Schriften zum Kirchenrecht: Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Anna Egler / Wilhelm Rees [1 ed.] 9783428511662, 9783428111664

Die »Schriften zum Kirchenrecht« beinhalten aus Georg Mays umfangreichem literarischen Schaffen 28 Publikationen zu Grun

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Schriften zum Kirchenrecht: Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Anna Egler / Wilhelm Rees [1 ed.]
 9783428511662, 9783428111664

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GEORG MAY

Schriften zum Kirchenrecht

Kanonistische Studien und Texte

O.Ö.

O.Ö.

begründet von Dr. Albert M. Koeniger t Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. Heinrich Flatten t Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn und Dr. Georg May Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz

herausgegeben von Dr. Anna Egler Akademische Direktorin arn Fachbereich Katholische Theologie der Universität Mainz und Dr. Wilhelm Rees Professor für Kirchenrecht an der Universität Innsbruck

---------------------Band47--------------------GEORGMAY

Schriften zum Kirchenrecht

Schriften zum Kirchenrecht Ausgewählte Aufsätze Von

GeorgMay

Herausgegeben von Anna Egler und Wilhelm Rees

Duncker & Humblot . Berlin

Bibliografische Infonnation Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 0929-0680 ISBN 3-428-11166-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort der Herausgeber Aus dem umfangreichen wissenschaftlichen Gesamtoevre von Georg May auf den drei Gebieten Kirchemecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchemecht wird eine Auswahl von Publikationen zum Kirchemecht vorgelegt. Die nun edierten Titel wurden erstmals in inzwischen zum Teil schwierig erreichbaren bzw. zugänglichen Zeitschriften, Festschriften und anderen Sammelwerken veröffentlicht. Bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des Bandes lässt erkennen, dass den Verfasser in den knapp fünf Jahrzehnten seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nahezu jede kanonistische Materie fesselte und zur Erforschung amegte. Grundfragen der Theologie bzw. der kirchemechtlichen Disziplin (Kontinuität, Glaubensgesetz) griff er ebenso auf wie aktuelle, unter Umständen brisante Themen (z.B. Verhältnis von Gesetz und Gewissen); das bei Kanonisten beliebte Eherecht findet sich neben selten behandelten Themen (z.B. Hausrecht des Pfarrers, Bruderschaften, Eremiten). Der Bogen umspannt, ausgehend von Grundfragen, Materien der kirchlichen Gesetzbücher von 1917 und 1983; jedoch dient die Systematik des CICI1983 der inhaltlichen Strukturierung. Akribische Interpretation der Gesetzesmaterie unter Einbeziehung der rechtshistorischen Vorgaben und gegebenenfalls mit Beachtung pastoraler Fragen zeichnen Georg Mays Veröffentlichungen aus. So haben sie, auch wenn die Wahl des einen oder anderen Themas zeitgeschichtlich bedingt war und die Abhandlung inzwischen als rechtshistorische eingestuft werden könnte, wegen ihres gewichtigen Grundansatzes und der souveränen Meisterung der kanonistischen Methode Bedeutung. Zudem war es das Anliegen der Herausgeber, Inhalte der beiden großen Kodifikationen des 20. Jahrhunderts in einer Zusammenschau zu bieten. Die Publikation wäre ohne die finanzielle Förderung der Herren Bischöfe Dr. Joachim Wanke, Erfurt, Rudolf Müller, Görlitz, Dr. Anton Schlembach, Speyer, und des Apostolischen Visitators für die Priester und Gläubigen aus dem Erzbistum Breslau, Herrn Apostolischen Protonotars Winfried König, insbesondere jedoch den vom Mainzer Bischof, Herrn Prof. Dr. Dr. Karl Kardinal Lehmann, großzügig gewährten Zuschuss nicht zu realisieren gewesen. Ihnen allen gilt unser verbindlicher Dank. Herrn Professor Dr. Norbert Simon vom Verlag Duncker und Humblot in Berlin dürfen wir für seine wohlwollende und geduldige Begleitung der Druckvorbereitungen sehr danken. Schließlich

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Vorwort der Herausgeber

sind wir den Verlagen dankbar, die durch Gewährung der Abdruckerlaubnis die Edition dieses Sammelbandes ermöglicht haben, und Herrn Dr. Konrad Breitsching für die redaktionelle Bearbeitung. So wünschen die Herausgeber, dass dieser Sammelband, der den Fachvertretern der Disziplin und wegen des breiten Themenspektrums auch einem weiteren Kreis einen leichteren Zugang zum wissenschaftlichen Werk Georg Mays eröffnen will, mit Interesse auf- und angenommen wird. Mainz-Innsbruck, am Fest der Verkündigung des Herrn 2003 AnnaEgler Wilhelm Rees

Inhaltsverzeichnis I. Grundfragen Die Funktion der Theologie in Kirche und Gesellschaft

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Enttheologisierung des Kirchenrechts? .................... '" ......... ... .... ..... ... ......... ...........

17

Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts .......................................................

25

Die Kontinuität im kanonischen Recht

57

Das Glaubensgesetz .................................................................................................

101

Der Begriff der kanonischen Auctoritas im Hinblick auf Gesetz, Gewohnheit und Sitte ....................................................................................................................

127

Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen angesichts der kanonischen Rechtsordnung ....................................................................................................................

145

Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen im kanonischen Recht, dargestellt an den ce. 915/916 CIC/1983 .................................................................................

171

Verschiedene Arten des Partikularrechtes ... ........ ............ ..................... ........... ........

187

11. Kirchliches Verfassungsrecht Das Papstwahlrecht in seiner jüngsten Entwicklung. Bemerkungen zu der Apostolischen Konstitution "Romano Pontifici eligendo" ............................................... 203 Das Verhältnis von Papst und Bischöfen auf dem Allgemeinen Konzil nach dem CIC .....................................................................................................................

237

Bemerkungen zu den Apostolischen Administratoren und Administrationen ..........

259

Das ,,Hausrecht" des Pfarrers bzw. des Kirchenrektors ...........................................

275

Das Verhältnis von Pfarrgemeinderat und Pfarrer nach gemeinem Recht und nach Mainzer Diözesanrecht .......................................................................................

301

VIII

Inhaltsverzeichnis

111. Recht der kirchlichen Vereine und der Institute des geweihten Lebens Die kirchlichen Vereine nach den Bestimmungen des Codex Iuris Canonici vom 25. Januar 1983 ..................................................................................................

323

Die Bruderschaften im Recht der Kirche ... ... ............ ......... ................................. .....

341

Bemerkungen zum Eremitenturn nach dem Codex Iuris Canonici 1983

371

IV. Verkündigungsdienst Die Aufhebung der kirchlichen Bücherverbote .......................................................

