft in besonderen (prozessualen') Formen und unter besonderer Wirkung (Rechtskraft') ausgeübte Entscheidungstätigkeit verstanden, deren Zweck es 4 Die Kriterien der ,Geltung' einer Rechtsnorm sind somit schwebend, und letzten Endes auf sozialpsychische Gesetzmäßigkeiten zurückführbar.
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ist, abstrakte Rechtsnormen zur Bewertung konkreter Lebenssituationen anzuwenden. Diese Tätigkeit wird meistens durch besondere Organe (,Gerichte 4 ) ausgeübt und wird in den modernen Staaten gewöhnlich nicht durch eigene Initiative dieser Organe in Gang gesetzt, sondern nur unter Voraussetzung einer von außen kommenden ,Klage'. Gegen die traditionelle Lehre von einer Dreiteilung der Staatsfunktionen hat Kelsen eine scharfe Kritik geübt. Er hebt treffend hervor, daß zwischen Verwaltung und Rechtsprechung, die beide eine Konkretisierung von abstrakten Rechtsnormen bewirken, keine unüberbrückbare Kluft besteht und daß Rechtsprechung immer zugleich Rechtsschöpfung (Schöpfung der konkreten Norm) ist, so wie Gesetzgebung immer zugleich eine Konkretisierung von abstrakten Rechtsnormen der Konstitution ist. Das für das rechtstheoretische Denken Kelsens charakteristische Streben zur Eliminierung unnötiger Begriffsdistinktionen, zur Vereinfachung und Klärung des Denkens, hat auch hier (durch die Stufentheorie Merkls angeregt) beachtliche theoretische Gesichtspunkte hervorgehoben. Es scheint uns aber, daß Kelsen dabei die grundlegende Verschiedenheit zwischen der Intention der Rechtsprechung und der Intention des Verwaltungsverfahrens außer acht läßt. Die Rechtsprechung geht ja darauf aus festzustellen, was in konkreten Fällen recht ist. Auf Grundlage dieser Feststellung wird dann die konkrete Zwangsnorm vom Gerichte dekretiert. Die Verwaltungstätigkeit dagegen erstrebt praktische Ziele, allerdings im Rahmen des positiven Rechts. Wenn der Unterschied zwischen Rechtsprechung und Verwaltung im Sinne Merkls und Kelsens5 auf den Gegensatz Unabhängigkeit/Abhängigkeit reduziert wird, dürfte es schwer zu erklären sein, daß eine Nicht-Objektivität bei der Rechtsprechung überall faktisch viel schwerer verurteilt wird als bei der Verwaltung. Die schwere Verurteilung der Nicht-Objektivität bei der Rechtsprechung ist eben auf die spezielle Intention der Rechtsprechung zurückzuführen ^Verwirklichung des Rechts'). Entwicklungsgeschichtlich ist die Rechtsprechung eine von den ältesten Funktionen der Rechtsgemeinschaft. In diesem Sinne ist sie in höherem Grade eine soziologische Konstante als z.B. die Gesetzgebung. Schon auf einer Entwicklungsstufe, die eine Gesetzgebung im jetzigen Sinne nicht kannte, wurde Rechtsprechung durch Organe der Gemeinschaft ausgeübt, und zwar auf Grundlage eines in mancher Hinsicht unbeholfenen und unvollständigen Rechts. Dabei traten häufig Situationen auf, die wir mit einem Worte der heutigen Theorie als Lückenfälle bezeichnen könnten. Die Rechtsprechung hat sich somit von Anfang an nicht auf eine Anwendung fertiger' Rechtsnormen auf konkrete Fälle beschränkt. Ein Lückenfall bedeutet nicht, daß das Gericht ohne jegliche Rechtsnorm dastünde: immer kann es sich auf diejenige Norm stützen, die seine Kompetenz als Gericht begründet, sowie auf die Norm, daß 5
Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht 1927, S. 42; Kelsen (FN 1), S. 275.
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ein Urteil abgegeben werden soll, wenn prozessuale Bedingungen vorliegen, m.a.W. daß das Gericht sich einer Entscheidung nicht entziehen darf. Ein Lückenfall bedeutet nur, daß für den konkreten zu entscheidenden Fall eine fertig formulierte abstrakte Rechtsnorm nicht vorhanden ist oder daß es sich bei einer näheren Zwecküberlegung zeigt, daß die Konsequenzen einer abstrakten Rechtsnorm, die prima vista für den Fall zu passen schien, zu einem offenbaren Widerspruch mit dem Geiste der Rechtsordnung führen. Diese beiden Fälle, in denen die Theorie von einer eigentlichen und einer uneigentlichen, von einer offenen und versteckten Lücke spricht, sind in der Praxis schwer voneinander zu scheiden. Das Prinzip, daß ein Gericht, wenn prozessuale Bedingungen vorliegen, den Kläger ohne ein Urteil nicht abweisen darf, ist der Rechtsprechung als soziologische Konstante wesentlich. Sonst würde der Sinn der Rechtsprechung nicht verwirklicht. Auch wenn, wie im älteren schwedisch-finnischen Recht, die Gerichte in Lückenfällen und in schwierigeren Auslegungsfällen sich bei einer höheren Instanz befragen sollten, bedeutete dies nur ein Aufschieben des Urteils, keineswegs dessen Weigerung. Weder derjenige, gegen den sich die Klage richtet, noch das Gericht, bei dem die Klage vorgebracht wird, können sich eines sachlichen Eingehens auf die Klage entziehen. Damit die Rechtsprechung sinngemäß ausgeübt werde, muß eine weitere Bedingung erfüllt sein: die Rechtsprechung muß ,unabhängig' sein. Mit Unabhängigkeit der Rechtsprechung verstehen wir in dieser Untersuchung, daß Organe der Gemeinschaft beim Ausüben der Rechtsprechung von anderen Organen bindende Anweisungen nicht erhalten können, sondern daß sie nur dem Gesetzes- und Gewohnheitsrecht folgen sollen. Wenn Gerichte an Anweisungen höherer Gerichte gebunden sein sollten, wäre dies eine Schwächung des Unabhängigkeitsprinzips. Eine Gebundenheit an frühere gerichtliche Entscheidungen dagegen scheint uns kaum als eine Schwächung des Unabhängigkeitsgrundsatzes, wenn nur die Voraussetzungen für diese Bindung objektiv in geltenden Rechtsprinzipien festgelegt sind (anglo-amerikanisches Recht). Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist wohl in allen Kulturstaaten anerkannt und wird als Grundvoraussetzung jeder höheren Rechtskultur aufgefaßt. Auch solche unter diesen Staaten, die wie z.B. die Sowjetunion eine Gewaltenteilung im traditionellen Sinne nicht anerkennen, haben in ihre Konstitution das Prinzip einer unabhängigen Rechtsprechung aufgenommen. Dieses Prinzip ist somit keineswegs durch die Gewaltenteilung bedingt, und es kann als ein rein praktisch-organisatorischer, sozusagen technischer Grundsatz verstanden werden, der für die (als soziologische Konstante aufzufassende) Rechtsprechung typisch ist. - Die Effektivität des Grundsatzes in einer gegebenen Rechtsordnung hängt von dem in der Gemeinschaft herrschenden Geiste ab. Das Unabhängigkeitsprinzip kann von der Staatsgewalt in sog. ,poli-
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tischen Prozessen4 auch als Verkleidung gebraucht werden, um politischen Entscheidungen den Schein objektiver Rechtsprechungsakte zu geben. In solchen Fällen entsteht die Frage: welche Bedürfnisse drängen die Menschen, sich diesen Illusionen hinzugeben? Es ist nämlich oft ein wahres Bedürfnis der Gemeinschaftsmitglieder vorhanden zu glauben, daß eine unabhängige Rechtsprechung vorliegt, und dieses Bedürfnis wird von der Staatsgewalt geschickt ausgenützt und durch Propaganda verstärkt. Wir werden auf diese Frage noch zurückkommen. Die Durchführung des Grundsatzes einer unabhängigen Rechtsprechung in einer bestimmten Gemeinschaft deutet oft darauf hin, daß die Mitglieder dieser Gemeinschaft sich Garantien gegen die Ausübung der öffentlichen Gewalt haben schaffen wollen. So ist der Grundsatz im modernen Staate oft mit der Freiheitsideologie des liberalen Rechtsstaates verbunden. Man beruft sich dabei gern auf den mehrdeutigen Begriff Rechtsstaat', womit vor allem gemeint wird, daß die subjektiven Rechte der Staatsbürger gegen den Staat geschützt werden. Dabei werden möglichst weite Gebiete der Staatstätigkeit der Rechtsprechung unterstellt (Verwaltungs-, Staatsgerichtsbarkeit). Um die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu garantieren, werden den Mitgliedern (,Richter') derjenigen Gemeinschaftsorgane, deren Haupttätigkeit in Rechtsprechung besteht (,Gerichte') meistens eine Speziaisteilung eingeräumt. Diese Spezialsteilung wird gewöhnlich mit dem Worte ,Unabsetzbarkeit' bezeichnet, bedeutet aber oft bloß, daß ,Richter' nur unter erschwerten Bedingungen von ihrem Amte entfernt werden können (so z.B. das finnische Recht). Im sowjetrussischen Recht wird das Prinzip einer unabhängigen Rechtsprechung nicht durch den Unabsetzbarkeitsgrundsatz verstärkt, weil dies - so wird argumentiert - gegen das Prinzip der uneingeschränkten Volkssouveränität verstoßen würde. Um eine Umgehung des Unabsetzbarkeitsprinzips zu verhindern, wird es oft durch den Nichtversetzbarkeitsgrundsatz ergänzt. So bestimmt die finnische Konstitution vom Jahre 1919, daß Richter ohne ihr eigenes Einverständnis nicht in ein anderes Amt versetzt werden können, außer wenn dies im Zusammenhang mit einer Neuordnung des Gerichtswesens geschieht. Rechtsprechung wird keineswegs bloß von Gerichten ausgeübt, und von den Gerichten wird nicht nur Recht gesprochen. Der Rechtsprechung als soziologischer, überzeitlicher Konstante liegt aber die Tendenz inne, sich auf speziell für diesen Zweck errichtete Organe zu konzentrieren. Wenn Recht (ausnahmsweise) von einem Organ gesprochen wird, dessen Hauptbetätigung auf einem anderen Gebiete (z.B. in Verwaltungstätigkeit) liegt, kann gefragt werden, ob auch für eine solche Rechtsprechung das Unabhängigkeitsprinzip gilt und ob es effektiv durchgeführt werden kann. In den modernen Kulturstaaten kann die Geltung dieses Prinzips auch hier angenommen werden, auch wenn es wie z.B. in der finnischen Konstitution so formuliert sein sollte, daß
II.2. Recht und Rechtsprechung
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„die Rechtsprechung von unabhängigen Gerichten ausgeübt wird". Der tragende Gedanke ist hier nämlich, daß die Rechtsprechung unabhängig sein soll, nicht daß die Gerichte an sich unabhängig sein sollen. Auf dem Gebiete der Justizverwaltung (z.B. Arbeitsordnung, Archivierung, Ausarbeitung von Statistiken, Meldungen an verschiedene Registrierungsämter u.s.w.) wird den Gerichten keine Unabhängigkeit anerkannt. - Eine effektive Durchführung des Unabhängigkeitsprinzips bei einer Rechtsprechung, die von Verwaltungsorganen ausgeübt wird, läßt sich kaum garantieren: die gewohnte verwaltungsmäßige Einstellung der Beamten wiegt hier schwer. Durch ihre Unabhängigkeit wird die Rechtsprechung gegen eine willkürliche Beeinflussung durch die organisierte Gemeinschaftsgewalt, im Staate durch die Staatsgewalt, geschützt. Durch diese Unabhängigkeit wird aber die Rechtsprechung andererseits einer Gefahr ausgesetzt: der Gefahr einer willkürlichen Handhabung durch die Personen, die an der Rechtsprechung als Organpersonen teilnehmen. Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung bedeutet ja, daß die Kontrolle über ihre Wirksamkeit wesentlich geschwächt wird. ,Willkürliche 4 Rechtsprechung wird oft in dem Sinne verstanden, daß sich die Richter augenblicklichen, mehr oder weniger zufälligen Gefühlen hingeben. Diese Art der Willkür hat aber eine relativ geringe Bedeutung. Viel gewöhnlicher und viel gefährlicher ist diejenige Form, daß die Richter sich keineswegs augenblicklichen Gefühlsimpulsen hingeben, sondern konstanten, fest eingewurzelten Wertungen folgen, die aber dem positiven Recht fremd sind. In politischen Prozessen hat man oft - auch in sog. liberalen Rechtsstaaten4 feststellen können, daß die ,Freund/Feind 4-Gegenüberstellung (Carl Schmitt) entscheidenden Einfluß auf das Urteil gehabt hat. Wenn der Angeklagte einer politischen Richtung angehört, zu der die Richter weder stark positiv noch stark negativ eingestellt sind, wird ihre Objektivität nicht gefährdet. Wenn aber der Richter in der Tiefe seines Wertbewußtseins mit seiner ganzen Persönlichkeit die vom Angeklagten vertretene politische Richtung ablehnt (z.B. ,Kommunistenschreck') oder sie ebenso entschieden gutheißt (Terrorhandlungen gegen politische Antipoden oder gegen Rassenfeinde), dann liegt die Gefahr einer willkürlichen Rechtsprechung nahe. Vor allem bei der Beweiswürdigung, aber auch bei der Gesetzesauslegung und der Prozeßleitung wirkt der politische Faktor in solchen Fällen fast naturnotwendig mit. Dieses wird durch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung erleichtert. Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, so wie sie in den modernen Konstitutionen verwirklicht worden ist, bedeutet somit im Grunde, daß der Einfluß der organisierten Gemeinschaftsmacht, im Staate der Staatsgewalt, auf die Rechtsprechung eingeschränkt wird, daß aber der Einfluß der unorganisierten, vor allem der wirtschaftlichen Macht desto stärker wird. Die wirtschaftliche Macht tritt dabei in verschiedener ideologischer Verkleidung auf und wird gewöhnlich dem Richter gar nicht bewußt, besonders dann nicht, wenn der Richter von einer solchen Ideologie fest beherrscht wird.
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Die Forderung einer objektiven Rechtsprechung 6 wurzelt aber in der Persönlichkeit des abendländischen Menschen. Auch die schlimmsten Mißbräuche haben dieses Ideal nicht töten können. Im Gegenteil: durch Mißbräuche wird es nur gestärkt. Der Rechtsprechung als soziologischer Konstante liegt eine Tendenz zur Objektivität inne. Dazu steht nicht im Widerspruche, daß diese Objektivität auf einer Entwicklungsstufe, wo das Bewußtsein von religiös-metaphysischen Faktoren stärker als heutzutage beherrscht wurde, durch primitive Mittel wie Gottesurteil, Eid u.dgl. angestrebt wurde. Diese Mittel, die uns willkürlich und abergläubisch vorkommen, erschienen den Menschen der damaligen Entwicklungsstufe als die sichersten Garantien der Objektivität. Für den modernen Menschen macht sich das Bedürfnis einer rein rationellen Objektivität in der Rechtsprechung, wie auf manchen anderen Gebieten, besonders dringend geltend. Der seit der Renaissance fortschreitende Rationalisierungsprozeß hat auch hier bestimmend eingewirkt. In einer Weltanschauung, wo die magisch-metaphysische Denkweise immer mehr zurückgedrängt wurde und der rational-wissenschaftlichen Einstellung eine immer stärkere Position zukam, mußte auch die Rechtsprechung von dieser allgemeinen Tendenz beeinflußt werden. Es besteht somit ein Zusammenhang zwischen Objektivität der Wissenschaft und Objektivität der Rechtsprechung. Beide sind eine Manifestation, ein arttypisches Streben des abendländischen Menschen, der die Objektivität als einen Grundwert anerkennt. Diese prinzipielle Anerkennung der Objektivität bedeutet aber keineswegs, daß seine politische Ideologie nicht auch von irrationalen Faktoren mitbestimmt sei. Durch die prinzipielle Anerkennung des Objektivitätswertes wird aber eine innere Spaltung in diese Ideologie hineingetragen, eben weil die Objektivität zur Auflösung jeder irrationalen Ideologie tendiert. Wenn aber die Rechtsgemeinschaft selbst auf theoretisch-metaphysischer Grundlage aufgebaut ist, folgt daraus mit Notwendigkeit, daß eine solche Gemeinschaft ihre metaphysischen Glaubenspunkte mit Machtmitteln gegen Irrlehren schützen muß. Dieses Schutzbedürfnis wird auch in der positiven Rechtsordnung anerkannt. Ein Richter einer solchen Rechtsgemeinschaft, der dies außer acht ließe, würde widerrechtlich handeln. Denken wir bloß an die außerordentlich strengen Forderungen, die Plato an die Bürger seines Idealstaates stellt. 7 Viele unter den modernen Konstitutionen, so auch die finnische, enthalten den Grundsatz, daß alle Staatsbürger vor dem Gesetze gleich sind. Die Verwirklichung des Grundsatzes setzt eine objektive Rechtsprechung voraus. In diesen Rechtsordnungen ist also das Prinzip einer objektiven Rechtsprechung in der Konstitution selbst, obgleich nicht expressis verbis, anerkannt. Wenn 6
Der Begriff ,objektive Rechtsprechung' wird später in diesem Kapitel näher präzisiert. 7 Vgl. Bertrand Russell, Philosophy and Politics, London 1947, S. 13ff.
II. 3. Obj ektivierende Faktoren bei der Rechtsprechung
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das aber nicht der Fall wäre, kann doch auf die Geltung dieses Prinzips aus verschiedenen prozeß- und strafrechtlichen Normen geschlossen werden. Auch wenn eine solche Grundlage fehlen würde, könnte der Objektivitätsgrundsatz für die betreffende Rechtsordnung nicht als bedeutungslos erklärt werden. Mindestens als Problem taucht die Objektivität auf, sobald einmal Rechtsprechung vorhanden ist, ja, sobald überhaupt Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane in Frage steht. Dieses Prinzip hat eine zentrale Bedeutung nicht nur für die Rechtsprechung, ist aber bei einer unabhängigen Rechtsprechung von besonderer Bedeutung und eben hier schwer zu kontrollieren. Im Grunde bedeutet dieses Prinzip folgendes: die Menschen, die in den Gemeinschaftsorganen oder als Gemeinschaftsorgane (z.B. ein Einzelrichter, ein Polizeibeamter) wirken, sollen dabei ihr gesamtes Handeln und besonders ihre Entscheidungen nur nach denjenigen Rechtsnormen richten, die ihr Handeln als Organpersonen regeln. Individuelle Stimmungen, augenblickliche Gefühle, außer dem Rechte liegende Wertungsmaßstäbe dürfen dabei nicht mitwirken. Es ist offenbar, daß dies nur zu einem gewissen Grade erreicht werden kann, denn die Organe der Rechtsgemeinschaft sind nicht von Maschinenteilen, sondern von Menschen zusammengesetzt. Diese stehen als Gemeinschaftsmitglieder nicht nur unter dem Einfluß der Rechtsnormen, sondern werden ebenso stark von anderen in der Gemeinschaft geltenden Normen und vorhandenen Wertstrebungen motiviert. Alle solche nichtrechtlichen Motivierungen der Organpersonen sind vom rechtlichen Standpunkt aus betrachtet als willkürlich anzusehen. Die Durchführung des Objektivitätsprinzips kann bei den Organpersonen schwere innere Kämpfe verursachen, die keineswegs immer mit einem Siege des Rechts enden. Ein Richter, der z.B. in politischen Strafsachen das Beweismaterial willkürlich auswertet, wird sich - wenn diese Willkür ihm überhaupt bewußt wird - oft mit patriotischen, moralischen u. dgl. Gründen rechtfertigen. Ohne Objektivität kann aber die Rechtsprechung ihre soziale Aufgabe nicht erfüllen. Welche Faktoren fördern eine solche Objektivität? Diese Frage zu beleuchten ist Zweck unserer Untersuchung.
3. Objektivierende Faktoren bei der Rechtsprechung. Allgemeine Gesichtspunkte Das im vorigen Kapitel dargestellte Objektivitätsprinzip, dem bei der Rechtsprechung der Kulturstaaten eine zentrale Stellung zukommt, gehört der normativen Betrachtungsweise an: es bedeutet eine an die Rechtsprechung gerichtete Forderung. Eine Behauptung „Die Rechtsprechung ist objektiv" muß immer auf eine bestimmte historisch gegebene Rechtsgemeinschaft bezogen werden und bedeutet dann, daß die Rechtsprechung dieser Gemeinschaft durchschnittlich einen „recht hohen Grad" der Objektivität erreicht hat. Prä-
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zise Verifizierungsmaßstäbe gibt es hier nicht. Eine vollständig objektive Rechtsprechung ist aus psychologischen Gründen prinzipiell unerreichbar. Auch in der besten Rechtsprechung kommen gelegentlich Fälle der NichtObjektivität vor, ohne daß die Rechtsprechung als Ganzes aus diesem Grunde als ,nicht-objektiv" bezeichnet werden könnte. Wenn aber solche Fälle massenhaft und systematisch auftreten, dann ist jedenfalls der betreffende Sektor der Rechtsprechung (z.B. politische Prozesse) als nicht-objektiv zu charakterisieren. Es kann nicht behauptet werden, daß die Rechtsprechung als soziologische Konstante immer objektiv sei, wohl aber, daß bei ihr eine Tendenz dazu feststellbar ist. 1 Wir vermeiden von ,Garantien' einer objektiven Rechtsprechung zu reden, weil durch diesen Ausdruck suggeriert werden könnte, die Rechtsprechung als soziologische Konstante sei objektiv, und die Frage bestünde nur darin klarzulegen, welche Garantien diesen Zustand sichern. Auf den Begriff ,Garantie' im bekannten normativ-juristischen Sinne wird in dieser in das Gebiet der allgemeinen Rechtslehre fallenden Untersuchung gar nicht eingegangen. Unsere Fragestellung ist in kausalem Sinne gemeint, d.h., wir wollen einige von denjenigen Faktoren beleuchten, die bei der Rechtsprechung eine objektivierende Wirkung ausüben. Wenn wir aber unsere Aufgabe so stellen, kann gefragt werden, ob nicht auch hierin eine Idealisierung vorliegt. Wenn nur auf diejenigen Faktoren näher eingegangen wird, die für eine objektive Rechtsprechung wirken, setzen wir dann nicht voraus, daß die Rechtsprechung zur Objektivität neigt? Ja. Wir machen aber diese Voraussetzung nur für die modernen Kulturstaaten und für die von ihnen gebildete internationale Rechtsgemeinschaft. Unsere Untersuchung wird prinzipiell auf diese Rechtsgemeinschaften beschränkt. Die Einschränkung ist schon aus Verifizierungsgründen geboten. Wenn wir von Faktoren reden, die bei der Rechtsprechung objektivierend wirken, meinen wir eine Wirkung auf diejenigen Menschen, welche in den rechtsprechenden Organen tätig sind. Wenn man von einer Wirkung auf die Gerichte spricht, so ist dies eine bildliche Redeweise. Wenn in einer Studie der allgemeinen Rechtslehre von objektivierenden Faktoren bei der Rechtsprechung geredet wird, dann wird wohl vorausgesetzt, daß es solche Faktoren gibt, die sämtlich in jeder denkbaren Rechtsgemeinschaft oder wenigstens in jedem modernen Kulturstaate auftreten? Ist aber eine solche Voraussetzung begründet? Wir machen die genannte Voraussetzung nicht in jener kategorischen Form, nehmen aber an, daß mehrere von den in dieser Untersuchung zu analysierenden objektivierenden Faktoren in den modernen Kulturstaaten und in der internationalen Rechtsgemeinschaft 1 Mit dem Ausdrucke ,objektivieren' bezeichnen wir einen Wirkungszusammenhang der zwischen einem sozialen Faktor und der Rechtsprechung besteht (in Richtung einer objektiven Rechtsprechung).
II.3. Objektivierende Faktoren bei der Rechtsprechung
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tatsächlich zugleich auftreten. Diese präliminare Annahme wird durch die Resultate der Rechtsvergleichung hervorgerufen. Die Kombinatorik kann dabei in verschiedenen Rechtsgemeinschaften verschieden ausfallen. Unter den objektivierenden Faktoren bei der Rechtsprechung kann eine Zweiteilung gemacht werden. Einerseits gibt es Faktoren, die mit der Effektivität bestimmter Rechtsnormen in Zusammenhang stehen: z.B. eine normgemäß aufgebaute und normgemäß funktionierende Gerichtsmaschinerie, eine (motivierend wirkende) straf- und zivilrechtliche Verantwortlichkeit der Richter, Begründungspflicht bei den Urteilen, positivrechtliche Auslegungsnormen. Andererseits gibt es Faktoren, die nicht in einem solchen Zusammenhang stehen: z.B. Richtererziehung, soziale Kontrolle der Rechtsprechung, Rechtswissenschaft, Judikatur, Auslegungstheorien (als Teil der allgemeinen Rechtslehre). Auch bei Faktoren wie Rechtswissenschaft, Judikatur und Richtererziehung sind normative Elemente doch nicht ganz fremd. Positive Rechtsordnungen enthalten manchmal Bestimmungen über die Stellung der Rechtswissenschaft und der Judikatur bei der Rechtsprechung, entweder in Gesetzen (so ζ. B. das schweizerische Zivilgesetzbuch) oder in Arbeitsordnungen höherer Gerichte (so in Finnland). 2 Die Richtererziehung wird in verschiedenen Rechtsordnungen als Teil der allgemeinen Juristenausbildung durch Rechtsnormen reguliert. Es stellt sich somit heraus, daß alle hier zu behandelnden Objektivitätsfaktoren mit Ausnahme der ,sozialen Kontrolle' eine juristisch-normative Grundlage haben, die aber verschieden stark zum Vorschein kommt. 3 - Immer wirken bei der Rechtsprechung mehrere Objektivitätsfaktoren zugleich mit. Durch dieses Zusammenwirken wird eine Effektivitätsresultante erreicht: die recht schwachen Objektivitätswirkungen der einzelnen Faktoren verstärken sich gegenseitig. Eine allgemeingültige Antwort auf die Frage, wie diese Faktoren zur Erreichung einer maximalen Effektivität verbunden sein sollten, gibt es nicht. Dagegen kann für eine konkrete Rechtsgemeinschaft eine Lösung dieser Frage gefunden werden. Ja, vielleicht könnten Richtlinien aufgezeigt werden, denen für die modernen Kulturstaaten eine allgemeingültige Bedeutung zukäme. Das Aufzeigen dieser Richtlinien fällt der allgemeinen Rechtslehre zu. Ihre diesbezüglichen Untersuchungen könnten vielleicht - günstigenfalls - als eine bescheidene Objektivitätsgarantie ,zweiten Grades' angesehen werden. Voraussetzung dabei ist allerdings, daß sie von den Praktikern beachtet werden.
2
Solche Arbeitsordnungen sind, rechtstheoretisch betrachtet, ebenso ein Bestandteil der positiven Rechtsordnung wie die geltenden Gesetze. 3 Auch die (später darzulegende) soziale Kontrolle der Rechtsprechung ruht letzten Endes auf normativer Grundlage, die aber nicht eine juristische ist.
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4. Struktur der Rechtsprechungsorgane. Das Verfahren Einer der wichtigsten Faktoren beim Fördern einer objektiven Rechtsprechung sind Besonderheiten in der Struktur der Rechtsprechungsorgane und Besonderheiten des Rechtsprechungsverfahrens. Wenn der Unterschied zwischen Rechtsprechung und Verwaltung nur im Gegensatz Unabhängigkeit/ Abhängigkeit bestünde, würden wohl Besonderheiten dieser Art kaum existieren. Mit dem Worte ,Rechtsprechungsorgane' werden hier diejenigen Organe bezeichnet, deren Hauptbetätigung auf dem Gebiete der Rechtsprechung liegt. Solche Organe werden gewöhnlich ,Gerichte' genannt. Dieses Wort ruft aber die Vorstellung eines Organes hervor, das aus mehreren Organpersonen besteht, die bei den Entscheidungen mitwirken. Die Mitwirkung kann nach verschiedenen Grundsätzen geregelt sein. Die Rechtsprechung wird normalerweise von solchen Organen ausgeübt. Es kommt aber auch vor, daß sie besonders in weniger wichtigen, eine schnelle Erledigung erheischenden Fällen - von einer einzigen Organperson gehandhabt wird. Aus diesem Grunde ziehen wir das Wort ,Rechtsprechungsorgan' dem Worte ,Gericht' vor. Die in allen positiven Rechtsordnungen feststellbare Tatsache, daß die Entscheidungen der Rechtsprechungsorgane normalerweise durch das Zusammenwirken mehrerer Organpersonen zustande kommen, ist signifikativ. Dadurch wird die Gefahr der subjektiven Willkür durch gegenseitige Kontrolle gemindert. Diese Gefahr besteht auch bei Verwaltungsorganen. Auch in der Verwaltung wird durch Mitwirkung mehrerer Organpersonen dieser Gefahr entgegengetreten. (Kollegialität. Oft aber die spezifisch verwaltungstechnische Garantie der Gegenzeichnung). In der Verwaltung kommt dem Prinzip nicht diejenige zentrale Stellung zu wie bei der Rechtsprechung. 1 Es scheint, daß hier etwas für die Rechtsprechung spezifisches vorliegt, etwas, das eine Konstante in den modernen Kulturstaaten genannt werden könnte. Es kann gefragt werden, inwieweit durch den speziellen Bau der Rechtsprechungsorgane eine objektive Rechtsprechung effektiv gefördert werden mag. Die geistige Persönlichkeit des Richters wird ja entscheidend durch die Struktur, besonders durch die wirtschaftlichen Machtverhältnisse seiner Rechtsgemeinschaft geformt, ja, man könnte die Richterpersönlichkeit einfach eine Funktion jener Struktur nennen. Bricht diese sozialpsychische Grundtatsache nicht mit elementarer Kraft alle versuchten Garantien einer objektiven Rechtsprechung? Die Frage mag durch das Problem der Unparteilichkeit beleuchtet werden. 1
Der Wert dieses Prinzips als Objektivitätsgarantie kann durch die gegenseitige Suggestibilität der im Rechtsprechungsorgan mitwirkenden Personen herabgesetzt werden. Das finnische Recht bestimmt, daß bei der Abstimmung in kollegialen Gerichten der jüngste unter den Richtern sein Votum zuerst abgeben soll.
II.4. Struktur der Rechtsprechungsorgane
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,Unparteilichkeit' deutet schon sprachlich auf eine Situation mit mindestens zwei,Parteien'. Diese Situation kommt keineswegs nur in der Rechtsprechung oder der Verwaltung vor, sondern tritt im menschlichen Leben überall da auf, wo ein vergleichendes Werten zweier oder mehrerer Individuen oder Individuengruppen vorzunehmen ist. Dieses Werten ist parteiisch', wenn es nicht nach denjenigen Kriterien erfolgt, die nach anerkannten Spielregeln bei diesen Werten maßgebend sei sollen und diese Abweichung den Zweck verfolgt, einer der Parteien Nutzen oder Schaden zuzufügen. Die Parteilichkeit kann somit als ein Spezialfall der Willkür, der Nicht-Objektivität im vorher beschriebenen Sinne aufgefaßt werden, die Unparteilichkeit als ein Spezialfall der Objektivität. Die Rechtsprechung mag noch so sehr von der Gemeinschaftsstruktur und der auf dieser fußenden Ideologie determiniert sein, immer wird die Forderung aufgestellt, die Rechtsprechung solle unparteiisch sein.2 In dem altehrwürdigen Richtereid des schwedischen und des finnischen Rechts wird die Unparteilichkeit des Richters stark betont, so auch in den aus dem 16. Jahrhundert stammenden ,Grundregeln für den Richter'. Der Unparteilichkeitsgrundsatz, der für jede Organperson auch innerhalb der Verwaltung gilt, ist für den Richter des modernen Kulturstaates ein wahres Grundgesetz, dessen Verletzung von der herrschenden Rechtsüberzeugung besonders streng verurteilt wird. Der materielle Unterschied zwischen Rechtsprechung und Verwaltung tritt auch hier zum Vorschein. Wenn behauptet wird, die richterliche Parteilichkeit bedeute, daß rechtlich nicht anerkannte soziale Machtfaktoren einen Einfluß auf die Richter üben, muß hiergegen bemerkt werden: die Rechtsordnung als Ganzes wird ja letzten Endes auch durch solche Machtfaktoren determiniert. Auch wenn das Recht bestimmte Machtfaktoren vielleicht noch nicht anerkannt hat, wird es dies mit Wahrscheinlichkeit später einmal doch tun, wenn nur ihr Druck genügend stark und kontinuierlich ist. Es ist aber rechtswidrig, wenn ein Rechtsprechungsorgan einen solchen Machtfaktor anerkennt, bevor dies seitens der Rechtsordnung selbst geschehen ist.
2 Die Gegenüberstellung ,Freund/Feind' wird in hochpolitischen Prozessen in der Sowjetunion und in den Volksdemokratien weniger verschleiert als in den sog. liberalen Rechtsstaaten. Diese Tatsache hat manche Beurteiler zu der grundfalschen Meinung geführt, daß die Rechtsprechung der Sowjetunion überhaupt nicht nach Objektivität und Unparteilichkeit strebe. Artikel 123; 2 der Sowjetverfassung vom Jahre 1936 stellt fest: „Die Gleichberechtigung der Bürger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken auf sämtlichen Gebieten des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, unabhängig von ihrer Nationalität und Rasse, ist unverbrüchliches Gesetz". Das Gesetz über die Rechtspflege vom 16. August 1938 stellt in seinem ersten Kapitel die leitenden Grundsätze der Rechtsprechung fest (insbes. Art. 2, 3 und 5).-N. N. Poliansky, Justice in U.S.S.R., S. 7; I. T. Goljakov, Savjetskii sud, Moskau 1947, S. 48ff.
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In allen modernen Rechtsgemeinschaften kommen wohl die Richter hauptsächlich aus sozial führenden Schichten oder haben durch erhaltene Erziehung ihre Weltanschauung sich zu eigen gemacht. Sie werden dadurch dem Druck sozialer Machtfaktoren empfänglicher. 3 Positive Rechtsordnungen suchen die Gefahr einer parteilichen Rechtsprechung dadurch zu vermindern, daß sie Normen über die Befangenheit des Richters aufstellen. Es dürfte aber unmöglich sein, den Tatbestand dieser Normen so zu formulieren, daß sie einen effektiven Schutz gegen richterliche Parteilichkeit böten. Durch die positivrechtlichen Tatbestände wird hauptsächlich nur die sozusagen ,private' Einstellung des Richters zu den Prozeßparteien getroffen (Verwandtschaft, Feindschaft, Nutzen oder Schaden), dagegen gar nicht jene viel bedeutendere Parteilichkeit, die auf die sozialen Machteinflüsse zurückzuführen ist. Auch wenn, wie im schwedischen Prozeßgesetz vom Jahre 1942, die Norm über die Befangenheit des Richters neben einer Aufzählung von typischen Fällen der Befangenheit eine ergänzende Generalklausel enthält (,ein Umstand der geeignet ist, das Vertrauen zu der Unparteilichkeit des Richters zu erschüttern'), dürfte jene Generalklausel kaum die auf sozialen Machteinflüssen beruhende Parteilichkeit treffen. Diese Parteilichkeit wird ja meistens von den darin befangenen Richtern gar nicht als Parteilichkeit erkannt. Ob auf Grund einer Nichtigkeitsbeschwerde ein höheres Gericht dies erkennen würde, ist auch fraglich, weil die Organpersonen dieses Gerichtes unter denselben sozialen Machteinflüssen stehen wie die Organpersonen der ersten Instanz. Es wird oft hervorgehoben, die Rechtsgemeinschaft solle durch eine vernünftige Besoldungspolitik die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Richter 3 Wie stark der Einfluß der sozialen Rekrutierung des Richterstandes ist, wird besonders klar durch die Rechtsprechung des Höchsten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika bewiesen. Dieser Gerichtshof kann bekanntlich auf Grund einiger sehr unklarer und zur Subjektivität einladender Grundsätze der amerikanischen Konstitution Gesetze für unkonstitutionell erklären. Eine bestimmte privatkapitalistische Tendenz ist bei diesen Entscheidungen festgestellt worden. - Edouard Lambert, Le gouvernement des juges et la lutte contre la législation sociale aux Etats-Unis, Paris 1921; R. Pinto, Des juges qui ne gouvernent pas. Opinions dissidentes à la cour suprême des Etats-Unis 1900 - 1933, Paris 1934; H. Arthur Steiner, Problemi attuali del diritto costituzionale americano, in: Rivista internazionale di filosofia del diritto, 1937. - Eine interessante soziologische Frage wäre es festzustellen, welchen reellen Einfluß die kommunistische Partei der Sowjetunion auf die Wahlen der Richter hat. In der Verordnung vom 25. September 1948 über die Wahlen von Mitgliedern zu den Volksgerichten wird in Art. 26 festgelegt, daß das Recht, Kandidaten aufzustellen, den Organisationen und Vereinen der Werktätigen zukommt: den kommunistischen Parteiorganisationen, Gewerkschaften, kooperativen Organisationen, Jugendorganisationen und Kulturvereinen. In der Sowjetverfassung vom Jahre 1936 wird im Artikel 126 festgestellt, daß die kommunistische Partei „den leitenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen sowohl als auch der staatlichen, bildet". - Vgl. P. N. Pospelov, Die Partei Lenins und Stalins, die leitende und richtunggebende Kraft der Sowjetgesellschaft, Moskau 1947, insbes. S. 10 ff.
II.4. Struktur der Rechtsprechungsorgane
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sicherstellen. Dies würde, so wird argumentiert, auch die geistige Unabhängigkeit der Richter gegenüber sozialen Machteinflüssen sichern. Hierin liegt viel Wahrheit. Andererseits aber würde wohl ein wirtschaftlich unabhängiger Richter aus Dankbarkeit sich mit der führenden Staats- und Wirtschaftsideologie noch enger verbunden fühlen. - Durch eine genügende Besoldung des Richterstandes wird dessen technisches Niveau erhöht, was mittelbar einer objektiven, unparteiischen Rechtsprechung dient. Die richterliche Objektivität setzt eine ruhige Überlegung, ein Sichvertiefen in den vorliegenden konkreten Rechtsfall voraus. Das Hilfspersonal der Rechtsprechungsorgane sollte darum so ausgebaut werden, daß die Richter sich auf ihre richterliche Tätigkeit voll konzentrieren können und nicht mit Kleinarbeit überhäuft werden. Diese organisatorische Frage ist aber großenteils ein Finanzproblem. In Finnland hat man sich in den letzten Jahren mit dieser Frage eingehend beschäftigt. Den Landbezirksrichtern (entspricht den Amtsrichtern in Deutschland), die früher mit Kleinarbeit überhäuft waren, werden jetzt junge Juristen als Notare beigeordnet. Das anspruchslose Gehalt dieser Notare besitzt aber wenig Anziehungskraft, da junge Juristen z.B. als Advokaten eine viel vorteilhaftere wirtschaftliche Stellung erreichen. Die durch die Struktur der Rechtsprechungsorgane angestrebten Garantien einer objektiven Rechtsprechung werden durch den Instanzenweg ergänzt. Durch ihn wird eine Neuprüfung sowohl der Tat- als auch der Rechtsfrage ermöglicht. Es besteht dabei eine Wahrscheinlichkeit, daß diejenige NichtObjektivität der unteren Instanz, die nicht durch soziale Machtverhältnisse bedingt ist, teilweise korrigiert wird. Inwieweit dies wirklich geschieht, hängt vom Verfahren in den höheren Instanzen ab. Ist dieses Verfahren so gestaltet, daß die höhere Instanz mit den Parteien in keinerlei unmittelbare Fühlungnahme tritt (Schriftlichkeit), dann sind wohl die Chancen einer Korrigierung im Sinne der Objektivität geringer, als wenn diese Fühlungnahme da ist. Es könnte allerdings scheinen, als sei das Fehlen einer reellen Berührung mit den Parteien für die Objektivität auch von Vorteil: wird ja selbst die Göttin der Gerechtigkeit mit verbundenen Augen dargestellt. Störende Gefühlsimpulse können so besser vermieden werden. Eine effektive Objektivierung des Urteils einer niederen Instanz durch die höhere setzt wohl auch voraus, daß die technisch-juristische Kompetenz der höheren Organpersonen nicht eine schwächere ist als derjenigen, die in der niederen Instanz arbeiten. In Finnland, wo die Einkünfte der Landbezirksrichter im allgemeinen beträchtlich höher sind als die Besoldung von Richtern der zweiten oder sogar der dritten Instanz, kommt es fortwährend vor, daß auch Richter der höchsten Instanz diesen Posten nur als eine Durchgangsstelle zu dem Amte eines Landbezirksrichters (erster Instanz) ansehen. Durch diese Anomalie werden aber der ersten Instanz möglichst kompetente Kräfte aus den höheren Gerichten fortwährend zugeführt, was für eine volksverbundene 6 Brusiin
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Rechtsprechung nur von Vorteil sein kann, da hierdurch der Bedarf, Rechtsmittel einzulegen, vermindert wird. Wenn wir jetzt zum Verfahren der Rechtsprechung übergehen, ist es vom Standpunkte der Objektivität besonders hervorzuheben, daß dieses Verfahren normalerweise ein Zweiparteienverfahren ist, bei dem das Rechtsprechungsorgan nur den Hintergrund bildet. Obgleich der Zweiparteiengrundsatz wohl durch Einwirkung seitens der Rechtsprechung - auch in das moderne Verwaltungsverfahren Eingang gefunden hat, kommt diesem Grundsatz in der Rechtsprechung eine zentralere Bedeutung zu. Durch das Prinzip ,audiatur et altera pars' wird das Rechtsprechungsverfahren zu einer Debatte mit Argumentation und Gegenargumentation. Eine solche Debatte bietet die besten Möglichkeiten zur Erreichung der Objektivität. Dieser Grundsatz darf aber im Prozeßrecht der heutigen Kulturstaaten keineswegs so gedeutet werden, daß das Rechtsprechungsorgan an der Erreichung einer materiellen Wahrheit nicht interessiert sei. Im Gegenteil: das öffentliche Interesse an der materiellen Wahrheit kommt in der modernen Prozeßleitung - auch auf dem Gebiete des Zivilprozesses - in verschiedener Weise zum Vorschein. 4 Für eine objektive Rechtsprechung muß es aber als ein entscheidender Fortschritt angesehen werden, daß der inquisitorische Strafprozeß überall zurückgedrängt worden ist 5 und auch das Strafverfahren zu einer im objektiven Geiste geführten Debatte geworden ist. Im modernen Prozeßrecht (z.B. das sowjetrussische Recht sowie das schwedische Prozeßgesetz vom Jahre 1942) wird einer effektiven Verteidigung des Angeklagten besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das schwedische Recht läßt sogar eine Rechtsmitteleinlegung durch den Staatsanwalt zugunsten des Angeklagten zu. 6 Wenn das Prinzip des Zweiparteienverfahrens eine objektive Rechtsprechung fördert, so kann dies keineswegs vom Grundsatze einer freien Beweiswürdigung behauptet werden. Hier liegt, wie die Erfahrung es genugsam zeigt, im Gegenteil das Haupttor für den Einfall einer richterlichen Willkür vor, wenn nur die erforderliche Affektgrundlage durch die Art des zu ent4
Wenn Schönke in seinem „Zivilprozeßrecht", Berlin 1938, S. 3 schreibt, daß die stärkere Betonung der öffentlich-rechtlichen Seite des Zivilprozesses diesen immer mehr in die Nähe des Strafprozesses führt, so kann dies allerdings ideologisch teilweise durch die nationalsozialistische Staats- und Rechtsauffassung bedingt sein, bringt aber eine allgemeine Entwicklungstendenz des heutigen Rechts zum Ausdruck. 5 Im finnischen sehr veralteten Prozeßrechte bestehen allerdings Rudimente des Inquisitionsverfahrens in „schweren Strafsachen", also eben da, wo die subjektiven Gefühle in Wallung geraten, wo die Gefahr der richterlichen Nicht-Objektivität die größte ist. 6 Kap. 20 § 2. - Über die Gründe hierzu Per OlofEkelöf, Kompendium över den nya rättegängsbalken, Uppsala, 2. Aufl. 1945, S. 62. - In der Praxis des finnischen Höchsten Gerichtshofes sind ähnliche Ansätze feststellbar, allerdings, soweit ersichtlich, nur in Fällen, wo eine falsche Tatsachenprüfung im Beweisverfahren oder eine falsche Gesetzesauslegung vorliegt. Z.B. folgende Urteile: 14.9.1932-6.9.1946-24.3.1947.
II.4. Struktur der Rechtsprechungsorgane
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scheidenden Prozesses geschaffen wird. Wenn dieser Grundsatz vom positiven Rechte angenommen worden ist, sind gegen eine noch so unsinnige und parteiliche Beweiswürdigung des Richters keine rechtlichen Sanktionen möglich. Die in den modernen Konstitutionen anerkannte Unabhängigkeit der Rechtsprechung kann zu einer wirklichen Gefahr werden, wenn es mit der freien Beweiswürdigung kombiniert wird. Die Rechtsprechung kommt dann in die Lage, unabhängig von jeder effektiven Kontrolle durch die Staatsbürger, ein ,Eigenleben' zu führen und die zu beurteilenden Tatsachen beliebig zu konstruieren'. Dem Urteile kann somit ein völlig verzerrtes Tatsachenbild zugrunde gelegt werden, was ja in politischen Prozessen sehr oft geschieht. In unpolitischen Prozessen, die nicht von der Spannung ,Freund/Feind' beherrscht sind, ist die Gefahr einer willkürlichen Beweiswürdigung, obgleich nicht ausgeschlossen, so doch gering. Unpolitische Prozesse bilden aber in allen Staaten bei der Rechtsprechung die Mehrzahl. Die heutzutage herrschende Rechtsüberzeugung würde sich auch kaum mit einer formellen Beweiswürdigung begnügen, denn durch eine sachlich gehandhabte freie Beweiswürdigung wird die materielle Wahrheit durchschnittlich sicherer erreicht. Aus diesen Gründen muß wohl die freie Β e weis Würdigung für die Rechtsprechungsmaschinerie als Ganzes als vorteilhaft angesehen werden, trotz der sehr starken Bedenken, die vom Standpunkte der Objektivität vorliegen. 7 Die Tatsache, daß der Gang des modernen Prozesses durch meistens zwingende Rechtsnormen bis ins einzelne geregelt ist, fördert eine Objektivierung der Rechtsprechung. Die bei der Rechtsprechung tätigen Organpersonen werden hierdurch verhindert, nach freiem Ermessen zu walten. Ihr Handeln wird durch die prozessualen Verfahrensnormen in genau vorgesehenen Bahnen geleitet. Das Recht der modernen Kulturstaaten steht auf dem Standpunkt, daß die Rechtsprechung öffentlich geschehen soll. 8 Das Prinzip der Öffentlichkeit ist etwas für die Rechtsprechung spezifisches. Wenn dieser Grundsatz im modernen Rechtsstaate manchmal auch in der Verwaltung Eingang gefunden hat, kommt ihm hier nicht diejenige zentrale Bedeutung zu wie in der Rechtspre7 Das finnische Prozeßrecht, das ursprünglich (schwedisches Gesetzbuch vom Jahre 1734) die legale Beweiswürdigung vertrat - nur für schriftliche Beweise freie Würdigung - war durch die Praxis immer mehr auf den Standpunkt der freien Beweiswürdigung übergegangen. Als aber von Seiten des Justizministeriums dem Reichstag ein Gesetzesentwurf vorgelegt wurde, der den prinzipiellen Standpunkt einer freien Beweiswürdigung vertrat, wurden gegen diesen Entwurf sehr starke Bedenken erhoben, und die Sache wurde erst nach langen Beratungen positiv entschieden. - Das neue schwedische Prozeßgesetz vom Jahre 1942 (in Kraft ab 1.1.1948) vertritt die freie Beweiswürdigung: Kap. 35 § 1. - Eine interessante Darstellung der freien Beweiswürdigung im privatkapitalistischen und im sozialistischen Rechte gibt A. J. Wyschinskij, Theorie des gerichtlichen Beweises nach dem Sowjetrechte, Moskau, 2. Aufl. 1946, insbes. S. 107 - 246. 8 So z.B. die sowjetrussische Konstitution vom Jahre 1936, § 111.
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chung. Vielmehr kann man diesen Grundsatz in der Verwaltung wohl hauptsächlich als eine Reflexwirkung der in der Rechtsprechung anerkannten Öffentlichkeit ansehen. Der liberale Rechtsstaat sucht ja die Formen der Rechtsprechung auf ein möglichst weites Gebiet auszudehnen. Die Anerkennung des Öffentlichkeitsprinzips bei der Rechtsprechung ist nicht von gestern. So wird dieser Grundsatz schon im ältesten schwedischen und finnischen Recht vertreten. Wenn dieser Grundsatz positivrechtlich anerkannt wird, bedeutet dies die Schaffung eines sehr starken objektivierenden Faktors. Die in der Rechtsprechung tätigen Organpersonen sind dann gezwungen, ihre Amtshandlungen unter einer fortwährenden Kontrolle seitens der Gemeinschaftsmitglieder auszuüben. Diese Kontrolle wird im modernen Kulturstaate durch die Presse noch verstärkt. 5. Soziale Kontrolle Die Rechtsprechung wird von den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft kontrolliert. Ohne eine solche Kontrolle könnte die Rechtsprechung nicht das Vertrauen der Gemeinschaftsmitglieder besitzen. Das Vertrauen ist aber für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung von größter Bedeutung. Bei dieser Aufrechterhaltung wird die Rechtsprechung nur in seltenen Ausnahmefällen in Funktion treten. Wenn das aber geschieht, sollen ihre Entscheidungen die höchstmögliche Autorität unter den Gemeinschaftsmitgliedern genießen. Diese Autorität kann sich nur auf Vertrauen stützen. Eine im juristischen Sinne unabhängige Rechtsprechung ist somit im soziologischen Sinne durch die Kontrolle der Gemeinschaftsmitglieder gebunden. Wenn ein Urteil durch sie gutgeheißen wird, vermehrt sich die Wahrscheinlichkeit, daß in der Zukunft bei einem ähnlichen Falle ein ähnliches Urteil gesprochen wird. Wenn sie das Urteil scharf ablehnen, wird diese Wahrscheinlichkeit entsprechend gemindert. Die in der Rechtsprechung tätigen Organpersonen stehen hier unter einem psychischen Druck, dem die größte Bedeutung beim Funktionieren der Gerichtsmaschinerie zukommt. Dieser Druck wirkt nicht immer objektivierend. Wenn Interessen oder persönliche Überzeugungen bestimmter Individuen oder ganzer Menschengruppen in Frage stehen, werden ihre Forderungen an die Rechtsprechung durch diese Interessen oder Überzeugungen bestimmt. Auch wenn solche Interessen oder Überzeugungen nicht unmittelbar im Spiel sind, zeigt die Erfahrung, daß Personen, die im juristisch-technischen Denken nicht geschult sind, oft willkürlicher und subjektiver urteilen als die in der Rechtsprechung tätigen Organpersonen. Die gegen die Rechtsprechung gerichtete Kritik gründet sich in sehr vielen Fällen darauf, daß die Kritisierenden zu einer objektiven Einstellung nicht fähig sind. Die Objektivität wird erst durch eine lange und mühsame juristische Erfahrung erworben. Es ist bezeichnend, daß das Gerichts-
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wesen in der Weltliteratur fast ausnahmslos negativ gewertet wird: so ζ. B. bei Dostojewski, Wassermann, Kafka. Die kühle objektive Haltung ist einem Künstler fremd, ja unheimlich. Er muß aufs schärfste dagegen reagieren. Die Rechtsprechung aber soll, wenn sie ihre hohe Aufgabe erfüllen und den inneren Frieden in der Gemeinschaft wahren will, unbedingt auf Objektivität bestehen und sich nicht subjektiven Gemütserregungen der Gemeinschaftsmitglieder beugen. Die soziale Kontrolle über die Rechtsprechung enthält aber neben einer subjektivierenden auch eine stark objektivierende Komponente. Trotz ihrer Subjektivität erwarten und fordern die Staatsbürger jedenfalls in den modernen Kulturstaaten von der Rechtsprechung vor allem Objektivität. Auch ihre subjektiven Interessen und persönlichen Überzeugungen treten oft unter dem Deckmantel einer solchen Objektivität auf und sind eben aus diesem Grunde schwer zu bekämpfen. Diese Erscheinung ist ein Ausdruck für die seelische Tatsache, daß tief in der Persönlichkeit der Menschen bei rechtlichen Wertungen eine Tendenz zur Objektivität wirkt. Eine ähnliche Erscheinung hat ja Westermarck für das Gebiet der Moral festgestellt (das Moment der Uninteressiertheit bei moralischen Wertungen). Durch die Symbolfunktion schafft sich der Mensch eine Kulturwelt, die durch eine Ganzheit von sozial bedingten Wertungen konstituiert wird. Die Teilnahme an dieser Kulturwelt bedeutet, daß der Mensch, trotz seiner biologisch bedingten Subjektivität zu einer gewissen Objektivität prädestiniert ist, die bei allen seinen Wertungen mitklingt. Die objektivierende Komponente bei der sozialen Kontrolle kann an einem sozialpsychischen Phänomen näher studiert werden, das wir ,die herrschende Rechtsüberzeugung' nennen wollen. Sie ist eine bei der Mehrzahl der Gemeinschaftsmitglieder vorhandene einheitliche Wertungsgrundlage in Fragen des Rechts, die sich in konkreten Fällen als ,Rechtsgefühl' aktualisiert. Diese Wertungsgrundlage braucht nicht bei allen Gemeinschaftsmitgliedern vorhanden zu sein: von einer ,allgemeinen Rechtsüberzeugung' zu sprechen, ist eine reine Fiktion. Das Wort ,Rechtsbewußtsein' ist mißlungen, weil eben eine Wertungsgrundlage bezeichnet werden soll, die tief in der Gesamtpersönlichkeit des Menschen verankert ist. Daß bei diesem Phänomen, wie Max Rümelin treffend hervorgehoben hat, auch Intellektuelles mitwirkt, ändert an der grundlegenden Tatsache nichts. Durch sie erklärt sich die relativ große Konstanz des Inhaltes der rechtlichen Wertungen bei verschiedenen Mitgliedern derselben Gemeinschaft. Ein deutlicher Unterschied gegenüber der sog. ,allgemeinen Meinung', dessen schwankender Inhalt in den jetzigen Rechtsgemeinschaften großenteils durch eine von bestimmten Interessengruppen kontrollierte Presse geformt wird, ist deutlich feststellbar. Die objektivierende Bedeutung der herrschenden Rechtsüberzeugung gründet sich auf die Tatsache, daß durch sie die rechtlichen Wertungen sozial ver-
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ankert werden. Das Recht ,lebt' nicht nur in den Zwangssanktionen, die durch Gemeinschaftsorgane verhängt und verwirklicht werden. Das Recht lebt vor allem in den Wertungen der Gemeinschaftsmitglieder. Die Geltung der Rechtsnormen hängt ab von der Stärke und Spontaneität dieser Wertungserlebnisse. Dies gilt sowohl für ,private' Gemeinschaftsmitglieder als auch für Organpersonen. Die Sanktionen bilden nur den äußeren Rahmen um diese Wertungen, die eine richtunggebende Rolle im menschlichen Handlungsleben spielen. Das sozialpsychische Phänomen herrschende Rechtsüberzeugung' bedeutet, daß sich diese Wertungen nicht in ebenso viele Varianten splittern wie es Gemeinschaftsmitglieder gibt, sondern vereinheitlicht und objektiviert werden. Die herrschende Rechtsüberzeugung ist somit keine Fiktion. 1 Bei Revolutionen tritt ihre Bedeutung klar zutage. In den ersten Jahren nach der großen russischen Oktoberrevolution versuchten manche Theoretiker, dem neuen Sowjetrecht seinen Rechtscharakter abzusprechen, weil - so wurde argumentiert - die in Rußland herrschende Rechtsüberzeugung nicht hinter dem neuen Rechte gestanden hätte und dieses ,Recht' somit eine bloße Technik der Gewalt gewesen sei. Der Zweite Weltkrieg hat aber klar gezeigt, daß die sozialistische Gemeinschaftsordnung jetzt von der überwältigenden Mehrzahl der Gemeinschaftsmitglieder innerlich gutgeheißen wird. Die Zahl der Verräter blieb, auch bei den widrigsten äußeren Umständen, sehr gering. Es ist schwer vorstellbar, daß die Gerichtsmaschinerie sich in dauerndem Gegensatz zur herrschenden Rechtsüberzeugung befindet. Normalerweise liegt eine gegenseitige Unterstützung vor. Man könnte von einer negativen und von einer positiven Funktion der herrschenden Rechtsüberzeugung beim Objektivieren der Rechtsprechung reden. Ihre negative Funktion besteht darin, daß sie bei willkürlichen Urteilsentwürfen als Alarmsignal wirkt. Bevor das Urteil endgültig formuliert und verkündet wird, können die Richter, deren Rechtsüberzeugung ja fast ohne Ausnahme mit der herrschenden Rechtsüberzeugung harmoniert, durch eine ablehnende Reaktion ihres Rechtsgefühls gewarnt werden. Ein guter Richter prüft immer seinen Urteilsentwurf an seiner Rechtsüberzeugung. Nur so können durch scheinbar bindende Subsumtionen hervorgerufene Fehlurteile vermieden werden. Wenn ein fehlerhaftes Urteil gefällt worden ist, kann die ablehnende Reaktion der Gemeinschaftsmitglieder verhindern, daß ähnliche Urteile in der Zukunft gefällt werden. Die positive Funktion der herrschenden Rechtsüberzeugung beim Objektivieren der Rechtsprechung besteht nicht im Hervorbringen von präzisen Urteilsnormen: eine bloße Wertungsgrundlage kann dies nicht leisten. Die herrschende Rechtsüberzeugung, so wie sie der Richter fühlt, kann aber ein zu 1 Der bekannte finnische Jurist Otto Hjalmar G ran feit äußerte einmal: „Ein allgemeines Rechtsbewußtsein, so was gibt es nicht".
II.5. Soziale Kontrolle
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fällendes Urteil gutheißen und somit seine Entscheidung erleichtern. Sie kann durch Billigung eines schon gefällten Urteils auf die künftige Rechtsprechung richtunggebend wirken. Die negative Funktion der herrschenden Rechtsüberzeugung scheint aber bei der heutigen technisch hochstehenden und rationalisierten Rechtsprechung bedeutender zu sein als ihre positive Funktion. Es ist auch zu bedenken, daß das Rechtsgefühl keineswegs in allen Konfliktsituationen reagiert. 2 Trotz einer objektivierenden Wirkung der herrschenden Rechtsüberzeugung auf die Rechtsprechung darf die Rechtsprechung diesen kollektiv verankerten Gefühlen keineswegs unkritisch folgen. 3 Vielmehr kann mit Fug und Recht die prinzipielle Frage aufgeworfen werden, ob eine hochstehende Rechtsprechung nicht zugleich verpflichtet sei, die herrschende Rechtsüberzeugung zu erziehen. Dieses kann wohl nicht der Gesetzgebung als Monopol überlassen werden, weil eine wirklich effektive Erziehung in erster Linie eben durch die Rechtsprechung erfolgen kann. Welcher Unfug wird nicht dadurch getrieben, daß z.B. in der Strafrechtspflege primitiv-religiöse Racheinstinkte verstärkt werden durch einen Hinweis auf die vermeintlichen Forderungen des ,gesunden Volksempfindens'! In dieser Weise kann jeder rationale wissenschaftliche Fortschritt im rechtlichen Denken unmöglich gemacht werden. Die herrschende Rechtsüberzeugung ist ja bekanntlich mit manchen primitiven, einem Kulturstaate unwürdigen Rudimenten behaftet. Forderungen der herrschenden Rechtsüberzeugung werden oft im Namen der ,Gerechtigkeit' vorgetragen. Dadurch wird eine Rationalisierung dieser Forderungen angestrebt. Durch eine nähere Analyse des Begriffes der Gerechtigkeit tritt besonders klar hervor, wie tiefe Schichten der menschlichen Gesamtpersönlichkeit durch das Recht berührt werden. Man kann bei der Gerechtigkeit zwei Komponenten unterscheiden: eine metaphysisch-religiöse und eine rational-logische. Die metaphysische Komponente bewirkt es, daß der Gerechtigkeitswertung eine erschütternde, die ganze Persönlichkeit ergreifende ,Tiefe' zukommt. Immer wieder kann festgestellt werden, daß Menschen durch ihr Gerechtigkeitserlebnis dazu getrieben worden sind, sogar die biologische Existenz anderer Menschen zu vernichten. Die rationale Komponente tritt bei den üblichen Formulierungen der Gerechtigkeit hervor, wonach Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln ist, und jedem das Seine zu gewähren ist. Zwischen der metaphysischen und der rationalen Komponente der Gerechtigkeit besteht kein Widerspruch: in beiden spiegelt sich der geistige Bau des Menschen, wo das Metaphysische und das Rationale unlösbar miteinander verbunden sind. 2
Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929, S. 101. Rudolf Stammler hat die Unbestimmtheit des Rechtsgefühls an mehreren Stellen gut hervorgehoben, z.B. in: Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, I - II, Charlottenburg 1925,1, S. 242, II, S. 397ff. 3
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Wirkt das Gerechtigkeitserlebnis der Organperson auf die Rechtsprechung objektivierend? Es könnte scheinen, daß dieses Erlebnis durch seine ,Tiefe' und den erschütternden persönlichen Ernst sowie durch seine rationale Komponente in besonders hohem Grade objektivierend wirke. Dieses ist aber eine gefährliche Illusion. Ein Richter, der vom Gerechtigkeitspathos ergriffen sein Urteil fällt, hat regelmäßig das Gefühl, objektiv, allgemeingültig zu handeln. In Wahrheit aber ist er persönlichen metaphysischen, unkontrollierbaren Impulsen ausgeliefert, die sich ausgezeichnet zur Verkleidung selbstsüchtiger Gruppen- und Individualinteressen eignen. Wenn ein tiefes Gerechtigkeitspathos sich mit einer ebenso starken Selbstkritik vereinigen ließe, dann könnte das Gerechtigkeitserlebnis für die Objektivierung ausgezeichnetes leisten. Ein vom Gerechtigkeitspathos hingerissener Richter kann aber schwerlich zur gleichen Zeit Selbstkritik üben. Der Wert des Gerechtigkeitserlebnisses als eines objektivierenden Faktors bei der Rechtsprechung wird auch dadurch herabgesetzt, daß dieses Erlebnis (wie auch sonst das Rechtsgefühl) präzise Richtlinien für ein Urteil nicht geben kann. Zwischen dem Gefühl einer unbeirrbaren evidenten Richtigkeit und dem Mangel an greifbaren, objektiv begründbaren Richtlinien besteht ein sonderbarer Widerspruch. - Nur wenn das Gerechtigkeitserlebnis sich darauf beschränkt, alle nichtrechtlichen, alle Machtfaktoren und bloß ideologischen Faktoren von der Rechtsprechung fernzuhalten, nur dann kann sie für eine objektive Rechtsprechung etwas Nützliches leisten. Diese an sich sehr bedeutende Funktion ist aber rein negativ. Zugleich ist sie rein formell. Sie besagt nur, daß eine von unmaßgeblichen Einflüssen freizuhaltende Überlegung mit der größtmöglichen Sorgfalt vorzunehmen ist. Als Ausfluß einer zunehmenden Rationalisierung kann es angesehen werden, daß der utilitaristische Begriff des Gemeinnutzes immer mehr die frühere Rolle des Gerechtigkeitsbegriffes in sachlichen Diskussionen übernommen hat. Der Gerechtigkeitsbegriff hat sich immer mehr auf das Gebiet der gefühlsmäßigen politischen Auseinandersetzungen zurückgezogen. Begriffe wie ,Gemeinnutz', ,Staatswohl' sind aber noch weniger als die Gerechtigkeit geeignet, auf die Rechtsprechung objektivierend zu wirken. Das idealisierende Moment ist nämlich bei diesen utilitaristischen Begriffen besonders stark. Ja, schon diese Worte an sich, so wie sie tatsächlich täglich gebraucht werden, sind im Grunde nur suggerierende Gefühlsausdrücke. Nur äußerst selten wird auf eine objektive, sachliche Begründung eingegangen, weil sich dann die Relativität der grundlegenden Wertungen schmerzlich fühlbar machen würde. 4 In diesem Kapitel wurde früher hervorgehoben, daß ein guter Richter beim Suchen nach einer rechtmäßigen Entscheidung seine Entwürfe durch sein an 4
In der katholischen Rechtsphilosophie, besonders im Thomismus, wird der Begriff ,Gemeinnutz' in einer stark metaphysischen Färbung gebraucht.
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die herrschende Rechtsüberzeugung gebundenes Rechtsgefühl kontrolliert. Die soziale Kontrolle der Rechtsprechung kann sich auch darin äußern, daß das Rechtsgefühl des Richters sich scharf gegen den Entwurf eines Urteils wendet, der nach geltenden Rechtsnormen beurteilt unbedingt geboten erscheint. Das Rechtsgefühl des Richters lehnt das geplante Urteil ab, weil es unbillig sein würde. Darf der Richter hier seinem Rechtsgefühl folgen und contra legem urteilen? Wenn man die Frage rein formell behandelt, scheint die Antwort klar: wenn das positive Recht nicht eine Ermächtigung zu einer solchen Korrektion enthält, soll der Richter dem positiven, wenngleich unbilligen Rechte folgen, möge dies seinem Rechtsgefühl noch so sehr widersprechen. Die Wirkungskraft der herrschenden Rechtsüberzeugung ist aber so stark, daß sie wohl in allen positiven Rechtsordnungen das oben aufgestellte theoretische Prinzip gebrochen hat. Dieser Bruch wird als eine ,Lücke im Recht' maskiert: es wird festgestellt', daß im vorliegenden Falle eine Rechtsnorm fehle, und nach dieser fiktiven Feststellung fällt der Richter eine mit seinem Rechtsgefühl harmonierende ,Lückenentscheidung'.5 Hier kommt zum Vorschein, was wir die Dialektik des Richterberufes nennen könnten. Weil das Recht und besonders die auf seine Verwirklichung hinzielende Rechtsprechung tief in der Gesamtpersönlichkeit des Menschen wurzelt, mit seinen Grund Wertungen unlösbar zusammenhängt, bricht bei der Rechtsprechung das menschliche Rechtsgefühl mit elementarer Kraft durch den Damm der abstrakten Rechtsnormen. Bevor aber der Richter sein Billigkeitsurteil ( = Lückenurteil) spricht, soll er bedenken, daß er dadurch die Rechtssicherheit verletzt. Die Rechtssicherheit ist einer der Grundwerte des organisierten Gemeinschaftslebens. Das vieldeutige Wort Rechtssicherheit' wird hier in folgendem Sinne gebraucht: die durch die abstrakt-rationalen Rechtsnormen erzeugte Voraussehbarkeit der rechtlichen Entscheidungen. 6 ' 7 Max Weber und Hermann Isay haben mit Nachdruck hervorgehoben, daß das moderne Wirtschaftsleben unbedingt eine hochgradige Voraussehbarkeit der rechtlichen Entscheidungen erheischt. Es muß aber betont werden, daß die grundlegende Bedeutung der Rechtssicherheit keineswegs durch ein bestimmtes Wirtschaftssystem bedingt ist. Eine objektive Vorausbestimmung der rechtlichen Pflichten durch abstrakte Normen ist jeder Rechtsgemeinschaft wesentlich.8 5
Gut bei Kelsen, General Theory of Law and State, 1945, S. 146 - 148. Im Gegensatz zu dieser formalen Definition wird die Rechtssicherheit oft im materiellen Sinne aufgefaßt, so besonders in dem auf privatkapitalistischer Grundlage aufgebauten liberalen Rechtsstaat'. Rechtssicherheit bedeutet dann, daß die Rechte der Bürger, vor allem das Eigentumsrecht, gegen Angriffe von Seiten des Staates und der anderen Staatsbürger effektiv geschützt werden. - Eine solche ,materielle' Rechtssicherheit ist aber im Grunde wirtschaftliche Sicherheit (Osvi Lahtinen). 7 Osvi Lahtinen hat treffend hervorgehoben, daß die „Objektivität" der Rechtsprechung einfach als Voraussehbarkeit der rechtlichen Entscheidungen definiert werden könnte. Dann würde eine psychologische Färbung dieses grundlegenden Begriffes vermieden werden. 6
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Vom Standpunkte einer objektiven Rechtsprechung ist somit Billigkeitsurteilen gegenüber äußerste Zurückhaltung geboten. Wenn eine Billigkeitserwägung inhaltlich nicht in ganz eindeutiger Weise von der herrschenden Rechtsüberzeugung gestützt wird, ist subjektive Willkür bedenklich nahe. 6. Die Begründungspflicht Begründung einer rechtlichen Entscheidung bedeutet, daß im Zusammenhange mit der Entscheidung die bewiesenen Tatsachen und die Rechtsnormen angegeben werden, worauf die Entscheidung gestützt wird. Voraussetzung dieses Verfahrens ist, daß eine Entscheidung vorliegt, d.h. eine auf Grund des positiven Rechts erfolgende Anordnung eines Organes der Rechtsgemeinschaft. Diese Entscheidung kann eine Verwaltungsentscheidung oder eine Entscheidung der Rechtsprechung sein.1 Die Rechtsordnungen heutiger Kulturstaaten enthalten ausnahmslos Bestimmungen darüber, daß Urteile begründet werden sollen. Zuweilen wird dieses Prinzip in die Konstitution aufgenommen. 2 Oft wird eine Begründungspflicht, in kleinerem oder größerem Ausmaße, auch für Verwaltungsentscheidungen ausdrücklich angeordnet oder durch Analogieschluß aus der Pflicht zur Urteilsbegründung hergeleitet. Während die Begründungspflicht bei Verwaltungsentscheidungen auf Zweckmäßigkeitserwägungen fußt und dabei durch die in der Rechtsgemeinschaft herrschende Ideologie restlos bedingt ist, scheint die Begründungspflicht bei Entscheidungen der Rechtsprechung einen tieferen Grund zu haben. Weil die Rechtsprechung eine Verwirklichung des positiven Rechts bezweckt, ist eine Begründung ihrer Entscheidungen, insbesondere der Urteile nicht nur natürlich, sondern ihr wesensgemäß. Allerdings ist auch die Begründungspflicht bei Urteilen einigermaßen durch die herrschende Ideologie gefärbt. Der Staatsabsolutismus liebte eingehende Urteilsbegründungen nicht: eine Staatsgewalt „von Gottes Gnaden" brauchte ihre Entscheidungen vor den Staatsbürgern nicht eingehend zu rechtfertigen. Sie glaubte wohl auch, daß ihre Autorität durch eine solche Rechtfertigung geschwächt werden würde. Es ging dabei so weit, daß gänzlich unbegründete 8
Wenn die Rechtsgemeinschaft von einer stark dynamischen, ganz auf die Zukunft gerichteten Ideologie getragen wird, muß die Rechtssicherheit vor dem dynamischen Grundwert zurücktreten. So z.B. in der Sowjetunion (Grundwert: Verwirklichung des Kommunismus). - Eine ausgezeichnete Einführung in die sowjetrussische Rechtsideologie: Α. I. Denisov, Teoria gasudarstva i prava („Staats- und Rechtstheorie"), Moskau 1948, insbes. S. 3 - 39 u. 286 - 527. 1 Entscheidungen der Rechtsprechung in Sachfragen werden in dieser Untersuchung ,Urteile' genannt. 2 Das schwedische Gesetzbuch aus dem Jahre 1734, dessen Prozeßrecht (mit Modernisierungen) in Schweden bis zum 1.1.1948 galt und in Finnland jetzt noch gilt, sprach klar aus: „Jedes Urteil soll auf Gründe und dem Gesetz und nicht auf Willkür gebaut werden".
II.6. Die Begründungspflicht
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Urteile gesprochen wurden. 3 Als Reaktion gegen solche schweren Mißstände kann Artikel 208 der französischen Verfassung vom 5. fructidor an I I I (1791) angesehen werden: „les jugements sont motivés, et on y énonce les termes de la loi appliquée". Wenn in der Rechtsgemeinschaft das Prinzip der Demokratie anerkannt ist, sei es im formal-juristischen (privatkapitalistischen) oder im wirtschaftlichen (sozialistischen) Sinne, kann daraus der Grundsatz der Urteilsbegründung hergeleitet werden. Die Begründungspflicht bedeutet dann eine Bedingung für die effektive Kontrollierung der Rechtsprechung durch die Staatsbürger. Die öffentliche Kritik der Rechtsprechung kann mit einer viel größeren Kraft einsetzen, wenn nicht nur die Urteile, sondern auch ihre Gründe publiziert werden. Die Urteilsgründe sollen mit den (individual-psychischen) Urteilsmotiven nicht verwechselt werden. Der Begriff der Gründe ist ein juristisch-normativer: er bedeutet etwas (Tatsachen, Normen), was nach dem positiven Rechte jedem Urteil angeschlossen sein soll. Der Begriff der Urteilsmotive ist dagegen auf das Seelenleben des Richters bezogen; der Blickpunkt ist hier ein kausaler. Eine noch so eingehende Urteilsbegründung garantiert somit keineswegs eine objektive Rechtsprechung. Es besteht aber ein Zusammenhang zwischen Urteilsbegrüdung und Urteilsmotivierung. Das Ideal einer restlos objektiven Rechtsprechung, d. h. daß der Richter beim Urteilen ausschließlich durch die Achtung vor dem Rechte geleitet sei, kann, wie früher dargelegt, nie voll erreicht werden. Deshalb wird eben die Pflicht des Richters zur Objektivität fortwährend eingeschärft. Eine sachliche, eingehende und wahrheitsgemäße Begründung kann aber schwerlich auf der Grundlage einer willkürlichen Motivierung gebaut werden. Sie setzt vielmehr eine einigermaßen objektive Grundeinstellung des Richters voraus, denn er weiß, daß er das Urteil allgemeingültig begründen soll. Die Begründungspflicht fördert somit die Objektivität und die Selbstkritik des Richters. Wenn das Urteil auf Grund eines Syllogismus zustande käme, d.h. wenn 1. die Tatsachen, 2. die Rechtssätze und 3. das Urteil Glieder eines logischen Schlusses wären, der in der Urteilsbegründung nur rekapituliert wird, dann könnte die Begründungspflicht als eine sehr starke Förderung einer objektiven Rechtsprechung angesehen werden. Heute wird aber allgemein anerkannt, daß die Syllogismustheorie den Tatsachen nicht entspricht. Schon die Feststellung, welche der beim Gerichte vorgebrachten Tatsachen als relevant und dann, welche unter diesen als bewiesen anzusehen sind, setzt Wertungen voraus. In der Rechtsfrage sind Auswahl und Kombinierung der Urteilsnor3 E. Glasson, René Morel, Albert Tissier, Traité théorique et pratique d'organisation judiciaire, de compétence et de procédure civile, 3. éd., Paris 1929, III, S. 39. - Über die ideologische Bedingtheit der Urteilsbegründungen: Per Olof Ekelöf, in: Sakframställning och domskäl enligt nya RB, in: Svensk Juristtidning 1947, S. 261, Arthur Lindhagen, Om motivering av dorn, ibidem, S. 321 - 322.
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men gleichfalls eng an Wertungen gebunden.4 Ein fertiges Urteil mit anhängender Begründung tritt allerdings in einer Form auf, die äußerlich an einen logischen Schluß erinnert. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, daß das Urteil auch tatsächlich in dieser Weise zustande gekommen ist. Daß dies nicht zutrifft, geht u.a. aus der allbekannten Tatsache hervor, daß für ein Urteil oft mehrere Begründungen ,passen4 und daß es auf die Zweckerwägungen des Richters ankommt, welche der Begründungen gewählt wird. 5 Wenn also behauptet wird, das Urteil sei ein logischer Schluß, so ist das eine Fiktion, die aber um so gefährlicher wird, als dadurch die reale Bedeutung der Urteilsbegründung verdeckt wird. Andererseits wird aus dem erkannten fiktiven Charakter der Syllogismustheorie ebenso falsch gefolgert, daß der Urteilsbegründung keine reale Bedeutung zukomme, weil sie nur eine Fiktion oder im besten Falle die Nachkontrolle eines schon „fertigen" Urteils sei.6 Wenn dazu die Rolle einer rational unkontrollierbaren ,Intuition' stark hervorgehoben wird, schwindet jede Grundlage für eine objektive Rechtsprechung. Wie ist das Verhältnis zwischen abstrakten Rechtsnormen und konkreten Entscheidungen ,auf Grund' dieser Normen aufzufassen? Die Pflicht zur Urteilsbegründung führt uns zu einem der Zentralprobleme der allgemeinen Rechtslehre. - Wenn das Recht, so wie es in dieser Untersuchung geschehen ist, auf die geistige Natur des Menschen zurückgeführt wird, wenn somit die biologische Konstitution des Menschen letzten Endes die ,Quelle' allen Rechts ist, dann kann als ein Hauptzweck des Rechtes eine Rationalisierung des Gemeinschaftslebens angesehen werden. Nicht in dem Sinne, daß die irrationalen, tief im Menschentiere wurzelnden Urinstinkte eliminiert oder geschwächt würden. 7 Wohl aber so, daß die menschlichen Handlungen durch Zwangssanktionen der Rechtsgemeinschaft in einer immer rationaleren Weise gelenkt werden. Dieser fortschreitende Organisationsprozeß bedeutet keineswegs einen ethischen Wertzuwachs: die destruktiven wie die konstruktiven sozialen Kräfte werden gleichmäßig effektivisiert. Der Zuwachs von Rechts4 Zu vergleichen: Walther Burckhardt , Einführung in die Rechtswissenschaft, Zürich 1939, S. 157ff.; Wilhelm Sauer, Juristische Elementarlehre, Basel 1944, S. 75ff.; Alf Ross, Retskilde og Metodelaere i realistisk Belysning, in: Tidsskrift for Retsvidenskab, 1931. 5 In der finnischen Rechtsprechung ist es zuweilen vorgekommen, daß ein Urteil durch mehrere Begründungen gestützt worden ist, die alle zu demselben Endergebnis führten (Osvi Lahtinen). Eine solche Begründungstechnik wird aber von der herrschenden finnischen Prozeßrechtswissenschaft abgelehnt. 6 In diesem Geiste das anregende Buch von Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929. - Eine Kritik von Isay gibt F. Schreier in: Zeitschrift für öffentliches Recht, XI, insbes. S. 631 - 633. 7 Daß dies nicht der Fall ist, geht aus dem völligen Unvermögen des Menschen hervor, sich einer destruktiven Anwendung der entfesselten Naturkräfte zu enthalten. Durch die Dynamik der von ihm geschaffenen Wirtschaftsordnung wird der Mensch zu einer Weltkatastrophe nach der andern, zu einer immer totaleren Zerstörung der materiellen und geistigen Kulturgüter getrieben.
II.6. Die Begründungspflicht
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normen, die auf eine Ermöglichung und Effektivisierung der Kriegführung hinzielen, ist hier signifikativ (Wehrpflicht, Militärstraf recht, Organisation der Wirtschaft für Kriegszwecke). Die durch die Rechtsordnung bewirkte Rationalisierung muß also in einem ethisch wertindifferenten, rein „technischen" Sinne verstanden werden. 8 Die Rationalisierungstechnik des Rechts arbeitet durch die Aufstellung von abstrakten Handlungsschemen, nach denen konkrete menschliche Handlungen beurteilt und Zwangssanktionen verhängt werden. Die Rechtsprechung bedeutet eine durch zahlreiche Gerichte geübte fortlaufende Tätigkeit, wodurch der rechtliche Rationalisierungsprozeß sich in konkreten Fällen auswirkt. Damit der Rationalisierungszweck des Rechts nicht vereitelt werde, müssen rechtliche Entscheidungen und vor allem Urteile fest in die vom Recht aufgestellten Handlungsschemen gebunden werden, d.h. der Inhalt der Entscheidungen und Urteile muß von diesen Handlungsschemen ableitbar sein. Das bedeutet nicht eine Ableitbarkeit im gleichen Sinne wie in der Logik, sondern eine wertbedingte Ableitbarkeit in einem spezifisch juristischen Sinne. Bei der Urteilsbegründung besteht deren rechtlicher Teil aus Handlungsschemen, der Tatsachenteil aber aus (durch das Beweisverfahren festgestellten) menschlichen Handlungen. Die Ableitbarkeit sagt auch nichts aus über das tatsächliche Zustandekommen der Urteile, sondern bezieht sich ausschließlich auf den gedanklichen Inhalt dieser Urteile. Die Begründungspflicht bei Urteilen ist eine Konsequenz des Ableitbarkeitsprinzips; ohne dieses Prinzip wäre die Begründungspflicht sinnlos. Das Ableitbarkeitsprinzip, das als ein in den positiven Rechtsordnungen geltender Rechtsgrundsatz aufzufassen ist, wirkt bei der Rechtsprechung immer objektivierend. 9 Was bedeutet eine ,richtige Begründung' des Urteils? Im Rahmen der spezifisch juristischen, wertbedingten Ableitbarkeit ist von mehreren, auf den ersten Blick gleich möglichen Begründungen diejenige ,richtig', die dem ganzen vom positiven Recht repräsentierten Wertkomplex am besten entspricht. Ein in diesem Wertkomplex enthaltener Grundwert ist, wie soeben festgestellt wurde, Rationalität, Einfachheit, Klarheit des rechtlichen Denkens. Wenn somit auf Grund einer die ganze Rechtsordnung prinzipiell berücksichtigenden Gesetzesauslegung mehrere Urteilsbegründungen als ebenso möglich erscheinen, soll wohl der Vorzug der einfachsten, weil rationalsten Begründung gegeben werden. In den meisten in der Praxis vorkommenden Fällen bietet die Begründung allerdings keine Schwierigkeiten; solche entstehen nur in Grenzfällen. In Normalfällen sind die konkreten Tatsachen leicht unter die abstrakten Handlungsschemen des Rechts zu bringen, ist das Urteil fast eindeutig ableitbar. 8 Im Innern einer Rechtsgemeinschaft wirkt das Recht pazifizierend, kulturfördernd (der Rechtsfriede), aber oft nur um eine desto größere destruktive Konzentration nach außen zu ermöglichen. 9 Analoge Gedankengänge bei Schreier (FN 6), S. 631 ff.
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Aus diesem Grunde ist es für eine Objektivierung der Rechtsprechung nicht nötig, daß die Urteilsbegründung in einfachen, klaren Fällen sehr ins einzelne geht. Eine detaillierte Begründung in zweifelhaften Grenzfällen ist dagegen im Interesse der Objektivität unbedingt geboten. In solchen Fällen versuchen aber die Gerichte oft, sich einer schwierigen, der Kritik ausgesetzten Begründung zu entziehen. Die Begründung wird dann so unvollständig und allgemein gehalten, daß dadurch nur der Schein einer Erfüllung der positivrechtlichen Begründungspflicht entsteht. Sachlich erwogen ist aber eine solche ,Begründung4 vollkommen wertlos. Noch schlimmer ist es aber, wenn eine Urteilsbegründung absichtlich falsch ist. Dies ist in politischen Prozessen oft vorgekommen. Eine Begründung nennen wir ,falsch 4, wenn sie den Tatsachen oder den richtig ausgelegten Rechtsnormen nicht entspricht. Äußerlich kann eine solche Scheinbegründung fehlerfrei aussehen, bedeutet aber einen schweren Verstoß gegen die Begründungspflicht. Wenn wir also ganz allgemein fragen, ob die Begründungspflicht bei der Rechtsprechung tatsächlich erfüllt werde, so muß hervorgehoben werden: Eine Antwort auf diese Frage kann sich natürlich nur auf eine historisch gegebene Rechtsgemeinschaft beziehen und hängt von dem in ihrem Richterstande herrschenden Geiste und von der Tradition ab. Die Tradition kann hier sogar ihren eigenen Weg gehen, entgegen der in der Rechtsgemeinschaft sonst herrschenden Ideologie. So sind in Schweden und in Finnland die Urteilsbegründungen auch höherer Gerichte verhältnismäßig knapp und ungenügend, obgleich in beiden Ländern eine demokratische Staatsideologie herrschend ist. 10 Dabei ist zu bemerken, daß der Richterstand in Finnland und in Schweden technisch auf einem hohen Niveau steht. Es sind aber oft die erfahrensten und besten Richter, die eingehende Begründungen meiden. Einerseits, weil solche zeitraubende Begründungen nach ihrer Meinung nur Selbstverständliches4 enthalten, andererseits, weil die Richter sich durch eine eingehende Motivierung nicht für die Zukunft binden wollen. Kann die Begründungspflicht durch Zwangsmaßnahmen der Rechtsgemeinschaft effektiv sanktioniert werden? Eine Strafsanktion wird wohl nur die allergröbsten Mißstände treffen, z.B. wenn eine Urteilsbegründung auch äußerlich ganz fehlt. Auch in solchen Fällen sind die Mitglieder der sanktionierenden Gerichte aus Solidarität wenig geneigt, ihre Kollegen wegen einer ,Verfehlung im Amt 4 zu einer Strafe zu verurteilen, wenn die Verfehlung nur in einer mangelnden Urteilsbegründung besteht, ohne daß das Urteil inhaltlich unrichtig wäre. 11 Dieses gilt noch mehr für den Fall, daß eine unvollstän10 Von Per Olof Ekelöf treffend hervorgehoben, in: Svensk Juristtidning 1947, S. 261. - Dieser Lakonismus wurde wohl auch durch die ausdrückliche Bestimmung im schwedischen Gesetzbuch vom Jahre 1734 gefördert, daß im Urteil (nur) die Hauptgründe und das Gesetz, worauf das Urteil sich gründet, zu nennen sind. Die Urteilsbegründung wird hier als ein Teil des Urteiles angesehen.
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dige Begründung vorliegt, ja auch wenn die Begründung falsch ist. Im Falle einer falschen Urteilsbegründung dürfte es nämlich nur in den seltensten Fällen vorkommen, daß die eventuelle Vorsätzlichkeit des Richters zu beweisen ist. Wenn dieser aber ausnahmsweise feststellbar wäre, sollte ein Strafurteil gegen den Richter (oder die Richter) unbedingt gesprochen werden. Vorher wurde festgestellt, daß das Ableitbarkeitsprinzip und die darauf fußende Urteilsbegründung auf die Rechtsprechung unmittelbar objektivierend wirke. Die objektivierende Wirkung ist aber auch mittelbar. Einerseits wird das Instanzensystem durch eine sachliche und eine - in ,Auslegungs- und Lückenfällen' - eingehende Urteilsbegründung gefestigt. Eine erfolgreiche Nachprüfung schon gefällter Urteile ist ohne diese Voraussetzung überhaupt nicht möglich. Andererseits, damit die Judikatur eine objektivierende Wirkung auf die Rechtsprechung möglichst effektiv ausübe, müssen die als Präjudize zu brauchenden Urteile sachlich und genau begründet sein. Um die objektivierende Wirkung der Urteilsbegründung in schwierigen Auslegungs- und Lückenfällen zu erhöhen, könnte es angebracht sein, Gesetzesmotive, Ergebnisse der Rechtswissenschaft und frühere Urteile in der Begründung anzuführen. Eine solche räsonierende Begründungstechnik hat sich ja im englischen Recht sehr gut bewährt, ist aber z.B. dem finnischen Rechte vollkommen fremd.