389

V. Heiligungsdienst Vinum de vite als Materie des eucharistischen Opfersakramentes

417

Die Prinzipien der jüngsten kirchlichen Gesetzgebung über die Aufbewahrung und die Verehrung der heiligsten Eucharistie ........... ............ ..... ... ..... ... .............

445

Die Erfüllung der Feiertagspflicht des Meßbesuches am Vorabend der Sonn- und Feiertage .............................................................................................................

473

Das Recht auf Einzelzelebration ... ..... ... ..... .................... .... ....... ..... ... ..... ... ..... .... .....

501

Gewährung und Versagung der Zulassung zur Weihe ............................................

527

VI. Kirchliches Eherecht Neue Anwendungsfälle des privilegium fidei .........................................................

545

Zur Auflösung von Naturehen durch päpstlichen Gnadenerweis ...........................

553

Standesamtliche Eheschließung und kirchliche Trauung in protestantischer Sicht .......

559

Unzutreffende Ausführungen über die protestantische Trauung in den Urteilen zweier Instanzen deutscher Offizialate .............................................................

587

VII. Kirchliches Vermögensrecht Bemerkungen zur Organisation der Finanzverwaltung der deutschen Diözesen

603

Erstveröffentlichung der Beiträge in chronologischer Reihenfolge ........................

627

I. Grundfragen

Die Funktion der Theologie in Kirche und Gesellschaft I. Wesen und Aufgaben katholischer Theologie 1. Wesen

a) Begriff: Katholische Theologie ist die wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der im Glauben ergriffenen übernatürlichen Offenbarung und Heilsordnung Gottes sowie der durch sie begründeten katholischen Religion und Kirche. b) Kirchliche Bezüge: Katholische Theologie ist in zweifacher Hinsicht eine kirchliche Wissenschaft. Einmal empfängt der Theologe seinen Gegenstand von der Kirche, näherhin von dem Glaubensbewußtsein und der Glaubensverkündigung der Gesamtkirehe, die in maßgebender Weise von dem Lehramt repräsentiert werden. Die wissenschaftliche Arbeit des katholischen Theologen steht daher immer unter dem Vorbehalt der Zustimmung des (höchsten) kirchlichen Lehramtes. Nur in der Gesamtkirehe kommt der Heilige Geist unfehlbar zur Geltung. Die Bindung an die Autorität des Lehramtes beeinträchtigt nicht den Wissenschaftscharakter der Theologie, weil diese Autorität für das Objekt der Theologie selbst konstitutiv und mit ihm gegeben, also sachlich berechtigt und unentbehrlich ist. Theologie, die sich in der Arbeit oder in deren Ergebnissen von der Kirche löst, gibt sich selbst auf. Sodann setzt die wissenschaftliche theologische Arbeit die übernatürliche Glaubenszustimmung zu den geoffenbarten Wahrheiten in dem Theologen voraus. Der Theologe betreibt die Theologie als Gläubiger. Gläubiger im vollen Sinne kann man nur sein als Glied der Kirche. Der Theologe arbeitet daher als Glied der Kirche; Theologie ist eine Lebensäußerung der kirchlichen Gemeinschaft. In Verbindung von Vernunft und Glaubensgnade sucht der Theologe die Offenbarung zu durchdringen. Schärfung des Verstandes und Wachstum der Gnade zugleich verbürgen tiefere Erkenntnis des Geglaubten. Weil der sich erschließende und heilshaft handelnde Gott der Gegenstand der Theologie ist, bedarf der Theologe zu sachgerechter wissenschaftlicher Arbeit jener Gesinnungen und Haltungen, die der Mensch Gott, seinem Herrn und Heiland, schuldet. Dies sind in erster Linie Anbetung, Ehrfurcht und Liebe, Demut und Gehorsam. Abgehen von diesen Gesinnungen und Haltungen ist nicht nur sittliche Schuld, sondern ein wissenschaftlicher Fehler. Glaube ohne theologische Kenntnisse ist denkbar, wenn auch nicht befriedigend. Aber theologisches Wissen ohne Glaube ist eine Verkehrung. Religion

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ohne Wissenschaft kann in Aberglauben ausarten. Aber Wissenschaft ohne Religion zerstört den Glauben und mit ihm die Fundamente der Sittlichkeit. 2. Aufgaben

Die Theologie hat hinsichtlich ihres Gegenstandes, der Offenbarung, mehrere Aufgaben. Sie stellt den Inhalt der Offenbarung fest, sie durchdringt ihn geistig und faßt ihn systematisch zusammen, sie erweist die Übereinstimmung von Vernunft und Glauben, sie dient dem Glaubensleben der Kirche und befruchtet die Verkündigung. a) Feststellung der Offenbarung: Die Theologie hat an erster Stelle festzustellen, was Inhalt der Offenbarung ist. Sie entnimmt diesen der Lehrverkündigung der Kirche in Gegenwart und Vergangenheit. Sie grenzt das Geoffenbarte von Meinungen ab, untersucht die Entwicklung, in der sich die Kirche des ihr anvertrauten Schatzes bewußt wird, vergleicht die gegenwärtige Verkündigung mit jener der Vergangenheit und zeigt, daß der von ihr herausgearbeitete Inhalt der Offenbarung in allen Epochen der Kirchengeschichte im wesentlichen derselbe, daß also die Kirche der Gegenwart mit der Kirche der Vorzeit identisch ist. b) Durchdringung der Offenbarung: Die zweite Aufgabe der Theologie ist die geistige Durchdringung der Offenbarung. Auch der Glaube an sich trägt schon ein gewisses Verständnis der Offenbarung in sich. Die Theologie versucht, dieses Verständnis zu einer Einsicht zu steigern. Dies geschieht durch analysierendes und schlußfolgerndes Denken. Die Theologie sucht den Sinn der einzelnen Glaubenssätze zu erfassen, setzt sie zueinander in Verbindung und versucht, durch Schlußfolgerungen Fortschritte im Verstehen derselben zu erzielen. Damit wird einmal dem Bedürfnis des menschlichen Verstandes Rechnung getragen, der das Erforschliehe erforschen will. Sodann wird versucht, die jeweils neu auftauchenden Fragen einer Epoche an die Offenbarung aus der Offenbarung zu beantworten. Die Ergebnisse des forschenden Eindringens in die Offenbarung sind in geordneter, der Struktur des Heilsgeheimnisses entsprechender Form zusammenzufassen und vorzulegen. c) Übereinstimmung von Vernunft und Glauben: Die Theologie hat weiter nachzuweisen, daß der Glaube der Vernunft nicht widerspricht, daß die Offenbarungswahrheiten zwar übervernünftig, nicht aber widervernünftig sind. Sie soll den Glaubenden wie den Nichtglaubenden die Einsicht in die Berechtigung, ja die Notwendigkeit des Glaubens zu verschaffen suchen. Die Theologie hat die dem Glauben entgegenstehenden Irrtümer aufzudecken und die gegen den Glauben gerichteten Angriffe abzuwehren. Die Darlegung der Wahrheit hat aber stets den Vorrang vor der Aufdeckung des Irrtums.