7. Gesetzesauslegung und Lückenprüfung: Normen und Theorien Gesetzesauslegung geht dem Richterspruch voraus. Auslegen und Entscheiden sind somit begrifflich voneinander zu trennen. In der Praxis sind sie aber oft so eng verknüpft, daß sie als ein A k t erscheinen. - durch Auslegung stellt der Richter den Sinn der auf den konkreten Fall anzuwendenden rechtsnormen fest. 1 Findet er dabei keine passende Norm, soll er nach eingehender Prüfung eine Fallnorm bilden und darauf gestützt seine Lückenentscheidung fällen. Diese Prüfung muß deutlich von der Entscheidung im Lückenfall getrennt werden. Begrifflich muß sie auch von der Gesetzesauslegung getrennt werden: 11
In der Praxis des finnischen Justizkanzlers sind - allerdings sehr selten - Fälle vorgekommen, wo der Strafantrag gegen einen Richter u. a. auf fehlende Urteilsbegründung gestützt wurde. So ζ. B. in dem Berichte für das Amtsjahr 1906, S. 8 - 9: hier fehlt aber nicht nur die Begründung, sondern das Urteil war auch inhaltlich unrichtig. 1 Was bedeuten ,Sinn' und feststellen' in diesem Zusammenhange? Auf die Problematik des Auslegungsbegriffes, hier speziell des Begriffes der Gesetzesauslegung, wird nicht näher eingegangen. Die Methodik der Gesetzesauslegung kann nicht aus philologischen oder psychologischen Ausgangspunkten deduziert werden. Gesetzesauslegung kann nur als ein Spezialfall des eigengesetzlichen rechtlichen Denkens' richtig gesehen werden und bildet ein zentrales Problem der allgemeinen Rechtslehre.
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sie beginnt erst dort, wo die Auslegung nicht mehr weiterführt. 2 In der Praxis ist aber die Grenze fließend, besonders zwischen ausdehnender Auslegung und Analogie (wichtigstes Hilfsmittel bei der Lückenprüfung). In der älteren Theorie wird die Unterscheidung oft nicht gemacht.3 Auch heute kann es für theoretische Erörterungen zweckmäßig sein, daß Gesetzesauslegung und die aus ihr organisch herauswachsende Lückenprüfung einheitlich behandelt werden. So auch in diesem Kapitel. Man könnte eine einheitliche Determinationsskala aufstellen: an einem Endpunkte stehen die Rechtssituationen mit eindeutigen, vollkommen klaren, nicht auslegungsbedürftigen Rechtsnormen, an dem anderen Endpunkte stehen Rechtssituationen, in denen die Entscheidung vollkommen undeterminiert ist, d.h. weder auf Gesetzesanalogie noch auf Rechtsanalogie (allgemeine Grundsätze des positiven Rechts) gestützt werden kann. Diese Grenzfälle sind selten.4 Unter den Auslegungs- und Lückenvorschriften muß eine prinzipielle Unterscheidung gemacht werden. Einerseits enthalten manche positive Rechtsordnungen Auslegungs- und Lückennormen, andererseits hat die Rechtstheorie (die allgemeine Rechtslehre) ihre Auslegungs- und Lückenlehren aufgebaut. Im Grunde genommen stellt aber auch die Rechtstheorie Normen für die Gesetzesauslegung und für die Lückenprüfung auf. Um Mißverständnisse zu vermeiden, würde es ratsam sein, in diesem Falle nicht das Wort ,Norm', sondern das Wort ,Leitsatz' zu gebrauchen. Zwischen den positivrechtlichen Auslegungs- und Lückennormen einerseits und den von der Rechtstheorie ausgearbeiteten Leitsätzen andererseits besteht eine Wechselwirkung. Leitsätze werden in die Rechtsordnungen als Normen aufgenommen. Normen ihrerseits üben eine befruchtende Wirkung auf die Theorie aus. Positivrechtliche Auslegungsnormen bedeuten, daß das Recht Normen aufstellt darüber, wie der Sinn der positiven Rechtsnormen festgestellt werden soll. Man hat sich die Lage manchmal so vorgestellt, daß Auslegungsnormen ihre eigene Auslegung nicht normieren, sondern dies nur durch eine zweite Stufe von Auslegungsnormen geschehen könne. Dabei würde also eine aus unendlich vielen Stufen bestehende Normenreihe zu denken sein.5 Für die 2
Über das Lückenproblem Otto Brusiin Tuomarin harkinta normin puuttuessa (Das Ermessen des Richters bei fehlender Norm) 1938, in: Veröffentlichungen des Finnischen Juristenvereins, No 14. Kurze deutsche Zusammenfassung der Resultate S. 254 266. 3 So ζ. B. der große finnische Jurist des 18. Jahrhunderts, Matthias Calonius, Praelectiones in jurisprudentiam civilem, III, § 8. 4 Die Trennung zwischen Lückenprüfung und Lückenentscheidung ist in der Praxis schwer aufrechtzuerhalten. So umfaßt Art. 1, Mom. 2 und 3, des schweizerischen Zivilgesetzbuches sowohl die Lückenprüfung als auch die Lückenentscheidung. Positivrechtliche Normen, die die Lückenprüfung und die Lückenentscheidung regeln, werden im folgenden kurz ,Lückennormen' genannt. 5 So z.B. Otto Brusiin, Oikeusfilosofia ja käytäntö (Rechtsphilosophie und Praxis), in: Defensor Legis (Zeitschrift des finnischen Advokatenbundes) 1934.
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Bedürfnisse des praktischen Rechtslebens genüge aber schon die erste Stufe der Auslegungsnormen. Diese Auffassung dürfte aber nicht richtig sein: die positivrechtlichen Auslegungsnormen regeln auch ihre eigene Auslegung. 6 Positivrechtliche Lückennormen bedeuten, daß das Recht Vorkehrungen trifft für Fälle, wo weder aus Gesetzes- noch aus Gewohnheitsrecht eine genügende Grundlage für eine Entscheidung gewonnen werden kann. Durch Eingeständnis und Regelung seiner eigenen Unzulänglichkeit mildert das positive Recht die praktischen Wirkungen dieser Unzulänglichkeit. Durch Lückennormen wird eine theoretische Geschlossenheit der Rechtsordnung hergestellt. Mittels zweckmäßig formulierter und miteinander gut kombinierter Auslegungs- und Lückennormen kann das positive Recht die Objektivierung der Rechtsprechung wesentlich fördern. In Lückenfällen ist ja die Gefahr willkürlicher Entscheidungen besonders groß. Die positiven Rechtsordnungen nehmen zu den Auslegungs- und Lückennormen verschieden Stellung. Einige enthalten keine solchen allgemeinen Gesetzesnormen: so z.B. das geltende französische und deutsche Recht. 7 Die allgemeine Auslegungsnorm des geltenden finnischen Rechts8 muß so ausgelegt werden, daß es eine gesetzliche Grundlage auch der Analogieentscheidungen bietet, zumal da im 18. Jahrhundert eine scharfe Scheidung zwischen Auslegung und Analogie nicht gemacht wurde. Die italienischen Zivilgesetzbücher von 1865 und 1942 enthalten keine Auslegungs- oder Lückennormen. In beiden Fällen wurde aber gleichzeitig mit dem Zivilgesetzbuche ein freistehendes Gesetz publiziert, das u.a. auch solche Normen enthält. Dadurch wurde hervorgehoben, daß diese Normen nicht nur für das Zivilrecht Geltung beanspruchten. Im spanischen Zivilgesetzbuche vom Jahre 1889 ist eine allgemeine Auslegungs- und Lückennorm im Einleitungskapitel (§ 6; 2) enthalten. Dieses Kapitel trägt die Überschrift „Über Gesetze, ihre Wirkungen und über die allgemeinen Regeln ihrer Anwendung": auch hier müssen die Auslegungs6
Wenn nicht direkt, so jedenfalls auf dem Wege der Analogie. Nimmt man den Standpunkt ein, daß die Auslegungsnormen die Auslegung sämtlicher positivrechtlicher Normen, sie selbst ausgenommen, regeln, so kann folgender Schluß gezogen werden: die für die überwältigende Mehrzahl der Rechtsnormen geltenden Auslegungsgrundsätze müssen wohl auch für die sog. ,Auslegungsnormen' selbst gelten. Die meistens sehr allgemein und lakonisch gehaltenen Auslegungsnormen kleiden mehr oder weniger selbstverständliche, dem rechtlichen Denken moderner Kulturstaaten geläufige Grundsätze in Gesetzesform. 7 Der erste Entwurf des BGB nannte als Kriterien für die Lückenprüfung neben der Gesetzesanalogie „die aus dem Geiste der Rechtsordnung sich ergebenden Grundsätze". Die Bestimmung wurde in der zweiten Lesung als schwerfällig, doktrinär und entbehrlich gestrichen. Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, I, Berlin 1897, S. 2 - Im Entwurf des code civil wurden im Einleitungskapitel eine Reihe von Auslegungsvorschriften vorgeschlagen (titre V). 8 Kapitel I § 11 im Abschnitt über Gerichtswesen und Prozeß im Gesetzbuch vom Jahre 1734: „Der Richter soll den richtigen Sinn und Grund des Gesetzes sorgfältig prüfen und danach urteilen ..." 7 Brusiin
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und Lückennormen so ausgelegt werden, daß sie nicht nur das Zivilrecht betreffen. Das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch vom Jahre 1811 enthält unter dem Titel „Von den bürgerlichen Gesetzen überhaupt" bekanntlich auch Auslegungs- und Lückennormen, die aber so ausgelegt worden sind, daß sie sich nicht nur auf die Auslegung des A B GB beschränken. In diesem Sinne muß auch der berühmte Artikel 1 (Unter dem Titel „Einleitung. Anwendung des Rechts") des schweizerischen ZGB ausgelegt werden. 9 Wenn eine Rechtsordnung keine allgemeinen Gesetzesnormen über Auslegung oder Lückenprüfung enthält, ist es doch denkbar, daß solche Normen in das Gewohnheitsrecht eingehen. Eine sichere eindeutige Feststellung ihres Inhalts dürfte aber schwer sein. 10 Wenn eine Rechtsordnung, die nicht auf bindende Präjudize aufgebaut ist, keine Gesetzesnormen über Auslegung und Lückenprüfung enthält, ist dieses Gebiet wohl absichtlich vom Gesetzgeber der Rechtstheorie überlassen worden. Für diesen Standpunkt spricht die durch Rechtsvergleichung feststellbare Tatsache, daß die Auslegungs- und Lückennormen, wenn im Gesetz formuliert, überall lakonisch und knapp sind, so daß der aus ihnen zu ziehende Nutzen fraglich erscheint und sie fast als eine bloße Dekoration dastehen. Dies hat - so könnte man sagen - seinen Grund darin, daß Gesetzesauslegung und Lückenprüfung sich ihrer Natur gemäß für eine gesetzliche Regelung nicht eignen. Es gibt aber einen Grund, der entscheidend für positiv-rechtliche Auslegungs- und Lückennormen spricht. In allen Rechtsordnungen, wo solche Normen vorkommen, verfolgen sie einen gemeinsamen Zweck: der Objektivierung der Rechtsprechung. Auch wenn sie noch so lakonisch sind, kann man aus ihnen diesen Zweck herauslesen, ja, meistens wollen sie in ihrer Knappheit nur diesen Zweck hervorheben. Einer solchen klaren und ausdrücklichen Hervorhebung der Objektivitätsmaxime im Gesetze selbst muß aber die größte prinzipielle Bedeutung beigemessen werden. 9
Das chinesische Zivilgesetzbuch vom Jahre 1929 scheint in seinem ersten Artikel die darin enthaltene Lückennorm ausdrücklich nur auf das Zivilrecht zu beschränken. Die in dem Entwürfe zu einem deutschen Volksgesetzbuche enthaltenen Auslegungsund Lückenvorschriften waren so weit formuliert, daß sie deutlich auf das ganze Recht hinzielten. So z. B. § 21: „Die Auslegung der Gesetze ist nicht an ihren Wortlaut gebunden ..." (Volksgesetzbuch. Grundregeln und Buch 1. Entwurf und Erläuterungen vorgelegt von J. W. Hedemann, H. Lehmann, W. Siebert, München und Berlin 1942). Daß Auslegungs- und Lückennormen meistens in den Zivilgesetzbüchern vorkommen, ist wohl darauf zurückzuführen, daß dieser Teil des Rechts traditionsgemäß am meisten theoretisch durchgearbeitet ist. Die römische und die darauf fußende romanistische und allgemeineuropäische Jurisprudenz war ja hauptsächlich eine zivilrechtliche Jurisprudenz. - Auf spezielle Auslegungsnormen, die nur die Auslegung eines Gesetzes oder eines bestimmten Teilgesetzbuches regeln, wird hier nicht eingegangen. Das Analogieverbot (Verbot der Ausdehnung der Verbrechenstatbestände) im Strafrecht der meisten modernen Kulturstaaten ist ein Beispiel einer speziellen Lückennorm. Sie ist letzten Endes auf eine bürgerlich-liberale Ideologie zurückzuführen. 10 Im englischen Recht hat die bindende Judikatur eine Menge von Auslegungs- und Lückennormen herauskristallisiert.
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Wenn die Auslegungsnorm des geltenden finnischen Rechts, wie eben hervorgehoben, lautet: „Der Richter soll den richtigen Sinn und Grund des Gesetzes sorgfältig prüfen und danach urteilen, nicht aber dagegen, nach eigener Willkür", so wird hierin die Objektivitätsmaxime besonders deutlich ausgesprochen. Ähnlich Artikel 1; 2 des schweizerischen Zivilgesetzbuches,11 wonach der Richter in Lückenfällen bei fehlendem Gewohnheitsrecht nach der Regel entscheiden soll, die er als Gesetzgeber aufstellen würde, und dabei bewährter Lehre und Überlieferung folgen soll. (Zu vergleichen mit dem kategorischen Imperativ von Kant, der einen Grundwert des abendländischen Menschen zum Ausdruck bringt: die Objektivität.) Die Objektivitätsmaxime, Verhinderung der individuellen Willkür, bildet den Grund auch des Artikel 3 im italienischen Gesetz vom 12. Dezember 1938 („Disposizioni sull'applicazione delle leggi in generale"): „Neil' applicare la legge non si può attribuirle altro senso che quello fatto palese dal proprio significato delle parole secondo la connessione di esse, e dalla intenzione del legislatore. - Se una controversia non può essere decisa con una precisa disposizione di legge, si ha riguardo alle disposizioni che regolano casi simili ο materie analoghe; se il caso rimane ancora dubbio, si decide secondo i principii generali dell'ordinamento giuridico dello Stato". 12 Die Beispiele könnten beliebig vermehrt werden. Welches ist die Effektivität der im Gesetz enthaltenen Auslegungs- und Lückennormen? In welchem Maße vermögen sie das Handeln der Richter zu beeinflussen? Entscheidend ist dabei die Stellung, die diesen Normen in der herrschenden Rechtsüberzeugung der Gemeinschaft zukommt. Als Beispiel mag hier das finnische Recht angeführt werden. Die oben zitierte Auslegungsund Lückennorm wurde in das schwedische Gesetzbuch vom Jahre 1734 aus den „Richterregeln" übernommen. 13 Diese Regeln sind wahrscheinlich in den Jahren 1524 - 1531 vom schwedischen Reformator Olaus Petri auf Grundlage alter schwedischer, römischrechtlicher und kanonischer Rechtsgrundsätze verfaßt worden. 14 Leitgedanken der Richterregeln ist die Verantwortlichkeit des 11
Dieses für die Lückenfälle vorgeschriebene Prinzip soll offenbar auf die Gesetzesauslegung ausgedehnt werden. P. Tuor, Das schweizerische Zivilgesetzbuch, Zürich 1940, S. 30: „Was der Art. 1 von der Gesetzesergänzung sagt, gilt auch für die Gesetzesauslegung". - Hier werden also positivrechtliche Auslegungsnormen bei ihrer eigenen Auslegung durch positivrechtliche Lückennormen ergänzt. 12 Wir haben die italienischen Auslegungs- und Lückennormen ausführlich zitiert, weil sie zu den neuesten auf diesem Gebiete gehören. Die ältere italienische Lückennorm vom Jahre 1865 sprach von den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen". Um eine naturrechtlich-metaphysische Auslegung dieser Lückennorm auszuschließen, spricht das neue Gesetz von den „allgemeinen Grundsätzen der staatlichen Rechtsordnung". Motive des italienischen Justizministeriums: „... una modificazione non soltanto di natura formale ..." 13 Das Prozeßrecht dieses Gesetzbuches - in manchen Punkten zwar modernisiert ist geltendes Recht in Finnland. 14 Àke Holmbäck, Vâra domarregler, in: Festskrift tillägnad Axel Hägerström, Uppsala 1928, insbes. S. 266; W. Sjögren, Förarbetena tili Sveriges Rikes Lag 1686 - 1736. 7*
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Richters vor Gott, die hohe ethische Würde seines Berufes, seine Pflicht zur unbedingten Unparteilichkeit und Objektivität. Diese altehrwürdigen Richterregeln werden noch heute sowohl in Schweden als auch in Finnland an den Ehrenplatz aller Gesetzeseditionen gestellt. 15 Im Richtereid, den jeder finnische Richter ablegen soll, wird die Objektivität, Gewissenhaftigkeit und Unparteilichkeit ihm zur unbedingten Pflicht gemacht. 16 In der herrschenden, auf jahrhundertelange Tradition zurückgehenden Rechtsüberzeugung Finnlands nimmt somit der Objektivitätsgrundsatz eine zentrale Stellung ein. Dadurch wird die Effektivität der Auslegungs- und Lückennorm wesentlich erhöht. Neben den positivrechtlichen Auslegungs- und Lückennormen tragen die von der Rechtstheorie entwickelten Leitsätze für die Gesetzesauslegung und Lückenentscheidung zur Objektivität der Rechtsprechung bei. Sie können ihre Autorität nicht wie die Rechtsnormen auf den Machtapparat des Staates stützen, sondern nur auf den Wahrheitswert ihrer Begründung. Der Aufbau dieser Auslegungs- und Lückenlehren fällt prinzipiell in das Gebiet der allgemeinen Rechtslehre. Obgleich rechtstheoretische Forschung zur Klärung der Gesetzesauslegung und des Lückenproblems während der letzten Jahrzehnte in allen Kulturstaaten intensiv betrieben wurde, sollte man sich doch vor einer myopischen Täuschung schützen. Die führenden Gedanken auf diesen Gebieten sind nicht von gestern, sondern sie wurden durch jahrhundertelange Arbeit vieler Juristengenerationen auf der Grundlage des antiken Rechtserbes aufgebaut. Je mehr wir uns in die Geschichte der Gesetzesauslegung und des Lückenproblems vertiefen, desto klarer wird uns diese Tatsache. Oft gilt es nur eine Umformulierung schon längst gewonnener Erkenntnisse: jedes Zeitalter hat seine ,Sprache'. Die Ergebnisse der Antike wurden in das mittelalterliche Gewand umgekleidet, dieses wieder in die naturrechtliche Tracht gesteckt und die naturrechtlichen Wendungen endlich in eine positivistische Sprache gekleidet. Auf wenigen Gebieten fühlen wir die Einheitlichkeit und Kontinuität der europäischen Rechtskultur so stark wie eben hier. So steht der Begriff ,ratio legis' heute wie vor Jahrhunderten im Mittelpunkt der Auslegungslehre. Die althergebrachten 15
Mit „Gesetzesedition" wird hier das Sammelwerk gemeint, wo die wichtigsten das bürgerliche Rechtsleben regelnden Gesetze und Verordnungen (auch Straf- und Prozeßrecht) gesammelt sind. Das Sammelwerk wird durch häufige Neuauflagen zeitgemäß erhalten: die „Richterregeln" aber stehen immer am Anfang. Manche ihrer Grundsätze müssen sowohl in Schweden als auch in Finnland als geltendes Gewohnheitsrecht angesehen werden. Einige von ihnen waren ja von Anfang an nur Aufzeichnungen des geltenden Gewohnheitsrechtes, das sich teilweise schon im Mittelalter gebildet hat. 16 Vgl. Jan Eric Almqvist, Domareden i historisk belysning, in: Svensk Juristtidning 1944, S. 44ff. - Die ungebrochene Entwicklungslinie dieses Eides kann bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden. Siehe P. Abrahamsson, Sweriges Rijkes Lands-Lag, Stockholm 1726, Tingmala Balker, Kap. I. u. II.
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,brocades' und ,adages' der traditionellen französischen Auslegungslehre, was sind sie anders als ein Konzentrat der Erfahrungen vieler Juristengenerationen. Und ihren Gedankeninhalt finden wir wieder in den Auslegungs- und Lückentheorien eines beliebigen modernen Lehrbuches 17 . Das Lückenproblem als selbständiges Problem ist aber erst in den letzten Jahrzehnten in den Vordergrund getreten: früher, als die soziale Wirklichkeit recht stabil war, trat das Bedürfnis einer Lückenlehre nicht hervor. Können die Auslegungs- und Lückenlehren, so wie sie1 heute vorliegen, zur Objektivität der Rechtsprechung beitragen? Die wichtigste Voraussetzung für eine bejahende Antwort liegt in der einheitlichen Tradition der europäischen Rechtskultur. Sie hindert die Zersplitterung dieser Lehren in ein trostloses Wirrwarr sich widerstreitender Lehrmeinungen. Scheinbar unversöhnliche Gegensätze (z.B. die subjektiven und objektiven Auslegungstheorien) können auf der Grundlage dieser Tradition zu einer vernünftigen Kompromißlösung gebracht werden. - Durch eine geeignete Juristenerziehung werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Richter im Geiste der traditionellen europäischen Rechtskultur arbeiten. Oben wurde von den Auslegungs- und Lückenlehren als normativen, praktische Handlungsmaximen aufstellenden Lehren gesprochen. In diesem Sinne sind sie auch tatsächlich Jahrhunderte hindurch betrieben worden. Jetzt aber, wo die allgemeine Rechtslehre als eine selbständige, streng theoretische Wissenschaft zum Selbstbewußtsein erwacht ist, entsteht die Frage: Können eine normative Lehre von der Gesetzesauslegung und eine normative Lückentheorie wissenschaftlich begründet werden? Die Antwort muß eine verneinende sein. Die Theorie kann Tatsachen feststellen, den zwischen ihnen waltenden Gesetzmäßigkeiten gedanklichen Ausdruck verleihen, nie aber Normen in einer objektiv begründeten Weise vorschreiben. 18 17 Z.B. „Incivile est, nisi tota lege perspecta ... judicare vel respondere" (Dig. I, 3, 28): der Ganzheitsgrundsatz. - „Ubi eadem est legis dispositio": Analogiegrundsatz. „Qui dicit de uno negat de altero": Umkehrschluß. 18 Zwischen Auslegungs- und Rechtsquellenlehre besteht ein enger Zusammenhang. Der dänische Forscher Alf Ross, dessen Beiträge zur Rechtsquellenlehre äußerst bedeutend sind, nimmt jetzt den Standpunkt ein, daß diese Lehre rein deskriptiv-psychologisch aufgebaut werden muß: Laerebog i Folkeret. Almindelig Del, Köbenhavn 1942. Er behandelt in diesem Werke, bevor er auf die Quellen des Völkerrechts eingeht, in einem Spezialkapitel „die allgemeine Rechtsquellenlehre" (S. 94 - 98). „Rechtsquelle bedeutet diejenigen allgemeinen Faktoren (Motivenkomponenten), die für den Richter bestimmend sind beim Festsetzen des konkreten Rechtsinhalts in der Rechtsentscheidung" (S. 96). - „Überhaupt ist die Vorstellung, daß die „Gültigkeit" des Rechts aus gewissen Quellen „hergeleitet" werden kann, metaphysisch" (S. 95). Ross hat einen beträchtlichen Teil seiner Forschungen zur Rechtsquellenlehre in dänischer Sprache publiziert. Besonders hervorzuheben: Retskilde og Metodelaere i realistisk Belysning, in: Tidsskrift for rettsvitenskap, 1931, Virkelighed og Gyldighed i Retslaeren, ibid. 1932, Den rene Retslaeres 25-Aars Jubileum, ibid. 1936, Rettens Grundproblemer, ibid. 1940. - Besonders hervorzuheben: Alf Ross, Towards a realistic Jurisprudence, Copenhagen 1946, S. 125 - 158.
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Die traditionellen Auslegungs- und Lückenentscheidungsmaximen, die zum Grundbestand der Richterausbildung in den heutigen Kulturstaaten gehören, sind nicht von der reinen Theorie ausgearbeitet, sondern durch die Erfahrung vieler Juristengenerationen. Diese Maximen wurden hervorgerufen durch die zwingenden Bedürfnisse der Rechtsgemeinschaften. Für die allgemeine Rechtslehre ist es von besonderem Interesse festzustellen, daß diesen Bedürfnissen eine hochgradige Konstanz innewohnte. In jeder Gemeinschaft, die eine rechtliche Organisationsform besitzt, müssen bei der Gesetzesauslegung und Lückenentscheidung Grundsätze befolgt werden, die dem Wesen des Rechts als einer soziologischen Konstante entsprechen. Wir legen aber diesem ,Wesen4 des Rechts keinen metaphysisch-religiösen Sinn bei: unser Ausgangspunkt ist die relativ hochgradige Konstanz des Phänomens ,Recht4 unter den verschiedensten zeitlichen und geographischen Bedingungen. Aus dieser soziologischen Konstante können aber auf theoretischem Wege keinerlei Leitsätze für die Gesetzesauslegung und Lückenentscheidung deduziert werden. Die allgemeine Rechtslehre kann aber die durch praktische Bedürfnisse der Rechtsgemeinschaft hervorgerufenen, mehr oder weniger zweckmäßigen Leitsätze durch Erfahrungstatsachen stützen oder eben auf Grund solcher Tatsachen kritisieren. Ihre eigentliche Aufgabe aber besteht hier in der Schöpfung einer rein theoretischen Lehre von der Rechtsprechung. Dabei wird sie Nutzen aus der modernen Psychologie, insbesondere aus der Sozialpsychologie ziehen. 19 Eine Sprachanalyse im Geiste der neuen wissenschaftlichen Logik (Logistik) sollte hier parallel mit der psychologischen Analyse geführt werden. Eine solche Kombination könnte die Auslegungs- und Lückenlehre einen großen Schritt auf dem Wege zu einer strengen Wissenschaftlichkeit weiterführen. Kann eine solche deskriptive, keine Leitsätze aufstellende Auslegungs- und Lückentheorie die Objektivität der Rechtsprechung fördern? Auf den ersten Blick scheint die Antwort eine verneinende zu sein. Bei genauerem Zusehen muß aber festgestellt werden, daß eine rein theoretische, im strengsten Sinne sachliche und wissenschaftlicher Beleuchtung dessen, was bei der Rechtsprechung vorgeht, nur objektivierend wirken kann. Hier besteht eine Analogie zwischen wissenschaftlicher und richterlicher Objektivität. Es ist durchaus kein Zufall, daß François Gény in seinen tiefgehenden Forschungen über das Auslegungsproblem eine objektive Stütze bei der Lückenentscheidung in „la libre recherche scientifique" sieht. 20 Gény s Auslegungs- und Lückenlehre ist aber nicht eine deskriptive. Er sucht auf Grundlage der „données" (données naturelles, historiques, ration19
Alf Ross hat in seinen rechtstheoretischen Forschungen den psychologischen Aspekt gut hervorgehoben. 20 Z.B. Méthode d'interprétation et sources en droit privé positif, II, 2. Aufl., Paris 1919, S. 407.
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nelles, idéales) durch wissenschaftliche Forschung zu gichtigen', objektiv gutzuheißenden Entscheidungsschemen zu kommen. 21 Es scheint uns aber, daß Gény durch seine Kritik der traditionellen Auslegungslehre den Weg für eine deskriptive Auslegungs- und Lückenlehre bereitet hat. Die metaphysischen Ausgangspunkte Génys, worauf er seine normative Grundanschauung baut, halten einer kritischen Analyse nicht stand. Es ist aufschlußreich, diese Ausgangspunkte mit den Axiomen der katholischen Rechtsphilosophie zu vergleichen. 22 Von einer deskriptiven Auslegungs- und Lückenlehre muß gefordert werden, daß sie auch die Gesetzestechnik umfaßt. Aufbau und Auslegung des Gesetzes gehören organisch zusammen, man kann das eine ohne das andere nicht verstehen. 23 In früheren Zeiten, wo die Gesetze verhältnismäßig stabil waren, wurde der Gesetzestechnik keine große Beachtung geschenkt. Jetzt aber, wo die Gesetzgebungsmaschinerie unter Hochdruck arbeitet, besteht ein soziales Interesse daran, daß die Gesetzestechnik wissenschaftlich klargelegt wird 2 4 und daß diese Klarlegung mit der Auslegungslehre zu einer Synthese verschmolzen wird. Die Gesetze sind dem heutigen Richter nicht mehr über den Wolken thronende, göttlich-metaphysische Gegebenheiten, sondern durch eine rationale Technik zustande gebrachte Gebilde (Gestalten, Ganzheiten), die nur im Lichte der Technik richtig verstanden werden können. Der Wert einer deskriptiven Auslegungslehre wird durch die Einbeziehung der Gesetzestechnik wesentlich erhöht. Enthalten nicht die prinzipiell anfechtbaren normativen Auslegungstheorien der letzten Jahrzehnte dazu noch ein Element, das die richterliche Objektivität ernstlich gefährdet? Wir denken an die Lehre, wonach eine Entscheidung contra legem unter gewissen Voraussetzungen zulässig, ja sogar geboten 21 Die Lehre Génys von den „données" sowie die Gedanken Eugen Hubers über die Realien der Gesetzgebung verdienen beim Aufbau einer allgemeinen Rechtslehre ernsteste Beachtung. Der Inhalt dieser ,Gegebenheiten', dieser ,Realien' ist variabel. Sie selbst aber sind soziologische Konstanten. Ihre begriffliche Gruppierung bei Gény dürfte kaum eine glückliche sein. 22 Z.B. Alice Piot, Droit naturel et réalisme, Paris 1930, S. 74ff.; Louis Le Fur, Les grands problèmes du Droit, Paris 1937, insbes. Kap. I, IV u. V; R. P. Sertillanges, La philosophie des lois, Paris 1946, Kap. II, „Loi éternelle et loi naturelle", Kap. III, „Les lois humaines". - Theologisierende protestantische Rechtstheoretiker können auch zum Vergleich herangezogen werden. Z.B. der finnische Rechtsphilosoph RobertHermanson, Det rätta och dess samband med religiosa sanningar, Stockholm 1919. 23 Ähnliche Gedankengänge bei Wilhelm Sauer, Juristische Elementarlehre, Basel 1944, S. 75ff. - Vgl. W. Sauer, Juristische Methodenlehre, Stuttgart 1940, S. 434: „richterliche Praktikabilität". - Die Schule Kelsens hebt mit Recht hervor, daß der Unterschied zwischen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung durchaus relativ ist. Kelsen, Reine Rechtslehre, Leipzig u. Wien 1934, S. 82: „Die meisten Rechtsakte sind zugleich Akte der Rechtserzeugung und Akte der Rechtsvollziehung". 24 Symptomatisch die Diskussionsfrage auf der dritten Tagung des finnischen Juristenbundes: „Über die Effektivisierung der Gesetzesvorbereitung", 31. 5.1947. - Referent der frühere Kanzleichef des Justizministeriums Reino Kuuskoski.
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ist. Die Antwort hängt davon ab, wie diese Voraussetzungen formuliert werden. Die extrem freirechtlichen Lehren vom „Richterkönigtum" verdienen keine ernste Beachtung. 25 Wenn aber diese Voraussetzungen mit genügender Vorsicht formuliert werden, ζ. B. so, daß sich der Richter bei der Gesetzesauslegung fortwährend von einer Ganzheitsbetrachtung leiten lassen soll, d.h. daß er jede einzelne Norm als Element eines Rechtsganzen auslegt, dann erweist sich das Problem des ,judicare contra legem' als ein Scheinproblem. Die auf eine Ganzheitsbetrachtung fußende Auslegung stellt ja erst fest, was als objektiver Inhalt des Gesetzes angesehen werden kann. Wenn nun der Richter einen auf den ersten Blick annehmbaren, vielleicht auf eine isolierte Gesetzesstelle gestützten Entscheidungsplan verwirft, weil dieser Plan im Lichte der Ganzheitsbetrachtung sich als unrichtig erweist, so entscheidet er nicht contra legem, sondern secundum legem. In Wirklichkeit liegt hier das altbekannte Problem der einschränkenden Auslegung vor. Es wird nur in der ersten Auslegungslehre realistischer und offener beleuchtet als in der alten. Ein Ausbau der positivrechtlichen Auslegungs- und Lückennormen auf der Grundlage der bedeutenden Ergebnisse, die von der Theorie in den letzten Jahrzehnten erzielt worden sind, würde zur Effektivität dieser Normen beitragen. Eine übertriebene Vorsicht und ein damit zusammenhängender möglichst weit getriebener Lakonismus sind dabei nicht am Platze. Die Lehre von der Gesetzesauslegung und von der Lückenprüfung kann doch eine Menge von Resultaten aufzeigen, über die keine nennenswerte Meinungsverschiedenheit mehr herrscht. Die Schwierigkeit liegt aber in der gesetzlichen Formulierung dieser Ergebnisse und darin, daß sie durch die nimmer ruhende rechtstheoretische Forschung überholt werden könnten. Die in Finnland und Schweden auf der Grundlage der alten Richterregeln erzielten Erfahrungen scheinen aber zu lehren, daß diesen Modifikationen keine übertriebene Bedeutung zukommt, wenn nur die Auslegungs- und Lücken Vorschriften mit Weitblick formuliert werden. Vielleicht stehen wir hier vor relativ konstanten Grundprinzipien des rechtlichen Denkens an sich. - Wenn aber die positiven Rechtsordnungen, wie heute, Auslegungs- und Lückennormen entweder gar nicht 25
Kulturgeschichtlich kann die Freirechtsbewegung wohl in Zusammenhang gesetzt werden mit den starken irrationalen Strömungen, denen das europäische Geistesleben in den letzten Jahrhunderten ausgesetzt war. Die Zurückführung des rechtlichen Denkens auf im Grunde irrationale Wertungen, die Hervorhebung der Richterpersönlichkeit, die Bekämpfung der rationalen ,Begriffsjurisprudenz', das Überhandnehmen der Blankettnormen - dies alles deutet auf solche Strömungen hin. Andererseits darf aber nicht geleugnet werden, daß die Freirechtsbewegung durch ihre Kritik eine rationale, metaphysikfreie Auslegungstheorie gefördert hat. - Die furchtbaren geschichtlichen Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte haben bewiesen, daß das Bild des irrationalen Menschentieres richtiger ist als ein rationales, idealisiertes Menschenbild. Alles deutet darauf hin, daß die nächste Zukunft diesen düsteren Beweis nur verstärken wird. - Als einen entscheidenden Faktor beim Hervortreten der Freirechtsbewegung müssen die Änderungen in der wirtschaftlichen Struktur der abendländischen Staaten hervorgehoben werden. Althergebrachte Rechtsformeln erwiesen sich als ungenügend.
II. 8. Die Rechtswissenschaft
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enthalten oder sie nur in äußerster Kürze formulieren, wird der für die gesamte Rechtskultur und besonders für die Rechtsprechung zentrale Wert der Objektivität nicht genügend hervorgehoben. 8. Die Rechtswissenschaft In diesem Kapitel wird die Bedeutung der Rechtswissenschaft als objektivierender Faktor bei der Rechtsprechung untersucht. Unter Rechtswissenschaft 4 wird hier diejenige Tätigkeit verstanden, die unter dem Namen Jurisprudenz', Rechtsdogmatik', Rechtswissenschaft' faktisch in den heutigen Kulturstaaten betrieben wird. Statt einer Definition einige Merkmale. Die Rechtswissenschaft ist in systematischer Form betriebene Gesetzesauslegung. Gesetzesauslegung wird in verschiedenen Situationen betrieben: der Staatsbürger in seinem täglichen Leben, der Advokat bei seiner Arbeit, der Verwaltungsbeamte in seiner Amtsausübung, der Richter bei der Rechtsprechung. In diesen beispielsweise genannten typischen Fällen steht der Ausleger des Gesetzes als Handelnder mitten in einer konkreten Lebenssituation, die seine Stellungnahme erheischt. So nicht der Rechtsforscher. 1 Seine Gesetzesauslegung arbeitet meistens mit erdachten Lebenssituationen. Er steht nicht, dem Richter ähnlich, mitten im Strom konkreter Rechtskonflikte: er konstruiert sich Rechtskonflikte am Schreibtisch. Auch wenn er wirklich vorgekommene Rechtsfälle bearbeitet, 2 sind es nur nachträgliche abstrakte Schemen einmal konkret dagewesener Lebenssituationen.3 Die Gesetzesauslegung des Rechtsforschers dient dem friktionsfreien Funktionieren der Rechtsmaschinerie, d.h., wenn wir vorläufig von der internationalen Rechtsgemeinschaft absehen, dem Funktionieren der Staatsmaschinerie. Obgleich die in der Staatsgemeinschaft herrschende politisch-weltanschauliche Ideologie zwangsläufig ihren Einfluß auf die Arbeit des Rechtsforschers ausübt (psychische Kausalitätswirkungen), ist die prinzipielle Unabhängigkeit des Rechtsforschers von der Staatsgewalt in allen Kulturstaaten anerkannt. Ein beträchtlicher Teil der Arbeit des Rechtsforschers besteht in einer didaktischen Darstellung des Inhaltes der in seiner Rechtsgemeinschaft geltenden Rechtsnormen. Die Forschungsarbeit wird meistens mit Lehrtätigkeit 1
Eine Person, die Rechtswissenschaft (Rechtsdogmatik) im oben genannten Sinne treibt, wird in diesem Kapitel Rechtsforscher' genannt. 2 Eine systematische Analyse der Präjudizien nimmt in der neueren Rechtswissenschaft eine immer zentralere Stellung ein: die Kluft zwischen den kontinentalen und den anglo-amerikanischen Rechtsordnungen verengt sich in diesem Punkte. 3 Es ist allerdings so, daß auch ein Richter, wenn er zu der vor ihm stehenden konkreten Lebenssituation im Urteile Stellung nimmt, sie letzten Endes durch Schemen betrachtet (Osvi Lahtinen). Die Ausgangslage ist aber eine gänzlich verschiedene.
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verknüpft. In der modernen Rechtsgemeinschaft, wo die Gesetzgebung sich öfters - besonders bei prinzipiell bedeutenderen Gesetzen - auf eine systematische, wissenschaftsähnliche Vorarbeit stützt (z.B. im Justizministerium), ist eine scharfe Grenze zwischen Theorie und Praxis kaum zu ziehen. Das juristische Denken des Gesetzgebers, des juristisch geschulten Beamten, des juristisch geschulten Anwalts zeigt Analogien mit der Denkweise des Rechtsforschers. Dieser Annäherungsprozeß kann wohl mit einer zunehmenden Rationalisierung der modernen Kulturgemeinschaft in Verbindung gebracht werden. Der wissenschaftsähnlichen Einstellung kommt in dieser Gemeinschaft auf allen Gebieten eine immer größere Bedeutung zu. Ist die Rechtswissenschaft' eine Wissenschaft? Ist die Arbeit des Rechtsforschers' Forschung im strengen Sinne des Wortes? Diese Arbeit besteht ja in Gesetzesauslegung und dient praktischen Zwecken. Wenn das Wort ,Wissenschaft' in einem Sinne gebraucht wird, der nur eine rein theoretische Betätigung umfaßt, eine systematische begriffliche Darstellung der Struktur eines Wissensgebietes, dann muß der Rechtswissenschaft', Rechtsdogmatik', Jurisprudenz' der Wissenschaftscharakter abgesprochen werden. Die Arbeitsweise der Rechtsforscher zeigt aber manchmal Merkmale, die eine weniger strenge Anwendung des Wortes ,Wissenschaft' hier nicht ganz ausgeschlossen erscheinen läßt. Rechtsforscher erstreben eine systematische Behandlung ihres Objektes und suchen ihre Urteile sachlich, objektiv zu begründen. Sie bedienen sich dabei einer Denkweise, die an das Denken der strengen theoretischen Wissenschaften einigermaßen erinnert. Wenn man noch in Betracht zieht, daß die Rechtsforschung in den modernen Kulturstaaten meistens im äußeren Rahmen der Universitäten betrieben wird (juristische' oder ,rechtswissenschaftliche' Fakultäten), könnte man vielleicht die Rechtsforschung im vorhergenannten Sinne unter den etwas zweifelhaften Begriff praktische Wissenschaft' bringen. Fraglich ist aber, ob nicht dieser Begriff einen inneren Widerspruch enthält. Wirkliche Wissenschaft ist reine Theorie und mag nicht mit der Praxis vermengt werden. 4 Eine solche klare Grenzziehung ist eine bleibende Errungenschaft des genialen griechischen Geistes. Die römische Jurisprudenz, aus der die heutige Rechtsdogmatik organisch entstanden ist, war eben keine theoria im griechischen Sinne. Sie war eine rein praktisch eingestellte Kunstlehre - allerdings hochinteressant vom Standpunkte der Methodik des juristischen Denkens (weitgetriebene Schematisierung). Wenn wir aber trotzdem die moderne Jurisprudenz mit dem Namen Rechtswissenschaft' bezeichnen, so geschieht das aus zwei Gründen. Erstens 4
Wenn von der Medizin oder von der Pädagogik als praktischer Wissenschaften' geredet wird, scheint dies auf einer Unklarheit zu beruhen. Sie sind im Grunde nur eine Technik, in die aus verschiedenen theoretischen Forschungsgebieten zusammengetragene Elemente untergebracht werden.
II. 8. Die Rechtswissenschaft
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folgen wir dem eingebürgerten Sprachgebrauch. Zweitens: wenn man der systematisch, in wissenschaftsähnlichen Formen betriebenen Gesetzesauslegung den Wissenschaftscharakter zuerkennt, kann man von dieser Gesetzesauslegung auch fordern, daß sie bei ihrer Arbeit möglichst objektiv und wissenschaftlich verfährt. Man kann eine rationale, antimetaphysische Rechtsbetrachtung fordern, ein Verlassen längst überlebter scholastischer Gedankengänge und ewiger Scheinprobleme. Dieses könnte wohl für die Rechtskultur nur von Nutzen sein.5 Die positiven Rechtsordnungen nehmen zur Jurisprudenz verschiedenartig Stellung. Meistens wird sie in denjenigen Rechtsnormen erwähnt, die eine höhere Juristenausbildung zur Voraussetzung der Ernennung zu bestimmten Ämterkategorien machen. Im schweizerischen Recht wird aber „bewährte Lehre" („doctrine") auch in den Auslegungsnormen genannt. In der am 17. 3. 1931 festgestellten Arbeitsordnung für den Höchsten Gerichtshof Finnlands wird in § 16 den Referenten zur Pflicht gemacht, bei ihren schriftlichen Referaten „bei Bedarf auf die Literatur und die Judikatur zu verweisen". Eine entsprechende Bestimmung enthält die Arbeitsordnung des finnischen Höchsten Verwaltungsgerichtshofes. Auch ohne jegliche Erwähnung in den Normen des positiven Rechts (Gesetz, Arbeitsordnungen der Gerichte) übt die Jurisprudenz in der Rechtsprechung ihren Einfluß aus. So besonders in den höheren Instanzen, wo eine einigermaßen ruhige Arbeitsatmosphäre die Beachtung der Jurisprudenz fördert. Bei den finnischen Hofgerichten (zweite Instanz) wird die Jurisprudenz in weitem Ausmaße beachtet, obgleich ihre Arbeitsordnungen sie nicht erwähnen. Höhere Gerichte besitzen wohl meistens (in Finnland immer) jede ihre rechtswissenschaftliche Bücherei (in- und ausländische Literatur, Zeitschriften). Die immer stärkere Stellung der Rechtswissenschaft innerhalb der Rechtspflege ist ein Ausfluß der früher erwähnten allgemeinen Rationalisierungstendenz im modernen Kulturstaat. 5 Bei unseren Erörterungen über die prinzipielle Stellung der Jurisprudenz, Rechtsdogmatik, Rechtswissenschaft oder wie immer sie genannt wird, sind wir - wie eingangs erwähnt - von derjenigen Art der Rechtsforschung ausgegangen, die faktisch in den modernen Kulturstaaten betrieben wird. Es sind aber auch Versuche gemacht worden, die Bearbeitung des positiven Rechts auf eine ganz neue, streng wissenschaftliche Grundlage zu stellen, es von der praktisch eingestellten, unmittelbar der Rechtsmaschinerie dienenden Gesetzesauslegung loszulösen. So insbesondere in den Vereinigten Staaten. Κ. N. Llewellyn , The normative, the legal, and the law-jobs: the problem of juristic method, in: The Yale Law Journal 49 (1940), S. 1355 - 1400, Poul Mikael Sachs, Retsvidenskapens Stilling i U.S.A., in: Tidsskrift for rettsvitenskap, Oslo (1938), S. 432ff., Vilhelm Aubert, Om rettsvitenskapens logiske grunnlag, in: ibidem (1943) eine hervorragende Klarstellung der logischen Grundlage der Rechtswissenschaft im Geiste der Logistik. - Gegen Aubert: Edvard Lochen, Om rettsvitenskap, ibid. (1944), S. 3ff.: Verteidigung des traditionellen Standpunktes. - Diese Versuche sind methodisch interessant; doch können wir im Rahmen dieses Buches nicht näher auf sie eingehen. Eine solche streng wissenschaftliche positivrechtliche Forschung würde die seit Jahrhunderten eingebürgerte systematische Gesetzesauslegung nicht entbehrlich machen.
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Die Einstellung der Richter zur Jurisprudenz ist eine verschiedene. Es gibt Richter, die nicht nur die Rolle der Jurisprudenz voll anerkennen, sondern sich darüber hinaus erfolgreich als Theoretiker betätigen. 6 Durch langjährige Erfahrungen im Vereine „Juridiska Föreningen i Finland" (Verein finnländischer Juristen schwedischer Sprache) haben wir festgestellt, daß unter den in diesem Vereine zahlreich vertretenen Richtern des Höchsten Gerichtshofes und des Rathausgerichtes von Helsinki ein starkes Interesse für rechtswissenschaftliche Fragen besteht. Diese Richter treten häufig als sachkundige Referenten rechtswissenschaftlicher Diskussionsfragen auf. Eine positive Einstellung des Richters zur Jurisprudenz bedeutet aber nicht, daß er sie unnötigerweise heranzieht. Jeder, der als Staatsbeamter auf dem Gebiete der Rechtsprechung und der Verwaltung gearbeitet hat, weiß aus eigener Erfahrung, daß die Jurisprudenz bei Erledigung der täglich vorkommenden gewöhnlichen Geschäfte als eine bloße Last empfunden werden kann. Die Rechtswissenschaft wird nur bei schwierigen Prinzipfragen vom Praktiker angerufen, und es bleibt seiner Prüfung unterstellt, wo er die Grenze zieht. 7 Im heutigen Staate steht die Ausbildung und fortlaufende Schulung der Juristen auf rechtswissenschaftlicher Basis (Hochschulstudien, Fachzeitschriften, Juristenvereine). Die Rechtswissenschaft bedeutet für den Richter somit nicht eine äußerliche Stütze, sondern sie ist zu einem organischen Teile seiner Denkweise, seiner ganzen Persönlichkeit geworden. Auf Grund dieser rechtswissenschaftlichen Schulung vermag er die überwiegende Mehrzahl der Fälle selbständig zu entscheiden, ohne daß er jedes Mal ein rechtswissenschaftliches Buch aufschlägt. Die rein praktische Arbeit muß so schnell erledigt werden, daß keine Zeit für rechtswissenschaftliches Nachschlagen übrig bleibt. In keinem Falle aber hat der Richter Zeit, eine selbständige wissenschaftliche Nachprüfung des zu entscheidenden Falles vorzunehmen. Meistens fehlt ihm auch die Fähigkeit dazu. Er kann nur eine kritische Würdigung der schon vorliegenden rechtswissenschaftlichen Forschungsresultate vornehmen. 8 Ohne ein kritisches Urteilsvermögen kann die Rechtswissenschaft sogar einen ungünstigen Einfluß auf die Rechtsprechung ausüben. Ein unkritischer Richter wird leicht in das Gedankennetz der Jurisprudenz verstrickt, er wendet die abstrakten rechtswissenschaftlichen Schablonen mechanisch auf die unendlich 6
So ist der bedeutende finnische Forscher auf dem Gebiete der allgemeinen Rechtslehre, Bror Clas Carlson , seit Jahrzehnten als Richter tätig. (Jetzt am Höchsten Gerichtshof.) 7 Die Verschiedenheiten hierbei sind persönlichkeitspsychologisch bedingt. 8 Das schweizerische Zivilgesetzbuch spricht hier von „Lehre". Gut der französische Text: „... le juge s'inspire de la doctrine ...". Vgl. Pierre Lucien-Brun, Le rôle et les pouvoirs du juge dans le code civil suisse, Grenoble 1920, S. 28. - Alfred Martin, Observations sur les pouvoirs attribuées au juge par le code civil suisse, Genève 1909, S. 23. - Max Gmür, Die Anwendung des Rechts nach Art. 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuches, Bern 1908. - Hans Reichel, Zu den Einleitungsartikeln des schweizerischen Zivilgesetzbuches, Festgabe für Rudolf Stammler, Berlin 1926, S. 345.
II. 8. Die Rechtswissenschaft
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feinen Abstufungen des konkreten Lebens an. Hier liegt wohl auch ein Grund der abneigenden Haltung mancher Richter gegenüber der Rechtswissenschaft. Nimmt man aber die Rechtsprechung des Staates als Ganzes, so ist eine weitgehende aber kritische Benutzung der Resultate der Jurisprudenz durch die Richter vorteilhafter als Gleichgültigkeit oder ängstliche Ablehnung. Der Wert rechtswissenschaftlicher Forschungsresultate für die Rechtsprechung ist von mehreren Faktoren abhängig. Weil das Objekt der rechtswissenschaftlichen Forschung, das positive Recht, fortwährenden Änderungen unterliegt, kommt es häufig vor, daß Forschungsergebnisse veralten. Oft werden die Gesetze gerade an solchen Punkten abgeändert, die durch ihre Unklarheit oder Lückenhaftigkeit der Jurisprudenz Anlaß zu eingehenden Erörterungen gegeben haben. Wenn man aber von der Gesetzesänderung und vom derogierenden Gewohnheitsrecht absieht, kann der Zeitablauf die Autorität der rechtswissenschaftlichen Forschungsresultate auch stärken: sie können zur „bewährten Lehre" werden. Eine rechtswissenschaftliche Lehre kann sich letzten Endes nur durch ihren inneren Halt bewähren. Dieses aber setzt eine richtige Forschungsmethode voraus. Streng genommen kann bei einer sog. praktischen Wissenschaft' wie der Jurisprudenz nicht von einer nichtigen', sondern nur von einer fruchtbaren Methode gesprochen werden. Wertungsmaßstab beim Bestimmen der Fruchtbarkeit ist das Totalziel der betreffenden Wissenschaft. Totalziel der Jurisprudenz ist eine begründete systematische Auslegung des positiven Rechts, wodurch das reibungslose Funktionieren der Rechtsmaschinerie ermöglicht wird. Eine begründete Gesetzesauslegung setzt voraus, daß die den Rechtsnormen zu Grunde liegenden sozialen Zwecke objektiv klargelegt werden. Die Rechtsnormen sind nie Selbstzweck, sondern immer Mittel. Die Rechtswissenschaft muß aus diesem Grunde im vollen Sinne eine Sozialwissenschaft sein. Aufgabe der traditionellen Rechtswissenschaft ist das Ausarbeiten und das Systematisieren des Gedankeninhalts der Rechtsnormen. Diese Aufgabe kann aber nur auf Grundlage einer stetigen sozialen Zweckbetrachtung erfüllt werden. Nur diese Methode ist in der Jurisprudenz, Rechtswissenschaft, fruchtbar (,richtig'). Nur eine solche Jurisprudenz kann der Rechtsprechung eine maximale Objektivitätsgarantie bieten. 9 9 Alle Rechtswissenschaft ist Begriffsjurisprudenz. Die Begriffsjurisprudenz im engeren, pandektologischen Sinne aber löste das Band zwischen dem Gedankeninhalt der Rechtsnormen und ihrer sozialen Zweckunterlage zu sehr. Gänzlich abgeschnitten wurde dieses Band nie. Die Pandektologie kann ja als ein Versuch angesehen werden, die gewaltigen Errungenschaften der römischen Rechtskultur in modifizierter Form der modernen Rechtsgemeinschaft nutzbar zu machen. - Man kann die Einstellung der Begriffsjurisprudenz psychologisch aus dem reinen Forschungstrieb erklären, der ein in sich geschlossenes Gedankensystem zu bauen suchte. Dieser Versuch mußte daran scheitern, daß die Jurisprudenz eben keine Wissenschaft im strengen Sinne ist und daß ihr System aus diesem Grunde immer ,offen' bleiben muß - so unangenehm es der Forscher auch fühlen mag. Das Objekt der Jurisprudenz steht ja im beständigen Flusse (Kirchmann).
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Die wissenschaftliche, ja auch die wissenschaftsähnliche Einstellung wird von der Objektivitätsmaxime gekennzeichnet: alle Sätze der Jurisprudenz sollen somit rein sachlich, d.h. so begründet werden, daß die Gründe prinzipiell von jedem Subjekt anerkannt werden müssen. Wenn in die Begründung individuell-subjektive Elemente eingehen, ist der betreffende Satz nicht wissenschaftlich gesichert. Zwischen der Einstellung des Forschers und derjenigen des Richters besteht also eine Analogie: Die Objektivitätsmaxime nimmt in beiden Fällen eine zentrale Stellung ein. Wie schon hervorgehoben wurde, wird das System des positiven Rechts nicht von der Jurisprudenz vorgefunden, ,bloßgelegt', sondern wird von ihr durch zielbewußte Arbeit erst erstrebt. Auch in den heutigen Rechtsgemeinschaften, wo die Gesetze machmal vom Gesetzgeber in systematischer Form ausgearbeitet sind, ist das rechtswissenschaftliche System prinzipiell eine selbständige Schöpfung der Forschung, mag dieses System inhaltlich noch so viel mit den in den Gesetzen vorliegenden Systemfragmenten übereinstimmen. Im juristischen Sprachgebrauch wird oft nicht genügend zwischen Rechtsordnung' und ,Rechtssystem' unterschieden: es wird unbedenklich von Rechtssystem gesprochen, wo Rechtsordnung gemeint wird. Das System gehört aber in das Gebiet der Theorie, die Ordnung, hier Rechtsordnung, in das Gebiet der Praxis. Die ständige Vermischung wird wohl durch die praktische Natur der Jurisprudenz gefördert. Kommt der vergleichenden Rechtswissenschaft irgendwelche Bedeutung als Objektivitätsgarantie bei der Rechtsprechung zu? Die vergleichende Rechtswissenschaft ist zweifellos eine echte Wissenschaft. Als selbständige Theorie ist sie aber noch jung und kommt in verschiedenen methodischen Schattierungen vor. Auf die Rechtsprechung wird sie kaum einen direkten objektivierenden Einfluß ausüben. Wohl aber einen indirekten. Die rechtsvergleichenden Bruchstücke, die in der Rechtswissenschaft enthalten sind, können wesentlich zu einer sachgemäßen Auslegung positivrechtlicher Bestimmungen beitragen und dadurch die Rechtsprechung im objektivierenden Sinne mittelbar beeinflussen. Wenn die soziale Wertstruktur der zum Vergleich angezogenen Rechtsgemeinschaft und die Wertstruktur derjenigen Rechtsgemeinschaft, zu dem der Richter gehört, einander ähnlich sind, wird die Bedeutung der Rechtsvergleichung gesteigert. Diese Situation liegt z.B. in den nordischen Staaten (Finnland, Schweden, Dänemark, Norwegen) vor. Oft kann eine rechtswissenschaftliche Arbeit, die in einem dieser Staaten erschienen ist, mit kleinen Vorbehalten in einem anderen bei der Rechtsprechung berücksichtigt werden. Die Gesetzgebung dieser vier Länder hat ja auch seit Jahrzehnten bewußt eine Rechtsannäherung gefördert (z.B. große Teile des Obligationen- und Familienrechts).
II.9. Präjudize
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Eine oberflächliche Rechtsvergleichung kann nicht zur Objektivierung der Rechtsprechung beitragen. Ohne auf die soziale Wertstruktur einzugehen, als deren Ausfluß die Rechtsnormen angesehen werden können, mag eine vergleichende Betrachtung allerdings zu Ergebnissen über den rein formalen Bau der verschiedenen Rechtsordnungen gelangen. Für die Gesetzesauslegung aber und für die Rechtsprechung hat ein solches Vergleichen keinen praktischen Wert. Vielmehr ist es - obgleich von größtem reintheoretischen Interesse - dem Richter sogar gefährlich, wenn er ihre Voraussetzungen und Grenzen nicht klar sieht. 10 9. Präjudize Wenn man die Objektivität der Rechtsprechung untersucht, so ist es zweckmäßig, die Rechtsprechung innerhalb einer Gemeinschaft binnen einer längeren Zeit als Ganzes zu betrachten. Dieses Ganze umfaßt dann die kontinuierliche Tätigkeit mehrerer, einander gleich- oder übergeordneter rechtsprechender Organe. Eine in diesem Sinne gefaßte Rechtsprechung wird ,einheitlich' genannt, wenn bei ihr eine Tendenz nachweisbar ist, daß immer in ähnlichen konkreten Fällen ähnliche Urteile gesprochen werden. Der Begriff ,ähnlich' wird später in diesem Kapitel erläutert. Der Begriff ,Tendenz' ist hier wegen seiner Unbestimmtheit absichtlich gewählt; eine nähere Bestimmung des Einheitlichkeitsgrades dürfte schwer sein. Durch eine einheitliche Rechtsprechung wird die (formelle) Rechtssicherheit gefördert: die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist eine Bedingung der Rechtssicherheit. Diese Einheitlichkeit bedeutet ein Akzentuieren der allem Rechte zugrunde liegenden Rationalisierungs- und Schematisierungstendenz und somit eine Schwächung der subjektiven richterlichen Willkür, eine Objektivierung der Rechtsprechung. Eine einheitliche Rechtsprechung wird auf ,Präjudize' gebaut. Unter ,Präjudiz' verstehen wir in dieser Untersuchung ein im konkreten Falle gesprochenes Urteil, das in einem späteren ähnlichen Falle als Grundlage, Modell, für ein ähnliches Urteil dient. Zwischen diesen Urteilen besteht dann eine ,Präjudizrelation'. 10 Die objektivierende Bedeutung der Rechtsgeschichte soll hier nicht behandelt werden. Ihre Bedeutung in dieser Hinsicht kann beachtenswert sein, insbesondere in Staaten und auf Rechtsgebieten, wo eine stetige Entwicklung ohne gewaltsame Umstürze stattgefunden hat. Rechtsgeschichte ist Geschichte: ihre Methode unterscheidet sich deutlich von der Arbeitsweise der Jurisprudenz und der allgemeinen Rechtslehre. In der Praxis ist aber die Grenze zwischen Rechtsgeschichte und Jurisprudenz weniger scharf: rechtsgeschichtliche sowie auch dogmengeschichtliche Hilfserörterungen tauchen regelmäßig in rechtswissenschaftlichen Forschungen auf. Ein tieferes Verständnis des geltenden Rechts ist in der Tat ohne geschichtlichen Blick unmöglich. Die objektivierende Wirkung der Rechtsgeschichte auf die Rechtsprechung geht also über die Jurisprudenz. - Die vergleichende Rechtswissenschaft kann als eine Universalrechtsgeschichte aufgefaßt werden.
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Theoretisch wäre es denkbar, daß eine einheitliche Rechtsprechung zustande kommt, ohne daß sie sich auf Präjudize stützt. In gewissem Maße ist dies auch tatsächlich der Fall: es wird durch die rationelle, auf abstrakten Rechtsnormen aufgebaute Schematisierung bei gewöhnlichen, keiner schwierigen Auslegung oder Lückenprüfung bedürftigen Fällen schon erreicht. Weil solche Fälle bei der Rechtsprechung die große Mehrzahl ausmachen, könnte man in gewissem Sinne behaupten, daß die Rechtsprechung immer einheitlich sei. So wird aber der Begriff ,einheitliche Rechtsprechung 4 gewöhnlich nicht aufgefaßt. Eine einheitliche Rechtsprechung in vollem Sinne des Wortes liegt nur dann vor, wenn auch bei schwierigen Auslegungs- und Lückenfällen - die ja prinzipiell besonders wichtig sind - eine klare Tendenz zu einheitlichen Urteilen feststellbar ist. Dieses setzt aber voraus, daß sich die Rechtsprechung weitgehend einer Präjudiztechnik bedient. Die Bedeutung der Präjudize ist nicht auf das Gebiet der Rechtsprechung begrenzt. Bei der Verwaltung können sie eine besondere Wirkung dadurch ausüben, daß in der Verwaltungshierarchie übergeordnete Organe ihre Entscheidungen zu generellen die untergeordneten Organe bindenden Normen erheben. - Ein Präjudiz setzt gewöhnlich mindestens zwei Organe voraus, in der Rechtsprechung meistens zwei Gerichte, zwischen denen das Verhältnis der Überordnung oder der Gleichordnung besteht. Das Präjudiz kann von einem übergeordneten, gleichgeordneten aber auch von einem untergeordneten Gerichte stammen. Meistens wird nur an die erste Möglichkeit gedacht, wenn von Präjudizen gesprochen wird. Die von gleichgeordneten oder untergeordneten Gerichten gefällten Urteile sind aber praktisch keineswegs bedeutungslos: stehen doch die Gerichte erster Instanz oft in einem unmittelbareren Kontakt mit der sozialen Wirklichkeit als die höheren Gerichte. Ohne eine gewisse Vereinheitlichung der Rechtsprechung gleichgeordneter Gerichte kann es zu einer schweren territorialen Zersplitterung der Rechtsprechung kommen. Die Präjudizrelation kann auch innerhalb des Tätigkeitsbereiches eines einzigen Organes bestehen: so soll die höchste Instanz nicht ohne schwerwiegende Gründe von ihren eigenen früheren Plenarentscheidungen abweichen. Das Ansehen der Rechtsprechung unter den Staatsbürgern erheischt aber, daß auch Gerichte zweiter und erster Instanz bei ihren Urteilen einem einheitlichen Kurs folgen. Die herrschende Rechtsüberzeugung übt hier einen Druck auf die Gerichtsmaschinerie. In den Rechtsordnungen, die nicht zum Gebiete der anglo-amerikanischen Rechtsideologie gehören, kommt den Präjudizen keine normativ-verpflichtende, sondern nur eine faktisch-kausale Bedeutung zu. Im anglo-amerikanischen Recht dagegen kommen ihnen beide Bedeutungen zu. Theoretisch ist es von Interesse, daß Präjudize, obgleich ihnen von der kontinentalen Rechtsideologie die normative Bindung abgesprochen wird, hier oft faktisch eine fast
II.9. Präjudize
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ebenso starke Wirkung ausüben wie im anglo-amerikanischen Recht. Die deduktive Prägung der kontinentalen Rechtsideologie, die wohl ohne eine staatsabsolutistische Einwirkung geschichtlich kaum zu erklären ist, 1 hat hier die elementare Gewalt der sozialen Tatsachen nicht brechen können. Vom Standpunkte der dem Rechte wesentlichen Rationalisierungstendenz ist wohl die kontinentale Rechtsideologie der anglo-amerikanischen gegenüber als eine ,höhere' Stufe anzusehen. Das amerikanische Recht hat sich übrigens von der ursprünglichen englischen Auffassung allmählich entfernt: die normative Bindung durch Präjudize ist weniger streng und weniger starr geworden. Entwicklungsgeschichtlich kann die englische Präjudiztechnik auf eine Stufe zurückgeführt werden, wo eine Gesetzgebung im modernen Sinne nicht bestand, sondern sich das Recht durch Fallentscheidungen allmählich, langsam kristallisierte. Eine solche Technik kann man auch als Grundlage der mittelalterlichen schwedischen Landschaftsgesetze spüren, die Aufzeichnungen mündlicher Rechts-, vor allem Gerichtstraditionen sind. Trotz Überwiegen einer deduktiv-rationalen Gesetzgebung geschieht die Fortbildung des Rechts auch heute in den kontinentalen Rechtsordnungen großenteils durch Gewohnheitsrecht, das sich aber fast unmerklich verdichtet, um letzten Endes in Gesetzesrecht überzugehen. Alle Versuche, das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle zu eliminieren, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. 2 Beim Entstehen des Gewohnheitsrechts spielt die auf Präjudiztechnik fußende Gerichtspraxis eine führende Rolle. Hier tritt die objektivierende, vom BloßSubjektiven hinwegstrebende Natur einer einheitlichen Rechtsprechung deutlich hervor. Während der letzten Jahrzehnte hat man in manchen kontinentalen Rechtsgemeinschaften eine zunehmende Bedeutung der Präjudize feststellen können. So besonders klar in den nordischen Ländern und in Frankreich. Hierbei ist aber keineswegs davon die Rede, daß die Grundlage der kontinentalen Rechtsideologie aufgegeben werde 3 und eine normative Präjudiztechnik im englischen Sinne angenommen sei. Diese Entwicklung bedeutet nur, daß die faktische Wirkung prinzipiell bedeutsamer Urteile der höchsten Instanz stark zugenommen hat. Solche Urteile werden hier ,Prinzipurteile 4 genannt. Bei anderen Urteilen ist eine Zunahme der Präjudizwirkung nicht zu konstatieren. ,Prinzipurteile 4 sind solche, die nicht in einer eindeutigen Weise von abstrakten gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen Normen ableitbar sind, sondern auf Grundlage einer mehr ober weniger schwierigen und unsicheren Auslegung oder Lückenprüfung zustande gekommen sind. Oft wird ihre Bedeutung 1
Gut bei H. Drost, Das Ermessen des Strafrichters, Berlin 1930, S. Iff. Dies wird auch vom Normativisten Kelsen eingestanden, General Theory of Law and State 1945, S. 126. 3 Diese Ideologie ist im Rechte Schwedens und Finnlands weniger scharf akzentuiert als in manchen anderen europäischen Staaten. 2
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als Prinzipurteile durch die höchste Instanz äußerlich hervorgehoben, z.B. durch Plenarsitzung oder publikationstechnische Besonderheiten. 4 Worauf gründet sich die Bedeutung der Prinzipurteile in Staaten der kontinentalen Rechtsideologie? Vor allem auf das Bedürfnis der formellen Rechtssicherheit. Gegen eine Benutzung der Prinzipurteile als Präjudize kann nicht die Gewaltenteilungslehre angeführt werden, weil in solchen Situationen die Gesetzgebung eben keine eindeutige Entscheidungsgrundlage gewährt. Es muß aber auch hier die Basis für eine einheitliche Rechtsprechung geschaffen werden, und dieses kann nur durch Präjudiztechnik geschehen. - Die faktische Bedeutung der Prinzipurteile gründet sich aber auch darauf, daß hier, wie eben konstatiert wurde, ein uralter und auch heute noch fließender Strom der Rechtserzeugung vorliegt. Dieser Strom ist als eine soziologische Konstante aufzufassen. Sein Fluß kann nicht durch zeitbedingte Rechtsideologien effektiv gehindert werden. Die faktische Bedeutung der Prinzipurteile geht aus vielen Normen kontinentaler Rechtsordnungen hervor. So kennt das finnische Recht die Präjudizdispens: in Fällen, wo die höchste Instanz sonst nicht angerufen werden mag, kann dieses geschehen, wenn es wahrscheinlich gemacht wird, daß eine Entscheidung der höchsten Instanz eine prinzipielle Bedeutung über den zu entscheidenden Fall hinaus haben würde. 5 In den Arbeitsordnungen der höchsten Gerichte oder in sonstigen Rechtsquellen kommen regelmäßig Normen über Plenarsitzungen vor: diese Normen setzen eine präjudizielle Bedeutung der Prinzipurteile voraus. In einem im finnischen Justizministerium im Jahre 1947 ausgearbeiteten Entwürfe über die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Hofgerichte (zweite Instanz) wird bestimmt, daß der Präsident des Gerichtshofes insbesondere die Einheitlichkeit bei der Anwendung von Rechtsgrundsätzen und die Einheitlichkeit bei der Gesetzesauslegung wahren soll. Nach der Arbeitsordnung des finnischen Höchsten Gerichtshofes (§ 16) sind die Referenten verpflichtet, beim Referieren die nötige Judikatur anzugeben. Der finnische Justizkanzler stellte im Jahre 1943 fest, daß er nicht die Kompetenz 4 In Finnland werden die Prinzipurteile des Höchsten Gerichtshofes und des Höchsten Verwaltungsgerichtshofes in den von diesen Gerichten herausgegebenen gedruckten Urteilssammlungen unter einem Spezialtitel als eingehende „Referate" publiziert. Andere Urteile dagegen werden nur als kurze „Mitteilungen" wiedergegeben. 5 Gesetzesnovelle 19.12.1922 (Prozeßgesetz 30:6): „Wenn eine Partei der Ansicht ist, daß es hinsichtlich der Anwendung des Gesetzes auf andere ähnliche Fälle wichtig wäre, daß eine Entscheidung des Hofgerichts, wogegen eine Rechtsmitteleinlegung nicht erlaubt ist, vor den Höchsten Gerichtshof gebracht werde, mag sie beim Höchsten Gerichtshofe die Genehmigung zur Rechtsmitteleinlegung beantragen." - Das schwedische Recht stand vor dem neuen Prozeßgesetz vom Jahre 1942 (in Kraft ab 1.1.1948) auf demselben prinzipiellen Standpunkt. Jetzt ist aber eine Rechtsmitteleinlegung beim Höchsten Gerichtshofe mit einigen Ausnahmen immer durch eine Spezialerlaubnis dieses Gerichtes bedingt (Änderungsdispens). Vgl. Per Ο lof Ekelöf, Kompendium över den nya rättegangsbalken, 2. Aufl. Uppsala 1945, S. 177, 180.
II.9. Präjudize
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habe, Gesetze in einer für die Gerichte bindenden Art auszulegen, und daß „wenn eine bei der Rechtsprechung anzuwendende Anweisung erwünscht wird, im allgemeinen ein Präjudiz eingeholt werden soll". 6 Es ist nicht immer leicht, die nur faktische Wirksamkeit der Prinzipurteile von einer normativen Bindung zu scheiden. Mit Zunahme der faktischen Wirksamkeit kommt diesen Urteilen allmählich auch eine normative Färbung zu. Wenn man aber die Frage aufstellt: sind die Rechtsprechung ausübenden Organe positivrechtlich verpflichtet, die von der höchsten Instanz gefällten Prinzipurteile 1. zu kennen, 2. bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, dürfte die Antwort für die meisten kontinentalen Rechtsordnungen zweifelhaft sein. Auf Grund einer stark zugenommenen faktischen Bedeutung der Prinzipurteile, die positivrechtlich in manchen Erscheinungen hervortritt, könnte es natürlich erscheinen, eine solche - sehr ,elastische4 - Pflicht für die Organe der Rechtsprechung anzunehmen. Wenn aber Sanktionen gegen Mitglieder der rechtsprechenden Organe hier fehlen, kann die Existenz einer solchen Pflicht nicht festgestellt werden. 7 So ist es z.B. im finnischen und im schwedischen Recht ausgeschlossen, daß ein Strafverfahren gegen einen Richter eingeleitet werden könnte, weil er ein noch so bedeutendes Prinzipurteil der höchsten Instanz nicht gekannt oder nicht berücksichtigt hat. Er könnte sich dabei auf seinen Richtereid berufen, wonach er nach ,bestem Verstand und Gewissen4 nach den Gesetzen und den gesetzmäßigen Verordnungen urteilen soll. Im finnischen und im schwedischen Recht gilt ungekürzt der altehrwürdige Grundsatz, daß bei der Rechtsprechung dem Gewissen des Richters das letzte Wort zukommt. Mit diesem Grundsatz läßt sich eine normative Bindung durch Prinzipurteile kaum vereinigen. Es scheint auch, daß der in manchen kontinentalen Verfassungen ausdrücklich ausgesprochene Grundsatz einer unabhängigen Rechtsprechung besser gewahrt wird, wenn diese Unabhängigkeit auch innerhalb der Gerichtsorganisation verwirklicht ist. 6
Jahresbericht des Justizkanzlers für das Amtsjahr 1943, S. 41 - 42. Es könnte zweckmäßig scheinen, den Begriff der rechtlichen Pflicht an die Voraussetzung einer angedrohten rechtlichen Sanktion zu binden. Eine Sanktion wäre „rechtlich", wenn sie von den Gemeinschaftsorganen verhängt und verwirklicht wird. Nun gibt es aber Sanktionen, die als rechtlich angesehen werden müssen, die aber entweder nicht von Gemeinschaftsorganen verhängt oder nicht durch sie verwirklicht werden. Solche Fälle sind allerdings als Ausnahmen zu betrachten und gehen auf geschichtlich bedingte Archaismen des Rechts zurück (z.B. Entstehung von Sanktionsandrohungen durch Gewohnheitsrecht, Verwirklichung von Sanktionen durch Selbsthilfe). Ignoriert werden können sie aber nicht. Aus diesen Gründen dürfte es nicht zweckmäßig sein, den grundlegenden Begriff der rechtlichen Pflicht an den Begriff der „rechtlichen Sanktion" zu knüpfen. - Welche sind aber die Kriterien einer vorhandenen rechtlichen Pflicht? Daß hinter den angedrohten und verwirklichten Sanktionen die organisierte Gemeinschaft steht. Wann ist dies der Fall, wie kann das festgestellt werden? Die Tatsache, daß es hier keine genauen Kennzeichen gibt, ist bemerkenswert und deutet darauf hin, daß Recht, Moral und Sitte noch heute miteinander eng verbunden sind. 7
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Wenn behauptet wird, die Richter seien allerdings im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung verpflichtet, die Prinzipurteile der höchsten Instanz zu kennen, sollen ihnen aber beim Urteilen nur kritisch folgen, bedeutet dies im Grunde eine Leugnung der normativen Bindung durch Prinzipurteile. Eine solche bloße Kenntnispflicht des Richters würde recht sonderbar sein und keiner Sanktion zugänglich. Es kann aber behauptet werden, daß in einem heutigen Kulturstaate ein guter Richter die Prinzipurteile der höchsten Instanz kennt und bei seiner Rechtsprechung weitgehend berücksichtigt. Wenn aber ein Richter als ,gut' qualifiziert wird, ist das Wertungskriterium kein rechtliches, sondern ein ethisches, auf das Gemeinwohl hinzielendes. Wir gehen jetzt zu einigen Faktoren über, die bei Beurteilung der objektivierenden Wirkung der Prinzipurteile zu berücksichtigen sind. Welche Bedingungen sollen erfüllt sein, damit ein Prinzipurteil ,wertvolles Präjudiz' genannt werden könne? Man kann hier 1. Entstehung, 2. Begründung und 3. Publizierung der Prinzipurteile unterscheiden. Für den Wert eines Prinzipurteiles sind die Persönlichkeiten der an ihm beteiligten Richter von großer Bedeutung. In den kontinentalen Rechtsgemeinschaften treten die Richterpersönlichkeiten hinter dem anonymen Urteile zurück. Es ist aber bezeichnend, daß auch im kontinentalen Rechte Prinzipurteile oft so referiert werden, daß nicht nur die Namen der beteiligten Richter, sondern auch ihre Standpunkte bei einer eventuellen Abstimmung detailliert hervorgehen. 8 Es kann gefragt werden, ob nicht die Autorität der Prinzipurteile durch ein Referat geschwächt wird, wo die abweichenden Meinungen vorgetragen werden. Wenn sich das Referat an das große Laienpublikum richtete, würde dies unbedingt der Fall sein. Die Referate der Prinzipurteile werden aber von Juristen, bei der Rechtsprechung von erfahrenen Richtern benutzt, die sich keiner Einhelligkeitsillusion hingeben. Vor ihnen wird der Wert eines Prinzipurteils nicht dadurch herabgesetzt, daß sein Zustandekommen wahrheitsgemäß dargelegt wird. - Selbstverständlich kommt einem einhelligen Urteil eine größere Autorität zu als einem Urteil, bei dem die Meinungen der daran beteiligten Organpersonen stark auseinander gehen. Schon eine Divergenz in der bloßen Motivierung kann die Autorität schwächen. Die besondere Autorität, die den Plenarentscheidungen der höheren Instanzen und vor allem denen der höchsten Instanz zuerkannt wird, gründet sich auf eine Annahme, daß bei einem solchen, ausnahmsweise und unter feierlichen Formen gesprochenen Urteile die höchste Objektivität, Sorgfalt und Sachkunde vertreten ist. Eine Hauptbedingung, damit dem Prinzipurteil ein Wert als Präjudiz zukommt, ist eine vollständige Begründung. Eine Begründung nennen wir vollständig, wenn sie alles enthält, was für die Ableitbarkeit des Urteiles notwendig ist. Nur unter dieser Bedingung kann objektiv und mit voller Sicher8
So z.B. in Finnland und in Schweden.
II.9. Präjudize
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heit festgestellt werden, welche Rechtsnorm dem Urteile zugrunde liegt. Nicht das Prinzipurteil als solches, sondern das in ihm enthaltene Rechtsprinzip ist das Wesentliche, was von der bekannten englischen Theorie über die ,ratio decidendi' hervorgehoben wird. Wenn also zwischen zwei Urteilen eine Präjudizrelation besteht, d.h. wenn ,ähnliche' Fälle ,ähnlich' entschieden worden sind, besteht das vereinigende Band im zugrundeliegenden Rechtsprinzip. Die Ähnlichkeit der Tatbestände bedeutet, daß zwei konkrete Lebenssituationen vorliegen, die nach der dem positiven Rechte immanenten Wertordnungen gleich zu werten sind. Nur in diesem Sinne sind sie ,gleich'. Die durch die Präjudizrelation vereinigten Urteile sind ihrerseits ,gleich' nur in dem Sinne, daß sie als Ausfluß desselben Rechtsprinzips aufgefaßt werden können. Bei der Präjudizrelation liegt also immer ein Analogieschluß vor. 9 Ein rechtlicher Analogieschluß bedeutet, daß Fälle mit ähnlicher positivrechtlicher Wertgrundlage ähnlich entschieden werden. Der Analogieschluß, der keineswegs nur auf dem Gebiete des Rechts vorkommt, ist auf jene dem Menschen eigentümliche Rationalisierungstendenz zurückzuführen, worauf in dieser Untersuchung schon machmal hingewiesen wurde. 10 Die Analogie spielt bekanntlich als Gesetzes- und Rechtsanalogie eine führende Rolle bei der Objektivierung der Rechtsprechung. 11 Es ist bemerkenswert, daß dieses Prinzip auch der Präjudiztechnik zugrunde liegt. Auch in einer optimalen Situation, d.h. wenn das Prinzipurteil von autoritativen Richterpersönlichkeiten einhellig gesprochen und vollständig motiviert ist, wird sein Wert als Präjudiz wesentlich herabgesetzt, wenn die Publikation nicht zweckmäßig geordnet ist. Das Urteilsmaterial muß schnell in der Form übersichtlich geordneter, möglichst eingehender Referate den rechtsprechenden Organen zugänglich gemacht werden. Hier sind vor allem zwei Wege denkbar: das Urteilsmaterial wird privat oder es wird offiziell publiziert. Auch eine Mischform kommt vor (Schweden, Dänemark). Die private Publikation, die wohl geschichtlich die ältere ist, kann ζ. B. durch von juristischen Vereinen herausgegebene Zeitschriften erfolgen. 12 Die private Publikation bietet gegen9
Das Wort ,Schluß' wird hier nicht im Sinne der Logik gebraucht. Man könnte uns mit Fug und Recht auffordern, diesen Begriff der Rationalisierung zu präzisieren (Osvi Lahtinen). Wir können aber in unserer Untersuchung auf dieses biologische Problem nicht näher eingehen. Durch seinen geistigen Bau getrieben strebt der Mensch zu einer Synthese, zu einer einheitlichen, aus möglichst wenigen Elementen aufgebauten Weltanschauung. Im Analogieschluß kommt dieses Streben klar zum Ausdruck. In diesem Sinne könnten wir den Menschen einen homo sapiens nennen. Andererseits ist zu merken, daß eine rationale Wissenschaft vom Menschen (Psychologie auf biologischer Grundlage) ihn als ein stark irrationales Menschentier sieht. Dieses Tier wendet seine Intelligenz u. a. zur massenhaften Ausrottung seiner eigenen Art an. Bei gewöhnlichen Raubtieren dürfte dieses nicht vorkommen. 11 Näheres in meiner Studie „Das richterliche Ermessen in Lückenfällen", Vammala 1938, S. 142 - 164. 12 In Finnland durch den finnischsprachigen und durch den schwedischsprachigen Juristenverein sowie durch den Advokatenbund, von denen jeder eine rechtswissenschaftlich-praktische Zeitschrift herausgibt. 10
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über einer offiziellen manche Vorteile: die wichtigsten Prinzipurteile können fast unmittelbar, nachdem sie gesprochen wurden, publiziert und auch eingehend kommentiert werden. Das finnische System, wo die private und die offizielle (durch den Höchsten Gerichtshof und den Höchsten Verwaltungsgerichtshof erfolgende) Publikation nebeneinander bestehen, scheint recht zweckmäßig zu sein, nachdem die offizielle Publikation seit dem Jahre 1928 auf eine rationelle Grundlage umgestellt wurde. Der schwerwiegende Vorteil bei einer offiziellen Publikation liegt darin, daß den höchsten Instanzen die Möglichkeit gegeben wird, durch Auswahl und Hervorhebung des Urteilsmaterials ihren eigenen Standpunkt bei der Vereinheitlichung der Rechtsprechung zu akzentuieren. - Daß die objektivierende Bedeutung der Prinzipurteile in den kontinentalen Rechtsgemeinschaften während der letzten Jahrzehnte stark zugenommen hat, ist teilweise auf eine verbesserte Publikationstechnik zurückzuführen: die Kausalität ist aber hier eine gegenseitige.
10. Maßnahmen der Justizverwaltung Aus dem Prinzip einer unabhängigen Rechtsprechung folgt nicht, daß die Justizverwaltung 1 keinerlei objektivierende Wirkung auf die Rechtsprechung ausüben könne. Das Unabhängigkeitsprinzip bedeutet ja im Grunde nur, daß die rechtsprechenden Organe bindenden Weisungen weder zu folgen brauchen noch dürfen, mögen diese von Verwaltungs- oder von Rechtsprechungsorganen ausgehen.2 Die Erfahrungen des praktischen Rechtslebens zeigen aber, daß juristisch unverbindlichen Meinungsäußerungen' von Verwaltungsund Rechtsprechungsorganen manchmal eine bedeutende Autoritätswirkung zukommt. Vom Standpunkte der Rechtskultur und der - als ein einheitliches Ganzes aufzufassenden - Rechtsprechung ist diese Autoritätswirkung eine positive Erscheinung. Es wäre also ein Fehler, wenn das Prinzip einer unabhängigen Rechtsprechung, welches auch ein Ausdruck einer hohen Rechtskultur ist, gegen diese Autoritätswirkung angeführt würde. Ein solches Theoretisieren würde besagen, daß ein Verständnis für die Bedeutung einer objektiven, einigermaßen einheitlichen Rechtsprechung im menschlichen Kulturleben gänzlich fehle. - Bevor wir auf diese Autoritätswirkung näher eingehen, mögen einige Kanäle kurz beschrieben werden, durch die die Justizverwaltung in rechtlich bindender Form auf die Rechtsprechung objektivierend einwirkt. Die Justizverwaltung wird nicht nur durch Verwaltungsorgane, sondern auch durch Gerichte ausgeübt. Wie die Grenze hier gezogen wird, ist in erster 1 Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien und Berlin 1927, S. 234: „Justizverwaltung ist ihrem Inhalte nach in der Hauptsache die Vorsorge für die persönlichen und sachlichen Erfordernisse der Justiz 2 Hans Kelsen, General Theory of Law and State, 1945, S. 275. - Vgl. auch Merkl (FN 1), S. 39.
II. 10. Maßnahmen der Justizverwaltung
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Linie eine Frage der Zweckmäßigkeit, der aber auch eine prinzipielle Bedeutung zukommt. Wenn, wie ζ. B. in Finnland, den Gerichten zweiter und höchster Instanz ein beträchtlicher Teil der wichtigsten Justizverwaltungssachen anvertraut ist, werden sie dadurch der allgemeinen Regierungspolitik entrückt. Dies bedeutet keineswegs, daß ihre Handlegung dadurch entpolitisiert' würde. Wohl aber, daß in Staaten, die auf der Grundlage des privaten Eigentumsrechts stehen, die meistens konservative Grundeinstellung der Richter als etwas Selbstverständliches mitklingt. Die Justizverwaltung durch Gerichte hat aber einen Vorteil: durch täglichen unmittelbaren Kontakt mit den praktischen Bedürfnissen der Rechtsprechung sind die Gerichte besonders geeignet, diese Bedürfnisse bei der Justizverwaltung genügend zu beachten. Inwieweit die Justizverwaltung, mag sie durch Verwaltungsorgane oder durch Gerichte ausgeübt werden, für eine Objektivierung der Rechtsprechung wirkt, beruht letzten Endes auf dem Geist, in dem die Organpersonen diese Verwaltung ausüben. Dieser Geist ist wieder ein Ausdruck der in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Ideologie. Wenn bei Ernennung der Richter ihrem allgemeinen judicium, Urteilsvermögen, und ihrer Objektivität genügend Beachtung geschenkt wird, schafft die Justizverwaltung eine wesentliche Bedingung für eine objektive Rechtsprechung. Auch wenn die Juristenschulung sehr hohen Forderungen entsprechen würde, könnte ihre objektivierende Wirkung durch eine schlechte Ernennungspolitik bedenklich geschwächt werden. Grundvoraussetzung für eine objektive hochstehende Rechtsprechung ist es, daß Juristen, mögen sie noch so hervorragend sein, wenn ihnen aber die objektive Einstellung fehlt, nicht zu Richtern ernannt werden. In Rechtsgemeinschaften, wo die Richter auf eine bestimmte Zeit gewählt und nicht lebenslänglich ernannt werden, können die Staatsbürger eine effektive Kontrolle im Sinne der Objektivität ausüben. Diese staatsbürgerliche Kontrolle wird wohl persönliche Eigenschaften der Richterkandidaten feiner abwägen als eine Ernennung von oben. Auch hier kann aber die Justizverwaltung viel zur Förderung einer objektiven Auswahl tun. Die Wahlmaschinerie hat ja manche Berührungspunkte mit der Justizverwaltung, sie ist - so könnte man sagen - ein Teil derselben. Die Arbeitsordnungen der Gerichte sowie diesem Gebiete zugehörige Einzelbestimmungen werden gewöhnlich durch die Justizverwaltung formuliert und festgesetzt. Diesen Bestimmungen, die für die tägliche Arbeit der Gerichte bestimmend sind, kommt normalerweise eine objektivierende Bedeutung zu. Ihr Zweck ist, die äußeren Voraussetzungen für eine gründliche und unparteiliche Arbeit der rechtsprechenden Organe zu schaffen. Die technischen Bestimmungen über Protokollierung, Aufbewahrung von Akten, Meldungen an verschiedene Exekutions- und Registerbehörden, Aufstellen von Statistiken verschiedener Art fördern mittelbar die Objektivität. Durch
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Ermöglichung einer Nachkontrolle zwingen diese Bestimmungen die rechtsprechenden Organpersonen zur Sachlichkeit und Sorgfalt. 3 Nach der finnischen Verfassung (§ 53) soll der Höchste Gerichtshof die Rechtsprechung der Richter ,überwachen', ebenso soll der Höchste Verwaltungsgerichtshof „die Rechtsprechung der niederen Behörden auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts überwachen" (§ 56). Durch diese Bestimmungen wird offenbar etwas anderes gemeint, als die normale höchstrichterliche Tätigkeit im Rahmen der Instanzenordnung. Wie ist aber diese als Justizverwaltung anzusehende ,Überwachung' mit einer - in der Konstitution ausdrücklich anerkannten - unabhängigen Rechtsprechung in Einklang zu bringen? Auf diese Schwierigkeit ist es vielleicht zurückzuführen, daß die genannte Überwachung fast nur ein totes Wort geblieben ist. 4 Wenn wir jetzt zu denjenigen objektivierenden Maßnahmen der Justizverwaltung übergehen, die, ohne im rechtlichen Sinne bindend zu sein, durch ihre Autorität wirken, mögen zuerst die Rundschreiben des Justizministeriums und anderer mit Justizverwaltung betrauter Organe genannt werden. Wenn solche Rundschreiben nur bei wirklichem Bedarf und auf Grundlage höchstmöglicher juristischer Sachkenntnis erlassen werden, wird jeder vernünftige Richter ihnen gebührende Beachtung schenken. Er wird sie nicht als eine Beschränkung seiner Unabhängigkeit, sondern als eine wertvolle Stütze bei der Arbeit auffassen. Diese Einstellung dürfte bei finnischen Richtern herrschend sein. Das finnische Justizministerium übt beim Erlassen von Rundschreiben an die Gerichte äußerste Zurückhaltung, damit der Grundsatz einer unabhängigen Rechtsprechung in vollem Maße gewahrt bleibe. 5 Zur Erreichung einer sachlichen und objektiven Rechtsprechung wäre es wünschenswert, daß bei neuen prinzipiell bedeutungsvollen Gesetzen das Justizministerium durch Rundschreiben die ratio legis den Gerichten darlegte. Dazu wäre das Justizministerium besonders geeignet, weil jene Gesetze in manchen Staaten in diesem Ministerium ausgearbeit werden. Die Darlegung der Zweckgrundlage eines Gesetzes dürfte natürlich in keiner Weise den Charakter einer Weisung haben, sondern nur ein rein sachlich-objektives Referat der gesetzlichen Leitgedanken enthalten. Damit wäre für eine objektive, sachlich begründete 3
In Finnland gründen sich Anklagen gegen Richter wegen begangener Amtsdelikte größtenteils auf diese Nachkontrolle. Die jährlich publizierten Amtsberichte des Justizkanzlers enthalten regelmäßig solche Fälle. 4 Doch nicht ganz: wenn der Höchste Gerichtshof oder der Höchste Verwaltungsgerichtshof bei der Handlegung einer Sache erfährt, daß eine niedere Instanz einen Prozeßfehler begangen hat, werden die Akten - wenn ein genügender Grund dazu vorliegt - nach gesprochenem Urteil dem Justizkanzler übersandt. Das Vorliegen eines genügenden Grundes' wird durch freies richterliches Ermessen festgestellt. Dieses Verfahren kommt aber in der Praxis recht selten vor. 5 Durch solche Rundschreiben sind ζ. B. Resultate der medizinischen Forschung den Gerichten zugänglich gemacht worden.