Die Funktion der Theologie in Kirche und Gesellschaft

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d) Dienst am Glaubensleben: Durch die Arbeit der wissenschaftlichen Theologie gewinnt die Kirche als ganze eine tiefere Einsicht in die Offenbarung. Mit besonnener Kritik vermag die Theologie die religiöse Praxis der Gläubigen an der Offenbarung zu messen und zu beurteilen. Die Theologie hat ihr Augenmerk darauf zu richten, daß der gesamte Offenbarungsinhalt unverkürzt in der Kirche geglaubt wird und im Leben der Kirche anwesend ist, und dies in der inneren Ordnung und Struktur des göttlichen Heilsgeheimnisses. Die Theologie soll der Verkündigung des Glaubens in der Kirche zu Sicherheit, Klarheit und Fülle verhelfen und sie vor Willkür, Verschwommenheit und Einseitigkeit bewahren. Insofern der Glaube grundsätzlich immer ausgelegter Glaube ist, ist die Theologie für die Kirche wesentlich notwendig. Die Theologie hat in diesem Sinne eine Verantwortung für die Kirche. In einer gewissen Weise ist sie für den Glauben der Kirche mitverantwortlich. e) Dienst am Heil: Gottes Offenbarung zielt auf die Verwirklichung seiner Herrschaft und das Heil der Menschen. Entsprechend dieser Struktur ihres Gegenstandes muß auch die Theologie um das Vorankommen des Reiches Gottes und die eschatologische Vollendung der Menschen besorgt sein. Sie ist in diesem Sinne sowohl theoretische als auch praktische Wissenschaft. Zwar gebührt der Feststellung und Durchdringung der Offenbarungswahrheit insofern der Vorrang, als die Erkenntnis das Handeln bestimmt. Aber auf der anderen Seite gehört das Bemühen um lebensmäßige Aneignung und Verwirklichung des Geglaubten nicht nur zur Vervollkommnung der Theologie, sondern zu ihrem Wesen. Theologische Erkenntnis und religiöse Praxis gehören zusammen und können nur zum gegenseitigen Schaden voneinander getrennt werden. Theologie ist einerseits eine Äußerung und ein Vollzug des Glaubens, sie ist andererseits Verkündigung des Glaubens in wissenschaftlicher Weise. Indem sie die Offenbarung erklärt und aufschließt, vermag sie die Bereitschaft und Willigkeit zum Anschluß und zur Hingabe an Gott zu wecken und zu vermehren. Die Erkenntnis der Schönheit und Majestät Gottes und seiner liebevollen Entschlossenheit, den Menschen zur Vollendung zu führen, kann den Menschen anregen, sich der Herrschaft Gottes anheimzugeben und so das Heil zu gewinnen. 3. Kirche und Gesellschaft

Der Raum, in dem die Theologie ihren Dienst verrichtet, ist primär die Kirche. Da aber die Kirche wesentlich missionarisch ist und die Theologie an diesem Zug teilnimmt, greift sie über die Kirche hinaus in die Gesellschaft. a) Kirche: Unter Kirche ist die im Ereignis der Offenbarung begründete, von Jesus Christus gestiftete, im Wechsel der Zeiten und in allen Phasen der Entwicklung mit sich selbst identische Gemeinschaft von Menschen zu verstehen,

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die durch den Empfang der Taufe, die Bejahung des ganzen von dem Lehramt vorgelegten Glaubens und die Unterstellung unter den Papst als Stellvertreter Christi unter Führung des Heiligen Geistes dem Heil zustreben. Die Kirche ist der Leib Christi, insofern sie nach ihrer übernatürlich-göttlichen Seite in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung der Inkarnation darstellt. Sie ist das Volk Gottes, insofern ihre Glieder die in dem Christusereignis geschehene objektive Erlösung subjektiv ergriffen haben und dadurch Gottes Eigentum in einem neuen Sinn geworden sind. b) Gesellschaft: Gesellschaft sind die immer organisatorisch, vielfach auch geistig außerhalb und neben der Kirche stehenden Gruppierungen und Einrichtungen von Menschen, die durch bestimmte Ziele und Formen zusammengehalten werden. Sie sind teilweise naturbedingte, teilweise freie Verbände. In diesem umfassenden Sinne gehören zur Gesellschaft sowohl der Staat als auch die außerstaatlichen Verbindungen politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Art. Funktion ist erstens die Aufgabe, die einer Einrichtung oder Tätigkeit im Rahmen eines Ganzen gestellt ist, zweitens die Betätigung eines Vermögens, drittens das Ergebnis einer Arbeit. Wenn im Folgenden von Funktion gesprochen wird, ist in der Regel der Begriff in seiner Gesamtheit gemeint.

n. Die Lage in der Gegenwart Die Bestandsaufnahme der Funktion der Theologie in der heutigen Zeit muß nüchtern, mutig und wahrhaftig sein.

1. Hinsichtlich der Kirche a) Forschung und Lehre: Die Theologie geht heute wie früher in ihren ernsthaften Vertretern den beiden Aufgaben, zu forschen und zu lehren, nach. Forschung ist die methodisch betriebene, selbständige Erarbeitung neuer wissenschaftlicher Ergebnisse. Lehre ist die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse an einen Kreis von Schülern. Ohne Rücksicht auf die unmittelbare praktische Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse wird diese wissenschaftliche Arbeit gewissenhaft und still, vielfach unbeachtet oder gar geringschätzig betrachtet, betrieben. Sie ist geprägt von dem Adel und der verborgenen Fruchtbarkeit des selbstlosen Dienstes an der Wahrheit. b) Anstöße: Der Theologie eignet jedoch wie jeder Wissenschaft ein dynamischer Zug. Sie erschließt die Glaubenswahrheit und bildet sie fort, sie gibt Anregungen für die Gestaltung der Strukturen der Kirche, sie macht Vorschläge für

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die stets vollkommenere Erfüllung der kirchlichen Sendung. In bestimmter Hinsicht ist die Theologie das intellektuelle Gewissen der Kirche. Insofern geht ihre Arbeit den Entscheidungen des kirchlichen Lehr- und Hirtenamtes voraus und regt sie an. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben die Theologen die weitgehende Umsetzung ihrer Erkenntnisse und Forderungen in Lehre, Recht und Leben der Kirche erlebt. Ich erinnere an die Liturgiereform, die Wiedereinführung des ständigen Diakonates, die organisatorischen Auswirkungen des Prinzips der bischöflichen Kollegialität, die Einführung des Rätesystems in die Kirche. c) Desintegration: Die katholische Theologie der Gegenwart ist keine Einheit mehr in dem Sinne, wie man sie etwa vor 30 Jahren als eine Einheit bezeichnen konnte. Sie zerfällt heute nicht nur in Schulen, die es immer gegeben hat und die zulässig, ja um der möglichst allseitigen Erfassung der Offenbarungswirklichkeit willen notwendig sind, sondern in Fraktionen, vielleicht gar in Konfessionen, die sich weder in der Methode noch im Gegenstand ihrer Wissenschaft einig sind. Es lassen sich im allgemeinen drei Gruppen von Theologen unterscheiden, wobei es oft nicht leicht, mitunter unmöglich ist, einen bestimmten Theologen eindeutig einer der Gruppen zuzuordnen. Die erste Gruppe hält an den traditionellen Methoden, Prinzipien und Inhalten katholischer Theologie fest, ohne indes neuen Wegen und Ergebnissen von vornherein ablehnend gegenüberzustehen. Die zweite Gruppe bricht mehr oder weniger mit der Theologie der Vorzeit und hält die Stunde für gekommen, in der Kirche wie in der Theologie reinen Tisch zu machen. Die dritte Gruppe steht zwischen den beiden angedeuteten Polen, neigt bald mehr zu dieser, bald mehr zu jener Richtung. Die Gegensätze zwischen den angegebenen Parteien sind groß. Zwischen der ersten und dritten Gruppe ist der gemeinsame Boden stark geschrumpft. Teilweise besteht zwischen "konservativen" katholischen und "altgläubigen" evangelischen Theologen mehr Übereinstimmung als zwischen katholischen ,,Progressisten" und "Konservativen". Ohne auf Zahlenverhältnisse der drei Gruppen eingehen zu wollen, ist doch zu bemerken, daß die zweite Gruppe sehr einflußreich ist. Sie nimmt in Verlagen, Zeitschriften und Publikationsmitteln aller Art eine monopolähnliche Stellung ein. Auf der anderen Seite unterliegt die ,,konservative" Theologie beinahe einem Boykott. Ihre Bücher finden schwer Verleger, werden entweder totgeschwiegen oder ungerecht beurteilt. Aus dieser Lage der Dinge ergeben sich eine tatsächliche Einengung der Meinungsfreiheit in der Kirche und bedenkliche Einseitigkeiten in der Theologie und in der religiösen Praxis des gläubigen Volkes. Der Pluralismus, unter dessen Zeichen sich die progressistische Theologie den Weg in die kirchliche Öffentlichkeit erkämpft hatte, ist heute ernsthaft bedroht. d) Anthropozentrik: Die Theologie hat die Aufgabe, alle Dinge, Handlungen und Vorgänge auf Gott hinzuordnen und im Hinblick auf Gott zu erforschen.

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Sie betrachtet die gesamte Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt Gottes, der Verwirklichung seiner Herrschaft und damit des Heiles der Menschen. Theologie kann nicht anders als theozentrisch sein. Diese wesens gemäße Richtung katholischer Theologie wird heute teilweise umgebogen; an ihre Stelle tritt die Anthropozentrik. Vielgenannte Theologen der Gegenwart führen ausgesprochen oder unausgesprochen die Kategorie der ,,zumutbarkeit" für Glaubensinhalte und sittliche Forderungen ein. Sie erliegen damit der Versuchung, die Theologie von einem Lebensgefühl, einer zeitgenössischen Strömung, ja von den Wünschen der Menge, organisierter Gemeinschaften oder einflußreicher Minderheiten abhängig zu machen. Die Begehrlichkeit des Menschen liegt ja immer auf der Lauer, um Gottes Ansprüche herabzuschrauben oder zu eliminieren. Die Anwendung der Kategorie der ,,zumutbarkeit" führt darum zu einer Inhaltsentleerung des Glaubens und einer Abschwächung der Forderungen des Evangeliums. Wird der Prozeß der Reduktion aufgrund der ,,zumutbarkeit" erst einmal begonnen, gibt es bald kein Halten mehr. e) Glaubenskrise: Die Verbindung von Theologie und Glaube sowie die Verantwortung der Theologen für die Erhaltung des Glaubens werden heute nicht mehr von allen Theologen gebührend ernst genommen. Es gibt eine bestimmte Theologie, die eine Provokation für den kirchlichen Glauben darstellt. Die weithin unternommene Neuinterpretation des Glaubens und die dem Rationalismus entlehnte Erklärung lehramtlicher Formulierungen führen in beträchtlichem Umfang zur Aushöhlung der Glaubensaussagen oder zur Verkehrung ihres Sinnes. Die Übernahme von Begriffen und Prinzipien nichtkatholischer Theologie hat die Gefahr einer Verfremdung des katholischen Glaubens heraufbeschworen. Diese Erscheinung ist alles andere als neu. Was unter der Bezeichnung "neue Theologie" firmiert, ist zum Teil nichts anderes als eine Repristinierung von Auffassungen, deren sich die Kirche in den Kämpfen der ersten fünf Jahrhunderte, auf dem Konzil zu Trient und in der Erneuerungsbewegung des 19. Jahrhunderts entledigt hat. Der zu Beginn dieses Jahrhunderts grassierende Modernismus, also vornehmlich der dogmatische und historische Relativismus, wird als Errungenschaft theologischer Arbeit in der Gegenwart ausgegeben. Diese Art von Theologie betrachtet die Krise des Glaubens als einen wünschenswerten Dauerzustand. Sie verwechselt dabei die objektive Angefochtenheit des Glaubens mit der aus den Selbstwiderlegungen der Theologen stammenden lähmenden Unsicherheit des Glaubensverständnisses. f) Methodische Mängel: In der theologischen Arbeit der Gegenwart machen sich häufiger als vor etwa 30 Jahren empfindliche methodische Mängel bemerkbar. Es seien die folgenden erwähnt.