II. 11. Sanktionen gegen Richter
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Gesetzesauslegung viel gewonnen. Heute hängt es meistens vom Zufall ab, ob die Richter ein richtiges Bild von der gesetzlichen Zweckgrundlage erhalten. Wenn höhere Gerichte Maßnahmen treffen, die eine engere oder weitere Publizität der von ihnen gefällten Urteile bezwecken, fällt dies in das Gebiet der Justizverwaltung. In Finnland werden nicht nur Urteile der höchsten Instanz bekanntgemacht. Auch Urteile der zweiten Instanz werden seit einigen Jahren regelmäßig den Gerichten erster Instanz bekanntgegeben, allerdings unter der Begrenzung, daß einem Untergericht solche Urteile nur in denjenigen Rechtssachen mitgeteilt werden, die von diesem Gerichte als erste Instanz entschieden worden sind. Wenn das positive Recht ein Organ einsetzt zur Überwachung eines gesetzmäßigen Funktionierens der Rechtsmaschinerie, wird die Wirksamkeit dieses Organes zu einem wesentlichen Teile in einer Kontrolle der Rechtsprechung bestehen und kann - was diesen Sektor seiner Wirksamkeit betrifft - zur Justizverwaltung im weiten Sinne gerechnet werden. Die Jahresberichte eines solchen Organes enthalten daher manches, was für einen Richter von Interesse sein könnte. Weil er aber nach Belieben von solchen Jahresberichten Kenntnis nehmen kann oder nicht, dürfte ihre objektivierende Wirkung auf die Rechtsprechung gering sein. Es könnte scheinen, daß für einen technisch hochstehenden, gut geschulten Richterstand die Stütze der Justizverwaltung nicht nötig sei, daß eine solche Stütze nur bei einem technisch weniger starken Richterstand erforderlich sei, damit die Rechtsprechung nicht in ein völliges Chaos versinke. In Wirklichkeit steht die Sache aber anders: ein guter Richterstand, dem die Rechtsprechung nicht ein Handwerk sondern eine Lebensaufgabe mit weiten Ausblicken ist, wird eine Unterstützung durch die Justizverwaltung positiv werten. Die obersten Organe der Justizverwaltung mögen oft das Ganze der Rechtsprechung klarer sehen als die einzelnen Gerichte. Für die Erreichung des Ideals einer sicheren, einheitlichen und objektiven Rechtsprechung sollen alle kompetenten Kräfte in engster Zusammenarbeit mitwirken.
11. Sanktionen gegen Richter Unter ,Richtern' verstehen wir, wie früher erwähnt, die Mitglieder der Rechtsprechungsorgane, durch deren Beschluß die Urteile zustande kommen. Eine Organperson dagegen, deren Kompetenz sich nur auf die Mitwirkung bei Feststellung einer Voraussetzung des Urteils beschränkt (z.B. Schuldfrage), ist kein Richter. Ein Richter ist für diejenigen Urteile verantwortlich, an denen er mitgewirkt hat. Durch Abstimmung in Richterkollegien tritt die Art der Mitwirkung hervor: die Abstimmung ist eine Voraussetzung für die Begrenzung der individuellen richterlichen Verantwortlichkeit. 1
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Rechtliche Sanktionen gegen Richter sind ein Spezialfall der gegen die Gemeinschaftsorgane gerichteten Sanktionen, und diese sind wiederum ein Spezialfall des allgemeinen Sanktionsgedankens, dem bei aller rechtlichen Organisation eine zentrale Bedeutung zukommt. Der Begriff ,Sanktion4 ist im Grunde kein normativer, sondern gehört der kausalen, soziologischen Betrachtungsweise an. 2 Die Sanktion setzt begrifflich eine Norm und ihre Nichtbefolgung voraus. Eine Norm wird sanktioniert, wenn im Falle ihrer Nichtbefolgung derjenige vom Nachteil betroffen wird, der die Norm hätte befolgen sollen. Bei einer rechtlichen Sanktion wird der Nachteil durch die Rechtsordnung in abstracto verhängt und durch die Organe der Rechtsgemeinschaft in concreto angeordnet und verwirklicht. Die Effektivität einer Rechtsordnung setzt voraus, daß rechtliche Sanktionen wenigstens in so vielen Fällen verwirklicht werden, daß dadurch eine allgemeine Beeinflussung der Motivierung bei den Normunterworfenen stattfindet. 3 Will man die Sanktion aus einem normativen Gesichtswinkel betrachten, kann man ihr nur die Bedeutung einer Sanktionierungspflicht beilegen: „Wenn die Rechtsnorm X vom Normunterworfenen Y nicht befolgt wird, entsteht gemäß der Rechtsnorm X 1 für das Organ Y 1 die Pflicht, eine Sanktionshandlung vorzunehmen. Wenn diese Sanktionspflicht vom Organe Y 1 nicht erfüllt wird, entsteht gemäß der Rechtsnorm X 2 für das Organ Y 2 die Pflicht, eine Sanktionshandlung gegen die Organpersonen des Organes Y 1 vorzunehmen 44 . Usw. - Durch die rechtlichen Sanktionen wird somit eine Stufenfolge konstituiert, die sich nicht, wie die bekannte Stufenfolge Merkl / Kelsen auf die Entstehung (Gültigkeit) der Rechtsnormen, sondern auf ihre Verwirklichung (Befolgung) bezieht. Beide Stufenfolgen sind ein Ausdruck des inneren Zusammenhanges, der einheitlichen Struktur der Rechtsordnung. Rein theoretisch gesehen scheint die durch die rechtliche Sanktion konstituierte Stufenfolge eine unendliche Reihe zu bilden. In den positiven Rechtsordnungen ist dieses aber bekanntlich nicht der Fall: schon nach wenigen Stufen wird ein Punkt erreicht, wo für die Nichterfüllung der Sanktionspflicht keine 1
Im positiven finnischen Recht hat die Gesamtheit der Laienbeisitzer am Landesbezirksgericht eine kollektive Stimme gegen den juristisch geschulten Vorsitzenden. Eine individuelle richterliche Verantwortlichkeit kommt nach finnischem Recht den Laienbeisitzern nur dann zu, wenn sie durch ihre einige Stimmabgabe gegen die Stellungnahme des Vorsitzenden den Inhalt des Urteils bestimmt haben. Diese Laienbeisitzer, die auf eine altgermanische Tradition zurückgehen, sind keine bloßen Geschworenen, sondern nehmen prinzipiell unbeschränkt an der richterlichen Beratung teil, sowohl an der Tatsachen- als auch an der Rechtsfrage. 2 Darum mutet es sonderbar an, daß die Sanktion in der normativen Theorie Kelsens eine zentrale Stelle einnimmt. Allerdings sucht Kelsen diesem Begriffe eine normative Deutung zu geben, um ihn bei seiner Strukturanalyse des Rechts anwenden zu können. 3 Kelsen, General Theory of Law and State, S. 24 hebt hervor, daß Fälle vorkommen, wo die Effektivität bestimmter Rechtsnormen mehr durch nichtrechtliche als durch rechtliche Sanktionen garantiert wird. - Zu vergleichen: Karl Olivecrona, Om lagen och staten, Lund 1940, S. 125ff.
II. 11. Sanktionen gegen Richter
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weitere Sanktion vorgesehen ist (die sog. „höchsten Organe"). Auch in diesen Grenzfällen liegt eine durch Rechtsnorm auferlegte Rechtspflicht vor. Der Rechtscharakter dieser Normen wird hier nicht durch die Sanktion, sondern dadurch konstituiert, daß sie nur im Zusammenhange einer Ganzheit, der Rechtsordnung, sinnvoll verstanden werden können. Diese Ganzheit kann aber funktionell, d.h. als Rechtsmaschinerie, ohne den Begriff der Sanktion nicht erfaßt werden. Eine rechtliche Sanktion richtet sich nicht gegen ein Organ der Rechtsgemeinschaft, sondern gegen die in diesem Organe tätigen Organpersonen. Wenn also von Sanktionen gegen ein Organ gesprochen wird, ist dies nur eine abgekürzte Redeweise. Eine rechtliche Sanktion richtet sich gegen Leben, Gesundheit, Freiheit oder Vermögen. Der Unterschied zwischen strafrechtlichen und zivilrechtlichen Vermögenssanktionen ist nur relativ: der Grundgedanke ist hier einheitlich. 4 Wenn im folgenden von Sanktionen gegen Richter gesprochen wird, so sind - wenn das Gegenteil nicht hervorgeht - sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Sanktionen gemeint. In denjenigen Kulturstaaten, die den Grundsatz nulla poena sine lege anerkennen, vermeidet der Gesetzgeber sehr unbestimmte Deliktstatbestände. Die Amtsverbrechen nehmen aber hier eine Sonderstellung ein. Die meisten modernen Strafgesetzbücher enthalten neben genau charakterisierten Typen von Amtsverbrechen eine ergänzende Generalklausel, wo der Tatbestand des Amts Verbrechens sehr allgemein und unbestimmt formuliert ist. So lauten die Generalklauseln z.B. im finnischen Strafgesetzbuche vom Jahre 1889: „Wenn ein Beamter bei der Ausübung seines Amtes vorsätzlich verbrecherisch handelt in einer Weise, die in diesem Gesetzbuche nicht speziell erwähnt i s t . . . " (Kap. 40, § 20). - „Wenn ein Beamter aus Fahrlässigkeit, Versäumung oder Unachtsamkeit eine Verfehlung im Amt begeht und dafür eine besondere Strafe nicht ausgesetzt ist . . . " (Kap. 40, § 21). 5 Bei einer solchen Generalklausel wird der Inhalt des Tatbestandes durch das Ermessen der sanktionierenden Richter festgestellt, allerdings unter Berücksichtigung der verschiedenen Amtstypen. 6 Der Tatbestand des Amtsdeliktes scheint an sich eine effektive Kontrolle nicht zu verhindern. - Dazu kommt, daß in den modernen Kulturstaaten ein besonderes Organ oder eine ganze Organhierarchie (so z.B. in 4
Von Kelsen gut hervorgehoben (FN 3), S. 50. Analoge Bestimmungen u.a. im schwedischen, dänischen, norwegischen und im deutschen Strafrechte. 6 Dieses Ermessen des Richters wird allerdings durch eingehende, für das betreffende Verwaltungsgebiet festgestellte Dienstvorschriften geleitet (Osvi Lahtinen). In diesen Vorschriften werden die Pflichten der Beamten im einzelnen festgelegt. - Für die Rechtsprechung gibt es aber solche detaillierte Dienstvorschriften nicht. Das geltende Prozeßrecht ist doch ganz anderer Natur und gewährt eine größere Bewegungsfreiheit. Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung tritt auch hier zutage. 5
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der Sowjetunion) wirksam ist zur Überwachung der Gesetzmäßigkeit in der Staatsmaschinerie. 7 Dieses Organ erlangt Kenntnis von begangenen Amtsdelikten nicht nur durch Klagen privater Staatsangehöriger, sondern auch durch eine in verschiedenen Formen ausgeübte Kontrolle. Auf geschichtliche Gründe ist es zurückzuführen, daß in Finnland und in Schweden den Gerichten zweiter Instanz, den ,Hofgerichten' (ursprünglich das Gericht ,des Königs'), eine weitgehende Kontrolle über die Richter der ersten Instanz zukommt, die auch recht aktiv ausgeübt wird. Eine rechtliche Sanktion gegen Richter wird also von anderen Richtern angeordnet. Die Richter sind aber untereinander durch das Gefühl der Kollegialität verbunden: 8 ein Richter verurteilt nicht gerne einen Kollegen wegen eines behaupteten Dienstverbrechens. Dies bedeutet, daß die sanktionierenden Richter die Beweisprüfung wie auch die Gesetzesauslegung - vielleicht halb unbewußt - so günstig wie irgend möglich für den Kollegen zu gestalten suchen. Eine be wußte Rechtsbeugung steht nicht in Frage, wohl aber eine sozialpsychische Gesetzmäßigkeit, die nicht zu eliminieren ist. 9 Das an sich sehr menschliche Kollegialitätsgefühl wirkt somit schwächend auf die Effektivität der rechtlichen Sanktionen gegen Richter ein. Nur wenn die Verhängung von rechtlichen Sanktionen gegen Richter von Organpersonen außerhalb der Rechtsprechungsmaschinerie erfolgen würde, könnte diese Schwächung eliminiert werden. Dies würde aber dann nicht als Rechtsprechung in vollem Sinne des Wortes aufgefaßt werden, sondern als ein verwaltungsähnliches, vielleicht sogar politisches' Verfahren. Es gibt noch andere schwächende Faktoren. Dem Mangel an richterlicher Objektivität ist schwer durch rechtliche Sanktionen beizukommen. Der Tatbestand des richterlichen Amtsverbrechens mag elastisch sein: dadurch werden doch nur die gröbsten richterlichen Amtsversehen betroffen. Die richterliche Willkür, Nicht-Objektivität als solche, wird durch die positivrechtlichen Verbrechenstatbestände, so wie sie durch Auslegung und Ermessen präzisiert werden, überhaupt nicht erreicht. Viel präziser ausgearbeitete Tatbestände, 7
In Finnland gibt es - auf Grund einer geschichtlichen Entwicklung - sogar zwei solche Organe, deren Kompetenzen sich teilweise, jedenfalls prinzipiell, decken: den Justizkanzler und den Justizsachwalter des Reichstages. Dieser sonderbaren Anomalie hat man dadurch abzuhelfen versucht, daß zwischen diesen Organen eine Arbeitsteilung gesetzlich verordnet worden ist. Es gibt aber fortwährend Gebiete, wo beide zuständig sind. 8 Dieses Gefühl ist auch in anderen Amtsgruppen feststellbar: so z.B. unter Offizieren, Polizeibeamten. 9 Die Jahresberichte des finnischen Justizkanzlers liefern in dieser Frage ein recht interessantes Material. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle - ja fast in allen Fällen - wo auf Initiative des Justizkanzlers eine Anklage gegen einen Richter (oder gegen sämtliche Mitglieder eines Richterkollegiums) erhoben worden ist, erfolgt das Urteil wo nicht freigesprochen wird - auf Grund eines „aus Unachtsamkeit begangenen Dienstversehens". So auch in Fällen, wo eine strengere Rubrizierung wohl doch am Platze gewesen wäre.
II. 11. Sanktionen gegen Richter
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ein viel strengeres Ermessen wären hier vonnöten. Auch unter diesen Voraussetzungen aber würde die Beweisfrage Schwierigkeiten bieten: innere psychische Zustände, Denkprozesse, bei Richtern (Objektivität, Nicht-Objektivität) sind nachher kaum mit genügender Sicherheit feststellbar. Eine effektive Anwendung von rechtlichen Sanktionen ist aber nur dann möglich, wenn ihre Voraussetzungen im Beweisverfahren mit Genauigkeit feststellbar sind. Dies ist hier nicht der Fall. Nur wenn der Richter eine unrichtige Rubrizierung oder ein unrichtiges Strafmaß anwendet, einen prozessualen Fehler begeht und in ähnlichen ,groben' Fällen, sind die Voraussetzungen für ein effektives Beweisverfahren vorhanden. Man kann auch fragen, ob das Prinzip einer unabhängigen Rechtsprechung nicht die Anwendung von rechtlichen Sanktionen gegen Richter einschränkt. Aus dem Unabhängigkeitsprinzip folgt wohl eine Tendenz, mit äußerster Zurückhaltung gegen die Richter vorzugehen. Wenn der Unabhängigkeitsgrundsatz positivrechtlich gilt, darf gegen einen Richter wegen unrichtiger Gesetzesauslegung nicht eine rechtliche Sanktion angewendet werden, wenn nicht zu beweisen ist, daß er gegen besseres Wissen, vorsätzlich das Gesetz falsch auslegte.10 Dieses wird wohl kaum je der Fall sein. Auf das Streben der Rechtsprechung, sich eine unabhängige und möglichst autoritative Stellung zu sichern, ist es auch zurückzuführen, daß in manchen positiven Rechtsordnungen das Strafverfahren gegen einen Richter nur unter speziellen Bedingungen, wenn überhaupt, eingeleitet werden kann. So bestimmt z.B. die sowjetrussische Verfassung vom Jahre 1936, die sonst den Gedanken einer uneingeschränkten Volkssouveränität vertritt, daß ein Strafantrag gegen einen Richter nur von der Prokuratur, nicht also direkt von einzelnen Staatsbürgern erhoben werden kann. Im älteren finnischen Recht (Königliche Gesetzeserklärung vom 23. 3. 1807, Punkt 40) wurde die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter nicht dem einzelnen Staatsbürger zugestanden. Dieser Rechtsgrundsatz, der noch in Schweden geltendes Recht ist, wurde durch § 93; 2 der finnischen Verfassung vom Jahre 1919 aufgehoben: nach dem heute geltenden finnischen Recht hat jeder Staatsbürger ein durch die Verfassung garantiertes unmittelbares Klagerecht gegen den Richter. Wenn in Finnland der Justizkanzler oder der Sachwalter des Reichstages das Strafverfahren gegen einen Beamten einleitet, so folgt er dabei - ausdrücklichen Gesetzesbestimmungen gemäß - dem Opportunitäts-, nicht dem Legalitätsprinzip, das sonst im finnischen Recht die allgemeine Regel bildet. Der Staatsanwalt an den finnischen Hofgerichten ist in den letzten Jahren bei 10
Dann würde der spezielle Tatbestand für richterliche Amtsverbrechen z.B. des finnischen Strafgesetzbuches (Kap. 40, § 2) erfüllt sein: „Wenn ein Richter oder ein anderer Beamter beim Urteilen oder bei der Entscheidung vorsätzlich Unrecht begeht ..."
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Strafanträgen gegen Richter immer entschiedener dem Opportunitätsprinzip gefolgt. 11 Dieser Grundsatz, der nicht aus dem Prinzip einer unabhängigen Rechtsprechung gefolgert werden kann, harmoniert aber gut mit dem Unabhängigkeitsprinzip. Eine mechanische, auf das starre Legalitätsprinzip fußende Einleitung des Strafverfahrens gegen Richter würde ihre Autorität keineswegs stärken. 12 Im Anschluß an das Opportunitätsprinzip hat in der finnischen Rechtspraxis die Beanstandung eine bedeutende Stellung erhalten. Wenn der Justizkanzler oder der Sachwalter des Reichstages das Amtsversehen als geringfügig ansieht, wird ein Strafverfahren gegen den schuldigen Beamten nicht eingeleitet. Statt dessen wird, im Anschluß an die Feststellung des Amtsversehens an den Beamten eine Beanstandung gerichtet, wo er aufgefordert wird, in der Zukunft ein solches fehlerhaftes Verfahren zu vermeiden. Wenn die Beanstandung aber gegen einen Richter angewendet wird, kann mit guten Gründen behauptet werden, daß dieses Verfahren mit dem Prinzip einer unabhängigen Rechtsprechung kaum in Einklang steht. Ein Richter, der keinerlei Weisungen entgegenzunehmen braucht, ist nicht verpflichtet, ,Beanstandungen4 zu erdulden. Sie haben somit für ihn keine rechtliche Bedeutung. Wohl aber eine faktische. Ihnen kommt als Meinungsäußerungen des Justizkanzlers oder des Sachwalters des Reichstages - also der höchsten Hüter der Legalität - eine psychologisch bedeutsame Autoritätswirkung zu. Ein Richter, der trotz einer solchen Beanstandung denselben Fehler aufs neue macht, wird mit großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen dürfen, daß gegen ihn dieses Mal ein Strafverfahren eingeleitet wird. Durch den Instanzenzug wird das Bedürfnis einer rechtlichen Sanktion gegen Richter vermindert. Durch eine höhere Instanz können ja manche Fehler der Unterinstanz bequem korrigiert werden. Prinzipiell wird dadurch die Schuld des Unterrichters nicht geringer. Praktische Gesichtspunkte haben aber in Finnland dazu geführt, daß nie ein Strafverfahren gegen einen Richter eingeleitet wird, wenn der Versehens gemachte Fehler im Instanzenweg berichtigt werden kann. Ja, auch wenn ein fehlerhaftes rechtskräftiges Urteil vorlag, der Richter aber durch eigene Initiative (Antrag bei der höchsten Instanz) eine Berichtigung zustande gebracht hat, wird ein Strafverfahren gegen ihn nicht eingeleitet. Der praktische Wert eines gegen den Richter einzuleitenden Strafverfahrens ist somit nicht allzu hoch anzuschlagen. Ohne die ständige Möglichkeit eines solchen Verfahrens würde eine unabhängige Rechtsprechung aber leicht 11 Über die Zweckmäßigkeit eines Strafverfahrens gegen Richter siehe Bo Palmgren und Arne Bergroth, in: Tidskrift, utgiven av Juridiska Föreningen i Finland, 1945, S. 33 - 46. 12 Über das Autoritätsproblem C. G. Möller, in: Tidskrift, utgiven av Juridiska Föreningen i Finland, 1945, S. 64 - 65.
II. 12. Die Juristenschulung
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zu schweren Mißständen Anlaß geben. Durch das angedrohte Strafverfahren wird auf den Richter ein psychischer Druck ausgeübt, der seine Gesamthaltung beeinflußt. Die kausale Beeinflussung der Gesamthaltung des Richters bedeutet, daß durch rechtliche, gegen den Richter angedrohte Sanktionen eine objektivierende Wirkung indirekt erreicht werden kann, auch in Situationen, die von einer rechtlichen Sanktion nicht direkt betroffen werden können. 12. Die Juristenschulung Die meisten positiven Rechtsordnungen enthalten Normen darüber 1. wie werdende Juristen geschult werden sollen (z.B. Prüfungsordnungen juristischer Fakultäten an Hochschulen), 2. daß eine solche - höhere oder niedrigere - Prüfung eine legale Voraussetzung für die Ernennung zu manchen im positiven Rechte aufgezählten Ämtern ist (Justiz, Verwaltung). Die Ausbildung werdender Juristen in einer bestimmten Rechtsgemeinschaft kann einheitlich geordnet sein oder sie kann sich auf verschiedene Speziallinien aufteilen (z.B. Justiz-, Verwaltungsbeamte). Das Hauptgewicht kann auf das theoretische Studium gelegt werden oder auf praktische Berufsausübung, und es können dabei beide in mannigfacher Weise miteinander kombiniert werden. Uns interessieren hier die folgenden zwei Fragen: 1. Können bei der theoretischen Schulung in verschiedenen Rechtsgemeinschaften invariante Züge aufgezeigt werden? 2. Wird durch die Juristenschulung eine Objektivität der Rechtsprechung gefördert? Einleitungsweise sei hier festgestellt, daß die Bedeutung der Juristenschulung in den heutigen, hochgradig differenzierten und vor schwierigen sozialen Entwicklungsproblemen stehenden Rechtsgemeinschaften im Steigen ist. Eine mehrjährige Spezialausbildung wird heutzutage auch von Ärzten, Lehrern, Ingenieuren und Architekten gefordert. Es wäre schwer vorstellbar, daß Leute, die sich auf dem Gebiete des Rechts berufsmäßig betätigen und hier täglich Fragen behandeln, deren praktische Bedeutung für die Staatsbürger oft sehr groß ist, nicht eine ebenso gründliche theoretisch-praktische Berufsausbildung nötig hätten. Die Notwendigkeit einer juristischen Spezialausbildung ist im Rechtsleben der Sowjetunion besonders klar zum Vorschein gekommen. Die Sowjetverfassung vom Jahre 1936 steht auf dem grundsätzlichen Standpunkte, daß eine Juristenschulung nicht die rechtliche Bedingung der Zulassung zum Richteramt ist. Dieses wird als Folgesatz des Prinzipes einer konsequenten Demokratie ausgelegt.1 Faktisch wird aber einer solchen Schulung in der Sowjetunion die größte Bedeutung für den Richterstand beigemessen.2 1 So z.B. N. N. Poliansky in seiner Studie „Justice in USSR", S. 12. - Im Verfassungsentwurfe wurde die Juristenschulung für die Richter als eine rechtliche Bedingung aufgestellt.
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In Finnland wurde in den letzten Jahren - in Zusammenhang mit einer Neuordnung der juristischen Studien an der Staatsuniversität - die Juristenschulung eingehend debattiert. Man hob treffend hervor, daß eines von den Hauptzielen dieser Schulung das juristische Denken sei. Dieses Denken bedeute, daß Tatsachen, die für eine bestimmte Rechtsfrage von Bedeutung sind, kritisch gewertet werden, also ein Vermögen, wesentliche, auf die Sache einwirkende Sachverhalte und Gesichtspunkte gewahr zu werden und unwesentliche wegzueliminieren und schließlich ein zur Gewohnheit entwickeltes Vermögen der logischen und bindenden Beweisführung und Schlußfolgerung. 3 Bei dieser Charakteristik heben wir die Begriffe ,νοη Bedeutung' und ,wesentlich' hervor. Das juristische Denken ist vor allem ein stark schematisierendes Denken. Für den Juristen sind nur diejenigen Sachverhalte von Bedeutung, wesentlich, die den positivrechtlich festgelegten Schemen entsprechen. Das juristische Denken betrachtet die soziale Wirklichkeit durch diese Schemen. Es ist klar, daß das Gesamtbild dabei ein gänzlich verschiedenes von dem eines Laien wird. Viele Qualitäten, die dem Laien wesentlich erscheinen, sind dem Juristen unwesentlich und umgekehrt. Bekanntlich hat man das juristische Denken mit dem mathematischen verglichen. So z.B. der italienische Logiker Francesco Orestano. 4 In einem vom Studienausschuß der Studentenschaft an der Universität Helsinki publizierten „Wegweiser für angehende Juristen" wird die Behauptung aufgestellt, daß wenn ein Student in der Schule auf dem Gebiete der Mathematik (und des Lateinstudiums) gute Fortschritte gemacht hat, er sich darauf verlassen könne, „daß in ihm Material sei, woraus ein juristisch denkender Jurist gemodelt werden kann". Man sollte aber hier vorsichtig sein. Zwischen dem souveränen, in seinem eigenen Reiche frei waltenden mathematischen Denken und dem an positiven Normen gebundenen juristischen Denken besteht doch nur eine oberflächliche Ähnlichkeit, 5 die aber durch die weitgeführte Schematisierung des rechtlichen Denkens akzentuiert wird. 2 Poliansky, op. cit., S. 12; Κ. Ρ. Gorschenin, Savjetskii narodnii sud, Moskau 1949, S. 27ff. - Vom Standpunkte einer rein theoretischen Betrachtung ist ein Vergleich zwischen dem sozialistischen Sowjetrecht und nicht-sozialistischen Rechtsordnungen von besonderem Interesse. Die sozialen Grundwertungen, als deren Ausfluß die Rechtsordnungen gedeutet werden können, sind in diesen beiden Fällen gänzlich verschieden. Dessenungeachtet können mit dem Recht zusammenhängende Phänomene festgestellt werden, die im sozialistischen als auch im nicht-sozialistischen Wertungsfeld invariant auftreten. In dieser Untersuchung haben wir solche Vergleiche oft angestellt. 3 Professor V. Merikoski, Lakimies 1946, S. 392. - Aatos Alanen hat in seinem Buche „Yleinen oikeustiede" (Allgemeine Rechtswissenschaft), Helsinki 1948, der Eigenart des juristischen Denkens besondere Beachtung geschenkt. 4 Filosofia del diritto, Milano 1941, S. 104, 151 ff. - Nuove vedute logiche, Milano 1939, S. 43ff. 5 Der bekannte finnische Mathematiker Rolf Nevanlinna hob in einem Gespräche mit dem Verfasser hervor, daß die Symbole des juristischen Denkens ,gebunden' sind. - R. Daval et G.-T. Guilbaud, Le raisonnement mathématique, Paris 1945, S. 99ff. ; Α. Ν. Whitehead , Essays in Science and Philosophy, London 1948, S. 195ff.
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Wenn man das Denken der klassischen römischen Jurisprudenz, das die Grundlage der abendländischen Rechtskultur bildet, analysiert, fällt es auf, wie außerordentlich stark dieses Denken schematisiert. Die mannigfaltigen sozialen Tatsachen werden durch folgerichtige Anwendung einiger weniger, immer wiederkehrender rechtlicher Grundbegriffe und Denkformen beherrscht. Durch eine auf breiter Basis vorgenommenen vergleichenden Betrachtung des klassischen römischen und des heutigen juristischen Denkens sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß die Römer noch viel stärker schematisierten als dieses in der modernen Jurisprudenz der Fall ist. Sie gehen hierbei so weit, daß ihr Denken dem heutigen Juristen zuweilen als ein bloßes kombinatorisches Spiel mit rechtlichen Grundbegriffen vorkommt. Für eine unvoreingenommene Betrachtung stellt es sich aber dabei heraus, daß auch das moderne juristische Denken eine Kombinatorik der rechtlichen Grundbegriffe ist. Jetzt wird auch verständlich, was es bedeutet, wenn behauptet wird, daß die Römer „eine einzigartige juristische Begabung" zeigten.6 Die von uns früher (im Kapitel „Soziale Kontrolle") behandelte Dialektik des Richterberufes, d.h. die all seinem Denken fortlaufend begleitende Spannung zwischen Rechtssicherheit und Billigkeit, ist notwendige Folge einer starken Schematisierung. Diese konstante Spannung ist nicht nur bei der Arbeit des Richters feststellbar. Sie ist eine invariante Eigenschaft allen rechtlichen Denkens. Es sei besonders hervorgehoben, daß sie keineswegs nur ausnahmsweise erscheint, sondern daß sie - schwächer oder stärker - immer das rechtliche Denken begleitet. Wenn der Stärkegrad gering ist, wird die Spannung dem Denkenden kaum bewußt. Nur wenn die Toleranzschwelle überschritten wird, kommt ein genaues Innehalten der vom Rechte aufgestellten Schemen dem Denkenden als ,unbillig 4 vor, und er sucht einer solchen Entscheidung auszuweichen. Wenn man die Grade der Spannung auf einer fortlaufenden Skala abbildet, bekommt man ein anschauliches Bild von der Dialektik des rechtlichen Denkens. Man kann dabei z.B. untersuchen, wie zu einer konkreten rechtlichen Entscheidung 1. der Richter, 2. der Sachwalter, 3. der Laie reagiert. Oder man untersucht die Reaktionen einer konkreten Person zu verschiedenen rechtlichen Entscheidungen. 6
In der „Einleitung" hoben wir hervor, daß die allgemeine Rechtslehre als eine Kombinatorik der Rechtsformen aufgefaßt werden kann. Das juristische Denken aber, so wie es in der Praxis und in der daran angeschlossenen Jurisprudenz ausgeübt wird, ist eine Kombinatorik nicht der rein theoretisch und frei aufgestellten rechtlichen Grundformen, sondern der durch das positive Recht gegebenen Grundbegriffe. - Der Verfasser hofft in einer nicht allzu entlegenen Zukunft eine Studie über das juristische Denken veröffentlichen zu können. Darum hier nur die obigen kurzen Andeutungen. Wenn man invariante Züge des juristischen Denkens klarzulegen versucht, ist es aufschlußreich, auch das mittelalterliche germanische Rechtsdenken zu analysieren. So kann z.B. im ältesten schwedischen mittelalterlichen Gesetzbuche, „Äldre Västgötalagen", eine auf alter Rechtskultur fußende Schematisierung (immer wiederkehrende Grundbegriffe und Denkformen) festgestellt werden. Die äußerliche Form der Rechtssätze ist aber eine lebendig erzählende, oft sogar dramatische. 9 Brusiin
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Die häufig gehörte Behauptung, das Rechtsstudium und die Gesetzestexte seien ,trocken', steht mit der Schematisierungstendenz des rechtlichen Denkens in Verbindung. Die soziale Wirklichkeit wird ja durch dieses Denken in eine Menge formalisierter Relationen aufgelöst. Wenn aber jemand diese ,Trockenheit' des rechtlichen Denkens mit uninteressant' gleichsetzt, bedeutet dies, daß er nicht zu sehen vermag, welche Konsequenzen eine solche auf soziale Phänomene angewandte schematisierende Betrachtung hat. Die Beherrschung der Natur ist durch angewandtes mathematisches Denken bedingt, die Beherrschung der menschlichen Gesellschaft wird durch rechtliches Denken angestrebt. Menschliche Handlungen können nur dadurch in vorausbestimmte Kanäle geleitet werden, daß die Rechtsnormen zu schematisierten Tatbeständen schematisierte Sanktionstypen knüpfen. Von einem rationalen Standpunkte aus betrachtet kann somit das Recht als eine spezifische soziale Technik aufgefaßt werden (Kelsen). Die Methode des juristischen Denkens und die Frage, wie der juristische Unterricht zweckmäßig zu ordnen sei, wurden in den letzten Jahren in der Sowjetunion lebhaft diskutiert. Dabei wurde ,der Formalismus' des bisherigen sowjetrussischen rechtlichen Denkens beanstandet. Wenn man aber die neuen inzwischen erschienenen, bei Universitätsstudien angewandten Lehrbücher näher analysiert, kann man feststellen, daß auch hier die bei allem juristischen Denken charakteristischen Züge auftreten, mag man sie Formalismus, zu weit getriebene Schematisierung oder wie immer benennen.7 Außer dem Schematisieren kann man beim juristischen Denken verschiedenster Zeiten und Ideologien noch einen zweiten immer vorhandenen invarianten Zug feststellen: die Ganzheitsschau. Die ganze Rechtsordnung bildet beim juristischen Denken den potentiellen Hintergrund. Dieser Zug kommt beim Denken des Richters besonders klar zum Vorschein, weil er eben prinzipiell ein Hüter der Rechtsordnung ist. Bei jedem fachlich geschulten Juristen werden aber bei der Arbeit alle vor ihm stehenden konkreten Fälle als „Rechtsfälle" aufgefaßt. Das bedeutet einerseits, daß sie schematisiert werden, andererseits, daß bei ihrer Beurteilung die ganze Rechtsordnung den potentiellen Hintergrund bildet. Keineswegs aber den potentiellen, immer bewußten Hintergrund. Wie könnte der mitten im pulsierenden praktischen Leben stehende Jurist mit einem solchen schwerfälligen Riesenapparat arbei7 Die von der Wissenschaftsakademie und dem Justizministerium gemeinsam herausgegebene führende Zeitschrift „Savjetskoje gasudarstvo i pravo" beschäftigt sich fortlaufend mit Methoden- und Unterrichtsfragen. Besonders hervorzuheben: Akademiker A. J. Wyschinskij, Ο nekatorih vaprosah teorii gasudarstvo i prava (6/1948); Akademiker J. P. Trainin , Ο programme kursa savjetskogo gasudarstvennogo prava (11/1948). - Die Sitzungsberichte der Wissenschaftsakademie, Sektion für Wirtschaft und Recht, enthalten manchmal prinzipielle Diskussionen. So z.B. 2/1948: eine scharfe Auseinandersetzung u.a. mit der Methode Α. I. Denisovs in seinem Lehrbuche des Staatsrechts sowie mit dem Lehrbuche „ Administrative) je pravo SSSR" von I. I. Eftihiev und V. A. Vlasov.
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ten! Er unterscheidet sich vom Laien dadurch, daß bei seinem Denken ein potentieller Hintergrund vorhanden ist, der dem Laien fehlt. Warum dieser Unterschied? Weil dem Laien die jahrelange juristische Spezialausbildung fehlt, die beim Juristen in all seinem Denken nachklingt. Nun wird auch verständlich, warum das Rechtsgefühl des Laien hemmungsloser und impulsiver reagiert als dasjenige eines Juristen. 8 Beim Juristen wird seine Gefühlsreaktion sofort durch die Ganzheitsschau gedämpft und kontrolliert. Eine Juristenschulung, bei der das juristische Denken mit seinen oben dargelegten invarianten Zügen eine zentrale Stelle einnimmt, bildet die wichtigste Garantie einer objektiven Rechtsprechung. Daß die Ganzheitsschau objektivierend wirke, leuchtet ohne weiteres ein. Auch die Schematisieçung wirkt in dieser Richtung. Durch sie wird ein stark vereinfachtes und formalisiertes Bild der sozialen Wirklichkeit geschaffen, wodurch störende subjektive Gefühlsqualitäten soweit möglich eliminiert werden.
8 Dieser Unterschied wurde von Osvi Lahtinen in einem Gespräche treffend hervorgehoben. - Im vorigen haben wir zwei Züge des juristischen Denkens gestreift. Dadurch wird das Problem einer zweckmäßigen Juristenausbildung keineswegs erschöpft. Sollte nicht diese Schulung in fortwährender unmittelbarer Fühlung mit dem praktischen Rechtsleben vor sich gehen? Der berühmte amerikanische Jurist Jerome Frank ist der Meinung, die Juristenschulung sei ohne einen solchen intimen Kontakt wertlos, A Plea for Lawyer-Schools, in: The Yale Law Journal 56 (1947), S. 1303 1344. 9*
I I I . Über das juristische Denken Vorwort Indem ich die in dieser Studie enthaltenen Fragmente veröffentliche, will ich meinen Freunden Osvi Lahtinen und Jan-Magnus Jansson herzlich danken. Ihr dauerndes Interesse und ihre sachkundigen kritischen Bemerkungen waren mir sehr wertvoll. Der Stiftung Emil Aaltosen Säätiö und der Universität Helsingfors, die meiner Arbeit wirtschaftliche Unterstützung gewährt haben, sowie der Societas Scientiarum Fennica spreche ich meinen tief empfundenen Dank aus. Helsingfors, den 30 Mai 1951. Otto Brusiin Dozent an der Universität Helsingfors/Helsinki 1. Der Mensch und sein Recht In dieser Studie wird der Versuch unternommen, das Recht und das juristische Denken von einem einheitlichen anthropologischen Aspekte aus zu betrachten, d.h., sie werden auf die geistige Konstitution des Menschen zurückgeführt. Wir stellen hier eine Arbeitshypothese auf, in der Hoffnung, daß sie sich bei der Durchführung unserer Forschungsaufgabe als fruchtbar erweisen werde. Wir behaupten nicht, daß durch diese Arbeitshypothese das ,Wesen' des Rechts oder des juristischen Denkens erschöpfend klargelegt wird. Wenn man das Menschenbild der modernen philosophischen Anthropologie näher betrachtet, so wird man feststellen, daß dieses Bild dem der althergebrachten christlichen Theologie in manchen fundamentalen Zügen ähnlich ist. Wie sollen wir dies erklären? Ist das Menschenbild der sog. philosophischen Anthropologie nur ein blasser Nachschimmer derjenigen Geistesepoche, in der die Theologie eine herrschende Stellung einnahm und sich der Philosophie als ihrer Magd bediente? Ist die philosophische Anthropologie unserer Tage ein schwächlicher Ersatz einer einst alleinherrschenden Theologie?1 1 Martin Buber, Dialogisches Leben, Zürich 1947, S. 391, stellt fest, daß die Anthropologie Kierkegaards eine theologische ist und fährt fort: „Aber die philosophische Anthropologie unserer Zeit ist durch sie ermöglicht worden. Diese philosophische
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Hat die heutige säkularisierte Kulturepoche ein Bedürfnis, daß ihr wenigstens ein geistiges Menschenbild gelassen werde? - Wir gehen auf dieses Problem hier nicht weiter ein, sondern stellen eine neue Frage: könnte nicht die Ähnlichkeit des theologischen und des philosophisch-anthropologischen Menschenbildes auch so gedeutet werden, daß der Theologie eine tiefsinnige, in manchen Hinsichten sehr realistische Menschenkenntnis zugrunde lag? Dieses Menschenbild wurde von der philosophischen Anthropologie unserer Zeit ,neu' entdeckt und ohne den althergebrachten religiösen Überbau als eine philosophische Lehre dargestellt. 2 Wir sprachen oben von der philosophischen Anthropologie. Wenn aber eine prinzipielle Scheidung zwischen wissenschaftlicher Forschung und philosophischer Spekulation (Metaphysik) gemacht wird 3 , so entsteht die Frage: wie können wir eine tragfähige Arbeitshypothese für eine wissenschaftliche Studie aus der philosophischen Anthropologie gewinnen? Sollten wir uns nicht eher an eine wissenschaftliche' Anthropologie wenden? Gerne, wenn nur eine solche vorhanden wäre. Die biologische Anthropologie, die sich mit dem aufrechten Gang des Menschen, seiner embryologischen Entwicklung, seiner Hand und mit ähnlichen, an sich bedeutungsvollen Fragen beschäftigt, bietet uns für diese Studie wenig Hilfe. Dasjenige anthropologische Denken aber, das auf die für uns zentralen Fragen eingeht, hat das philosophische Stadium Anthropologie mußte, um ihre philosophische Grundlage zu gewinnen, der theologischen Voraussetzung entsagen. Das Problem war, ob es ihr gelingen würde, das zu tun, ohne auch die metaphysische Voraussetzung der Verbundenheit des konkreten Menschen mit dem Absoluten zu verlieren." - Die philosophische Anthropologie Béla von Brandensteins, Der Mensch und seine Stellung im All, Einsiedeln 1947, hat ein durchaus theologisierendes Gepräge. Z.B. S. 561 - , 585 - (der Mensch vor Gott). - Man fragt sich, ob nicht die Theorien, die eine Existenz ,objektiver' Werte, einer objektiv geltenden Wertordnung behaupten, ein Nachschimmer der einst herrschenden christlichen Weltanschauung sind. F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, S. 267, 269; Luigi Bagolini, Valutazioni morali e giuridiche nella crisi dell'etica individuale, S. 19; Alf Ross, On the Logicai Nature of Propositions of Value, in: Theoria XI (1945). 2 Theologische Klänge bei Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, Zürich 1948, S. 64 - 65: „Das Wesentliche ist, daß der Mensch als Existenz in seiner Freiheit sich geschenkt erfährt von der Transzendenz. Dann wird die Freiheit des Menschseins der Kern aller seiner Möglichkeiten in der Führung durch die Transzendenz, durch das Eine zu seiner eigenen Einheit. - Diese Führung ist radikal anders als jede Führung in der Welt." 3 Karl Jaspers, Philosophie, I, 2. unveränderte Aufl. von I - III 1948 (Berlin 1932), S. 130 - 135, 213; Martin Heidegger, Über den „Humanismus" in „Piatons Lehre von der Wahrheit", Bern 1947, S. 55; Gabriel Marcel, Du refus à l'invocation, Paris 1940, S. 109: ... la philosophie est une surélévation de l'expérience, S. 158: ... le travail philosophique ... réside avant tout dans l'approfondissement de certaines situations spirituelles ... ; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1: Das Ziel jeder Philosophie ist die Sinndeutung der menschlichen Existenz. - Zu vergleichen die kritischen Bemerkungen bei Ludwig Klages, Die Sprache als Quell der Seelenkunde, Zürich 1948, S. 68 - 101. - Ein durchaus metaphysischer Satz bei Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 55: Alle weltlichen Abhängigkeiten und biologischen Entwicklungsprozesse betreffen gleichsam den Stoff des Menschen, nicht ihn selbst.
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noch nicht verlassen. 4 Man kann auch fragen, ob eine Anthropologie, die sich mit Fragen befaßt, die der Mensch als zentral bedeutsam erlebt, nicht immer philosophisch' bleiben muß. Wenn sich ein Mensch den Menschen an sich zum Forschungsgegenstande macht, so scheint jene Einstellung eine höchst philosophische zu sein.5 - Wir werden kein anthropologisches System aufstellen. Für unsere Studie genügen einige konstante Züge des Menschen, deren Vorhandensein jederzeitg durch eine empirische Beobachtung verifiziert werden kann. Diese vorsichtige Formulierung ist auch deshalb geboten, weil es äußerst zweifelhaft ist, ob eine allgemeingültige Anthropologie überhaupt aufgebaut werden kann. Starke Gründe sprechen dafür, daß der Mensch unlösbar an die jeweilige Kulturform gebunden, eine Funktion dieser zeitbedingten Totalität ist, und daß von einer Anthropologie daher nur im Sinne einer Kulturanthropologie gesprochen werden kann. 6 Der Mensch ist ein Wesen, das ein fundamentales Bedürfnis hat, sich auf Überempirisches, objektiv nicht Verifizierbares zu beziehen.7 Das Überempi4 Karl Jaspers, Philosophie I, S. 132: Historisch ist wiederholt Metaphysik als Entwurf des Seins der Geburtshelfer weltorientierender Wissenschaft geworden; Alois Dempf, Theoretische Anthropologie, Bern 1950, S. 13: Die große Zeit der philosophischen Menschenlehre war das frühe 19. Jahrhundert. Damals trat die neuzeitliche Philosophie in ihre anthropologische Phase; Martin Buber, Dialogisches Leben, S. 381: Erst in unserer Zeit ist das anthropologische Problem zu seiner Reife gelangt, d.h., es ist als selbständiges philosophisches Problem erkannt und behandelt worden. - Die Äußerungen Dempfs und Bubers heben zwei Phasen eines Entwicklungsganges hervor. Eine bedeutungsvolle Etappe auf der Suche nach einer empirischen wissenschaftlichen Anthropologie bilden die Forschungen Helmuth Plessners. Z.B. Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin u. Leipzig 1928; Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, 2. Aufl. Bern 1950, S. 7 - 28, 185 211; Erich Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, Bonn 1948, S. 18 - 30, 50 56, 75 - 101. - Zu vergleichen das Sammelwerk „Personality in Nature, Society, and Culture", edited by Clyde Kluckhohn and Henry Murray, New York 1950. 5 Leopold von Wiese, Das Problem einer Wissenschaft vom Menschen, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, XX (1940) S. 15, äußert über „eine allgemeine Anthropologie der Zukunft": Sie kann sich nicht (wie die Soziologie) auf die Empirie beschränken, sondern muß das Bindeglied der Erfahrungswissenschaften vom Menschen zur Metaphysik bilden. Der Mensch in seinem Verhältnis zur Gottheit ist ihr letztes abschließendes Thema; Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 45 - 67; David Bidney, On the Philosophical Anthropology of Ernst Cassirer and its Relations to the History of Anthropological Thought, im Sammelwerk „The Philosophy of Ernst Cassirer", Evanston 1949. 6 Erich Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 7 - 9, 138 144; Gabriel Marcel, Du refus à l'invocation, S. 232 - 233. 7 Luigi Bagolini, Valutazioni morali e giuridiche nella crisi dell'etica individuale, S. 32: Il puro Assoluto trascendente è il mistero divino. L'atteggiamento religioso, nella sua essenza peculiare, è l'atteggiamento che l'uomo assume di fronte a ciò che dal punto di vista storico è in sè e per sè mistero. S. 34, 35; Giorgio Del Vecchio, Lezioni di Filosofia del diritto, S. 329 - 330: La coscienza dei limiti del nostro intelletto permette e, anzi, impone un sentimento di religioso rispetto verso i misteri che ci circondano e ci trascendono; Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt a. M. 1949, S. 35: Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Ganzen fiir das Begreifen zurückzuerhalten.
III. 1. Der Mensch und sein Recht
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rische, Nichtverifizierbare 8 wird als etwas zentral Bedeutsames erlebt. Biologisch betrachtet muß es rätselhaft erscheinen, daß der Mensch immer bereit gewesen ist, für solche überempirische, nichtverifizierbare ,Wirklichkeiten 4 sogar seine Existenz aufzuopfern (Märtyrer, Glaubenshelden). A n das Überempirische, Nichtverifizierbare knüpfen sich beim Menschen die stärksten Affekte an: für diese Ziele ist er bereit, nicht nur seine eigene, sondern auch die Existenz anderer Menschen aufzuopfern (Ketzerverfolgungen, Glaubenskriege). - Mit dem Terminus ,metaphysisches Erlebnis' bezeichnen wir in dieser Studie ein affektbetontes Erlebnis beim Menschen, das sich auf Überempirisches, objektiv nicht Verifizierbares 9 bezieht. Wegen seiner Affektbetontheit seiner erlebten Bedeutsamkeit nimmt dieses Überempirische, Nichtverifizierbare einen zentralen Platz in der Weltanschauung des betreffenden Menschen ein. 10 Eine Religion als soziale, kulturgeschichtlich bedingte Tatsache baut sich auf einer großen Menge ähnlich gedeuteter und einheitlich geleiteter metaphysischer Erlebnisse verschiedener Menschen auf. Weil die metaphysischen Erlebnisse meistens im Rahmen einer Religion auftreten, könnte man auch von religiösen Erlebnissen sprechen. Wir ziehen aber in dieser Studie den Terminus ,metaphysisches Erlebnis 4 vor, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil die individuellen menschlichen Erlebnisse das Fundamentale sind, worauf sich die Religion als ein sozialer, kulturgeschichtlich bedingter Überbau stützt. Zweitens, weil die individuellen metaphysischen Erlebnisse in der heutigen weitgehend säkularisierten Kulturepoche vielfach selbständig, von jeder bestimmten Religion und Kirche losgelöst auftreten. 11 8
Karl Jaspers, Philosophie, III, Berlin 1932, S. 130: Die metaphysische Erfahrung entbehrt jeder Nachprüfbarkeit, die sie zu einer gültigen für jedermann machen könnte. - In ihr ist eine Seinsübersetzung aus bloßem Dasein in Ewigkeit, zu der kein Wesen dringt. (Kursivierung von Jaspers) - Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, Berlin u. Leipzig 1933, S. 98: Das spekulative Denken fällt immer wieder zurück in den Atavismus, die Welt auf sich zu orientieren. In den dunklen metaphysischen Bedürfnissen steckt eben die Rückgebundenheit des Bewußtseins an seine primitive Urform. 9 Francisco Elias de Tejada Spinola , Introducción al Estudio de la Ontologia Juridica, S. 27, unterscheidet drei Klassen von Geschöpfen: die untermenschlichen Wesen, die Engel und die Menschen. Die Eigenschaften der Engel werden mit denjenigen der Menschen verglichen, S. 28. U.a. kennen die Engel keine Angst, weder eine jetzige noch eine zukünftige. Sie haben beim Schöpfungsprozeß die Probe triumphal bestanden und existieren jetzt „en gloria para siempre". 10 Martin Heidegger, Über den „Humanismus", S. 64: ... zeigt sich ... das Eigentümliche aller Metaphysik darin, daß sie „humanistisch" ist. Demgemäß bleibt jeder Humanismus metaphysisch. 11 Wir denken an die tiefsinnigen Worte Francesco Carneluttis, Arte del diritto, S. 50: Più che di ogni altra cosa l'uomo ha bisogno di eternità. - Die Termini,metaphysisch' und ,religiös' fassen wir nicht in dem unterschiedlichen Sinn auf wie etwa Auguste Comte , Cours de philosophie positive, 2. éd., Paris 1864, I, S. 9; F. Β. Cicala , Corso di Sociologia, Firenze 1950, S. 48: eine kritische Darstellung der Lehren Comtes. Rudolf Otto, Das Heilige, Gotha 1929, S. 5 - 78; Robert F. Davidson, Rudolf Otto's Interpretation of Religion, Princeton 1947, S. 179 -.
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Das fundamentale Bedürfnis des Menschen, sich auf Überempirisches, objektiv nicht Verifizierbares zu beziehen, leitet ihn auch dazu, den menschlichen Tod geistig zu überwinden. Der Tod des Menschen ist eine felsenfeste empirische Tatsache, und nur ein metaphysisches Wesen könnte daran gehen, den Tod zu ,überwinden'. Von einem bestimmten Aspekte aus betrachtet kann die Metaphysik und die Religion als eine geistige Sicherung gegen den Tod gedeutet werden. 12 - Ein Tier ist an das Leben gefesselt, in das es hineingeboren wird. Ein Mensch kann aber sein Leben von sich werfen. Ein Tier ist somit in seinem Leben gefangen wie in einem von außen zugeriegelten Kerker; der Mensch dagegen vermag die Tür aufzumachen, nachdem er die animalische Todesfurcht überwunden hat. Diese Überwindung dürfte aus einem biologischen Aspekte heraus schwer zu erklären sein. 13 Es ist offenbar, daß das arttypische Bedürfnis des Menschen, den Tod geistig zu überwinden und sein Vermögen, sich von den Fesseln des Lebens freizumachen, miteinander zusammenhängen. Insbesondere jenes Vermögen, die Eintrittskarte zum Leben zurückzureichen (Dostojewski) scheint uns das höchste Symbol der menschlichen Freiheit 1 4 ' 1 5 . 12 Der große spanische Humanist und Denker Miguel de Unamuno äußert in „Del sentimiento tragico de la vida", 8. ed., Buenos Aires 1947, S. 37: Y ese punto de partida personal y afectivo de toda filosofia y de toda religion es el sentimiento tragico de la vida. - S. 40: ... la voz del misterio me susurra: jdejarâs de seri, me roza con el ala el Ângel de la muerte. Zu vergleichen op. cit. 254. - Ingemar Hedenius, Tro och vetande (Glauben und Wissen), Stockholm 1949: eine scharfe rationalistische Analyse des Unsterblichkeitsglaubens. „Die meisten dieser Gefühlsgründe für eine Unsterblichkeit sind der Ausdruck eines mehr oder weniger respektablen Verlangens nach Gerechtigkeit und Sinn der Existenz", S. 260. „Wir können uns vom metaphysischen Schrekken befreien. Der erste Schritt dazu dürfte sein, daß man seine Unvernünftigkeit (vettlöshet), seinen absoluten Mangel an Sinn bis zum Grunde durchschaut", S. 267 - Übers, aus dem Schwedischen. - Wir möchten dies jedoch bezweifeln. Wenn Luigi Bagolini, Valutazioni morali i giuridiche nella crisi dell' etica individuale, S. 5, sagt: Ci sono uomini che credono in un principio religioso sopranaturale e trascendente ed uomini che non credono, so ist dies als empirische psychologische Feststellung vielleicht richtig. Bei jedem Menschen dürfte aber das metaphysische Bedürfnis vorhanden sein. Die marxistisch-metaphysisch eingestellte Sowjetjugend mag sich vom ,Opium' der Religion und der Metaphysik frei glauben, und doch liegt hier ein lebendiger Glaube vor, der an die große Zeit des christlichen Mittelalters erinnert. Bei einem persönlichen Kontakt mit Sowjetmenschen tritt diese ihre Einstellung besonders stark hervor. 13 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1930, S. 46: Das, was den Menschen zum Menschen macht, ist ein allem Leben überhaupt entgegengesetztes Prinzip ... S. 47: ... seine existentielle Entbundenheit, Freiheit, Ablösbarkeit oder doch die seines Daseins Zentrums - vom Banne, vom Drucke, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom „Leben" ... Mihai Ralea, Explication de l'homme, Paris 1949, S. 38. 14 Mit besonderer Ehrfurcht gedenken wir hier der drei Namen: Felix Somló, Leon Petrazycki, Walther Burckhardt. 15 Os vi Lahtinen, M., Naturgeschehen und Verhalten des Menschen; Mihai Ralea, Explication de l'homme, S. 298: Tous nos rêves expriment le désir de briser les limites de notre existence finie. S. 182 - 238: La religion ou l'élimination de la détermination de l'existence; Carlos Cossio, La teoria egológica del derecho y el concepto juridico de
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Betrachtet man das menschliche Handeln vom empirischen Standpunkte aus, so erscheint es ebenso kausalgebunden wie alles übrige in der empirischen Wirklichkeit. 16 Der einzelne Mensch stellt sich zu seinem eigenen Handeln und zum Handeln eines anderen Menschen empirisch oder metaphysisch, je nach der Situation. Wenn er sich z.B. als Angeklagter vor dem Gerichte einem bindenden Beweismaterial gegenüber sieht oder als Sträfling mit dem Gefängnisdirektor spricht, versucht er sein früheres Handeln als kausalgebunden darzustellen (erbliche und Milieufaktoren). Als metaphysisches Wesen erlebt er aber sehr oft das Handeln anderer, und vor allem sein eigenes Handeln, als nicht kausalgebunden. Er erlebt den anderen und sich selbst als ,frei 4 und wenn jemand einwendet, dies sei ,eine Illusion', so weist er die Behauptung mit Entrüstung zurück, weil hier die Würde des Menschen in Frage zu stehen scheint. 17 Die naturwissenschaftlich eingestellte Psychologie betrachtet den Menschen von einem biologischen Aspekte aus und hat dadurch bedeutsame Resultate erzielt. 18 Der einzelne Mensch hat nichts dagegen, wenn seine Mitmenschen so gesehen werden. Sich selbst erlebt er aber nicht rein naturwissenschaftlichbiologisch, und sagt ihm jemand, er sei im Grunde ,ein Tier unter anderen Tieren 4 so fühlt er sich unangenehm berührt, wenn nicht schwer beleidigt. Von einem bestimmten Aspekte aus gesehen dürfte es wohl kaum bestritten werden, daß der Mensch ein Lebewesen unter anderen ist. Weil er aber zugleich ein metaphysisches, d.h. ein auf Überempirisches bezogenes Wesen ist, erlebt er sich als etwas anderes. Bekanntlich hat die herkömmliche christliche Theologie eine scharfe Grenze zwischen Mensch und Tier gezogen. Sie steht hier libertad, S. 287 - ; Luiz Legaz y Lacambra, La triple misión de la Filosofia del derecho, in: Revista da Faculdade de Direito de Lisboa (1950), S. 211 - 212: La vida humana es libertad metafisica frente al determinismo de la ley causal y es libertad fâctica frente al imperativo de la norma. 16 Moderne Theologen treten besonders gern als Kenner der Atomphysik auf und erklären, die Kausalität sei ,aufgehoben' und durch ,bloße Wahrscheinlichkeit' ersetzt. Daß hier ein Mißverständnis vorliegt, siehe Eino Kaila, Zur Metatheorie der Quantenmechanik, Helsinki 1950, S. 82 -. Interessante Schlüsse aus der Atomphysik für die Rechtstheorie Barna Horvâth, Recht und Wirtschaft, S. 348. 17 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 140: Die sittliche Freiheit ... ist ein tiefes metaphysisches Problem. - Der Mensch als sittliches Wesen kann sich diesen zentralen Punkt seines Menschentums auch nicht bestreiten lassen, wenn er sich selbst nicht preisgeben will. - S. 143: Die Freiheit der Entscheidung, die Macht des Machtspruches, ist die höchste Gabe, deren der Mensch teilhaft ist, das eigentliche Wunder seines Wesens, das am meisten Metaphysische und Gottgleiche in ihm. - Hans Kelsen, Causality and Imputation, Repr. from „Ethics" LXI/l/oct. 1950, S. 8 - 9; F. Β. Cicala, II concetto di libertà, in: Estratto dal Commentario sistematico alla Costituzione Italiana, I, Firenze 1949; Morris Stockhammer, Was heißt Willensfreiheit? Eine KantStudie, I - II, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XXXVIII/2 u. 3 (1949 u. 1950); Goffredo Quadri, Necessità e libertà, in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXVII/I (1950). 18 J. J. von Schmid, Rechtsphilosophie, S. 47 - ; Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 29.
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gewissermaßen auf einer empirischen Grundlage, auf der Erlebnis-Grundlage des Menschen. Auf jene Erlebnisse kann man sich aber nicht berufen, wenn es gilt, die Stellung des Menschen im Kosmos objektiv zu erkennen. Unter einem Raubtier ist ein Tier zu verstehen, das sich zu seiner Ernährung der Substanz anderer Tiere bedient, die es zu diesem Zwecke tötet. Es gibt Tiere, die sowohl Pflanzenfresser als auch Raubtiere sind. Wenn wir mit dem Terminus ,Tier' jedes Lebewesen bezeichnen, das nicht eine Pflanze ist (von eventuellen Zwischenformen sehen wir hier ab), so können wir uns der empirischen Feststellung nicht erwehren: biologisch gesehen ist der Mensch ein raubtierähnliches Wesen. Gegen unsere Kennzeichnung des Menschen als raubtierähnliches Wesen werden wohl die meisten Menschen rein gefühlsmäßig ablehnend reagieren. Betrachten wir wieder das theologische Menschenbild: der Mensch ist ein von der Erbsünde zu Boden gedrücktes Wesen, das nur durch die Gnade Gottes emporgehoben werden kann. Es scheint uns, daß der Begriff ,Erbsünde' ein tiefsinniger religiöser Ausdruck derjenigen fundamentalen Tatsache ist, die wir durch die Wortzusammenstellung ,Raubtiernatur des Menschen' symbolisieren. Wenn der Theologe von der emporhebenden Gnade Gottes und von der Wiedergeburt des Menschen spricht, werden wir - unserem abweichenden Aspekte gemäß - andere Symbole wählen. Man könnte von einer totalen geistigen Neueinstellung des Menschen sprechen, deren Bedingungen in seiner Konstitution wurzeln. Die seelischen Prozesse, die dabei wirksam sind, können sicherlich durch eine empirische psychologische Forschung nüchtern und ohne alle religiöse Dogmatik klargelegt werden. 19 Die ablehnende Haltung gegen die Kennzeichnung ,Raubtiernatur des Menschen' beruht aber nicht nur auf einer affektbetonten anthropologischen Grundlage. Sie ist auch kulturhistorisch bedingt. Seit dem Aufklärungszeitalter hat ein falsches optimistisches Menschenbild sich allmählich die herrschende Stellung erobert. Man betrachtete den Menschen als ein im Grunde friedliches, gutmütiges und fortschrittliches' Wesen. Die letzten Jahrzehnte haben diesem idealisierenden Schlummer ein Ende bereitet. - Wir möchten hier auch auf eine ideengeschichtliche Tatsache hinweisen. Seitdem die Menschen in sog. höheren Kulturgemeinschaften leben, bauen sie sich Utopien darüber, wie ein dauernder Friede zu erreichen sei. Es kann wohl als eine arttypische Eigenschaft des Menschen angesehen werden, daß er sich mit solchen Spekulationen abgibt. Arttypisch ist aber bei ihm auch, daß er durch seine 19
Daß dieser zentral bedeutsame Fragenkomplex in der modernen Psychologie nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden hat, dürfte auf starke affektbetonte Hemmungen zurückzuführen sein. Der bekannte dänische Psychologe und Logiker J0rgen J0rgensen stellt fest, daß in dieser Frage „nur eine recht oberflächliche Kenntnis gewonnen ist und ihre nähere Erforschung der zukünftigen Wissenschaft überlassen werden soll", Psykologi paa biologisk grundlag, Kopenhagen 1946, S. 562. Zu vergleichen Eino Kaila, Persoonallisuus, 3. Aufl. Helsinki 1946, S. 361
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Raubtiernatur immer zu neuen Kriegen getrieben wird. Es muß irgendein tieferer Grund vorliegen, der erklären kann, warum der Mensch, trotz all seiner guten Vorsätze und Utopien, immer von neuem zu organisierten Massentötungen seiner eigenen Spezies getrieben wird. 2 0 Bei Raubtieren im eigentlichen Sinne dürfte es kaum vorkommen, daß sie ihre eigene Spezies in großem Ausmaße töten. Auch andere Tiere töten sie wohl hauptsächlich nur, um ihren Hunger zu stillen. 21 Der Mensch verfolgt aber bei den von ihm vorgenommenen Massentötungen seiner eigenen Spezies geistige - z.B. wirtschaftliche - Ziele. Dies bedeutet, daß alle biologischen Schranken für das Ausmaß der Tötung wegfallen. Anthropologisch ist es bemerkenswert, daß der Mensch auf sog. höheren Kulturstufen den Kannibalismus als etwas Abscheuliches ablehnt. Hier würde es sich ja nur um eine biologisch bedingte Tötung (Nahrung) der eigenen Spezies in kleinstem Ausmaße handeln. Um die Stellung des Menschen als Lebewesen unter anderen Lebewesen zu beleuchten, weisen wir darauf hin, daß der Mensch diejenigen in seinem Machtbereiche befindlichen Tiere, die er nicht zu seiner Nahrung oder zu anderen wirtschaftlichen Zwecken gebrauchen kann, großenteils ausgerottet hat. Wendet man hier ein, dies sei eine Folge der ,Kultur', so erinnern wir daran, daß die Kultur eben ein Ausfluß des Menschen ist. - In den heutigen Kulturstaaten mit ihrer weitgetriebenen Arbeitsteilung töten die meisten Menschen nicht selbst die Tiere, die sie essen. Dies wird maschinell und massenhaft von besonderen Berufsleuten besorgt. Anthropologisch ist es auch nicht ohne Bedeutung, daß ein prinzipieller Vegetarianismus von der überwiegenden Mehrheit der Menschen mit einem stillen Lächeln erledigt wird. Für den Menschen ist es etwas Selbstverständliches, daß er sich von der Substanz eigens zu diesem Zwecke getöteter Tiere ernährt. Wir haben absichtlich bei dem biologischen Aspekte des Menschen verweilt. Es sind nämlich außerordentlich starke affektive Hemmungen vorhanden, die den Menschen hindern, seinen Arttyp nüchtern und ohne Idealisie20 Versucht man die Kriege durch „wirtschaftliche Ursachen" zu erklären, so sollte man nicht vergessen, daß die wirtschaftliche Zielsetzung mit allen daraus folgenden destruktiven Erscheinungen eine menschliche Zielsetzung ist. Sie führt also auf das Problem des Menschen zurück. Giorgio Del Vecchio , Diritto ed economia, Roma 1935, S. 26: Quella specie di attività, che brevemente chiamasi economica ... suppone, dunque, l'uomo, con tutta la sua complessa natura ...; Materialismo e psicologismo storico, Estratto dalla Rivista internazionale di Filosofia del diritto, XXIV/II - IV/1947, S. 3. 21 Die Jagd ist anthropologisch nicht ohne Interesse. Auf einer sog. primitiven Stufe war sie eine notwendige Bedingung für das biologische Fortbestehen des Menschen (Nahrung, Bekleidung). Fragt man, welche menschlichen Bedürfnisse die Jagd in einer modernen Kulturgesellschaft befriedigt, falls sie nicht aus wirtschaftlichen Motiven ausgeübt wird, so muß man wohl vor allem auf die Raubtierinstinkte des Menschen hinweisen. Subsidiäre Erklärungsgründe: Sport im Freien, Schönheit der Natur, eventuell Geselligkeit.
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rung zu sehen.22 Wir wollen eine Theorie des Rechtes und des juristischen Denkens nicht auf einer affektbetonten Idealisierung des Menschen errichten. Andererseits darf nicht vergessen werden, daß der biologische Aspekt nur ein Aspekt ist, der nicht monomtan übertrieben werden darf. Die Eigenart des Menschen besteht darin, daß er zugleich ein metaphysisches Wesen ist, der seinen Blick auf die ewigen Sterne und auf den Tod richtet. 23 Die philosophische Anthropologie hat mit Recht hervorgehoben, daß der Mensch im Gegensatz zu den Tieren das Vermögen der Objektivierung und Ideierung hat 24 , d.h., er erlebt seine Umwelt in einer fundamental andersartigen Weise als ein Tier. 2 5 Das Tier ist in dem Kraftfeld seiner Umwelt restlos verstrickt, es vermag sich nicht ,abseits' zu stellen um sich so ein objektives Bild der Sachverhalte zu schaffen. Der menschliche Geist dagegen löst sich von dem unmittelbaren Kontakte mit der empirischen, erlebten Wirklichkeit, er steigt zu den kühnsten Abstraktionen und zu freischwebenden Gedankenkonstruktionen empor. In dieser Hinsicht kann man die Mathematik als das gewaltige Symbol des schaffenden menschlichen Geistes betrachten, als ein Gebiet, auf dem der Mensch seine Freiheit sehr stark erlebt. 26 Die Objektivierung, die Ideierung, die Bezogenheit auf Überempirisches sind Äußerungen einer unteilbaren Einheit, der geistigen Konstitution des Menschen. 27 22 Leopold von Wiese, Ethik in der Schauweise der Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft, Bern 1947, S. 12: Da sich der begehrliche und doch ängstliche Raubtiercharakter der Menschen als unvergleichlich viel stärker erweist als ihr Verlangen nach unbestochenem und reinem Erkenntnislichte, ist alles Wissen vom Menschensubjekte eine Raubtiererkenntnis - zwar nicht nur eine solche, vielmehr stets vermischt mit Erzeugnissen, die außerhalb der Begehrlichkeit und der Furcht liegen. 23 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 13: Der Mensch ist ein mannigfaltig geschichtetes Wesen ... ; Francisco Elias de Tejada Spinola , Introducción al Estudio de la Ontologia Juridica, S. 13 - 56, 109; Si es posible una filosofia juridica existencialista acristiana, Salamanca 1950. 24 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 48 - , 60 -. 25 Der Mensch kann selbstverständlich niemals direkt ermitteln, wie ein Tier seine Umwelt erlebt. Dies ist ein noch schwierigeres Problem als dasjenige des Fremdpsychischen unter Menschen. Er kann aber durch sorgfältige Beobachtungen des Verhaltens von Tieren schließen, daß zwischen Mensch und Tier ein fundamentaler Unterschied besteht. 26 Max Bense, Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik. Die Mathematik und die Wissenschaften, Hamburg 1946, S. 131: Wir sind so leibnizisch gesonnen, daß für uns die Mathematik eine Ideologie ist, eine Ideologie für das Selbstverständnis unseres Geistes, weil wir uns mitten hineinstellen in die eigentliche Erkenntnis jenes Mathematikers und Philosophen, daß nämlich der Geist eine Form habe und diese Form in der reinen Mathematik bestehe; S. 140: ... der Mensch erst durch die Mathematik erfahre, was Geist sei. - Cassius Jackson Keyser, Mathematics as a Culture Clue and other Essays, New York 1947, S. 31: ... nothing is better entitled to rank as one of the great Humanities than Mathematics itself ... 27 Alois Dempf, Theoretische Anthropologie, S. 141: Es muß mindestens der Versuch gemacht werden, das logische und ontologische Denken des Menschen aus seiner
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Nachdem wir so einige für unsere Gedankenentwicklung bedeutsame Züge des Menschen hervorgehoben, stellen wir die Frage: welche Folgerungen ergeben sich aus der Tatsache, daß solche Lebewesen in Gesellschaften zusammenleben?28 Man wird den grundlegenden Unterschied zwischen Tiergesellschaft und Menschengesellschaft folgendermaßen formulieren können: Tiergesellschaften sind instinktgebunden, Menschengesellschaften dagegen normgebunden. 29 Das Handeln der in einer Gesellschaft lebenden Tiere folgt rein biologisch bedingten Instinktmustern, die bei der gleichen Tierart in ihrer arteigenen Umwelt von Generation zu Generation im Wesentlichen unverändert weiterbestehen. Bei den Menschen fehlen die Instinktmuster nicht ganz 30 , aber sie spielen in ihrem gesellschaftlichen Leben eine Nebenrolle. A n ihrer Stelle dominieren gesellschaftliche Normen, deren Vorhandensein ein Ausfluß der objektivierenden, ideierenden, auf Überempirisches bezogenen Einstellung der Menschen ist. 31 Die Normen sind also etwas für den Menschen Spezifisches und durch sein Zusammenleben in Gesellschaften bedingt. Die
Konstitution zu erklären. - S. 146: ... ist die Grundfrage unvermeidlich, warum der Mensch in Wesensbegriffen denkt; Susanne K. Langer, Philosophy in a New Key, New York 1949, S. 32: The basic need, which certainly is obvious only in man, is the need of symbolization ... S. 33: ... the brain ... carries on a constant process of ideation. Langer baut hier die Gedanken Ernst Cassirers weiter. Ernst Cassirer, An Essay on Man, New Haven 1948; Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 28. 28 Ο. Soln0rdal, Individ, stat og rett, S. 56 - 94; Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 51 - ; Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 75 -. 29 Otto Storch, Zoologische Grundlagen der Soziologie, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, N. F. III/3 (1951), S. 388. 30 Zum Problem Mensch/Tier ders., S. 361: Jedes Tier führt sein Leben ab nach einem charakteristischen Regelschema, das alle Funktionskreise umfaßt, wie Ernährungsweise, Auswahl des tauglichen Milieus, Verhalten den Feinden gegenüber, Beziehungen der Geschlechter, Bewegungsart und vieles, vieles andere. Es genügt stets, die ganze Verhaltensweise, das ganze „Aktionssystem" einer Tierart an nur wenigen Beispielen eingehend zu studieren, und man hat damit ein verläßliches Lebensbild erreicht, das für die gesamte Spezies zu Recht besteht. - S. 366: Das Tier besitzt ein Aktionssystem, der Mensch muß es sich, jeder für seine Person, erst erwerben, um leben zu können. - Zu vergleichen Rudolf Blühdorn, Die soziologische Bedeutung der biologischen Beständigkeit der Menschen und Völker, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, N. F. II/2 (1949); Margaret Mead, Anthropological Data on the Problem of Instinct, im Sammelwerk „Personality in Nature, Society and Culture", edited by Clyde Kluckhohn and Henry A. Murray, New York 1950; Bertrand Russell, Authority and the Individual, London 1949, S. 12: In all social animals, including Man, co-operation and the unity of a group has some foundation in instinct ... S. 20: ... the old instincts that have come down to us from our tribal ancestors ...; Ernst Cassirer, An Essay on Man, S. 66, verwirft den Instinktbegriff als unklar; Werner Sombart, Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, Berlin-Charlottenburg 1938, S. 8, 55, 81. 31 Wir behaupten selbstverständlich nicht, daß jede einzelne Norm des menschlichen Zusammenlebens durch die Bezogenheit auf Überempirisches bedingt sei, wohl aber, daß die arttypische Persönlichkeit des ,Menschen' die Grundlage jeglicher Normenbildung ist. In dieser Persönlichkeit ist die Bezogenheit auf Überempirisches ein notwendiges Element.
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Normen enthalten auf die Zukunft bezogene Handlungsschemen, die - zum Unterschiede von den Instinktmustern - grundsätzlich veränderlich sind. Wer sind nun bei den sozialen Normen die Normgeber? Diese Frage kann ohne Zweifel gestellt werden, scheint aber für unsere jetzige Studie nicht ein zweckmäßiger Gesichtspunkt zu sein. Norm und Befehl sollten streng voneinander geschieden werden. In der Befehlssituation haben wir jemanden, der befiehlt und einen anderen, an den sich der Befehl richtet. Die gesellschaftlichen Normen dagegen wachsen in der Gesellschaft als eine Äußerung des dauernden Zusammenlebens von Menschen empor. 32 Ein Befehl kann eine für die Zukunft gültige Norm veranlassen, dies braucht aber nicht der Fall zu sein. Es scheint uns offenbar, daß die menschliche kollektive Eigenschaft, im Zusammenleben Normen zu produzieren, mit der menschlichen Fähigkeit in Verbindung steht, die Welt erkennend zu gestalten. Ein Tier hat weder Normen noch objektive Erkenntnis. Die menschlichen Gesellschaften sind von verschiedenem Umfang und von verschiedener Dauer. Wenn eine solche Gesellschaft mehrere Mitglieder umfaßt und von einiger Dauer ist, wohnt ihr eine Tendenz zur Organisation inne. Wir sollten uns hier vor einer falschen Fragestellung hüten: die Organisation wird der menschlichen Gesellschaft nicht von außen auferlegt, sondern sie wächst aus der Gesellschaft selbst hervor. Sollen wir die Organisation, das Organisieren, als etwas spezifisch Menschliches ansehen? Ist nicht auch bei manchen bestehenden Tiergesellschaften - z.B. Ameisen, Bienen - eine Organisation vorhanden? 33 In einem gewissen Sinne, ja. Es scheint uns aber nicht sinnvoll zu sagen: die Tiere organisieren' ihre Gesellschaft. Eher könnte man die Sache so ausdrücken, daß die Natur hier organisiere - in ,ewig' wiederkehrenden biologischen Strukturen. 34 Nur der Mensch vermag seine 32
Auch eine gesatzte Norm kann als eine Funktion der sozialen Gesamtsituation aufgefaßt werden. Die Rechtsmaschinerie eines modernen Staates ist so kompliziert, daß man bei gesatzten Rechtsnormen nur selten von einem wirklichen ,Befehl' oder ,Willen' reden kann. Meistens sind solche Wendungen bloße Fiktionen. Vgl. Jan-Magnus Jansson, Nâgra synpunkter pâ begreppen „rättsordning" och „stat", S. 7f. 33 David Katz, Mensch und Tier, Zürich 1948; W. C. Allee, Social Life of Animals; Caryl P. Haskins, Of Ants and Men. 34 Diese ,Ewigkeit' bedeutet nur, daß sich die rein biologisch bedingten Strukturen in einem viel langsameren Tempo ändern als dies bei den kulturell bedingten Strukturen einer Menschengesellschaft der Fall ist. Wir stehen hier vor dem Gegensatz zwischen Naturgeschichte und Kulturgeschichte. Selbstverständlich kann der sozial lebende Mensch auch zum Gegenstande einer naturgeschichtlichen Betrachtung gemacht werden. Otto Storch, Zoologische Grundlagen der Soziologie, S. 374: Die erbfreie, erwerbmotorische Erfindung ... begründet einen Fortschritt in ganz anderem Sinne, auf ganz anderem Niveau, sie ist das Bauelement dessen, was man als Menschengeschichte, als Historie benennen mag. - S. 375: Menschengeschichte ist Erwerbgeschichte, und zwar Erfindungsgeschichte plus Traditionsgeschichte. Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 5 11, 461; Giorgio Del Vecchio, Lezioni di Filosofia del diritto, S. 272f.; Ernst Cassirer, An Essay on Man, S. 223; Mihai Ralea, Explication de l'homme, S. 97 - 116; Alois Dempf, Theoretische Anthropologie, S. 39, 45, 216, 226.