Nicht wenige katholische Theologen der Gegenwart unterliegen bei ihrer Arbeit einem skripturistischen Mißverständnis. Nicht eine Schrift ist aber für katholische Theologie die nächste Quelle des Glaubens, sondern die kirchliche

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Gemeinschaft und das lebendige kirchliche Bewußtsein unter Führung der rechtmäßigen Hirten und Lehrer. Die Anpassung an die Terminologie nichtkatholischer, teilweise nichtchristlicher Denker bei einflußreichen Theologen erschwert nicht nur das Verständnis ihrer Aussagen und die Verständigung untereinander, sondern bedroht mitunter den ausgedrückten Inhalt. Diese Anpassung möchte sich auf den Ökumenismus und den Sprachgebrauch der modernen Welt berufen. Indes erfolgt diese Berufung zu Unrecht; denn beide Rücksichten sind sekundär. Der oberste Grundsatz für theologische Aussagen ist, daß die Theologie die Sprache spricht, die der Sache am meisten angemessen ist. Andere Gesichtspunkte sind diesem Prinzip untergeordnet. Die theologische Sprache muß zuerst einmal richtig sein, das heißt mit der gemeinten Wirklichkeit möglichst weitgehend übereinstimmen, ehe man überlegen kann, wie sie auch noch den Verhältnissen der Zeit und des Ortes angepaßt werden kann. Ganz allgemein ist bei nicht wenigen Theologen der Gegenwart eine ungenügende Berücksichtigung der Prinzipien katholischer Theologie, eine erschreckende Sorglosigkeit im Umgang mit dem Wort, eine bedenkliche Abwertung der theologischen Leistungen und Ergebnisse der Vergangenheit und eine leichtfertige Mißachtung der seelsorglichen Verantwortung der Theologie festzustellen. Indem sie mit einem Dilettantismus, der Gelehrte, die von den exakten Wissenschaften herkommen, entsetzt, die Grundlagen und Voraussetzungen ihrer eigenen Wissenschaft zerstören, verlieren sie allmählich in deren Augen den Anspruch, ernst genommen zu werden. Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit der Arbeitsweise sind in der Theologie eingerissen, wie sie bei Vertretern sogenannter profaner Wissenschaften nicht oder wenigstens nicht in diesem Ausmaß zu beobachten sind. Ganze sich als wissenschaftliche Theologie gebende Zeitschriften und Buchreihen tragen die Kennzeichen eines saloppen Journalismus an sich. Die Theologie ist auf dem besten Wege, sich selbst als Wissenschaft zu kompromittieren. g) Ungenügendes existentielles Engagement: Katholische Theologie ist stets eine besondere, nach wissenschaftlicher Methode vor sich gehende Verkündigung des Heils in Christus. Die wissenschaftliche theologische Arbeit ist Vollzug des Glaubenslebens der Kirche. Die theologische Wissenschaft erleuchtet die Frömmigkeit, die Frömmigkeit befruchtet die theologische Wissenschaft. Zwischen der wissenschaftlichen theologischen Arbeit und dem persönlichen Leben des Gelehrten bestehen gegenseitige Abhängigkeiten. Theologie muß gläubige Theologie sein. Anders hat sie keine Existenzberechtigung. Gläubige Theologie treiben kann nur, wer sich redlich um einen Lebenswandel aus dem Glauben bemüht. Verbürgerlichung, Raffinement und Luxus sind kein günstiger Boden für eine Theologie, die es mit dem Übernatürlichen zu tun hat. Die

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Theologie ist heute vielfach zu sehr Lehre und zu wenig Zeugnis. Das existentielle Engagement, die innere Ergriffenheit, die Frömmigkeit vieler Theologen ist entweder zu schwach entwickelt oder nicht spürbar. Der ungeheuren theologischen Betriebsamkeit der Gegenwart, zumal in Deutschland, entsprechen keine Vertiefung des Glaubens und der religiösen Praxis, sondern eher ein Verlust an Glaubensüberzeugung und eine Verminderung des religiösen Eifers der Theologen. Es gibt in der Kirche der Gegenwart zu viel Theologie und zu wenig Glauben, zu viele Worte und zu wenige Taten. h) Verhängnisvolle Auswirkungen in der religiösen Praxis der Gläubigen: Die Naturwissenschaften erproben die Richtigkeit ihrer Resultate in der Technik. Was technisch verwirklicht werden kann, muß theoretisch richtig sein. Auch die Theologie steht vor der Möglichkeit, ja unter der Notwendigkeit, ihre Ergebnisse in der Praxis zu erproben. Ihr Erprobungsfeld ist das Leben der Kirche und der Gläubigen. Die Theologie ist richtig, die den Leib Christi auferbauen hilft, die dazu beiträgt, daß der Wille Gottes geschieht, die Glaube, Hoffnung und Liebe in den Gliedern der Kirche fördert, natürlich immer mit der Voraussetzung: soweit alle diese Tätigkeiten menschliche Aktivität zulassen oder fordern. Ob eine Theologie recht betrieben wird, zeigt sich also an ihren Früchten. Eine Theologie, die den Glauben vertieft, die Liebe vermehrt und die Hoffnung nährt, ist eine gute Theologie. Eine Theologie, die den Glauben erschüttert, die Liebe mindert und die Hoffnung entkräftet, ist eine schlechte Theologie. Die Wirkungen, die die heute weithin herrschende Richtung der Theologie im kirchlichen Leben zeitigt, sind unbefriedigend. Die inflationäre Vermehrung der theologischen Lehrer und die Steigerung der Produktion an theologischer Literatur in den letzten Jahren haben das religiös-kirchliche Leben nicht vertieft, sondern geschädigt. Man kann sich zu der Formulierung veranlaßt sehen: je mehr Theologie betrieben wird, um so weniger Frömmigkeit ist in der Kirche. Angesichts der Reduktionen an Glaubensgut, die bestimmte Theologen vornehmen, wächst bei vielen praktizierenden Laien das Gefühl der Unsicherheit im Glauben. Als dessen Folge nehmen die religiöse Betätigung, der apostolische Eifer und die Bereitschaft zu sittlicher Anstrengung ab; die Verbundenheit mit der Kirche vermindert sich. Die Abständigen sehen sich in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den Ansprüchen Gottes und den Geboten der Kirche bestätigt. Das Vertrauen vieler der besten Gläubigen zu den Theologen ist erschüttert. Die Skepsis, ja Abneigung gegenüber der Theologie nimmt zu. Manche Fromme flüchten in Kreise, in denen sie vor den Aufstellungen rationalistischer Theologen sicher sind. Sie schaffen sich eigene Vereinigungen und eigene Zeitschriften, meist mit geringem Niveau. Die Bischöfe sind geteilt. Der eine Teil sieht in der progressistischen Theologie fruchtbare Ansätze und sucht diese aufzunehmen. Der andere Teil erkennt die Gefahren für Glaube, Sittlichkeit und Disziplin und warnt.