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Gesellschaft nach von ihm selbst aufgestellten Zwecken aktiv umzugestalten. Ein schaffendes Organisieren in diesem Sinne setzt die Fähigkeit zu einem Denken in Normen voraus. Durch sie erhebt sich die Menschengesellschaft über die stereotype Tiergesellschaft. So wie der Mensch das Chaos der Welt erkennend in einen Kosmos umgestaltet 35 , so verwandelt er durch normatives Denken seine naturbedingte Gesellschaft in eine Rechtsgemeinschaft. 36 Für eine organisierte Menschengesellschaft ist es kennzeichnend, daß einige ihrer Mitglieder - einzeln oder mehrere zusammen - als Vertreter der Gesellschaft, d.h. als ihre Organe auftreten und von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als solche anerkannt werden. Die Zuständigkeit der Organe wird durch gesellschaftliche Normen geregelt. Man kann sich schwerlich vorstellen, daß in einer Tiergesellschaft ein Tier als Vertreter der Gesellschaft handle und von den anderen Tieren als ein solcher anerkannt werde. Das Gedankenbild ,Vertreter' dürfte das tierische Fassungsvermögen übersteigen. Unter den Normen der menschlichen Gesellschaft kann eine Zweiteilung vorgenommen werden. Der größte Teil dieser Normen steht in keiner unmittelbaren Verbindung mit der gesellschaftlichen Organisation, d. h., sie werden nicht von den Organen formuliert, und die Organe befassen sich nicht mit ihrer eventuellen Nichtbefolgung. Ein anderer Teil der Normen steht aber insoweit mit der gesellschaftlichen Organisation in Verbindung, daß die Organe wegen Nichtbefolgung dieser Normen reagieren. Sie können auch solche Normen formulieren und mit ihrem autoritativen Stempel versehen. Man kann also sagen, daß hinter diesen Normen die organisierte Gesellschaft steht. Solche Normen nennen wir Rechtsnormen. 37 Sie bilden zusammen einen Nor35 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, II, München 1922, S. 593: Der Mensch ist eigentlich Mensch in dem Grade, als sich sein Verstehen vom Empfinden befreit hat, und als Denken in die Beziehungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos schöpferisch eingreift. 36 Über das Problem der Organisation Jan-Magnus Jansson, Hans Kelsens statsteori mot bakgrunden av hans rättsfilosofiska âskâdning, S. I l l , 153; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 9 - ; Georges Gurvitch, Sociology of Law, S. 203; Ο. Soln0rdal, Individ, stat og rett, S. 46 - 55; N. Lehtinen, Mitä oikeus on?, S. 8; Luiz Legaz y Lacambra, Direito e politica, Lisboa 1950?, S. 6: ... a vida humana, por ο ser também social, é sempre vida em forma, vida com estrutura normativa; Alessandro Levi, Teoria generale del diritto, S. 15 - ; Giorgio Del Vecchio, Lezioni di Filosofia del diritto, S. 271 - ; Evoluzione ed involuzione nel diritto, Roma 1945, S. 23 - . Wenn wir den Terminus ,Rechtsgemeinschaft' anwenden, so legen wir ihm nicht diejenige Bedeutung zu, die in der bekannten soziologischen Gegenüberstellung bei Tönnies vorkommt (Gesellschaft/Gemeinschaft). Auch Jansson, op. cit., S. 188, wendet das kurze, bequeme Wort „rättsgemenskap" in einer neutralen Bedeutung an. 37 Κ. N. Llewellyn, The Normative, the Legal, and the Law-Jobs, S. 1366: Certainly in the simpler cultures a society possesses first of all just „what is being done", a general matrix: the pearl of the „legaloid", and then of Law, is secreted slowly, around some irritation. The major lines which may be hit upon seem to include the line of slowly specializing personnel and the line of slowly specializing procedures to handle grievances or disputes; Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl, S. 76: Die rechtlichen Normen, auch die
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menkomplex, den wir Rechtsordnung nennen. Wenn wir die organisierte Menschengesellschaft vom rechtlichen Aspekte aus betrachten, bezeichnen wir sie mit dem Worte ,Rechtsgemeinschaft'. Das Recht steht also in engster Verbindung mit Organisation' ,organisieren'. 3 8 Betrachtet man das Recht einer bestimmten Menschengesellschaft aus einer weiten geschichtlichen Perspektive, d.h. faßt man es als etwas sich fortlaufend Entwickelndes auf, dann kann man es als einen von Jahrhundert zu Jahrhundert fortgesetzten kontinuierlichen Organisationsprozeß deuten. 39 Sehr deutlich sieht man dies auf einem Rechtsgebiete, das noch im Aufbau begriffen ist. Das Völkerrecht steht heute auf einer entwicklungsgeschichtlichen Stufe, die andere Rechtsgebiete schon durchgemacht haben. Aber auch das Völkerrecht kann nur durch eine Zurückführung auf die allen Rechtsgebieten gemeinsame anthropologische Basis tiefer verstanden werden. Auch hier handelt es sich letzten Endes um ein Recht des Menschen, das ihn gegen andere Menschen schützen soll. 40 Die Tatsache, daß im Völkerrecht vor allem eigenartig organisierte menschliche Gesellschaften (Staaten) sich gegenüberstehen, kann an der grundlegenden Tatsache nichts ändern. Die Struktur der Rechtsfiguren ist hier nur komplizierter als im innerstaatlichen Recht. 41 gewohnheitsrechtlichen, gehen von einer mit Zwangsgewalt ausgestatteten organisierten Gemeinschaft aus, deren Hauptzweck (wenn auch nicht einziger Zweck) eben die Rechtsetzung selbst ist. Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 12; Georges Gurvitch, Sociology of Law, S. 198 - 203; J. J. von Schmid, Rechtsphilosophie, S. 56 - ; phaenomenologie van den Staat; Rudolf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 130. 38 Pitirim A. Sorokin, The Organized Group (Institution) and Law-Norms, im Sammelwerk: Interpretations of Modern Legal Philosophies, New York 1947. 39 Unsere Studie „Das richterliche Ermessen in Lückenfällen" (auf Finnisch, Helsinki 1938) S. 1 - , 254 -. Bei F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, ist dies einer der Leitgedanken. Ζ. Β. S. 62, 78 - , 80, 84, 92, 97 - , 173, 175, 204, 222, 225, 253, 257, 273 - , 290, 302. Cicala hebt in diesen hochinteressanten konzentrierten Vorlesungen hervor, daß der dynamische Aspekt des Rechts eben der philosophische sei: „... il pensiero del filosofo guarda ed apprende il divenire in sè, in quanto processo, dinamismo ο attualità continua; mentre il giurista (come anche lo storico del diritto), per le necessità teoriche e pratiche della sua scienza, guarda ed apprende or solo questa or solo quella fase del processo stesso ..." (S. 290). Widar Cesarmi Sforza, Guida allo studio della Filosofia del diritto, Roma 1949, S. 85 - 89; Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, II, S. 26: Geschichte aber ist das, was aus dunkler Vergangenheit auf den Schauenden zukommt und von ihm aus weiter in die Zukunft will. 40 Barna Horvâth, Rechtssoziologie, S. 152: Prozeß- und Völkerrecht entwickeln sich deutlich aus dem bewaffneten Kampf als dessen Bezeugung, Öffentlichkeit, Formalismus, Regelung, Begrenzung, Entscheidung, Umwandlung zum Rechtsstreit. 41 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 132f.: Daß das Völkerrecht Staaten verpflichtet und berechtigt, bedeutet lediglich: daß es Einzelmenschen nicht - wie die einzelstaatliche Rechtsordnung - unmittelbar, sondern nur mittelbar verpflichtet und berechtigt ...; Philip C. Jessup, Modernes Völkerrecht, Wien 1950, S. 28; Mario Giuliano, La comunità internazionale e il diritto, Padova 1950, S. 28 - 31, 320 - 325; /. Haesaert, Préalables du droit international public, Bruxelles 1950; A. H. Campbell, Diritto internazionale e teoria generale del diritto, in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXVII (II) (1950), S. 198 - 199; Alf Ross, Eine österreichische Völkerrechtslehre (Jus
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Wir betonten, daß die Normen - darunter auch diejenigen des Rechts - in der Gesellschaft als ein Ausfluß des dauernden Zusammenlebens von Menschen emporwachsen. 42 Wie kann man aber dann erklären, daß in den meisten modernen Staaten das Gesetzesrecht eine herrschende Stellung erlangt hat und das Traditionsrecht 43 daneben zu einem Rechte zweiten Ranges herabgesunken ist? Man könnte das Phänomen bestreiten und darauf hinweisen, daß jene Rangänderung eher scheinbar als wirklich ist, daß ein Gesetz oder eine Verordnung an sich nur ein feierlich verkündetes Projekt zu einer neuen rechtlichen Regelung sei, und daß es von vielen und komplizierten Faktoren abhängt, ob das Gesetz oder die Verordnung wirklich effektives Recht werde. Es kann aber nicht geleugnet werden, daß hier eine bedeutsame und schwer zu erklärende kulturgeschichtliche Entwicklung vorliegt, ein Ausfluß der allmählich auf den verschiedensten Gebieten fortgeschrittenen Rationalisierung der abendländischen Kulturwelt. 44 Philosophisch gesehen bedeutet jene Rationalisierung keineswegs, daß der biologische Grundcharakter des Menschen sich in der Richtung einer erhöhten ,Vernünftigkeit', ,Humanität' geändert hätte. Rationalisierung bedeutet hier vielmehr, daß althergebrachte metaphysischreligiöse Hemmungen durch eine unerbittliche Kritik vernichtet worden sind, und der ,befreite' moderne Mensch als ein hemmungsloses, raubtierähnliches, mit einer unheimlichen Macht ausgerüstetes Wesen dasteht. 45 gentium II/3 - 4/1951) S. 218 - ; ders., General Legal Characterization of the United Nations lus gentium II/l - 2/1951) S. 63 - ; Walther Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, S. 329-. 42 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 397 - 412; Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, Vorrede; Barna Horvàth, Rechtssoziologie, S. 1 - ; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 83 - ; Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, S. 49: ... fonte materiale del diritto è la società; Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 11: „... die Gesellschaft und das Recht sind aus dem Leben instinktiv hervorgewachsen, nicht nur als ein Schutz des Menschen gegen die Naturkräfte und die Raubtiere, sondern als ein Schutz gegen das Tier im Menschen selbst, gegen alle diejenigen, die den Nächsten töten, verletzen und ausplündern wollen ... Die Wächter der Rechtsordnung mußten die Macht gegen die Gewalt der Menschentiere setzen." (Übersetzung aus dem Dänischen.) 43 Ragnar Hemmer, Suomen oikeushistorian oppikirja, I (Lehrbuch der Rechtsgeschichte Finnlands), Helsinki 1950, S. 5 - 12; Poul Johs. J0rgensen, Dansk Retshistorie, Kopenhagen 1940, S. 14 - 24; Οsvi Lahtinen, M., Gewohnheit; F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, S. 178 - 195; J. J. von Schmid, Rechtsphilosophie, S. 17 - : het gewonterecht; S. 138 - ; Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 116, betont, daß der eingebürgerte Terminus ,Gewohnheitsrecht' nicht sehr gelungen ist. 44 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Leipzig 1929 - 1932, S. 453, 917, 1224; Philipp Lersch, Der Mensch in der Gegenwart, München 1947, S. 17 -. Eine grandiose geschichtsphilosophische Darstellung des abendländischen Rationalisierungsprozesses bei José Ortega y Gasset, Obras Complétas, III, Madrid 1947, S. 143 203. 45 Oswald Spengler, Aus dem Nachlaß (Hamburger Akademische Rundschau 3 (1948), S. 212 - 214): Der Verstand schärft sich als Waffe des Raubtiers Mensch ... Es ist seine einzige starke Waffe ... Mutationen schaffen auch Formen, die nicht oder kaum lebens10 Brusiin
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Auf dem Gebiete des Rechts bedeutet die immer weiter getriebene Rationalisierung, daß alles in Fluß geraten ist. Es besteht die Gefahr, daß das in einem immer schnelleren Tempo hervorgebrachte Gesetzesrecht die effektive Sicherung durch die herrschende Rechtsüberzeugung verliert. Diese Entwicklungstendenz spiegelt sich auch in der Theorie wider, wo man dem Begriffe ,herrschende Rechtsüberzeugung' und seinen Varianten gegenüber die Forderung erhoben hat, man solle ihn aus der Theorie des Rechts gänzlich entfernen. 46 Im Zusammenhange mit der Rationalisierung der abendländischen Gedankenwelt steht auch die Idee des Rechtsstaates. Die gesamte Wirksamkeit eines riesigen modernen Kulturstaates soll nach im voraus existierenden und oft sogar planmäßig aufgestellten Rechtsnormen erfolgen. Ein solches Ideal ist anthropologisch interessant: wir spüren, welche ungeheure Kluft die menschliche Gesellschaft von einer Tiergesellschaft trennt. Das auf lange Sicht arbeitende organisierende Rechtsdenken ist hier bis zu seiner äußersten Grenze gespannt worden. 47 Wenn wir das Recht als einen von Jahrhundert zu Jahrhundert fortlaufenden kontinuierlichen Organisationsprozeß deuten, gehen wir von einer grundlegenden Tatsache aus: der Mensch, und nur der Mensch, hat ,Geschichte', und zwar indem er fortwährend an ihr mitschafft. 48 Diese nie ermüdende fähig sind. Dann gehen sie entweder nach wenigen Generationen zugrunde oder sie ringen sich mit Härte durch. Vielleicht so der Typus Mensch: ein Raubtier ohne Waffen; Philipp Lersch, Der Mensch in der Gegenwart, S. 29: Das begrifflich-rationale Denken ist das menschliche Instrument zum Verfügbarmachen und Inbesitznehmen der Umwelt. 46 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 312 - ; Erik afHällström, in: Tidskrift, utgiven av Juridiska Föreningen i Finland 1950 (5), S. 306 (eine Rezension unseres Buches „Über die Objektivität der Rechtsprechung"); J. N. Lehtinen, Mitä oikeus on?, S. 33; Osvi Lahtinen, M., Rechtsbewußtsein; Mikko W. Erich, Laki ja oikeus, Porvoo 1947, S. 15 - 25; Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 65 - ; Alessandro Levi, Teoria generale del diritto, S. 143 - 146; ders., Comment peut-on analyser la conscience juridique?, in: Theoria XV (1949); Mario Giuliano, La communità internazionale e il diritto, S. 223f. - Unserer Meinung nach bringt der Begriff ,herrschende Rechtsüberzeugung' eine fundamentale soziale Tatsache zum Ausdruck, die wohl in keiner empirischen Rechtstheorie übergangen werden darf. Es besteht ohne Zweifel die Gefahr, daß der einzelne Jurist - z. B. der Richter - seine persönliche Überzeugung fälschlich zum Range einer herrschenden' erhebt. 47 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 116 - 117, gibt folgende ideologische Deutung: „So wird der Staat aus einem bloßen Faktum der Gewalt zum Rechtsstaat, der sich dadurch rechtfertigt, daß er das Recht fertigt. In demselben Maß, als eine religiösmetaphysische Legitimierung des Staates unwirksam wird, muß diese RechtsstaatsTheorie zur einzig möglichen Rechtfertigung des Staats werden". - Anthropologisch ist es bedeutungsvoll, daß die Rechtsordnung von manchen Theoretikern als eine logisch geschlossene, in sich vollständige' Einheit aufgefaßt wird. Carlos Cossio, La plenitud del ordenamiento juridico, 2. Aufl., Buenos Aires 1947, S. 115 - ; Alessandro Levi, Teoria generale del diritto, S. 44 - : completezza di ogni ordinamento giuridico; F. B. Cicala , Il rapporto giuridico, S. 394 - ; Giorgio Del Vecchio, Lezioni di Filosofia del diritto, S. 292
III. 2. Der Juristenstand und die Typen der Rechtshandhabung
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schaffende Arbeit objektiviert sich als materielle und geistige Kultur, die nicht die Episodenhaftigkeit eines Menschenlebens hat. 4 9 Auch das Recht erscheint in der Form einer solchen, aus vielen, stückweise entstandenen Elementen zusammengesetzten Objektivation. Der Sinn von Objektivationen kann nur durch Interpretation erschlossen werden. 50 Sinn, Verstehen, Geschichte, Kultur: alles Worte, die durch ein großes stolzes Wort getragen werden: der Mensch. 51 2. Der Juristenstand und die Typen der Rechtshandhabung Wer eine höhere rechtstechnische Ausbildung erhalten hat, wird in dieser Studie mit dem Worte ,Jurist' bezeichnet. Diese Schulung umfaßt meistens zwei Teile: einen theoretischen und einen praktischen. Der theoretische Teil wird in den meisten Kulturstaaten an Hochschulen absolviert. 1 Der praktische Teil der Ausbildung setzt voraus, daß die theoretische Schulung vorangegangen ist. Einer dieser Teile allein macht noch keinen Juristen aus: sie müssen beide vorliegen. Es scheint uns nicht zweckmäßig, den Begriff des Juristen so zu bestimmen, daß ein Jurist nur derjenige sei, der eine höhere rechtstechnische Schulung erhalten hat und der zugleich rechtlich bedeutsame Situationen berufsmäßig handhabt (berufsmäßige Rechtshandhabung). Wenn wir den Begriff in dieser Weise bestimmen würden, so würde dies bedeuten, derselben Person werde 48 Giorgio Del Vecchio , ebd., S. 305 - 322 (origine ed evoluzione del diritto); S. 333 - (la natura umana come fondamento del diritto). 49 Julius Binder, Philosophie des Rechts, Berlin 1925, S. 96 - ; Rudolf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 61 -. Ein einzigartiges Lehrbuch, in dem sich die Ergebnisse eines reichen, schaffenden Menschenlebens konzentrieren. Der Wahlspruch, den Stammler seiner „Theorie der Rechtswissenschaft" voranstellte: „Non est mortale quod opto" möchten wir als Symbol seiner Lebensarbeit sehen. 50 Francesco Carnelutti, Arte del diritto, S. 55: L'interpretazione giuridica e l'interpretazione artistica non sono due cose diverse, ma una cosa sola. 51 Sophokles, Antigone: „Vieles Gewaltige lebt, und nichts ist gewaltiger als der Mensch"; Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich 1949, S. 293 346; J. E. Salomaa, Philosophie der Geschichte, Turku 1950, S. 47 - 71: der Mensch als geschichtliches Wesen; Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 60 64; F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, S. 286f.: das Gebiet des Rechts ist „un campo speciale del mondo dello spirito, dell'attività spirituale ο della cultura"; Il rapporto giuridico, S. 597 - 599; Carlos Cossio, La coordinación de las normas juridicas y el problema de la causa en el derecho, Buenos Aires 1948, S. 100: Ontològicamente el hombre habla siempre de si mismo y no puede hacer otra cosa ... 1 Wir denken hier in erster Linie an die Staaten außerhalb des anglo-amerikanischen Rechtskreises. Es scheint uns aber, daß zwischen ihnen, den Vereinigten Staaten und den Dominien des Britischen Imperiums heutzutage keine unüberbrückbare Kluft mehr betreffs der juristischen Ausbildung besteht. Es würde ein fesselndes kulturhistorisches Problem sein klarzulegen, wie die Rechtsschulung auch im anglo-amerikanischen Kreise allmählich immer stärker in den Bann der Hochschulen geraten ist. - Über den Begriff des Juristen' Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 11 -. 10*
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während ihres Lebens die Qualität eines Juristen mehrere Male abwechselnd gewährt und abgesprochen, je nachdem ob sie in einem praktischen Juristenberufe tätig ist oder nicht. Das Wort ,Jurist c bezeichnet in unserem Sprachgebrauche also nicht einen Beruf, sondern etwas, was einzig und allein durch spezielle Ausbildung zustande kommt. Was umfaßt nun diese Schulung? Vergleichen wir sie in verschiedenen modernen Kulturstaaten, so treten meistens folgende konstante Züge hervor: 2 Der theoretische Teil gibt dem Studenten eine nach der Methode der traditionellen Jurisprudenz geordnete systematische Übersicht der geltenden staatlichen Rechtsordnung (vielleicht auch des Völkerrechts). Auf der so erlangten theoretischen Grundlage leitet dann die praktische Juristenschulung den angehenden Juristen zu der Handhabung verschiedenartiger rechtlich bedeutsamer Situationen. Was bedeutet es, wenn man von einer ,höheren' rechtstechnischen Ausbildung spricht? Vor allem, daß der erste Teil der Schulung in einem wissenschaftlichen Geiste erfolgt. Dies tritt hervor, wenn man die höhere Schulung mit der wohl in allen Staaten vorkommenden ,niederen' rechtstechnischen Ausbildung vergleicht. Auch wenn sie an einer Hochschule erfolgt - wie ζ. B. in Finnland - ist der wissenschaftliche Geist dabei schwächer vertreten. Den Studenten wird hier ein Minimum von technischer Rechtskenntnis beigebracht, das für eine weniger verantwortungsvolle rechtliche Tätigkeit genügende Grundlage bieten soll. Kann man innerhalb der modernen Kulturstaaten von einem einheitlichen Juristenstande sprechen? Die Frage kann nicht in einer allgemeingültigen Weise beantwortet werden. Denken wir z.B. an den auf das Mittelalter zurückgehenden Unterschied zwischen einem englischen barrister und solicitor, ein Unterschied, der sich bis in die Juristenschulung hinein erstreckt. Man kann auch auf den Gegensatz zwischen avocat und avoué in Frankreich hinweisen. Es scheint uns aber, daß eine allgemeine Entwicklungstendenz in der Richtung auf einen einheitlichen Juristenstand auch in England vorhanden ist. Die Existenz eines einheitlichen Standes ist wohl letzten Endes von den in der betreffenden Gesellschaft herrschenden Wertungen abhängig, obwohl auch die Einheitlichkeit des Denkens und der Lebenseinstellung innerhalb der Gruppe selbst nicht ohne Bedeutung ist. Wie ist die Lage z.B. in den vier skandinavischen Staaten, die in kultureller Hinsicht ein weitgehend homogenes Gebiet bilden? Unterscheiden wir hier die herrschende Wertung unter den Nicht-Juristen und unter den Juristen selbst. Es scheint uns, daß die skandina2
Α. H. Campbell, Comparison of Educational Methods and Institutions. General Report, Third International Congress of Comparative Law, London 1950 (eine Zusammenfassung in: The Juridical Review, december 1950); Eric F. Schweinburg, Law Training in Continental Europe, New York 1945; L. C. B. Gower, English Legal Training. A Critical Survey, in: The Modern Law Review 1950, S. 137 - 205.
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vischen Laien die Juristen tatsächlich weitgehend als einen einheitlichen Stand beurteilen. Dies kann damit zusammenhängen, daß die nordischen Rechtsgemeinschaften nicht sehr groß sind, und daß in ihnen die soziale Differenzierung auch auf anderen Gebieten weniger scharf ausgeprägt ist. Daß sich skandinavische Juristen selbst als einen einheitlichen Stand auffassen, wird nicht nur durch die internordischen Juristenkongresse angedeutet, sondern vor allem durch ihre beruflichen Organisationen. So gibt es z.B. in Finnland neben spezialisierten Juristenvereinen (für Richter verschiedener Instanzen, für Anwälte usw.) auch nichtspezialisierte. Zu ihnen werden nur Personen, die eine höhere juristische Schulung durchgemacht haben, zugelassen. Innerhalb des Vereins fühlen sie sich als Vertreter eines Standes, als Juristen, was sowohl bei der beruflichen Diskussion als auch - vor allem - bei dem nachfolgenden geselligen Zusammensein ungezwungen zum Ausdruck kommt. 3 Die Entstehung eines Juristenstandes innerhalb der abendländischen Kulturwelt geht auf einen geschichtlichen Prozeß zurück, in den wir uns aber in dieser Studie nicht vertiefen werden. Für unsere Gedankengänge ist vor allem von Bedeutung, daß ein Juristenstand im modernen kontinentalen Sinne ohne Hochschulen nicht denkbar wäre. 4 Der jetzige Typ der Hochschulen ist eine relativ späte kulturgeschichtliche Erscheinung (Hochmittelalter). Betrachtet man das Recht aus einer weiten entwicklungsgeschichtlichen Perspektive, so bildet die Epoche der wissenschaftlich geschulten Juristen nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt. 5 Auf früheren Entwicklungsstadien waren es 3 Über den Beruf des Juristen Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 262 - 298; zu vergleichen „Die juristischen Berufe in Vergangenheit und Gegenwart", herausgegeben von Erich Berneker, Mainz 1948; James Willard Hurst, The Growth of American Law. The Law Makers, Boston 1950. 4 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 456: Für die Entwicklung eines ,fachmäßigen' Rechtslehrgangs und damit auch eines spezifischen Rechtsdenkens gibt es zwei einander entgegengesetzte Möglichkeiten. Entweder: empirische Lehre des Rechts durch Praktiker, ausschließlich oder doch vorwiegend in der Praxis selbst, also handwerksmäßig' im Sinn von ,empirisch'. Oder: theoretische Lehre des Rechts in besonderen Rechtsschulen und in Gestalt rational systematischer Bearbeitung, also: wissenschaftlich' in diesem rein technischen Sinn. - Roscoe Pound, The Development of American Law and its Deviation from English Law, in: The Law Quarterly Review 67 (1951), S. 49: ... the Anglo-American common law is a law of the courts. Its oracles are judges. It was taught in the Inns of Court, societies of lawyers, by practising lawyers and was developed in the courts. The Continental law is a law of the universities. Its oracles are professors. It has been taught and developed in the universities from the Middle Ages. In consequence, the common law is little systematised. Principles are cautiously and tentatively derived from details. On the other hand, Continental law is highly systematised. Details are subordinated to broad principles. - Theodore F. Τ Plucknett, The Place of Legal Profession in the History of English Law, in: The Law Quarterly Review XLVIII (1932); Frederick Pollock, The Origins of the Inns of Court, ibid.; Lord Radcliffe, Some Reflections on Law and Lawyers, in: The Cambridge Law Journal 10 (3/1950). 5 Es würde eine fesselnde Aufgabe sein, einen Vergleich zwischen den sozialen Funktionen des seit dem Mittelalter entstandenen modernen Juristenstandes und der
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sozial führende, meistens bejahrte Männer, die als Kenner und Wahrer des Rechtes auftraten. Wegen ihrer sozialen Stellung und Lebenserfahrung hielt man sie für besonders rechtskundig. 6 Unter juristischem Denken verstehen wir in dieser Studie das Denken eines Juristen bei der praktischen Handhabung des Rechts J Es scheint uns - aus später ersichtlichen Gründen - zweckmäßig, den Begriff Juristisches Denken' so abzugrenzen, daß das Denken derjenigen Juristen, die sich wissenschaftlichpädagogisch betätigen (Rechtslehrer an den Hochschulen) nicht darunter fällt. Die wissenschaftlich-pädagogische Arbeit eines Rechtslehrers weicht stark von der praktischen Berufsarbeit des Juristen ab und ist zu der umfassenden Gruppe wissenschaftlich-pädagogischer Berufe zu zählen. Wir verbinden den Begriff juristisches Denken' mit dem herrschenden, im Rechtsleben praktisch tätigen Normaltyp des Juristen. In dieser Studie gehen wir von der empirischen Tatsache aus, daß es in modernen Kulturstaaten ein juristisches Denken gibt, dessen Wurzeln - wie wir sehen werden - bis ins Hochmittelalter reichen. Es ist nicht unsere Aufgabe, Richtlinien zu ziehen, wie jenes Denken beschaffen sein sollte. Wir suchen das tatsächlich vorhandene juristische Denken aus seinen eigenen Voraussetzungen zu verstehen und konstante Züge zu erhellen. Nur ausnahmsweise werden wertende Stellungnahmen vorkommen. Das juristische Denken im obigen Sinne tritt immer als Teil einer Handlungstotalität auf. 8 Der praktisch tätige Jurist will gewisse Ziele erreichen, und sein juristisches Denken ist ein Mittel dazu. Wir betrachten also das juristische Denken instrumental. Es ist ein aktivistisches Denken, nicht ein kontemplatives Sichversenken in theoretische Rechtsprobleme. Die Arbeit des praktisch tätigen Juristen bedeutet ja, daß er durch eine fortlaufende Tätigkeit sich und seiner Familie die notwendigen materiellen Existenzbedingungen zu sichern versucht. In diesem wirtschaftlichen Kampfe nimmt das juristische Denken die Stellung eines Mittels ein. Rechtskundigen' der römischen Antike durchzuführen. Um unsere Studie nicht allzuviel zu splittern, müssen wir aber hierauf verzichten. Fritz Schulz, History of Roman Legal Science, Oxford 1946, S. 15 - 22, 49 - 59, 111 - 123. 6 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 408; Alessandro Levi, Teoria generale del diritto, S. 80 -. 7 Eine gute Formulierung bei Carlos Cossio, Panorama de la teoria egológica del derecho, Buenos Aires 1949, S. 58: ... estilo de pensar que ejercita el jurista cuando està en su tarea; ders., La teoria egológica del derecho y el concepto juridico de libertad, S. 131 -. Enrique R. Aftalión, Acerca del metodo juridico, La Ley, 11.11.1949, Buenos Aires, vor allem Abschnitt 3. - Durch das Wort ,Handhabung', das etymologisch mit ,Hand' in Verbindung steht, wollen wir - im Gegensatz zu Cossio - hervorheben, daß hier ausschließlich eine praktische Tätigkeit in Frage steht. 8 Aus diesem Grunde werden wir im folgenden sehr oft das Verhalten des praktischen Juristen analysieren, wobei sein Denken implizit vorausgesetzt ist.
III.2. Der Juristenstand und die Typen der Rechtshandhabung
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Man kann die juristischen Berufe sowohl soziologisch als auch kulturgeschichtlich betrachten. Soziologisch gesehen handelt es sich hier um eine immer weiter geführte Arbeitsteilung bei der Handhabung rechtlicher Situationen. 9 Die juristische Arbeitsteilung tritt als Teilerscheinung innerhalb eines allbekannten sozialen Prozesses auf. Man untersucht hier die allgemeinen theoretischen Zusammenhänge zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen einerseits und rechtlichen Berufen andererseits. Welche Variationen treten hier auf der einen Seite auf, wenn auf der anderen Veränderungen vor sich gehen? Diese Einstellung versucht sich prinzipiell von einer zeitlichen und örtlichen Gebundenheit zu befreien. Man kann aber das Problem der juristischen Berufe auch innerhalb einer oder mehrerer zeitlich und örtlich konkretisierter Rechtsgemeinschaften verfolgen. Der Aspekt ist dann ein kulturhistorischer. Die Forschungsaufgabe fällt nicht in das Gebiet der Rechtsgeschichte im engeren Sinne, die sich vor allem für die rechtlichen Institutionen interessiert. Faßt man aber die Rechtsgeschichte in einem weiteren Sinne auf, als eine Kulturgeschichte des Rechts, so bildet die Entwicklung der juristischen Berufe ein fesselndes Thema innerhalb des Gesamtbildes.10 Wenn wir jetzt daran gehen, das juristische Denken als einen Teil einer Handlungstotalität zu beschreiben, möchten wir eine Erwägung vorausschikken. Das juristische Denken haben wir im Anschluß an der praktischen Rechtshandhabung definiert. Es könnte daher natürlich erscheinen, daß wir beim Studium dieses Denkens von den juristischen Berufen ausgingen. Wir glauben aber, daß es einen zweckmäßigeren Weg gibt. Wir wollen uns des Begriffes ,Typ der Rechtshandhabung' bedienen. 11 Bei einer theoretischen Analyse kann man die Rechtsgemeinschaft unter dem Aspekte immer wiederkehrender Typen dieser Handhabung betrachten. Jene zum Zwecke einer rein theoretischen Analyse aufgestellten Typen sind prinzipiell weder zeit- noch ortgebunden. In den juristischen Berufen können sie in den verschiedensten Kombinationen auftreten, die sich im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung vielfach ändern. ,Der juristische Beruf ist ein kulturgeschichtlicher Begriff; ,Typ der Rechtshandhabung' dagegen ein Begriff der theoretischen Analyse. 12 9
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 412. Κ. N. Llewellyn , The Normative, the Legal, and the Law-Jobs: soziologischer Aspekt vorwiegend. - Zum Probleme der Rechtsgeschichte Heinrich Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, Weimar 1947, insbes. die Kapitel I und II. 11 N. S. Timasheff, An Introduction to the Sociology of Law, S. 321 - ; Β ama Horvàth, Rechtssoziologie, S. 257; Ch. Boasson, Sociological Aspects of Law and International Adjustment, S. 66 - . 12 Zu vergleichen Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 190 - 194, 201 - 202; Jan-Magnus Jansson, Hans Kelsens statsteori, S. 307 - , hebt die Bedeutung einer idealtypischen Begriffsbildung für die Staats- und Rechtstheorie hervor. Über Kelsen äußert er (S. 311): „Der Einsatz Hans Kelsens in der Staatslehre besteht nicht zum Wenigsten im folgerichtigen Gebrauch, den er von der 10
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Als Beispiele für Typen der Rechtshandhabung seien hier erwähnt: die rechtsprechende Tätigkeit, die Verwaltungstätigkeit, die Wahrung fremder rechtlicher Interessen, die Formulierung von Rechtssätzen.13 Beispiele für Juristenberufe: der Richter, der Verwaltungsbeamte, der Rechtsanwalt, ein Spezialist der Gesetzesformulierung. Es ist möglich, daß etwa ein Richter neben der Rechtsprechung auch eine Verwaltungstätigkeit und sogar die Formulierung von Rechtssätzen ausübt. So betätigt sich der höchste Gerichtshof Finnlands auf dem Gebiete der Justizverwaltung und gibt Gutachten über Gesetzesentwürfe ab. Ein Verwaltungsbeamter - z.B. ein Angestellter eines Ministeriums - kann sich neben seiner Verwaltungstätigkeit mit der Formulierung von Rechtssätzen beschäftigen (Entwürfe zu neuen Gesetzen und Verordnungen, ministerielle Beschlüsse und Rundschreiben) und auch rechtliche Interessen des Staates in einem Prozesse handhaben (ζ. B. in einem Steuerprozeß, in dem ein Staatsbürger und das Finanzministerium einander gegenüber stehen). Obgleich der Begriff ,Juristenberuf in dieser Studie keine zentrale Stellung einnimmt, dürfte es doch angebracht sein, daß wir auf den Begriff kurz eingehen. Begrenzt man ihn so, daß darunter nur diejenigen Berufe fallen, bei denen eine höhere rechtstechnische Schulung die notwendige Bedingung für die Zulassung zur Berufsausübung ist, dann kann man sich fragen, ob es überhaupt Juristenberufe gibt. Denn als Verwaltungsbeamte und Anwälte treten idealtypischen Begriffsbildung macht." - Κ. N. Llewellyn , The Normative, the Legal, and the Law-Jobs, S. 1373: The law-jobs are in their bare bones fundamental, they are eternal... - Es scheint uns zweckmäßig, die einzelnen Typen der Rechtshandhabung so zu kennzeichnen, daß sie sich recht eng an die natürliche' Auffassung anschließen. Llewellyn, bei dem der Terminus ,law-job' nicht einen juristischen Beruf bezeichnet, geht einen anderen Weg. Er schreibt: ... for purposes of study, it is wiser to break down The Law-Job into lesser phases . . u n d er gelangt so zu folgender Einteilung: I. the disposition of trouble cases, II. the preventive channeling and reorientation of conduct and expectations so as to avoid trouble, III. the allocation of authority and the arrangement of procedures which legitimatize action as being authoritative, IV. the net organization of the groups or society as a whole so as provide direction and incentive. Diese Typen muten nicht sehr klar an, und die von Llewellyn durchgeführte Analyse verstärkt nur diesen Eindruck. - Man könnte vielleicht gegen die Verwendung von Idealtypen einwenden, sie stünden nicht mit einer streng empirischen Forschung im Einklang. Wenn aber eine Verwendung jener Typen die Klarlegung empirischer Zusammenhänge fördert, so haben sie für den Forscher einen bedeutenden Gebrauchswert. 13 w i r gebrauchen den Terminus , Rechtshandhabung' absichtlich in einem sehr weiten Sinne: jede Tätigkeit des praktischen Juristen, die mit dem Recht zu tun hat. Dann kann auch ein Formulieren von neuen Rechtssätzen unter diesen Begriff gebracht werden, was wir für die Gesamtperspektive unserer Studie als besonders wünschenswert halten. Man kann ein allseitiges Bild des juristischen Denkens nicht erhalten, wenn jene theoretisch bedeutungsvolle Tätigkeitsform nicht in Betracht gezogen wird. In einem gewissen Sinne ist auch die Formulierung von Gesetzestexten Handhabung des schon existierenden Rechts: neue Bestimmungen hängen nicht in der Luft, sondern sie sind durch Unzulänglichkeiten des bisherigen Rechts veranlaßt. - Zu vergleichen: Wilhelm Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 10; Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, S. 10 - 15.
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auch Nicht-Juristen auf. Auch beim Richterberufe können sich Laien berufsmäßig betätigen. Ja, sogar als Gesetzesformulierer kann der Laie tätig sein, wenn er in einem Ministerium oder in einem Komitee arbeitet. Man könnte vielleicht den Begriff Juristenberuf folgendermaßen abgrenzen: Berufe, in denen sich Juristen besonders häufig betätigen, weil ihre Juristenschulung sie dazu geeignet macht. Dadurch erhalten diese Berufe ein juristisches Gepräge. Der Juristenstand steht sozial recht hoch 14 : zu einer wenig verantwortungsvollen und somit nicht hoch gewerteten Kleinarbeit z.B. als niedere Verwaltungsbeamte - gehen Juristen ungern. Und wenn sie etwa als junge anfangende Juristen durch zwingende wirtschaftliche Ursachen dazu genötigt werden, versuchen sie regelmäßig möglichst schnell aus einem solchen unangenehmen Berufe zu einer standesgemäßen4 Arbeit zu kommen. Solche Nothäfen sind keine Juristenberufe. - Andererseits gibt es sozial hochgestellte Berufe, für die sich Juristen durch ihre Juristenschulung gut eignen und wo man sie auch recht häufig findet, die aber doch keine Juristenberufe sind. Denken wir an den Direktor einer großen Bank. Ein Jurist, der auf einem solchen Posten tätig ist, wird recht oft zu rechtlichen Fragen Stellung nehmen, aber seine Hauptbetätigung hier ist eine wirtschaftliche, nicht eine juristische. Eine berufsmäßige juristische Tätigkeit kann auch in einem Falle vorliegen, wo diese Tätigkeit nicht die hauptsächliche Einnahmequelle des Juristen bildet. Es genügt, wenn die Tätigkeit eine fortlaufende, auf Erwerb hinzielende ist. Obgleich in einem juristischen Berufe verschiedenartige Tätigkeitsformen nebeneinander auftreten können, so wird innerhalb eines bestimmten Berufes ein Typ der Rechtshandhabung regelmäßig der vorherrschende sein. Dieser Typ prägt den ganzen Beruf - so ζ. B. die rechtsprechende Tätigkeit den Richterberuf - und dies macht es verständlich, warum der prinzipiell so bedeutsame Unterschied zwischen einem Typ der Rechtshandhabung und einem Juristenberufe nicht gleich einleuchtet. 15 Die verschiedenen Typen der Rechtshandhabung unterscheiden sich voneinander funktionell, d.h., sie erfüllen in der Rechtsgemeinschaft verschiedene Funktionen. Man könnte hier bildlich von der ,Rechtsmaschinerie 4 sprechen. In einer Maschinerie arbeiten mehrere Teile im Rahmen eines zweckorientierten Ganzen zusammen. Für eine Maschinerie ist es kennzeichnend, sowohl daß sie durch den menschlichen Geist ausgedacht und gebaut wird, als auch, daß sie, nur durch 14 Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 48, ist der Meinung, daß der juristische Positivismus das Ansehen des Juristen schwächt. 15 Im folgenden werden wir nicht umständlich vom Juristischen Denken bei der Ausübung einer rechtsprechenden Tätigkeit' oder vom juristischen Denken bei der Wahrung fremder rechtlicher Interessen' sprechen, sondern verwenden als bequeme Abkürzungsformeln die Wortzusammenstellungen Juristisches Denken des Richters' und Juristisches Denken des Rechtsanwalts'.
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diesen Geist geleitet, sinnvoll arbeiten kann. - Die ständig arbeitende Rechtsmaschinerie wird durch die verschiedenen Typen der Rechtshandhabung konstituiert. Indem jeder von ihnen seine soziale Funktion erfüllt, schließen sie sich zugleich zu einer funktionalen Ganzheit zusammen.16 Um eine Grundlage für die Analyse des juristischen Denkens zu gewinnen, befassen wir uns im folgenden mit einigen Typen der Rechtshandhabung. Die funktionelle Aufgabe der rechtsprechenden Tätigkeit ist es im Normalfalle, Rechtskonflikte zu entscheiden, d.h., auf Antrag autoritativ festzustellen, ob ein menschliches Verhalten rechtswidrig oder rechtmäßig ist. 17 Im Falle einer Feststellungsklage hat das Gericht hiermit seine Aufgabe erfüllt. Gewöhnlich wird aber von ihm noch ein Weiteres verlangt: es soll auf Grundlage seiner vorhergegangenen Feststellung eine Anordnung über Zivil- oder Strafvollzug aussprechen. Die Erlangung einer solchen exekutiven Anordnung ist der praktische Beweggrund des Klägers oder des Staatsanwaltes, wenn er sich an das Gericht wendet. Der Aufbau des Urteils wird durch diesen praktischen Gesichtspunkt beeinflußt: die Feststellung von Rechtswidrigkeit und Rechtmäßigkeit wird gewöhnlich nicht ausdrücklich dekretiert, und doch liegt eben hier der Kernpunkt jeder Rechtsprechung. Ein Urteil enthält also meistens vier Elemente: 1. eine Feststellung von Tatsachen (bewiesen, nicht bewiesen, irrelevant), 2. einen Hinweis auf Rechtssätze, 3. eine Feststellung der Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit, 4. Verhängung oder Ablehnung einer Exekutivmaßnahme. Im Falle einer Feststellungsklage fehlt Punkt 4. Ein konstitutives Urteil - z.B. ein Ehescheidungsurteil - bezweckt nicht in erster Linie eine Beantwortung der Frage ,Rechtswidrig oder rechtmäßig'? Das positive Recht hat einige sozial besonders bedeutungsvolle Maßnahmen z.B. die Auflösung einer bestehenden Ehe - an die äußere Form des Urteils gebunden, damit die Voraussetzungen für die Maßnahme von einem unparteilichen und unabhängigen Gerichte besonders sorgfältig (Richtereid) geprüft werden. Das juristische Denken des Richters nimmt im Gesamtgefüge der Rechtshandhabung eine Schlüsselstellung ein. Der Staatsbürger, dessen lebenswich16
Das Gedankenbild ,Rechtsmaschinerie' wird besonders von der schwedischen Hägerström-Schule angewendet. Es kommt aber auch bei ganz anders eingestellten Denkrichtungen vor. So schreibt Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, S. 7: ... se il diritto si paragona per comodità didattica a un meccanismo ... - Über den , Verfahrensapparat' Barna Horvâth, Rechtssoziologie, S. 275 - ; Κ. Ν. Llewellyn, The Normative, the Legal, and the Law-Jobs, S. 1392: The law-jobs of trouble-handling, of channeling, of say-allocation, of the Net Drive, all need doing, and they all drive toward the emergence of some type of institutional machinery (ways and personnel and ideology about both). 17 Wilhelm Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 1 - 8; Οsvi Lahtinen, M. Tätigkeit des Richters'; Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 7 - 45; Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 264 - ; F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, S. 196-; Piero Calamandrei, Istituzioni di diritto processuale civile secondo il nuovo codice, I, Padova 1943, S. 21 - 33.
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tige Interessen das Urteil berührt, der Anwalt, der durch das Urteil seine Sache gewinnt oder verliert, der Verwaltungsbeamte, dessen Entscheidung vor einem Gerichte angefochten oder der wegen Dienstvergehens angeklagt wird, der Gesetzesformulierer, der auf die Brauchbarkeit des von ihm entworfenen Gesetzestextes bedacht sein muß - alle nehmen sie auf das juristische Denken des Richters Bezug. Auf jener Schlüsselstellung des Richters beruht es, daß bei der rechtsprechenden Tätigkeit die Möglichkeit besteht, nicht nur auf Laien, sondern auch auf Juristen erzieherisch zu wirken. Diese Seite des richterlichen Denkens und Handelns tritt wohl am stärksten im englischen Rechte hervor. Nicht nur das Urteil wirkt erzieherisch; auch die Prozeßleitung kann in diesem Geiste gestaltet werden. Die Tätigkeit des Rechtsanwalts bei der Wahrung fremder rechtlicher Interessen zerfällt in zwei Teile: außerhalb des Gerichtes, vor dem Gerichte. Die Tätigkeit außerhalb des Gerichtes ist, obgleich weniger dramatisch und für das große Laienpublikum weniger sichtbar, weitaus die umfassendste und bedeutungsvollste. 18 Wenn der Klient ihm seine Rechtssache anvertraut hat, kann der Anwalt ihm Ratschläge geben, verschiedenartige rechtlich bedeutsame Schriftstücke abfassen oder verschiedene rechtlich bedeutsame Maßnahmen vornehmen. Was uns hier besonders interessiert, ist seine beratende Tätigkeit und die Frage, wie sich sein juristisches Denken dabei gestaltet. Jedermann, der auch nur einigermaßen diese Tätigkeit des Anwaltes aus eigener Erfahrung kennt, weiß, daß sich die beratende Tätigkeit nur zu einem geringen Teile mit rein rechtlichen Fragen beschäftigt. Eine gute Rechtskenntnis ist hier wohl nötig, aber vor allem Lebenserfahrung - insbesondere auf dem wirtschaftlichen, psychologischen und moralischen Gebiete - , ein gesundes praktisches Urteilsvermögen und die Fähigkeit, sich in die Lage des Klienten zu versetzen. Ein Rechtsanwalt ist bei der Beratung nicht nur Jurist, sondern - besonders in der modernen säkularisierten Gesellschaft - auch Beichtvater und Seelenarzt. Der Klient kommt zu ihm oft tief besorgt, ja, verzweifelt, und vertraut sich dem Rechtsanwalt an. Jene besondere Atmosphäre des persönlichen Vertrauens und die weit über das bloß Rechtliche hinausgehende Perspektive wollen wir hier besonders hervorheben, wenn es gilt, das juristische Denken eines Rechtsanwalts zu erfassen. Bei seiner beratenden Tätigkeit spürt der Rechtsanwalt deutlich, daß das Recht nur ein kleiner Ausschnitt aus der unermeßlich reichen sozialen Wirklichkeit ist. 19 18
Κ. N. Llewellyn , The Normative, the Legal, and the Law-Jobs, S. 1376-. Aurelio Candian, Avvocatura, Milano 1949, S. 150 - 163; Axel H. Pedersen, Inledning til Sagf0rergerningen, I, K0benhavn 1951, S. 255 - 274: eine vergleichende Studie über die Stellung des Rechtsanwalts in den skandinavischen Ländern. 19 Der große italienische Rechtstheoretiker und Rechtsanwalt Francesco Carnelutti äußert über das Recht: ... è un aspetto del mondo ο della realtà ... (Teoria generale del diritto, S. 2). Über das Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Auftraggeber Pedersen (FN 18), S. 59-81.
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Betrachten wir nun aber die rein juristische Seite der beratenden Tätigkeit eines Anwalts. Er spricht hier - auf der Grundlage seiner Rechtskenntnis und seiner eingehenden Kenntnis der kausalen Faktoren in der Rechtsmaschinerie (einschließlich Psychologie der Organpersonen) - Wahrscheinlichkeitsurteile über künftige Handlungen von Staatsorganen und von einzelnen Staatsbürgern aus. 20 Sein juristisches Denken arbeitet sowohl auf normativer als auch auf kausaler Grundlage. Die normativen Erkenntnisse sind hier bloß Mittel zu kausalen Erwägungen, auf die er sein Wahrscheinlichkeitsurteil aufbaut. Was nützt es dem Rechtsanwalt, wenn er zwar genau weiß, was in formgerecht zustandegekommenen Gesetzen steht, nicht aber, welche reellen Möglichkeiten sein Auftraggeber hat, seine gesetzlichen Rechte ohne unvernünftige Kosten in der Wirklichkeit zu realisieren. Man hat das Denken eines Rechtsanwaltes vor dem Gerichte mit dem Denken eines Schachspielers verglichen: es gilt, die eventuellen künftigen Züge des Gegners zu erraten. Ein treffendes Gleichnis, das aber auf die gesamte Tätigkeit des Anwalts ausgedehnt werden kann. Vor dem Gerichte hat das Denken und Handeln des Rechtsanwalts ein Ziel: er will auf die im Gerichte tätigen Organpersonen so einwirken, daß ihre Prozeßleitung und das nachfolgende Urteil den Interessen des Auftraggebers entsprechen. Welche Mittel der Rechtsanwalt zu diesem Zwecke gebraucht, das beruht letzten Endes auf seiner ethischen Persönlichkeit. Hat er kein Gefühl dafür, daß auch er ein Wahrer des Rechts sein sollte, so wird er sich kaum nennenswerte Hemmungen auferlegen. Uns interessiert vor allem die Tatsache, daß das Denken und Handeln eines Anwalts vor dem Gerichte durch und durch kausal eingestellt ist, denn er soll ja das juristische Denken und dadurch das Handeln der im Gerichte tätigen Organpersonen beeinflussen. 21 Welche Rolle spielt bei dieser Beeinflussung die Kenntnis, die der Rechtsanwalt von normativen rechtlichen Tatsachen hat? Der geschickte Anwalt weiß, welche die rechtlich entscheidenden Momente in der vor dem Gerichte abgehandelten Rechtssache sind. Er weiß auch, daß die Richter als erfahrene Juristen eben diese Punkte als entscheidend ansehen. Er wird nun seine Tätigkeit vor dem Gerichte - durch Beweismaterial, Sachverständige, schriftliche und mündliche Äußerungen - darauf 20 Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 14; Jerome Frank, Courts on Trial, S. 37 - 79; ders., Law and the Modern Mind, Vorwort zu 6. Printing und S. 42 47. „This book is primarily concerned with ,law' as it affects the work of the practising lawyer and the needs of the clients who retain him" (S. 47). Könnte die Stärke der realistischen Rechtsschule in U.S.A. damit zusammenhängen, daß der Anwalt in der angloamerikanischen Rechtsideologie - neben dem Richter - eine so zentrale Stellung einnimmt? Die Einstellung dieser Schule zum Recht ist die Einstellung eines Anwalts. Von allen Typen der Rechtshandhabung dürfte wohl der seinige die weitesten Ausblicke in das tatsächliche Funktionieren der Rechtsmaschinerie geben. 21 Frank (FN 20), S. 186 - 189. Über die prinzipielle Stellung des Rechtsanwalts Wilhelm Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 122 - 129.
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konzentrieren, daß die Richter von diesen Angelpunkten eine solche Überzeugung erhalten, die zu einer für seinen Auftraggeber vorteilhaften Prozeßleitung und zu einem günstigen Urteil führen. Die Beeinflussung der Prozeßleitung ist besonders bedeutungsvoll, denn dadurch - ζ. B. bei der Zeugenvernehmung - kann das Urteil entscheidend präjudiziert werden. Alle jene taktischen Manöver muß der Anwalt, wenn möglich schon vor der Gerichtsverhandlung, in einer sorgfältigen strategischen Planung in Erwägung ziehen. Die Kunst der Planlegung genügt aber nicht: der Anwalt muß vor allem die Kunst des blitzschnellen Improvisierens beherrschen. Der Prozeß ist etwas ständig Fortschreitendes, wo jeder Augenblick Überraschungen bringen kann. Der Anwalt muß alles, was hierbei vorkommt - insbesondere Handlungen und Äußerungen des Gegners - rechtlich bewerten, um die kausale Wirkung auf das Gericht einschätzen zu können. Hier sind also wieder das Normative und das Kausale unlösbar miteinander verbunden. Der geschickte Anwalt ist nicht nur ein erfahrener und schnell denkender Jurist: er hat auch etwas von einem Schauspieler. Er soll ja die Rechtssache seines Auftraggebers den im Gerichte tätigen Organpersonen womöglich als moralisch und gerecht präsentieren. Diese allgemeine Inszenierung wird ja nicht nur die Prozeßleitung und das Urteil beeinflussen, sondern - was für den Auftraggeber ebenso bedeutungsvoll, wenn nicht noch bedeutungsvoller sein kann - auch etwaige Vertreter der Presse. Der Anwalt muß somit vor dem Gerichte nötigenfalls eine tiefe moralische Entrüstung zeigen können. Jeden Augenblick muß aber sein klares juristisches Denken alles lenken. Ein Prozeß ist nicht ein abgerundetes, von einer gestaltenden dramatischen Ganzheitsschau getragenes Kunstwerk, in dem sich alle Einzelheiten zu einer harmonischen, künstlerisch wirkungsvollen Einheit zusammenschließen. In einem Prozesse kommen aber sehr oft dramatische Episoden vor. Es kann sich ja hier um die entscheidenden Lebensinteressen der Beteiligten handeln. Die ganze soziale Existenz kann auf dem Spiele stehen, sie wird auf einige kurze, schnell vorübergleitende Ereignisse vor dem Gerichte konzentriert: die für das dramatische Erlebnis nötige Hochspannung, die Einstellung auf das allerwesentlichste ist hier vorhanden. Es ist somit kein Wunder, daß die Prozeßparteien leicht in einen Affektzustand geraten, der jede rationelle Führung des Prozesses unmöglich macht. Man könnte sich vorstellen, jene Gefahr werde geringer, wenn - sagen wir der Angeklagte selbst Jurist ist. Könnte er als Rechtskundiger seine Sache nicht ruhig und ohne störende Gefühlsaffektoren handhaben? Die Stellung als Prozeßpartei bringt es aber mit sich, daß die emotionale Erregbarkeit hier doch störend einwirken kann. Der Jurist, der eine fremde Rechtssache als Anwalt besorgt, kann sein klares, kühles juristisches Denken in möglichst effektiver Weise einsetzen.
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Der Anwalt braucht Schauspielerkunst jedoch nicht nur, um auf die Organpersonen im Gerichte und die Pressevertreter einzuwirken. Er soll auch den Gegner, die Zeugen und seinen Klienten beeinflussen. Ein sicheres Auftreten vor dem Gerichte hat immer auch den Zweck, den Gegner und seine Zeugen unsicher zu machen und den eigenen Auftraggeber - falls er vor dem Gerichte zugegen ist - zu beruhigen. Tritt der Auftraggeber vor dem Gerichte merkbar unruhig auf, kann dies auf die Richter und die Pressevertreter eine ungünstige Wirkung machen. In diesem Zusammenhang möchten wir auch die oratorischen Fähigkeiten des Anwaltes kurz berühren. Vor einem Geschworenengericht kann diese Fähigkeit von ausschlaggebender Bedeutung sein. Wenn aber die Organpersonen im Gericht erfahrene Juristen sind, möchten wir die günstigen Wirkungen rhetorischer Kunststücke mit Null gleichsetzen. Wenn z.B. vor einem finnischen Stadtgericht ein Anwalt es versucht, mit rhetorischen Ausschweifungen einen Eindruck zu machen, werden die Richter es unfehlbar so deuten, daß der Anwalt seine Sache als ,schwach4 ansieht. Die oratorischen Leistungen von Anwälten - falls es sich nicht um ein Geschworenengericht handelt - sind wohl nicht in erster Linie für das Gericht gemeint, sondern für das große Laienpublikum, einschließlich der Pressevertreter. Der Anwalt hat ja hier eine gute Gelegenheit, Reklame für sich zu machen unter Leuten, die doch nichts von seiner wirklichen, effektiven Arbeit verstehen. Erhält doch der Anwalt oft nach einer solchen, für den Ausgang der Sache völlig bedeutungslosen, kleinen Oration, die wärmsten Lobsprüche seines Auftraggebers und des Gerichtspublikums. - Es kann aber der Anwalt auch durch rhetorische Mittel auf ein erfahrenes Gericht erfolgreich einwirken, falls er seine Suggestionen so geschickt in die streng sachliche juristische Argumentierung einbaut, daß sie das Gericht nicht als Rhetorik erlebt. - Mancher Anwalt hat wohl eine pyschologische Erfahrung gemacht: wenn er seinen Klienten mit Pathos und Energie vor dem Gerichte verteidigt hat, fällt er selbst einer kleinen Selbstsuggestion zum Opfer - allerdings von kurzer Dauer. Er wird die Rechtslage des Klienten unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung etwas vorteilhafter beurteilen als es bei einer streng fachmännischen und objektiven Prüfung der Fall wäre. Daß aber der Klient selbst hier viel stärker suggeriert sein kann, und nicht nur vorübergehend, ist offenbar. So stellte der Klient in einer hoffnungslosen Sache seinem Verteidiger nach der Vertagung der Gerichtsverhandlung die Frage: „Nun, die Sache steht ja ausgezeichnet?" Wenn der Anwalt bemerkt, sein Klient will ihm aus irgendeinem Grunde aus Scham o.dgl. - seine Sache nicht wahrheitsgemäß darlegen, so sollte der Anwalt nicht immer zeigen, daß er ihn schon längst durchschaut hat. Der Auftraggeber wird sich früher oder später unfehlbar in Widersprüche verwickeln, durch die der Anwalt, mit Hilfe von Kontrollangaben aus anderen Quellen, sich ein richtiges Bild der tatsächlichen Lage und ihres psychologischen Hin-
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tergrundes machen und somit dem Klienten, trotz all seiner Lügen, effektiv helfen kann. Wir möchten aber noch einmal betonen: obgleich das Auftreten des Anwalts vor einem Gericht eine starke emotionale Färbung trägt, so wird er doch, bei einiger Erfahrung, alles klar und kühl durch sein fachmännisches juristisches Denken beherrschen. Er ist sich immer seines Auftrages bewußt, den er erfolgreich durchführen soll. Sein Denken ist eine eigenartige Mischung von Emotionalität und rationaler Analyse. 22 Das sachliche Hauptgewicht bei der Arbeit eines gewissenhaften Anwaltes liegt in der planmäßigen Ansammlung von Beweismaterial und in seiner Bereitstellung für den Gerichtsgebrauch. Wie gestaltet sich hier die Zusammenarbeit zwischen Gericht und Anwalt? Für erfahrene Richter, die etwaigen Suggestionen gegenüber immun sind, bedeutet ein rechtskundiger Anwalt eine wertvolle Hilfe. Der Richter und der Anwalt denken und handeln beide auf der Grundlage einer einheitlichen Juristenschulung. Ein Laie, der seine Sache vor dem Gericht selbst führt, vermag nicht zu beurteilen, welche Tatsachen und Aussagen für das Urteil rechtlich bedeutungsvoll sind und welche nicht. Der Vorsitzende des Gerichtes steht hier vor der zeitraubenden und wenig angenehmen Aufgabe, das angebotene, großenteils rechtlich bedeutungslose Prozeßmaterial fortlaufend zu sichten, um das rechtlich Relevante herauszuschälen. Ein rechtskundiger Anwalt erleichtert ihm diese Arbeit. Durch seine Schulung im juristischen Denken weiß der Anwalt, daß es zwecklos ist, die Arbeitszeit des Gerichtes durch eine Anhäufung rechtlich bedeutungsloser Tatsachen zu belasten. Aus diesem Grunde versucht der Richter, die juristisch-technische Arbeit des Anwaltes in jeder legalen Weise zu erleichtern. Dies kann ja der Vorsitzende des Gerichtes bei unzähligen, praktisch keineswegs bedeutungslosen Kleinigkeiten tun, ohne seine Unparteilichkeit zu gefährden. Das vereinende Band zwischen Richter und Anwalt, das juristische Denken, begründet hier eine Solidarität, die sich bei der Durchführung praktischer Arbeitsaufgaben bewährt. 23 Nachdem wir so die rechtsprechende Tätigkeit und die Wahrung fremder rechtlicher Interessen in ihrer gegenseitigen Bezogenheit behandelt haben, 22 Der Leser glaube nicht, daß die finnischen Rechtsanwälte besonders schauspielerisch und geschwätzig seien. Das Gegenteil ist bei den rechtskundigen Anwälten der Fall. Die meisten unter ihnen sind Mitglieder des Advokatenbundes, der eine wertvolle Arbeit zur Beibehaltung einer hohen Berufsethik leistet. Die Anwaltschaft ist aber in Finnland leider nicht gesetzlich geregelt: man kann hier die merkwürdigsten Typen tätig finden. - Zu vergleichen Piero Calamandrei , Eulogy of Judges, Princeton 1946, S. 23 - 33. - Über die ethischen Grundsätze der skandinavischen Rechtsanwälte Axel H. Pedersen, Inledning til Sagf0rergerningen, S. 37 - 58. 23 Calamandrei (FN 22), S. 17 - 22. - Über die prozessuale Arbeitsgemeinschaft Wilhelm Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 95 - 96, 123, 153.
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gehen wir zu der Formulierung von Rechtssätzen über. 24 Zwischen diesem Typ der Rechtshandhabung und der richterlichen Tätigkeit besteht ebenfalls eine gegenseitige Bezogenheit. Die schriftliche Formulierung von Rechtssätzen zielt auf eine Massenlenkung des menschlichen Verhaltens (Staatsbürger, Organpersonen). Aus diesem Grunde wird der Formulierer neuer Gesetzestexte fortwährend an ihre Anwendbarkeit denken, an die verschiedenen Typen der Rechtshandhabung, bei der sein Text als Arbeitsmittel dienen soll. Er kann sich ein ungefähres Bild davon machen, bei welchen Typen der Rechtshandhabung sein Text angewendet wird: in der rechtsprechenden Tätigkeit, in der Verwaltungstätigkeit, bei der Arbeit des Rechtsanwalts, des Wirtschaftsjuristen usw. Der Text soll so formuliert werden, daß er schnell und sicher von den Juristen in ihrer Arbeit gehandhabt werden kann. Wir stoßen aber beim juristischen Denken eines Gesetzesformulierers auf eine eigenartige Komplikation. Es genügt nicht, daß er eine sorgfältige Juristenarbeit anderen Juristen darbietet. Er muß zugleich - ja, vor allem - für die große Masse der nicht juristisch geschulten Staatsbürger schreiben. Ihr Handeln soll ja letzten Endes einer Massenlenkung unterzogen werden. Die Staatsbürger sollen das Recht als ihr Recht erleben, seine tragenden Grundsätze verstehen. Es würde einen schweren Fehlgriff bedeuten, wenn die Gesetzestexte, obgleich juristisch-technisch eine Präzisionsarbeit, der großen Masse der Staatsbürger fremd vorkämen. 25 Wenn sich das Juristisch-Technische als einen Selbstzweck ansieht, hat es seine soziale Aufgabe völlig mißverstanden. Der komplizierte Bau eines modernen Kulturstaates würde an sich eine möglichst weitgetriebene juristische Präzisionsarbeit bei der Gesetzesformulierung wünschenswert machen. Sind doch die zu regelnden gesellschaftlichen Tatbestände heutzutage nicht selten derartig, daß sie an das fachmännische Denken der Juristen die höchsten Anforderungen stellen. Der Formulierer des Gesetzestextes darf aber für keinen Augenblick die Fühlung mit dem nichtjuristischen Auffassungsvermögen und dem Sprachgefühl des Laien verlieren, er muß fortwährend zwischen Gemeinverständlichkeit und juristisch-technischer Formulierung balancieren. 26 24 Die Formulierung von Gesetzestexten soll begrifflich von dem juristisch als ,Gesetzgebung' qualifizierten Vorgang unterschieden werden: der Aspekt ist hier verschieden. Die Rolle der Volksvertretung und des Staatsoberhauptes beim Zustandekommen neuer Gesetzestexte ist oft rein formell: eine notwendige juristische Bedingung, damit formell verpflichtende Rechtssätze Zustandekommen. Ohne eine sorgfältige juristische Denkarbeit, die auf den Inhalt des Textes und seiner sprachlichen Formung eingeht, wäre die Tätigkeit des ,Gesetzgebers' praktisch undurchführbar. - Osvi Lahtinen, M., ,Niederschreibungsarten der Normen'; Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. 965 - ; Wilhelm Sauer, System der Rechts- und Sozialphilosophie, S. 250 - ; ders., Juristische Methodenlehre, S. 433 - ; Walther Burckhardt, Methode und System des Rechts, S. 243 - ; Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 339 -. 25 Hans Dölle, Vom Stil der Rechtssprache, Tübingen 1949, S. 32 - 36; Birger Wedberg, Lagstil, Stockholm 1928, S. 32; Rudolf Beckmann, Nâgra ord om den juridiska Stilen, in: Tidskrift utgiven av Juridiska Föreningen i Finland, 1949 (6), S. 312.
III. 2. Der Juristenstand und die Typen der Rechtshandhabung
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Kulturgeschichtlich kann festgestellt werden, daß die Gesetzesformulierung als juristischer Beruf keine alte Erscheinung ist. Selbstverständlich haben sich Sachkundige so lange damit beschäftigt, als es überhaupt vorsätzliche Massenlenkung des menschlichen Verhaltens durch schriftlich formulierte Rechtssätze gegeben hat. Berufsmäßige juristische Tätigkeit bedeutet dies aber noch nicht, am allerwenigsten einen Beruf, bei dem der Jurist sich hauptsächlich oder ausschließlich auf Gesetzesformulierung konzentriert. Erst in den heutigen Kulturstaaten hat sich dieser Beruf allmählich herauskristallisiert, und zwar meistens im Rahmen der Verwaltungsmaschinerie. 27 Die Gesetzesformulierer sind formell betrachtet Verwaltungsbeamte, aber materiell gesehén üben sie eine eigenartige juristische Tätigkeit aus. Den mit der Gesetzesformulierung berufsmäßig betrauten Juristen werden die zu erstrebenden sozialen Ziele oft bindend von der politischen Staatsführung vorgeschrieben, und ihre Aufgabe besteht darin, die zweckmäßige juristisch-technische Formulierung zu finden. Es kann aber auch vorkommen, daß die dem Gesetzesformulierer anvertraute Aufgabe auch die Wahl der sozialen Ziele umfaßt, die dann durch das neue Gesetz gefördert werden sollen. 28 Hier soll der praktische Gesetzesformulierer zugleich etwas von einem Sozialforscher sein. Er soll eine möglichst haltbare empirische Grundlage für seine Zielsetzungen haben. Gewöhnlich werden hier - falls es sich um ein bedeutendes Gesetz handelt - Erfahrungen, die in anderen Kulturstaaten gemacht worden sind, herangezogen. Es ist wahrscheinlich, daß die Bedeutung sozialwissenschaftlicher Forschung bei der Gesetzesformulierung im Wachsen ist. Die angewandten Sozialwissenschaften sind auf allen Gebieten im Vormarsch. Wir stehen hier vor einer praktischen organisatorischen Frage: wieviel Zeit und wieviel qualifizierte Arbeitskraft kann der Staat zu jeder einzelnen legislativen Aufgabe verwenden? Wenn die europäischen Staaten durch Kriegspsychose, immer neue Kriege und Zerstörung in eine immer trostlosere materielle und geistige Armut versinken, so kann eine im wissenschaftlichen Geiste durchge26 Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 30: „Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken ist alles auf den praktischen Gebrauch, nicht auf schulmäßige Zusammenordnung abgestellt." - Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 20. 27 In Finnland arbeitet unter dem Justizministerium eine Gruppe von Spezialisten, die den offiziellen Titel ,Gesetzgebungsrat' tragen. Ihnen wird die Formulierung (und Motivierung) der wichtigsten Gesetzesentwürfe anvertraut. Sie arbeiten in Sektionen, die sich auf verschiedene Rechtszweige spezialisiert haben. Die soziale Wertung dieses Juristenberufes wird durch den respektvollen Wortteil ,-rat' angegeben. - In der letzten Zeit haben sich innerhalb des Höchsten Gerichtshofes Stimmen erhoben, die eine ungenügende Richtererfahrung der Gesetzgebungsräte rügen. 28 Osvi Lahtinen, M., Tätigkeit des Gesetzgebers; O. Soln0rdal, Individ, stat og rett, S. 105 - 148; Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 100 - 103: Leitsätze für den Gesetzesformulierer; Per Augdahl, Forelesninger over rettskilder, Oslo 1949?, S. 35-51; Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 133: „Die Fragen der Gesetzestechnik sind gleichzeitig solche der politischen Zwecksetzung. " 11 Brusiin
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führte Gesetzesformulierung nicht weiter ausgebaut werden. Es mag auch gefragt werden, ob nicht frühere ruhigere Zeiten, wo die Gesetzgebung nicht unter ständigem Hochdruck arbeitete, mehr Gelegenheit zu gründlicher Vorbereitung der Gesetzesformulierung boten. Das Verständnis für die Bedeutung einer gründlichen, wissenschaftsähnlichen Gesetzes Vorbereitung ist wohl in unserer Epoche größer geworden, die Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung dürften aber geringer sein. Eine zunehmende Heranziehung wissenschaftlicher Forschungsresultate bei der Gesetzesformulierung scheint uns um so natürlicher als diese Formulierung sich schon längst auf die Denkmethode und Grundbegriffe der Jurisprudenz stützt. Vertieft man sich in die publizierten Gesetzesmotive, so wird man feststellen, daß sie stark im Banne der Jurisprudenz stehen. Ständig tauchen Denkformen und Grundbegriffe aus der Jurisprudenz auf, ja, man könnte das juristische Denken bei der Gesetzesformulierung geradezu als eine eigenartige Variante der Jurisprudenz bezeichnen. Hier werden durch ihre Denkmittel neue Rechtssätze formuliert, die dann durch die Jurisprudenz wieder systematisch gedeutet werden. Wir sehen einen Kreis: empirische Beobachtungen an der sozialen Wirklichkeit - Gesetzesformulierung großenteils durch die Denkmittel der Jurisprudenz - Gesetzesauslegung durch die Jurisprudenz - Anwendung der Rechtssätze auf die soziale Wirklichkeit. Wenn so Gesetzesformulierung und Gesetzesauslegung aus einer einheitlichen Perspektive gesehen werden, stellt sich heraus, daß sie nur Teilmomente in einer sukzessiven juristischen Denktätigkeit sind. Die beiden Endpunkte jener Denktätigkeit liegen in der sozialen Wirklichkeit. Der Gesetzestext bildet eine Brücke, die vom Ufer der Gegenwart hinüber zum Ufer der Zukunft geschlagen wird. 2 9 Das juristische Denken bei der Gesetzesformulierung und das juristische Denken bei der rechtsprechenden Tätigkeit stehen also nicht in einem Gegensatze zueinander. Wenn man sich ihr gegenseitiges Verhältnis so vorstellt, der Richter sei an die Denkprodukte des Gesetzesformulierers starr gebunden, so geht man am Kern der Sache vorbei. 30 Das juristische Denken bei der recht29 Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 89f.: Eine neue Gesetzgebung soll aus der Rechtswissenschaft hervorgehen, und diese soll zugleich die geltenden Gesetze auslegen und ergänzen; zwischen Rechtspraxis und Wissenschaft soll eine ebenso ständige Verbindung sein wie zwischen medizinischer Wissenschaft und ärztlicher Praxis (Übersetzung aus dem Dänischen). 30 Francesco Carnelutti, Arte del diritto, S. 79: ... che il legislatore domini e il giudice sia dominato è piuttosto apparenza che realtà ...; S. 80: Il legislatore ha le insegne della sovranità; ma il giudice ne possiede le chiavi. - Andererseits hat Jan-Magnus Jansson, Hans Kelsens statsteori, S. 279 - 280, treffend hervorgehoben, daß die psychologische Gebundenheit des Richters an die Rechtsnormen mit dem Charakter der Staatsorganisation zusammenhängt. „Im modernen Rechtsstaate gilt der Grundsatz, daß Rechtsprechung und Verwaltung der Gesetzgebung untergeordnet sind." Die Gerichte sind im Mechanismus des modernen Staates „verhältnismäßig untergeordnete Organe mit einer beschränkten Möglichkeit, ihre eigene Meinung zur Geltung zu bringen". -
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sprechenden Tätigkeit setzt das juristische Denken der Gesetzesformulierung fort. Die Erfahrungen, die ein Richter bei seiner langjährigen Arbeit sammelt, sind für den Gesetzesformulierer wertvolles empirisches Material. Wenn wir die enge Verbundenheit des Denkens innerhalb der Jurisprudenz und des Denkens eines Gesetzesformulierers betont haben, so bedeutet dies nicht, daß wir die Eigenart des Denkens bei der Gesetzesformulierung leugnen. Es handelt sich ja bei diesem Denken um eine in hervorragendem Sinne praktische Erwägung: das Verhalten zahlloser Menschen (Staatsbürger, Organpersonen) soll durch stark schematisierte Texte einer planmäßigen, auf lange Sicht eingestellten Lenkung unterworfen werden. Das Moment des weitsichtigen Planens ist hier das Zentrale. Dabei muß der Jurist fortwährend in Erwägung ziehen, wie sich die neuen Texte in den großen Zusammenhang der schon bestehenden Texte fügen, welche Folgen ein neuer Text in dieser Hinsicht nach sich ziehen kann. - Das Interessante ist, daß hier trotz der Eigenartigkeit des Planens eine so enge Verbundenheit mit der Gedankenwelt der Jurisprudenz besteht. Eine gründliche Gesetzesformulierung ist in unserer Kulturepoche ohne diese Verbundenheit einfach undenkbar. Kann die Verwaltungstätigkeit als ein einheitlicher Typ der Rechtshandhabung aufgefaßt werden? 31 Die Tatsache, daß die Verwaltung von der Theorie meistens negativ gekennzeichnet wird - diejenige Staatstätigkeit, die weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung ist - deutet nicht auf das Vorhandensein eines einheitlichen Types. Die Formen der Verwaltungstätigkeit sind in der Tat so mannigfach, daß ein Herausarbeiten eines einheitlichen Types als ein hoffnungsloses Unternehmen erscheinen könnte. Machen wir aber einen Versuch. Die Verwaltungstätigkeit ist eine als Ausübung der öffentlichen Gewalt erfolgende Besorgung öffentlicher Angelegenheiten, die weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung ist und die unter den Voraussetzungen und in den Formen, die von der geltenden Rechtsordnung vorgeschrieben sind, ausgeübt wird. Eine Besorgung öffentlicher Angelegenheiten, die nicht als die Ausübung der öffentlichen Gewalt erfolgt, ist keine Verwaltungstätigkeit. Beispiele: ich sehe, daß zwei Knaben einen großen Stein mitten auf die Fahrstraße legen. Ich schaffe den Stein weg. - Der juristische Vertreter der Staatseisenbahnen führt vor einem ordentlichen Gerichte einen Prozeß gegen einen Angestellten wegen eines durch gemeingefährliche Fahrlässigkeit verursachten Schadens. Zu vergleichen Tauno Tirkkonen, Suomen rikosprosessioikeus, I, Vammala 1948, S. 129 -. 31 Über den Beruf des Verwaltungsjuristen Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 266-. Wilhelm Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 39 - 41 (Verwaltungsrecht und Prozeßrecht). 11*
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Die Verwaltungstätigkeit erfolgt im Rahmen einer Hierarchie: diese Tatsache gibt der Verwaltungstätigkeit ihr Sondergepräge. Der Richter und der Anwalt sind nicht an bindende Anweisungen ihnen hierarchisch übergeordneter Organpersonen gebunden, und sie können auch ihrerseits nicht solche Anweisungen erteilen. In diesem Sinne ist ihre Tätigkeit ,frei 4 und ,unabhängig'. Der Verwaltungsbeamte dagegen erlebt - auch wenn ihm ein gewisses Maß von ,freiem Ermessen4 zugestanden ist - seine Situation ganz anders: er arbeitet als Teil einer riesigen Hierarchie. Befindet er sich an ihrer obersten Spitze, so ist er gewöhnlich verpflichtet, die Arbeit der unter ihm stehenden Verwaltungsinstanzen zu überwachen und sie nötigenfalls durch bindende Befehle zu lenken (Daueranweisungen oder Befehle von Fall zu Fall). Jene Verwaltungsinstanzen sind verpflichtet, sich überwachen zu lassen, die Anweisungen zu befolgen und ihrerseits die unter ihnen stehenden Instanzen zu kontrollieren, ihnen bindende Daueranweisungen und Befehle zu geben. Dieser ganzen Hierarchie, von oben bis unten, werden im modernen Rechtsstaate die Arbeitsvoraussetzungen und -formen durch die geltende Rechtsordnung vorgeschrieben. Es werden also innerhalb der Verwaltungshierarchie fortlaufend neue Rechtssätze schriftlich formuliert, deren Adressaten Organpersonen sind. 32 Es werden aber hier auch solche Rechtssätze formuliert, die sich an Staatsbürger richten (z.B. verschiedenartige Polizeiverordnungen). Die Formulierung von Rechtssätzen bildet innerhalb der Verwaltung einen besonderen Typ der Rechtshandhabung, der neben der Verwaltungstätigkeit im eigentlichen und engeren Sinne steht. Die Normalform der Tätigkeit eines Verwaltungsbeamten besteht in der Handhabung konkreter Rechtssituationen gemäß abstrakten Rechtssätzen (Gesetze, Verordnungen, Daueranweisungen). Für die theoretische Erkenntnis ist es von Bedeutung, daß die verschiedenen Typen der Rechtshandhabung hier klar unterschieden werden. Innerhalb der Verwaltungshierarchie kommt auch eine rechtsprechende Tätigkeit vor. Auch sie bedeutet eine Handhabung konkreter Rechtssituationen gemäß abstrakten Rechtssätzen, aber die Intention ist bei der rechtsprechenden Tätigkeit eine andere als bei der Verwaltungstätigkeit. Die Rechtsprechung zielt auch hier auf eine autoritative Feststellung der Frage Rechtswidrig oder rechtmäßig 4? hin, woran sich Exekutivmaßnahmen anschließen können. 33 32 Wir sehen keinen stichhaltigen Grund, warum die im Zusammenhang mit der Verwaltungstätigkeit formulierten Daueranweisungen an Beamte nicht als ,Rechtssätze' anzusehen seien. Es ist für den Aufbau einer Theorie des Rechts nicht zweckmäßig, den Begriff ,Rechtssatz' auf solche Normen einzuschränken, die sich an die Staatsbürger richten. 33 In einer Besprechung unserer Studie „Über die Objektivität der Rechtsprechung" zitiert H. Spanner zustimmend Adolf Merkl, der vom „Schein (der grundsätzlichen Zweckverschiedenheit von Justiz und Verwaltung ..." spricht, in: Österreichische Zeit-
III.2. Der Juristenstand und die Typen der Rechtshandhabung
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Die Denk- und Tätigkeitsformen eines Verwaltungsbeamten und eines Rechtsanwalts zeigen Ähnlichkeiten. In beiden Fällen spielt die praktische Lebenserfahrung neben rein juristischen Erwägungen eine entscheidende Rolle. Der Kern ihrer Tätigkeit liegt nicht in einer Entscheidung über Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit, sondern in einer praktischen Handhabung konkreter rechtlich bedeutsamer Situationen. In einem Staate, dem das Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln zukommt und der folglich das ganze Wirtschaftsleben straff leitet und kontrolliert, erinnert die Stellung des Rechtsanwalts an diejenige eines Verwaltungsbeamten. So sind z.B. in der Sowjetunion die Rechtsanwälte keine Privatunternehmer, sondern Angestellte in großen staatlich kontrollierten Büros, deren Arbeitsmethoden an die der Verwaltungsbehörden erinnern. Wohl üben die Anwälte, im Unterschied von Verwaltungsbeamten, keine öffentliche Gewalt aus, tatsächlich sind sie aber an das Regime gebunden. Es wäre ζ. B. undenkbar, daß der Verteidiger in einem politischen Strafprozeß den allgemeinpräventiven Abschreckungszweck der Staatsleitung vereiteln könnte. Er vermag höchstens auf einige mildernde Umstände hinzuweisen. Prozeßleitung und Urteil in hochpolitischen Prozessen werden ja hier faktisch als integrierender Bestandteil der Staatsleitung und -Verwaltung angesehen. Die Stellung eines ,Wirtschaftsjuristen' in einem Staate, in dem die überwiegende Mehrzahl der Produktionsmittel sich in Privatbesitz befindet, erinnert sowohl an die Stellung eines Rechtsanwalts als auch an die eines Verwaltungsbeamten. Ist nicht die Rechtshandhabung eines Juristen, der bei einem großen Finanz-, Industrie- oder kaufmännischen Unternehmen fest angestellt ist, ganz ähnlich der eines Rechtsanwalts, der unter seinen Auftraggebern solche Großunternehmen haben kann? Hier besteht aber ein bedeutsamer Unterschied. Der Rechtsanwalt ist ein freier Unternehmer, der Wirtschaftsjurist dagegen steht im Dienste eines Unternehmers. Die Stellung des Juristen als Angestellter eines Großbetriebes erinnert in doppelter Hinsicht an die Stellung eines Verwaltungsbeamten. Erstens kann die Arbeit beim Großbetriebe ein behördenmäßiges Gepräge haben. Hier kann sogar eine verwaltungsähnliche Hierarchie bestehen. Zweitens repräsentiert ein Großbetrieb eine beträchtliche wirtschaftliche Macht. Der juristische Vertreter eines solchen Betriebes übt zwar keine öffentliche Gewalt aus, wohl aber eine Gewalt, die faktisch stark daran erinnert. Es ist offenbar, daß diese besondere Situation auf das juristische Denken des Wirtschaftsjuristen einwirken muß. Wenn zwei Wirtschaftsjuristen, von denen jeder einen .Großbetrieb repräsentiert, miteinander verhandeln, können sie mit Diplomaten verglichen werden. Der Diplomat - einschließlich der Konsularbeamte - ist eine besondere schrift für öffentliches Recht, N. F. II/5, S. 605. - Tauno Tirkkonen, sessioikeus, I, S. 6f.
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Variante des Verwaltungsbeamten. Als Vertreter der öffentlichen Gewalt seines Staates vertritt er die rechtlichen und wirtschaftlichen Interessen dieses Staates oder seiner Staatsbürger einem anderen Staate oder dessen Staatsbürgern gegenüber. Dieser fremde Staat und die auf seinem Gebiete wohnenden fremden Staatsbürger sind nicht der öffentlichen Gewalt seines Heimatstaates unterworfen. Die Vertretung jener Gewalt ist aber eine Voraussetzung für die Zuständigkeit des Diplomaten. Zwischen der Tätigkeit eines Diplomaten und derjenigen eines Rechtsanwalts bestehen Berührungspunkte. So besonders, wenn der Diplomat Interessen der Staatsbürger seines Heimatstaates vertritt. Aber auch ein Unterschied ist vorhanden: obgleich der fremde Staat und der fremde Staatsbürger nicht der öffentlichen Gewalt, die hinter dem Diplomaten steht, unterworfen sind, so tritt er ihnen gegenüber doch als Vertreter jener Gewalt auf. Die Tätigkeit eines Diplomaten besteht nicht nur in der Handhabung rechtlicher Situationen. Man könnte sogar mit Recht in Frage stellen, ob sein Beruf zu den Juristenberufen zu zählen sei. Manche Diplomaten in Schlüsselstellungen sind Nicht-Juristen. Es läßt sich aber andererseits nicht leugnen, daß in der Tätigkeit eines Diplomaten auch Rechtshandhabung vorkommt, und daß diese Handhabung einen eigenartigen Typ konstituiert. Völkerrecht und innerstaatliches Recht sind hierbei in mannigfacher Weise miteinander verflochten. Der Staatsanwalt ist ein Verwaltungsbeamter, dessen Rechtshandhabung an diejenige eines Anwalts erinnert. Jene Doppelstellung - daß er an einen ,Großbetrieb' den Staat, gebunden ist und anwaltsähnlich handelt - läßt uns eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Wirtschaftsjuristen sehen. Die Rechtshandhabung des Staatsanwalts ist aber fast ausschließlich auf Strafsachen beschränkt und somit viel einseitiger als die eines Wirtschaftsjuristen. Das juristische Denken eines Staatsanwalts ist von der in seiner Rechtsgemeinschaft herrschenden Ideologie stark beeinflußt. In einem liberalen Staate kann er vom positiven Recht ausdrücklich zur Objektivität bei der Ausübung seines Amtes verpflichtet sein (so z.B. in Schweden). Ob ein solches Programm auch tatsächlich durchgeführt werden kann - z.B. in politischen Prozessen - sei dahingestellt. In einem totalitären Staate ist es undenkbar, daß der Staatsanwalt in einem hochpolitischen Prozesse eine objektive und ,neutrale' Einstellung auch nur programmatisch anstreben könnte, weil dies mit einer dynamischen, kämpf enden Staatsideologie nicht im Einklang stehen würde. Er ist hier eine Schlüsselperson im Kampf für das Regime. 34
34
Κ. P. Gorsenin, Die sowjetische Prokuratur, auf Russisch, Moskau 1947, S. 40-; Le procès du centre antisoviétique trotskiste, compte rendu sténographique des débats, publié par Le Commisariat du Peuple de la Justice de L'U.R.S.S., Moscou 1937.
III.3. Die juristischen Denkprodukte
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3. Die juristischen Denkprodukte Wir unterscheiden den juristischen Denkprozeß und seine Produkte, die Objektivationen. 1 Bevor wir auf diese Produkte näher eingehen, stellen wir eine Frage: kann der juristische Denkprozeß an sich zum Gegenstande einer effektiven wissenschaftlichen Erforschung gemacht werden? Experimentelle Untersuchungen, die in der modernen Denkpsychologie zu wertvollen Ergebnissen geführt haben 2 , stoßen hier auf eine Schwierigkeit. Läßt sich die Versuchssituation so anordnen, daß der juristische Denkprozeß in ungestörter natürlicher Weise vor sich geht, ohne daß die Versuchspersonen die Situation als arrangiert erleben? Das Denken eines Juristen bei der praktischen Handhabung des Rechts ist ja mit seiner Berufsausübung aufs engste verbunden. Wie kann man zwecks wissenschaftlicher Erforschung eine Situation der Berufsausübung in einer natürlichen' Weise anordnen? Rein theoretisch wäre das nicht unmöglich: man beginnt einen Prozeß nur um die Reaktionen der daran beteiligten Juristen zu beobachten, man arrangiert (zusammen mit dem Opfer, einem Freunde) ein ,Verbrechen', um die Reaktionen der Polizeibeamten zu studieren 3, man geht zum Anwalt mit einem fingierten Rechtsfall, nur um seine Reaktionen und Handlungen zu studieren, usw. Für die empirische Erforschung des juristischen Denkens könnten solche sorgfältig geplanten und durchgeführten Experimente von großem Nutzen sein. Sie würden der Forschung eine im vollen Sinne wissenschaftliche und systematische Grundlage bieten. 4 Es scheint uns aber, daß im modernen 1
Diese Objektivationen sind etwas Sichtbares oder Hörbares. In unserer Studie werden ausschließlich sprachliche Objektivationen analysiert. Ein Grenzstein, der als Ergebnis einer Grenzziehung und des dadurch implizierten rechtlichen Denkens an einen bestimmten Platz gesetzt wird, ist auch eine Objektivation. 2 L. Székely , Knowledge and Thinking, in: Acta Psychologica VII (1) 1950; ders., Zur Psychologie des inneren Verhaltens beim Lernen, Denken und Erfahren, in: Theoria XIII (1947); ders., Tänkande och vetande, in: Tidskrift für Psykologi och Pedagogik I (1943); A. W. Wolters, Some Biological Aspects of Thinking, in: The British Journal of Psychology. General Section, XXXIII (1942 - 1943); William Stern, Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage, I, Haag 1935, S. 367 - 430; Hubert Rohracher, Einführung in die Psychologie, Wien 1948, S. 313 - 348; W. H. J. Sprott, General Psychology, Aberdeen 1947, S. 401 - 425. 3 Der finnische Rundfunk ließ im Jahre 1950 im Einverständnis mit der Polizeileitung und dem Eigentümer einen fingierten Einbruch anordnen, um eine spannende Reportage zu haben. Zu allem Unglück schlugen die von der Reportage nichts ahnenden Polizisten auf den Einbrecher mit den Fäusten los, weil sein verdächtiges Benehmen auf eine bewaffnete Bande zu deuten schien. Dies alles wurde als eine Rundfunksendung in authentischer Form dem Publikum dargeboten: es folgte eine wochenlange erregte Pressepolemik über das Benehmen der Polizisten und darüber, ob der Rundfunk zu einem solchen Experiment überhaupt berechtigt sei. Strafrechtsprofessoren traten in den Spalten der Zeitungen auf, lustige Operettenszenen und Couplets wurden geschaffen, und nach einigen Monaten erschien sogar eine Filmkomödie, die einen Riesenerfolg hatte. 4 Underhill Moore and Charles C. Callahan, Law and Learning Theory: a Study in Legal Control, in: The Yale Law Journal 55/1/december 1943; F. S. C. Northrop,
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Staate solche Massenexperimente von den Vertretern der Staatsgewalt und von den Rechtsanwälten kaum mit Sympathie betrachtet würden. Sie würden es als eine Unverschämtheit und eine Vergeudung ihrer kostbaren Zeit ansehen, wenn sie zufälligerweise hinterher erfahren würden, daß man mit ihnen experimentiert hat. Dies könnte ein Wissenschaftler allerdings mit Ruhe ertragen, wenn nicht auch wirtschaftliche Schwierigkeiten hinzukämen. Die Berufsausübung eines Juristen - sei er ein Beamter oder ein Rechtsanwalt geht ja nicht unentgeltlich vor sich. Ein systematisches Experimentieren in großem Umfange - und nur eine solche könnte hier fruchtbar sein - würde solche Kosten nach sich ziehen, daß kein Wissenschaftler sie tragen könnte. Falls aber eine wissenschaftliche Einstellung zu sozialen Problemen sich auch auf diesem Gebiete immer mehr durchsetzt, so ist es denkbar, daß die Staatsleitung ein Experimentieren innerhalb der Rechtsmaschinerie in einem gewissen Umfange zulassen könnte. Dieses Experimentieren - von kompetenten Wissenschaftlern geplant und durchgeführt - würde dann von der Staatsleitung als gemeinnützig gewertet. Prinzipiell funktioniert aber die Staatsmaschinerie nicht für solche Zwecke. Eine empirische Erforschung des juristischen Denkprozesses kann auch andere Wege einschlagen. Man kann Juristen sorgfältig vorbereitete Fragen über ihre Erfahrungen bei der praktischen Handhabung des Rechts stellen. Erfahrene Juristen verhalten sich keineswegs abweisend - jedenfalls nicht nach den Erfahrungen des Verfassers. Sie werden ja hier nicht als Versuchsobjekte bei einem psychologischen Experimente benutzt, sondern als Persönlichkeiten, deren Erfahrungen für die Fortschritte der Wissenschaft wertvoll sind. Die Fragen sollten so formuliert werden, daß sie von den praktischen Juristen auch beantwortet werden können. Der Forscher kann sich hier der theoretischen Hauptprobleme nicht direkt, sondern nur indirekt, auf Umwegen Underhill Moore's Legal Science: its Nature and Significance, in: The Yale Law Journal 59/2/ january 1950; Alessandro Levi, Comment peut-on analyser la conscience juridique?, in: Theoria XV (1949), S. 63: Ces recherches psychologiques et sociologiques, devant être conduites avec une méthode rigoureusement objective, ne rentrent pas croyons nous - dans le domaine de la philosophie, qui ne peut et ne doit qu'élaborer une critique de l'expérience. Mais sans ces analyses préalables des différents paliers des phénomènes sociaux, de la génèse individuelle et sociale de l'idée du droit, des différents composants de la conscience juridique, une philosophie du droit ne pourra jamais remplir sa tâche d'une façon positive et sérieuse. - Die empirische Einstellung des italienischen Forschers tritt hier klar zum Vorschein. - Torgny T. Segerstedt, A research into the general sense of justice, in: Theoria XV (1949); Rättsmedvetande och opinionsmätning (Dagens Nyheter 15.9.1946). Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 76 - 77, hebt hervor, daß auch die Gesellschaftswissenschaften ihre ,Laboratorien' haben, in denen Beobachtungen und wertende Experimentaluntersuchungen ausgeführt werden können: Banken, Versicherungsgesellschaften, Sparkassen, Kredit- und Hypothekenvereine, Wohnungsgesellschaften, Genossenschaften, fachliche Organisationen, Kartelle, Truste, Richter- und Verwaltungskanzleien. Kruse stellt ein Programm für eine empirische Theorie des Rechts auf: S. 87 - 90. Harald Ofstad, Alf Ross' begreppsbestemmelse av begrepet „rettsregel", Oslo 1949: eine sehr beachtenswerte Studie insbesondere in methodischer Hinsicht.
III. 3. Die juristischen Denkprodukte
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nähern. Er soll seine Fragen so wählen, daß er durch ein Kombinieren der auf die verschiedenen Fragen erhaltenen Antworten sich den theoretischen Hauptproblemen nähern kann. Dies setzt voraus, daß er seine Fragen nicht jede für sich isoliert, sondern als ein planmäßiges Ganzes sieht. - Die Antworten werden auf Erinnerungsbildern der Juristen basieren, die auf eine einst stattgefundene Introspektion bei ihrer Rechtshandhabung zurückgehen. Erinnerungsbilder und Introspektion: eine zweifache Unsicherheit. Der Jurist wird hier auch seine Beobachtungen über die Rechtshandhabung der Kollegen heranziehen, insofern er aus jener Handhabung auf ihr juristisches Denken schließen kann. Eine scharfe Grenze zwischen Ergebnissen der Introspektion und der Beobachtung fremder Reaktionen kann kaum gezogen werden. Wenn der Erforscher des juristischen Denkens ein Jurist ist, wird er sich vor allem seiner eigenen Introspektion und seiner Erinnerungsbilder bedienen. Er ist dabei den Gefahren ausgesetzt, die eine introspektive Methode mit sich bringt. 5 Doch wird wohl kein Rechtsforscher seine bei verschiedenen Typen der Rechtshandhabung erlangten persönlichen Erfahrungen vermissen wollen, mögen sie sich auf eigene Reaktionen oder auf Reaktionen von Juristenkollegen beziehen. Ist, streng genommen, eine introspektive Betrachtung des eigenen juristischen Denkens möglich? Dieses Denken geht ja in eine Handlungstotalität ein, zielt auf die praktische Handhabung von Rechtssituationen. Wie könnte ein Handelnder sich selbst und sein Denken gleichsam wie von außen betrachten? Es gibt hier zwar einen Ersatz: bei jedem praktisch eingestellten Denken und Handeln kommen Pausen vor. Sie sind oft nur momentan, aber der praktisch tätige Rechtsforscher kann für jene kurzen Augenblicke seine praktische Einstellung gegen die theoretische vertauschen und so frische Erinnerungsbilder auflagern. Nachher, bei einer längeren Pause, wird er zu diesen Bildern zurückkehren, und sie bei seinem theoretischen Denken benutzen. Das wissenschaftliche Studium des juristischen Denkprozesses setzt also voraus, daß er zum Gegenstande einer ,νοη außen' einsetzenden Betrachtung gemacht wird. Für einen Juristen ist es nicht leicht, seine eingewurzelte, mit den Jahren fast zur Selbstverständlichkeit gewordene Denkweise aus einer Distanz zu betrachten. In Wirklichkeit liegt hier eine philosophische Einstel5 Es würde für die Forschung auf dem Gebiete der Theorie des Rechts förderlich sein, wenn ein introspektives Spekulieren - ein Rudiment aus der Rechtsphilosophie immer mehr von einer planmäßig experimentellen Arbeitsmethode verdrängt würde, so wie dies in anderen Gesellschaftswissenschaften großenteils schon geschehen ist. - Auf die Möglichkeiten einer experimentellen Rechtsforschung hat in Gesprächen Jaakko Uotila besonders hingewiesen. Jaakko Uolila, Oikeustiede ja arvoarvostelmat (Rechtswissenschaft und Werturteile), Manuskript, Helsinki 1951. - Über die Methode einer empirischen Rechtsforschung L. /. Petrazycki, Theorie des Rechts und des Staates im Zusammenhang einer Moraltheorie, I (Russisch), Petersburg 1909, S. 49 - 134. Es ist lebhaft zu wünschen, daß dieses Werk des genialen Rechtstheoretikers in eine westliche Sprache übersetzt würde.
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lung vor. Ein Nicht-Jurist, der das juristische Denken studieren will, hat allerdings die dem Juristen fehlende Distanz. Aber hat er auch den Kontakt, die unmittelbare Fühlung mit den Sinnzusammenhängen dieses Denkens? Es gibt Fälle, wo ein Laie verblüffend tief in die juristische Gedankenwelt eingedrungen ist. 6 Grundsätzlich ist es aber ein Vorteil, wenn der Forscher hier zugleich Jurist ist. Er soll dann einerseits aus seiner unmittelbaren, erlebten Juristenerfahrung schöpfen, andererseits soll er sich abseits stellen und das juristische Denken zum Gegenstand einer theoretischen Betrachtung machen. Eine solche Distanz zu den Produkten des juristischen Denkens ist leichter zu erreichen als zu dem Denkprozesse selbst. Wir nennen diese, in eine bestimmte Form erstarrten Produkte des juristischen Denkens seine Objektivationen. Sie sind also ein Ausfluß des Denkens, und fragt man nach dem gedanklichen Bau der Objektivationen, so bewegt sich jene Frage nicht mehr unter einem psychologischen Aspekte, sondern ist auf die Herausarbeitung struktureller Zusammenhänge eingestellt. Lassen sich von der Objektivation aus Rückschlüsse auf den Denkprozeß ziehen? Sind nicht der Denkprozeß und seine Objektivationen untereinander inkommensurabel, so wie das Gießen des flüssigen formlos rinnenden Eisens und das in einer Form erstarrte Produkt jenes Gießens? Kann man überhaupt von gemeinsamen Elementen des Denkprozesses und seiner Objektivation sprechen? Behauptet man z.B., daß sowohl im juristischen Denkprozesse als auch in seiner Objektivation juristische Begriffe vorkommen, so steht man vor der Frage: werden hier vielleicht mit dem Worte ,Begriff zwei verschiedene Tatsachen bezeichnet? Ein Begriff im Sinne der Denkpsychologie und ein Begriff als Gegebenheit der Strukturanalyse von Objektivationen lassen sich wohl auf den bekannten Gegensatz von Psychologie und Logik zurückführen. Andererseits scheint es offenbar zu sein, daß zwischen der Struktur eines Denkprozesses und der Struktur seiner Objektivation gewisse Zusammenhänge bestehen, die in der weniger genauen Redewendung zutage treten, ,derselbe' Begriff komme in beiden vor. Man kann diese Redewendung auch als eine bequeme Kürzung auffassen. Es gibt Situationen, bei denen man fortlaufend beobachten kann, wie der Denkprozeß eines Juristen in Objektivationen übergeht: eine Diskussion unter praktischen Juristen über eine Rechtsfrage, ein frei gehaltener Vortrag eines Praktikers über ein Fachproblem. Eine ungezwungene freie Diskussion unter Vertretern verschiedener Juristenberufe bietet dem analytisch eingestellten Hörer wertvolles empirisches Material. Er richtet seine Aufmerksam6 So würde man niemals glauben, daß das Werk Jan-Magnus Janssons, Hans Kelsens statsteori mot bakgrunden av hans rättsfilosofiska âskâdning (Die Staatslehre Hans Kelsens gegen den Hintergrund seiner rechtsphilosophischen Anschauung) von einem Nicht-Juristen geschrieben wäre. Z.B. S. 37, 39, 46-, 84, 111, 113, 118, 176, 242, 255, 257, 258, 260, 282, 298.
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keit nicht auf den Inhalt der Aussagen, sondern auf ihre Struktur. 7 Ein Wissenschaftler kann auch einen praktischen Juristen zu privaten Meinungsäußerungen über Rechtsfragen provozieren, um dessen Gedankengang und die Struktur seiner Denkprodukte zu beobachten. - In solchen Situationen (kollektive oder private Diskussion, frei gehaltener Vortrag) ist der aussagende Jurist aber nicht bei seiner üblichen Rechtshandhabung. Es handelt sich ja um die Mitteilung einer Erkenntnis. Denken wir ζ. B. an einen Rechtsanwalt, der sich über eine konkrete Rechtssituation vor dem Gericht äußert und einige Stunden später im kameradschaftlichen Kreise seiner Kollegen über dieselbe Situation berichtet. Die Einstellung ist hier eine verschiedene. Zwar kann es auch im letzteren Falle darum gehen, die Zuhörer zu überzeugen. Vor dem Gerichte ist das Überzeugen aber ein Mittel zu weiteren praktischen Zwecken. Der Anwalt wahrt hier die Interessen seines Auftraggebers. Die Objektivationen des juristischen Denkens sind in modernen Kulturstaaten oft in schriftlicher Form fixiert, also von einer relativ großen Dauer. Solche schriftliche Objektivationen sind z.B. Gesetzestexte, Urteilstexte, schriftlich abgefaßte Verwaltungsentscheidungen, von Rechtsanwälten verfaßte Urkunden und Schreiben. Bei einer Strukturanalyse wird man wohl am zweckmäßigsten so verfahren, daß man einerseits von der vorliegenden Objektivation als einem sinnvollen Ganzen ausgeht, andererseits von den in ihr enthaltenen Elementen (Denkformen, Begriffe) und diese beiden Aspekte miteinander kombiniert. Bei der Lehrtätigkeit leisten graphische Hilfsmittel ausgezeichnete Dienste: an der Tafel des Auditoriums lassen sich strukturelle Zusammenhänge unmittelbar optisch veranschaulichen. Man könnte die Strukturanalyse einer Objektivation des juristischen Denkens mit dem Zeichnen einer Karte vergleichen: auch auf der Karte tritt die Struktur des Geländes allmählich hervor. - Wie schon hervorgehoben, wird bei einer Strukturanalyse ausschließlich das Formale in Betracht gezogen. Aus diesem Grunde können „triviale" Objektivationen für einen Strukturanalytiker die zweckmäßigsten Forschungsgegenstände sein, weil hier sein Interesse durch das Materiale weniger abgelenkt wird. Beim Studium des gedanklichen Baues einer juristischen Objektivation lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: der funktionelle und der geschichtliche. Man kann erstens fragen, welchen praktischen Zwecken die Struktur einer Objektivation dient, denn diese Objektivation kommt ja bei der Rechtshandhabung vor. Wir können dabei das Postulat aufstellen, daß jedes Element der Objektivation im Rahmen dieser Objektivation eine Funktion zu erfüllen hat. Nur so, als Teile eines Ganzen, lassen sich die Elemente sinnvoll verstehen, 7
Der Verfasser erinnert sich der vielen geselligen Abende in „Juridiska Föreningen i Finland", wo er Richtern verschiedener Instanzen, Rechtsanwälten, Verwaltungsspezialisten, Gesetzesformulierern - und auch Wissenschaftlern - in lebhaften Gesprächen zugehört und sie beobachtet hat.
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und nur im Lichte seiner gedanklichen Elemente kann eine juristische Objektivation funktionell erfaßt werden. Sprechen wir somit von einer „Gesamtfunktion" der Objektivation und von „Elementarfunktionen" seiner gedanklichen Elemente, so könnte man eine Korrelation zwischen Gesamtfunktion und Elementarfunktionen sehen. Eine Strukturanalyse vom geschichtlichen Aspekte aus nimmt die Elemente einer juristischen Denkobjektivation nicht funktionell, sondern als geschichtliche Ablagerungen, d.h. als etwas, was auf verschiedene geschichtliche Epochen zurückgeführt werden kann. Faßt man das juristische Denken einer bestimmten Epoche als ein Ganzes auf, so lassen sich bei diesem Ganzen Schichten unterscheiden, so wie der Geologe bei seinen Ausgrabungen eine Schicht nach der anderen bloßlegt. Sowohl der unter einem historischen Aspekte arbeitende Strukturanalytiker als auch der Geologe machen vertikale Schnitte durch ihren Forschungsgegenstand. Der Rechtstheoretiker wird hier auf Elemente stoßen, die aus der Antike, aus dem Hochmittelalter, der pandektologischen Ära und seiner eigenen Epoche stammen. Will man die Objektivationen und das sie tragende juristische Denken tiefer verstehen, so betrachte man sie nicht nur funktionell, sondern immer auch geschichtlich. Man wende hier nicht ein, daß eine Strukturanalyse von einem geschichtlichen Aspekte aus gesehen keine Strukturanalyse mehr sei, weil sie auf das Materiale, das Geschichtliche, eingehe. Hier werden ja nur die Elemente der juristischen Denkobjektivation auf ihren geschichtlichen Ursprung zurückgeführt. Ganz anders, wenn der Sinn der Objektivation an sich in eine historische Perspektive hineingestellt wird. Dann handelt es sich nicht mehr um eine Strukturanalyse. Spricht man von einer Objektivation des juristischen Denkens, so ergibt sich die Frage: wie soll die Grenze gezogen werden, die eine Objektivation als selbständige Einheit, als Denkgegenstand für den Forscher konstituiert? Ein Gesetz, die Begründung eines Gesetzes, ein Urteil einschließlich der Begründung, die einheitlich konzipierte Rede oder Schrift eines Rechtsanwalts, sie bilden alle abgerundete Einheiten und im wahren Sinne eine Objektivation. Ein Gesetzesparagraph oder -absatz, einzelne Sätze aus der Begründung eines Gesetzes, aus einem gerichtlichen Urteil und seiner Begründung, aus der Schrift eines Rechtsanwaltes - sie sind im Grunde nur Bruchstücke einer Objektivation. Sollten nicht bei der Strukturanalyse die Objektivationen als Ganzheiten analysiert werden? Aus praktischen, darstellungstechnischen Gründen müssen wir uns in dieser Studie auf eine stichprobenartige Analyse einiger Objektivationsfragmente beschränken. Art. 160 des schweizerischen Strafgesetzbuches von 21. Dezember 1937 lautet: Wer jemandes Kredit böswillig und wider besseres Wissen durch Behauptung oder Verbreitung unwahrer Tatsachen erheblich schädigt oder ernstlich gefährdet, wird, auf Antrag, mit Gefängnis oder mit Buße bestraft. - Struktur-
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analytisch ist vor allem die ,wenn-so'-Relation hervorzuheben 8, durch die der Text in zwei Teile („Wer . . . gefährdet" und „wird . . . bestraft") zerlegt wird. Von besonderem Interesse ist, daß jene Relation hier in der Indikativform erscheint. (So durchgehend im neuen schweizerischen Strafgesetzbuch; das deutsche StrGB vom Jahre 1870 ist hier weniger einheitlich). Es geht ja gar nicht darum, daß wenn eine im Strafgesetzbuche näher beschriebene Tat begangen wird, Bestrafung automatisch darauf folge. Es kann unaufgeklärt bleiben, wer der Täter ist, oder er hält sich versteckt, oder es gelingt nicht, die Erfüllung des Tatbestandes vor dem Gerichte zu beweisen, oder das Gericht spricht den Angeklagten widerrechtlich frei. In Wirklichkeit liegt hier eine Sollensrelation vor: wenn eine Tat bestimmter Art begangen wird, so ist das Gericht, falls Klage erhoben wird und die prozessualen Voraussetzungen für ein S traf urteil vorliegen, verpflichtet, eine Strafe zu verhängen. Wenn es so geschieht, bedeutet es nicht, daß der Verurteilte die Strafe auch abbüßt. Er kann sich ja verstecken, sich ins Ausland begeben (sogar solange bis der Strafvollzug verjährt ist), die vollstreckenden Behörden können aus irgendeinem Grunde ihre rechtliche Pflicht außer acht lassen. Die Wortzusammenstellung „wird bestraft" ist nicht ganz eindeutig. Es kann damit die bloße Verhängung der Strafe gemeint sein, aber auch die Verhängung und der sich daran schließende Vollzug. Es muß ein Grund vorliegen, warum die rechtliche ,wenn-so'-Relation sprachlich inadäquat wiedergegeben wird. Neben rein stilistischen Beweggründen dürfte hier auch eine rechtspolitische Suggestion angestrebt sein. Durch die kausale Formulierung „wenn . . . wird bestraft" entsteht das Bild einer mit eiserner Regelmäßigkeit funktionierenden Rechtsmaschinerie, wo jedes Verbrechen tatsächlich entdeckt und bestraft wird. Die kausale Gesetzesformulierung dürfte teilweise auch damit zusammenhängen, daß die modernen Strafgesetzbücher von Wissenschaftlern ausgearbeitet sind, die das Recht als eine in sich geschlossene autonome Welt sehen.9 In unserem Gesetzestext kommt das Wort „oder" dreimal, das Wort „und" einmal vor. Die Wortzusammenstellungen, die durch jene logischen Termini verbunden werden, haben in drei Fällen von sechs sehr vage Bedeutungen (,böswillig 4 , ,erheblich schädigt', ,ernstlich gefährdet'). Dem Gerichte wird hier eine so weite Bewegungsfreiheit eingeräumt, daß man sich die Frage stellt: wird hier nicht der innerhalb der heutigen abendländischen Kulturwelt 8 Zu vergleichen: die frühere Lehre Kelsens vom Rechtssatze als einem hypothetischen Urteile sowie Hans Kelsen, Causality and Imputation, repr. from „Ethics" LXL, 1 (1950). 9 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 23: „... im System des Rechts ... folgt die Strafe stets und ausnahmslos auf das Delikt." - Man kann sich fragen, ob jene Schreibart auch damit zusammenhängt, daß die Sätze des Strafgesetzbuches sich sowohl an Staatsbürger als auch an Staatsorgane richten, und eine Schreibart in der Form des Imperatives somit schwer durchzuführen sei (Bemerkung von Osvi Lahtinen).
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geltende Rechtsgrundsatz ,nulla poena sine lege' bedenklich verwässert? Bei einer näheren Betrachtung sehen wir allerdings, daß jene drei vagen Ausdrucksweisen auf die Strafbarkeit einschränkend wirken sollen. - Daß die Gesetzestexte in dem speziellen Teile moderner Strafgesetzbücher folgerichtig nach dem Schema ,wenn-so' aufgebaut sind, dürfte übrigens mit jenem Grundsatz in Verbindung stehen. Durch einen solchen Aufbau des Gesetzestextes wird nämlich eine effektive Kontrolle der Rechtsprechung durch die Staatsbürger gefördert. Das Wort,durch' in unserem Texte drückt einen Kausalzusammenhang aus, und zwar zwischen einer Handlung und deren Wirkungen. Diese Relation ist von der oben behandelten ,wenn-so'-Relation zu unterscheiden. 10 Das finnische Gesetz über vermögensrechtliche Rechtsgeschäfte vom 13. Juni 1929, § 33, lautet: Ein Rechtsgeschäft, das sonst als gültig anzusehen wäre, kann nicht geltend gemacht werden, wenn die Umstände bei seinem Zustandekommen derart waren, daß es gegen Treu und Glauben verstoßen würde, in Kenntnis dieser Umstände das Rechtsgeschäft geltend zu machen und angenommen werden muß, daß derjenige, gegenüber dem das Rechtsgeschäft vorgenommen wurde, eine solche Kenntnis besaß. - Um hier die Struktur klarzulegen, scheiden wir die Worte „das sonst als gültig anzusehen wäre" aus: eine negative Verweisung auf in diesem Gesetze früher aufgezählte Ungültigkeitsgründe. Hiernach können im Rechtssatze die folgenden gedanklichen Elemente unterschieden werden: Rechtsgeschäft, geltend machen, Umstände beim Zustandekommen, Kenntnis, Treu und Glauben. Dazu die Gedankengebilde „nicht - wenn" 1 1 , „gegen-verstoßen". Diese Elemente sind in einer komplizierten Weise ineinandergeschoben. Den Kern des Textes bildet der äußerst unbestimmte Ausdruck „Treu und Glauben". Dem Gericht ist hier ein weitgehendes Ermessen zugestanden. Auch bei der Feststellung der Frage, ob Kenntnis vorlag oder nicht, ist dem Gericht ausdrücklich eine weite Ermessensfreiheit zugestanden. Der Formulierer des Gesetzes hat durch diesen eigenartig strukturierten Rechtssatz einerseits Treu und Glauben, andererseits den gutgläubigen Dritten schützen wollen. Eine Betrachtung von dem geschichtlichen Aspekte aus würde feststellen, daß solche hochgradig abstrakten Rechtssätze in der skandinavischen Gesetzgebung eine späte Erscheinung sind. Schon die Überschrift jenes auf gemeinsame skandinavische Vorarbeit zurückgehenden Gesetzes macht einen theoretischen Eindruck. In den skandinavischen Ländern gelten jetzt über die in diesem Gesetz geregelten Fragen (Abschluß von Verträgen, Bevollmächtigung, Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte) im wesentlichen einheitliche, auf eine gemeinsame skandinavische Rechtsüberzeugung basierte Gesetze. Manche von den in diesen Gesetzen enthaltenen Grundsätze waren schon früher von der Gerichtspraxis 10 11
Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 136-. Eine sprachliche Umkehrung von ,wenn - so'.
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akzeptiert worden. Aber die vereinheitlichende Wirkung der Gesetze sollte nicht unterschätzt werden. Ihre Bestimmungen werden auch außerhalb des privaten Vermögensrechtes weitgehend analog angewendet. Artikel 1703 des italienischen Zivilgesetzbuches vom 16. März 1942 lautet: Il mandato è il contratto col quale una parte si obbliga a compiere uno ο più atti giuridici per conto dell'altra. - Diese Legaldefinition des Auftrages kennzeichnet einen Vertragstyp des positiven italienischen Zivilrechts mit Hilfe von Begriffen der Jurisprudenz (obbligare, atto giuridico) und einem Begriff (contratto), dessen Legaldefinition in Cod. civ. Art. 1321 gegeben wird. Die entsprechende Definition des BGB lautet: Durch die Annahme eines Auftrags verpflichtet sich der Beauftragte, ein ihm von dem Auftraggeber übertragenes Geschäft für diesen unentgeltlich zu besorgen. - Vergleicht man die Struktur der beiden Legaldefinitionen, so können in beiden einige gleichmäßige Begriffe festgestellt werden: „verpflichtet sich" (si obbliga), „der Beauftragte" (una parte), „Auftraggeber" (l'altro). Aber auch Verschiedenheiten sind vorhanden: die auf das römische Recht zurückgehende Unentgeltlichkeit ist nach der italienischen Legaldefinition kein notwendiges Merkmal des Vertragstyps. - Der funktionelle Zweck einer Legaldefinition des Auftrages ist eine Abgrenzung jenes Vertragstyps anderen Typen gegenüber, wodurch eine Grundlage für die Anwendung positivrechtlicher Auftragsnormen im konkreten Falle geschaffen wird. Nachdem wir so die Struktur einiger Gesetzestexte betrachtet haben, werden wir Stichproben aus Gesetzesmotiven nehmen. Bei einem größeren Gesetze enthalten die Motive gewöhnlich sowohl einen allgemeinen als auch einen besonderen Teil. Der allgemeine Teil gibt ein - oft auf eingehender empirischer Gesellschaftsforschung gestütztes - Gesamtbild des sozialen Hintergrundes zum neuen Gesetzestexte. Wir werden uns aber hier nur mit dem besonderen Teile der Gesetzesmotive beschäftigen, weil er strukturanalytisch ergiebiger ist. Der Gesetzestext und der Text der Motive bedingen sich gegenseitig. Man kann es wohl als Normalfall ansehen, daß die Motive eines bestimmten Gesetzesparagraphen seinen praktischen Zweck angeben. So enthalten die Motive des Entwurfes eines Ersten Wohnungsbaugesetzes vom 22. Februar 195012, § 6, u.a. folgendes: „In dieser Vorschrift kommt eines der Hauptziele der künftigen Wohnungsbaupolitik, die Baukostensenkung, zum Ausdruck. Diese muß in erster Linie durch technische Fortschritte erreicht werden. Aus diesem Grunde ist der Bundesregierung in Absatz 2 die Ermächtigung zum Erlaß von bautechnischen Bestimmungen gegeben worden, mit denen diese Tendenzen gefördert werden sollen." - Der Entwurf eines Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 28. März 1950, § l , 1 3 wird u. a. motiviert: „Das 12 13
Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949, Drucksache Nr. 567. Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949, Drucksache Nr. 788.
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Bundesverfassungsgericht ist ein organisatorisch selbständiges Gericht. Zur Erleichterung seiner Arbeit erscheint es aber . . . nützlich, es örtlich mit einem oberen Bundesgericht zusammenzulegen. Das gestattet insbesondere die Mitbenutzung der Sitzungssäle, der Bücherei, der Druckerei und der Kasse dieses oberen Bundesgerichts durch die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts." In den Vorarbeiten zu einer großen Kodifikation werden Fragen der Zweckmäßigkeit eingehend erörtert. So z.B. in den Motiven des italienischen Zivilgesetzbuches vom Jahre 1942: „ I n verità, considerando la sostanza delle cose, sotto il punto di vista dell' opportunità pratica e dell'equità . . ." 1 4 . In einem heutigen Kulturstaate läßt sich schwerlich vermeiden, daß nicht in den Gesetzesmotiven zuweilen auch theoretische Fragen berührt werden. Man kann hier die Verflechtung von Theorie und Praxis gut beobachten. Der eben erwähnte Entwurf eines Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht motiviert § 50 folgendermaßen: „Das Verfahren gegen den Bundespräsidenten ist kein Strafverfahren, sondern ein politisches Verfahren. Deshalb beschränkt sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf die Feststellung, daß der Bundespräsident das Grundgesetz oder ein Bundesgesetz vorsätzlich verletzt hat. Der Ausspruch, daß der Bundespräsident seines Amtes verlustig geht, stellt keine Strafe im strafrechtlichen Sinne dar." Diese Motivierung könnte inhaltlich an mehreren Punkten kritisiert werden; dies würde aber außerhalb des Strukturanalytischen fallen. Gehen wir jetzt zu einigen Urteilstexten über. In einer Entscheidung des Schweizerischen Bundesgerichtes 15 heißt es: „Der Vertrag über die Einstellung eines Autos in eine Sammelgarage ist bisher in Rechtsprechung und Schrifttum der Sondervorschrift über die Haftung des Stallwirtes, Art. 490 OR, unterstellt worden. Maßgebend war dabei die Überlegung, daß die Motorfahrzeuge nach ihrer Beschaffenheit und ihrer Bestimmung den gewöhnlichen, durch Zugtiere beförderten Wagen rechtlich gleichgestellt werden müßten (BGE 36 I I , S. 58 Erw. 2 am Ende, 62 I I , S. 153; Appellationsgericht Basel-Stadt, in: SJZ 46, S. 127; Oser-Schönenberger N. 4, Becker N. 3 zu Art. 490 OR). A n dieser Auffassung kann indessen bei näherer Prüfung nicht festgehalten werden . . . " (folgt nähere Begründung). Aus der Struktur dieser sprachlich fixierten Objektivation des richterlichen Denkens heben wir folgende Elemente hervor: Vertrag, Rechtsprechung, Schrifttum, Sondervorschrift, Haftung, unterstellt, Überlegung, Beschaffenheit und Bestimmung, rechtlich gleichgestellt, nähere Prüfung. - Formal ist hier von Interesse, daß ausdrücklich auf eine frühere Rechtsprechung sowie 14 Relazione del Ministro Guardasigilli, 26.10.1939 per l'approvazione del Libro del Codice civile „Delle successioni per causa di morte", art. 12; 2. - Art. 18; 2: „meritevole di accoglimento", „l'utile funzione". 15 BGE 76 II, S. 22 Erw. 2, am Anfang (1950).
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auf die Rechtswissenschaft hingewiesen wird - allerdings, um ihr Ergebnis zu verwerfen. Die für das juristische Denken kennzeichnende Zweckbetrachtung tritt in der sprachlichen Objektivation klar hervor: „Beschaffenheit und Bestimmung", „rechtlich gleichgestellt", „Überlegung", „nähere Prüfung". Das Wort „unterstellt" bezieht sich auf den deduktiven Zusammenhang im richterlichen Denken. „Vertrag" und „Haftung" sind zentral bedeutsame Denkschemen sowohl in der Rechtswissenschaft als auch in der Arbeit des praktischen Juristen. - Betrachtet man dieses Fragment einer Urteilsbegründung aus einem geschichtlichen Aspekte, so stehen hier zwei „Epochen", das Zeitalter des Pferdes und dasjenige des Motorfahrzeuges einander gegenüber. In einem anderen schweizerischen höchstrichterlichen Urteile 1 6 wurde folgender Rechtsgrundsatz als geltend festgestellt: Ein Beamter darf, solange seine Verfehlungen nicht durch rechtskräftiges S traf urteil festgestellt sind, nicht disziplinarisch entlassen werden, ohne daß er von der Disziplinarbehörde zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen angehört worden ist. Wir lesen in den Gründen u.a.: „Der Anspruch auf rechtliches Gehör folgt aus dieser Verfassungsbestimmung (Art. 4 BV) für das Verfahren vor Verwaltungsbehörden nicht allgemein und im gleichen Umfange wie für den Zivilund Strafprozeß. Er besteht aber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts u.a. jedenfalls dann, wenn das Verfahren die Ausfällung einer Strafe oder sonst einen besonders schweren Eingriff in die höchstpersönliche Rechtssphäre zum Gegenstand hat (BGE 74 I, S. 247/48 und dort angeführte frühere Urteile). Da die disziplinarische Beamtenentlassung nach ihren Wirkungen und wegen ihres S traf Charakters einen solchen Eingriff darstellt, rechtfertigt es sich, daß dem von ihr Betroffenen das rechtliche Gehör grundsätzlich in gleichem Umfange gewährt wird wie dem Beschuldigten im Strafprozeß. Dieser hat nach der Praxis vor allem Anspruch darauf, zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen angehört zu werden und sich verteidigen zu können, bevor eine endgültige, durch rein ordentliches Rechtsmittel weiterziehbare Verfügung erlassen wird (BGE 46 I, S. 327)." Wir heben hier nur hervor: Anspruch, folgt, Zivil- und Strafprozeß, ständige Rechtsprechung, besonders schwerer Eingriff, rechtfertigt es sich, grundsätzlich. Der Terminus „folgt" deutet (hier negativ) auf einen deduktiven Zusammenhang. Die Termini „besonders schwerer Eingriff", „rechtfertigt es sich" deuten auf die Zweckbetrachtung. „Zivil- und Strafprozeß" weist auf leitende Grundsätze ganzer Rechtsgebiete hin. „Ständige Rechtsprechung" (des Bundesgerichts) deutet auf eine geschichtliche Tatsache und auf die positivrechtliche Auslegungsnorm, die solchen Tatsachen eine rechtliche Bedeutung beilegt. „Grundsätzlich" ist eine dem deduktiven Zusammenhange beigegebene Einschränkung. - Von einem geschichtlichen Aspekte aus betrachtet ste16 BGE 761, S. 29(1950). 12 Brusiin
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hen wir hier vor einem sehr wichtigen Rechtsgrundsatz der abendländischen Kulturwelt. Nachdem wir durch die obigen Stichproben angedeutet haben, was bei einer strukturanalytischen Betrachtung im Mittelpunkte des Interesses steht, werden wir einige kurze Bemerkungen über das gegenseitige Verhältnis zwischen juristischer Sprache und juristischem Denken machen. 17 Redet man von der Juristischen Sprache', so muß präzisiert werden, in welchem Sinne man diesen Terminus gebraucht. Man kann dadurch ein geschichtlich-konkretes Gebilde bezeichnen: die heutige deutsche, schweizerische, schwedische, finnische usw. juristische Sprache. Hier erscheint die juristische Sprache als ein Anhängsel einer bestimmten geschichtlich konkretisierten Allgemeinsprache. Für die Zwecke einer Theorie des Rechts scheint es angebracht, den Terminus Juristische Sprache' in einem weiteren Sinne zu gebrauchen, ohne eine Gebundenheit an eine bestimmte Allgemeinsprache oder einen bestimmten Zeitpunkt. Aber auch so verstanden ist die juristische Sprache nicht ohne jede Zeit Verbundenheit. Sie setzt eine kulturgeschichtliche Epoche voraus, in der es Juristen' gibt. Unter juristischer Sprache' verstehen wir in dieser Studie die Sprache, deren sich ein Jurist bei der praktischen Rechtshandhabung bedient. 18 Daß zwischen der juristischen Sprache und der juristischen Begriffswelt eine weitgehende Korrelation herrscht, geht u.a. aus der Tatsache hervor, daß die praktische Juristenschulung zu einem wesentlichen Teile im Erlernen der juristischen Sprache besteht. 19 Wenn z.B. in Finnland der junge Jurist am Höchsten Gerichtshofe oder an einem Hofgerichte (Appellationsgericht) eine bescheidene Stellung erlangt, lautet die erste Frage: ,Kann er schreiben?' Das bedeutet: Kann er sich der juristischen Sprache richtig, d.h. nach althergebrachten traditionellen Regeln bedienen? Lernt der junge Jurist diese Kunst 17
Betrachtungen grundlegender Art bei Osvi Lahtinen, M., Abschnitt ,Norm'. Glanville Williams, Language and Law, in: The Law Quarterly Review, 61 (1945), S. 71: For lawyers language has a special interest because it is the greatest instrument of social control. — The law, with its verbal apparatus of „rights", „duties", and „wrongs" is merely a particular application of language as a means of social control. - Words are of central importance for the lawyer because they are, in a very particular way, the tools of his trade. - Ch. Boasson, Sociological Aspects of Law and International Adjustment, S. 34-. 18 Über die juristische Sprache Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 172-; Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 22 - 31, 57 - 68 (verbalism and scholasticism), S. 84 - 92; Courts on Trial, S. 171 - 174, 186 - 189; A. H. Campbell, Besprechungen dieser Werke in: The Modern Law Review, July and October 1950; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 42 - 46. 19 Bruno Baron ν. Freytag Löringhoff, Das Verstehen in den exakten Wissenschaften, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 39 (1950), S. 67: Überhaupt ist eine Grundbedingung jeden lernenden Verstehens, daß Lehrender und Lernender dieselbe Sprache sprechen. Ein Großteil des mathematischen Unterrichts besteht im Bemühen, das zu erreichen.
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nicht, so wird er für einen schlechten Juristen angesehen, und die Möglichkeiten einer gerichtlichen Karriere sind minimal. Diese Tatsache hat zu dem Ergebnis geführt, daß manche jüngere Juristen beim Höchsten Gerichtshofe und bei den Hofgerichten das Hauptgewicht auf eine peinlich genaue traditionelle juristische Sprachbehandlung legen, wobei die materiellen Fragen allerdings nebenher berücksichtigt werden. Alles muß auf der Grundlage von Mustern gemacht werden: eine ungeheure Energie wird auf das Finden solcher Muster verwendet. Analoge Erscheinungen lassen sich wohl in den meisten modernen Kulturstaaten feststellen: sie sind die Kehrseite einer an sich notwendigen gründlichen praktischen Schulung. Der angehende Jurist sieht sich nach abgeschlossenen theoretischen Studien einer geradezu erdrückenden juristischen Tradition gegenüber, die sich vor allem im juristischen Sprachgebrauche verkörpert. Will er als ein Jurist anerkannt werden, so hat er keine Wahl: er muß sich diese Tradition aneignen. Seit dem Mittelalter hat die Bedeutung der geschriebenen Sprache auf den verschiedensten Kulturgebieten stark zugenommen. Wir können dieser Erscheinung hier nicht nachgehen. Der Hinweis auf eine technische Erfindung wie der Buchdruck und auf die damit zusammenhängende immer weiter verbreitete Kunst des Lesens und Schreibens würde die tiefer liegenden Ursachen dieses kulturphilosophisch bedeutungsvollen Phänomens nicht erschöpfen. Für uns genügt es festzustellen, daß dieser allgemeinen Entwicklungstendenz gemäß sich auch die Bedeutung einer schriftlich fixierten juristischen Sprache stark zugenommen hat. Wie schon hervorgehoben wurde, hat sich eine Juristensprache erst seit dem Hochmittelalter allmählich entwickelt, und zwar in der geistigen Atmosphäre der Hochschulen. Daß diese Atmosphäre eine schriftlich fixierte Sprache begünstigte, versteht sich von selbst. Eine wissenschaftliche Forschungstätigkeit - mag es sich um Natur- oder Kulturwissenschaften handeln - ist ohne eine schriftlich fixierte Kunstsprache unvorstellbar. Zwischen der wissenschaftlichen Sprache mit ihrem Streben nach einer klaren, eindeutigen, systematisch ausgebauten Terminologie 20 und der juristischen Sprache bestehen bemerkenswerte Ähnlichkeiten. Haben wir hier innerhalb der abendländischen Kulturgeschichte zwei parallel laufende Linien, die sich niemals berühren werden, obgleich zwischen ihnen die Jurisprudenz eine Brücke schlägt?21 20
Über die Wissenschaft als Äußerung des europäischen Geistes Karl Jaspers im Sammelwerk „L'esprit européen", Paris 1946, S. 295, 303 - 305; Léon Brunschvicg, L'esprit européen, Neuchâtel 1947, S. 101, 183 - 187; Pietro Bonfante, „II momento caratteristico della civiltà europea è l'impero che, sin della sua prima affermazione, conquistò su di essa la ricerca scientifica", in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto 1949, S. 273; Carlo Schmid, Über den europäischen Menschen, in: Die Neue Rundschau 2 (1950). 21 Wenn man gewisse Ähnlichkeiten zwischen der wissenschaftlichen und der juristischen Sprache betont, so sollte man doch nicht einen bedeutungsvollen Unterschied 12*
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Für das Studium des juristischen Denkens bedeutet es eine fesselnde Aufgabe, wenn man die schriftlich fixierte juristische Sprache, die Juristensprache, mit der schriftlich nicht fixierten Rechtssprache vergangener Kulturepochen vergleicht. 22 Wir stoßen aber hier auf eine Schwierigkeit: die Rechtssprache vergangener Kulturepochen ist uns nur in einer schriftlichen Überlieferung zugänglich, also als eine schriftlich fixierte Sprache. Bestehen nun irgendwelche Garantien dafür, daß diese Überlieferung die gesprochene Rechtssprache echt wiedergibt, jene Rechtssprache, die im Munde des Volkes sich durch Generationen forterbte? Jedes Aufschreiben eines mündlichen Traditionsrechtes bringt die Gefahr mit sich, daß der Schreiber in die bisherige Rechtssprache strukturelle Neuerungen hineinbringt. Die wenigen Schreibkundigen des Mittelalters gehörten vorwiegend dem Klerus an, einem Stande, der schon wegen seiner Erziehung in einer ihm eigenen geistigen Welt lebte. Man muß sich also der aufgezeichneten ursprünglich mündlichen Rechtssprache gegenüber Reservationen auferlegen. Dennoch öffnen sich bedeutsame Perspektiven. 23 Die Theorie des Rechts bekommt hier einen Hintergrund zum vergessen: die juristische Sprache - wie die ganze Einstellung der Juristen - ist konservativ, ja, sogar mit einer Neigung für das Altertümliche. Die wissenschaftliche Sprache dagegen macht gern kühne Sprünge durch Einführung „revolutionärer" Termini (eine Bemerkung Jan-Magnus Janssons). - Fragt man nach dem Grunde des Konservatismus der juristischen Einstellung, so kann auf die soziale Funktion des Rechts als stabilisierender Faktor hingewiesen werden. Die Kehrseite der Rechtssicherheit ist Konservatismus. E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 284 - 285: So steht unser juristisches Denken weit mehr als wir ahnen unter dem Zeichen der Vergangenheit. Das Recht ist... stets eine Form der Herrschaft des Toten über den Lebenden, und weit mehr als die Gesetze sind es die Denkgewohnheiten der Juristen, die sich von Geschlecht zu Geschlecht forterben: sie sind der hartnäckigste und eigensinnigste Bestandteil des Juristenrechts. Georges Gurvitch, Sociology of Law, S. 13: Jurists have an inveterate tendency to dogmatism and conservatism, the identification of entirely relative techniques with thea eternal idea, the „Logos" of the law. - Hans Dölle, Vom Stil der Rechtssprache, Tübingen 1949, S. 55; Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, S. 229 - 230; C. H. Mcllwain, Some Illustrations of the Influence of Unchanged Names for Changing Institutions, im Sammelwerk „Interpretations of Modern Legal Philosophies", New York 1947; Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 60-61. 22 Zu vergleichen N. S. Timasheff, An Introduction to the Sociology of Law, S. 301-. 23 Zu vergleichen Claudius Frh. v. Schwerin, Der Geist des altgermanischen Rechts, das Eindringen fremden Rechts, und die neuerliche Wiedererstarkung germanischer Rechtsgrundsätze, im Sammelwerk „Germanische Wiedererstehung", Heidelberg 1926, S.o 205 - 291; Svenska Landskapslagar tolkade och förklarade för nutidens svenskar av Âke Holmbäck och Elias Wessén, I, Östgötalagen och Upplandslagen, Uppsala 1933, Inledning; Nat. Beckman, Äldre Västgötalagen översatt och förklarad, Uppsala 1924, Inledning; Germanenrechte, Band 7: Schwedische Rechte. Älteres Westgötalag, Uplandslag, Weimar 1935, Einleitung von Claudius Frh. v. Schwerin; Ragnar Hemmer, Suomen oikeushistorian oppikirja, I, Lehrbuch der Rechtsgeschichte Finnlands, I, Helsinki 1950: dieser Teil umfaßt die Rechtsquellen, das Straf-, Prozeß- und Vollstrekkungsrecht Finnlands und Schwedens, mit besonderer Berücksichtigung des mittelalterlichen Rechts; Ragnar Hemmer, Studier rörande straffutmätningen i medeltida svensk rätt, Helsingfors 1928. Hemmer hat auch in zahlreichen Aufsätzen und detaillierten Rezensionen sein Spezialgebiet, das mittelalterliche schwedische und finnische Recht,
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tieferen Verständnis der juristischen Sprache unserer eigenen Kulturepoche. 24 Nicht nur in dem Sinne, daß von den Verschiedenheiten zwischen mündlicher Rechtssprache und schriftlicher technisierter Juristensprache Schlüsse auf Verschiedenheiten des Denkens gezogen werden können, sondern auch insofern, daß hier neben allen Verschiedenheiten vielleicht doch Züge feststellbar sind, die auf ein einheitliches soziales Phänomen, das Recht, hindeuten. Auch der gedankliche Aufbau der Theorie des Rechts ist durch die Rechtssprache entscheidend beeinflußt. Manche Fragestellungen sind uns durch die Sprache gegeben25, obgleich sie vom Forscher als Probleme der sozialen Wirklichkeit erlebt werden können. Eine Analyse der juristischen Sprache würde hier klärend wirken und die Grenzziehung zwischen Sprachproblemen 26 und Wirklichkeitsproblemen fördern. 27 behandelt. - Über die Bedeutung der juristischen Sprache im anglo-amerikanischen Präjudizrecht Edward H. Levi, An Introduction to Legal Reasoning, S. 506 - 507. 24 Foul Johs. J0rgensen, Dansk Retshistorie, Kopenhagen 1940, S. 24-, 129 - 130, 134 - 137. 25 Zu vergleichen Felix Kaufmann, Methodology of the Social Sciences, New York 1944, S. 17 - 32. 26 Da die darstellende Sprache eine fundamentale anthropologische Tatsache ist, werden wir durch Sprachprobleme, die innerhalb der Theorie des Rechts vorkommen, auf die geistige Konstitution des Menschen zurückgeführt. Man sollte sehr vorsichtig sein, bevor man diese Probleme als ,sinnlos' kennzeichnet. Ernst Cassirer, An Essay on Man, S. 222 - 228; Karl Bühler, Sprachtheorie, Jena 1934; Walter Porzig, Das Wunder der Sprache, Bern 1950, S. 366 - 375; Otto Jespersen, The Philosophy of Grammar, London 1948. 27 Werner Goldschmidt, Der Linguismus und die Erkenntnistheorie der Verweisungen, Zürich - Leipzig 1936, S. 28 - 67, 145 - 176; Einige rechtstheoretische Probleme im Lichte der linguistischen Erkenntnistheorie, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts IX (1935); Osvi Lahtinen, M., „Das Recht. Die Definitionen des Wortes Recht"; Glanville L. Williams, The Controversy Concerning the Word „Law", in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 38 (1949); ders., Language and Law, in: The Law Quarterly Review 61 u. 62 (1945 u. 1946); B. E. King, Propositions about Law, in: The Cambridge Law Journal 11 (1951); Jan-Magnus Jansson, Nâgra synpunkter pâ begreppen „rättsordning" och „stat". Harald Ofstad, The Descriptive Definition of the Concept „legal norm" Proposed by Hans Kelsen. An elementary analytical and critical investigation, in: Theoria XVI (1950). - Würde es nicht im Interesse einer einheitlichen internationalen Fachterminologie liegen, wenn der Terminus „allgemeine Rechtstheorie" auch in die deutsche wissenschaftliche Sprache eingeführt würde? Denken wir an die schon fest eingebürgerten Termini „teoria generale del diritto", „théorie générale du droit". Der Terminus ,Theorie des Rechts' ist an sich sprachlich tadellos, aber Vertreter der Jurisprudenz werden fragen: ,Treiben wir denn keine wissenschaftliche Erforschung des Rechts, keine Theorie?' (Franz W. Jerusalem und Jerome Frank würden hier sofort antworten: ,Nein'). Der Terminus allgemeine Rechtslehre', dessen wir uns in der Studie „Über die Objektivität der Rechtsprechung", Helsinki 1949 - allerdings mit starken Bedenken - bedienten, scheint eher eine pädagogische Disziplin, eine Einführung in das Rechtsstudium (Rechtsenzyklopädie) zu bezeichnen. Ein deutscher Kollege teilte in einem Brief mit, er fürchte, daß der Terminus ,allgemeine Rechtstheorie' zu einer Vermischung mit ,allgemeine Rechtslehre' führen könne. - Der englische Terminus jurisprudence' tritt meistens als ein Synonym von ,Theorie des Rechts' auf. A. H. Campbell, A Note on the Word „Jurisprudence", in: The Law Quarterly Review
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Machen wir eine Inventur der Wörter, die in der juristischen Sprache gebraucht werden, so können zwei Worttypen unterschieden werden: 1. Wörter, die außerhalb des juristischen Sprachgebrauches nicht vorkommen. Man könnte sie „spezifisch juristische Wörter" nennen. Z . B . Zession, Intervention, Okkupation, Novation, Servitut, Präsumtion. Es gibt verhältnismäßig wenig solche Wörter. Meistens sind es Wörter, die aus dem Latein in die traditionelle Juristensprache hineingekommen sind. Ursprünglich waren wohl jene lateinischen Wörter keine „spezifisch juristischen", sondern kamen auch in der lateinischen Allgemeinsprache vor. 2. Wörter, die sowohl im juristischen Sprachgebrauche als im nichtjuristischen vorkommen. Die überwiegende Mehrzahl der in der juristischen Sprache erscheinenden Wörter gehören diesem Typ an. Meistens handelt es sich um eingebürgerte Wörter, die von außen in die juristische Sprache übernommen worden sind. Wenn ein Wort aus einem nichtrechtlichen Lebensgebiete in die juristische Sprache übernommen ist, wird dies zuweilen durch eine spezielle Zutat angegeben. Es gibt eine große Anzahl von solchen zusammengesetzten Wörtern: Rechtsordnung, Rechtsnorm, Rechtspflicht, Rechtslücke, Rechtsgeschäft, Rechtsfolge, Rechtsnachfolge usw. In den weitaus meisten Fällen kommt aber keine sprachliche Zutat vor. Denken wir z.B. an das Wort ,Ehe'. In der juristischen Sprache bezeichnet dieses Wort eine Zusammenfassung von Rechten und Pflichten. Die für einen Laien grundlegende Tatsache, daß die Ehe eine soziale Institution mit starker ethischer Färbung sei, ist allerdings auch für den Juristen nicht bedeutungslos. Das Wort ,Kauf bezeichnet in der Juristensprache einen bestimmten rechtlichen Vertragstyp mit allen sich daran anschließenden Rechtsfolgen. Ein Laie würde wohl bei diesem Worte viel stärker das Wirtschaftliche erleben. Man sagt, ein subjektives Recht,entstehe', ,werde übertragen', ,werde verstärkt', ,werde geschwächt', ,erlösche'. Man ist an eine Pflicht ,gebunden', wird von ihr ,entbunden', ,befreit'. Hier haben wir eine Anzahl von Wörtern, die in die juristische Sprache aus der nichtrechtlichen Sphäre gekommen sind, sich aber unter den Juristen schon längst fest eingebürgert haben. Vergleicht man die juristische Bedeutung dieser Wörter mit ihrer ursprünglichen, nichtjuristischen, so kann man sagen, sie werden in der juristischen Sprache bildlich' gebraucht. 28 Es ,entsteht, besteht, erlischt' usw. hier nichts „Wirkliches", was unmittelbar mit der sinnlichen Wahrnehmung verifiziert werden könnte. 29 CCXXXI. Kelsen scheint jetzt ,general theory of law' zu akzeptieren, und W. Friedmann spricht von „legal theory". 28 Zu vergleichen Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 114. 29 Über die herrschende Stellung des Optischen in der Umwelt des Menschen Jacob von Uexküll, Der unsterbliche Geist in der Natur, Hamburg 1947, S. 69-; Hermann Friedmann, Die Welt der Formen, Berlin 1925, S. 30-. Zu vergleichen Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 44 - 66.
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Psychologisch ist es bemerkenswert, daß der Jurist diese Wörter bei seinem juristischen Sprachgebrauch nicht mehr bildlich erlebt. Sie sind zu handlichen Bindewörtern geworden, die seine juristischen Grundtermini verknüpfen. 30 Die Wörter der juristischen Sprache sind auf etwas bezogen, haben Bedeutungen. Worauf beziehen sie sich? Teils auf etwas in der physischen Wirklichkeitssphäre (Menschen 31 Dinge, Ereignisse), teils auf etwas in der psychischen Erlebnissphäre des Menschen (z.B. Wille, Vorsatz, guter Glaube), teils auf etwas, was in keiner dieser Sphären, sondern ausschließlich innerhalb der Sphäre des juristischen Denkens zu finden ist. In theoretischer Hinsicht sind die letztgenannten Bedeutungen besonders interessant. Subjektives Recht, rechtliche Pflicht, Rechtsfolge - diese und manche andere Termini deuten auf Gegenstände, die weder eine physische noch eine psychische Existenz haben 32 , die aber im Bereiche des juristischen Denkens eine zentrale Stellung einnehmen. 33 Jetzt sind wir bei den juristischen Begriffen angelangt, als deren Träger die Worte der juristischen Sprache - allein oder mehrere zusammen - auftreten. 3 4 Macht man eine Inventur der im juristischen Denken auftretenden 30
Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 191-; Werner Goldschmidt, Einige rechtstheoretische Probleme im Lichte der linguistischen Erkenntnistheorie, S. 8-. 31 Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 68: „So erscheint das konkrete Verhalten der Rechtsgenossen als das letzte Element, das die Rechtsordnung konstituiert. Auf ihm baut sich das Gebäude der Rechtsordnung auf." - Wenn Jerusalem aber weiter schreibt: „Das Recht ist damit als rechtliches Verhalten zu definieren", so scheint diese wenig gelungene Formulierung nicht aus dem vorhergehenden Satze zu folgen, sondern steht zu ihm in Widerspruch. Vergleicht man den ersten und den dritten Satz Jerusalems miteinander, so behaupten sie, das Recht (= das rechtliche Verhalten) erscheine als das letzte Element, das die Rechtsordnung konstituiert. 32 Man kann hier einwenden, daß jene spezifisch juristischen' Gegenstände doch immer letzten Endes auf empirisch Verifizierbares reduziert werden könnten, wobei allerdings fast regelmäßig sehr komplizierte Gegebenheiten hervortreten. Dies mag richtig sein. Im juristischen Denken jedoch werden solche Gegebenheiten wohl nur selten intendiert. Das Denken des praktisch tätigen Juristen geht nur bis zu den Kürzungen, ohne die er unmöglich arbeiten könnte. Daß der Theoretiker vielleicht nicht bei ihnen Halt macht, beruht auf seiner gänzlich verschiedenen Einstellung. - Zu vergleichen Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 43 - 45; Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 15 - 16. 33 Wenn E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 251, behauptet, daß „sämtliche juristischen Begriffe entweder Begriffe von gesellschaftlichen Einrichtungen oder von gesellschaftlichen Interessengegensätzen" seien, so stimmen wir ihm nicht zu. Im Gegensatz zum rechtlichen Denken eines Laien wird die Gedankenwelt des Juristen u. a. dadurch charakterisiert, daß für ihn zahlreiche Denkobjekte vorkommen, die weder eine physische noch eine psychische, sondern nur eine juristische' Existenz haben. Auch beim Laien können unzusammenhängende Ansätze solcher Begriffe vorkommen. Beim Juristen sind sie aber die tragende Grundlage seines gesamten Denkens. Das juristische Schematisieren würde ohne sie unmöglich sein (Kapitel IV). 34 Die klassische Darstellung des Problems bei Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 164-, und bei Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. 891-. Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 186-; Walter Burck-
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Begriffe 35 , so wird man zwei Typen unterscheiden: 1. Begriffe, die außerhalb des juristischen Denkens nicht vorkommen (spezifisch juristische Begriffe'); 2. Begriffe, die sowohl im juristischen Denken als auch im nichtjuristischen vorkommen. Von den in der juristischen Sprache vorkommenden Wörtern bilden die spezifisch-juristischen eine verschwindend kleine Minderheit. Unter den im juristischen Denken vorkommenden Begriffen bilden aber die spezifisch-juristischen eine überwiegende Mehrzahl. Auch in den zahlreichen Fällen, wo der Begriff von einem nicht spezifisch-juristischen Worte getragen wird, ist der Begriff doch fast regelmäßig spezifisch-juristisch. Z . B . ,Betrug', ,Totschlag', ,Forderung', ,Haustier', ,eindringen'. In allen diesen Fällen kommen die Worte auch außerhalb des juristischen Sprachgebrauches vor. Sobald sie aber innerhalb der juristischen Sprache als Träger von juristischen Begriffen auftreten, ist ihre Bedeutung eine spezifisch-juristische. 36 Wenn der Jurist bei seiner Rechtshandhabung über die verschiedenen Dinge und Ereignisse der sozialen Wirklichkeit nachdenkt, werden sie immer auf die in den Tatbeständen der Rechtssätze vorkommenden Begriffe bezogen - ja, der Jurist als solcher denkt hardt, Methode und System des Rechts, S. 226 - 242 th. Kritische Bemerkungen zu der rechtsphilosophischen Methode Stammlers J. J. von Schmid , Rechtsphilosophie, S. 143-; Het Denken over Staat en Recht in de Negentiende eeuw, Haarlem 1948, S. 209-. - Zu vergleichen Aatos Alanen y Näkökohtia oikeudellisista käsitteistä (Rikosoikeudellisia kirjoitelmia, Brynolf Honkasalolle 1.4.1949 omistanut Heisingin Yliopiston Lainopillisen Tiedekunnan Rikosoikeudellinen Seminaari, Vammala 1949); Knud Ilium, Lov og ret, Kopenhagen 1945, S. 175 - 194. - Anglo-amerikanisches Recht Edward H. Levi, An Introduction to Legal Reasoning, S. 506 - 507. 35 Wir machen hier absichtlich eine ähnliche Einteilung wie oben bei den Wörtern, um so einen bedeutsamen Unterschied zwischen den Klassen juristisches Wort' und juristischer Begriff' zum Ausdruck zu bringen. 36 Jan-Magnus Jansson, Hans Kelsens statsteori, S. 176, äußert gegen Kelsen (Übersetzung aus dem Schwedischen): „Es kann zwar nicht geleugnet werden, daß es rechtliche Termini (rättstermer) gibt, die wirklich verschiedenartige Normen bezeichnen - z.B. ,Gesetz', ,Verordnung' - aber auch nicht, daß gleichzeitig eine ungeheure Menge von anderen juristischen Termini existiert, bei denen dies gar nicht zutrifft. ,Diebstahl' und ,Mord', zwei gewöhnliche strafrechtliche Termini, bezeichnen menschliche Handlungen, natürliche Geschehensverläufe und keineswegs Normen. ,Mündel' und ,Vormund' bezeichnen Personen, nicht Normen. Mit,Reichstag' meinen wir eine Versammlung von Menschen, wir gebrauchen nie dieses Wort, um einen Normenkomplex (z.B. die Reichstagsordnung) zu bezeichnen". - Die Polemik Janssons gegen Kelsens ,Pannormativismus' mag zutreffend sein, aber alle die von ihm angeführten Worte, mögen sie in konkreten Fällen konkrete Handlungen, Menschen oder Menschengruppen bezeichnen, sind Träger von spezifisch juristischen Bedeutungen. Jansson äußert treffend (S. 187): „Die Begriffsbildung innerhalb der Jurisprudenz enthält auch anderes als Normen und Normenkomplexe; sie enthält auch Realitäten ,sub specie normae' betrachtet." Nachdem Jansson (S. 205) ,den unrichtigen Gedanken, daß juristische Termini nur Normen bezeichnen können" verworfen hat, fährt er fort: „Weil das Recht auf tatsächliche Verhältnisse (pâ verkliga förhällanden) angewendet werden soll und da sein Zweck das Normieren menschlichen Verhaltens ist - dies hebt ja Kelsen ständig hervor - so ist es im Gegenteil klar, daß seine Begriffswelt an Realitäten anknüpfen muß, die in der Natur gegeben sind."
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nur in solchen Begriffen. Das juristische Denken bildet eine autonome, nach außen abgeschlossene Einheit, die ihren Denkelementen den Charakter des Spezifisch-Juristischen auf zwingt. 37 Wenn ein Laie einen schriftlich formulierten Rechtssatz liest, werden ihm die Wörter großenteils bekannt erscheinen. Er kennt aber die von ihnen getragenen juristischen Begriffe nicht und legt deshalb dem Rechtssatz einen falschen Sinn bei. Auch wenn die Gesetzestexte absichtlich möglichst gemeinverständlich formuliert werden, ist diese Gefahr immer vorhanden. Daß die Worte der juristischen Sprache fast ausnahmslos auch in der Allgemeinsprache vorkommen, kann offenbar darauf zurückgeführt werden, daß die juristische Sprache immer eine Verbindung mit den Laien aufrechterhalten muß. Wie schon hervorgehoben, soll ja das Recht letzten Endes ihr Verhalten regeln und beeinflussen. Bei der theoretischen Erforschung des Rechts sollte eine Unterscheidung gemacht werden zwischen Rechtsnorm und dem sprachlichen Gebilde, in dem diese Rechtsnorm erscheint. 38 Vielleicht könnte man hier den Terminus rechtlicher Satz4 gebrauchen. Es besteht aber kein Grund, diese Bezeichnung nur auf die sprachliche Formulierung von Rechtsnormen zu beschränken. Auch andere Objektivationen des juristischen Denkens wie Vertragstexte, Schreiben von Rechtsanwälten, Gesetzesmotive, Urteilstexte, Texte von Verwaltungsentscheidungen werden durch diesen Terminus zweckmäßig bezeichnet. 39 Die Auslegung von Gesetzen und schriftlich formulierten Rechtsgeschäften ist eine Klarlegung des Sinnes von sprachlichen Objektivationen 40 , von recht37 Über dieses Phänomen, von einem soziologischen Aspekte aus: J. Haesaert, Théorie générale du droit, S. 293- (la juridification), S. 379- (situation non juridique et préjuridique), S. 395- (intervention de la norme). 38 Es dürfte kaum zweckmäßig sein, dieses sprachliche Gebilde durch einen Terminus zu bezeichnen, wo als Wortteil ,-norm' vorkommt, denn es soll ja der rein sprachliche Gesichtspunkt hervorgehoben werden. Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 23, spricht von ,Verbalnorm' („Es ist ... zwischen der Norm selbst und ihrem Wortgehalt, ihrem verbalen Ausdruck zu unterscheiden. Ich spreche in dieser Absicht von Norm im eigentlichen Sinn oder subsistenter Norm und Normsatz oder Verbalnorm".) Hier können durch den Wortteil ,-norm' Deutungsschwierigkeiten und sogar Mißverständnisse heraufbeschworen werden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ein solches bei Alf Ross vorliegt im Aufsatze „Om begrepet „gaeldende ret" hos Theodor Geiger", in: Tidsskrift for rettsvitenskap, 3 (1950), S. 245. 39 Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 78:· Det traditionella objektet för juridiken är sprâkliga uttryck, som ingâr i lagar, förordningar, domar etc. Dessa sprâkliga uttryck kan vi kaila rättssatser (Das traditionelle Objekt der Jurisprudenz sind sprachliche Ausdrücke, die in Gesetzen, Verordnungen, Urteilen usw. enthalten sind. Diese sprachlichen Ausdrücke können wir Rechtssätze benennen). - Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, daß wir hier nur Objektivationen des juristischen Denkens im Auge haben, also nur solche Vertrags-, Gesetzes- u.a. Texte, die von Juristen formuliert worden sind. 40 Edward H. Levi, An Introduction to Legal Reasoning, S. 520, äußert über „rules for statutory construction" (Regeln der Gesetzesauslegung): They are words which tell
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liehen Sätzen, nicht etwa von ,Rechtsnormen'. 41 Man hat hier nicht immer genügend zwischen sprachlichem Gebilde und dahinterstehender Rechtsnorm unterschieden. 42 Diese Unterscheidung dürfte für die Auslegungslehre nicht ganz unfruchtbar sein. So ζ. B. bei der zentral bedeutsamen Frage, ob die Auslegung nach einer subjektiven' oder ,objektiven' Methode erfolgen soll, d.h., ob die Absichten des Gesetzgebers oder die sprachliche Formulierung das Fundamentale seien. Die Tatsache, daß ,der Gesetzgeber' in einer modernen Staatsmaschinerie eine Fiktion ist, scheint für die objektive Methode zu spreone how to operate a given classification system. — The words used by the legislature are treated as words of classification which are to be applied. — A l f Ross, in: Jus gentium, II (1951), S. 251: The text of a statute expresses its meaning in words with a certain volume of significance. The task of the interpretation is in the last instance, to decide whether or not a certain concrete situation falls under the semantic reference of the word. - Und Ross fügt treffend hinzu: Seen from a purely linguistic point of view the semantic reference is uncertain and blurred and only the unconsciously implied pragmatical intention may place the natural limits in its continuum (S. 251 - 252). Glanville Williams, Language and Law, in: The Law Quarterly Review 61 (1945), S. 302: Since the law has to be expressed in words, and words have a penumbra of uncertainty, marginal cases are bound to occur — S. 386: Realization of the fact that words have no inherently-proper meanings ... 41 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 94, versteht unter Interpretation „die Feststellung des Sinnes der zu vollziehenden Norm". - Der sprachliche Aspekt wird gut hervorgehoben von Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 78-. - Walther Burckhardt, Methode und System des Rechts, S. 271: Gegenstand der Auslegung ist in der Tat ... der Wortlaut des Gesetzes ...; Wilhelm Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 293: Unter Auslegung einer Rechtsnorm verstehen wir die Transformation (Umprägung oder nähere Ausführung) der Norm in eine Gestalt, die ihren wahren Gehalt deutlicher offenbart und ihren Zweck, die Rechtsverwirklichung, sicherer erreicht. 42 Daß diese Unterscheidung im Interesse der Klarheit geboten ist, zeigt sich deutlich in vielsprachigen Staaten - z.B. Finnland, die Schweiz - wo die Rechtsnormen gleichzeitig in mehreren autoritativen sprachlichen Formulierungen erscheinen. Denken wir auch an internationale Verträge. Bei der Auslegung einer solchen sprachlichen Formulierung kann die entsprechende Formulierung in einer anderen Sprache gute Hilfe leisten. Gegen die eventuelle Einwendung, die Rechtsnorm ,hinter' einem sprachlichen Gebilde sei etwas Fiktives oder sogar Metaphysisches, weisen wir darauf hin, daß ohne dieses Gedankenbild der Sinn vielsprachiger Formulierungen unerkärt bleibt. Sie werden ja doch allgemein als Formulierungen ,derselben Norm' aufgefaßt, und ihre Zahl könnte - bei einem bestimmten Gesetze - theoretisch unbegrenzt vermehrt werden. Selbstverständlich soll streng zwischen Auslegung eines Gesetzestextes und der Anwendung der abstrakten Rechtsnorm auf einen konkreten Fall unterschieden werden. Der Unterschied wird dadurch verdunkelt, daß die Auslegung von Texten meistens im Zusammenhang mit einer unmittelbar nachfolgenden Anwendung auf einen konkreten Fall stattfindet, d. h. die Auslegungssituation wird von der in diesem Falle vorliegenden praktischen Interessenlage bestimmt. Im Denken eines Rechtswissenschaftlers erfolgt aber die Auslegung von rechtlichen Sätzen ,freischwebend': die konkreten Fälle werden nur phantasiert. (Auch hier tritt der grundlegende Unterschied zwischen dem Denken eines praktischen Juristen und dem Denken eines Rechtswissenschaftlers klar zutage.) In dieser Phantasietätigkeit - die bei verschiedenen Wissenschaftlern verschieden vor sich geht - wird die Konkretisation nur so weit getrieben, daß die rechtlich bedeutungsvollen Momente gedanklich gefaßt werden können. Jede rechtswissenschaftliche Monographie enthält somit eine Reihe von phantasiebetonten Konkretisationsschemen.
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chen. Der Ausleger kann aber andererseits nicht außer acht lassen, daß durch die Formulierung und autoritative Promulgierung von Gesetzestexten soziale Zwecke angestrebt werden. Eine übertrieben ,objektive' Auslegung würde somit sinnlos sein, weil sie die Eigenart des Auszulegenden außer acht läßt. 43 Es ist letzten Endes ein rechtspolitisches Problem, ob man das Hauptgewicht auf diese oder jene Theorie legt. 44 Lehnt man sich enger an die sprachliche Objektivation an, so wird die formelle Rechtssicherheit gefördert sowie die Kontrolle der Staatsbürger über Rechtsprechung und Verwaltung erleichtert. 45 Wie verhalten sich Auslegung und Strukturanalyse zueinander? Die Auslegung ist auf das Materiale, das hinter dem Text stehende, eingestellt, die Strukturanalyse dagegen auf das Formale, den gedanklichen Bau der rechtlichen Sätze. Die Auslegung hat, auch wenn sie von einem Wissenschaftler ausgeübt wird, letzten Endes ein praktisches Ziel. Die Strukturanalyse dagegen ist eine rein theoretische Tätigkeit, die allerdings von der Auslegung als Stütze herangezogen werden kann. 46 Wir hoben hervor, daß die im juristischen Denken vorkommenden Begriffe überwiegend solche sind, die außerhalb dieses Denkens nicht vorkommen. Wie steht es aber mit logischen Begriffen, die mit Wörtern wie , wenn-so', 43 Edward H. Levi, An Introduction to Legal Reasoning, S. 520: ... in the application of a statute the intent of the legislature seems important. The rules of construction are ways of finding out the intent. The actual words used are important but insufficient. — S. 521: Where case law is considered, there is conscious realignment of cases; the problem is not the intention of the prior judge. But with a statute the reference is to the kind of things intended by the legislature. — Levi spricht in seinem Texte von législature', nicht von Legislator'. Er behandelt eingehend die Unterschiede zwischen case law und statutory interpretation (S. 521 - 524, 541-), wobei er den staatsrechtlichen Hintergrund in U.S. A. voraussetzt. Dies darf beim Lesen seiner Gedanken über das Verhältnis zwischen Legislative und Justiz nicht vergessen werden. 44 W. Friedmann, Legal Theory, S. 278 - 285. - Carl Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, Tübingen 1950, S. 14 - 18 weist treffend auf den staatsrechtlichen Hintergrund der Auslegungslehren hin. 45 Edward H. Levi, An Introduction to Legal Reasoning, S. 523: There is a difference then from case law in that the legislature has compelled the use of one word. The word will not change verbally. It could change in meaning however, and if frequent appeals as to what the legislature really intended are permitted, it may shift radically from time to time. — Über die Gesetzesauslegung Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 90 - (stark formalisierend); The Law of the United Nations, London 1950, Einleitung. Kritische Bemerkungen zu Kelsens Auslegungsmethode Alf Ross, Jus gentium I I (1951), S. 250-. Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 148-; Alessandro Levi, Teoria generale del diritto, S. 183-; Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, S. 283-; Carlos Cossio, El derecho en el derecho judicial, S. 107- Cossio vertritt die Meinung, daß Gegenstand der Auslegung nicht die Gesetze sind, sondern das menschliche Handeln durch die Gesetze gesehen („... la conducta humana por medio de ο mediante la ley"). Dies folgt aus der Lehre Cossios, daß das Recht nicht aus Normen, sondern aus menschlichem Handeln besteht. 46 Eine hervorragende Leistung Jean Ray, Essai sur la structure logique du Code civil français, Paris 1926.
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,durch', ,also', ,und', ,oder', ,nicht' ausgedrückt werden? Es sind Begriffe, die sich auf kein besonderes Lebensgebiet, weder das rechtliche noch ein nichtrechtliches beziehen, sondern die allgemeinen strukturellen Zusammenhänge der Denkinhalte ausdrücken. Sie behalten auch innerhalb des juristischen Denkens diesen ihren Charakter. 4. Konstante Züge des juristischen Denkens Das juristische Denken als ein Denken des praktisch tätigen Juristen ist eine Unterart des rechtlichen Denkens. Darunter verstehen wir ein Denken, das von der Existenz einer Rechtsordnung ausgeht und bei dem alle Denkobjekte auf diese Rechtsordnung bezogen werden. 1 Dieses Denken kann sich auf eine vergangene, aktuelle oder künftige rechtliche Situation beziehen, der Denkende selbst oder ein anderer kann sich in der Situation befinden. Wenn wir somit innerhalb des rechtlichen Denkens das Denken eines Laien und dasjenige eines bei der Rechtshandhabung tätigen Juristen unterscheiden, so kann man sich fragen, ob nicht auch das rechtliche Denken eines Juristen außerhalb seiner Rechtshandhabung für unsere Studie in Betracht zu ziehen wäre. Könnte man nicht die Eigenart des juristischen Denkens4 am besten so klarlegen, daß man es einerseits gegen das rechtliche Denken eines Laien, anderseits gegen das rechtliche, aber nicht juristische Denken eines Juristen stellt? Ist es nicht anzunehmen, daß das rechtliche Denken eines Juristen außerhalb seiner berufsmäßigen Rechtshandhabung eine eigenartige Mischung von juristischem Denken und rechtlichem Laiendenken ist? Wenn - um ein Beispiel zu nehmen - der Jurist beim Morgenkaffee in seiner Zeitung beredte Schilderungen verschiedenartiger Verbrechen liest, so dürften seine Reaktionen mehr gefühlsmäßig-laienhaft sein, als wenn er jenen Fällen bei seiner Rechtshandhabung begegnet wäre. Oder er wird plötzlich Zeuge eines schweren Straßenunglücks: seine ersten, unmittelbar menschlichen Reaktionen fallen wohl kaum in das Gebiet des juristischen Denkens'. - Wir werden in dieser Studie auf diese Probleme nicht näher eingehen. Können beim juristischen Denken konstante Züge aufgezeigt werden, die es kennzeichnen und von anderen Denkarten unterscheiden? Wenn wir die Frage so stellen, gehen wir davon aus, daß die etwa feststellbaren konstanten Züge alle zusammengenommen dieses Denken kennzeichnen. Diese Züge 1
Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 15: ... diese Einheit des logischen Verfahrens nach der reinen Form des Rechtsbegriffes und dann der Rechtsidee ist es, die das juristische Denken ausmacht... S. 22: Es ist eine Lehre von der formalen Art und Weise des juristischen Denkens möglich, welche Lehre allgemeingültig ist. S. 20: Es handelt sich bei der reinen Rechtslehre ... um die allgemein gültige Art und Weise des juristischen Denkens. F. B. Cicala , Corso di Filosofia del diritto, S. 239-; Wilhelm Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 8 - 34; Wurzel, Das juristische Denken, S. 5 - 12.
III.4. Konstante Züge des juristischen Denkens
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werden im folgenden durch die Worte Schematisieren 4, ,Zweckbetrachtung', ,Ganzheitsschau' bezeichnet. Wir sind uns der Unbestimmtheit jedes einzelnen dieser Termini bewußt. Jeder von ihnen wird auch zur Bezeichnung von Erscheinungen außerhalb des juristischen Denkens angewendet. Faßt man sie aber als Bezeichnungen von Eigenschaften des rechtlichen Denkens auf, so kann man sagen, daß sie alle zusammengenommen innerhalb dieses rechtlichen Denkens einen bestimmten Denktyp konstituieren. Wir stellen die Frage nach konstanten Zügen des juristischen Denkens. Durch diese Formulierung soll hervorgehoben werden, daß wir nicht konstante Denkinhalte suchen, sondern allgemeine formale Eigenschaften des juristischen Denkprozesses. 2 Die Korrelation zwischen Denkprozeß und Objektivation macht es wahrscheinlich, daß sich diese Eigenschaften in irgendeiner Weise im gedanklichen Bau der Objektivationen widerspiegeln. Schematisieren als ein Zug des juristischen Denkens bedeutet, daß die Einstellung des Juristen der sozialen Wirklichkeit gegenüber eine besondere ist. Diese Einstellung kann durch den Leitgedanken ,rechtliche Relevanz' bezeichnet werden. Als Jurist hebt er aus der sozialen Wirklichkeit ausschließlich die rechtlich bedeutungsvollen Züge hervor, er erlebt die Wirklichkeit als eine Zusammenfassung jener Züge. 3 Wir gebrauchen hier den unbestimmten Terminus ,soziale Wirklichkeit', um etwas zu bezeichnen, worauf sich die reichen und mannigfaltigen Umwelterlebnisse des in einer Gesellschaft lebenden Menschen beziehen, im Gegensatz zur schematisierten Wirklichkeit eines Juristen.4 Eine solche schematisierte Wirklichkeit wird nicht über Nacht gestaltet. Dazu bedarf es Jahre theoretisch-juristischer Schulung und sich daran schließender praktischer Übung. 5 Kann ein Jurist, der diese geistige Umwandlung durchgemacht hat, die soziale Wirklichkeit überhaupt noch in einer natürlichen Weise erleben? Dies scheint auf der geistigen Spannweite seiner Persönlichkeit zu beruhen. Er kann einem geistigen Verschrumpfungsprozeß zum Opfer fallen und sich in eine umherwandelnde Paragraphensammlung verwandeln. Die unter den Laien weitverbreitete Auffassung von der ,Trockenheit' der Juristen steht mit 2
Wurzel, Das juristische Denken, S. 29. J. Haesaert, Théorie générale du droit, S. 461; Alessandro Levi , Teoria generale del diritto, S. 4; Carlos Cossio, La coordinación de las normas juridicas y el problema de la causa en el derecho, Buenos Aires 1948, S. 98: ... la conceptualización de la experiencia juridica ... ; Francesco Orestano, Filosofia del diritto, Milano 1941, S. 154; Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 25; Ivar Agge, Abstrakt norm och konkret verklighet, Stockholm 1950. - Beachtenswerte völkerrechtliche Gesichtspunkte bei Werner Goldschmidt, Normas individuates y normas generates, in: Revista de la Facultad de Derecho y Ciencias Sociales de la Universidad Nacional de Buenos Aires, Ano IV, 16 (1949). 4 E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 316 - 317. 5 Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 262. Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 17. 3
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solchen Erscheinungen in Verbindung. Daumier in seinen genialen Karikaturen hat diesem selbstgenügsamen und bornierten Juristentyp ein Denkmal errichtet. Es gibt aber unter den Juristen manche, die ihr Leben in zwei wasserdichte Abteilungen zerlegen. Bei der Rechtshandhabung ist ihre Einstellung eine schematisierende, aber neben dieser beruflichen, auf die Beschaffung materieller Existenzmittel gehenden Tätigkeit leben sie ein zweites Leben. Ein reiches, farbiges, im wahrsten Sinn menschliches Leben. Kehren wir zur rechtlichen Relevanz zurück. 6 Unter allen Juristen spürt wohl der Rechtsanwalt bei seiner täglichen Arbeit am deutlichsten die zentrale Rolle dieser Tatsache.63 Unzählige Male muß er seinem allzueifrigen Auftraggeber erklären, daß bestimmte von diesem erwähnte Tatsachen und vorgeschlagenes Beweismaterial keine rechtliche Bedeutung haben. Wenn der Rechtsanwalt zusammen mit einem Angeklagten vor dem Gerichte erscheint, würde manches, was sich hier abspielt, dem Angeklagten ein Buch mit sieben Siegeln verbleiben, könnte er nicht fortwährend seinen Verteidiger um Rat fragen. Für den Anwalt, der die rechtliche Relevanz jeder Aussage, jedes schriftlichen Beweismaterials kennt, ist der Prozeß eine Aufeinanderfolge rechtlich bedeutungsvoller Ereignisse. Die richterliche Prozeßleitung ist, wie schon hervorgehoben, ein fortlaufendes Sichten des rechtlich Relevanten vom rechtlich Irrelevanten. - Der besondere Teil eines modernen Strafgesetzbuches ist ein Verzeichnis strafrechtlich relevanter Handlungsformen nebst Sanktionsandrohungen. Der ganze rechtliche Normenkomplex kann als ein riesiges Netz aufgefaßt werden, das auf die mannigfaltige soziale Wirklichkeit geworfen wird. Durch dieses Netz erscheint alles nach einem regelmäßigen Muster schematisiert. 7 Fragt man nach dem Grunde des juristischen Schematisierens, so kann darauf hingewiesen werden, daß das Recht eine gleichmäßige Massenlenkung des 6
Hans Dölle, Vom Stil der Rechtssprache, Tübingen 1949, S. 23. Robert H. Jackson, The Advocate: Guardian of Our Traditional Liberties, in: American Bar Association Journal, (August 1950), S. 608: ... the young lawyer will realize the sharp disparity between legal thinking and lay thinking when he begins to interview clients. 7 J. Haesaert, Théorie générale du droit, S. 449 - 450; F. Β. Cicala, Sul concetto di rilevanza giuridica, Bari 1936; Alessandro Levi, Teoria generale del diritto, S. 48-; Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 268-; Yinding Kruse, Retslaeren, I, S. 80 - 81: Die einzelnen Lebenssituationen, die in einer Rechtssache vorkommen, zeigen oft eine Anhäufung verschiedener Tatsachen, die beim ersten Anblick ganz verwirrend und chaotisch scheinen kann. Den bedeutenden praktischen Juristen, Richter oder Anwalt, erkennt man daran, daß er in dieser verwirrenden Anhäufung wie ein Adler auf die zentralen, relevanten Tatsachen, die für die Sache entscheidend sind, niederschlägt, alle die vielen unwichtigen, irrelevanten Tatsachen ausscheidet und sein Urteil in einer kurzen und klaren Form fällt. Das Kennzeichen eines weniger bedeutenden praktischen Juristen dagegen ist, daß er diese Beherrschung der chaotischen Tatsachenmenge nicht erreicht (Ubersetzung aus dem Dänischen). 6a
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menschlichen Verhaltens ist. 8 Dies trifft nicht nur beim gesatzten Rechte, sondern auch beim Traditionsrechte, dem sog. Gewohnheitsrechte zu. Beim gesatzten Rechte tritt diese Massenlenkung in einer planmäßigen und rationalen Form auf. 9 Eine Massenlenkung, die im modernen Staate regelmäßig sehr große Menschenmassen umfaßt, kann nur durch ein weitgehendes Schematisieren verwirklicht werden, setzt doch die Massenltnkxmg voraus, daß das menschliche Verhalten auf einige leicht erkennbare Merkmale reduziert wird. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Rechtsmaschinerie in Gang gehalten werden. 10 Die an der Rechtshandhabung beteiligten Juristen können der Erledigung einer Rechtssache nur eine begrenzte Zeit widmen: sie arbeiten unter einem konstanten Druck des Zeitstromes. Diese fundamentale Tatsache sollte 8 Osvi Lahtinen, M., „Das Recht"; O. Soln0rdal, Individ, stat og rett. Soln0rdal gibt den Zweck seines Werkes folgendermaßen an: „Versuch einer Darstellung der Grundlage rechtlicher Phänomene und Relationen sowie der rechtlichen Wirkungsmittel und -arten." Die Anregung zu diesem bedeutenden, durchaus empirisch gehaltenen Werke hat Soln0rdal durch eine langjährige Arbeit als Rechtsanwalt bekommen. Ein ähnlicher Fall aus Finnland ist J. N. Lektinen und seine ausgezeichnete Studie „Mitä oikeus on?" (Titel in der englischen Summary „Law as a Part of Social Order"): eine folgerichtig durchgeführte sozialpsychologische Einstellung auf der Grundlage reicher praktischer Erfahrungen. J. Haesaert, Théorie générale du droit, S.121; Roscoe Pound, Social Control through Law, New Haven 1942; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 28-: das Recht als soziale Technik; Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 90-: Psychologie des Rechtes. - Wenn Stammler und Kelsen den Standpunkt vertreten, daß die spezifische Betrachtungsweise einer Theorie des Rechts nicht eine kausale sein könne, sondern nur eine normative, so spiegeln sie die herrschende Einstellung der traditionalen Jurisprudenz wider. Die Jurisprudenz ist ja an den gedanklichen Inhalt der Rechtssätze gebunden, die sie systematisieren und auslegen soll. Aus dieser Tatsache kann aber nicht gefolgert werden, daß auch die Theorie des Rechts diese Einstellung beibehalten soll. Gut bei Wilhelm Sauer, System der Rechts- und Sozialphilosophie, S. 176: Nach der konkret-funktionalen Rechtsauffassung fällt der Richter, ebenso wie der Gesetzgeber, der Verwaltende (Staatsmann, Politiker) und der Forscher, Urteile über Lebensausschnitte ...; Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 58: Die Erfahrungen der Menschengemeinschaften durch Jahrtausende zeigen nun unzweifelhaft, daß es jedenfalls auf gewissen Gebieten möglich ist, durch Gesetzesregeln und Rechtsentscheidungen auf das menschliche Verhalten bestimmend einzuwirken, wenn nur hinter dem Gesetze und den Organen eine genügende tatsächliche Macht steht (Übersetzung aus dem Dänischen). Vinding Kruse gibt eine genaue Analyse der Möglichkeiten des Rechts als einer sozialen Technik. 9 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, Berlin u. Leipzig 1933, S. 131: Vorsehung ist der archimedische Punkt, in dem der Geist ansetzt, die Welt zu bewegen. - Er wird aus einem allseitig Betroffenen zu einem selber Betreffenden. Zu vergleichen: Neue Wege der Ontologie, Stuttgart 1949, S. 98 - 106. 10 Κ. N. Llewellyn, The Normative, the Legal, and the Law-Jobs, S. 1375 - 1376: To adjust Trouble-cases with speed, smoothness, deep permanency, minimum outlay of effort and disruption of other activities - and, on points of fact, with accuracy - this is still a quest. - S. 1392: What is wanted is an on-going optimum balance, keeping in the hands of the official ,legal' machinery and personnel, and we//-handled by them ... I shall call it the problem of juristic method, that of the ways of handling ,legal' tools to law-job ends, and of the on-going upkeep and improvement of both ways and tools. Es fällt hier die bewußt praktische Bedeutung auf, die der amerikanische Forscher seinem Terminus juristic method' gibt.
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nicht vergessen werden, wenn man die Eigenart des juristischen Denkens klarstellen will. Der Staat kann schon aus finanziellen Gründen nur eine begrenzte Anzahl von Organpersonen anstellen. Sie sollen das ihnen den Zuständigkeitsnormen gemäß aufgegebene Arbeitspensum erledigen. Stockungen müssen vermieden werden. Ein Beamter, der in seiner Arbeit dauernd rückständig ist, setzt sich sozialen (Mißbilligung) und rechtlichen Sanktionen aus. Auch ein Rechtsanwalt arbeitet unter dem konstanten Drucke des Zeitstromes. Er soll ja durch die Berufsarbeit seine wirtschaftliche Existenz sichern, und kann sich daher nicht unendlich lange in eine einzige Rechtssache vertiefen. 11 Wenn also das juristische Denken die soziale Wirklichkeit schematisiert, so bedeutet dies, daß jene Wirklichkeit einer schnellen praktischen Handhabung bereitgestellt wird. 1 2 Die juristische Schematisierung hat aber auch einen anderen Grund: nur durch sie kann die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetze verwirklicht werden. 13 Daß der in einer Gesellschaft lebende Mensch sich dieses Ideal aufstellt, ist anthropologisch von Interesse. Der Rechtsstaatsgedanke und die Forderung auf Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetze können beide auf eine gemeinsame Wurzel im Menschen zurückgeführt werden. Man kann sich fragen, ob nicht zwischen schematisierender praktischer Rechtshandhabung und der sich auf naturwissenschaftliche Forschung stützenden Technik gewisse Ähnlichkeiten bestehen. Die schematisierende Einstellung des praktischen Juristen stützt sich ja ebenfalls auf eine Wissenschaft, die Jurisprudenz. Zwischen einer Technik zur Bewältigung der Natur und einer Technik zur Bewältigung der sozialen Wirklichkeit besteht in der Tat keine Kluft. In beiden Fällen handelt es sich um ein Denken, das unmittelbar auf die Erreichung praktischer Ziele eingestellt ist. 14 Die zugrunde liegende wissenschaftliche Forschung verfolgt dagegen in erster Linie theoretische Ziele. Wird aber nicht nach der Renaissance als Endziel auch des wissenschaftlichen Denkens und Forschens die Befriedigung des menschlichen Machtstrebens gesehen?15 Beherrschung der Natur, Beherrschung der sozialen Wirklichkeit 11
Über den Formalismus des primitiven Rechtsganges Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 403. 12 Max M. Laserson, The Work of Leon Petrazhitskii. Inquiry into the Psychological Aspects of the Nature of Law, in: Columbia Law Review 51 (1951), S. 65 - 82. 13 Hans Dölle, Vom Stil der Rechtssprache, Tübingen 1949, S. 27; Friedrich Darmstädter, L'eguaglianza politica nello Stato antitotalitario, in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXVIII/III - IV (1950), S. 408 - 409. 14 E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 414: ... jede menschliche Arbeit ist immer nur ein Verwerten der Naturkräfte für menschliche Zwecke, und die Naturkräfte, auf die der Jurist angewiesen ist, sind gesellschaftliche Kräfte: Vorstellungen, Gefühle, Strebungen, Triebe, die in den Massen des Volkes wirken. - Zu vergleichen Horace S. Fries, Logical Simplicity: A Challenge to Philosophy and to Social Inquiry, in: Philosophy of Science XVII (1950). 15 José Ortega y Gasset, En torno a Galileo, in: Obras Complétas V (Madrid 1947).