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2. Hinsichtlich der Gesellschaft

Das Interesse an theologischen Fragen, die in entsprechender Aufmachung dargestellt werden, ist heute verhältnismäßig weit verbreitet. Aber es ist oberflächlich, bleibt unverbindlich und kommt nicht zur Entscheidung für das Evangelium. Seine Wurzeln reichen nicht tief; es sind vielfach nur das Bedürfnis nach Information, Unterhaltung oder Sensation und der Wunsch nach Befreiung von lästigen (sittlichen oder rechtlichen) Bindungen. Die Bereitschaft, zu hören und zu gehorchen, ist denkbar gering. Die Präsenz der katholischen Theologie in der Gesellschaft ist unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um die traditions bewußte oder um die progressistische Theologie handelt. a) Traditionsbewußte Theologie: Die traditionsbewußte Theologie vermag im allgemeinen wenig über den Bereich der Kirche hinauszuwirken. Größere Kreise des Volkes werden von ihr im allgemeinen nur über die kirchliche Verkündigung in Wort und Schrift erreicht. Es sind im wesentlichen Teile der Kirchentreuen, noch genauer: der Kirchgänger, deren Einstellung und Verhalten bis zu einem gewissen Grad von dieser Theologie geformt werden. Der Weg in die große Öffentlichkeit ist ihr weithin verschlossen. Die Massenmedien sind in der Mehrzahl hauptsächlich an außergewöhnlichen, sensationellen oder gar abnormen Anschauungen von Theologen interessiert. Die gediegene, stille, schrittweise fortschreitende Forschung und die traditionelle Lehre finden ihre Aufmerksamkeit nur selten. Das bedeutet in der Praxis, daß Presse, Rundfunk und Fernsehen in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle traditionell eingestellte Theologen nicht heranziehen. Teilweise besteht ein bewußter Ausschluß "konservativer" Theologie. b) Progressistische Theologie: Die progressistische Theologie erfreut sich größerer Beliebtheit und weiterer Verbreitung als die traditionelle. Sie tritt bei Veranstaltungen im gesellschaftlichen Raum wie bei Tagungen von Akademien, Katholikentagen, Stiftungsfesten usw. fast allein auf. Die Massenmedien räumen ihr eine monopolähnliche Stellung ein. Da diese Theologie nur eine Richtung der Theologie repräsentiert, besteht die Gefahr, daß ihre Aufstellungen mit der katholischen Theologie gleichgesetzt, ja als authentischer Ausdruck der kirchlichen Lehre angesehen werden. Wegen ihrer theologischen und religiösen Unzulänglichkeit vermag sie nicht fruchtbar zu werden. In der Mehrzahl haben die Reportagen, Vorträge, Gespräche und Tagungen über religiöse und kirchliche Themen nachteilige Wirkungen. In einer parlamentarischen Demokratie können theologische Anstöße regelmäßig nur auf dem Wege über Verbände, vorzugsweise die Parteien, oder Einrichtungen der Meinungsbildung, die Massenmedien, für die Gestaltung des staatlichen und öffentlichen Lebens wirksam werden. Mächtige politische oder

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soziale Organisationen, die sich den Prinzipien der amtlichen katholischen Lehre vor allem in ethischen Fragen verpflichtet wissen, existieren in Deutschland seit 1933 nicht mehr. Die meinungsbildenden Faktoren verfolgen fast ohne Ausnahme Tendenzen, die gemeinkatholischen Anschauungen entgegengesetzt sind. Die Minderheitssituation des deutschen Katholizismus bringt es mit sich, daß sich spezifische Vorstellungen katholischer Lehre selbst dann nicht durchsetzen lassen, wenn sie die Sachgerechtigkeit für sich haben. Dazu kommt, daß es die verloren gegangene Einheit der katholischen Theologie in vielen Fällen gestattet, bestimmte kirchliche Forderungen unter Hinweis auf entgegengesetzte Äußerungen anders eingestellter Theologen abzuweisen. Die Effizienz der katholischen Theologie muß sich in der Gesellschaft immer weiter verringern, je stärker ihre Desintegration fortschreitet. Die Wirkung der katholischen Theologie auf die Gesellschaft ist heute im ganzen geringfügig, teilweise ungünstig.

III. Die Aufgaben der Zukunft Der Zustand der katholischen Theologie in der Gegenwart ähnelt jenem um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Der Versuch einer Erneuerung wird sich auf die Prinzipien besinnen müssen, die die katholische Bewegung des 19. Jahrhunderts, vor allem der Tübinger Schule, geprägt haben. 1. In der Kirche

a) Verwirklichung der Meinungsfreiheit: Theologie ist wissenschaftliche Bearbeitung der katholischen Glaubenswirklichkeit. Sie soll für alle geistigen Strömungen der Zeit offen sein und sie, soweit dies ohne Verstoß gegen Glaubenssätze und Glaubenssinn möglich ist, in das kirchliche Lehrsystem integrieren. Der Reichtum des Heilsgeheirnnisses fordert das allseitige Angehen des Erkenntnisgegenstandes. Ihm dient der legitime Pluralismus der theologischen Schulen, der heute infolge der Vorherrschaft einer Gruppe nicht mehr gewährleistet ist. Hier ist eine Änderung herbeizuführen. Das Monopol von Theologen einer bestimmten Richtung bei Verlagen, Zeitschriften, Gremien und Veranstaltungen ist zu beseitigen, der Boykott von Theologen anderer Einstellung aufzuheben. Der Raum der Freiheit für jene Theologen, die - ihrem Gewissen folgend - die herrschende progressistische Meinung nicht teilen können, ist wiederherzustellen. b) Unterscheidung von Glaube und Theologie: Die Theologie ist die geistige Durchdringung der im Glauben angenommenen und ergriffenen Offenbarung. Glaube und Theologie decken sich nicht, ja sie können wesensgemäß nicht zur Deckung gelangen, weil die im Glauben berührte Wirklichkeit alles menschliche Denken und Sprechen übersteigt. Der Glaube ist schlechthin notwendig zum