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und nicht ein schauendes Sichversenken nur um der Wahrheit willen. 16 Das wissenschaftliche Denken mag in erster Linie auf rein thoretische Ziele eingestellt sein. Im herrschenden Kulturbewußtsein wird es aber nach den erreichten Machtergebnissen gewertet. Man fordert, daß mindestens eine Möglichkeit solcher Nutzanwendung bestehe. Ein ,Humanist', der für seine Forschung nicht einmal diese Möglichkeit aufzuzeigen vermag, wird höchstens noch als ein mittelalterliches Rudiment toleriert, um zu zeigen, daß man den ,reinen geistigen Werten' gegenüber noch ein ,Verständnis' hat. Wenn man also das wissenschaftliche und das technische Denken miteinander vergleicht 17 , so besteht in der heutigen Kulturepoche zwischen ihnen in bezug auf das Endziel keine Kluft. Sowohl die Wissenschaft als auch die Technik zielen letzten Endes auf eine Beherrschung der Umgebung 18 , und sie kann nur durch eine auf empirischer Grundlage aufgebaute weitgetriebene Schematisierung erreicht werden. Eine groß angelegte Beherrschung der Natur und eine einheitliche Massenlenkung des menschlichen Verhaltens kann nur durch ein Ermitteln der Ablaufzusammenhänge in der Natur und in der sozialen Wirklichkeit geschehen. Dieses Ermitteln bedeutet, daß die ursprünglich diffus und ganzheitlich erlebte Wirklichkeit nach dem Aspekte der Kausalität in eine Anzahl untereinander koordinierter ,Ursache-Folge'-Ketten zerlegt wird. Dies bedeutet ein gedankliches Schematisieren. Nachdem die Zerlegung so erfolgt ist kann die Frage, wie konkrete aufgestellte Ziele erreicht werden könnten, gelöst werden. 19 Von dem eingebürgerten juristischen Aspekte aus gesehen, ist die Rechtsordnung ein Normenkomplex, der als Wertungsgrundlage bei der Beurteilung 16 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, II, München 1922, S. 627: ... die faustische Technik, die mit dem vollen Pathos der dritten Dimension, und zwar von den frühesten Tagen der Gotik an auf die Natur eindringt, um sie zu beherrschen. Hier und nur hier ist die Verbindung von Einsicht und Verwertung selbstverständlich. Die Theorie ist von Anfang an Arbeitshypothese. - Erich Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 189 - 190: ... die intellektuelle Entwicklung selbst unverkennbar ein Sfr'/moment ist. Der schauende Intellekt ein griechisches, der technische Intellekt ein neuzeitlich-gemeineuropäisches. 17 Jerome Frank, Courts on Trial, S. 190 - 221 („legal science" und „legal engineering"). - Gegen eine technologische Auffassung des Rechts Frede Castberg, Rettsfilosofiske grunnsp0rsmâl, S. 53 - 57. 18 Moritz Schlick, Philosophy of Nature, New York 1949, S. 17 - 18 äußert über „explanation": The advantage of this new kind of description lies in the fact that, with its assistance, the ways of behaviour of the things thus designated, can be predicted ...; Bruno Baron v. Frey tag Löringhoff, Das Verstehen in den exakten Wissenschaften, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 39 (1950), S. 72 - 78; Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 19 - 20. 19 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 134: Die Macht des Geistes über das geistlose Sein ist ein Schalten mit fremden Kräften, ein Herrschen durch Vorsehung und Vorbestimmung allein. Wo er die Zügel aus der Hand verliert, steht er auf seiner Höhe ohnmächtiger da als das Tier in seiner Niederung. - J. J. von Schmid, Rechtsphilosophie, S. 85-: de aard en de plaats van het denken in het maatschappelijk leven. 13 Brusiin
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menschlichen Verhaltens und bei der Verhängung von Sanktionen dient. Man kann aber die Rechtsordnung auch von einem kausalen Aspekte aus sehen, als eine einheitliche Massenlenkung des menschlichen Verhaltens. Eine schematisierende Einstellung zu der Wirklichkeit bedeutet, objektiv betrachtet, eine Vereinfachung. Manche Seiten der Wirklichkeit fallen weg, und das ,Relevante4 wird mehr oder weniger geradlinig strukturiert. Subjektiv betrachtet dagegen wird ein schematisiertes Bild der Wirklichkeit als etwas ,Unnatürliches', ,Fremdes4 und ,Schwerverständliches' erlebt. In dieser Weise erlebt ein Laie das juristische Bild der sozialen Wirklichkeit. Was ihm dieses Bild so schwer verständlich und fremd macht, ist eben die starke strukturelle Vereinfachung. Als ebenso fremd und schwer verständlich erlebt der NichtMathematiker ein für den Fachmann vollkommen durchsichtiges Gedankengebilde des Mathematikers. Die erlebnismäßige Schwierigkeit besteht auch hier darin, daß die ,natürlich' aufgefaßte Wirklichkeit niemals in einer so einfachen Strukturierung erscheint. Wenn also behauptet wird, daß zwischen dem mathematischen und juristischen Denken Ähnlichkeiten bestehen, so dürfte dies auf jene erlebnismäßige Ähnlichkeit zurückzuführen sein. 20 In einer früheren Studie 21 sprachen wir von einer Spannung zwischen Rechtssichertheit und Billigkeit, von einer ,Dialektik des rechtlichen Denkens'. Betrachten wir jetzt diese Spannung von einem anthropologischen Aspekte aus. Durch seine geistige Konstitution wird der Mensch zu einer schematisierenden Zerlegung der sozialen Wirklichkeit getrieben. Führt er jene Zerlegung genügend weit, so wird er das Ergebnis als etwas Fremdes, ja Unheimliches erleben. Das bedeutsame hier ist, daß sich beim Menschen nun seelisch fundierte Korrektionen melden. Wenn der praktisch tätige Jurist in seinem juristischen Denken auf die Billigkeit zurückgreift, so kann dies eine Durchbrechung der im Gesetze niedergelegten Schematisierung bedeuten. 22 Der spontane, ,natürliche', ethisch fühlende Mensch steht hier der - ebenso menschlichen - Schematisierung feindlich gegenüber. Ja, im Namen eines höheren Menschentums kann er sich zu der Durchbrechung seiner Rechtsordnung unbedingt verpflichtet fühlen. Die Stellung der Rechtsordnung ist also eine ambivalente. Einerseits erscheint sie als eine unerläßliche Bedingung eines jeglichen friedlichen Zusammenlebens223 und somit jedes kulturellen Schaffens. Andererseits kann die Rechtsordnung in einem konkreten Falle als ein erdrückender, unmenschlicher Zwang erlebt werden, dem man sich nicht unterwerfen kann, ohne die Menschenwürde zu verlieren. Ein Widerspruch 20
Zu vergleichen Eugen Ehrlich, Die juristische Logik, S. 418. Über die Objektivität der Rechtsprechung, S. 129. 22 op. cit., S. 50. Über aequitas im mittelalterlich-christlichen Sinne Francesco Calasso, Introduzione al diritto comune, Milano 1951, S. 168 - 175. 22a Das Recht als Friedensordnung: Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 19-21. 21
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liegt hier aber nicht vor, obgleich die Sache zuweilen so dargestellt wird. Die Existenz einer Rechtsordnung ist für den in einer Gesellschaft lebenden Menschen praktisch ebenso notwendig wie die Durchbrechung dieser Ordnung in den seltenen konkreten Situationen, bei denen der Mensch ihre Auswirkung als eine grobe Verletzung seiner Würde erlebt. 23 2 4 Kann das Schematisieren als ein konstanter Zug auch des anglo-amerikanischen juristischen Denkens angesehen werden? Es ist offenbar, daß zwischen diesem Denken und dem sog. kontinentalen juristischen Denken bedeutende Unterschiede bestehen, die teils auf geschichtliche Umstände, teils wohl auf die allgemeine Lebenseinstellung zurückgeführt werden können. Das Schematische scheint beim kontinentalen juristischen Denken stärker hervorzutreten. Dieses Denken geht ja prinzipiell von abstrakt formulierten Rechtsnormen aus, während die Angelsachsen von konkreten, geschichtlich einmal vorgekommenen Gerichtsentscheidungen ihren Ausgang nehmen. Sie haben dabei eine eigenartige Denktechnik entwickelt, die sich einem kontinentalen Juristen erst nach längerem Studium erschließt. 25 Auch diese Denktechnik scheint sich hochgradig schematisierter juristischer Begriffe zu bedienen. Es würde eine fesselnde Aufgabe sein, ihre Funktion mit der Funktion entsprechender kontinentaler Begriffe zu vergleichen 26 und sich die Frage zu stellen, wie diese Ähnlichkeiten zu erklären sind. Man könnte daraufhinweisen, daß sowohl das anglo-amerikanische als auch das kontinentale Recht innerhalb des abendländischen Kulturkreises entstanden sind, und nicht nur den tragenden gemeinsamen Grundwerten Ausdruck geben, sondern auch von dem durch Jahrhunderte fortgesetzten Rationalisierungsprozeß dieser Kulturform betroffen sind. Ist doch in den letzten Jahren die innere Einheitlichkeit und gegenseitige Verbundenheit dieser Kulturwelt immer klarer hervorgetreten. 27 23 Bertrand Russell, Authority and the Individual, London 1949, S. 109 - 110: I do not deny that there are situations in which lawbreaking becomes a duty: it is a duty when a man profoundly believes, that it would be a sin to obey. This covers the case of the conscientious objector. 24 Jerome Frank, Courts on Trial, S. 146 - 156, 404 - 415; Georges Gurvitch, Sociology of Law, S. 204; Wilhelm Sauer, System der Rechts- und Sozialphilosophie, S. 205: Die positiven Gesetze, überhaupt alle Rechtssätze, auch die des Gewohnheitsrechts, generalisieren, schematisieren, vergröbern; sie sind nur typische Ausprägungen des juristischen Grundgesetzes und vermögen den feinen und feinsten Gestaltungen des Einzelfalls nie ganz Rechnung zu tragen. - Piero Calamandrei, La certezza del diritto e le responsabilità della dottrina, Estratto dalla „Rivista del diritto commerciale" XL/11 12/1 (1942), S. 7: L'opera chiarificatrice del giurista è essenzialmente ... lotta contro l'arbitrio. 25 Julius Stone, The Province and Function of Law, Sydney 1950, S. 166 - 206; Gianville L. Williams, Learning the Law, London 1950, S. 57 - 79; Edward H. Levi, An Introduction to Legal Reasoning; Dennis Lloyd, Reason and Logic in the Common Law, in: The Law Quarterly Review 64 (1948); Emanuel Becker, Some Problems of Legal Analysis, in: The Yale Law Journal 54 (1944 - 1945); Felix S. Cohen, Field Theory and Judicial Logic, in: The Yale Law Journal 59 (january 1950). 26 W. Friedmann, Legal Theory, S. 321 - 331. 1*
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Was bedeutet die Tatsache, daß das Denken anglo-amerikanischer Juristen von konkreten Gerichtsentscheidungen ausgeht? Die einst vorgekommenen Rechtsfälle können ja nicht mehr in ihrer lebendigen unmittelbaren Fülle erlebt werden. Sie gehören der Geschichte an. Nur schriftlich fixierte Objektivationen einst gefällter motivierter Entscheidungen sind übrig geblieben, und zwar in einer riesigen, fortwährend wachsenden Anzahl. Es handelt sich also um sprachliche Gebilde, und in diesem Sinne kann man sagen, auch das angloamerikanische Recht sei ein geschriebenes - wenn auch nur zu einem kleinen Teile gesatztes - Recht. Einige Objektivationswörter sind auf ein einmaliges geschichtliches Geschehen bezogen: sie relatieren einen tatsächlich vorgekommenen Fall im Lichte des damals vorhandenen Beweismaterials. Schon bei diesem Relatieren werden im Texte des Präjudizes auch spezifisch-juristische Begriffe gebraucht. Der Fall war ein rechtlich relevanter, ein Rechtsfall, der eine motivierte gerichtliche Maßnahme veranlaßte. Diese einst stattgefundene Maßnahme einschließlich ihrer Motivierung - sowie möglicherweise einige Hauptpunkte aus den juristischen Ausführungen der Prozeßparteien - werden durch andere Worte des Präjudiztextes relatiert. Diese Worte und ihre mannigfachen Kombinationen sind die Träger von spezifisch-juristischen Begriffen. Die Lage wird dadurch in einer interessanten Weise kompliziert, daß in den Motiven des Präjudiztextes regelmäßig frühere Präjudize relatiert werden - eventuell durch Hinweise auf Gesetze und die Rechtswissenschaft ergänzt. Diese Relatierungen sind meistens recht kurz und enthalten dann nur einen Ausschnitt aus dem spezifisch-juristischen Teile des Textes eines früher gefällten Urteiles. Die Relatierung solcher früherer Präjudize geschieht entweder, um aus ihnen eine Stütze für die zu treffende Entscheidung zu erhalten oder um zu erklären, warum ein von der Prozeßpartei angeführtes Präjudiz hier nicht einschlägig sei. Der gedankliche Inhalt eines anglo-amerikanischen Urteilstextes besteht also überwiegend aus spezifisch-juristischen Begriffen, die sich bei einer näheren Betrachtung als hochgradig schematisiert herausstellen. Ein erfahrener anglo-amerikanischer Richter arbeitet mit diesen juristischen Schemen sehr elastisch. Ihm werden ja von den Parteien regelmäßig mehrere Präjudiztexte angeboten, deren Anzahl er noch selbst durch seine eigene Rechtskenntnis vermehren kann. Unter diesen Texten trifft er seine Wahl, indem er sie in dem zu entscheidenden Falle für einschlägig oder nichteinschlägig erklärt. Hierbei wird er von seinem Gerechtigkeitsgefühl geleitet: ein Präjudiztext, dessen Befolgung zu einem unbefriedigenden Ergebnisse führen würde, wird als ,nicht-einschlägig' beiseite geschoben. Sein Urteil, das scheinbar auf eine solide Unterlage von früheren Urteilen basiert, wird in Wirklichkeit ganz entscheidend durch die Eigenart des vorliegenden konkre27
Ein Vergleich zwischen der anglo-amerikanischen und der kontinentalen' juristischen Denkweise in W. Friedmann, Legal Theory, S. 317 - 358.
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ten Falles bestimmt. Ein kontinentaler Richter wählt zwar auch diejenigen Gesetzestexte aus, die er seinem Urteile zugrunde legt. Er ist aber hierbei viel stärker gebunden als sein anglo-amerikanischer Kollege, denn die Wahl kann mittels des Gesetzestextes selbst nachträglich kontrolliert werden. 28 Im Lichte der anglo-amerikanischen Rechtserfahrung kann die These aufgestellt werden: ein juristisches Denken, das mit hochgradig schematisierten, dem Laien fast völlig unverständlichen Denkmitteln arbeitet, kann dessenungeachtet eine große Elastizität besitzen. Ja, man fragt sich, ob nicht gerade eine möglichst weit getriebene Schematisierung dem geschickten Juristen die möglichst große Bewegungsfreiheit gewährt. Lag nicht die einzigartige Leistung der römischen Juristen darin, daß sich in ihrem Denken eine bis zum Äußersten durchgeführte Schematisierung mit einer hochgradigen Beweglichkeit paarte? Jetzt möchten wir an einigen konkreten Beispielen die schematisierende Einstellung des juristischen Denkens zeigen. In einer englischen Urteilsbegründung lesen wir unter anderem: The minutes show that there was an agreement to divide the company's unsold freehold properties amongst the shareholders, and I think the company must accordingly be regarded as having become a trustee for the shareholders of the properties in question . . . The theory that lands limited to a corporation in fee simple are held for an estate limited to continue only during the existence of the corporation and on its dissolution revert to the grantor through the consequent discontinuation of the corporation's terminable estate was approved in Hastings Corporation v. Letton .. . 2 9 - Was bedeuten hier Worte wie agreement', ,divide', ,company', ,unsold', freehold properties', shareholders', ,trustee', ,in fee simple', ,estate', dissolution', ,revert', ,grantor', ,approved'? Sie sind Träger von stereotypen Begriffen, die im englischen juristischen Denken in den verschiedensten Kombinationen gebraucht werden. Durch solche Begriffe wird die soziale Wirklichkeit strukturiert, d.h. künstlich vereinfacht. Auch können wir im Urteilstexte eine ganze Menge von logischen Termini feststellen, die bei der Kombinatorik als Bindeglieder funktionieren. Aus einem amerikanischen Urteilstexte entnehmen wir: This case involves the liability of a general agent to passengers under a contract similar to that discussed in Cosmopolitan Shipping v. McAllister decided this day. 30 Schema28
Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 32-41; ders., Courts on Trial, S. 262 289. - Anläßlich des ersten dieser Werke Norberto Bobbio, La certezza del diritto è un mito?, in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXVIII (1951). Bobbio, der hier als Vertreter der traditionalen kontinental-europäischen Denkart auftritt - er beruft sich u.a. auf Hegel - verurteilt in strengen Worten den respektlosen Frank und „la cultura neopositivistica anglo-sassone", die nach ihm ohne „senso storico" ist (S. 151). 29 Struthblaine Estates, Ld. In re, in: Law Reports, Chancery Division 1948, S. 230-. 30 Weade v. Dichmann Co: Urteil des Supreme Court vom 27. Juni 1949, in: United States Reports, vol. 337.
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tische juristische und logische Termini: ,case', ,involves', ,liability', ,general agent', ,passenger', ,contract', ,similar', ,decide'. Aus einem anderen amerikanischen höchstrichterlichen Urteilstexte: This case raises two questions: the appealability of an order denying a demand for trial by jury in a federal court, and whether the constitutional right to a jury applies to the trial of an issue of mutual mistake .. . 3 1 - Termini tecnici: ,appealability', ,order', ,deny', ,demand', ,trial', ,jury', ,federal court', constitutional right', ,mutual mistake'. Wir gehen jetzt zum kontinentalen Rechte über und betrachten die schematisierenden Elemente einiger Gesetzestexte. In modernen obligationsrechtlichen Texten - z.B. in deutschen, schweizerischen und skandinavischen - ist die Schematisierung so offenbar, daß wir lieber einen älteren Text wählen. Das österreichische A B GB vom Jahre 1811, § 957, Satz 1 und § 958 lauten: Wenn jemand eine fremde Sache in seine Obsorge übernimmt; so entsteht ein Verwahrungsvertrag. - Durch den Verwahrungsvertrag erwirbt der Übernehmer weder Eigentum noch Besitz noch Gebrauchsrecht; er ist bloßer Inhaber mit der Pflicht, die ihm anvertraute Sache vor Schaden zu sichern. - Schon diese kurzen Sätze sind von juristischen und logischen Denkschemen durchsetzt: ,wenn-so', ,Sache', ,Obsorge', ,übernehmen', ,Verwahrungsvertrag', ,durch', ,erwerben', ,Eigentum', ,Besitz', , Gebrauchsrecht', ,Inhaber', ,Pflicht', ,anvertrauen', ,Schaden', ,sichern'. Die durch diese Wörter getragenen juristischen Begriffe erfüllen dieselbe Funktion wie die oben hervorgehobenen anglo-amerikanischen Rechtsbegriffe: durch sie und die übrigen juristischen Begriffe wird eine soziale Wirklichkeit strukturiert - zwecks einer planmäßigen einheitlichen Massenlenkung des menschlichen Verhaltens. Werfen wir jetzt, um den Hintergrund unserer Studie zu erweitern, einen Blick auf die Denkweise der römischen Juristen, so wie sich dieses Denken in schriftlich fixierten Objektivationen widerspiegelt. „Non statim quod dominus voluit ex re sua peculii esse, peculium fecit, sed si tradidit aut, cum apud eum esset, pro tradito habuit" (D. 15, 1, 8, 1). Termini und Denkformen: dominus', ,velie', ,res', ,peculium', ,facere', ,tradere', ,apud aliquem esse', ,pro', ,pro tradito habere'. Wenn Paulus hier das Entstehen eines peculium genannten Sondervermögens diskutiert, stellt er die schematischen juristischen Denkformen ,velie' und ,tradere' einander gegenüber, hebt aber zugleich hervor, daß wenn die ins Sondervermögen zu überführenden Sachen sich schon beim Sklaven (oder beim Haussohn) befinden, ein bloßer Willensakt des Herrn genügt. Der Begriff ,apud aliquem esse', der eine rein faktische Sachlage bezeichnet, wird hier gedanklich von possessio' unterschieden. Wir möchten auch den Terminus ,pro' in ,pro tradito habere' betonen: eine juristische Fiktion im eigentlichen Sinne wird mit jenem Worte hier nicht bezeichnet. Paulus 31 City of Morgantown v. Royal Insurance Co., Ltd.: Urteil des Supreme Court vom 6. Juni 1949, in: United States Reports, vol. 337.
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will nur hervorheben: die Tatsache, daß die Sachen sich faktisch schon beim Sklaven (oder Haussohn) befinden, soll der Tradition rechtlich gleichgestellt werden. Der Begriff der ,servus' (oder des ,filius familias') kommt im Texte nicht expressis verbis vor, wird aber gedanklich vorausgesetzt. - Endlich möchten wir die stereotypen Begriffe ,res' und ,facere' hervorheben. „Qui admittitur socius, ei tantum socius est qui admisit, et recte: cum enim societas consensu contrahatur, socius mihi esse non potest quem ego socium esse nolui" (D. 17, 2, 19, 1) - Termini: ,admittere', ,socius', ,societas', consensus', ,contrahere', ,nolle'. Der juristische Gedankengang Ulpians baut sich auf die Denkschemen ,societas', ,consensus', ,admittere'. Weil societas durch einen Konsensualvertrag zustande kommt, kann ein neuer socius in die schon bestehende societas nur durch Zustimmung aller aufgenommen werden. Keinem der Gesellschafter kann wider seinen Willen, oder ohne daß er davon weiß, ein neuer Gesellschafter aufgezwungen werden. Derjenige Gesellschafter aber, der mit dem neu Hinzugetretenen einen Gesellschaftsvertrag abgeschlossen hat, wird mit ihm zu einer neuen Gesellschaft vereint: der Vertrag ist also nicht ohne Bedeutung. Daß hier mit hochgradig schematischen Begriffen eine Kombinatorik getrieben wird, geht am deutlichsten aus D. 17, 2, 20 hervor: „socii mei socius meus socius non est". Die Denkschemen sind hier auf zwei reduziert: ,socius', ,meus'. Dazu ,esse' und ,ηοη'. „Si heres rem, legatam ignorans, in funus consumpsit, ad exhibendum actione non tenebitur, quia nec possidet nec dolo malo fecit quo minus possideret" (D. 31, 63). - Termini und Denkformen: ,heres', ,res', ,legare', ignorare', ,consumere', ,ad exhibendum actio', ,tenere', ,possidere', ,dolo malo facere'. Dazu die logischen Termini ,si-non', ,quia', ,nec-nec'. Die Denkschemen ignorare' und ,dolo malo facere' sind aufeinander gegensätzlich bezogen. Wie schon erwähnt, bedeutet das Schematisieren 32 der römischen Juristen nicht, daß praktische, vor allem wirtschaftliche Gesichtspunkte nicht genügend beachtet werden. 33 Die juristische Denktechnik der Römer erwähnt zwar solche Gesichtspunkte sehr selten. Aber auch dies kann vorkommen: „Servus furiosi ab adgnato curatore manumitti non potest, quia in administratione patrimonii manumissio non est" (D. 40, 1, 13, 1). Neben den juristischen Denkschemen ,servus', ,furiosus', ,adgnatus', ,curator', ,manumittere' wird beim gedanklichen Aufbau des Textes der praktisch-wirtschaftliche Begriff ,in 32
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 464: Eine der allerwichtigsten Eigentümlichkeiten schon des frührömischen Rechts war . . . sein eminent analytischer Charakter. - . . . die Zersetzung der plastischen Tatbestandskomplexe des Alltagslebens in lauter juristisch eindeutig qualifizierte Elementarbestandteile . . . 33 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, II, München 1922, S. 616 617: Die Rechtswissenschaft hat ihre eigentliche Aufgabe bis jetzt noch nicht einmal erkannt, aber sie ist diesem Jahrhundert gestellt, und zwar fordert sie, was für den römischen Juristen selbstverständlich war, die innere Kongruenz von Wirtschaftsdenken und Rechtsdenken . . .
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administratione patrimonii esse' gebraucht. - Ein anderes Beispiel: „Filius familias donare non potest, neque si liberam peculii administrationem habeat: non enim ad hoc ei conceditur libera peculii administratio, ut perdat" (D. 39, 5, 7, 1). - Der Text arbeitet nicht nur mit juristischen Denkschemen stereotypen Inhalts wie ,filius familias', ,donare', ,peculium', sondern geht ausdrücklich auf den wirtschaftlichen Zweck von ,libera peculii administratio' ein und stellt fest: die Verfügungsfreiheit über einen abgesonderten Vermögensteil des Vaters (peculium) wird dem Sohne nicht ad hoc gewährt ut perdat. Der vom Worte ,perdere' getragene Begriff stammt aus der wirtschaftlichen Denksphäre. Auch wenn eine wirtschaftliche Erwägung nicht sprachlich formuliert und somit nicht im Texte ausgesprochen ist, kann sie sich doch aus der gedanklichen Struktur zwingend ergeben. So z.B. wenn Gaius schreibt: „ . . . probatum est, quod in chartulis sive membranis meis aliquis scripserit, licet aureis litteris, meum esse, quia litterae chartulis sive membranis cedunt. — Sed si in tabula mea aliquis pinxerit veluti imaginem, contra probatur; magis enim dicitur tabulam picturae cedere." (Gaius: Institutiones, 2, S. 77 - 78). Daß ein Schreiben auf fremdes Material und das Malen eines Gemäldes auf fremdes Material rechtlich verschieden beurteilt werden, kann hier nur damit zusammenhängen, daß nach Ansicht der Prokulianer die Quelle des wirtschaftlichen Wertes des fertigen Produktes ausschlaggebend ist. Ein vollgeschriebenes Blatt erhält seinen Wert nicht durch die Schrift, sondern durch das Material, worauf geschrieben worden ist. Ein Gemälde dagegen durch die künstlerische Leistung. Dem Schreiber ein Autorrecht an seinem Texte zu gewähren - falls dessen geistiger Inhalt von ihm persönlich geschaffen - hat den Römern hier nicht einmal als Problem vorgeschwebt. Zwischen Autor und Kopist wird kein Unterschied gemacht. Betrachtet man das Recht von einem kausalen Gesichtspunkt aus, d.h. als eine Massenlenkung des menschlichen Verhaltens mittels Zwangsmaßnahmen der Staatsmaschinerie 34, so stehen wir vor der Frage nach den Zwecken, die durch jene Lenkung erstrebt werden. Eine kausale Einstellung zum Rechte ist zugleich eine Zweckeinstellung: Ursache und Zweck sind aufeinander bezogen. Wenn sich der Mensch Zwecke aufstellt, so fragt er auch nach den Möglichkeiten ihrer Verwirklichung, d.h. nach Kausalzusammenhängen.35 34 Zu vergleichen 3. Haesaert, Théorie générale du droit, S. 287 - 361 (le problème positif de l'origine du droit). 35 Die scharfe Scheidung, die Stammler zwischen Zweckbetrachtung und Kausalbetrachtung macht - z.B. in „Theorie der Rechtswissenschaft", S. 34 - dürfte kaum rechtstheoretisch fruchtbar sein. Es wird hier eine künstliche Scheidewand zwischen Natur und Kultur aufgerichtet. Das von Stammler entworfene Bild einer ,Zweckwissenschaft' (S. 35-) scheint uns nicht gelungen. Dabei verleugnen wir nicht, daß Stammler die Eigenart des geistigen Seins in einer genialen Weise beleuchtet hat. - Über die Zweckbetrachtung im juristischen Denken auch Carlos Cossio, La coordinación de las normas juridicas y el problema de la causa en el derecho, Buenos Aires 1950, S. 48-;
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In unseren Tagen ist es eine Binsenwahrheit, daß das juristische Denken ein zweckbetontes Denken ist. Auch in früheren Kulturepochen war diese Zweckbezogenheit da, sie wurde aber nicht mit der gleichen Deutlichkeit erkannt. 36 In einer religiös-metaphysischen Epoche wurde das Recht nicht als eine bloße Technik der Massenlenkung erlebt. 37 Die instrumentale Totaleinstellung unserer säkularisierten Epoche 38 , wo alles in der menschlichen Umwelt und sogar in seiner Innenwelt - denken wir an die Propaganda - eine Tendenz hat, als Mittel zu wirtschaftlichen Machtzwecken erlebt zu werden, sie war früheren Epochen fremd. 39 El derecho en el derecho judicial, S. 90-. Zum Problem Kausalität/Finalität Barna Horvâth, Recht und Wirtschaft, S. 348; Alessandro Levi , Teoria generale del diritto, S. 108-; Giorgio Del Vecchio , Il concetto della natura e il principio del diritto 2. ed., Bologna 1922, S. 31-; Lezioni di Filosofia del diritto, S. 334-; Aatos Alanen, Yleinen oikeustiede, S. 49. 36 Die Zweckbetrachtung im metaphysischen Sinne dagegen ist in der Theologie eine bekannte Erscheinung. So schreibt G. E. Moore (unter ,Teleology' in: Dictionary of Philosophy and Psychology, New York 1940): The form in which teleology first makes a prominent appearance is in connection with theology. The Christian doctrine that many, if not all events are caused by God's will as means to the future existence of perfection had persisted through the Middle Ages, along with the Aristotelian conception of final causes. - Hans Schimank, Der Aspekt der Naturgesetzlichkeit im Wandel der Zeiten, im Sammelwerk „Das Problem der Gesetzlichkeit, II, Naturwissenschaften", Hamburg 1949, S. 174 - 175: „Naturgesetzlichkeit erscheint als göttliche Satzung. Dieser theologische Aspekt bleibt bis tief ins 18. Jahrhundert hinein erhalten. - Während so im Grundakkord die Auffassung der Naturgesetzlichkeit als einer Satzung Gottes durch Jahrhunderte und Jahrtausende weiterschwingt, ändert sich allmählich die Klangfarbe. - Die Funktionalbeziehung, die ihre schärfste symbolische Ausprägung in der mathematischen Formel findet, gilt seitdem als das bezeichnende Merkmal der Naturgesetzlichkeit, und damit wird zugleich anstelle einer finalen oder vorwiegend teleologischen Art der Naturdeutung eine kausale gesetzt." 37 J. J. von Schmid, Rechtsphilosophie, S. 162-. 38 Giulio Bruni Roccia, La problematica storica della Filosofia del diritto, in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXVII/III - IV (1950), S. 582: Venuta a mancare ogni tavola di valori assoluti, il diritto si presenta come un macchinoso sistema di mezzi cui manca la giustificazione del fine. - Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 504: Die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsgangs führt in theoretische Entwicklungsstufen' gegliedert, von der charismatischen Rechtsoffenbarung durch ,Rechtspropheten' zur empirischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratorien (Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung) weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches Imperium und theokratische Gewalt und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, auf Grund literarischer und formallogischer Schulung sich vollziehenden ,Rechtspflege' durch Rechtsgebildete (Fachjuristen). Die formalen Qualitäten des Rechts entwickeln sich dabei aus einer Kombination von magisch bedingtem Formalismus und offenbarungsmäßig bedingter Irrationalität im primitiven Rechtsgang ... zu zunehmender fachmäßig juristischer, also logischer Rationalität und Systematik und damit - zunächst rein äußerlich betrachtet - zu einer zunehmend logischen Sublimierung und deduktiven Strenge des Rechts und einer zunehmend rationalen Technik des Rechtsganges. 39 Philipp Lersch, Der Mensch in der Gegenwart, München 1947, S. 17: Die Rationalisierung erstreckt sich also auf Weltbild und Lebensführung. Sie bedeutet im Hinblick auf das Weltbild eine Aufgliederung der Erscheinungen und des Geschehens in Begriffe, funktionale Beziehungen und Gesetze, deren Kenntnis es ermöglicht, sich auf
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Daß die Rechtstheorie heutzutage von der Zweckbetontheit des juristischen Denkens als von etwas Selbstverständlichem redet 40 , dürfte mit der herrschenden normativen Betrachtung des Rechts schwerlich im Einklang stehen. Nur wenn man das Recht als eine kausal zu deutende soziale Technik auffaßt, folgt daraus mit Notwendigkeit die Zweckbetontheit des juristischen Denkens. Für eine Einstellung, die im Rechte einen Komplex von geltenden Normen sieht, nach denen menschliche Handlungen bewertet werden, dürfte eine rationale Zweckbetrachtung nicht so stark hervortreten. Es scheint uns, daß die traditionale Rechtsauffassung in sich sowohl den normativen als auch den kausalen Aspekt vereinigt. Unter den Theoretikern legen einige das Hauptgewicht auf das Normative, andere - wie der Verfasser - auf das Kausale. 41 Ganz unberechtigt ist es, wenn einer von diesen möglichen Rechtsaspekten eine Monopolstellung erstrebt, wenn etwa Normativisten die kausal Eingestellten als „bloße Rechtssoziologen" bezeichnen.42 die Welt berechnend einzustellen und sie menschlichen Zwecken verfügbar zu machen ... S. 19: Grundmotiv der Rationalisierung ist der Wille, die Welt zu den Zwecken der Nützlichkeit verfügbar zu machen. 40 Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, S. 252 - 267. 41 Über den normativen und kausalen Aspekt des Rechts Jan-Magnus Jansson, Hans Kelsens statsteori, S. 49ff. Zu Kelsens Behauptung, daß die Identität des ErkenntnisObjektes durch die Identität der Erkenntnis-Methode bedingt ist, nimmt Jansson kritisch Stellung (S. 212ff.). Hans Kelsen, General Theory of Law and State, S. 162 - 178 (normative and sociological jurisprudence). Seine früher so scharfe Ablehnung des soziologischen Aspektes erscheint hier gemildert; Barna Horvâth, Rechtssoziologie, S. 43ff.; N. S. Timasheff, An Introduction to the Sociology of Law, S. 3 - 66; Carlos Cossio , Ciencia del derecho y sociologia juridica; Luigi Bagolini, Aspetti della critica dei valori etico-giuridici nel pensiero contemporaneo, in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto (1950), S.lOff.; B. C. Carlson , Lundstedts kritik, Hämeenlinna 1938; ders., Rätt och rättsordning, in: Särtryck ur „Statsvetenskaplig Tidskrift", 1940/2; ders., Lücken im Recht, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts, 1939; Karl Olivecrona, Om lagen och staten, S. 26ff.; ders., Is a Sociological Explanation of Law possible?, in: Theoria XIV (1948); ders., Realism and Idealism: Some Reflections on the Cardinal Point in Legal Philosophy, Repr. from New York University Law Review XXVI/1 (january 1951); ders., Lagens imperativ, Lund 1942; Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 19ff.; Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 62ff. 42 So z.B. Carlos Cossio, Ciencia del derecho y sociologia juridica, S. 6: ... la escuela escandinava de Axel Hägerström cuyos discipulos Vilhelm Lundstedt, Karl Olivecrona, Alf Ross y Otto Brusiin afrontan sin concesiones la sociologización de la Ciencia del Derecho ... Der Verfasser hat sich nie zu den Anhängern der Hägerström-Schule gerechnet, obgleich er mit ihr manche Berührungspunkte haben mag (sozialpsychologische Einstellung). Cossio dürfte bei seiner scharfen Ablehnung des „Soziologismus" von Kelsen beeinflußt sein. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 9ff. - Cossios Studie enthält eine Fülle interessanter Gedanken über das Verhältnis zwischen Sollens- und Seins-Aspekt in der Rechtsbetrachtung. Sein Standpunkt wird leichter verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß die Grenze zwischen Rechtssoziologie und einer im soziologischen Geiste konzipierten Theorie des Rechts nicht sehr scharf ist. So schreibt Theodor Geiger in dem Vorworte zu seinem bedeutenden Werke „Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts": „Juristen und Soziologen mögen gleichermaßen zu tadeln geneigt sein, daß die Bezeichnung als Soziologie des Rechts irreführend, daß der Inhalt vielmehr der einer allgemeinen Rechtslehre sei." Georges Gurvitch, Sociology of Law,
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Ein Handeln nach Zwecken ist für das ganze Tierreich und den Menschen kennzeichnend. Zwischen einem Lebewesen und seiner Umwelt besteht eine ständige Wechselwirkung, die sich beim Tiere in einer zielstrebigen Aktivität äußert. 43 Diese Aktivität nimmt beim Menschen ein besonderes Gepräge an. 44 Bei ihm kommen komplizierte Formen des Zweckhandelns und -denkens vor, es entstehen Objektivationen, Ordnungen. Die menschliche Kultur einer bestimmten Epoche kann als ein sinnvolles Gefüge von Zwecken und Mitteln gedeutet werden. Betrachten wir das Denken aus dem Aspekte des Zweckes, so werden wir vor eine Schwierigkeit gestellt. Ist nicht alles Denken als Aktivität eines Lebewesens zweckbetont? Wie soll man also innerhalb des Denkens ein Sondergebiet des ,zweckbetonten' Denkens unterscheiden, dem auch das juristische Denken zuzurechnen ist? Es scheint uns, man könne das Zweckdenken im eigentlichen, engeren Sinne als etwas kennzeichnen, wo sich nicht nur der Denkprozeß als eine zielstrebige Aktivität äußert, sondern auch unter den Denkobjekten selbst Zwecke vorhanden sind. So tauchen ζ. B. im juristischen Denkprozesse die von der Rechtsordnung erstrebten - oder bei der Gesetzesformulierung: die zu erstrebenden - Ziele auf, ja, sie sind für diesen Denkprozeß geradezu richtunggebend. Der Terminus ,Teleologie', teleologisch', der heutzutage allgemein gebraucht wird, würde wörtlich eine Lehre von Zwecken bedeuten, so wie S. 191, äußert über N. S. Timasheffs „An Introduction to the Sociology of Law": „This highly informed and learned book contains a „sociological theory of law" ... rather than the sociology of law properly so-called." Eine repräsentative Theorie des Rechts im soziologischen Geiste J. Haesaert, Théorie générale du droit. Haesaert unterscheidet théorie générale du droit und sociologie juridique und kennzeichnet jene: „... l'étude des conditions intrinsèques du phénomène juridique" (ebd., S. 19). W. Friedmann, Legal Theory, S. 178 - 202, scheint hier keinen ausdrücklichen Unterschied zu machen. - Uber das prinzipielle Verhältnis zwischen Rechtssoziologie und Theorie des Rechts Roscoe Pound , Sociology of Law (im Sammelwerk „Twentieth Century Sociology, New York 1945, S. 297 - 341); Georges Gurvitch, Sociology of Law, S. 1 - 67. - Als einen Antipoden Cossios in der Methodenfrage kann man Karl Olivecrona ansehen. In seiner Studie „Realism and Idealism: Some Reflections on the Cardinal Point in Legal Philosophy", Reprinted from New York University Law Review, XXVI/1 (january 1951) behauptet Olivecrona, daß der Sollensaspekt des Rechts unrealistisch sei: ... no ought can be discovered by an investigation of facts ... (S. 120). Er spricht von „the mystical world of ought" (S. 136) und fährt fort: The objective ought is a myth. What actually exists is our ideas of the ought, the sentences expressing them, and the emotions connected with them. All this forms what might be called legal ideology, which is a highly important subject of inquiry for legal philosophy (S. 131). Zu vergleichen Karl Olivecrona, Is a Sociological Explanation of Law possible?, in: Theoria XIV/2 (1948). Über das Sollen Osvi Lahtinen, M., „Verhalten des Mitgliedes der Gesellschaft und das Sollen". 43 Jakob von Uexkiill, Der unsterbliche Geist in der Natur, Hamburg 1947, S. 51. 44 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 133: Die Überlegenheit des Geistes ist also gerade die Zielgebung selbst. Er kann, was die Naturwesen nicht können: Zwecke setzen und Mittel für sie seligieren. So übt er eine Lenkung aus, mit der er die Naturmächte gleichsam „überlistet".
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,Ideologie' wörtlich eine Lehre von Ideen kennzeichnet. 45 Die Bedeutung hat sich aber in beiden Fällen später geändert. ,Teleologie', teleologisch', so wie sie heutzutage u.a. vom juristischen Denken gebraucht werden, haben nichts mit einer ,Lehre' zu tun. Im Gegenteil: durch diese Wörter wird nicht eine theoretische, sondern eine praktische Einstellung bezeichnet.46 Diese Bedeutung hat sich schon so fest eingebürgert, daß keine Gefahr eines MißVerständnisses besteht. In den Terminus geht ja jedenfalls das griechische Wort teleios ein, das auf eine Zweckbetrachtung hinweist. Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft" (2. Teil) macht bekanntlich von diesem, wohl von Wolff geprägten Terminus reichlich Gebrauch. 47 Man könnte es versuchen, eine formalisierte Theorie der Rechtszwecke auszuarbeiten, eine Rechtswertlehre also, wo die rechtlichen Grundwerte von anderen Rechtswerten unterschieden werden. Eine solche Theorie kann als Teilgebiet der Theorie des Rechts oder auch - in einem anderen Sinne - als Teilgebiet der positivrechtlichen Jurisprudenz konstituiert werden. Die einzelnen Rechtsnormen und ihre verschiedenen Kombinationen würden hier als Mittel für die Realisierung von Rechtszwecken bewertet. Ein Jurist erlebt die Rechtsordnung anders als ein Laie. Die Einstellung des praktischen Juristen ist aktiv. Seine Berufsausbildung gibt ihm die Möglichkeit, auf die Rechtsmaschinerie vorsätzlich und effektiv einzuwirken. Er will dabei bestimmte Ziele erreichen, er verfolgt bestimmte Zwecke. Ein Laie dagegen erlebt die Rechtsordnung nicht in erster Linie als etwas Handzuhabendes, sondern als etwas, was ihn bindet, dem er unterworfen ist. Daß er, falls er einige Rechtskenntnis besitzt, sich seiner sog. subjektiven Rechte aktiv bedienen kann, ändert an der prinzipiellen Gesamteinstellung nichts. Andererseits fühlt sich auch ein Jurist durch die Rechtsordnung gebunden (^verpflichtet') und dies sowohl als Staatsbürger als auch als Organperson. Diese Tatsache ändert aber nichts an seiner prinzipiellen Gesamteinstellung. Die Zweckbetrachtung nimmt im berufsmäßigen Denken und Handeln eines Juristen eine zentralere Stellung ein als im rechtlichen Denken und Handeln eines Laien. 48 Der praktisch tätige Jurist wird niemals das Recht als eine vom ,Sein' 45
Werner Goldschmidt, La imparcialidad corno principio bàsico del proceso, Madrid 1950, S. 19. 46 Über die teleologische Methode Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 183 - 212. 47 Zu vergleichen Giorgio Del Vecchio, Evoluzione ed involuzione nel diritto, Rom 1945, S. 7-, 47-. 48 J. Haesaert , Théorie générale du droit, S. 454 - 455: La technique juridique est donc l'ensemble des moyens par lesquels les sujets de droit sont amenés à prendre, dans le système social où ils se trouvent impliqués, l'attitude mentale juridique et à suivre sa poussée. - Tous ces procédés divers possèdent ce trait commun d'être des procédés actifs destinés à amener les gens à se comporter d'une manière déterminée. Le droit tout entier dynamique, ne se conçoit qu'en action. - S. 456: ... à tout moment l'œuvre du juriste vise à agir sur la société, à l'influencer, à la modeler.
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streng abgesonderte Welt des ,Sollens' erleben: eine solche, folgerichtig durchgeführte Rechtsauffassung kann nur in der Gedankenwelt eines Theoretikers entstehen. Die in diesem Kapitel früher erörterten juristischen Denkschemen sind bloße technische und neutrale Mittel, die erst durch die ihnen zugrunde gelegten Zwecke einen praktischen Sinn erhalten. Schematisierung und Zweckbetrachtung sind miteinander unlösbar verbunden, sie setzen einander voraus. Gehen wir aber jetzt noch einen Schritt weiter. Wenn der Jurist bei seiner Rechtshandhabung zweckbetont denkt, so sind für ihn die rechtlich bedeutsamen Zwecke keine isolierten, planlos aufblitzenden Zielsetzungen. Sie gehen in seinem Denken als Elemente eines sinnvollen Ganzen, der Rechtsordnung, ein - ja, nur dadurch werden sie als rechtliche Zwecke gekennzeichnet. Jede anscheinend noch so isolierte Zweckbetrachtung des juristischen Denkens führt letzten Endes auf die Ganzheit, die Rechtsordnung, zurück, die ganze Rechtsordnung bildet beim juristischen Denken den potentiellen Hintergrund. 49 Wie bekommt der Laie sein Wissen von dem Inhalt der geltenden Rechtsordnung? Er lebt ja meistens schon von Kindheit an in einem Milieu, wo er bei jedem Schritt auf die herrschenden rechtlichen Wertungen stößt. In der Schule werden seine persönlichen Wertungen weitgehend standardisiert: aus ihm soll ein in die große Mauer passender Ziegelstein gemodelt werden. Durch Umgang, Wahrnehmungen, Zeitungslesen, Rundfunk sammelt sich der Laie später allmählich ein beträchtliches Wissen vom Rechte. Dieses Wissen ist aber nicht systematisch, es zerfällt in zufällig zusammengetragene Bruchstücke, die untereinander nicht sinnvoll zusammenhängen.50 Dazu kommt, 49
Otto Brusiin, Über die Objektivität der Rechtsprechung, S. 130; Wurzel, Das juristische Denken, S. 53 - 56; E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 245 - 71. Ehrlich schreibt (S. 250) über die Glossatoren: „Durch bloße Gedankenarbeit des Auslegers sollte eine unendliche Vielheit ein Ganzes werden; zwischen Stellen, die offenbar voneinander ganz unabhängig sind, wurden Verbindungen hergestellt, damit sie sich gegenseitig ergänzen und erklären ... Diese Art, bei jedem Rechtssatz die Gesamtheit der Rechtssätze zu betrachten und in der Gesamtheit der Rechtssätze das ganze Recht zu erblicken, wurde dann als Methode von den späteren gemeinrechtlichen Juristen beibehalten und nach vielen Richtungen weiterentwickelt." - Wenn diese Schilderung Ehrlichs in großen Zügen zutrifft, so haben wir hier einen zusätzlichen Beweis dafür, daß die Jurisprudenz in der Geschichte der europäischen Rechtskultur von entscheidender Bedeutung war. Erich Genzmer, Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, S. 38, über die scholastische Methode: Bei der Vielgestaltigkeit des Materials waren aber Antinomien schon zwischen den theologischen Sentenzen unvermeidlich. Es galt dann, unter Aufrechterhaltung des Wahrheitscharakters der einzelnen Autoritäten den Widerstreit als nur scheinbar auszugleichen. So kommt es zum Harmonisierungsverfahren ... S. 40, Note 181: Das Recht ist ein Ausdruck der göttlichen Ordnung des Seins. Folglich kann es für das mittelalterliche Weltbild im Recht keine wirklichen Widersprüche, sondern nur Auslegungsschwierigkeiten geben. 50 Jerome Frank, Courts on Trial, S. 330 - 345; Max Weber , Wirtschaft und Gesellschaft. II, S. 512 - 513: ... ist als Konsequenz der technischen und ökonomischen Ent-
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daß sein Wissen vom Rechte von affektiven Elementen durchsetzt ist. Diese Elemente führen dazu, daß er seine Aufmerksamkeit großenteils auf solche Einzelheiten konzentriert, die vom Standpunkte der rechtlichen Relevanz nebensächlich oder ganz bedeutungslos sind. Die rechtlich entscheidenden Kernpunkte scheinen dem Laien sehr oft ohne jedes Interesse, ,bloß technisch4, von einer ganzheitlichen Beherrschung des Rechtsstoffes ist bei ihm keine Rede. 51 Anders der Jurist. Die Rechtshandhabung bedeutet für ihn eine verantwortungsvolle soziale Aufgabe, wo er sich keinen gefühlsmäßigen Ausschweifungen hingeben kann. Sie bedeutet für ihn die tägliche Arbeit, durch deren Qualität er sozial gewertet wird. Sein individuelles juristisches Denken ist ein Teil eines unermüdlichen, kollektiv durchgeführten organisatorischen Denkens, das sich in den verschiedenen Typen der Rechtshandhabung auswirkt. Nur der Jurist erlebt das Recht als einen Kosmos im Gegensatz zum fragmentarischen Chaos. Die affektbetonten Elemente sind hier - sogar im Strafrecht - stark zurückgedrängt. 52 Jetzt sehen wir auch den Zusammenhang, der im juristischen Denken zwischen Schematisieren, Zweckbetrachtung und Ganzheitsschau besteht. Alle diese konstanten Züge des juristischen Denkens bedingen einander gegenseitig. Ohne Schematisieren keine Ganzheitsschau, die eben ein Sichten und Beherrschen des riesigen Materiales voraussetzt. Ohne Zweckbetrachtung ein leeres Schematisieren. Schon das Schematisieren an sich ist von einem großen Zwecke geleitet: die Lenkung des menschlichen Verhaltens im Rahmen der menschlichen Kultur. Ohne Ganzheitsschau keine durchdachte Zweckbetrachtung: das Recht würde sich in ein chaotisches Spiel unzusammenhängender Bestrebungen auflösen. Gehen wir jetzt zum Problem der juristischen Begabung über. 53 Darunter verstehen wir eine spezielle, das Mittelmaß übersteigende Fähigkeit zum juriwicklung, allem Laienrichtertum zum Trotz, die unvermeidlich zunehmende Unkenntnis des an technischem Gehalt stetig anschwellenden Rechts durch die Laien, also Fachmäßigkeit des Rechts und die zunehmende Wertung des jeweils geltenden Rechts als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats sein unvermeidliches Schicksal. 51 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 397: Eine spezifisch fachmännische Sublimierung des Rechts im heutigen Sinne ist aber nur möglich, soweit dieses formalen Charakter hat. - S. 511: Direkte irrationale ,Kadijustiz' wird heute in der Strafrechtspflege in weitem Umfang von der ,populären' Rechtspflege der Geschworenen geübt. Sie kommt dem Empfinden der nicht fachjuristisch geschulten Laien, deren Gefühl der Formalismus des Rechts im konkreten Fall immer wieder beleidigen muß, und überdies den Instinkten der nichtprivilegierten Klassen entgegen ... 52 Wurzel, Das juristische Denken, S. 7 - 9; E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 281: Unser sachliches Denken nähert sich daher dem logischen Denken in dem Maße, als es uns gelingt, es von Gefühlsbetonungen frei zu halten. Und so hat auch die Logik der Jurisprudenz die Aufgabe, aus der juristischen Logik die Gefühlsbetonungen nach Möglichkeit auszuschalten. 53 Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 271
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stischen Denken, d.h. zu einer Geistestätigkeit, wo rechtliches Schematisieren, rechtliche Zweckbetrachtung und rechtliche Ganzheitsschau in einer unzerlegbaren gegenseitigen Verbundenheit auftreten. Die besondere Befähigung zu einer von diesen Tätigkeitsformen bedeutet noch keine juristische Begabung. Eine einseitige Neigung zum Schematisieren ohne genügende Zweckbetrachtung und Ganzheitsschau ist das wohlbekannte Kennzeichen des mittelmäßigen Paragraphenjuristen, der in seinen Schemen stecken bleibt. Neben einer Fähigkeit zum Schematisieren wird beim Juristen von jeher auch ein ,gesunder praktischer Verstand', Judicium' vorausgesetzt. Dieser gesunde Menschenverstand bedeutet, daß er Wichtiges von Unwichtigem, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden vermag, d.h. daß er eine gute Fähigkeit für die rechtliche Zweckbetrachtung hat. 5 4 Durch Lebenserfahrung wird diese Fähigkeit weiter entwickelt. Den wirklich großen Juristen macht aber nicht eine bloße Schematisierung und Zweckbetrachtung aus. Bei ihm setzen wir vor allem auch eine eminente Fähigkeit für große Ausblicke, für weitsichtiges organisatorisches Denken, für eine rechtliche Ganzheitsschau voraus. Wenn wir mit seinem juristischen Denken in Fühlung treten, so spüren wir sofort, daß hier kein Kleinigkeitskrämer am Werke ist. Hier stellt sich eine ganze Reihe von Fragen ein. Ist nicht eine große juristische Begabung immer der Ausfluß einer hohen Allgemeinbegabung? Wie verhalten sich zueinander diese juristisch-praktische Begabung und eine wissenschaftliche Begabung? Gehen große Juristen gerne auf Lehrstühle an Hochschulen? Würde es nicht für die studierende Jugend von größter Bedeutung sein, wenn möglichst viele Hochschullehrer auf dem Gebiete der Jurisprudenz nicht nur Pädagogen und Forscher, sondern auch bedeutende Juristen wären? 55 Das Denken großer Juristen ist ohne Zweifel ein schöpferisches. 56 Sie können mit großen Künstlern, Architekten, Ingenieuren verglichen werden. Wie 54 Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl, S. 117: Dieser sensus iuridicus beruht ... auf intellektuellen Anlagen, auf der Fähigkeit zu rascher richtiger Bewertung der Tatbestandselemente nach ihrer Erheblichkeit und zu ihrer raschen und richtigen Unterordnung unter die Normen des objektiven Rechts. - Die größte Rolle spielen dabei vererbte Anlagen, ausgebildet und gestärkt werden sie durch eine fachliche Schulung. Die Fähigkeit zu richtiger Bewertung tatsächlichen Geschehens nach seiner Bedeutsamkeit, zur Subsumtion des konkreten Tatbestandes unter abstrakte Begriffe und Regeln und zur Erkenntnis der Macht- oder Interessenlage, die zu solchen Regeln geführt hat und die Art ihrer Anwendung bestimmen muß, ist gerade das, was den echten Juristen ausmacht, und wir bezeichnen den Juristen, dem diese Fähigkeit fehlt, in einem nicht lebenden Sinne als einen „Gefühlsjuristen". 55 Wir denken hier an den großen finnischen Juristen Matthias Calonius. Näheres in unserem Aufsatze „Über die finnische Rechtsphilosophie", Mededelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Künsten van België, Klasse der letteren, XII/8, Brüssel 1950. 56 J. J. von Schmid , Grote Denkers over Staat en Recht, 2. Aufl., Haarlem 1948; Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 2. Aufl., Tübingen 1944.
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steht es aber mit einem juristischen Denken kleineren Formates: kann auch hier sinnvoll vom ,Schöpferischen 4 gesprochen werden? 57 Dieser Terminus ist vieldeutig und unbestimmt und dürfte wohl der Psychologie des Künstlers entlehnt sein. Damit wird in erster Linie ein Erlebniszustand bezeichnet, aber auch die soziale Wertung klingt hier mit. Rein psychologisch kann man sagen, daß es wohl keinen geistig normalen Menschen gibt, der nicht während seines Lebens - sei es in einem noch so bescheidenen und fragmentarischen Ausmaße - fortwährend Erlebnisse schöpferischer Tätigkeit hätte. Dies scheint mit der Sonderart des Menschen zusammenzuhängen. Die soziale Wertung zieht aber nicht die Erlebnisse an sich in Betracht, sondern die Leistungen. Nur wenn sie das Mittelmäßige weit überragen, wird ihnen die Qualität Schöpferisch 4 beigelegt. - Bei der Rechtshandhabung wird der Jurist fortwährend vor neue, nach keinem fertigen Schema zu bewältigende Situationen gestellt. Eine einheitliche Massenlenkung des menschlichen Verhaltens ist eine überaus schwierige Aufgabe, und die sich daran anschließende Rechtshandhabung gehört wohl zu den interessantesten menschlichen Tätigkeitsformen, die es gibt. Die Welt des juristischen Denkens und Handelns, die dem Laien wie eine unheimliche Sammlung von toten Schemen vorkommt, verwandelt sich beim geistig hochstehenden Juristen zu einer schwierigen, die größte intellektuelle Befriedigung bietenden Technik, die zahlreiche Möglichkeiten zu einem selbständigen schöpferischen Einsätze bietet. Von allen Typen der Rechtshandhabung tritt dies wohl bei der Arbeit eines Anwalts am deutlichsten hervor. Welche Rolle spielt im juristischen Denken die Intuition? Mit diesem vieldeutigen Worte bezeichnen wir hier abgekürzte, blitzartig verlaufende Teile des Denkprozesses, wodurch die rechtliche Erfassung auch von komplizierten Situationen in ihren Hauptzügen richtig erfolgt. Welches gegenseitige Verhältnis besteht zwischen der oben erörterten rechtlichen Ganzheitsschau und der juristischen Intuition? Eine rechtliche Ganzheitsschau bedeutet ja, daß die konkrete handzuhabende Rechtssituation gegen den potentiellen Hintergrund der gesamten Rechtsordnung gestellt wird. In einer juristischen Intuition dagegen werden die Aufbauelemente der konkreten Rechtssituation in einem abgekürzten, sehr schnell verlaufenden Denkverlauf erkannt. Daß irgendein Zusammenhang zwischen Ganzheitsschau und Intuition besteht, dürfte wahrscheinlich sein. In diesem Zusammenhang werden auch Äußerungen bedeutender Juristen über ihre intuitive Arbeitsweise verständlich. Man könnte die Einwendung machen, die sog. juristische Intuition sei einfach ein Ergebnis jahrelanger Erfahrungen, keineswegs eine individuell bedingte Fähigkeit. Dagegen spricht aber die Tatsache, daß unter erfahrenen Juristen bezüglich der Intuition große Unterschiede bestehen, die wohl nur durch persönlich57 Max Wertheimer, Productive Thinking, New York 1943?, S. 189-; L. Székely, Knowledge and Thinking, in: Acta Psychologica VII/1 (1950); Zur Psychologie des inneren Verhaltens beim Lernen, Denken und Erfahren, in: Theoria XIII (1947).
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keitspsychologisch bedingte Differenzen erklärt werden können. Es ist zuzugeben, daß eine jahrelange Erfahrung der juristischen Intuition eine wertvolle Stütze bietet. Der juristische Denkprozeß braucht hier nicht mehr alle einzelnen Glieder mühsam und einzeln durchzuwandern. Welche Bedeutung dies für das schnelle Funktionieren der Rechtsmaschinerie hat, die - wie früher erwähnt - unter dem ständigen Drucke des Zeitstromes arbeitet, versteht sich von selbst. Jeder Jurist erinnert sich der Verwunderung - und Bewunderung mit der er in seiner Jugend die Arbeitsweise eines erfahrenen älteren Kollegen betrachtete. Alle die unzähligen in Betracht zu ziehenden Momente, die den jungen Juristen bis zum Rande der Verzweiflung brachten, sie wurden hier in einer intuitiven Schau schnell und richtig erledigt. 58 Wie wird die Richtigkeit einer juristischen Intuition kontrolliert? Die Kontrolle erfolgt stufenweise. Denken wir z.B. an den Rechtsanwalt. Wenn ihm sein Klient die zu besorgende Rechtssache berichtet, macht sich der erfahrene Anwalt daraus ein erstes intuitives Gesamtbild. Nachdem er das Beweismaterial für den zu führenden Prozeß gesammelt hat, wird er das Bild schon an manchen Punkten ergänzen. Vor dem Gericht erfährt der Anwalt, was sein Gegner im Prozeß anzuführen hat: auch dies gibt zu einer fortlaufenden Ergänzung des ersten intuitiv gewonnenen Bildes Anlaß. - Der Richter seinerseits, schon um eine zusammenhängende Prozeßleitung ausüben zu können, arbeitet gleich von Anfang an mit aufeinanderfolgenden Intuitionen. Hält der Richter aber an seiner ersten Intuition der zu entscheidenden Rechtssache zu sehr fest, kann dies seine objektive Prozeßleitung gefährden und das Endergebnis, das Urteil, fälschen. 59 Kehren wir jetzt zu einer Frage zurück, die wir schon, im Zusammenhange mit der juristischen Sprache, kurz streiften. Man hat behauptet, das juristische Denken könne als ein autonomes eigengesetzliches Gebiet bezeichnet werden, weil das juristische Denken ein normatives Denken sei, das von der Existenz einer verpflichtenden Rechtsordnung ausgeht. Uns scheint der Terminus normatives Denken' hier nicht gut am Platze. Wenn nämlich darunter ein 58 Über die Intuition Carlos Cossio, El derecho en el derecho judicial, S. 30-, 189-; Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl, S. 14: Immerhin ist das Harmoniegefühl ebenso wie das Funktionsgefühl beim Rechtsgefühl im Sinne der Fähigkeit zu intuitiver juristischer Entscheidung nur ein begleitendes, nicht das wesentliche Moment. Das Gefühlsmäßige wird hier weit überwogen durch zusammengedrängte intellektuelle Vorgänge: durch die richtige Bewertung der Tatbestandselemente nach ihrer Erheblichkeit, durch die logische und zugleich wertende Tätigkeit der Subsumtion des Tatbestandes unter die Normen des objektiven Rechts und schließlich einen Syllogismus. Nur treten die einzelnen Glieder dieses Prozesses nicht als einzelne deutlich ins Bewußtsein ... Wilhelm Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 347-. 59 Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl, S. 118: ... der ist der beste Jurist, dem, bevor er den Fall nach seinen Elementen analysiert und konstruiert hat, sein Rechtsgefühl (im Sinne des sensus iuridicus) sofort die Entscheidung angibt, die er dann durch die nachfolgende rein verstandesmäßige Untersuchung der Interessenlage und durch eine juristisch-technische Betrachtung bestätigt findet. 14 Brusiin
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Denken verstanden wird, wo unter den Denkgegenständen der Begriff ,soll\ ,ist verpflichtet 4 eine zentrale Stelle einnimmt, so leuchtet es ein, daß das Denken des praktischen Juristen bei seiner Rechtshandhabung eine sehr große Menge von Feststellungen nicht-normativen Charakters enthält. Die Tatsache, daß das rechtliche Denken von der Existenz einer Rechtsordnung ausgeht und daß alle Denkobjekte auf diese Rechtsordnung bezogen werden, bedeutet nämlich nicht, daß dieses Denken neben normativen Elementen keine kausalen enthielte. 60 Das hier tatsächlich sowohl normative als auch kausale Elemente eingehen, hindert nicht, daß das rechtliche und - mit noch stärkeren Gründen - das juristische Denken ein autonomes Gebiet bildet. Beim juristischen Denken wird ja diese Autonomie noch durch die konstanten Züge jenes Denkens verstärkt, die es vom rechtlichen Denken eines Laien unterscheiden. Man hat auch das juristische Denken als etwas Formales im Gegensatze zum Materialen kennzeichnen wollen. 61 So ist nach Stammler das Recht die Form, die Wirtschaft der Stoff. Was mit den Wörtern ,Form 4 , ,formal 4 bezeichnet wird, ist unbestimmt. Höchstens kann man festzustellen versuchen, welche Bedeutung - oder gewöhnlich, welche Bedeutungen - ein bestimmter Denker diesen Worten in seinem System beilegt. Daß man aber so oft den formalen Charakter des juristischen Denkens hervorhebt, scheint mit dem hier dominierenden Schematisieren zusammenzuhängen. Die Gegenüberstellung ,formal/material 4 kann auf die Gegenüberstellung schematisieren/das was schematisiert wird 4 zurückgeführt werden. Gehen wir noch auf das viel erörterte Problem ,Recht und Wirtschaft 4 in aller Kürze ein. - Mit den Worten ,Wirtschaft', wirtschaftliche Tätigkeit 4 bezeichnen wir hier etwas, was nur beim Menschen vorkommt. 62 Diese Tätigkeit ist eine notwendige Bedingung für die fortdauernde Existenz des Menschenindividuums; sie wird von ihm selbst oder von anderen Menschen zu seinen Gunsten ausgeübt. Durch eine fortdauernde wirtschaftliche Tätigkeit 60 Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, Paris 1947, S. 24; Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, S. 364 - 404: die Lehre von den „giudizi giuridici"; Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 24 25. 61 F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, S. 216: Lo Stato non è unum et idem col diritto, ed il diritto non è unum et idem con lo Stato, non è tutto lo Stato, ma è solo il momento formale, la forma della organizzazione statale. 62 Barna Horvàth, Recht und Wirtschaft, S. 346, hat das Gedankenexperiment gemacht zu untersuchen, ob die Natur wirtschaftliche Elemente enthalte, und kommt zu dem Ergebnis, daß ihre ,Wirtschaft' strenger als die menschlich-soziale ist. Sein Gedankenexperiment geht nicht darauf aus, die Wirtschaftlichkeit der Natur zu beweisen, sondern die Natürlichkeit eines Teiles der Wirtschaftselemente und hauptsächlich den Übergang und Unterschied von ,Wirtschaft' der Natur zur Wirtschaft des Menschen. (Briefliche Mitteilung Horvâths). - Der bekannte Wirtschaftstheoretiker Navratil kennzeichnet die Wirtschaft als „Fürsorge für die materiellen Bedingungen des Lebens, Horvâth, ebd., S. 346.
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verschafft sich der Mensch materielle Voraussetzungen für die Existenz seiner selbst und seiner Familie. Letzten Endes also Nahrung und Wärme. Die normalerweise fast überall vorhandene Knappheit an Lebensgütern zwingt den Menschen zu einem planmäßigen wirtschaftlichen Handeln. Er betrachtet dabei die soziale Wirklichkeit von einem bestimmten Aspekte aus. 63 Vergleichen wir den wirtschaftlichen mit dem rechtlichen Aspekt. In beiden Fällen handelt es sich um eine Zweckbetrachtung und in beiden wird die soziale Wirklichkeit stark schematisiert. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß wirtschaftliche und rechtliche Institutionen weitgehend mit demselben Worte bezeichnet werden. ,Kauf , ,Wechsel4, ,Scheck4, ,Darlehen 4 , ,Bezahlung4 man könnte die Liste beliebig verlängern - bezeichnen sowohl eine wirtschaftliche als auch eine rechtliche Tatsache, und zwar in beiden Fällen etwas Typisiertes, Schematisiertes, in unzähligen konkreten Fällen Wiederkehrendes. Es bestehen also Korrelationen zwischen der Wirtschaft und dem Rechte 64 , d.h. Änderungen, die auf einem dieser Gebiete eintreten, sind mit entsprechenden Änderungen auf dem anderen Gebiete verbunden. Wenn man z.B. die wirtschaftliche Tätigkeit während einer längeren Zeit in einem bestimmten Unternehmen graphisch darstellt, kann ein rechtliches Spiegelbild dieses Geschehens gezeichnet werden. 65 63
Der homo oeconomicus und der homo iuridicus sind beide Gedankenkonstruktionen, und zwar nicht ohne Berührungspunkte miteinander. Giorgio Del Vecchio, Der „homo iuridicus" und die Unzulänglichkeit des Rechts als Lebensregel, Beograd 1937; Mihai Ralea, Explication de l'homme, Paris 1949, S. 239 - 267. - Über das Verhältnis zwischen homo iuridicus und homo politicus Luiz Legaz y Lacambra, Direito e politica, Lisboa 1950?, S. 9 - 10. 64 Unübertroffen Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 387 - 513 (vor allem § 3: Die Formen der Begründung subjektiver Rechte). 65 Eine Auffassung, wonach die Produktionsverhältnisse und die Produktionskräfte das ,Wirkliche' sind, worauf alle anderen sozialen Erscheinungen, darunter auch das Recht, zurückzuführen seien, entbehrt der wissenschaftlichen Begründung. Wohl ist zuzugeben, daß das Wirtschaftliche für die Existenz des Menschen etwas Fundamentales bedeutet. Wenn man aber den wirtschaftlichen Aspekt zu einer ,letzten' Wirklichkeit verabsolutiert, so tritt man in das Reich des prinzipiell Unverifizierbaren, des Metaphysischen ein. Das einzige, was wir zwischen der Wirtschaft und anderen Aspekten des menschlichen Verhaltens feststellen können, sind Korrelationen. Zu vergleichen Barna Horvâth, Rechtssoziologie, S. 110—; Georges Gurvitch, Sociology of Law, S. 295 - 298; Giorgio Del Vecchio, Materialismo e psicologismo storico, Estratta dalla Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXIV/II - IV (1947); Vinding Kruse, Retslaer en, I, S. 60 - 72: die Korrelationen zwischen Wirtschaft und Recht auf den verschiedenen Rechtsgebieten. Anläßlich der bekannten Theorie Stammlers über das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Recht äußert Kruse: Seine Auffassung wirkt nicht ganz überzeugend, denn in seinen Gedankengängen vermißt man eine erfahrungsmäßige Dokumentation, eine eingehende Untersuchung über die wichtigsten praktischen ökonomischen Gebiete und über die Bedeutung der Rechtsordnung für sie, einen genauen Nachweis der Wechselwirkung zwischen wirtschaftlichen und rechtlichen Faktoren (ebd., S. 64 - 65; Übersetzung aus dem Dänischen). - Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 11, äußert über den Hegelianismus und den Marxismus: Beide suchen von einer einzigen Phänomengruppe aus das Ganze des ge14*
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Wie erlebt ein wirtschaftlicher Unternehmer das Recht? Als ein Mittel, ein Hindernis, eine Gefahr. Als ein Mittel für seine planmäßige wirtschaftliche Tätigkeit. Die wirtschaftliche Planung, die auf lange Sicht erfolgen kann, und die planmäßige Massenlenkung des menschlichen Verhaltens sind beide auf die Zukunft eingestellt und arbeiten beide mit Wahrscheinlichkeitsurteilen über künftige Kausalzusammenhänge. - Das Recht kann dem wirtschaftlichen Unternehmer auch manche Tätigkeitsformen verbieten, die er vielleicht sonst in der harten Konkurrenz ohne Bedenken gewählt hätte (Strafgesetzbuch, Gesetzgebung über unlauteren Wettbewerb, Firmen- und Markenschutz, verschiedene zivilrechtliche Bestimmungen). Das Recht kann dem Gegner des Unternehmers Waffen in die Hand geben (z.B. ein Skandalprozeß, um einem Konkurrenten zu schaden). - Ohne eine mit voraussehbarer Regelmäßigkeit funktionierende Rechtsmaschinerie (Rechtssicherheit) wäre keine weitsichtige wirtschaftliche Planung möglich, und die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit würde auf eine primitive Stufe zurücksinken. 66 Wie erlebt ein Jurist die Wirtschaft? Als etwas, womit er bei seiner praktischen Juristenarbeit fortwährend in Verbindung steht. Die geltenden Rechtsordnungen bedeuten ja überwiegend, daß bestimmte wirtschaftliche Interessen durch den staatlichen Zwangsapparat gegen andere wirtschaftliche Interessen geschützt werden. Was in einer konkreten Rechtsgemeinschaft geschützt wird und gegen was, wird letzten Endes durch die Machtstruktur der Gemeinschaft bestimmt. Denken wir an das Privat-, Straf- und Verwaltungsrecht: wirtschaftliche Interessen spielen hier überall eine dominierende Rolle. Sogar bei (subjektiven) Persönlichkeits- und Familienrechten treten diese Interessen hervor. Ein Prozeß um ein Urheberrecht dreht sich fast regelmäßig um wirtschaftliche Interessen, und in Ehescheidungsprozessen (falls nicht ein im Stillen gemachtes Abkommen vorliegt) wird hart um das Wirtschaftliche gekämpft. Von Strafsachen, die vor die Gerichte gebracht werden, stehen die allermeisten in unmittelbarer Verbindung mit wirtschaftlichen Interessen. Macht man sich eine Statistik über Verwaltungssachen, die in einer Rechtsgemeinschaft während einer bestimmten Zeitspanne erledigt werden, so sind Verwaltungsentscheidungen mit wirtschaftlichem Hintergrund stark vertreten. Und welcher Art sind die Fragen, die von völkerrechtlichen Organen behandelt werden? Großenteils wirtschaftliche. Daß zwischen Recht und Wirtschaft eine so enge Verbundenheit besteht, scheint im Lichte unserer anthropologischen Ausgangshypothese als etwas schichtlichen Seins zu verstehen. Hegel sucht das Ganze ,νοη oben her' zu begreifen, Marx ,νοη unten her'. Beachtenswerte kritische Gedanken eines Rechtshistorikers bei Francesco Calasso, Introduzione al diritto comune, Milano 1951, S. 148 - 157. 66 E. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, S. 32 - 48; Barna Horvâth, Recht und Wirtschaft, S. 357: Denkt man diese Leistung des Rechts als ausgeschaltet, bedenkt man, auf ein welch primitives Niveau damit die Wirtschaft zurückfallen müßte, so hat man eine Vorstellung vom Anteil des Rechts an der Wirtschaft, also an der Gütererzeugung.
III. 5. Das Deduktive im juristischen Denken
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Selbstverständliches. Das Recht ist ein Ausfluß der geistigen Konstitution des in Gesellschaften dauernd zusammenlebenden Menschen. Die planmäßige wirtschaftliche Tätigkeit ist ebenfalls etwas spezifisch Menschliches. Und so läßt sich die nicht besonders gelungene Formulierung des genialen Rudolf Stammler verstehen: Recht und Wirtschaft seien miteinander unlösbar verbunden, als Form und Stoff. 67 5. Das Deduktive im juristischen Denken. Die Jurisprudenz Viele Laien sind der Meinung, das juristische Denken sei in hohem Grade ,logisch4. Diese Ansicht wird auch von angesehenen Logikern vertreten. Man kann hier allerdings den Einwand machen, daß ein Laie - auch wenn er Logiker vom Fache ist - das juristische Denken kaum eingehend genug kennen dürfte. Dessenungeachtet ist die oben angeführte Meinung von Interesse, zumal wenn man in Betracht zieht, daß sie auch unter den Juristen selbst vertreten ist. 1 Fragt man aber die Juristen, was sie in diesem Zusammenhange unter ,logisch4 verstehen, bekommt man als Antwort entweder ein Schweigen oder auseinandergehende Meinungen. Der praktisch arbeitende Jurist ist durch langjährige Erfahrung zu der Überzeugung gekommen, daß in seinem Denken das ,Logische4 eine bedeutende Rolle spielt. Wie es aber näher zu charakterisieren ist und wie es sich im einzelnen auswirkt, vermag er nicht zu erkennen. 2 67
Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 5. Aufl., Berlin u. Leipzig 1924, S. 108-, 211-, 241-, 287-. Eine scharfe Kritik der Theorie Stammlers in Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922. Erwiderung Stammlers, op. cit., S. 670-; Benedetto Croce, Riduzione della filosofia del diritto alla filosofia dell'economia, Napoli 1926, S. 35-; Giorgio Del Vecchio, Diritto ed economia, Roma 1935, S. 27: Fondamento tanto del diritto, quanto dell'Economia, è pur sempre la natura umana; Barna Horvàth, Rechtssoziologie, S. 98 - 148; ders., Recht und Wirtschaft, S. 353-; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 216 - 225; Walther Burckhardt, Methode und System des Rechts, S. 104- (Form/Stoff). 1 Julius Stone, The Province and Function of Law, Sydney 1950, S. 137 - 146. Über dieses für einen kontinentaleuropäischen Juristen sehr instruktive Werk - das z.B. in U.S.A. die glänzendsten Rezensionen erhalten hat - die kritischen Bemerkungen Norberto Bobbios in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXVII (1/1950), S. 90 97. Mit der unerschütterlichen Überlegenheit eines kontinentaleuropäischen Rechtsphilosophen behauptet Bobbio, Stone sei kein Philosoph, sondern „offenbar ein Eklektiker und Relativist", der sich um die Gültigkeit (validità reale) der verschiedenen althergebrachten philosophischen Lehrmeinungen nicht sonderlich kümmert (S. 93). Dies betrifft insbesondere die Lehren von der Gerechtigkeit. - Bobbio behandelt in diesem Zusammenhang auch das ausgezeichnete Werk W. Friedmanns, Legal Theory, und kommt - von seinem Standpunkte aus - zu einer völlig negativen Beurteilung. Stone und Friedmann sind nach Bobbio beide „charakteristische Manifestationen des angelsächsischen juristischen Denkens" (S. 100). Und das Schlimmste: „II Friedmann, come lo Stone, è un relativista." 2 G. H. von Wright, Form and Content in Logic, Cambridge 1949, S. 12, unterscheidet drei „provinces of logic", jedoch unter Hervorhebung, daß es deren noch andere
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Das Wort ,logisch4 wird sowohl von praktischen Juristen als auch von Forschern auf dem Gebiete der Jurisprudenz fleißig gebraucht. Stellt man eine vergleichende Tabelle auf, so wird man feststellen, daß dieses Wort nicht nur bei verschiedenen Personen, sondern auch bei derselben Person in den verschiedensten Bedeutungen auftritt. Unter diesen Bedeutungen sind diejenigen besonders interessant, die darauf schließen lassen, daß es neben der traditionalen eine spezielle juristische Logik gäbe, mit einer eigenen autonomen Gesetzmäßigkeit.3 Man kann sich fragen, ob nicht jene eben hervorgehobene ,Unsicherheit 4 des Juristen, wie das in seinem Denken vorkommende Logische näher zu charakterisieren sei, teilweise darauf zurückzuführen ist, daß hier etwas für das juristische Denken Spezielles vorliegt. 4 Der argentinische Rechtsphilosoph Carlos Cossio ist der Meinung, die traditionale aristotelische Seinslogik - auch in einer modernisierten Form (Logistik) - sei für das Denken auf dem Gebiete des Rechts gänzlich inadäquat, und hier sei tatsächlich schon längst eine eigengesetzliche Sollenslogik angewendet worden. Diese Logik habe als erster Hans Kelsen in einer wahrhaft genialen Weise systematisiert und zu einer einheitlichen Theorie ausgebaut: seine reine Rechtslehre sei in der Tat - mag dies Kelsen selbst erkennen oder nicht 5 - eine gibt. „First, there are expressions in which the variables mean propositions. — Secondly, there are expressions in which the variables mean properties (classes). - -Thirdly, there are expressions in which the variables mean relations." - G. H. von Wright, Om logik, Nya Argus 1950, S. 62: ... die Logik gibt uns die Spielregeln des wissenschaftlichen Denkens, d.h. die Regeln für eine Herleitung von Theoremen aus Axiomen in einer Wissenschaft. ... S. 63: Die Logik ist ein Studium des axiomatischen Denkens oder der Regeln, nach denen wir aus gegebenen Voraussetzungen Schlüsse ziehen dürfen ... S. 112: Die Logik und die Algebra sind einander darin ähnlich, daß beide als Kalküle aufgefaßt werden können. Sie unterscheiden sich voneinander darin, daß während die Variablen in der Algebra Zahlen bedeuten, sie in der Logik Sachverhalte, Eigenschaften und Relationen bedeuten (Übersetzung aus dem Schwedischen). 3 E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 126 - 127. 4 Ch. Boasson, Sociological Aspects of Law and International Adjustment, S. 49-65 (law and logic). 5 Carlos Cossio, Norm, Recht und Philosophie, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht N.F. I (4) 1948, S. 480: Befragt über die Reichweite der formalen Rechtslogik, die die egologische Theorie der Reinen Rechtslehre attribuiert, gibt Kelsen die kategorische Antwort „er könne diese Auslegung nicht anerkennen, die weder der Absicht noch dem Sinn seiner Theorie entspricht. Er glaube nicht an eine Mehrheit von Logiken ... Er bediene sich der allgemeinen Logik, aber er wende sie nicht auf Seinsgegenstände, sondern auf Sollensgegenstände an, die Normen". - Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 7f.: Die bedingte Art und Weise, in der wir einen besonderen Willensinhalt im Sinne des Rechtsgedankens bestimmen, läßt sich ebenso in abgezogener Erwägung darstellen, wie es die allgemeine Logik mit dem formalen Verfahren des Begreifens, Urteilens, Schließens längst getan hat: und nach einer entsprechenden Logik des juristischen' Denkens haben ja schon viele einen Wunsch gehegt und geäußert. - So wie nun Stammler in seinem Werke jene Logik ausbaut, scheint er sich durchaus an den traditionalen Begriff der Logik anzuschließen. Z.B. S. 38-, 162. - Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. 886: Das formallogische Denken kann den eigentlichen Rechtssm« überhaupt nicht erfassen, der als Sinn nicht
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Logik des rechtlichen Denkens. 6 Wir können in dieser kurzen Studie auf die anregenden Gedankengänge Cossios nicht näher eingehen, möchten aber hervorheben, daß er den Terminus ,Logik' in einem sehr weiten Sinne anwendet. Indem wir seine ausgezeichnete Analyse des rechtlichen Denkens voll anerkennen, sind wir nicht davon überzeugt, daß es zweckmäßig ist, hier von ,Logik' und ,logisch' zu sprechen. 7 G. H. von Wright hat kürzlich eine Studie über die Sollenslogik publiziert („Deontic Logic", Mind/January 1951), die nicht nur unter Philosophen lebhaftes Interesse erweckt hat. Obgleich der Verfasser hier in erster Linie von Tatsachen der moralischen Sphäre ausgeht (S. 4, 14, 15), sind seine Gedankengänge auch für das juristische Denken von größtem Interesse. „The performance or non-performance of a certain act (by an agent) we shall call performance-values (for that agent). A n act will be called a performance-function of certain other acts, if its performance-value for any given agent uniquely depends upon the performance-values of those other acts for the same agent. - The concept of a performance-function is strictly analogous to the concept of a truth-function in propositional logic. - Particular performance-functions can be defined in strict correspondence to the particular truth-functions. - The system of Deontic Logic . . . studies propositions (and truth-functions of propositions) about the obligatory, permitted, forbidden, and other (derivative) deontic characters of acts (and performance-functions of acts). - A task of particular importance which Deontic Logic sets itself is to develop a technique formal in jenem Sinn sein kann; sondern die Wissenschaft muß den Boden dieses Denkens verlassen und die Sphäre des teleologischen und ethischen Denkens aufsuchen ... S. 425: (gegen Kelsen, Felix Kaufmann und Stammler) ... jene ganz wesentlich in naturphilosophischen Vorstellungen befangen sind und mit der ideenlosen mathematischen Logik operieren, während wir uns bewußt sind, daß wir mit dieser Logik auf dem Gebiet des Rechts nichts anfangen können. 6 Carlos Cossio, La teoria egológica del derecho y el concepto j uri dico de liber tad, S. 131; ders., El derecho en el derecho judicial, S. 40-; ders., La plenitud del ordenamiento juridico, 2. Aufl., Buenos Aires 1947, S. 288-; ders., Panorama de la teoria egológica del derecho, S. 67-; Werner Goldschmidt, Beziehungen zwischen Ontologie und Logik in der Rechtswissenschaft, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht N.F. III (2) 1950; ders., Comentarios acerca de la sistemàtica Cossiana de la filosofia juridica, Universidad Nacional de Cordoba, Argentina: Boletin de la Facultad de Derecho y Ciencias Sociales IX (3) 1945; ders., En torno de la „Escuela Egológica del Derecho", in: Revista critica de derecho inmobiliario XXII (221) 1946. 7 Von seinem prinzipiellen Standpunkte aus betrachtet ist es folgerichtig, wenn Cossio von einer speziellen „juristischen Wahrheit" spricht: El derecho en el derecho judicial, S. 149: ... la verdad juridica de una sentencia. - Diese Konsequenz stärkt unsere Zweifel gegen seine Verwendung des Wortes ,logisch', ,Logik'. - Der finnische Rechtsphilosoph Elieser Kaila hat es versucht, eine durch die Psychologie Heinrich Maiers inspirierte volitive Rechtslogik aufzubauen, Oikeuslogiikka, I, Helsinki 1924; Frede Castberg, Rettsfilosofiske grunnsp0rsmâl, S. 85 - 87; Edward H. Levi, An Introduction to Legal Reasoning, S. 573f.: Legal reasoning has a logic of its own. Its structure fits it to give meaning to ambiguity and to test constantly whether the society has come to see new differences or similarities; E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 125f.
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for deciding, whether the propositions it studies are logically true or not (The decision problem)." Kommen im juristischen Denken deduktive Zusammenhänge vor? 8 In einem deduktiven Zusammenhange wird aus einem Satze oder aus mehreren Sätzen ein neuer Satz oder eine Mehrzahl von neuen Sätzen mit Denknotwendigkeit hergeleitet. Analysiert man die in sprachlicher Form auftretenden Objektivationen des juristischen Denkens - z.B. Urteile, Verwaltungsentscheidungen, Schreiben von Rechtsanwälten - so findet man ständig Wörter wie ,gemäß', ,auf Grund von 4 , ,also'. Solche Wörter treten als Bindeglieder auf und deuten auf deduktive Zusammenhänge. Jene Zusammenhänge sind etwas für das juristische Denken Typisches.9 Es wäre aber ein grober Fehler, wenn man behauptete, das juristische Denken erschöpfe sich in Deduktionen. Wenn man den Denkprozeß - soweit dies möglich ist - analysiert, wird man feststellen, daß hier an entscheidenden bedeutsamen ,Knotenpunkten' Denkgebilde auftreten, die sich nachträglich in den Objektivationen als deduktive Zusammenhänge entpuppen. Der quantitativ überwiegende Teil des Gedankenmaterials steht aber in keinerlei unmittelbarem Zusammenhange mit der Deduktion. Wohl aber in einem mittelbaren. 10 Denken wir z.B. an ein gerichtliches Urteil 1 1 und an die juristischen Denkprozesse, durch die ein Richter allmählich zu ihm gelangt. 12 Man kann aller8
Besonders hervorzuheben Osvi Lahtinen, M., Entscheidung des Gerichts. Per Olof Ekelöf, Juridisk slutledning och terminologi, in: Tidsskrift for rettsvitenskap 1945, S. 211 - 220, 242 - 270. 10 Man wird vielleicht die Frage stellen, ob nicht auch das Deduktive ein konstanter Zug des juristischen Denkens sei und ob es somit nicht im vorigen Kapitel hätte behandelt werden sollen. Uns scheint es jedoch zweckmäßiger, das logische Problem der juristischen Deduktion abgesondert für sich zu erörtern. 11 O. Hj. Granfeit / U. J. Castrén, Avgöranden, protokoll och processätgärder av allmän underrätt, egodelningsrätt och skiljemannadomstol, Helsingfors 1944, Einleitung: Varje avgörande skall sä tili innehâll som form utgöra en logisk slutledning. Sâsom sâdan bör det innehâlla bâde motivering och slutsats, och motiveringen skall bestâ av en undersats och en översats. Avgörandets egen struktur kräver detta. Ett annorlunda avfattat sâdant är logiskt ofullständigt. - Kritisch gegen die Syllogismustheorie Piero Calamandrei , Istituzioni di diritto processuale civile secondo il nuovo codice, I, Padova 1943, S. 62; ders., Eulogy of Judges, Princeton 1946, S. 59 - 62. 12 Guido Calogero , La logica del giudice e il suo controllo in cassazione, Padova 1937; Norberto Bobbio, L'analogia nella logica del diritto, Torino 1938. - Das besondere bei diesen interessanten Werken ist, daß die Studie Bobbios gegen diejenige Calogeros heftig polemisiert. Es scheint uns, daß Calogero seine philosophisch stark gepanzerten Stellungen ziemlich intakt behält. - Über das Problem einer spezifisch juristischen Logik Calogero, op. cit., S. 39-. Über die Syllogismustheorie, S. 47: ... l'equazione della sentenza a un unico sillogismo appare assai problematica ... S. 51: ... la vera e grande opera del giudice sta non già nel ricavare dalle premesse la conclusione, ma proprio nel trovare e formulare le premesse. - Durch den unbestimmten Begriff „logica delle cose" (S. 57-) hat Calogero seinen Gedankengang nicht verstärkt. Bobbio betont in seiner Studie die Bedeutung des Logischen im juristischen Denken, und zwar an manchen Punkten in einer überzeugenden Weise. Die irrationalen Strö9
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dings sagen, daß alles, was in einem Prozesse vorkommt, letzten Endes auf das Urteil hinzielt, nicht aber, daß hier lauter deduktive Zusammenhänge vorlägen. Wenn das Gericht sowohl die Tatfrage als auch die Rechtsfrage prüfen soll, liegt der Schwerpunkt - dies weiß ja jeder Rechtsanwalt und Richter entscheidend bei der Tatfrage. 13 Das juristische Denken der Richter dreht sich vor allem um die oft sehr schwierige Frage: was ist als bewiesen zu erachten, was nicht? Erst nachdem das Gericht - etwa nach einer komplizierten Prozeßleitung (einer Menge von einander widersprechenden Zeugen, Sachverständigen, schriftlichem Beweismaterial) - hierzu Stellung genommen hat, kann ein deduktiver Zusammenhang zwischen dem so erzielten stark schematisierten Wirklichkeitsbild und Rechtsnormen angestrebt werden. Das Wirklichkeitsbild wird hier in der Form von Sätzen angesprochen, die mit den Rechtssätzen koordiniert werden. Wird also behauptet, das Urteil sei ein Syllogismus, so ist dies eine überaus starke Vereinfachung. 14 Alles kommt ja hier darauf an, was mit dem Worte ,Urteil 4 gemeint ist. Wird damit ein obrigkeitlicher A k t verstanden, der in einer sprachlichen Form objektiviert wird, und der auch seine Begründung enthält, so kann dies alles nicht durch das Wort ,Syllogismus4 erschöpfend gekennzeichnet werden. 15 Will man aber nur den gedanklich-formalen Kernmungen der letzten Jahrzehnte - die an sich durchaus verständlich waren - werden als übertrieben und zeitbedingt dargelegt. Es ist uns nicht ganz klar geworden, welche Bedeutung Bobbio den Termini ,logisch', ,Logik' beilegt. Er behauptet z.B. (S. 121) von der Analogie: ... l'estensione analogica ... è prima di tutto un procedimento logico. Die Analogie non fa che rendere esplicita la razionalità immanente al sistema (S. 132). Dann äußert aber Bobbio plötzlich (S. 154): ... il problema dell'analogia è soltanto un problema logico (unsere Kursivierungen). 13 Piero Calamandrei, Il giudice e lo storico, Estratto dalla Rivista di diritto processuale civile XVI (XVII) 1939; Francesco Carnelutti, Arte del diritto, S. 72-; ders., Teoria generale del diritto, S. 371-; Wilhelm Sauer, System der Rechts- und Sozialphilosophie, S. 216-; ders., Juristische Methodenlehre, S. 190-; Jerome Frank, Courts on Trial, S. 80 - 102; Walter G. Becker in: The University of Chicago Law Review 18 (2) 1951, S. 394; Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, S. 397: La déduction opère sur des concepts ; ce qui est donné au juge, ce sont des faits, et il lui faut appliquer les concepts aux faits (S. 398 - 401). 14 Über die Syllogismustheorie Carlos Cossio, El derecho en el derecho judicial, S. 39-, 85-; Francesco Carnelutti, Torniamo al „giudizio", Padova 1949, S. 8-; ders., Arte del diritto, S. 63-: ... quel giudizio gigante, che si chiama processo ... (S. 71). Hier wird das Wort,giudizio' in einem bildlichen Sinne verwendet. Ders., Teoria generale del diritto, S. 364-. 15 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 95: Daß ein richterliches Urteil im Gesetz begründet ist, bedeutet in Wahrheit nichts anderes, als daß es sich innerhalb des Rahmens hält, den das Gesetz darstellt, bedeutet nicht, daß es die, sondern nur, daß es eine der individuellen Normen ist, die innerhalb des Rahmens der generellen Norm möglich sind. - S. 98: Die Frage, welche der im Rahmen einer Norm gegebenen Möglichkeiten die ,rieh tige' ist, ist - voraussetzungsgemäß - überhaupt keine Frage der auf das positive Recht gerichteten Erkenntnis, ist kein rechtstheoretisches, sondern ein rechtspolitisches Problem; Kelsen, General Theory of Law and State, S. 132-; Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 20-, hebt hervor, daß es eine besondere juristische Argu-
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punkt hervorheben, so mag diese Kennzeichnung oft zutreffen. In einem modernen Kulturstaate des sog. kontinentalen Rechts wird ja die sprachliche 16 Formulierung des Urteils so aufgebaut, daß man hier - neben vielem anderen - auch die Elemente eines deduktiven Zusammenhanges findet. 17 mentationstechnik gibt. „Die juristische Argumentationstechnik ist etwas, das sich alle Juristen mehr oder weniger angeeignet haben. Ein großes Geschick und die Fähigkeit sie praktisch anzuwenden, ist nicht dasselbe wie ein theoretisches Wissen von ihr. Es gibt manche Aussagen hervorragender Juristen, die zeigen, daß ihnen die elementaren Kenntnisse von derjenigen Technik fehlen, die sie in der Praxis vollendet beherrschen." (Übersetzung aus dem Schwedischen). 16 Über das richterliche Denken im anglo-amerikanischen Rechtskreise vor allem Edward H. Levi, An Introduction to Legal Reasoning. In dieser für kontinentaleuropäische Juristen lehrreichen Studie vergleicht Levi fortwährend die Denktechnik des case law und des gesatzten Rechts. Über jene schreibt er: The basic pattern of legal reasoning is reasoning by example. It is reasoning from case to case. (S. 501) - The rules change from case to case and are remade with each case. Yet this change in the rules is the indispensable dynamic quality of law. It occurs because the scope of a rule of law, and therefore its meaning, depends upon a determination of what facts will be considered similar to those present when the rule was first announced ... Thus it cannot be said that the legal process is the application of known rules to diverse facts. Yet it is a system of rules; the rules are discovered in the process of determining similarity or difference (S. 502). - It could be suggested that reasoning is not involved at all; that is, that no new insight is arrived at through a comparison of cases. But reasoning appears to be involved; the conclusion is arrived at through a process and was not immediately apparent. It seems better to say there is reasoning, but it is imperfect. Therefore it appears that the kind of reasoning involved in the legal process is one in which the classification changes as the classification is made. The rules change as the rules are applied. More important, the rules arise out of a process which, while comparing fact situations, creates the rules and then applies them (S. 503). - Zu vergleichen: die Besprechungen Roscoe Pounds, in: The Yale Law Journal January 1951, sowie Walter G. Beckers, Charner Perry s und Max Rheinsteins, in: The University of Chicago Law Review 18 (2) 1951. - Eine konzentrierte Einführung in die englische Präjudiztechnik bei Glanville L. Williams, Learning the Law, London 1950, S. 58-79. „The ascertainment of the ratio decidendi of a case depends upon a process of abstraction from the totality of facts that occurred in it. - - How do we know when to stop with our abstraction? The answer is: primarily by reading what the judge says in his judgment, but partly also by our knowledge of the law in general and by our common sense and our feeling for what the law ought to be" (S. 61). Edwin W. Patterson, Dewey's Theories of Legal Reasoning and Valuation, im Sammelwerk: John Dewey: Philosopher of Science and Freedom, New York 1950, S. 122, 128; E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 126f., 139, vergleicht das sog. kontinentale und das anglo-amerikanische Rechtsdenken. Nach ihm sind die Grundvoraussetzungen der kontinentalen juristischen Logik: die staatliche Rechtsauffassung, die Gebundenheit an den Rechtssatz und die Vorstellung von der Einheit des Rechts (S. 271). Wenn Ehrlich an mehreren Stellen behauptet, daß diese Grundvoraussetzungen dem skandinavischen Rechtsgebiet fremd sind, so dürfte dies kaum in jener kategorischen Formulierung zutreffen. Über die Postulate des heutigen kontinentalen' juristischen Denkens auch Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 397. 17
Gegen jede Deduktion hier Carlos Cossio, El derecho en el derecho judicial, S. 160; Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 150 f.: What has been said here about the necessarily purposive character of interpretation of course applies in an even greater degree to the socalled methods of deduction. Whether these are termed formally logical or analogical there will in no case be a logical objective process of cognition, but a motivation determined by practical interests, which will later try to find a
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Auf dem so bedeutsamen Gebiete des modernen Strafrechts ist aber ein auf Strafe lautendes Urteil kein Syllogismus: immer hat der Richter innerhalb der Latitude eine Bewegungsfreiheit, die konkrete Strafsanktion folgt nicht mit Denknotwendigkeit aus Prämissen. Aus ihnen folgt nur - falls keine Strafausschließungsgründe vorliegen - daß hier ein Strafurteil gesprochen werden soll* und daß sich die Sanktion innerhalb der Grenzen einer im Strafgesetzbuche vorgesehenen Latitude halten soll. 18 In diesem Zusammenhange möchten wir auf eine sprachliche Besonderheit der finnischen Urteilsformulierung hinweisen. Einer alten Tradition gemäß soll ein Urteil, einschließlich seiner Begründung, in einem Satze geschrieben werden. Jungen Juristen fällt es wahrlich nicht leicht, sich diese phantastische Sprachbehandlung anzueignen. Rein sprachlich gesehen - insbesondere wenn die Begründung einigermaßen ins einzelne geht - ist ein solcher Urteilstext ein Monstrum und für einen Laien äußerst schwer verständlich. Eine räsonnierende Begründung wird auch für die höchste Instanz hierdurch unmöglich gemacht, zum Schaden der Rechtskultur. Diese Schreibart wird dadurch motiviert, daß hierdurch der logische Bau des Urteils klar hervortrete und die Gerichte somit gezwungen werden, die logische Haltbarkeit ihrer Urteile sorgfältig zu kontrollieren. In der letzten Zeit dürfte aber im Höchsten Gerichtshofe eine durch praktische Umstände gebotene Lockerung der altehrwürdigen Schreibart eingetreten sein. Eine Verwaltungsentscheidung des modernen Rechtsstaates enthält ebenfalls deduktive Elemente. So wird in der Entscheidung des finnischen Handels- und Industrieministeriums vom 30. Dezember 1950, wodurch dem Lagerverwalter H. T. der staatlichen Metallfabriken eine Pension gewährt wurde, folgendermaßen argumentiert: „Der oben genannten Person, die, nachdem ein dauerndes Unvermögen zur Arbeit eingetreten ist, ab 30. November 1950 von ihrer Staatsanstellung zurückgetreten ist, wird, gemäß dem Gesetze vom 30. September 1950 über die Pensionierung von staatsangestellten Arbeitern eine jährliche ständige Pension im Betrage von . . . Mark ab 1. Dezember 1950 gewährt, die in die Pensionsgruppe I I I fällt und gemäß rational expression in an inference'. - S. 152f.: ... the markedly positivistic theories, according to which the concrete judicial decision is based exclusively on the law and its objective-logical derivates, is a pure figment. S. 158. - Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 13: ... eine falsche Intellektualisierung der Jurisprudenz. Viele von den Methoden, die zu einer ,Herleitung' der implizierten Regeln von dem gegebenen rechtlichen Materiale angewendet worden sind, zeigen sich einer kritischen Betrachtung gegenüber als unhaltbar und erscheinen nunmehr als Konstruktionen, denen eine wissenschaftliche Gültigkeit fehlt. (Übersetzung aus dem Schwedischen). - Aatos Alanen, Yleinen oikeustiede, S. 84: ... das richterliche Urteil ist in seinem Wesensgrund (perusolemukseltaan) ein logisches Urteil. 18 Für die staatsbürgerliche Freiheit ist es von großer Bedeutung, daß ein Strafurteil nur dann gesprochen werden darf, wenn der Tatbestand des Gesetzes erfüllt worden ist. Für die künftige soziale Stellung des Angeklagten kann die Größe der Strafe Nebensache sein. Das Wesentliche für ihn ist, ob er freigesprochen oder schuldig erklärt wird.