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Heil, nicht aber die Theologie. Denn der Glaube ist der einzige Weg zu Gott, während die Theologie die wissenschaftliche Überlegung über diesen Weg ist. Der Glaube ist unfehlbar, weil er die untrügliche Wahrheit Gottes ist. Die Theologie ist fehlbar, weil sie menschliche Überlegung über den Glauben ist. Die Theologen müssen künftig sorgfältiger, als dies in den letzten Jahren geschehen ist, zwischen Glaube und Theologie unterscheiden. Die Gleichsetzung beider führt zu Mißverständnissen, ja mitunter zur Erschütterung des Glaubens. Jeder Theologe muß deutlich werden lassen, wo er als amtlicher Zeuge und Lehrer des kirchlichen Glaubens und wo er als selbständiger Denker und freier Erforscher dieses Glaubens spricht. Weder darf die Gewißheit und Verbindlichkeit des Glaubens für theologische Behauptungen in Anspruch genommen werden, noch dürfen verpflichtende Aussagen des Glaubens auf die Ebene ungesicherter und unverbindlicher theologischer Meinungen herabgezogen werden. Die Verantwortung gegenüber dem Glauben der Kirche, vor allem der Respekt vor dem Dogma muß hinfort ernster genommen werden. Die amtliche kirchliche Lehre ist Gegenstand und Grenze katholischer Theologie. Gegensätze im Glauben sind mit der Einheit der Kirche unverträglich. Abweichungen von dem amtlich und endgültig festgestellten Sinn einer Glaubenswahrheit unter Berufung auf die Freiheit der Forschung sind unzulässig. Der der Forschung vorbehaltene Raum liegt innerhalb dieses Sinnes, nicht außerhalb. Im Falle des Konfliktes zwischen Lehrfreiheit und Unversehrtheit des Glaubens muß sich die Kirche für letztere entscheiden. Das heißt konkret gesprochen: Die Kirche muß notfalls Theologen preisgeben, um Gläubige zu retten. ,,Lieber Menschen wehe tun als der Wahrheit" (Ferdinand Piontek). Auf der anderen Seite müssen Theologen, die definierte Glaubenssätze nicht mehr bejahen können, bereit sein, die Konsequenzen aus ihren Forschungsergebnissen zu ziehen. c) Mut zur Unpopularität: Katholische Theologie hat die Offenbarung in Christus als die absolute Wahrheit und die vollkommene Religion darzustellen. Die heutige Zeit ist der ungebrochenen Verkündigung eines Absolutheitsanspruches scheinbar oder wirklich nicht günstig. Die Theologie braucht daher Unabhängigkeit gegenüber gewissen Trends der Gegenwart, also etwa gegenüber dem Hang zur Relativierung und Unverbindlichkeit, dem Zug zum Minimalismus, der Genußsucht, der Flucht in die Masse, der Tendenz zur Demokratisierung, der Furcht vor Entscheidungen. Jene theologischen Disziplinen, die Normwissenschaften sind, müssen ein soziologisches Mißverständnis ihrer Fächer vermeiden. Nicht die Fakten dürfen die Normen prägen, sondern die Normen sollen die Fakten gestalten. Das Verhalten der Menschen statistisch zu erfassen kann hilfreich sein. Aber nicht der statistische Befund ist für die zu findende Norm maßgebend, sondern Gottes Wille, wie er in Schöpfung und Offenbarung sich ausspricht, und die Erziehungsaufgabe der Kirche, die auch angesichts schlimmer Verhältnisse nicht preisgegeben werden darf.

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Die Theologie braucht den Mut zur Unpopularität. Sie hat die Dinge zu erforschen und zu verkünden, die zu erkennen und zu lehren sie der Anruf Gottes in der Gegenwart und die kirchliche Sendung treiben, ohne Rücksicht auf Widerstand und Gegnerschaft, die zu gewärtigen sind. Die Theologie muß in ihrer Methode und in ihren Ergebnissen unabhängig bleiben von den unerleuchteten Wünschen der Menge. Der Wissenschaft bekommen plebiszitäre Tendenzen schlecht. Die Theologie sollte sich daran erinnern, daß die Menschen häufig gerade das am allernötigsten brauchen, was sie am schärfsten ablehnen, also zum Beispiel in der Gegenwart eine feste Führung durch echte Autorität und die ungebrochene Verkündigung der Heilsnotwendigkeit sichtbarer Zugehörigkeit zur Kirche. d) Theologie als Dienst an der Kirche und am Heil der Gläubigen: Die Theologie muß sich wieder auf zwei Wesenszüge besinnen, daß sie von der Überlieferung lebt und daß sie Zeugnis geben soll. Katholische Theologie ruht wesensmäßig auf der Überlieferung. Der katholische Theologe ist Zeuge des ihm im Vorgang der Tradition übermittelten apostolischen Glaubensgutes. Die Kontinuität in Lehre und Leben ist der Kirche wesentlich. Die Tradition in Lehre und Disziplin ist deshalb hinfort schonender zu behandeln. Die Abwertung der Vergangenheit und die Glorifizierung der Gegenwart sind unkatholisch. Der nachkonziliare Triumphalismus ist in jeder Hinsicht unangebracht. Ebenso widersprechen dem katholischen Begriff der Überlieferung das sich ausbreitende skripturistische Mißverständnis mit der daraus resultierenden Reduktion des Kerygmas und jede "Urkirchenromantik". Die Theologie will gewiß der Erkenntnis dienen, aber die Erkenntnis ihrerseits steht im Dienst des Bekenntnisses, ohne das das Heil nicht zu gewinnen ist. Dazu kommt, daß im Christentum das Tun, die Bewährung im Handeln, geradezu Erkenntnisbedeutung besitzt. Wer den Willen des Vaters im Himmel tut, erkennt, daß Christi Lehre von Gott ist (Jo 7,17). In der Theologie besitzen Gottverbundenheit und Tugend, Gottesliebe und Nächstenliebe, Demut und Enthaltsamkeit Bedeutung für die wissenschaftliche Erkenntnis. Der katholische Theologe muß daher nicht nur gläubig sein, das heißt sich mit dem Gegenstand seiner Wissenschaft identifizieren, sondern er muß auch fromm sein. Was der Theologie heute zuerst not tut, ist die innere Reform der Theologen durch eine Bekehrung im strengen religiösen Sinn. Die Einheit von Wissenschaft und Leben, von Theologie und religiöser Praxis muß glaubhaft verwirklicht oder wiederhergestellt werden. Die theologischen Lehrer müssen sich seelsorglich stärker betätigen und ihr christliches oder priesterliches Zeugnis verstärken. Die seelsorgliche Tätigkeit wirkt in der Regel in der Richtung einer größeren Verantwortung für theologische Aussagen. Das Erfüllt- und Ergriffensein der theologischen Lehrer wird nach außen dringen. Dadurch wird die Theologie wieder mehr Bekenntnis und Zeugnis werden. Denn sie will nicht nur belehren, sondern auch gewinnen. Die missionarische Dimension, die der Kirche wesent-