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einem Jahreseinkommen von . . . Mark berechnet worden ist. Bei der Berechnung von Pensionsjahren wurden folgende Dienstzeiten in Betracht gezogen . . ." - Es kommt auch zuweilen vor, daß die Verwaltungsentscheidung ein Gesetz oder eine Verordnung nicht ausdrücklich erwähnt, obgleich sie in einem deduktiven Zusammenhange als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden. „Das Handels- und Industrieministerium hat durch eine heute gemachte Entscheidung der außerplanmäßigen Kanzleiangestellten X auf Grund einer durch ärztliche Bescheinigung festgestellten Schwangerschaft eine Beurlaubung von . . . Monaten ab . . . gewährt und zugleich, gemäß den §§ . . . des Gesetzes vom 22. Dezember 1942 über die Entlohnung von Staatsbeamten, verordnet, daß eine Einbehaltung des Lohnes für jene Zeit der Beurlaubung nicht stattfinden soll." In seinen bei einem Gerichte oder einer Verwaltungsbehörde eingereichten Schreiben sucht der Rechtsanwalt gewöhnlich letzten Endes darzutun, daß Umstände vorliegen, die zu gewissen, seinem Auftraggeber vorteilhaften, Deduktionen zwingen. 19 In seinem Schreiben macht der Anwalt oft das Gericht oder die Verwaltungsbehörde ausdrücklich auf die deduktiven Zusammenhänge aufmerksam. So z.B. in dem Schreiben von B. G. vom 7. April 1949 an das Rathausgericht in Helsingfors. Nachdem die rechtlich relevanten Umstände einer zerrütteten Ehe eingehend geschildert wurden, fährt das Schreiben fort: „Ich bin der Meinung, daß mein Ehemann und ich separiert gelebt haben, so wie es § 76; 3 des Ehegesetzes voraussetzt. Zwar wohnten wir in demselben Lokal, aber dessenungeachtet hatten wir miteinander nichts zu tun und hatten keinen gemeinsamen Haushalt. Weil dies der Fall ist, und zwar aus dem Grunde, weil mein Ehemann eigenwillig und ohne Grund sich dem Zusammenleben mit mir entzogen hat, beantrage ich ehrerbietigst, das Rathausgericht möge ein Ehescheidungsurteil aussprechen." - Im Schreiben des Rechtsanwalts H. D. an den finnischen Höchsten Gerichtshof vom 26. Juni 1947 kommt u.a. folgende Stelle vor: „Es muß also als bewiesen angesehen werden, daß die Aktiengesellschaft X , weil sie die nötige Sachkenntnis besaß, beim Empfange der Stahlplatten auch wußte, sie seien deutschen Ursprungs. Weil also unsere Gegenpartei gewußt hat, die Platten seien deutsches Erzeugnis der Kriegszeit, über dessen chemische Konsistenz dem Käufer keinerlei Garantie gegeben war, so ist es offenbar, daß unsere Gegenpartei 19 Der Anwalt kann sich zwar, wenn die tatsächlichen Umstände ausnahmsweise völlig außer Zweifel stehen, auf die Darlegung von Rechtsnormen konzentrieren. - Es kommen Fälle vor, wo der Rechtsanwalt beim Konzentrieren auf die tatsächlichen Umstände letzten Endes auf die juristische Rubrizierung des vorliegenden Falles hinzielt. - Zu vergleichen Piero Calamandrei, Eulogy of Judges, Princeton 1946, S. 54 58. - Ausdrücklich sei hervorgehoben: ob Umstände vorliegen, die zu einer gewissen Deduktion zwingen, wird im juristischen Denken nicht deduktiv festgestellt, sondern auf Grund einer Wertung empirischer Tatsachen. Falls die Deduktion zu einem offenbar unbilligen Ergebnis führen würde, kann dies auf die vorangegangene Wertung abändernd rückwirken.
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nicht ohne weiteres hätte annehmen dürfen, die Platten seien Säuren gegenüber widerstandsfähig". In dem Schreiben eines Rechtsanwalts kann auch ausdrücklich auf die deduktive Verwendung des Beweismaterials hingewiesen werden. So im Schreiben B. G.'s vom 26. Mai 1949 an das Hofgericht in Âbo: „Ich komme also zu dem Ergebnis, daß die Berichte der in diesem Prozesse vernommenen Zeugen keineswegs ein solches Urteil begründen, das vom Rathausgerichte ausgeprochen worden ist. Um zu zeigen, daß in meiner Ehe keinerlei Zwietracht vorhanden war, und daß mein Ehemann mich einfach verlassen hat, beantrage ich, daß der Künstler X und seine Ehefrau Y vor dem Hofgericht als Zeugen vernommen werden . . . " Konkrete Beispiele von deduktiven Zusammenhängen im juristischen Denken könnten beliebig vermehrt werden. Welche funktionelle Aufgabe erfüllen die deduktiven Zusammenhänge im juristischen Denken? 20 Sie wirken als eine Garantie der Objektivität. 21 Die logischen Gesetzmäßigkeiten erheben sich über die Subjektivität des Einzelnen: er kann sich ihrer Denknotwendigkeit nicht entziehen. 22 Hier stehen wir wieder an unserem anthropologischen Ausgangspunkt: es ist eine bedeutsame Tatsache, daß sich der Mensch logischen Normen gegenüber gestellt sieht. Schon lange bevor er diese Normen klar erkannt und formuliert hat, fühlt er sich an sie gebunden. Wir möchten uns aber auch hier keiner objektiven Werttheorie hingeben. Die logischen Normen stammen zwar nicht von bestimmten konkreten Menschenindividuen, wohl aber ,vom Menschen'. Wir denken hier vor allem an die elementare Schullogik, so wie sie in den deduktiven Zusammenhängen des juristischen Denkens zum Vorschein kommt. So auch wenn der moderne Logiker eine Theorie aufstellt, mag er sich dabei noch so neuer und origineller Gedanken und Symbole bedienen: der gedankliche Inhalt 20
E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 303 - 347. Ehrlich, ebd., S. 411 f.: „Da die formale Logik ... nicht zu schöpferischen Gedanken führt, sondern bloß lehrt, wie man zu Gedanken gelangt, die von anderen Gedanken abgeleitet sind, so soll offenbar in der Jurisprudenz gerade durch den Ausdruck Logik zum Bewußtsein gebracht werden, daß der Richter nur aus dem Gesetze zu folgern habe und daß ihm alles Eigene grundsätzlich verwehrt ist". - Ehrlich äußert über die juristische Logik: „Sie hatte nur das Eine zu bewirken, daß der Richter, wenn er nicht auf Grund des Gesetzes entscheiden konnte, seine Entscheidungen auch nicht auf Grund seiner eignen Interessenabwägungen fasse" (S. 412 - 413). - Es scheint uns, daß die kritischen Ausführungen Ehrlichs gegen die Gebundenheit des Richters eine fundamentale Tatsache nicht genügend beachten: die prinzipielle Stellung der Justiz im kontinentalen Rechtsstaate. Selbstverständlich kann man wünschen, daß diese Stellung eine andere sei als sie tatsächlich ist, aber dann sollte man wohl die Kritik auf den staatsrechtlichen Kernpunkt richten. Über die Gewaltenteilung Ernst von Hippel, Gewaltenteilung im modernen Staate, Koblenz 1947?, S. 41 - 50; Piero Calamandrei , Istituzioni di diritto processuale civile secondo il nuovo codice, I, Padova 1943, S. 71. 22 Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 60: ... wird die Rechtsprechung ... nicht als Feststellung von Geltungen, sondern als Wahrheitsaussage behandelt. 21
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seiner Theorie setzt aber einen Normaltyp des denkfähigen Menschen voraus. Ohne diese Voraussetzung würde die neue logische Theorie nur ihm selbst verständlich sein. 23 Wenn man die ,Rechtsordnung' als einen Komplex von Rechtsnormen kennzeichnet, so liegt in diesem Begriffe der Ordnung schon eine Tendenz zur Objektivität. 24 Ein Komplex von abstrakt formulierten Handlungsschemen (Massenlenkung), der von den Mitgliedern einer Menschengesellschaft als verpflichtend erlebt wird, steht über der Subjektivität der einzelnen Individuen. Bei der Anwendung dieses Normenkomplexes werden aus den konkreten Lebensfällen nur einige wenige, schematisierte Züge als juristisch relevant in Betracht gezogen. Der individuelle Mensch verschwindet hier hinter einem Netz von Schemen.25 Er kann nicht beanspruchen, daß man seine individuelle Persönlichkeit in einem größeren Ausmaße berücksichtigt, als dies von der Rechtsordnung geschehen ist. In der jetzigen abendländischen Kulturepoche, wo die altehrwürdigen religiös-metaphysischen Werte nicht mehr die Träger der Kultur sind, scheint die Objektivität einer von den wenigen noch lebendigen Werten zu sein. 26 Dies dürfte auch damit zusammenhängen, daß eine objektiv-wissenschaftliche Einstellung seit der Renaissance immer mehr an Boden gewonnen hat und daß ihre Auswirkungen sich sogar auf dem sozialen Gebiete allmählich, trotz starker Widerstände, ankündigen. Hier stehen wir vor einem Grundzug unserer abendländischen Kulturauffassung, der in einem scharfen Gegensatze zur marxistischen Metaphysik steht. Die marxistischen Metaphysiker, die ihrer Meinung nach die ,einzige richtige' Gesellschaftstheorie vertreten, haben allerdings die Wörter ,Objektivität', ,objektiv' in ihrem Vokabular beibehalten, geben ihnen aber eine völlig neue Bedeutung, die im Gegensatz zur abendländischen Auffassung steht. Ein Wissenschaftler und ein Staatsbürger ist nach dem marxistischen Vokabular ,objektiv', wenn er vorbehaltlos ,die wahren Interessen des Proletariats' vertritt, d.h. sich der geistigen Führung der kommunistischen Partei in allen vitalen Gesellschaftsfragen unterwirft. 27 23 G. H. von Wright, Deontic Logic, in: Mind, january 1951, S. 14, nachdem er sechs laws on commitment angeführt hat, äußert: The truth of all these laws follows from our intuitive notions of obligation and permission. Not all of the laws themselves, however, are intuitively obvious. 24 Luis Recaséns Siches im Sammelwerk: Latin-American Legal Philosophy, Cambridge/Mass. 1948, S. 42 - 50; B. A. Wortley, Keeping the Peace, in: The Law Quarterly Review 63 (1947); Wurzel, Das juristische Denken, S. 98f. 25 Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 115, äußert über die Lehre, daß das richterliche Urteil eine Subsumtion sei: Es stellt sich jetzt heraus, daß diese Lehre lediglich darauf beruhte, daß Rechtsprechung wie Theorie das geistige Reich der Rechtsbegriffe zur Grundlage hatten ... 26 Über die Objektivität Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 99 105; Carlos Cossio, El derecho en el derecho judicial, S. 153-; ders., Panorama de la teoria egológica del derecho, S. 92-.
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Wir haben den Unterschied zwischen einer abendländischen und einer marxistischen Auffassung der Objektivität hervorgehoben, um klarzumachen, daß die Objektivität nicht eine überzeitliche Selbstverständlichkeit ist. Christliche Denker heben gerne hervor, daß die Anerkennung von Objektivität und Menschenwürde auf einer christlichen Grundlage beruhe. Hierin mag viel Wahres liegen. Man kann sich aber fragen, ob nicht eine von religiös-metaphysischen Affekten ungestörte wissenschaftliche Objektivität eine Besonderheit der nachchristlichen Kulturepoche ist, in der die christliche Kulturgrundlage noch vorhanden ist, der christliche Glaube aber nicht mehr die Kraft hat, den Staatsapparat zu Verfolgungen von Irrlehrigen zu bewegen. Wie stehen die deduktiven Zusammenhänge des juristischen Denkens und die früher erwähnten konstanten Züge dieses Denkens zueinander? Die Deduktion fällt in das Gebiet der Logik, das Schematisieren, die Zweckbetrachtung und die Ganzheitsschau in das Gebiet der Psychologie. Die Deduktion wird aus dem Ergebnis eines schon abgelaufenen juristischen Denkprozesses herausgeschält. Der Denkende hat hierbei gewußt, daß eine solche logische Nachkontrolle stattfinden wird. Das Schematisieren, die Zweckbetrachtung und die Ganzheitsschau sind dagegen Eigenschaften des aktuellen juristischen Denkprozesses. Die juristische Deduktion steht in einem Zusammenhange mit der sozialen Gesamsituation.28 In einem liberalen Rechtsstaate wird das größte Gewicht 27
F. L Kosewnikow, Lenin und Stalin über die bolschewistische Parteilichkeit in der Wissenschaft, auf Russisch, in: Sowetskoje gasudarstvo i prawo 1950/6/S. 1-10, die Zeitschrift wird herausgegeben vom Rechtsinstitut der sowjetrussischen Wissenschaftsakademie und vom rechtswissenschaftlichen Institut des Justizministeriums; A. W. Wostrikow, Lenin und Stalin im Kampfe für die Parteilichkeit der marxistischen Philosophie, auf Russisch, Moskau 1948; Α. M. Pankratova, Die ideologisch-politische Erziehung durch den Geschichtsunterricht in der Schule, auf Russisch, im Sammelwerk: Ideino-polititseskoje wospitanie na urokah istorii, Moskau 1948, herausgegeben von der Akademie Pädagogischer Wissenschaften der UdSSR. - Als Quellensammlung besonders ergiebig die vom Philosophischen Institut der sowjetrussischen Wissenschaftsakademie herausgegebene Zeitschrift „Fragen der Philosophie" (Vaprosi filosofii). In der Zeitschrift kommt eine permanente Abteilung vor unter dem Titel „Gegen die Philosophie der bürgerlichen Reaktion". Von größeren Artikeln heben wir hervor: M. A. Leonov, Der revolutionär-kritische Geist der marxistisch-leninistischen Wissenschaft, sowie G. F. Aleksandrov, Entstehung des Marxismus - große revolutionäre Umwälzung in der Philosophie, beide in 1948/1. 28 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 468 - 482: „Je mehr der Herrschaftsapparat der Fürsten und Hierarchen ein rationaler, durch ,Beamte' vermittelter war, desto mehr richtete sich auch ihr Einfluß ... darauf, der Rechtspflege nach Inhalt und Form rationalen ... Charakter zu verleihen ..." (S. 468). - Selbstverständlich spielt hierbei auch die im Staate herrschende Wirtschaftsordnung eine entscheidende Rolle: „... indem der spezifische Rechtsformalismus den Rechtsapparat wie eine technisch rationale Maschine funktionieren läßt, gewährt er den einzelnen Rechtsinteressenten das relative Maximum an Spielraum für seine Bewegungsfreiheit und insbesondere für die rationale Berechnung der rechtlichen Folgen und Chancen seines Zweckhandelns" (S. 469). - Für die Gütermarktsinteressenten bedeutet die Rationalisierung und Systematisierung des Rechts zunehmende Berechenbarkeit des Funktionierens der
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darauf gelegt, daß die Staatsbürger gegen Mißbräuche der Staatsgewalt geschützt sind. 29 Eine so offensichtlich unrichtige Theorie wie diejenige, daß ein richterliches Urteil ein Syllogismus sei, wäre wohl kaum entstanden und hätte sich jedenfalls nicht so lange und zäh behauptet, wenn sie nicht der Ausfluß einer liberalen Rechtsideologie gewesen wäre. Eine Kritik der Syllogismustheorie wird hier als etwas Gemeinschädliches, etwas, was die Rechtssicherheit der Staatsbürger gefährdet, abgelehnt. Daß außerhalb des anglo-amerikanischen Kulturkreises die Rechtsprechung und dadurch das gesamte juristische Denken an obrigkeitlich formulierte, abstrakte, und sprachlich genau fixierte Rechtsnormen deduktiv gekettet ist, dürfte wohl auch geschichtlich mit dem Staatsabsolutismus zusammenhängen. Die ursprünglich staatsabsolutistisch bedingte deduktive Bindung an einen obrigkeitlich fixierten Normenkomplex ist aber zu einem Schutze der staatsbürgerlichen Freiheit umgedeutet worden. 30 Es ist offenbar, daß die Bedeutung der juristischen Deduktion durch die Entstehung eines besonderen, an Hochschulen ausgebildeten Juristenstandes zugenommen hat. Wenn man sich in das mittelalterliche rechtliche Denken vor dieser Epoche vorurteilslos zu vertiefen sucht, so hat man dabei das Gefühl, daß hier wesentlich ein Denken in Bildern und nicht in deduktiven Zusammenhängen vorlag. 31 Das Recht wurde als eine Abfolge von plastisch geschauten Situationen erlebt. Nur in dieser Weise konnte die Tradition von Generation zu Generation lebendig übermittelt werden. Auch in den schriftRechtspflege: eine der wichtigsten Vorbedingungen für ökonomische Dauerbetriebe, speziell solche kapitalistischer Art, welche ja der juristischen »Verkehrssicherheit' bedürfen" (S. 505). 29 Max Rheinstein, in: The University of Chicago Law Review 18 (2) 1951, S. 409, behauptet sogar - und wie uns scheint, nicht ohne allen Grund - daß in Rechtsgemeinschaften, wo gesatztes Recht vorherrscht, selbst in Lückenfällen die Entscheidung nicht ohne Logik oder Syllogismus gefunden werden kann. „The judge creates the major premise under which he subsumes the case, but in creating it he applies other syllogisms, deriving from other existing rules the principles or rules of a higher order from which he derives the rule of the new case. His office binds him to apply this process, simply because the community will not tolerate judicial arbitrariness". - Zu vergleichen Otto Brusiin , Das richterliche Ermessen in Lückenfällen, auf Finnisch, mit einer deutschen Zusammenfassung, Helsinki 1938, S. 258-. 30 Über die juristische Deduktion Cesare Beccaria , Dei delitti e delle pene, § IV: In ogni delitto si deve fare dal giudice un sillogismo perfetto, Ausgabe von Piero Calamandrei, Firenze 1950, S. 174. Zu vergleichen die kritische Fußnote Calamandreis an dieser Stelle. Kulturhistorisch ergiebig seine Einleitung, S. 17 - 139; Jan-Magnus Jansson, Hans Kelsens statsteori, S. 29-, 46 - 47, 238; E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 205 245 (die staatliche Rechtsauffassung). 31 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 462: Formal war das empirische Rechtsbücherrecht des Mittelalters ziemlich entwickelt, systematisch und kasuistisch aber von geringer Rationalität, wenig an abstrakter Sinndeutung und Rechtslogik und statt dessen stark an anschaulichen Unterscheidungsmitteln orientiert. - Zu vergleichen Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Leipzig 1929 - 1932, S. 1190-, 1224, 1254; Hans Dölle, Vom Stil der Rechtssprache, Tübingen 1949, S. 21 - 23.
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liehen Aufzeichnungen, die ja nur eine blasse Ahnung vom Denkprozesse geben, kommt das Bildhafte zum Vorschein. 32 Bevor wir einige geschichtliche Betrachtungen über die Methode der Jurisprudenz machen, wollen wir auf eine Tatsache hinweisen, die sehr oft nicht genügend beachtet wird. Es muß eine klare prinzipielle Scheidung zwischen dem juristischen Denken, d.h. dem Denken des praktischen Juristen bei der Rechtshandhabung, und dem Denken der Jurisprudenz, d.h. der wissenschaftlichen Erforschung des positiven Rechts, gemacht werden. 33 Hier besteht allerdings ein notwendiger pädagogischer Zusammenhang: der Stand der praktischen Juristen wird erst durch die Lehrtätigkeit der Rechtsforscher geschaffen. Die Denkziele des praktischen Juristen und diejenigen des Rechtsforschers und -lehrers sind aber gänzlich verschieden. Darum haben wir in dieser Studie das Denken innerhalb der Jurisprudenz nicht unter dem Sammelnamen juristisches Denken' gebracht. Macht man diese prinzipielle Unterscheidung nicht, so kann man u.a. zu solchen sonderbaren Konsequenzen kommen, daß die Rechtsnormen Urteile seien. Wenn die Rechtswissenschaft den Inhalt von Rechtsnormen systematisch darstellt, so muß jene Darstellung selbstverständlich in der logischen Form von Urteilen geschehen. Dies bedeutet aber nicht, daß auch die Rechtsnormen Urteile seien. Aufgrund dieser irrigen Meinung hat man in der Theorie die weitgehendsten Folgerungen gezogen. Man könnte gegen uns einwenden, daß dem Worte ,Urteil' sehr wohl eine so erweiterte Bedeutung gegeben werden kann, daß darunter auch Rechtsnormen fallen. Uns scheint es aber, dies würde vom Standpunkte eines 32
Belege könnten hier beliebig gegeben werden. Z.B.: Germanenrechte, Band 2: die Gesetze des Karolingerreiches, I, Weimar 1934. - Das viel erörterte Phänomen ,Humor im Recht' würde bei der modernen juristischen Denktechnik unvorstellbar sein. Kulturpsychologisch kann man feststellen, daß manche Regelungen des mittelalterlichen Rechts, die gar nicht als komisch beabsichtigt worden sind, beim heutigen Leser eine solche Reaktion hervorrufen. Denken wir z.B. an die Kasuistik der Schweinediebstähle in Lex Salica (2). Daneben gab es aber im alten Rechte Formulierungen, die als spaßhaft beabsichtigt waren. So z.B. im Anhängsel zum Älteren Westgötalag, wo der Fall abgehandelt wird, daß ein umherfahrender Spielmann verwundet worden ist. Man sollte dann ein Kalb nehmen, die Haare an seinem Schwänze abrasieren und den Schwanz danach mit Fett einschmieren. Der Spielmann zog mit Fett bestrichene Schuhe an und faßte das Kalb am Schwanz. Dann wurde das Kalb mit einem scharfen Knüppel geschlagen. Wenn der Spielmann seinen Griff halten konnte „dann mag er die gute Kreatur bekommen und es genießen wie der Hund Gras frißt". - Es ist offenbar, daß hier eine Volksbelustigung ersten Ranges vorlag. 33 Diese Unterscheidung findet man z.B. nicht bei F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, S. 266, 296. Walther Burckhardt, Methode und System des Rechts, S. 16, behauptet sogar ausdrücklich: „Die Aufgabe der Wissenschaft kann auch nicht getrennt werden von der Praxis, d.h. von der Aufgabe derjenigen, die das Recht setzen und anwenden; also in praktischer Arbeit begriffen sind." Das Buch Burckhardts gibt vor allem eine Methodik des rechtstheoretischen, weniger des praktisch-juristischen Denkens. Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 56, äußert über die Rechtswissenschaft: „Sie ist ihrem Wesen nach Rechtsprechung ..." Zu vergleichen Osvi Lahtinen, M.. Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Geistestätigkeit. 15 Brusiin
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klaren wissenschaftlichen Sprachgebrauches höchst unzweckmäßig sein. 34 Der obige Gedanke wird oft so formuliert, der ,Rechtssatz' sei ein Urteil. Hier wird durch den unklaren Terminus ,Rechtssatz'35, der sowohl die Rechtsnorm als auch ihre sprachliche Formulierung oder beide bedeuten kann, die Suggestion ,Urteil' erleichtert. 36 Obgleich wir eine prinzipielle Scheidung zwischen juristischem und rechtswissenschaftlichem Denken machen, so betonen wir: die Einheitlichkeit des juristischen Denkens nicht nur innerhalb eines bestimmten Staates, sondern auch darüber hinaus, kann nur durch eine Zurückführung auf die einheitliche Schulungsgrundlage, die Jurisprudenz, erklärt werden. Die Aufgabe der Jurisprudenz wird von ihren Vertretern oft so aufgefaßt, daß es sich hier nur um eine systematische wissenschaftsähnliche Auslegung des positiven Rechts handle. Diese Auffassung - der sich früher auch der Verfasser angeschlossen hat - scheint eine allzu enge zu sein. 37 Man darf nicht vergessen, daß die Jurisprudenz die Grundlage unserer gesamten kontinentalen Rechtskultur bildet. 34 Zu vergleichen B. E. King, Propositions about Law, in: The Cambridge Law Journal 11 (1) 1951. Werner Goldschmidt, Commentarios acerca de la sistemàtica cossiana de la filosofia juridica, Universidad Nacional de Cordoba, Argentina, Boletin de la Facultad de Derecho y Ciencias Sociales, Ano IX, 1945, S. 395 - 399. 35 Klar bei E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 127: Unter Rechtssatz ist eine in Worte gefaßte, für den Richter verbindliche Rechtsnorm zu verstehen. 36 Hans Kelsen, in dessen Theorie die Lehre, daß der Rechtssatz ein hypothetisches Urteil sei, früher einen Eckpfeiler bildete, Reine Rechtslehre, S. 22, hat später diesen Standpunkt aufgegeben. In „General Theory of Law and State", S. 45, äußert er: These statements, by means of which the science of law represents law, must not be confused with the norms created by the lawmaking authorities. It is preferable not to call these statements norms but legal rules. — The rule of law, the term used in a descriptive sense, is a hypothetical judgment attaching certain consequences to certain conditions. - In Rudolf Stammlers „Theorie der Rechtswissenschaft" spielt das Postulat, daß das juristische Denken ein wissenschaftliches Denken sei, eine verhängnisvolle Rolle (S. 167, 168, 176, 209, 217, 251). Aus diesem falschen Postulate werden nämlich die allerbedeutendsten Folgerungen gezogen. Wenn Stammler, dem Titel seines Werkes gemäß, sich darauf beschränkt hätte, das Denken in der Rechtswissenschaft, der Jurisprudenz, klarzulegen, wäre nichts einzuwenden. Er gleitet aber fortwährend zwischen dem rechtswissenschaftlichen Denken und einem weiter gefaßten juristischen Denken hin und her. So z.B. S. 161: „Juristisch denken heißt: einen Willensinhalt in seiner Eigenschaft als rechtliches Wollen einsehen." - Auch nach Carlos Cossio ist der Rechtssatz ein Urteil, zwar kein hypothetisches, aber ein disjunktives, Norm, Recht und Philosophie, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht I (4) 1948, S. 376. Hiermit hängt wohl die Behauptung Cossios zusammen, daß die Tätigkeit des Richters und des Gesetzgebers wissenschaftlicher Art seien: ... la resistencia del intelectualismo juridico para ver conocimiento cientifico en la tarea judicial ο legislativa (Ciencia del derecho y sociologia juridica, S. 71 - 72); El derecho en el derecho judicial, S. 49: ... el jurista, corno cualquier cientifico ... 37 Zu eng auch E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 259. Er spricht von einer „ewigen Aufgabe der Jurisprudenz, den Richter jederzeit mit den Rechtssätzen zu versehen, die der Rechtspflege Rückhalt gestatten, deren er bedarf, um der Bewegung der Gesellschaft folgen zu können". So auch S. 278. - Über die Begriffsbildung in der Prozeßrechtswissenschaft Tauno Tirkkonen, Suomen rikosprosessioikeus, I, Vammala 1948, S. 17 f.
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Durch die rechtswissenschaftliche und rechtspädagogische Arbeit wird die große Tradition lebendig erhalten und weitergeführt. Es ist lebhaft zu wünschen, daß möglichst viele unter den Vertretern der rechtswissenschaftlichen Spezialfächer die Größe ihres Berufes als eine Verpflichtung erleben. Eine solche persönliche Einstellung ist ja die unerläßliche Bedingung für eine lebenskräftige nationale und internationale Rechtskultur. 38 Daß der Jurisprudenz eine große übernationale Aufgabe im Dienste der Rechtskultur zukommt, ist schon aus ihren zahlreichen überpositiven Denkelementen ersichtlich. 39 Wenn die Jurisprudenz nichts weiter wäre als eine systematische Auslegung des positiven Rechts, so dürften jene Denkelemente schwer zu erklären sein. Nicht nur in den allgemeinen Lehren - ζ. B. des Zivil-, Straf- und öffentlichen Rechts - sondern auf ihrem gesamten Gebiete ist die Jurisprudenz von solchen, das gemeinsame abendländische Rechtserbe symbolisierenden Denkelementen durchsetzt. 40 38 Über die Eigenart und die Aufgaben der Rechtswissenschaft Tauno Ellilä, Oikeustieteen ja oikeuskäytännön keskinäisestä kosketuksesta ja yhteensovittamisesta, in: Defensor Legis 1950/7 - 9; Oikeusalan yliopisto-opetuksen merkityksestä oikeustieteen ja oikeuskäytännön yhteensovittamisessa (Rikos-oikeudellisia kirjoitelmia, II, Bruno A. Salmialalle 24.8.1950 omistanut Heisingin Yliopiston Lainopillisen Tiedekunnan Rikosoikeudellinen Seminaari, Vammala, 1950); Osvi Lahtinen, M., Einteilung der rechtlichen Forschung; Otto Brusiin, Über die Objektivität der Rechtsprechung, Helsinki 1949, S. 77 - 87; Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?; Per Olof Ekelöf, Är den juridiska doktrinen en teknik eller en vetenskap?, Lund 1951; Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 82-, hebt energisch hervor, daß sich die Rechtswissenschaft nicht auf eine Auslegung und Systematisierung des geltenden Rechts beschränken soll, denn ebenso bedeutungsvoll ist ein auf empirisch-experimenteller Grundlage vorgenommener Aufbau des zu schaffenden Rechts. „In der Wissenschaft können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht voneinander getrennt werden" (S. 84); Frede Castberg, Rettsfilosofiske grunnsp0rsmâl, S. 10 - 17; Per Augdahl, Forelesninger over rettskilder, Oslo 1949?, S. 12-; Knud Illum, Lov og ret, Kopenhagen 1945, S. 150 - 174; Carl Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenchaft, Tübingen 1950, S. 7 - 14, 29 32; Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft; Walther Burckhardt, Methode und System des Rechts, S. 254-; Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. 836 - 891; Karl Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin 1935, S. 168 - 173. 39 E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 259, klagt bitterlich, die Begriffsjurisprudenz habe „irgendwo in luftiger Höhe aus den Rechtssätzen ein Riesennetz von Begriffen genetzt, das sich auf die Menschheit herabläßt, um in seinen bald weitern bald engern Maschen alles Geschehen hienieden restlos einzufangen." Über den kulturphilosophischen Hintergrund der mittelalterlichen Jurisprudenz Francesco Calasso, Introduzione al diritto comune, S. 183 - 205 (umanesimo giuridico). Über die Verbreitung des römischrechtlichen Gedankengutes S. 305 - 340. Die europäische Einheit auf dem Gebiete des juristischen Denkens Francesco Calasso, I glossatori e la teoria della sovranità, Milano 1951, S. 14- 16. 40 Sogar in den marxistischen Kulturkreis sind jene Denkelemente eingedrungen, wo sie dann als „Formalismus" heftig bekämpft werden. Α. A. Karin, Bedeutung eines marxistisch-leninistischen Kurses bei der rechtswissenschaftlichen Schulung, auf Russisch, in: Sowetskoje gasudarstwo i prawo 1950 (XI), S. 41, schlägt vor, man müsse eine systematische dauernde Kontrolle über den Ideengehalt juristischer Universitätsvorlesungen und Seminarienübungen einführen. F. /. Koschewnikow, Lenin und Stalin über die
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Die Jurisprudenz im modernen Sinne ist aus der sozialen und geistigen Gesamtsituation des Hochmittelalters entstanden. 41 Man stelle sich die Lage nicht so vor, daß hier nur die antike römische jurisprudentia wiederentdeckt und weitergeführt wurde. Dies wäre ja kulturgeschichtlich eine Unmöglichkeit gewesen. Das Hochmittelalter fühlte ein starkes Interesse für logische Fragestellungen. Daß jene logischen Analysen in eine theologisch gefärbte Scholastik eingebettet waren, ändert an der grundlegenden Tatsache nichts. 42 Nachdem das abendländische Denken auf dem Gebiete der Logik in den letzten Jahrzehnten einen gewaltigen Aufschwung genommen hat, hat sich uns die geistige Gesamtsituation des Mittelalters in einer neuen Weise erschlossen. Kulturgeschichtlich ist es wohl verständlich, daß die dem Mittelalter unmittelbar folgenden Jahrhunderte von einer starken geistigen Opposition zum mittelalterlichen katholischen und theozentrischen Weltbild getragen waren. Die Scholastik erschien als etwas Fremdes und Abwegiges, ein leeres Spiel mit logischen Distinktionen. Es ist bezeichnend, daß mit dem Worte ,scholastisch' jedenfalls in der protestantischen Kulturwelt ein negativer Gefühlston verbunden ist. 43 bolschewistische Parteilichkeit in der Wissenschaft, auf Russisch, in: Sowetskoje gasudarstwo i prawo 1950 (6), S. 10, hebt hervor, daß jede rechtswissenschaftliche Arbeit, jede Dissertation, jede Unterweisung einer juristischen Disziplin von Anfang bis zu Ende von einer bolschewistischen Parteilichkeit durchdrungen sein muß. S. V. Pavlov, Für eine kämpferische schaffende Arbeit auf dem Gebiete der sowjetischen Rechtswissenschaft, auf Russisch, in: Bulletin der sowjetrussischen Wissenschaftsakademie, Abteilung für Wirtschaft und Recht 1950 (5). Pavlov richtet gegen das Rechtsinstitut der Wissenschaftsakademie eine vernichtende Kritik und findet die Hauptursache zu den Mißständen darin, daß im Institute eine bolschewistische Kritik und Selbstkritik gefehlt hat (S. 343). Er weist in diesem Zusammenhang auf einen Ausspruch Stalins hin, wonach „keine Wissenschaft sich entwickeln und gedeihen kann, ohne Kampf der Meinungen, ohne Freiheit der Kritik (bjes swabodi kritiki)" {Stalin, Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft, auf Russisch, Moskau 1950, S. 64). 41 Über diese Gesamtsituation Erich Genzmer, Kritische Studien zur Mediaevistik, I, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., 61. Band (1941), S. 297 - 301; Francesco Calasso, Introduzione al diritto comune, S. 142-, 178-; Martin Grabmann, Mittelalterliches Geistesleben, I, München 1926, S. 109 - 110, 143 - 144; Emil Seckel, Die Anfänge der europäischen Jurisprudenz im 11. und 12. Jahrhundert, in: Zeitschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., 45. Band (1925), S. 391 - 394; Georg Kaufmann, Die Geschichte der deutschen Universitäten, I, Stuttgart 1888, S. 18 - 22, 75 - 80. 42 Erich Genzmer, Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, S. 37: Anders als bei den Kirchenvätern wird schon in der Frühscholastik (11. - 12. Jahrhundert) die Philosophie als eine von der Theologie verschiedene Wissenschaft anerkannt. Aber die Harmonie beider Erkenntnisweisen wird dabei vorausgesetzt. Die überlieferten Glaubenslehren sind unantastbar. Das Programm der Scholastik geht dahin, die Kirchenlehren als vernünftig und haltbar zu erweisen im Zusammenhang einer einheitlichen Weltanschauung. - Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, I - II, Freiburg i. B. 1909 - 1911. „Die scholastische Methode will durch Anwendung der Vernunft, der Philosophie auf die Offenbarungswahrheiten möglichste Einsicht in den Glaubensinhalt gewinnen, um so die übernatürliche Wahrheit dem denkenden Menschengeiste inhaltlich näher zu bringen" (I, S. 36).
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Die kulturgeschichtliche Gesamtsituation hat sich aber auch in den protestantischen Ländern allmählich geändert. Die Reformation, die wohl als eine im Gesamtrahmen der Renaissance erfolgte Auflehnung des Menschen gegen die Autorität gedeutet werden kann 44 , löste alte traditionale Bindungen auf, und die hier einsetzende geschichtliche Entwicklung hat allmählich zu einer immer stärkeren Säkularisierung geführt. Für große Menschenmassen bedeutet das Christentum heutzutage nur ein Rudiment, das in Festreden und an nationalen Feiertagen rhetorisch hervorgezogen wird. Das politische und kulturelle Leben wird nicht mehr vom Geiste des Christentums getragen: der Glaube ist tot. 4 5 Die weltgeschichtliche Gesamtsituation hat sich zugleich in einen schauerlichen alphaften Schreckenstraum verwandelt. Die Menschheit wird hilflos aus einer blutigen Katastrophe in die andere geworfen. Ist es ein Wunder, wenn sich die Blicke auf das Mittelalter richten, jene Epoche, wo die Grundlagen der abendländischen Kultur geschaffen wurden? Wenn Naturwissenschaftler den Vertretern der Jurisprudenz vorwerfen, ihre Methode sei scholastisch und unwissenschaftlich, so ist dieser Vorwurf ideengeschichtlich verständlich, scheint aber schon einer vergangenen Epoche anzugehören. 46 In unserem Zeitalter, wo wieder ein starkes Interesse für logische Probleme vorhanden ist, kann es wohl nicht der Jurisprudenz als ein Fehler angerechnet werden, wenn sie sich von Anfang an auf ein logisches Analysieren des dargebotenen Rechtsmateriales konzentriert hat. 47 Wir gestehen wil43 Erich Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 163: Die vorübergehende Niederlage z.B., welche die Scholastik am Ende des Mittelalters durch den Humanismus erfuhr, beruhte nicht auf sachlichen Widerlegungen der hochdifferenzierten begrifflichen Erkenntnisse, sondern auf einer Abwendung des Interesses von Themen, welche gleichgültig wurden und dadurch sich verdunkelten. 44 Karl Adam, Das Wesen des Katholizismus, Düsseldorf 1946, S. 47: Der mit der Renaissance einsetzende Individualismus der abendländischen Seele,... - Eine beredte Verteidigung des Autoritätsprinzips bei Jaime Balmes, El protestantismo comparado con el catolicismo, Obras complétas IV, Madrid 1949, S. 47-, 55-. Balmes hebt hervor, daß das schwache menschliche Fassungsvermögen „einer Stütze und Leitung" bedürfe (S. 52). Jacques Maritain, Trois réformateurs, Paris 1925, S. 17 - 19, 26 - 27. 45 José Ortegay Gasset, Obras complétas, VI, Madrid 1947, S. 17: lebendiger Glaube der das menschliche Leben trägt, im Gegensatz zum formell festgehaltenen, kraftlosen, toten Glauben. „... creemos en algo con fe viva cuando esa creencia nos basta para vivir, y creemos en algo con fe muerta, con fe inerte, cuando, sin haberla abandonado, estando en ella todavia, no actuâ eficazmente en nuestra vida." 46 Die pathetisch ablehnende Einstellung Alfred Bozis, Die Weltanschauung der Jurisprudenz, Hannover 1907, den scholastischen' Elementen der Jurisprudenz gegenüber mutet heute antiquarisch an. Z.B. S. 81 - 84, 126 - 129. - Nach E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 388, hat Bozi den Einfluß der Scholastik auf die Glossatoren „in höchst dankenswerter Weise ausgeführt". 47 Heinrich Scholz, Was ist Philosophie?, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 33 (1940), S. 41, Note: „... die juristische Fachsprache vor anderen als eine Sprache angesehen werden kann, die eine der ersten Stationen darstellt auf dem Wege zu einer Leibnizsprache. Hier ist in jahrhundertelanger Arbeit aus der natürlichen Sprache eine Kunstsprache mit einer eigenen Syntax herauskristallisiert worden. - Der Laie
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lig, daß innerhalb der Jurisprudenz vom Hochmittelalter bis zum heutigen Tag eine ungebrochene Tradition besteht. Aus diesem Grunde kann man die Denkmethode der modernen Jurisprudenz nur gegen einen kulturgeschichtlichen Hintergrund verstehen. 48 Vergleicht man die Denkmethode der hochmittelalterlichen Jurisprudenz mit derjenigen der römischen jurisprudentia, so fällt ein Unterschied besonders auf: die mittelalterliche Jurisprudenz interessierte sich für die logischen Probleme an sich und für das damit zusammenhängende Systematisieren. Wenn man sich in den Gedankengang gelehrter mittelalterlicher Juristen vertieft, so fühlt man, daß ihnen eben jene logischen Probleme das Wesentliche waren. 49 Damit wollen wir nicht behaupten, der römischen jurisprudentia seien logische Denkelemente fremd gewesen. Jene Elemente, die von der antiken römischen jurisprudentia virtuosenhaft gehandhabt wurden, standen aber bei den römischen Juristen der klassischen Periode nicht im Mittelpunkte des Interesses. 50 Erst das Hochmittelalter hob das Logische an sich endgültig zum Range eines zentralen Problèmes, und so wurde die Jurisprudenz als Wissenschaft im modernen Sinne begründet. 51 pflegt in diesem Falle von einer eigenen Logik zu sprechen. Dies ist die viel diskutierte juristische Logik." 48 Wir möchten in dieser Hinsicht vor allem auf die Studien Erich Genzmers hinweisen. Z.B.: Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, Vorbilder für die Distinctionen der Glossatoren, Rom 1935,1 glossatori, Estratto dall'Archivio Giuridico CXIX (2) 1938, Kritische Studien zur Mediaevistik, I, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., 61. Band (1941). - Professor Dr. Genzmer hatte die große Freundlichkeit, dem Verfasser einige dieser schwer erhältlichen Studien zur Verfügung zu stellen. - Aus der reichen Literatur möchten wir noch auf folgende Werke hinweisen: Hermann Kantorowicz und W. W. Buckland, Studies in the Glossators of the Roman Law, Cambridge 1938, Woldemar Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, Leizig 1938. 49 Z.B. die ,summulae' von Bulgarus in Kantorowicz I Buckland, Studies in the Glossators of the Roman Law, S. 241 - 246. Die zerstreuten Stellen des Corpus Juris sind hier zu einem systematischen Ganzen zusammengeschmolzen, was aus den Fußnoten Bucklands überzeugend hervorgeht. Erich Genzmer, Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, S. 46: Die Glossen sind die Keimzellen nicht nur der mittelalterlichen, sondern auch der modernen Rechtswissenschaft. - Fitting, Über neue Beiträge zur Geschichte der Rechtswissenschaft im frühen Mittelalter, I, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., 7. Band (1886), S. 14 - 15 (Handwerk und Wissenschaft); Ernst Landsberg, in ders. Zeitschrift, 9. Band, Rom. Abt., 1888, S. 409-. 50 Fritz Schulz, History of Roman Legal Science, Oxford 1946, S. 32, stellt fest, daß schon in der archaischen Epoche der römischen jurisprudentia „a highly developed capacity for abstract generalization" vorlag „in spite of a complete absence of definitions, statements of abstract principles, and systematic arrangement" (S. 62 - 69, 129 137); Wolfgang Kunkel, Römische Rechtsgeschichte, Heidelberg 1948, S. 59 - 82; Vincenzo Arangio-Ruiz, Storia del diritto romano, Napoli 1950, S. 121 - 133, 270 - 304; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 462 - 467. 51 Erich Genzmer, Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, S. 47f.; ders., I glossatori, S. 3 - 4 . Genzmer hebt hervor, daß die grundlegende Rolle der Glossatoren in verschiedenen Zweigen der Rechtswissenschaft nicht gleich stark hervortritt:
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Es dürfte eine noch nicht endgültig klargelegte Frage sein, inwieweit die antike jurisprudentia auf die scholastische Methode eingewirkt hat. Wenn es einerseits feststeht, daß die Methode der mittelalterlichen Jurisprudenz nur im Zusammenhange mit der mittelalterlichen Philosophie verstanden werden kann, so ist es andererseits wahrscheinlich, daß die in der antiken jurisprudentia enthaltenen logischen Denkelemente bei der Ausbildung einer scholastischen Methode nicht ohne jeden Einfluß gewesen sind. 52 In diesem Jahrhundert wurde viel davon gesprochen, die Jurisprudenz mache heute eine Krise durch. A n die Stelle einer ,Begriffsjurisprudenz' sollte jetzt die lnteressenjurisprudenz' 53 , eine auf ,reale soziale Überlegungen' gestützte Jurisprudenz treten. Wenn man in Betracht zieht, daß sich die Methode der kontinentaleuropäischen Jurisprudenz seit dem Mittelalter ununterbrochen und einheitlich entwickelt hat, so kann man nicht die Möglichkeit ausschließen, daß diese Methode einer neuen Kulturepoche fremd weniger z.B. im Straf-, Staats- und Verwaltungsrecht sowie auf modernen Gebieten wie Arbeitsrecht (I glossatori). Es könnte wohl noch die moderne Prozeßrechtslehre hinzugefügt werden. Die allgemeinen Lehren des Staats- und Verwaltungsrechts enthalten aber eine Menge von Begriffen, deren Ursprung in der Privatrechtslehre zu suchen ist. Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, II, S. 47 äußert über „Tractatus quidam de philosophia et partibus eius", der eine neue Wissenschaftseinteilung enthält: „In dieser ... Wissenschaftseinteilung in Physik, Theologie und Rechtskunde ist vor allem die in früheren divisiones philosophiae nicht vorhandene Aufnahme der scientia legum in den Wissenschaftsorganismus und ihre Koordinierung mit Physik und Theologie als ein neues und singuläres Moment beachtenswert. Es dürfte bis jetzt in der philosophischen Einteilungsliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts kein zweites Beispiel einer derartigen Aufnahme der Jurisprudenz in die Systematik der Wissenschaften bekannt sein." - Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 492f. - Francesco Calasso, I glossatori e la teoria della sovranità, Milano 1951, S. 12 - 14. 52 Zu vergleichen Erich Genzmer, Vorbilder für die Distinctionen der Glossatoren, S. 5-; ders., Kritische Studien zur Mediaevistik, I, S. 302 - 305; ders., Die Justinianische Kodifikation und die Glossatoren, S. 38 - 40, 55 - 57, 72 - 74; ders., I glossatori, S. 8. - Woldemar Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, S. 20, 25, 42. „Die italienische Rechtswissenschaft ... war die erste Wissenschaft Italiens und Europas, die vollkommen auf sich selbst beruhte, ihre Entwicklung in sich selbst trug und keiner Begründung oder Ergänzung durch die Theologie und Philosophie der Kirchenväter oder der Scholastik bedurfte" (S. 20). - Ernst Landsberg in Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., 10. Band (1889), S. 156: ... zwischen Rechtswissenschaft und Scholastik allgemeinhin eine Parallelbewegung stattfindet. Francesco Calasso, Introduzione al diritto comune, S.189. 53 E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 310 - 313; Philipp Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1932, S. 159f.: Die Interessenkonflikte, mit denen sich die Rechtswissenschaft beschäftigt, werden ihr durch das Leben, zu dem insofern auch das geltende Recht gehört, also durch die Wirklichkeit zur Entscheidung aufgegeben, gegeben in unerschöpflicher Zahl und in größter Mannigfaltigkeit. Jede Entscheidung beruht auf Beobachtung ... das innere System der Interessenjurisprudenz nur durch eine deskriptive oder induktive, aber nicht durch eine analytische oder deduktive Klassifikation richtig wiedergegeben werden kann. Allerdings wäre es an sich möglich, daß besondere Darstellungsinteressen eine unrichtige Wiedergabe, eine Umformung in ein deduktives System rechtfertigen könnten.
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erscheint. 54 Unser Zeitalter wird von einem wirtschaftlichen Machtdenken beherrscht, das - wie schon erwähnt - sich seit der Renaissance mit einer unwiderstehlichen Kraft ausbreitete. Wissenschaft, Kunst, Religion - überhaupt alle Äußerungen eines geistigen Schaffens - sind allmählich zu bloßen Mitteln im wirtschaftlichen Machtkampfe her abgesunken. - Wie könnte sich ein solches Zeitalter mit einer Jurisprudenz begnügen, deren Methode einer ganz anderen geistigen Gesamtsituation entstammt? Für das Mittelalter waren die geistigen Gegebenheiten, einschließlich des Logischen, das Wesentliche. Für uns sind es die wirtschaftlichen Interessen. Sie sind für uns letzten Endes das ,Reale'. 55 Kein Wunder, daß auch die traditionale Jurisprudenz aufgefordert wird, sich dieser Grundeinstellung anzuschließen, daß ihre bisherige Methode als ,scholastisch' abgelehnt wird. 5 6 Es ist kulturgeschichtlich bemerkenswert, daß sich die Kritik gegen die traditionale Jurisprudenz und die traditionale Gesetzesauslegung ungefähr gleichzeitig in den verschiedensten Rechtsgemeinschaften erhob, und daß sie sich - wie zu erwarten war - überall im großen und ganzen siegreich durchsetzte. 57 54
Georges Gurvitch, Sociology of Law, S. 11; W. Friedmann, Legal Theory, S. 400 413; E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 286. - Über die gegenseitige Verbundenheit von Staatsphänomen und Staatsphilosophie J. J. von Schmid , Rechtsphilosophie, S. 78-. 55 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 506: ... Disparatheit logischer Eigengesetzlichkeiten jedes formalen Rechtsdenkens überhaupt gegenüber den auf ökonomischen Effekt abzweckenden und auf ökonomisch qualifizierte Erwartungen abgestellten Vereinbarungen und rechtlich relevanten Handlungen der Interessenten; W. Friedmann, Legal Theory, S. 203 - 217, stellt Ihering in den Gesamtrahmen des Utilitarismus, dieser typischen Philosophie einer wirtschaftlichen Kulturepoche; Edwin W. Patterson, Pound's Theory of Social Interests (im Sammelwerk: Interpretations of Modern Legal Philosophies, New York 1947) - Wenn Philipp Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 37, hervorhebt, daß keineswegs nur wirtschaftliche, sondern auch ,ideelle Interessen' von der Interessenjurisprudenz berücksichtigt werden, so ist der Begriff des Interesses an sich schon ein Ausfluß einer wirtschaftlich denkenden Kulturepoche. Der Begriff ,ideelles Interesse' bedeutet nichts anderes, als daß ursprünglich nichtwirtschaftlichen Phänomenen eine dem Wirtschaftsdenken entstammende Zwangsjacke angezogen wird. Es ist bezeichnend, daß Heck (ebd., S. 38) von „Lebensgütern" spricht. - Wenn Ihering im „Interesse" die tragende Grundlage des subjektiven Rechts sah, so war diese neue Einstellung - die uns jetzt als etwas Selbstverständliches erscheint - kulturhistorisch bedingt. Zu vergleichen Karl Larenz, Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens, Berlin 1938, S. 37 - 40. 56 Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 74f.: „Der Satz, daß Recht rechtliches Verhalten sei, ist nicht die herrschende Lehre. Für sie ist das Recht ausschließlich geistige Wirklichkeit, in letzter Linie Norm und Normengesamtheit. - Die heute in Rechtswissenschaft und Praxis vorherrschende Methode der Rechtsprechung geht auf die mittelalterlichen Juristen zurück." - Über die Methode der mittelalterlichen Juristen schreibt Jerusalem: „Diese aber teilte im wesentlichen die Eigentümlichkeit der scholastischen Methode. Die letztere kennzeichnete sich durch auctoritas und ratio." - S. 83: „... das geistige Reich der Juristen ein selbständiger Gegenstand der Rechtswissenschaft ist..." 57 O. Soln0rdal, Individ, stat og rett, S. 18 - 20; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 15: „Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis aus gesehen, gibt es nur Interessen und damit Interessenkonflikte ..." - Für unsere Zeit ist es bezeichnend, daß auch ein tief
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Wenn die kritischen Strömungen innerhalb der Jurisprudenz ein Ausfluß unserer sozialen Gesamtsituation sind, so ist ein Kampf gegen sie aussichtslos. Man kann sich aber fragen, ob hier nicht eine fruchtbare Synthese zustande gebracht werden könnte. 58 Durch die traditionale Methode der Jurisprudenz ist ein Ergebnis von großem bleibendem Werte erzielt worden: es wurden Denkformen ausgearbeitet, durch die das an sich unübersehbare immer mehr anschwellende Rechtsmaterial gesichtet und übersichtlich geordnet werden kann. 59 Wir behaupten nicht, jene Denkformen stünden ewig und unabänderlich da, eine neue soziale Gesamtsituation könne an ihnen nichts ändern. 60 Vorsicht ist aber vonnöten, bevor jene durch viele Juristengenerationen bewährten Denkformen verworfen werden. 61 Sie bilden eine Brücke zwischen der Jurisprudenz und der Gedankenwelt des praktisch tätigen Juristen. Aus theoretischen Gebilden sind sie zu Grundformen des praktischen juristischen Denkens geworden. 62 Es gibt wohl kaum einen praktischen Juristen, der ohne sie arbeiten wollte. 63 religiöser Rechtstheoretiker wie Francesco Carnelutti vom Interessenbegriff ausgeht: Teoria generale del diritto, S. 11; Walther Burckhardt , Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, S. 133: „Das Recht bewertet die menschlichen Interessen." 58 Vorbildlich T. M. Kivimäki, Tekijänoikeus (Autorrecht), Turku 1948. - Entwurf der Methode einer modernen Jurisprudenz bei Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 73 100. „Nachdem das mittelalterliche scholastische Denken, das eine logische Auslegung und Bearbeitung von Büchern (vor allem der Bibel und der Werke von Aristoteles) während der Renaissance durch eine auf Beobachtung und Experiment fußende Naturwissenschaft ... ersetzt wurde, ist die Wissenschaft in steigendem Grade realistisch geworden ... Aus der Naturwissenschaft hat sich die realistische oder erfahrungsmäßige Methode zu der Geisteswissenschaft verbreitet" (Übersetzung aus dem Dänischen). 59 Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 81: „Durch den Drang zur Form werden die Rechtsbegriffe, die die Grundlage der Rechtsprechung sind, immer präziser gedacht. Durch den Reduktionsprozeß, der sich an den Denkformen vollzieht, bilden sich immer neue Abstraktionsbegriffe aus ..." - Eine phantastisch anmutende Kritik des Systemgedankens: op. cit., S. 123 - 142. - Die kritischen Ausführungen Jerusalems gegen die ,Begriffsjurisprudenz' (S. 142 - 182) sind von großem Interesse, denn sie zeigen, daß hier so etwas wie eine Axiomatisierung der Rechtswissenschaft (im Sinne der modernen Logik) angestrebt wurde. Die praktische Aufgabe der Rechtswissenschaft und die Veränderlichkeit ihres Forschungsgegenstandes haben - leider diesen großzügigen Versuch zum Scheitern gebracht. Es kann aber gefragt werden, ob nicht die Theorie des Rechts - sofern sie überhaupt als eine streng theoretische Disziplin gelten will - möglichst weitgehend axiomatisiert werden sollte. Empirie und Axiomatisierung: eine fruchtbare Synthese. 60 E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 320f. 61 Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 48; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 457f., hat die Bedeutung einer wissenschaftlichen Rechtsschulung gut hervorgehoben. „... wo die Rechtspraktiker, speziell die Anwälte, als Träger der Rechtslehre und des zünftigen Monopols der Zulassung zur Rechtspraxis sich behaupten, pflegt für die Stabilisierung des offiziellen Rechts, die Fortbildung seiner Anwendung nur ausschließlich auf empirischem Wege und die Verhinderung seiner legislatorischen oder wissenschaftlichen Rationalisierung auch ein ökonomisches Moment sehr stark ins Gewicht zu fallen: ihr Sportelinteresse. Jeder Eingriff in die überkommenen Formen des Rechtsgangs ... bedroht deren materielle Interessen.
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Wenn wir jetzt auf jene Grundformen und Grundbegriffe des juristischen Denkens eingehen 64 , so erstreben wir weder eine Systematik 65 noch ver62
Eine fesselnde Forschungsaufgabe: die ins einzelne gehende Klarlegung der Korrelationen, die zwischen der Begriffsapparatur der Jurisprudenz und der Begriffsapparatur des praktischen Juristen besteht. Die wertvollen Beiträge von Philipp Heck in „Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz" würden wir eher als eine Aufforderung zu weiteren Forschungen als endgültige Lösungen auffassen. 63 Über juristische Grundbegriffe Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 175 - ; Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 152 - 263: eine kritische Durchmusterung der traditionellen Grundbegriffe; A. H. Campbell, Diritto internazionale e teoria generale del diritto, in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXVII (II) 1950, S. 199 - 211; Wilhelm Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 441 - 512; Rudolf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 4: Der Gegenstand der rechtsphilosophischen Untersuchung kann hiernach näher angegeben werden als das System der reinen Formen, in denen wir rechtlich denken; ders., Theorie der Rechtswissenschaft, S. 118: Die Grundbegriffe des Rechtes sind eben nichts, als einheitliche Methoden einer gewissen Art des Denkens, die wir die juristische nennen. Wir vermögen unter keinen Umständen sie uns anders klarzumachen, denn als gleichmäßige Weisen des Verfahrens, in denen der Begriff des Rechtes sich äußert. - Die Art, wie Stammler dann seine „einfachen", „zusammengezogenen" und „einreihenden" Grundbegriffe aus dem Begriffe des Rechts entwickelt, scheint uns phantastisch. - Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. 411: So gilt es, die in der Aufgabe der Zwangsgemeinschaft liegenden einzelnen Momente uns bewußt zu machen, ihren Sinn durch eine Analyse zu entfalten ... Die einzelnen in der Rechtsidee enthaltenen, wenngleich uns vorläufig nicht bewußten Momente nennen wir die Kategorien des Rechts ... - Bei Binder kommt eine Scheidung in Kategorien des Rechts und Grundbegriffe des Rechts vor (S. 436). Jene sind „diejenigen Momente, die unmittelbar aus der Idee des Rechts durch Besinnung auf ihren Gehalt gewonnen werden können". Und Binder fährt fort: „Auf dieser Grundlage ... gelangen wir nun weiter zu den Grundbegriffen des Rechts, die ihre Gültigkeit für uns dadurch erhalten, daß sie auf die genannten Grundaufgaben des Rechts zurückgeführt werden können." Wenn schon diese Einteilung in ,Kategorien' und ,Grundbegriffe' wenig überzeugt, so noch weniger die von Binder aufgestellte Tafel der Kategorien und der Grundbegriffe. Er gibt uns hier eine Reihe von kulturhistorisch bedeutungsvollen Substantivierungen verschiedener Verbalformen, woran er dann geistreiche kulturphilosophische Essays anknüpft. Wenn das Formale in der Kategorientafel Stammlers - allerdings in phantastischer Durchführung - alleinherrschend ist, so ist es bei Binder schwach vertreten. Daß die großen Klassiker der modernen deutschen Rechtsphilosophie, Stammler und Binder, für die juristischen Grundbegriffe keine befriedigende Lösung gefunden haben, ist ein Beweis für die Schwierigkeit dieses Problèmes. Giorgio Del Vecchio, Lezioni di Filosofia del diritto, S. 194 - , 253 - 255, 259 - 270; Luiz Legaz y Lacambra, La triple misión de la filosofia del derecho, S. 218 - ; Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, S. 228 - 278. 64 Eine ausgezeichnete philosophisch gehaltene Darstellung des Denkens in der Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis bei F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, S. 239 - 303; Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, S. 107 - 190; Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 161 - ; Aatos Alanen, Yleinen oikeustiede, S. 25 - 49; Oikeudellista ajattelua kehittävistä humanistisista aineista, Lakimies 1950; B. C. Carlson, Nâgra anmärkningar om rättsvetenskap och sociologi, in: Tidskrift, utgiven av Juridiska Föreningen i Finland 1924; Vinding Kruse, Retslaeren, I, S. 95 - 99; Frede Castberg, Rettsfilosofiske grunnsp0rsmâl, S. 77 - 124; Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, S. 182 - 275, 393 - 412. Anläßlich dieses Werkes Francesco Milani in: Rivista internazionale die Filosofia del diritto XXVII (I) 1950, S. 147 - 152.
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chen wir darzulegen, welche Grundformen und -begriffe gebraucht werden sollten. Wir betrachten nur einige Denkformen und Begriffe, die von den praktischen Juristen bei ihrer Arbeit tatsächlich verwendet werden. 66 Beispiele von Denkformen: ,wenn - so', ,gilt', ,ist verpflichtet', ,ist berechtigt', ,Klage erheben', ,beweisen', ,urteilen', ,ein Gesuch anbringen', ,entscheiden', ,vollstrecken'. - Beispiele von Begriffen: Rechtsordnung', ,Rechtsorgan', ,Rechtspflicht', subjektives Recht', ,Rechtsperson', Rechtsverhältnis', ,Rechtsobjekt', ,Handlungsvermögen', Rechtsgeschäft', Schadenersatz'. Den Unterschied zwischen einer Grundform und einem Grundbegriffe würden wir darin sehen, daß das juristische Denken in den Grundformen vor sich geht und sich dabei der Grundbegriffe als Denkelemente bedient. Man kann im juristischen Denken eine Tendenz zur Substantivierung feststellen: es werden Begriffe wie ,Geltung', ,Pflicht', subjektives Recht', ,Klage', ,Beweis', ,Urteil' gebildet. Durch solche Worte kann man auch die Grundformen des juristischen Denkens bezeichnen, und es fragt sich, ob das Denkschema der althergebrachten aristotelischen Logik (Subjekt-Prädikat) hier eingewirkt hat: Relationen werden in dieses Schema eingepreßt. 67 Werden die Grundbegriffe im Denkprozesse des praktischen Juristen von ihm erkannt? Falls es sich um Substantivierungen von grundlegenden Denkformen handelt, dürfte eine verneinende Antwort recht oft am Platze sein. Auch die Denkformen, als deren nachträgliches theoretisches Symbol jene Substantive erscheinen, werden ja im schnellen, ganz auf die praktische Rechtshandhabung eingestellten Denkprozesse kaum erkannt: sie sind die selbstverständlichen Formen, in denen der Gedankenstrom des Juristen dahinfließt. 68 Sobald aber Stockungen und Schwierigkeiten im Denkprozeß auftreten, werden die Grundbegriffe bewußt. Der nahe Zusammenhang zwischen dem Denken des praktischen Juristen und dem des Wissenschaftlers geht daraus hervor, daß in beiden gemeinsame 65 Bei Karl Petraschek, System der Rechtsphilosophie, Freiburg i.B. 1932, kommt eine Einteilung in Rechtsformbegriffe und Rechtsinhaltsbegriffe vor. Es wird aber (S. 274) zugleich hervorgehoben, daß der Übergang von den Rechtsformbegriffen zu den Rechtsinhaltsbegriffen kein plötzlicher, sondern ein allmählicher, durch verschiedene Zwischenglieder vermittelter sei. Beachtliche Gedanken zur juristischen Begriffslehre S. 273 - 282. Karl Larenz, Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens, Berlin 1938, S. 52. 66 Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, S. 205 - 251; Luiz Legaz y Lacambra, La triple misión de la filosofia del derecho, S. 218.-. 67 Über die Relation als juristischer Grundbegriff vor allem das monumentale Werk F. B. Cicalas, Il rapporto giuridico, 3. Aufl., Firenze 1940; Francesco Orestano, Filosofia del diritto, Milano 1941, S. 97 - ; Alessandro Levi, Teoria generale del diritto, S. 211-. 68 Der erkenntnistheoretische Aspekt des juristischen Denkens wird besonders von Alessandro Levi (FN 67) hervorgehoben (S. 5, 7, 33 - 34, 42, 110, 112, 157); Carlos Cossio, El derecho en el derecho judicial, S. 118 - .
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Grundbegriffe vorkommen. Die Kriterien ihrer Verwendbarkeit sind aber verschieden. 69 Ein Begriff, der im Denken des praktischen Juristen sehr gute Dienste leistet - also funktionell zweckmäßig ist - kann für den Theoretiker ein Sorgenkind sein, voll von Unklarheiten und Komplikationen. Denken wir ζ. B. an die Begriffe ,Geltung' und subjektives Recht'. Wie könnte ein praktischer Jurist ohne jene bequemen Denkmittel überhaupt arbeiten? Der Theoretiker mag noch so beredt darlegen, daß sie für ihn etwas höchst Problematisches bedeuten: der Praktiker verwendet sie ruhig weiter - eben weil bei ihm die Kriterien der Anwendbarkeit gänzlich verschieden sind. Für einen Praktiker ,gilt' eine gesatzte Rechtsnorm, wenn sie positivrechtlich formgerecht zustande gekommen und weder durch eine neue gesatzte Rechtsnorm noch durch Gewohnheitsrecht aufgehoben worden ist. In seinem juristischen Denken genügt dieser Geltungsbegriff für gesatztes Recht. Falls aber Traditionsrecht (sog. Gewohnheitsrecht) vorliegt, muß sich der Praktiker einen zweiten Geltungsbegriff zurechtlegen: er spricht dann von opinio necessitatis und längerer tatsächlicher Übung. 70 - Für einen Theoretiker liegt die Sache nicht so einfach: in seinem Denken gehört der Begriff der rechtlichen Geltung zu den allerschwierigsten. Einen Dualismus kann er nicht akzeptieren, und er fragt sich weiter: wie verhalten sich Geltung und Effektivität zueinander 71 , sowie Geltung und Existenz? Bedeutet nicht die Geltung die spezifische Existenzform des Rechtes?72 Sind die Aussagen „Die Rechtsnorm A existiert" und „Die Rechtsnorm A gilt" äquivalent? 73 69 Zu vergleichen Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, S. 272f. 70 Über das Traditionsrecht Οsvi Lahtinen, M., Gewohnheit; Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 116 - ; J. Haesaert, Théorie générale du droit, S. 174 - ; Per Augdahl, Forelesninger over rettskilder, Oslo 1949?, S. 216 - 249; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 397f., 402f. 71 Eine gute Darstellung des Problems ,Geltung / Effektivität' bei Osvi Lahtinen, M., Rechtsquellenproblem; Jan-Magnus Jansson, Hans Kelsens statsteori mot bakgrunden av hans rättsfilosofiska âskâdning, S. 68 - , 83,192 -. Über die sog. realistische Rechtsauffassung op. cit., S. 274 - ; Karl Olivecrona, Om lagen och staten, S. 11 - ; Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 125 - ; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 157 - , 320 - ; Alf Ross, Om begrebet „gaeldende ret" hos Theodor Geiger, in: Tidsskrift for rettsvitenskap 1950; Ingemar Hedenius, Om rätt och moral, Stockholm 1941, S. 109 - ; Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 44 - , 53 - ; Harald Ofstad, Alf Ross' begreppsbestemmelse av begrepet „rettsregel", Oslo 1949, S. 86: „Wir glauben, daß der Streit darüber, ob das Recht zu „der Welt der Gültigkeit oder der Welt der Wirklichkeit" gehöre, der Ausdruck eines durch die aristotelische Klassen-Logik verursachten Scheinproblems ist" (Übersetzung aus dem Norwegischen); B. E. King, Propositions about Law, in: The Cambridge Law Journal 11 (1) 1951, S. 32. 72 Jan-Magnus Jansson, Nâgra synpunkter pâ begreppen „rättsordning" och „stat", S. 3 - 6; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 7. 73 Carlos Cossio vertritt den Standpunkt, daß das Recht nicht aus Normen, sondern aus menschlichem Handeln bestehe. El derecho en el derecho judicial, S. 127f.: ... el Derecho es la conducta humana en su interferéncia intersubjetiva ...; Panorama de la
III.5. Das Deduktive im juristischen Denken
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Für den praktischen Juristen bedeutet das ,subjektive Recht' eine kurze handliche Denkformel. Hält der Theoretiker ihm vor, dieser Begriff sei doch sehr nebelig, so wird er antworten: „Geben Sie mir dann eine neue Formel, die funktionell ebenso zweckmäßig ist. Ihre theoretischen Schwierigkeiten sind für mich als Praktiker inexistent" 74 . Das eben angeführte bedeutet nicht, daß Wissenschaft und Praxis jede ihren eigenen Weg gehen sollten. Im Gegenteil: eine Wechselwirkung war immer vorhanden, und für die Rechtskultur ist es von Vorteil, wenn hier eine enge beiderseitige Fühlung fortwährend besteht. Es soll nur klar erkannt werden, daß die Zweckmäßigkeitskriterien der verwendeten Grundbegriffe auf den zwei Gebieten prinzipiell verschieden sind. Der Begriff des Rechtssubjektes, der Person, ist vom Begriffe des subjektiven Rechts bedingt, so auch der Begriff des Rechtsobjektes. Ein Rechtssubjekt ist etwas, was Rechte und Pflichten haben kann, ein Rechtsobjekt etwas, was Gegenstand von Rechten und Pflichten sein kann. Der Unterschied zwischen Rechtssubjekt und Rechtsobjekt geht also auf den Gegensatz zwischen den Denkbildern ,haben' und ,Gegenstand sein' zurück. Der Terminus j u r i stische Person' ist, vom Standpunkt des juristischen Denkens, sonderbar, denn von diesem Gesichtspunkt aus sind ja alle Personen juristisch'. 75 Kulturhistorisch gesehen ist es bemerkenswert, daß in unserer Kulturepoche die teoria egológica del derecho, S. 61. - Wir würden lieber sagen, nicht daß das Recht menschliches Handeln ist, sondern daß es auf menschliches Handeln bezogen ist. Josef L. Kunz, Latin-American Philosophy of Law in the Twentieth Century, New York 1950, S. 120: ... law is not human conduct, but the regulation of human conduct. - Wir geben aber Cossio darin recht, daß Kelsens Bild als Rechtes als ein vom Sein abgesondertes Reich des Sollens das Zentrale, das menschliche Handeln, ausläßt. Cossios Streben, dem menschlichen Handeln eine ihm gebührende Stellung innerhalb der Rechtstheorie zu sichern, ist ein fruchtbarer Gedanke. Damit hängt es wohl zusammen, daß Cossio Kelsens „reine Rechtslehre" in eine bloße Sollenslogik umdeutet. Zu vergleichen Lutz Legaz y Lacambra, La triple misión de la filosofia del derecho, S. 204 -. Legaz äußert über die Rechtstheorie Cossios, daß sie „enormemente sugestiva" ist (S. 205). 74 Osvi Lahtinen, M., Das Problem des subjektiven Rechts; /. N. Lehtinen, Mitä oikeus on?, S. 69 - ; Β. C. Carlson, Rättigheten, Helsinki 1940; Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 159 - ; Karl Olivecrona, Om lagen och staten, S. 81 - ; Licentiaten och fiskalen, Lund 1950, 23 - ; Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 139 - ; Per Olof Ekelöf Om begagnandet av termen rättighet inom juridiken, Festskrift tillägnad Birger Ekeberg, Stockholm 1950; Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 152 - : eine sehr gute Darstellung der Problematik des subjektiven Rechts; F. B. Cicala, Il rapporto giuridico, 3. Aufl., Firenze 1940, S. 57 - 300; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 43; ders., General Theory of Law and State, S. 75 - . 75 Β. C. Carlson, Rättsperson, stat och rättsordning, in: Särtryck ur „Statsvetenskaplig Tidskrift" 1939 (2); Kan vite användas sâsom tvângsmedel mot juridisk person?, in: Tidskrift, utgiven av Juridiska Föreningen i Finland 1925; Osvi Lahtinen, Till läran om juridiska personer, in: Tidsskrift for rettsvitenskap 1949; Per Nilsson Stjernquist, Föreningsfirmans funktion, Lund 1950, S. 52 - ; Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, S. 114 - 119; W. Friedmann, Legal Theory, S. 359 - 373.
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Qualifikation ,Rechtssubjekt4, ,Person', dem Menschen an sich als etwas Selbstverständliches beigelegt wird. 7 6 Als Ausdruck dieser Selbstverständlichkeit gilt der Terminus natürliche Person' - vom Standpunkte des formalen juristischen Denkens ein Monstrum. Wenn bei den römischen Juristen das Wort ,homo' vorkommt, so deutet es auf den Menschen als Rechtsobjekt, den Sklaven. 77 In der modernen Rechtswissenschaft kommt auch ein Begriff wie ,Persönlichkeitsrecht' vor, d.h. ein subjektives Recht, das der menschlichen Persönlichkeit als solcher zukommt (Autorrechte usw.). 78 Die Relation ,wenn - so' (Rechtsfolge) nimmt eine zentrale Stellung im juristischen Denken ein. Wie verhält sich jene Relation zu der Kausalitätsrelation, die ebenfalls zu den Grundformen des juristischen Denkens gehört? Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Das schweizerische Strafgesetzbuch vom Jahre 1937, Art. 218, lautet: „Wer eine Frau, die, wie er weiß, von ihm außerehelich schwanger und in bedrängter Lage ist, im Stiche läßt und sie dadurch einer Notlage preisgibt, wird, auf Antrag, mit Gefängnis bestraft". Die Kausalitätsrelation, durch das Wort „dadurch" gekennzeichnet, geht hier in den Tatbestand ein, der seinerseits den ersten Teil einer ,wenn - so'-Relation bildet (Wer . . . preisgibt). In der Kausalitätsrelation sind zwei Tatsachen miteiander verknüpft (hier: ein Mann läßt die Frau im Stiche und dadurch kommt sie in eine Notlage). In der ,wenn - so'-Relation wird eine Tatsache (hier: die durch den strafrechtlichen Tatbestand beschriebene Handlung einschließlich der dadurch verursachten Notlage) mit der Pflicht des Gerichtes verknüpft, den Täter zu Gefängnis (Latitude) zu verurteilen. In einem Falle sind also Tatsache und Tatsache, im anderen Tatsache und rechtliche Pflicht miteinander verknüpft. 79 Dieser Gesetzestext ist aber auch in einer anderen Hinsicht von Interesse: das im Stich lassen ist kein Handeln, sondern ein Nicht-Handeln, ein Unterlassen, wird aber dem Täter als strafbar zugerechnet. Der Begriff ,Handlungsver76 Alessandro Levi , Teoria generale del diritto, S. 380 - ; Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 194 - ; Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 26 - 35. 77 D. 1, 8, 1: Quaedam praeterea res corporales sunt, quaedam incorporates. Corporales hae sunt, quae tangi possunt, veluti fundus homo vestis ...; D. 30, 35: Si heres alienum hominem dare damnatus sit ...; D. 7, 7, 4 (unter der Überschrift „De opens servorum"): Fructus hominis in operis consistit et retro in fructu hominis operae sunt. 78 F. B. Cicala, Il rapporto giuridico, S. 446 - 484; Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, S. 112 - 114; Jan-Magnus Jansson, Hans Kelsens statsteori, S. 205 (die Stellung des Menschen im Rechte). 79 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 22; ders., General Theory of Law and State, S. 46, 393. - Im Interesse einer einheitlichen theoretischen Betrachtung könnte die Frage gestellt werden, ob nicht in beiden Fällen die Verknüpfung an sich die gleiche ist. Dann wird das beim ersten Anschein normative Gefüge des ,wenn - so' auf etwas Kausales zurückgeführt. Für die Einstellung des praktischen Juristen erscheint aber eine solche theoretisch denkbare - Zurückführung als etwas sehr Künstliches. Zu vergleichen Hans Kelsen, Causality and Imputation, Repr. from „Ethics" LXI (1) 1950; Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 110 - 140.
III. 6. Die juristische Grundeinstellung
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mögen' sowohl im Straf- als auch im Privatrecht umfaßt auch das Nicht-Handeln. Rechtliches Handlungsvermögen bedeutet, daß dem Rechtssubjekte sein Handeln und Unterlassen rechtlich zugerechnet werden kann. Die Handlung ist hier der Normalfall: aus diesem Grunde wird der komplexe Grundbegriff des rechtstheoretischen und juristischen Denkens mit dem sprachlich etwas uneigentlichen Terminus ,Handlungsvermögen' bezeichnet. 80 6. Die juristische Grundeinstellung. Das Metaphysische im juristischen Denken Das juristische Denken ist von der sozialen Gesamtsituation abhängig, innerhalb deren gedacht wird. 1 Man kann das juristische Denken als eine Funktion dieser Gesamtsituation2 sehen. Der Aspekt ist hier ein soziologischer. Sobald man aber zu konkreten Beispielen übergeht, steht man auf dem Boden einer kulturgeschichtlichen Betrachtung (das juristische Denken in verschiedenen konkreten Kulturepochen). 3 Wir wenden hier den Terminus ,soziale Gesamtsituation' an. Statt dessen könnte man vom ,sozialen Kraftfeld' sprechen. Solche aus der Denkwelt der 80
Zu vergleichen Karl Engisch (FN 79), S. 36 - 39. Carlos Cossio, Ciencia del derecho y sociologia juridica, S. 69: ... el conocimiento del sociologo es el conocimiento de un espectador, en tanto que el conocimiento del jurista es el conocimiento de un protagonista. Es handelt sich beim Juristen um ein saber conceptualmente emocional (S. 71). So auch in „La coordinación de las normas juridicas y el problema de la causa en el derecho" (Buenos Aires 1948), S. 104. - J. J. von Schmid, Rechtsphilosophie, S. 167 - (Recht en Wereld- en Levensbeschouwing). Das Werk von Schmids ist eine folgerichtig durchgeführte soziologisch-kulturhistorische Theorie des Rechts. Alle Phänomene des Rechts und die wichtigsten Theorien auf diesem Gebiete werden aus diesem einheitlichen Aspekte gesehen. Von besonderem Interesse: Phaenomenologie van het recht (S. 6 -), Phaenomenologie van den Staat (S. 56 -), De logische mogelijkheid van de rechtsphaenomenologie (S. 138 -). Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 49 - 96: eine Stilgeschichte des Rechts und des rechtlichen Denkens. Heinrich Triepel, Von Stil des Rechts, Heidelberg 1947, S. 46 - , 67, 84 - , 100 - , 122 -. Aatos Alanen, Yleinen oikeustiede, S. 107 f. 2 Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 11 - 24, 40 - 57; Maurice Hauriou, Aux sources du droit, Paris 1933, S. 89 - 128; Santi Romano, L'ordinamento giuridico, 2. Aufl., Firenze 1945?, S. 4 - 84; Mario Giuliano, La comunità internazionale e il diritto, Padova 1950, S. 221 - 305. „... l'ordinamento giuridico internazionale, così come ogni ordinamento giuridico, è un prodotto, una sovrastruttura, di un determinato ambiente sociale, di una determinata comunità ... (S. 221). - Ideengeschichtlich interessant Karl Larenz, Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens, S. 27, 37, 52 - 53. 3 Wir gehen hier nicht näher auf die Frage ein, wie der soziologische und der kulturhistorische Aspekt prinzipiell zueinander stehen. J. Huizinga, Im Bann der Geschichte, Basel 1943, S. 36 - , 52 - , 66, 90 - ; J. E. Salomaa, Philosophie der Geschichte, Turku 1950, S. 76 - ; Erich Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 147 198; Giorgio Del Vecchio, Evolutione ed involuzione nel diritto, Roma 1945, S. 17 - , 39 - ; Luiz Legaz y Lacambra, La triple misión de la filosofia del derecho, S. 213 - 214; Ernst Cassirer, An Essay on Man, New Haven 1948, S. 171 - 206. 1
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Physik stammende Termini zeugen von einer kulturgeschichtlichen Tatsache: eine gradweise Annäherung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. 4 Falls die letzteren sich von einer spekulativen Verschwommenheit und poetischmetaphysischen Unklarheit allmählich befreien wollen 5 scheint eine solche Annäherung wünschenswert zu sein.6 Kurt Lewin hat ja durch sein wissen4
Die anthropologische Bedingtheit der Kulturwissenschaften wird gut hervorgehoben von Heinrich Richert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. u. 7. Aufl., Tübingen 1926, S. 14: „Ein materialer Gegensatz der Objekte ist der Einteilung der Einzelwissenschaften daher nur insofern zugrunde zu legen, als sich aus der Gesamtwirklichkeit eine Anzahl von Dingen und Vorgängen heraushebt, die für uns eine besondere Bedeutung oder Wichtigkeit besitzen ... 18: ... die Kultur als das von einem nach gewerteten Zwecken handelnden Menschen entweder direkt Hervorgebrachte oder, wenn es schon vorhanden ist, so doch wenigstens um den daran haftenden Werte willen absichtlich Gepflegte ..." - Mit dieser Unterscheidung zwischen Natur und Kultur scheint das recht fragwürdige Unterscheidungsmerkmal Rickerts zwischen Natur und Geschichte (zwei Aspekte: das Allgemeine, das Individuelle: S. 55) in keinem notwendigen Zusammenhang zu stehen. Die Kritik Rickerts gegen den Terminus „Geisteswissenschaft" (S. 98: „... grenzt weder die Objekte noch die Methode gegen die der Naturwissenschaften ab") ist zutreffend. Felix Kaufmann, Methodology of the Social Sciences, New York 1944, S. 141 - 147,169 - 181. - Zu vergleichen Wilhelm Flitner, Vom Gesetz in der Geschichte (im Sammelwerk „Das Problem der Gesetzlichkeit, I, Geisteswissenschaften", Hamburg 1949), S. 10 - 12; Gerhard Stammler, Vom Gesetz mit und ohne Gesetzgeber, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XXXVIII (2) 1949. 5 Frank E. Härtung, Sociological Foundations of Modern Science, in: Philosophy of Science XIV (1947); Philipp Frank, The Place of Logic and Metaphysics in the Advancement of ModernScience, in: Philosophy of Science XV (1948); Albert Einstein, Bemerkungen zu Bertrand Russells Erkenntnistheorie (im Sammelwerk „The Philosophy of Bertrand Russell", Menasha/USA 1946); Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 183: Der (echte) Positivismus ... ist eine Methode die ein wesentliches Stück der naturwissenschaftlichen Arbeitsweise auf die Geisteswissenschaften zu übertragen sucht; Karl Engisch, Vom Weltbild des Juristen, S. 19-21. 6 Nach Werner Sombart, Vom Menschen, Berlin-Charlottenburg 1938, XXI, stehen „Natur"- und „Geistwissenschaft" in einem unüberbrückbaren Gegensatz zueinander. Leopold von Wiese, Ethik, Bern 1947, S. 12: Wir sind in den Wissenschaften vom Menschensubjekte in hohem Grade Astrologen geblieben und noch keine Astronomen geworden. S. 18. Theodor Geiger, Some Reflections on Sociometry and its Limitations, in: Theoria XVI (1950), S. 36: Being free from the handicap of a metaphysical tradition, American Sociology has earlier than the European sister understood the necessity of measurement ... Without measurement, reasoning will never come from sounds to things. Helmuth Plessner, Aspekte sozialer Gesetzmäßigkeit (im Sammelwerk „Das Problem der Gesetzlichkeit, I, Geisteswissenschaften", Hamburg 1949). Max Bense, Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik. Die Mathematik und die Wissenschaften, Hamburg 1946, S. 55 - 58, 82 - , 106 - . „Descartes ist also der erste abendländische Denker, der bewußt und methodisch die Theologie aus der Philosophie ausscheidet, und wir sehen, daß das Mittel dazu aus der Forderung der Mathematisierung der Wissenschaften und der Philosophie stammt. Jedenfalls ist hier der historische Punkt, wo die Philosophie durch den Einbruch der mathematischen Denkweise endgültig aus dem Herrschaftsbereich der Theologie heraustritt (op. cit., S. 111). Zu vergleichen G. H. von Wright, Descartes och den vetenskapliga idéutvecklingen, Ajatus XVI, Helsinki 1950. Max Deuring, Sinn und Bedeutung der mathematischen Erkenntnis (im Sammelwerk „Das Problem der Gesetzlichkeit, II, Naturwissenschaften", Hamburg 1949) S. 26: ... hat es von jeher in der Mathematik Polemiken kaum gegeben, und wenn Streitfragen aufgetreten sind, so sind sie meist entschieden worden. Moritz
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schaftliches Schaffen bewiesen, daß die naturwissenschaftliche Gedankenwelt auf Nachbargebiete befruchtend wirken kann. Allerdings ist bei einer solchen Umpflanzung der Termini große Vorsicht vonnöten. Auf ihrem ursprünglichen Anwendungsgebiet werden ihnen präzise und kritisch gesicherte Bedeutungen beigelegt. In der neuen kulturwissenschaftlichen Umgebung werden die Termini mehr oder weniger bildlich und daher unpräzis gebraucht, und zugleich besteht doch eine Illusion, diese Termini bezeichnen etwas Eindeutiges und Klares. Man könnte die soziale Abhängigkeit des juristischen Denkens auch dadurch zum Ausdruck bringen, daß man dieses Denken als eine Funktion der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Ideologie bezeichnete.7 Uns scheint es Schlick, Philosophy of Nature, New York 1949, S. 4: ... exact knowledge is knowledge which can be fully and clearly expressed in accordance with the tenets of logic. „Mathematics" is only a name for the method of logically exact formulation. Vorbildlich Heinrich Scholz, Der Forscher, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 35 (1942); ders., Was ist Philosophie?, ibid., S. 33 (1940). Scholz äußert über die abendländische Mathematik: „Der Raum, in dem sie erarbeitet worden ist, ist der älteste Raum, der nach allen Seiten so abgedichtet ist, daß die Schwätzer in ihn bis zu dieser Stunde auf keine Art haben eindringen können" (ARSph 35, S. 5). 7 Nach Mario Giuliano, La comunità internazionale e il diritto, S. 307f., ist die Rechtsordnung selbst eine Ideologie: Il fenomeno giuridico ... è la raffigurazione formale, ideologica, tra i membri di una comunità, del modo di essere e della permanenza di un certo ordine sociale, di un certo equilibrio di forze sociali... Zu vergleichen J. Stalin, Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft (auf Russisch, Moskau 1950), S. 10: „Grundlage ist die Wirtschaftsordnung der Gesellschaft auf einer gegebenen Stufe ihrer Entwicklung. Überbau, das sind politische, rechtliche, religiöse, künstlerische, philosophische Anschauungen (vsgljadi) der Gesellschaft und entsprechende politische, rechtliche und andere Regelungen" - S. 17: „Der Überbau ist Produkt einer Epoche, wo eine gegebene Wirtschaftsordnung lebt und wirkt." - Stalins kleine Studie enthält eine Menge von Gedanken zur marxistischen Ideologienlehre. Über ihre Bedeutung in dieser Hinsicht z.B. das Bulletin der sowjetrussischen Wissenschaftsakademie, Abteilung für Wirtschaft und Recht, 1950/5, Leitartikel (auf Russisch): „Die Arbeiten vom Genossen Stalin über Sprachwissenschaft und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften". - Mit dem Terminus „Marxismus" bezeichnen wir in dieser Studie die in der äußeren Form einer Theorie auftretende, stark gefühlsbetonte Lebensanschauung, die als geistige Grundlage der Sowjetunion und der kommunistischen Parteien verschiedener Länder dient und hierbei stark dynamisch wirkt. Vom marxistischen Standpunkte aus muß wohl - falls folgerichtig gedacht wird - der Marxismus selbst als eine Ideologie verstanden werden. Die marxistische Lehre, daß der Marxismus kontinuierlichen, sozial bedingten Änderungen unterworfen sei, scheint diese Deutung zu bestätigen. Denken wir z.B. an den fundamentalen Lehrsatz des älteren Marxismus, daß eine sozialistische Revolution nur als eine Weltrevolution möglich sei, der im stalinistischen Marxismus durch den Lehrsatz ersetzt worden ist, eine sozialistische Revolution sei in einem Staate möglich. Über die Gründe zu dieser veränderten Einstellung Stalin, ebd., S. 101 - 104. Über die Lehre des älteren Marxismus, der Staat werde nach einer sozialistischen Revolution absterben, Stalin, ebd., S. 104 - 106. Über die Veränderlichkeit des Marxismus als allgemeinphilosophisches Problem: S. 112 - 114. Zu vergleichen F. W. Konstantinow, Die Rolle fortschrittlicher Ideen in der sozialen Entwicklung (auf Russisch, Moskau 1947), S. 14 - 17: Ideologienlehre. Karl Jaspers, Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit, München 1950, S. 10 - 17. 16 Brusiin
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aber, daß der Begriff Ideologie' nicht zu den klarsten wissenschaftlichen Denkmitteln gehört. Eine zusammenfassende kurze Bezeichnung für die in einer konkreten Gesellschaft herrschenden Wertungen ist zwar vonnöten. Wenn aber von dieser Ideologie 4 Schlüsse auf das juristische Denken gezogen werden, so vergesse man nicht, daß der Ausgangspunkt recht unbestimmt ist. Hierdurch wollen wir keineswegs die wissenschaftliche Fruchtbarkeit des ideologischen Aspektes' in Abrede stellen. Es gehört zu den in wissenschaftlicher Hinsicht wertvollsten - und in philosophischer Hinsicht interessantesten - Errungenschaften des abendländischen Geistes, daß er sich allmählich zu einer objektiven, ,νοη außen' einsetzenden Analyse seines eigenen sozialen Nährbodens hat aufschwingen können. Es handelt sich ja hier nicht um eine ideengeschichtliche Betrachtung, sondern um etwas viel Radikaleres: unser aktuelles Denken wird in einen sozialen Zusammenhang hineingestellt.8 Versucht man das juristische Denken einer bestimmten Kulturepoche als ein Ganzes zu studieren, ohne daß dieses Denken gegen die soziale Gesamtsituation gestellt wird, so besteht die Gefahr, daß die Atmosphäre überhaupt nicht erlebt 9 wird. So können grundlegende juristische Denkformen vergange8 Hans Kelsen hat die ideologische Bedeutung der juristischen Grundbegriffe meisterhaft beleuchtet. Reine Rechtslehre, S. 42-, 45 - 46, 52-, 110-, 116. Er hat dabei auf die Vieldeutigkeit des Wortes ,Ideologie' hingewiesen, „das das eine Mal den der Natur entgegengesetzten Geist behauptet, das andere Mal eine die Wirklichkeit verhüllende, sie verklärende oder entstellende Vorstellung bedeutet", S. 37f.; ders., General Theory of Law and State, S. 174. Felix Kaufmann, Methodology of the Social Sciences, S. 182 - 198: the objektivity of social science. Über die Ideologiebildung vom Standpunkt des Soziologen Theodor Geiger, Sociologi, Kopenhagen 1939: der ganze Abschnitt über die Soziologie des Wissens; ders., Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 259-; ders., Debat med Uppsala om moral og ret, Lund 1946, S. 44-, 86-. Die moderne Technik gibt einem totalitären Staate heutzutage die Möglichkeit, die Gefühls- und Gedankenwelt der Staatsbürger souverän zu formen und zu lenken. So z. B. in der Sowjetunion, wo der Verfasser ein ungeheuer intensives Trommelfeuer der Propaganda (Rundfunk, Kino, Theater, Zeitungen, Broschüren, Bücher, öffentliche Reden, persönliches Einwirken usw.) feststellen konnte. Eigentlich ist der moderne totalitäre Staat erst durch die entwickelte Technik möglich gemacht worden. J. J. von Schmid, Rechtsphilosophie, S. 76-; Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 93: „... man will nicht nur die wirtschaftliche und soziale Existenz - und das ist das Neue - , sondern auch den geistigen Menschen, auch die Ideen einer ,Lenkung' unterziehen." - Die Effektivitätsbedingungen einer solchen Lenkung sind ein faszinierendes sozialtheoretisches Problem. Karl Mannheim, Ideology and Utopia, London 1948, S. 49-, 237-; Robert K. Merton, Sociology of Knowledge (im Sammelwerk „Twentieth Century Sociology", New York 1945, S. 366 - 405); Helmut Schoeck, Die Zeitlichkeit bei Karl Mannheim, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie X3ÓCVIII (3) 1950; Luigi Bagolini, Valutazioni morali i giuridiche ..., S. 37, 39, 65 - 66; Luiz Legaz y Lacambra, Direito e politica, Lisboa 1950?, S. 22-. 9 F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, S. 131 - 132; Erich Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 157: „... jeder Kultur als einem Lebensstil muß ein nur diesem korrelates Weltbild, d.h. eine spezifische ,Umwelt' entsprechen"; José Ortega y Gasset, Obras Complétas, VI, Madrid 1947, S. 13f.: ... los cambios mas decisivos en la humanidad sean los cambios de creencias, la intensificación ο debilitación de las creencias. - S. 18: Las creencias constituyen el estrato basico, el mas pro-
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ner Epochen unserer eigenen Epoche gemäß falsch gedeutet werden. 10 Auch die Definitionen, die das theoretische Denken in verschiedenen Kulturepochen vom Rechte gibt, sind eine Funktion der jeweiligen sozialen Gesamtsituation. 11 Es gibt hier einen Faktor, der den Forscher sehr leicht irre führt: die Sprache. Die juristische Sprache vergangener Epochen bediente sich zu einem beträchtlichen Teil derselben Wörter die noch heutzutage gebraucht werden. Dem heutigen Forscher scheinen jene Wörter, auch wenn sie in Zusammenhängen einer ganz fremden Epoche vorkommen, auf etwas Bekanntes hinzuweisen. Er unterschiebt ihnen Bedeutungen seiner eigenen Zeit. Bei emotional gefärbten Wörtern ist diese Versuchung besonders groß. Andererseits sind eben jene emotionalen Wörter der juristischen Sprache, wenn man sie mit kritischer Vorsicht studiert, kulturgeschichtlich ergiebig. Als eine kleine Vorübung kann sich der Forscher in die emotionalen Qualitäten der juristischen Sprache seiner eigenen Kulturepoche vertiefen. Diese Qualitäten, die vom praktischen Juristen als etwas Selbstverständliches erlebt werden und sein Denken fortwährend begleiten, werden vom Theoretiker zu einem Problem erhoben. Das Strafrecht und das Familienrecht bieten hier eine reiche Auswahl. Man kann die emotionalen Qualitäten der Juristensprache und diejenigen der Laiensprache miteinander vergleichen und hierdurch Ausblicke in die Sonderart des juristischen Denkens gewinnen. 12 fundo de la arquitectura de nuestra vida. Zu vergleichen Obras Complétas, V, S. 379 390; ideas y creencias. 10 Über den uns so fernen Hintergrund des rechtlichen Denkens der Römer Axel Hägerström, Der römische Obligationsbegriff im Lichte der allgemeinen römischen Rechtsanschauung, I, 1927; ders., Socialfilosofiska uppsatser, S. 171-; Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 216-; Karl Olivecrona, Three Essays in Roman Law, Kopenhagen 1949. 11 J. J. von Schmid, Rechtsphilosophie, S. 153-; Karl Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin 1935: auch ideengeschichtlich von großem Interesse. 12 Alf Ross hat im juristischen Denken eine Erscheinung besonders hervorgehoben, die er „Rationalisierung" nennt. Z.B. Towards a Realistic Jurisprudence, S. 140: If ... the rationalisations of validity are reduced to what they are, namely symbolical expressions of irrational factors, and if, in connection herewith, the whole normatively logicised construction of the law as being itself a system of meanings, propositions, normative statements, is replaced by a conception of law based on the study of the psychophysical facts of the juridical phenomena, then the very concept as well as the problem of the sources of law will in the first place change its character. - Zu vergleichen Alf Ross, Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis, Kopenhagen und Leipzig 1933, S. 431: „Die Erscheinungsformen der Moralsätze sind: Sinn, Rationalität, Erkenntnisaussage, Urteil. Aber das sind alles Illusionen. In Wirklichkeit sind sie: Sein, Irrationalität, Erlebnisausdrücke, Gebärden. - Wahrscheinlich ist jene Rationalisierung des Irrationalen, jene Objektivierung des Subjektiven, jene Logisierung des Erlebnisses, die im praktischen Bewußtsein stattfindet, psychologisch ein elementarer Prozeß von so zwingender Notwendigkeit, daß niemand unmittelbar im Stande ist, sich seiner Herrschaft zu entziehen. Die praktische Objektivitätsillusion ist wahrscheinlich ein wahres idolum tribus". - Georges Gurvitch, Sociology of Law, S. 52 - 60, 306 - 309. 16*
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Die wertbetonte (emotionale) Gesamteinstellung des Juristen zum Rechte nennen wir seine „juristische Grundeinstellung". Wir stehen hier vor den letzten Voraussetzungen 13 des juristischen Denkens, die von dem Juristen normalerweise nicht erkannt werden. 14 Es leuchtet unmittelbar ein, daß die juristische Grundeinstellung in einer metaphysischen, tief religiösen Kulturepoche eine gänzlich andere ist als in einer säkularisierten Gesellschaft. 15 Wir stoßen hier auf eine bedeutsame Erscheinung innerhalb des juristischen Sprachgebrauches und Denkens 16 : die Rudimente. 17 Unter juristischen Rudimenten verstehen wir Wörter und Denkformen, die sich aus einer Kulturepoche in eine ihr innerlich fremde vererbt haben. In der neuen Umgebung muten sie sonderbar fremd an, sie fallen aus dem Gesamtbilde, passen nicht in die Atmosphäre. Denken wir z.B. an die Bestrafung der Unzucht mit Tieren oder - jedenfalls in Finnland - an den Zweikampf. In einer religiös-metaphysischen Kulturepoche wurde die Unzucht mit einem Tiere als ein ungeheurer Frevel betrachtet, worauf eine stark affektive strafrechtliche Reaktion erfolgte. Heutzutage - in unserer säkularisierten 13 E. Ehrlich, Die juristische Logik, S. 282. In seinem großen Werke „Teoria generale del diritto" hat Alessandro Levi die erkenntniskritische Grundlage des rechtswissenschaftlichen und des praktisch-juristischen Denkens in einer hervorragenden Weise beleuchtet. 14 J. Haesaert, Théorie générale du droit, S. 199 - 285 (les sources primaires du droit); Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 2i.\Barna Horvâth, Rechtssoziologie, S. 242- (Wissen und Recht). „Unter Wissen wird dabei, im weitesten Sinn des Wortes das Erlebnis vor allem das Rechtserlebnis - verstanden, soweit im willens- oder gefühlsbetonten Erlebnisakt ein Objekt erscheint" (S. 243); Heinrich Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, Weimar 1947, S. 111: „Diese Ausgangslage ist nun zunächst juristisch nicht weiter rückführbar, sie ist für das empirische Recht eine Vorgegebenheit. Sie wird bestimmt durch den Rahmen des gesamten ethisch-kulturellen Grundgefüges, in das das Recht eingebettet ist. - ... alles hängt von letzten Vorstellungen über das Wesen des Menschen und seine Stellung im Kosmos ab ..." 15 J. Haesaert, Théorie générale du droit, S. 163-; ders., Essai de Sociologie, Bruxelles 1946, S. 359, 365; Marcel Mauss, Manuel d'Ethnographie, Paris 1947, S. HO-; Georges Gurvitch, La vocation actuelle de la sociologie, Paris 1950, S. 409 - 525 (la magie, la religion et le droit). 16 J. J. von Schmid, Grote Denkers over Staat en Recht, 2. Aufl., Haarlem 1948; ders., Het Denken over Staat en Recht in de negentiende eeuw, 2. Aufl., Haarlem 1948; ders., Sociologie van het Denken, in: Rechtsphilosophische en Sociologische Studien, Antwerpen 1939, S. 335 - 350. 17 Alf Ross, Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis, S. 15 - 16: „... unsere juristischen Grundbegriffe infolge ihrer historischen Entstehung und Entwicklung so fest mit der metaphysischen Vorstellungswelt der sogenannten praktischen Erkenntnis - der Ethik und besonders des Naturrechts - verwachsen sind, daß sich ihr eigentlicher Bedeutungsinhalt heute nicht verstehen läßt, ohne erst diese Vorstellungswelt aufzuzeigen und klarzustellen. - ... die Rechtswissenschaft ein Begriffssystem ererbt hat, dessen eigentlicher, nicht mehr unmittelbar durchsichtiger Begriffsinhalt einer metaphysischen, der Wirklichkeit inadäquaten Gedankenwelt entsprungen ist." Axel Hägerström, Om primitiva rudimenter i modernt föreställningssätt, in: Socialfilosofiska uppsatser, S. 140-).
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Gesellschaft - würden wir die ganze Sache lieber einem Nervenarzte überweisen. Im schweizerischen Strafgesetzbuche vom Jahre 1937 kommt eine Kriminalisierung dieses sonderbaren ,Verbrechens' nicht mehr vor, und auch die Päderastie ist nur in qualifizierten Fällen strafbar (Art. 194: 2 u. 3). Bei unzüchtigen beischlafsähnlichen Handlungen mit einem Tiere wurden in einer religiösen Kulturepoche zuweilen scharfe Maßnahmen auch gegen das Tier vorgeschrieben. So wurde im schwedischen Gesetzbuch vom Jahre 1734 vom Täter gesagt, er solle enthauptet und verbrannt, das Tier aber getötet und verbrannt werden: damit wollte man wohl die Erde von den Teilnehmern an einer Freveltat reinigen. 18 Der Zweikampf wird durch das geltende finnische Strafrecht kriminalisiert. Die Idee eines Zweikampfes geht letzten Endes auf eine religiöse Epoche zurück, wo Gott durch den Zweikampf seine gerechte Entscheidung kundgab (zu vergleichen: Ordalien). 19 Zweitens ist der Zweikampf Ausdruck einer Ständegesellschaft: obgleich das finnische Parlament bis zum Jahre 1906 aus vier Ständen bestand (Adel, Geistliche, Bürger, Bauern), so sind solche adligen Spezialbräuche wie z.B. der Zweikampf aus der sozialen Wirklichkeit Finnlands längst fast spurlos verschwunden, und die strafrechtlichen Normen über Körperverletzung würden hier wohl ausreichen. Wir wollen jetzt durch einige kulturgeschichtliche Beispiele die durch den Terminus juristische Grundeinstellung' bezeichnete Tatsache näher beleuchten. Wenden wir uns zuerst der modernen säkularisierten abendländischen Gesellschaft zu. Wie erlebt hier der Jurist das Recht? Als etwas praktisch Notwendiges, mehr oder weniger Zweckmäßiges, das seine Geltung letzten Endes aus der Sanktionsmaschinerie des Staates herleitet. 20 Religiös-metaphysische Rechtserlebnisse sind zwar bei zahlreichen Mitgliedern jener Kulturgemeinschaft noch vorhanden, aber sie erscheinen bei den meisten als ein blasser 18
„... then skal halshuggas, och i bàie brännas, varde ock samma diur tillika dödadt och brändt". Der Verfasser hat einmal in einer entlegenen Gegend des nördlichen Finnland einen Fall vor dem Gericht erlebt, wo ein beurlaubter Soldat mit der Kuh einer Gemeinde eine unzüchtige Handlung vorgenommen hatte. Die Kuh wurde sofort getötet und beerdigt, und die Gemeinde verlangte von dem Betreffenden den Wert der Kuh als Schadenersatz. Als der Verfasser den Vorsitzenden des Gerichts darauf aufmerksam machte, die Gemeinde hätte doch keinen vernünftigen Grund zum Abschlachten der Kuh gehabt, antwortete er entrüstet: „Hättest du die Milch einer solchen Kuh getrunken?" 19 Zahlreiche detaillierte Bestimmungen über Gottesurteile finden sich z.B. im mittelalterlichen spanischen Recht. Es ist bezeichnend, daß im Landrecht von Navarra der Zweikampf und die Eisenprobe in demselben Kapitel geregelt werden (V : III : de reptorios et batayalla). Germanenrechte, Band 12, Weimar 1936, S. 110 - 131. 20 Der Begriff „führende, tonangebende Schicht" bei Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 18-, 129, 137, scheint für eine empirische Theorie des Rechts sehr brauchbar zu sein. Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 275(Recht und Macht).
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kraftloser Widerschein einer Epoche, wo solche Erlebnisse eine zentrale Stellung in der menschlichen Existenz einnahmen. Ihren Nährboden bildet ein religiöser Unterricht während der Kindheit sowie die formelle Zugehörigkeit zu einer Kirche. Wohl gibt es in einer solchen Gesellschaft Juristen, die das Recht tief religiös erleben, eben weil sie von einem lebendigen christlichen Glauben getragen werden und für sie Gott der absolute Mittelpunkt ihrer Existenz ist. Das kulturelle Gesamtbild vermögen sie aber nicht zu ändern. Für die juristische Grundeinstellung dieser Epoche ist es bezeichnend, daß der Grundsatz einer konfessionellen Freiheit (Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer beliebigen religiösen Gemeinschaft) auch von vielen gläubigen Christen als ,das prinzipiell Richtige' angesehen wird. In einer religiösen Epoche, wo der richtige Glaube auch von den in der Rechtsmaschinerie tätigen Organpersonen als etwas Wesentliches und zentral Bedeutsames aufgefaßt wurde, wäre eine solche tolerante Grundeinstellung undenkbar gewesen. 21 Viele Handlungen, die früher als kriminalisiert erschienen, sind vom Banne befreit worden: außerehelicher Beischlaf und Ehebruch sind in Finnland nicht mehr strafbar. Die strafrechtliche Einstellung zum sogenannten Selbstmorde ist in säkularisierten Rechtsgemeinschaften eine weniger strenge als früher. Der Terminus Selbstmord' deutet ja an sich schon auf eine religiöse Grundeinstellung: das menschliche Leben liegt in Gottes Hand. Überbleibsel der früher zentral bedeutsamen prozessualen Eide werden in einer neuen Weise erlebt. Der Meineid wird prinzipiell als ein Verbrechen gegen die staatliche Rechtspflege aufgefaßt und nicht mehr als ein religiöser Frevel gegen Gott. 2 2 Wie erlebte ein mittelalterlicher Jurist das Recht? Als etwas Heiliges, das seine Geltung letzten Endes von Gott herleitet. Das Recht war ihm keine bloß praktische Notwendigkeit von größerer oder geringerer Zweckmäßigkeit, sondern etwas grundsätzlich ganz anderes. Die Lästerung Gottes wurde als ein unerhörter Frevel erlebt, keineswegs als eine „Kränkung der religiösen Gefühle der Staatsbürger". 23 Die Existenz des Teufels war eine ebenso evidente und bedeutsame Tatsache wie die Existenz Gottes. 24 Personen, die sich 21
Sven Göransson, Ortodoxi och synkretism i Sverige 1647 - 1660, Uppsala 1950. Über den mittelalterlichen Prozeß in Schweden und Finnland Ragnar Hemmer, Suomen oikeushistorian oppikirja, I, Helsinki 1950, S. 115 - 163. 23 Die heutige finnische Strafrechtstheorie wird wohl die Kriminalisierung der Gotteslästerung vor allem in der letzterwähnten Weise begründen. Das sehr strenge Strafmaximum (vier Jahre Zuchthaus) kann aber nur als Nachwirkung einer religiös-metaphysischen juristischen Grundeinstellung verstanden werden. - Das moderne schweizerische Strafgesetzbuch, Art. 261, lautet: „Wer öffentlich und in gemeiner Weise die Überzeugung anderer in Glaubenssachen, insbesondere den Glauben an Gott, beschimpft oder verspottet oder Gegenstände religiöser Verehrung verunehrt ... wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Buße bestraft." Über die Kriminalisierung der Gotteslästerung/. Haesaert, Théorie générale du droit, S. 75-. 22
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mit dem Teufel einließen, konnten dies nur durch die allerstrengsten rechtlichen Sanktionen büßen. 25 Wer einen falschen religiösen Glauben hatte, verfiel ebenfalls den strengsten denkbaren rechtlichen Sanktionen. 26 Diese Beispiele, die beliebig vermehrt werden könnten, zeigen, daß hier eine von der unsrigen gänzlich verschiedene juristische Grundeinstellung vorlag. 27 In unseren Tagen ist ein neuer Typ von metaphysischen Rechtsgemeinschaften entstanden: die marxistischen. Wie erlebt ein marxistischer Jurist in einer solchen Gemeinschaft das Recht? Das Recht sowie der Staat ist ein Ergebnis und zugleich ein Mittel des Klassenkampfes. Seine Geltung im marxistischen Staate wird letzten Endes auf die revolutionären Interessen des Proletariates zurückgeführt. In diesem Sinne ist das marxistische Recht heilig, so wie der mit rechtlichen Mitteln geführte Kampf gegen Irrgläubige (,Saboteure 4 und ,Spione4: stark emotionale Bezeichnungen). Auch der Kampf gegen Beschädi24
Eino E. Suolahti, Paholaisusko puhdasoppisuuden ajan aatemaailmassa (Der Teufelsglaube in der Ideenwelt der Orthodoxie) Helsinki 1950; Pentii Renvall, Suomalainen 1500-luvun ihminen oikeuskatsomustensa valossa (Der finnische Mensch des 16. Jahrhunderts im Lichte seiner rechtlichen Anschauungen), Turku 1949, S. 97-, 180—. Die Besprechung dieses Werkes von Ragnar Hemmer in: Tidskrift, utgiven av Juridiska Föreningen i Finland 1950 (7), S. 376 - 385. 25 Eine Änderung in der juristischen Grundeinstellung kann dadurch zum Vorschein kommen, daß die Kriminalisierung einer Tätigkeit zwar beibehalten wird, aber nur unter besonderen Qualifikationen, oder daß ein früher als ernst ge werte tes Verbrechen zu einem unbedeutenden Vergehen herabsinkt. So ist das Fluchen - vor allem das Anrufen Gottes oder des Teufels - nach jetzigem finnischen Recht nur dann strafbar, wenn es öffentlich geschieht und der Friede dadurch gestört wird. Das Wahrsagen und die Zauberei sind nach finnischem Rechte strafbar, wenn sie gegen Entgelt ausgeübt werden. 26 Ein verständnisvolles Bild der Inquisition bei Jaime Balmes, El protestantismo comparado con el catolicismo, Obras Complétas, IV, Madrid 1949, S. 363-. 27 Eine gute Einführung in die mittelalterliche juristische Grundeinstellung Francisco Elias de Tejada, Historia de la filosofia del derecho y del estado, II, Madrid 1946, S. 56-; ders., Las doctrinas politicas en la Cataluna medieval, Madrid 1950; Etienne Gilson, L'esprit de la philosophie médiévale, Paris 1944, S. 175-, 304-; J. J. von Schmid, Grote Denkers over Staat en Recht, S. 62- (de Middeleeuwen). - Über die moderne katholische Einstellung zum Recht W. Friedmann, Legal Theory, S. 264 269; Louis le Fur, Les grands problèmes du droit, Paris 1937; R. P. Sertillanges, La philosophie des lois, Paris 1946; F. B. Cicala, La moralità delle azioni umane, Firenze 1934; ders., Ordine giuridico e ordine morale nella parola dell'Augusto Pontefice, Milano 1950; Giorgio Del Vecchio, La parola del S. Padre Pio XII e i giuristi, Roma 1944; Francisco Elias de Tejada, La filosofia juridica en la Espana actual, Madrid 1949, S. 3 - 22, 26 - 29; Introducción al Estudio de la Ontologia Juridica: Pròlogo: ... venimos a la tierra con un fin ultraterreno; ... esta nuestra actual existencia no es sino uno valle de lâgrimas; ... nos espera una eternidad plagada de infinitos, que hemos forzosamente de merecer y conquistar con nuestro propio esfuerzo ... S. 23f.: ... el grande asunto del destino humano. Andar por la tierra con los ojos en el cielo; recorrer un camino de asperezas guiado por la luz de las alturas ... S. 51: ... ser portador del valor eterno de un destino ultraterreno ... S. 30f.: Se vive con vistas al infinito, pero entre amargas limitaciones de presente ... - Über die Sonderart und Größe der mittelalterlichen juristischen Grundeinstellung siehe auch das ausgezeichnete Werk Francesco Calassos, Introduzione al diritto comune, S. 140 - 180.
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ger des sozialistischen Eigentumes und gegen Brecher der sozialistischen Arbeitsdisziplin wird als ein heiliger Kampf erlebt. Die Geheimpolizei nimmt im heiligen Rechtskampfe eine Schlüsselstellung ein, denn durch sie wird der richtige Glaube überwacht. 28 - Andererseits wird eschatologisch erklärt, das Recht und der Staat seien nur eine vorübergehende Erscheinung; sie werden verschwinden, wenn die kapitalistische Einkreisung des sozialistischen Staates einmal zerschlagen und das höhere Stadium des Sozialismus, eine kommunistische Gesellschaft erreicht worden ist. 29 - In den marxistischen Staaten gibt es bekanntlich Leute, die eine rudimentäre rechtliche Grundeinstellung haben, d.h. die das Recht entweder religiös oder abendländisch-säkularisiert erleben. Gegen solche „geistige Überbleibsel des Kapitalismus" wird von Seiten der herrschenden Glaubenslehre energisch gekämpft. Wenn behauptet wird, die heutige abendländische Kulturform sei nur eine Episode zwischen zwei metaphysichen Epochen, so würden wir dies bis jetzt als eine nichtverifizierte Hypothese betrachten. Dagegen können im Katholizismus und dem marxistischen Bolschewismus manche formale Ähnlichkeiten aufgezeigt werden. Beide sind metaphysische Weltanschauungen, die in der äußeren Form eines streng aufrecht erhaltenen Autoritätsglaubens erscheinen. 30 Der einzige richtige Glaube wird in beiden Fällen auf Grund kanonisierter Texte von einem Kollegium der Glaubensgemeinschaft gehütet, an dessen Spitze ein mit großer persönlicher Autorität ausgerüsteter Führer steht. Durch stimmungsvolle Kulthandlungen und Massenkundgebungen wird der Glaube in den weitesten Kreisen lebendig gehalten. Diese formalen Ähn28 Die Bedeutung der Geheimpolizei für das marxistische Regime wird überzeugend dargetan von G. M. Ljubarow, Felix Edmundovits Djersinski (Russisch), 2. Aufl., Moskau 1950. Ljubarow schreibt über den berühmten Chef der Geheimpolizei: „Felix Djersinski - der Liebling des Sowjetvolkes und der Partei, unsere Schönheit, unser Stolz. - Auch heute, wie immer, ist der eiserne Felix mit uns" (S. 40). Ausdrücklich wird hervorgehoben: „Die Kraft der Tseka bestand darin, daß die Partei Lenins-Stalins ihr Schöpfer und Führer war" (S. 23). Djersinski hat hervorgehoben, wie wichtig es ist, daß auch auf „Kleinigkeiten" acht gegeben wird. „Man soll verstehen, das Reden und Auftreten (frasi i postupki) der Leute zu analysieren, man soll die Kleinigkeiten zu analysieren verstehen. - Es ist von größter Bedeutung, daß man nicht nur den Verbrecher erwischt, nachdem er seine finstere Tat vollbracht hat, sondern - und dies ist die Hauptsache - man soll das Verbrechen zu verhindern verstehen" (S. 23f.). Hier wird das Präventivprinzip für politische Verbrechen klar ausgesprochen. Nach Ljubarow lehrte Djersinski die Tsekisten, sie sollten „ohne Gnade sein gegenüber Feinden des Volkes, Feinden unseres sozialistischen Staates, gegenüber ausländischen Kundschaftern und Spionen, immer, überall, in allem eine hohe revolutionäre Wachsamkeit zeigen" (S. 24). 29 Über die marxistische Eschatologie Alf Ahlberg, Eschatologische Motive des Marxismus, in: Theoria XV (1949). 30 Die formalen Ähnlichkeiten zwischen dem Gedankengang einer katholischen philosophisch-theologischen Zeitschrift und einer marxistischen philosophischen Zeitschrift - z.B. die theoretisch-politische Zeitschrift des Zentralkomitees der sowjetrussischen kommunistischen Partei, „Bolsewik" - sind augenscheinlich. Die zitierten Autoritäten sind verschieden, das Autoritätsprinzip ist aber in beiden Fällen da.
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lichkeiten sollten aber nicht die sehr großen materialen Verschiedenheiten verschleiern. Die tragenden Grundwerte sind im Katholizismus und im Marxismus durch eine Kluft von einander getrennt. In einem Falle die traditionalen christlichen Grundwerte, die einen wesentlichen geschichtlichen Bestandteil der abendländischen Kulturform ausmachen.31 Im anderen Falle eine stark theoretisch gefärbte Metaphysik (dialektischer Materialismus), die ein folgerichtiges Zuendedenken des seit der Renaissance immer herrschender gewordenen wirtschaftlichen Machtideales bedeutet. 32 - Es ist durchaus kein Zufall, daß die zwei großen heutigen Glaubenslehren 33 sich scharf gegenseitig anfeinden: die Erziehung der Jugend bildet die heftig umkämpfte Schlüsselstellung. 34 31 Über die philosophische und geschichtliche Bedeutung des Christentums F. B. Cicala , Corso di Filosofia del diritto, S. 118—; Maurice Blondel, Exigences philosophiques du christianisme, Paris 1950. 32 J. Stalin, Über den dialektischen und historischen Materialismus (auf Russisch, in J. Stalin, Vaprosi leninisma, 11. Aufl., Moskau 1947, S. 535 - 563); Adriano Tilgher, Interpretazione del marxismo, in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXII (1942); Nicolas Berdiaeff, El cristianismo y el problema del comunismo, Buenos Aires 1944, S. 9-, 29-, 89-; M. A. Leonov, Die marxistisch-leninistische Weltanschauung eine gewaltige Errungenschaft der Menschheit (auf Russisch), Moskau 1947, S. 15-; ders., Der Marxismus-Leninismus über wissenschaftliche Voraussicht (auf Russisch), Moskau 1948, S. 23-. - Wenn wir den Marxismus als eine metaphysische Glaubenslehre charakterisieren, behaupten wir nicht, daß er auf ein Jenseitiges, nach dem irdischen Leben Folgendes bezogen sei, so wie die christliche Metaphysik. Im Gegenteil: der Marxismus ist durchaus weltlich, aber seine Welterklärung enthält in fundamentalen Punkten überempirische, objektiv nicht verifizierbare Behauptungen. Solche sind z.B. die Thesen über eine fortschreitende Verelendung der Arbeitermassen in kapitalistischen Staaten, über den unausweichlichen Zusammenbruch des Kapitalismus und den unausweichlichen Endsieg des Proletariats, über das Verschwinden der Klassengesellschaft, das Absterben des Staates (und des Rechts). - Die metaphysischen Elemente geben dem Marxismus seine ungeheure seelische Dynamik. 33 Die totalitäre und exklusive Einstellung des Katholizismus wird von Karl Adam, Das Wesen des Katholizismus, 11. Aufl., Düsseldorf 1946, S. 190, folgendermaßen begründet: „Die katholische Kirche ist also der Leib Christi, als die Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden die Menschheitskirche ... Damit ist aber auch ihre Exklusivität gegeben, d.h. ihr Anspruch, die Menschheitskirche schlechthin, die ausschließende Heilanstalt für alle Menschen zu sein." 34 Es ist kein Zufall, daß die Studie M. Scheimanns, Der Vatikan, Feind des Friedens und der Demokratie (auf Russisch, Moskau 1950) im Verlag „Maladaja guardia" des kommunistischen Jugendbundes (Komsomol) erschienen ist. Nach Scheimann verbreitet die katholische Kirche den Fanatismus (S. 21), verneint den Grundsatz der Redefreiheit (S. 30), ist immer der Feind einer fortschrittlichen Wissenschaft, insbesondere des dialektischen Materialismus gewesen (S. 31), verfolgt fortschrittliche Forscher und versucht, ihre Hand auf die Wissenschaft zu legen, sie unter ihre Kontrolle zu bringen (S. 31). „Die Dunkelmänner fordern, als höchste Schiedsrichter in wissenschaftlichen Fragen auftreten zu dürfen. Die katholische Kirche ist das stärkste Hindernis für die Entwicklung der Wissenschaft" (S. 32). - Über die Ziele der Marxistischen Jugenderziehung z.B. das Sammelwerk „Leninsko-stalinski komsomol" (auf Russisch, Moskau 1949), S. 37 - 78; N. A. Mihailow, Das Zentralkomitee der kommunistischen Partei - Organisator und Führer der Komsomolorganisation (auf Russisch) Moskau 1950, S. 30: „Die heilige Pflicht des Komsomol - die ganze Sowjetjugend im Geiste einer
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Welche Stellung nimmt die Idee der Gerechtigkeit in verschiedenen sozialen Gesamtsituationen ein? 35 Es könnte scheinen, diese Idee sei ein Rudiment aus einer vergangenen Epoche. Die Sache liegt aber nicht so einfach. 36 Zwar ist die Stellung der Gerechtigkeitsidee in einer säkularisierten Rechtsgemeinschaft eine weniger zentrale als im Mittelalter, wo die ganze Welt als eine gewaltige überempirische ,Ordnung' (ordo) erlebt wurde. 37 Der Gerechtigkeitsidee wird heutzutage gern eine psychologische Deutung gegeben,38 d.h. die Gerechtigkeit wird aus einem metaphysischen Weltprinzip 38a in ein subjektives Erlebnis umgedeutet 39 : eine kulturgeschichtlich äußerst bedeutungsvolle grenzenlosen Liebe und unverbrüchlichen Treue zur Partei Lenins-Stalins, dem großen Führer und Lehrer Genossen Stalin zu erziehen." 35 Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. 255-, 362-. Binder, wie die meisten Rechtsphilosophen, behandelt „die Idee des Rechts" und „die Gerechtigkeit" voneinander getrennt. Aber liegen hier nicht zwei verschiedene sprachliche Bezeichnungen eines seelischen Erlebnisses vor, die wohl am zweckmäßigsten unter einem Aspekte zu behandeln sind? Einheitliche Erfassung bei Wilhelm Sauer, System der Rechts- und Sozialphilosophie. 36 F. B. Cicala, Corso di Filosofia del diritto, S. 106 - 114. 37 Alessandro Levi, Riflessioni sul problema della giustizia, Lodi 1943: eine empirische, psychologische Analyse (z.B. S. 51-); Alessandro Raselli, Giustizia e socialità, Milano 1950: gleichfalls empirische Einstellung (z.B. die programmatische Erklärung auf S. 252); J. N. Lehtinen, Mitä oikeus on?, S. 28; Β. C. Carlson, Rättfärdigheten, Helsingfors 1939; ders., Rättfärdighet och kriminalpolitik, Helsingfors 1939; J. N. Lehtinen, Oikeellisuudesta, oikeudenmukaisuudesta ja siitä mikä on oikeudellista, Lakimies 1943; Erik Ahlman, Oikeudenmukaisuus ja sen suhde moraliin, Helsinki 1943; Giorgio Del Vecchio, La giustizia, 2. Aufl., Bologna 1924; Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, S. 18: „Giustizia è conformità all'ordine dell'universo"; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 90 - 150. 38 Z.B. bei Georges Gurvitch, Sociology of Law, S. 54: Justice or jural values are the most variable elements among all manifestations of the spirit ... ; Hans Kelsen, The Metamorphoses of the Idea of Justice (im Sammelwerk „Interpretations of Modern Legal Philosophies", New York 1947) S. 392 - 395; Léon Husson, Les transformations de la responsabilité. Étude sur la pensée juridique, S. 230, 394, 395. 38a Werner Jaeger, Humanism and Theology, Milwaukee/Wise. 1943; Praise of Law. The Origin of Legal Philosophy and the Greeks, in: Interpretations of Modern Legal Philosophies); A. Verdross-Drossberg, Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1948; Axel Hägerström, Lectures on so-called Spiritual Religion, in: Theoria XIV (1948), S. 59f. 39 Eine Etappe in diesem Umwandlungsprozeß bedeutet die Gerechtigkeitslehre Wilhelm Sauers, System der Rechts- und Sozialphilosophie, S. 195: „Allgemein läßt sich die viel begehrte und viel verfehlte Gerechtigkeit bestimmen als die Behandlung menschlicher Wertstrebungen gemäß ihrem Werte für die (staatliche) Gemeinschaft. Der Maßstab ist also das durch das Juristische Grundgesetz (Wohl für das Staatsvolk) ausgedrückte, allerdings umstrittene Leistungsprinzip'. - Fragt man Sauer, wer im konkreten Falle über Wert oder Unwert entscheidet, so werden wir zu einem psychologischen Akte zurückgeführt. Wertstrebungen sollen hier gewertet werden: eine in doppelter Hinsicht psychologische Situation. Man merke auch bei Sauer die Wendung viel begehrte ... Gerechtigkeit". Die Formulierung des juristischen Grundgesetzes bei Sauer ist von großem ideengeschichtlichen Interesse. Wenn er vom „Wohl für das Staatsvolk" spricht und diesen Gedanken dann näher entwickelt, so scheint hier eine Synthese von Metaphysischem und Empirischem vorzuliegen, so wie in seinem Denken überhaupt. Der Begriff „Gemeinwohl" in einer metaphysischen Färbung nimmt ja in
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Wandlung. Wir werden hier vor eine anthropologische Tatsache gestellt, die Gerechtigkeit erscheint als etwas der Erlebnissphäre des Menschen notwendig Angehöriges. Sie kann somit niemals aus dem juristischen Denken eliminiert werden. 40 Auch in einer säkularisierten Kulturepoche tritt diese primäre anthropologische Erscheinung hervor - allerdings schwächer als in einer religiösen sozialen Gesamtsituation. 41 Das positive Recht wird auf die Gerechtigkeit in doppelter Weise bezogen. Einerseits hat der Mensch ein Bedürfnis, seine positive Rechtsordnung zu idealisieren, sie im großen und ganzen als gerecht anzusehen. Diese konservative Funktion der Gerechtigkeit ist wohl die überwiegende. Andererseits kann die Gerechtigkeit der positiven Rechtsordnung gegenübergestellt werden. 42 der traditionellen katholischen Rechtsphilosophie eine zentrale Stellung ein. Andererseits ist es bezeichnend, daß die Hägerström-Schule - ζ. B. Lundstedt und Olivecrona die eine streng empirische Einstellung zum Rechte erstrebt, ohne den Begriff des Gemeinwohls nicht auszukommen scheint. Das ,Gemeinwohl' Sauers ist nicht ohne Verbindung mit dem nüchternen Interessendenken der modernen Jurisprudenz. - Daß die ,Gerechtigkeit', die im Denken Sauers eine zentrale Stellung einnimmt, inhaltlich nur ganz unbestimmt charakterisiert wird, hängt damit zusammen, daß hier eben ein emotionales Erlebnis vorliegt, dessen Inhalt keine genaue theoretische Formulierung zuläßt. Sauer schreibt (ebd., S. 27): „Das juristische Grundgesetz ist der exaktwissenschaftliche, nämlich mit dem eigenen Begriffsapparat der Rechtswissenschaft gestaltete Ausdruck für das jeden Juristen und jeden rechtschaffenen Menschen innewohnende Rechtsgefühl, für das gesunde Rechtsempfinden, für die Überzeugung aller billig und gerecht denkenden Menschen 40 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 13: „Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist psychologisch betrachtet - die ewige Sehnsucht des Menschen nach Glück, das er als Einzelwesen nicht finden kann und darum in der Gesellschaft sucht." - Uns scheint das flache utilitaristische Schlagwort,Glück' hier wenig am Platze. Ein Erlebnis wie das der Gerechtigkeit kann durch eine solche Formel niemals erschöpft werden - auch nicht psychologisch betrachtet'. - Hans Kelsen, General Theory of Law and State, S. 5; Barna Horvàth, Die Idee der Gerechtigkeit, in: Zeitschrift für öffentliches Recht VII (1928); ders., Gerechtigkeit und Wahrheit, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 1929; Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 145: This purely formal claim for equality which merely expresses the tendency of the law to regularity, is the only real meaning of the concept of justice; Axel Hägerström, Om social rättvisa, in: Socialfilosofiska uppsatser, S. 121-. - Sehr beachtenswerte Gedanken bei Karl Larenz, Neue juristische Wochenschrift 1950/5, S. 172. 41 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 274: „Worte wie Gerechtigkeit, Ehre, Gemeinsinn usw. sind in dem Grade durch Überanstrengung abgenutzt, daß schon heute hinter der rhetorischen Feierlichkeit, mit der sie gebraucht werden, erstaunlich wenig moralischer Ernst liegt." Geiger hat hier eine für unsere Epoche charakteristische Erscheinung hervorgehoben: die Gerechtigkeit wird weitgehend als ein Schlagwort gebraucht, das gewisse Gefühlsqualitäten besitzt. Die Hoffnungslosigkeit der Versuche, das Gerechtigkeitserlebnis zu rationalisieren, geht aus Josef Essers Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 13-, überzeugend hervor. 42 Gut bei Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 14. - Francisco Elias de Tejada, Introducción al Estudio de la Ontologia Juri dica, S. 91: ... la norma j uri dica es la norma politica con contenido justo. Wenn man wie Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und Staates, S. 136, sagt, die Aufgabe des Rechts sei „die sozialen Beziehungen im Sinne der Gerechtigkeit zu ordnen", so liegt hierin, ebenso
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Wie tief das Gerechtigkeitsergebnis in der geistigen Konstitution des Menschen verwurzelt ist 43 , geht aus den starken Affekten hervor, die sich mit diesem Erlebnis verbinden. Ist der Mensch davon überzeugt, er habe eine schwere Ungerechtigkeit erlitten, so kann sein ganzes künftiges Leben vergiftet werden. Es gibt kein Verbrechen, zu dem ein solcher verzweifelter Mensch nicht fähig wäre: alle normalen Hemmungen fallen weg, er fühlt sich außerhalb der Menschengemeinschaft und der Rechtsordnung. Das Kennzeichnende des Ungerechtigkeitserlebnisses liegt eben darin, daß hier nicht eine vorübergehende Gefühlswallung vorliegt, sondern eine dauernde, sich immer tiefer fressende Vergiftung der gesamten Persönlichkeit. Daß dieses Ungerechtigkeitserlebnis auch in einer säkularisierten Rechtsgemeinschaft und auch bei einem völlig ungläubigen Menschen eine ungeheure Stärke erreichen kann, ist ein Beweis dafür, daß hier etwas primär Anthropologisches vorliegt. - Sogar auf dem Gebiete der Theorie des Rechts können sich Reflexwirkungen der starken Affektivität des Gerechtigkeitserlebnisses zeigen. 44 Wissenwie in der Formulierung Elias de Tejadas, eine Suggestion mit eingeschlossen, daß das geltende Recht tatsächlich - mehr oder weniger - die Gerechtigkeit „realisiere". Sonst würde es ja kein Recht sein. Heinrich Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, S. 119, ist auch folgerichtig zum Schlüsse gekommen: „Das Naturrecht ist das eigentlich geltende Recht. Das positive Recht hat ihm gegenüber nur eine abgeleitete, vermittelte, vorläufige Gültigkeit." Selbstverständlich kann den Worten „geltend", „gelten" auch eine solche Bedeutung gegeben werden. Ob damit eine empirische Theorie des Rechts gefördert wird, stellen wir dahin. In seiner Studie „Über das Naturrecht" (Berlin 1948) S. 38, gibt Mitteis zwar zu, daß für die „abgeleitete", „vorläufige" Gültigkeit des positiven Rechts „allenfalls eine Vermutung spricht". Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 24-: kritische Gedanken zu metaphysischen Rechtskonstruktionen. „Die Identifizierung von Recht und Gerechtigkeit enthält eine ungeheure Gefahr. Die Machthaber im Staat können den Spieß umkehren: Alles, was Recht ist, ist gerecht auch wenn es die Gerechtigkeitsidee verhöhnt." 43 F. B. Cicala, Il rapporto giuridico, S. 598: ... quel diritto che l'uomo stesso ha expresso dalla sua profonda natura ... S. 599: ... il fondamento e la ragione ... di ogni concretezza, è una sola, ne può essere altra: è l'uomo ... 44 Es würde eine fesselnde Aufgabe sein, die Lehre Rudolf Stammlers vom richtigen Rechte anthropologisch zu deuten. Es lag hier bei ihm ein zentral bedeutsames, stark affektbetontes Erlebnis vor, das er in ein theoretisches Gewand kleidete und zu dem er in seinen verschiedenen Werken immer zurückkehrte. Wenn man den feinen Schattierungen in seinem Buche „Die Lehre von dem richtigen Rechte" (neue Auflage, Halle 1926) aufmerksam folgt, spürt man hinter dem Texte ein tiefpersönliches Erlebnis. Es ist kein Zufall, daß Stammler seinem Buche als Wahlspruch die Sätze Piatons vorangestellt hat: „In dem Erkennbaren ist die Idee des Guten das Äußerste und wird nur mit Mühe erblickt... Der aber muß sie sehen, der, sei es im Stillen für sich oder öffentlich, vernünftig handeln will". Die Wendungen „mit Mühe erblicken", „sehen" bei Piaton deuten auf eine metaphysisch-künstlerische Schau. Wenn Stammler (S. 373) von seiner Lehre des richtigen Rechts sagt: „Sie weicht von metaphysischen Unternehmungen früherer Zeiten durchaus ab", so stimmt dies nur teilweise. Das ganze Denken Stammlers ist von einem tiefpersönlichen metaphysischen Erlebnis getragen; nur die äußere Form ist eine erkenntniskritische. „Wenn hier das Vertrauen auf ein vollkommenes Setzen und Lenken und Richten der Welt nach göttlichem Ratschlüsse fehlt, dessen Zug nach vollkommener Einheit seines Lebens und Seins bleibt zerrissen und gänzlich unbefriedigt" (Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 378). - Eine ähnliche anthropologische
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schaftler, die den Begriff der Gerechtigkeit als einen Baustein bei ihrer Theoriebildung anwenden wollen, können tief erzürnen, wenn sie jemand darauf aufmerksam zu machen versucht, hier liege doch nur ein seelisches Erlebnis vor, das nicht zu theoretischen Zwecken rationalisiert werden kann. Sie haben das Gefühl, der Kritiker rühre an etwas Tiefpersönlichem, was sie als Menschen unbedingt,verteidigen' müssen.45 In Kriegen wird das Gerechtigkeitserlebnis von der Staatsleitung vorsätzlich dazu verwendet, die Kampflust bei den Staatsbürgern zu steigern. Es hat wohl keinen noch so unmoralischen und selbstsüchtigen Krieg in der Geschichte gegeben, der nicht von der Staatsleitung in einen gerechten umgedeutet worden wäre. Es ist immer leichter, die Menschen zu einer Massenaufopferung ihres Lebens zu bewegen, wenn man sie davon überzeugt, es werde um die Verwirklichung der Gerechtigkeit gekämpft. Der Mensch erlebt dann jene Verwirklichung als etwas, das hoch über seiner biologischen Existenz steht, als etwas, das seinem biologischen Leben einen tieferen Sinn zu geben vermag. 46 Er fühlt dann sogar ein Bedürfnis, seine biologische Existenz von sich zu werfen, sich für die große Sache aufzuopfern. Man könnte auch auf die zahlreichen Fälle des friedlichen Interessenkampfes innerhalb der rechtlich geordneten Gesellschaft hinweisen, wo der „Kampf Reduktion kann auch bei den naturrechtlichen Theorien Giorgio Del Vecchios durchgeführt werden. Otto Brusiin, Oikeellisuudesta (Über die Gerechtigkeit; Defensor Legis, 1934: hier wird auch François Génys Gerechtigkeitslehre analysiert). Giorgio Del Vecchio, Lezioni di Filosofia del diritto, S. 345-. 45 Die heftigen polemischen Ausfälle gegen den ,Positivismus' in den letzten Jahren sind sowohl kulturhistorisch als vor allem auch anthropologisch von Interesse. Was mit Positivismus gemeint ist, wird selten präzisiert, aber diese Strömung ist der Urquell allen Unglücks, auch des politischen. Björn Ahlander, Är juridiken en vetenskap?, S. 52, hebt hervor, daß die positivistischen Theorien das rechtsphilosophische Denken doch einen großen Schritt weiter geführt haben. „Die Überwindung des Naturrechts war eine bedeutende Leistung. Erst hierdurch konnte die Rechtsphilosophie von der uralten Verbundenheit mit Ethik, Theologie und politischen Spekulationen freigemacht werden. Daß man den Positivismus zuweilen als die Grundlage staatlicher Machtbestrebungen dienen ließ, ist die Kehrseite dieser Medaille. Erst durch den Positi vismus wurde es möglich, die Rechtsphilosophie als eine Theorie des Rechts aufzufassen. Die heutzutage recht allgemein gutgeheißene Forderung einer strengen Scheidung zwischen Wissenschaft und Wertung ist ebenfalls auf positivistischer Grundlage hervorgewachsen" (Übersetzung aus dem Schwedischen). W. Friedmann, Legal Theory, S. 142 - 157; Franz W. Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft, S. 183. - Gegen den Positivismus Karl Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 11 - 25. 46 Giorgio Del Vecchio, La giustizia, S. 78f.: Senza di essa (d.h. la giustizia), nè la vita sarebbe possibile, nè, se anche fosse, meriterebbe di essere vissuta. Per essa, in ogni tempo, non dubitarono di morire i più eletti spiriti, ai quali la storia umana deve la sua nobiltà suprema. - Das edle Pathos Del Vecchios ist anthropologisch interessant. Heinrich Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte; Über das Naturrecht, S. 43: „Unsere Wahrheit ist die Gerechtigkeit, und um sie müssen wir unaufhörlich ringen als echte milites legum, als Ritter gegen Tod und Teufel." Die eben erwähnten Werke Mitteis' sind von einem starken metaphysischen Pathos getragen; Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl, S. 61-; eine empirisch-psychologische Einstellung zum Problem der Gerechtigkeit, S. 91, 102.
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ums Recht" tatsächlich als ein Kampf um die Gerechtigkeit erlebt wird. Das Gerechtigkeitserlebnis trägt auch hier wesentlich zur Stärkung der Affektgrundlage bei. Der Interessenkampf kann in vergrößertem Format auf dem staatsrechtlichen Gebiete geführt werden: denken wir an den langen und schweren Rechtskampf Finnlands gegen das übermächtige zaristische Rußland. Dieser Kampf wurde von einem starken Gerechtigkeitspathos getragen. Tritt in der heutigen säkularisierten abendländischen Kulturgemeinschaft das Gerechtigkeitserlebnis im Denken eines Juristen schwächer hervor als im rechtlichen Denken eines Laien? Wir stellten früher fest, daß der Jurist hier eine aktive, zweckbetonte, instrumentale Einstellung zu der Rechtsordnung hat. Wie wird nun die Rechtshandhabung eines Juristen 1. von den Juristen selbst, 2. von den Laien bewertet? Eine weit verbreitete Meinung unter den Juristen - auch unter den völlig säkularisierten - bewertet ihre berufsmäßige Rechtshandhabung nicht als eine gewöhnliche Erwerbsarbeit, sondern als etwas ,Höheres'. Der Jurist ist nach dieser Wertung ein Wahrer des Rechts, und hier liegt erlebnismäßig etwas mehr als die bloße Wahrung der positivrechtlichen Gesetzesparagraphen. Manche Laien bewerten die Arbeit des praktischen Juristen ähnlich. Ziemlich allgemein wird von den Laien den Juristen die Forderung gestellt, sie sollten Rechtswahrer sein, die unter keinen Umständen das Recht verdrehen dürfen, d.h. eine als ungerecht erlebte Sache mit rechtlichen Mitteln verteidigen. Kann somit der praktische Jurist, dessen Rechtshandhabung sowohl von Fachgenossen als auch von Laien in dieser Weise bewertet wird, in seinem Denken und Handeln ohne das Gerechtigkeitserlebnis auskommen? Der heutige Jurist mag zum Recht noch so rational und berufsmäßig stehen, das Gerechtigkeitserlebnis ist in ihm so tief verankert, daß er bei seiner täglichen Rechtshandhabung fortwährend von diesem Erlebnisse begleitet wird. Vergleichen wir also das Gerechtigkeitserlebnis eines Juristen und eines Laien, so gelangen wir zu folgendem Ergebnis: Beim Juristen mag dieses Erlebnis in einer konkreten Rechtssituation durch seine rational-zweckbetonte Einstellung etwas gedämpft werden. In seiner täglichen Arbeit kommen aber Rechtssituationen in einem nie endenden Strome vor. In diesem Sinne spielt also das Gerechtigkeitserlebnis beim Juristen eine größere Rolle als beim Laien, der sich nur ausnahmsweise vor ernsten rechtlichen Konflikten gestellt sieht. Das Interesse für naturrechtliche Fragestellungen ist in den letzten Jahren in Deutschland sehr lebhaft gewesen.47 Man hat u.a. von der ewigen Wiederkehr des Naturrechts gesprochen. Wir würden hier nicht nur eine durch den politischen Zusammenbruch verursachte Reaktion sehen, denn das Naturrecht war doch immer da. 48 Zeitbedingte Theorien vermochten an dieser 47 Beredtes Zeugnis u.a. die Darstellung bei Helmut Coing , Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 151 - 225. 48 Andererseits hat Hans Kelsen recht, wenn er über die Aktualisierung der naturrechtlichen Strömungen nach dem ersten Weltkriege äußert (Reine Rechtslehre,
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grundlegenden menschlichen Tatsache nichts zu ändern. Der Mensch war immer gezwungen, seine rechtlichen Erlebnisse auf etwas Überempirisches zu beziehen. Das Problem des Naturrechts wurde zu einem ewigen, unlösbaren Problem, weil seine anthropologische Grundlage mehr oder weniger verdeckt blieb. Es ist sehr kurzsichtig, gegen das Naturrecht als etwas angeblich Sinnloses zu polemisieren. Man kann sich den anscheinend sonderbarsten naturrechtlichen Gedankenkonstruktionen erfolgreich nähern, wenn man sie als einen Ausfluß des Menschen deutet 49 , nicht als einen Ausfluß von etwas Objektivem, über dem Menschen Existierendem. Das ,ewige4 Problem des Naturrechts zeigt, wie tief das Recht in der Persönlichkeit des Menschen verwurzelt ist. Wie schon im einleitenden Kapitel dieser Studie erwähnt wurde, bezeichnen wir hier mit dem Terminus ,metaphysisches Erlebnis' ein stark gefühlsbetontes Erlebnis beim Menschen, das sich auf Überempirisches, objektiv nicht Verifizierbares bezieht. Uns interessiert hier ausschließlich das Erlebnis an sich, denn dieses Erlebnis als psychische Tatsache und seine Wirkungen können empirisch, in einer objektiv gültigen Weise zum Gegenstande des Studiums gemacht werden. Die sog. ewigen Fragen lassen immer vermuten, daß sie ein Ausfluß des Menschen selbst sind. Das Fragen bleibt hier ewig. Die Antworten sind es nie. Da metaphysische Erlebnisse bei verschiedenen MenS. 24f.): „Die traditionelle Rechtstheorie ist seit der durch den Weltkrieg verursachten sozialen Erschütterung im Begriff, auf der ganzen Linie wieder zur Naturrechtstheorie zurückzukehren." - Adolf Julius Merkl, Neue Naturrechtssysteme im heutigen Deutschland als Ausdruck der Krise des gesatzten Rechtes, in: Juristische Blätter 3 (1951), S. 61: „Der Machtrausch und der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reiches hat indes für das Aufleben naturrechtlicher Strömungen innerhalb der zünftigen Rechtswissenschaft des heutigen Deutschlands den Boden bereitet... - Die Schriften durchzieht sodann der freilich nicht in allen einzelnen Fällen gleich auffällige Gegensatz von religiös gebundenem und wenigstens der Absicht nach freiem Naturrecht, denn tatsächlich ist auch das letztere säkularisiertes christliches Gedankengut." Über den soziologischen Hintergrund der Naturrechtslehren Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, II, S. 496 - 503. Giorgio Del Vecchio , Il concetto della natura e il principio del diritto, 2. Aufl., Bologna 1922, S. 79-; ders., Dispute e conclusioni sul diritto naturale (Estratto dalla „Rivista internazionale di Filosofia del diritto" XXVI/II - III/ 1949); Ernst Weigelin , Recht und Naturrechtslehre, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XXXIX (1/1950); W. Friedmann, Legal Theory, S. 15-65; Jerome Frank, Courts on Trial, S. 346 - 373; J. J. von Schmid, Rechtsphilosophie, S. 123- (der kulturhistorische Aspekt). 49 Zu vergleichen Walter G. Becker, Die symptomatische Bedeutung des Naturrechts im Rahmen des bürgerlichen Rechts, in: Archiv für die civilistische Praxis, 150 (2/1948), S. 122: Erst mit der Umschmelzung des statischen Begriffs des Naturrechts zu dem dynamischen Begriff der effektiven Rechtsbesserung erklären sich die fortdauernden Bemühungen, einen dynamischen Zusammenhang zwischen ,Naturrecht' und gesetztem Recht' herzustellen ... - Becker spricht von der Möglichkeit, das Naturrecht nicht als Gegebenheit, sondern als Aufgegebenheit zu charakterisieren (S. 122), von einer „Generalklausel des Rechts" (S. 123); Max Laserson, Positive and „Natural" Law and their Correlation (im Sammelwerk „Interpretations of Modern Legal Philosophies", New York 1947); Karl Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 79 - 87.
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sehen - insbesondere bei solchen, die in derselben Gemeinschaft leben - weitgehend übereinstimmende Eigenschaften aufzeigen, wird dies als ein Anzeichen dafür gedeutet, daß sie auf eine außerhalb (,über') dem Menschen existierende objektive Wirklichkeit hinweisen. Die weitgehende Übereinstimmung der metaphysischen Erlebnisse verschiedener Menschen wird also dadurch ,erklärt 4 , daß sie zu einem außerhalb des Menschen bestehenden Etwas hypostasiert werden. Der Mensch faßt sich als eine Funktion jener Wirklichkeit auf. Durch eine dauernde Verbindung mit ihr fühlt er sich gehoben, frei und unsterblich. Kehren wir zum juristischen Denken zurück. Wollte man ein Rechtsgebiet erwähnen, auf dem das Metaphysische besonders stark vertreten ist, so ist dies das Strafrecht. Entwicklungsgeschichtlich gehört dieses Gebiet des Rechts zu den interessantesten 50, und das strafrechtliche Denken eines modernen Juristen enthält Elemente, die zu den frühesten Epochen der menschlichen Kulturentwicklung zurückführen. Ja, man kann sich fragen, ob jene Elemente nicht auf einen vorkulturellen, primitiven Urzustand hinweisen. 51 Die Erlebnisse, auf deren Grundlage sich das Strafrecht aufbaut, gehören zu den Urerlebnissen der Menschheit, so wie sie durch Jahrtausende bis auf unsere Tage immer wieder erlebt werden. 52 Bei Wörtern wie ,Verbrechen 4 und ,Strafe 4 klingen Töne mit, die durch eine bloß-rationale, zweckhafte Rechtsbetrachtung niemals zu erklären sind. Diesen Worten kommt auch in den heutigen Kultursprachen - und in der Fachsprache des Juristen - ein Gefühlston zu, der unmittelbar zum überempirischen, metaphysischen Erlebnis hinführt. Es ist kein Zufall, daß der große Metaphysiker Dostojewski immer wieder zum Problem des Verbrechens und der Strafe zurückkehrt. Wir stoßen bei diesem Problem auf etwas im tiefsten Sinne Menschliches. Gibt es irgendein anderes Gebiet des Rechtes, das so oft von großen Künstlern betreten worden ist? Ist es nicht symptomatisch, daß 50 Besonders hervorzuheben Ragnar Hemmer, Suomen oikeushistorian oppikirja, I (Lehrbuch der Rechtsgeschichte Finnlands, Helsinki 1950), S. 73 - 111. Der autoritative Kenner des mittelalterlichen schwedisch-finnischen Strafrechts gibt hier eine konzentrierte rechtsgeschichtliche Übersicht. - In den Vorlesungen Jaakko Forsmans über den besonderen Teil des finnischen Strafgesetzbuches vom Jahre 1889 (mehrere Auflagen seit 1896) nimmt der rechtsgeschichtliche Aspekt eine dominierende Stellung ein. 51 Hans Kelsen, Causality and Imputation (Repr. from „Ethics" LXI (1950), S. 3): ... the most primitive principle determining social life, the norm of retribution. Kelsen, Vergeltung und Kausalität, Haag 1941, S. 50 - 174: die Deutung der Natur nach dem Vergeltungsprinzip. 52 Bertrand Russell, Authority and the Individual, S. 15: It is to be supposed ... that our congenital mental equipment, as opposed to what we learn, is not so very different from that of Paleolithic Man; Barna Horvâth, Recht und Wirtschaft, S. 354: ... entwikkelt sich eine primitive, hauptsächlich auf dem Gedanken der Vergeltung aufgebaute und durch phantastischen Aberglauben gekennzeichnete Rechtsordnung lange bevor der Ackerbau beginnt; Ingemar Hedenius, Tro och vetande, Stockholm 1949, S. 254(der primitive Vergeltungsgedanke); Hans Kelsen, Society and Nature, London 1946, S. VII u. 263.
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diese Frage auch die weitesten Laienkreise stark fesselt? Man hat die Zeitungen in der westlichen Kulturwelt deswegen - mit Recht - getadelt, weil sie allzu gern bei Kriminalschilderungen verweilen. Die Kinos werden fortwährend mit Filmen aus diesem Gebiete überflutet. Was ist der tiefere Grund, daß der Mensch ein solches ungeheures Interesse eben für diese Sphäre seiner Existenz hat? Der Grund dürfte zum Teil darin liegen, daß der Mensch ein sehr metaphysisches Wesen 53 ist, und daß Verbrechen und Strafe ebenfalls etwas durchaus Metaphysisches bedeuten. 54 Das strafrechtliche Denken eines heutigen Juristen bietet einen sonderbaren Anblick. Einerseits stehen wir hier vor einer mit äußerster Schärfe und Sorgfalt ausgearbeiteten Theoretisierung eines ganzen Rechtsgebietes.55 Andererseits stoßen wir auf Denkelemente, die mit einer folgerichtigen Theoriebildung unmöglich in Einklang zu bringen sind, eben weil sie atheoretisch, metaphysisch sind. Die Theorie hat auf diesem Punkte heroische und dauernde Anstrengungen gemacht. Die schärfsten Gehirne waren am Werke. Alles vergebens. Es tobt ein ewiger Kampf zwischen den verschiedensten Theorien, und dieser Kampf hat etwas Besonderes: eine Entscheidung scheint heute ebenso fern zu liegen wie am ersten Tage. Schon der junge Student, der seine Prüfung im Straf recht ablegen soll und sich zu diesem Zweck in die allgemeinen Lehren dieses Rechtsgebietes vertieft, fühlt dunkel, daß hier ein Riß vorliegt. Die mit äußerster Subtilität und Schärfe aufgebauten Theorien können diese Tatsache dem Studenten nicht verhehlen. Dies ist ihm um so schmerzlicher, weil doch das Strafrecht von allen Rechtsgebieten das menschlich interessanteste ist und die weitesten Ausblicke verspricht. 53 Ein anderer Gesichtspunkt bei Bertrand Russell, Authority and the Individual, S. 21: Anyone who hopes that in time it may be possible to abolish war should give serious thought to the problem of satisfying harmlessly the instincts that we inherit from long generations of savages. For my part I find a sufficient outlet in detective stories, where I alternatively identify myself with the murderer and the huntsman-detective ... 54 Francesco Carnelutti, Arte del diritto, S. 97: Mentre il civile manifesta la corporeità del diritto, il penale rivela la sua spiritualità; Axel Hägerström, Socialfilosofiska uppsatser, S. 229-. 55 Brynolf Honkasalo, Suomen rikosoikeus. Yleiset opit. I - III (Das Strafrecht Finnlands. Die allgemeinen Lehren, Helsinki 1948 - 1952); Karl Schlyter, Straffbalk eller Skyddsbalk? Stockholm 1946; ders., Skyddsbalk, Göteborg 1946; Olof Kinberg, Aktuella kriminalitetsproblem i psykologisk belysning, Stockholm 1930; ders., Varför bli människor brottsliga?, Stockholm 1935; ders., Le Droit de Punir, in: Theoria XIV (1948); Äke Petzäll, The Social Function of Punishment, in: Theoria XIII (1947); ders., Zur Dialektik der Strafdiskussion, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XXXVIII (1950); Johs. Andenaes, Litt om straffteoriene og tilregnelighetslaeren, in: Festskrift för Karl Schlyter, Stockholm 1949; Alessandro Groppali, Filosofia del diritto e diritto penale, Milano 1948; Edmund Mezger, Moderne Wege der Strafrechtsdogmatik, Berlin / München 1950; Richard Busch, Moderne Wandlungen der Verbrechenslehre, Tübingen 1949; Wilhelm Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, Berlin 1949: kritische Auseinandersetzung und Aufbau. 17 Brusiin
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Will man den Grund zu jener Disharmonie bloßlegen, so mache man ein Experiment: man führe einen systematischen Vergleich zwischen strafrechtlichen und theologischen Grundbegriffen durch. Man wird dann feststellen, daß theologischen Begriffen wie ,Schuld4, ,Verbrechen 4, ,Vergeltung 4 , ,Sühne4 strafrechtliche Begriffe entsprechen. Und nicht nur dies. Die strafrechtlichen Grundbegriffe stehen auch inhaltlich mit den entsprechenden theologischen in Verbindung. 56 Wir stellten früher fest, daß die theologische Gedankenwelt wertvolle anthropologischen Erfahrungen zum Ausdruck bringt. Solche theologisch-anthropologische Begriffe sollten aber nicht als Bauelemente in einer wissenschaftlichen, auf empirische objektive Verifikation gestützten Strafrechtstheorie gebraucht werden. Man mißverstehe uns nicht. Wir behaupten nicht, daß ein rationales, von allem Metaphysischen befreites Strafrecht aufgebaut werden sollte. Einem solchen Rechte würde die große Masse der Staatsbürger völlig fremd gegenüberstehen. Die Strafrechtstheorie, so glauben wir, würde aber einen großen Vorteil daraus ziehen, wenn sie sich von metaphysisch-theologischen Begriffen befreien und an ihre Stelle eine folgerichtig rationale Theorie zur Bekämp56 In dem vom Jesuitenpater Walter Brugger herausgegebenen philosophischen Wörterbuche (Wien 1948) lesen wir unter ,Vergeltung': Vergeltung im weitesten Sinne gibt jedem das, was ihm gemäß seinem Sein, seiner Würde und besonders seinem Tun gebührt. Sie ist eine Forderung der Gerechtigkeit. Im engeren Sinn besteht die Vergeltung im gebührenden Lohn und in der gerechten Strafe für gute und böse Taten. - Die Strafe besteht in der Zufügung eines physischen Übels für ein freigewolltes sittliches Übel. Sie ist die gerechte Vergeltung für das böse oder die schuldhafte Tat (Text von Johannes B. Schuster). - Über ,Schuld' lesen wir (Schuster): Schuld ist die freie und darum zurechenbare Entscheidung gegen das Sittengesetz und den sittlichen Wert. Weil die sittliche Pflicht ihren entscheidenden Grund im Gesetzeswillen Gottes hat, ist die schuldhafte Tat nicht die Störung einer bloß unpersönlich gedachten Ordnung ... sondern überdies Sünde, das ist ein Frevel gegen den Willen, die Ordnung und Zielsetzung Gottes, ja gegen Gottes Majestät und Güte selber. - Über ,Sühne' wird erklärt (Schuster): Sühne ist aus dem Wesen und der Kraft der Sittenordnung geforderte Wiedergutmachung einer begangenen Sünde und Schuld sowie deren Folgen gegenüber den Menschen, der Gemeinschaft und vor allem vor Gott. - Die Sühne wird so ... zu einer sittlichen Ehrenpflicht des Menschen, durch die er sich zu Gott und der Gemeinschaft wieder ins rechte Verhältnis bringt und seine eigene Ehre wiederherstellt. Die staatliche Strafe dient allerdings in erster Linie der Sicherung des öffentlichen Wohles und nach Möglichkeit der Besserung, aber alle Strafe setzt freie Schuld voraus. - Im September 1951 hielt der bekannte niederländische Strafrechtler Professor W. Pompe in Helsingfors einen Vortrag über das Thema „Die Schuld im Strafrecht". Aus seiner schriftlichen Zusammenfassung einige Sätze: „Der Schuldbegriff enthält zwei Elemente: erstens das Ungebührliche, das Unsittliche, das Böse, und zweitens das Dafürkönnen, die Freiheit. In diesen beiden Elementen ist der Schuldbegriff der menschlichen Würde gemäß, denn ohne die Kategorien des Guten und Bösen und ohne die Freiheit hat das Menschenleben keinen sittlichen Wert. - Die Strafe als Vergeltung (Sühne) der Schuld weist auf die Verantwortlichkeit des Menschen für seine verbrecherischen Handlungen hin und ist darum sittlich wertvoll.' 1 - In diesen Sätzen Pompes heben wir folgende Begriffe hervor: „das Böse", „die Freiheit", „die menschliche Würde", „Vergeltung", „Sühne", „Verantwortlichkeit", die auch in der modernen philosophischen Anthropologie Kernfragen bezeichnen. - Zu vergleichen Ingemar Hedenius, Tro och vetande, S. 95 ff.
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fung des gemeinschädlichen menschlichen Verhaltens setzen wollte. In dieser Theorie würden selbstverständlich auch jene seelischen Erlebnisse eingehend analysiert, die durch theologisch-metaphysische Begriffe von altersher symbolisiert sind. Wie schwer es für den Juristen ist, sich von altehrwürdigen Denkformen freizumachen, möge hier durch ein Beispiel aus Schweden illustriert werden. Karl Schlyter, der als Kriminalist internationales Ansehen genießt, schlug vor einigen Jahren vor, man möge das erblich schwer belastete Wort ,Strafe' aus der künftigen Gesetzessprache ausmustern und es durch Schutzmaßnahme' ersetzen. Warum hat aber Schlyter das Wort ,Verbrechen' beibehalten? Verbrechen und Strafe sind doch miteinander untrennbar verbunden. Im Zusammenhang mit dem Straf recht entsteht die Frage: Ist die Existenz einer Rechtsordnung als etwas für den Menschen Positives zu bewerten? Tief fühlende Metaphysiker sahen sich immer vor diese große, im vollsten Sinne ewige Frage gestellt. Sie empfanden, daß eine organisierte Staatsgewalt, die sich vor allem in den S traf Sanktionen fühlbar macht, zugleich etwas Unheimliches ist. Kann der Mensch nur durch absichtliches Zufügen eines Leidens (Strafe) die Ordnung in seiner Gemeinschaft aufrechterhalten? 57 Daß der Mensch die Strafe zu einer gerechten Vergeltung' idealisiert, ist ja anthropologisch ohne weiteres zu erwarten. Ebensowenig wie er seine arttypische Raubtiernatur ohne Idealisierung zu erkennen vermag, vermag er die arttypischen Reaktionen, die er im Namen der Rechtsordnung gegen seine Mitmenschen anwendet, ohne einen metaphysisch-idealisierenden Überbau zu erkennen. 58 Es sind nicht die ,atheistischen' Denker, die der Rechtsordnung und vor allem dem Strafrechte gegenüber die schwersten Gewissenszweifel fühlten. Es möge auch nicht vergessen werden, daß Christus zum Tode verurteilt und das Urteil allen rechtlichen Formen gemäß exequiert wurde. Dostojewski hat in der berühmten Szene mit dem Großinquisitor die Frage gestellt, was geschehen würde, wenn Christus zum zweiten Mal auf der Erde erschiene. Er kam zu dem Ergebnis, er werde verhaftet und des schwersten Verbrechens beschuldigt. Man würde in ihm auch dieses Mal einen gemeingefährlichen Friedens57
Giorgio Del Vecchio , Nota sul risarcimento del danno in relazione alla pena, in: Rivista internazionale di Filosofia del diritto XXVIII (1951), S. 138: ... resta da risolvere il problema fondamentale: se e come possa giustificarsi il concetto tradizionale della pena come „malum passionis propter malum actionis". Una non breve meditazione mi ha persuaso della insostenibilità di questo concetto, di fronte ai postulati della nostra coscienza morale, che sono in sostanza gli stessi principi del Cristianesimo. - Rudolf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 230 - (das Recht des Rechtes). 58 Francesco Carnelutti, Arte del diritto, S. 94, äußert über die Freiheitsstrafe: Non a togliere, ma a dare la libertà la pena è destinata. - Hier wird die ,Freiheit' als eine innere, metaphysische Freiheit des Menschen aufgefaßt. Axel Hägerström, Socialfilosofiska uppsatser, S. 247 - 248. 1*
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störer, d.h. einen Störer der lieblosen und kalten von Menschen gegen Menschen aufgerichteten Rechtsordnung sehen. Die schweren strafrechtlichen Sanktionen, die in manchen Ländern gegen Personen angewendet werden, die sich aus Gewissensgründen weigern, eine Waffe gegen einen anderen Menschen zu tragen, lassen ebenfalls die Problematik der Rechtsordnung grell hervortreten. Daß das Töten eines Menschen durch einen rechtlichen Befehl der Staatsführung aus dem allerschwersten Verbrechen in eine heilige Pflicht verwandelt werde, gehört zu den ewigen metaphysischen Paradoxen des Rechts. 59 Abschließend seien hier einige Gedanken über die prinzipielle Einstellung des Rechtsforschers zum Metaphysischen angefügt. Man kann hier von einer These, Antithese und Synthese sprechen. In einer metaphysisch eingestellten Kulturepoche wurde es als Aufgabe des Forschers betrachtet, daß er sein theoretisches Denken in den Dienst des Religiös-Metaphysischen stellte. Er sollte die genötigten Beweise produzieren. 60 Die Antithese dieser Einstellung bedeutete ein scharfes Ablehnen jeder Metaphysik. Wo immer metaphysische Denkelemente angetroffen wurden, sollte man sie aus der Wissenschaft entfernen und sich dann nicht weiter um sie kümmern. Die Hägerström-Schule in Schweden scheint diese antithetische Einstellung zur Metaphysik zu vertreten. Man kann aber auch eine Synthese anstreben: die metaphysischen Elemente werden aus der Theoriebildung entfernt und den metaphysischen Problemen wird eine anthropologische Deutung gegeben.61 Als solche werden sie als ewig menschliche seelische Gegebenheiten anerkannt. 62 Die metaphysi59 Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, S. 22: ... la funzione del diritto è secolare ma caduca. Il diritto c'è sempre stato, perché l'umanità, dopo la caduta, ha dovuto cominciare dal basso; ma non sempre ci sarà perché procede verso l'alto. Man mano che l'ordine etico va acquistando la sua forza, il diritto perde a poco a poco la sua ragione. - Zu vergleichen mit der marxistischen Eschatologie, die an manchen Punkten an die christliche erinnert. Lui ζ Legaz y Lacambra, La triple misión de la filosofia del derecho, S. 214-. - Über die Stellung des Menschen nach der mittelalterlichen Rechtsauffassung Francesco Calasso, Introduzione al diritto comune, S. 203 - 205. 60 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, I, München 1923, S. 470: Am Anfang jeder Frühzeit ... ist Philosophie der geistige Widerhall eines gewaltigen metaphysischen Erlebens und dazu bestimmt, die heilige Kausalität des gläubig geschauten Weltbildes kritisch zu bestätigen. 61 Karl Jaspers, Philosophie, III, Berlin 1932, S. 10: ... dieses Wissen von Metaphysik als empirischer Wirklichkeit menschlichen Daseins ist nicht selbst Metaphysik. Man kann es haben auch bei der Meinung, es sei die Geschichte der menschlichen Irrtümer. 62 Arthur Liebert, Der Universale Humanismus, I, Zürich 1946, S. 52: Die Religion ist aus einem Träger des Lebens zu einem Objekt der Untersuchung geworden. S. 127: Die Begründung der Religion aus der ganzen Tiefe und Fülle der Menschennatur ... S. 201: Dieses Grundschöpfertum des menschlichen Geistes, diese metaphysische Begabung ... Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1930, S. 105: Es ist die Aufgabe einer philosophischen Anthropologie, genau zu zeigen, wie aus der Grundstruktur des Menschseins ... alle spezifischen Monopole, Leistungen und Werke des Menschen hervorgehen: so Sprache, Gewissen, Werkzeug, Waffe, Ideen von Recht und Unrecht, Staat, Führung, die darstellenden Funktionen der Künste, Mythos, Religion, Wissenschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit ...
III. 6. Die juristische Grundeinstellung
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sehen Fragestellungen mögen aus dem Aspekte einer rationalen Theoriebildung als sinnlos erscheinen; die metaphysischen Erlebnisse sind es niemals. 63 Für den Forscher ist es ein vergebliches Unternehmen, gegen das Vorkommen metaphysischer Erlebnisse zu kämpfen. 64 Er soll aber gegen ihre Verwendung bei der wissenschaftlichen Theoriebildung Stellung nehmen. Er wird z.B. 6 5 niemals die Geltung des Rechts durch eine Zurückführung auf Gott erklären. 66 Denn Gott würde hier sein tiefpersönliches Erlebnis, also etwas nicht objektiv Verifizierbares bedeuten. 67 Ein anderer Forscher, der dieses Erlebnis nicht hat 6 8 , könnte einer solchen Erklärung keinen objektiv wissenschaftlichen Wert zuerkennen. Es ist verständlich, daß ein religiöser Forscher, 63
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, I, S. 457, äußert über den „Zivilisationsmenschen": Die Tiefe fehlt, das, was der frühere Mensch Gott nannte. 64 Miguel de Unamuno, Del sentimiento tragico de la vida, 8. Aufl., Buenos Aires 1947, S. 122: La lengua, substancia del pensamiento, es un sistema de metâforas a base mitica y antropomòrfica. 65 In diesem Sinne würden wir die stolzen Worte des belgischen Rechtsphilosophen J. J. von Schmid (Rechtsphilosophie, Schlußworte) verstehen: Scientia vincere tenebras. - J. N. Lehtinen, Mitä oikeus on?, Einleitung sowie S. 23-, 78: eine strenge Scheidung zwischen wissenschaftlicher und religiöser Einstellung, die um so bedeutender ist, als Lehtinen persönlich christlichen Glaubens ist. Osvi Lahtinen, Till läran om juridiska personer, in: Tidsskrift for rettsvitenskap (1949), S. 50: gegen eine ontologische Denkweise ist eine funktionalistische zu stellen. „... die Struktur der Erscheinung, die Frage, wie eine Erscheinung funktioniert', interessiert die moderne Wissenschaft... Was eine Erscheinung an sich selbst ist, dies ist gleichgültig; von Bedeutung ist nur zu wissen, welchen Gesetzen die Erscheinung folgt, denn diese Erkenntnis genügt zur Beherrschung der Erscheinung" (Übersetzung aus dem Schwedischen). - Eine kritische Musterung der empirischen und nicht-empirischen Denkweise bei Osvi Lahtinen, M., „Auffassungen über die rechtliche Forschung". 66 So auch Giorgio Del Vecchio, Lezioni di Filosofia del diritto, S. 327-. Nach einer Kritik theologischer Rechtstheorien fährt Del Vecchio fort: É chiaro che queste dilucidazioni critiche, che tendono a porre il problema del diritto nei suoi propri termini, non vulnerano nè pregiudicano le esigenze proprie della religione. Rimangono invero assolutamente libere ed integre le supreme aspirazioni dell'anima, senza alcuna contraddizzione colla ragione. - Luiz Legaz y Lacambra, La triple misión de la filosofia del derecho, S. 195: La misma Metafisica, la mas elevada forma del pensar filosofico ... S. 201 - 202; J. N. Lehtinen, Mitä oikeus on? (Was ist das Recht?), S. 127, Summary in English: This writer is of the opinion that law as a so-called sacred system is based on a religious outlook, and that law as a duty is a moral concept but that law as a part of the social order is something else than either religion or morality. Law is an external order, something quite apart from our inner sense of duty and religious conviction. - Jerome Frank, Law and the Modern Mind, S. 196 - 203. 67 Axel Hägerström, Lectures on so-called Spiritual Religion, in: Theoria XIV (1948), S. 57: ... since holiness in one aspect of it is a reflexion of our feelings, it is something impossible to conceive, impossible to grasp in thought ... That is why the divine appears as the wholly unintelligible. It is given only in a religious experience, whose content cannot be conceptualized, because it lacks objectivity. - Gabriel Marcel, Journal métaphysique, Paris 1935, S. 96: ... la valeur et la signification suprême des affirmations religieuses résident précisément en ceci qu'elles transcendent toute réflexion ; ders., Homo viator, Paris 1944, S. 194: ... la vérité qui est ici en cause n'a aucune commune mesure avec les vérités qu'il est donné au savant de mettre en lumière au terme de ses patientes investigations.
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in dessen persönlichem Leben das Gotteserlebnis etwas Zentrales bedeutet, dieses Erlebnis für eine objektiv gesicherte Grundlage auch einer wissenschaftlichen Erklärung hält. Was könnte für ihn in der ganzen Welt sicherer sein als Gott? 69 In der Wissenschaft muß aber am methodologischen Atheismus4 festgehalten werden. 70 Dies bedeutet - vom Standpunkte der Gesamtpersönlichkeit des Forschers aus gesehen - eine vorsätzliche Selbstbeschränkung. 71 Ein religiöser Metaphysiker - mag er sich zu einer bestimmten Kirche bekennen oder nur ein philosophischer Idealist sein - kann zweifellos bei seinem Denken eine viel tiefere emotionale, d.h. menschliche Befriedigung und vielleicht auch ein Erlebnis der Endgültigkeit und der felsenfesten Sicherheit haben. 72 Es ist das große Mysterium des Menschen, daß er sich über sein biologisch bedingtes Leben auf eine neue erlebnismäßige Stufe der Existenz erheben kann. 73 Oder wie es Francesco Carnelutti so schön ausdrückt: „Può darsi che il problema dell'arte come il problema del diritto . . . sia diventato un mistero; tuttavia, il mio spirito ha raggiunto, finalmente, la pace". 74 (1