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lieh ist, kann und darf einer Lebensfunktion der Kirche, wie es die Theologie ist, nicht fehlen. Die Arbeit der Kirche geht nicht auf Reden, sondern auf Tun. Höher als der Dialog steht die Heiligkeit. Da die Offenbarung Gottes auf das Heil der Menschen zielt, muß die wissenschaftliche Bemühung um Einsicht in die Offenbarung die Hinordnung der Offenbarung auf die eschatologische Vollendung des Menschen ständig im Auge behalten. e) Strukturelle Veränderungen: Die Theologie ist eine Einheit trotz der Vielheit der Disziplinen. Denn ihr gemeinsamer Gegenstand ist die Feststellung und Darlegung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Dieser Einheit müssen die Theologen bei Forschung und Lehre eingedenk sein. Die Grenzen des eigenen Faches müssen gesehen, dieses muß in den Rahmen aller Disziplinen eingeordnet werden. Das Ausspielen eines (in der Regel des eigenen) Faches gegen andere muß aufhören. Der Exeget muß Respekt vor der Dogmatik, der Pastoraltheologe Verständnis für die Kanonistik haben. Der Inflation theologischer Lehrer und Schriften ist entgegenzuwirken. Die Quantität muß wieder durch Qualität ersetzt werden. "Wollt doch nicht so zahlreich Lehrer werden, meine Brüder! Ihr wißt ja, daß wir ein strengeres Gericht erfahren werden" (Jak 3,1). Für Deutschland bedeutet das konkret: Abbau von theologischen Anstalten und Verminderung der Zahl theologischer Lehrer, Verstärkung der Glaubensverkündigung durch besser ausgebildete und frömmere Zeugen des Glaubens, Verschärfung der Auslese bei Habilitationen, Verbesserung des Rezensionswesens, mehr Objektivität bei Berufungen auf Lehrstühle. Bei der Beurteilung von Personen und Werken ist der Primat der wissenschaftlichen Leistung wiederherzustellen ohne Rücksicht auf eine etwaige (,,konservative") Einstellung. Die Theologiestudierenden sind zu vermehrtem Studium - auch im Sinne des Erwerbs umfangreichen Sachwissens - anzuhalten. Der theologische Studienplan ist allein aufgrund sachlicher Erfordernisse aufzustellen. Neigung und Vorliebe aufgrund bestimmter Trends sind erst dann zu berücksichtigen, wenn die nach Wesen und Struktur von Offenbarung und Kirche notwendigen Pflichtfächer mit der erforderlichen Anzahl von Stunden bedacht sind. Die Einheit und Harmonie zwischen der intellektuellen Bildung und der religiössittlichen Vervollkommnung ist in jeder Weise zu fördern. Die Theologiestudierenden sind zu einer Lebensführung anzuhalten, die dem Erkenntnisgegenstand und der späteren Verkündigungsaufgabe angemessen ist.

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2. In der Gesellschaft

a) Mittelbar: Theologie ist Heilslehre, das heißt, sie will den Menschen zu einer vollendeten sittlichen Persönlichkeit bilden und zum ewigen Leben bei Gott führen. Sie gibt dem Einzelnen und der Gesellschaft sichere Weisungen und Gebote, starke Motive und Antriebe sowie wirksame Kräfte. Der Christ hat die Aufgabe, im privaten und öffentlichen Leben die Grundsätze des Glaubens zur Geltung zu bringen. ,,Evangelium ist Angriff' (Martin Niemöller). Katholische Welt- und Lebensanschauung drängt zu katholischer Welt- und Lebensgestaltung. Theologie ist Dienst an der Kirche und in der Kirche und über diese an den außerhalb der Kirche Stehenden. Der Dienst, den die ihren Prinzipien treue katholische Theologie der Kirche, deren Hirten und Gläubigen, leistet, ist zugleich die wichtigste Leistung für die Gesellschaft. Wenn die katholische Theologie nach ihrer Kraft dazu beiträgt, die Katholiken zum Glaubensgehorsam zu führen, leistet sie der Gesellschaft den entscheidenden Dienst. b) Unmittelbar: Darüber hinaus kann und muß die Theologie unmittelbar in die Gesellschaft hineinwirken. Gesellschaft und Staat sind Schöpfungsordnungen und haben religiöse Bezüge. Alles politische Handeln beispielsweise muß sich vor Gott verantworten, die Kunst steht unter dem Sittengesetz, die Rechtsordnung kann der Weisung durch den Glauben nicht entraten. Die Theologie hat die Aufgabe, Wert, Fruchtbarkeit und Unentbehrlichkeit der Glaubenswahrheiten für den Einzelnen und die Gesellschaft darzutun. Sie muß der Gesellschaft den Glauben darlegen, die sich aus dem Glauben ergebenden Forderungen für die Gestaltung der organisierten Gesellschaft verständlich machen, den Glauben gegen Angriffe verteidigen, die Ausbreitung des Glaubens durch Gewinnung neuer Glieder der Kirche unterstützen. Die Theologie hat auch eine kritische Funktion. Sie muß die Irrwege der Gesellschaft aufdecken und ihre Krankheiten bloßlegen. Sie hat beispielsweise darzutun, daß die morbide Wohlstandsgesellschaft Mitteleuropas weithin Freiheit mit Libertinismus verwechselt und durch den Mißbrauch der Freiheit den Zwang herbeiruft. Die Theologie soll das innerweltliche Denken von Kurzschlüssen und Irrtümern befreien, indem sie die Wirklichkeit Gottes transparent macht. Die gesunde Theologie kann so etwas wie das Gewissen der Gesellschaft werden. Die katholische Theologie wird diese hohe Aufgabe jedoch nur dann erfüllen können, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit wiedergewinnt. Dazu gehört, daß sie zur Einheit zurückfindet. Diese Einheit besteht nicht nur in der selbstverständlichen Bindung an Inhalt und Formulierung der Dogmen, sondern auch in der Unterlassung der öffentlichen Verbreitung von Ansichten, die den Äußerungen des authentischen Lehramtes der Kirche zuwiderlaufen.

Enttheologisierung des Kirchenrechts? Die seit einem Jahr erscheinende "Internationale Zeitschrift für Theologie" mit dem anspruchsvollen Titel "Concilium" hat ihr Heft 8 vom Oktober 1965 dem Kirchenrecht gewidmet. So ungewöhnlich, ja befremdlich erscheint den Herausgebern, namentlich der Sektionsleitung für Kirchenrecht (unter der sich nicht ein einziger Kanonist einer deutschen katholisch-theologischen Fakultät oder Hochschule befindet), die Tatsache, "daß eine theologische Zeitschrift wie Concilium dem Kirchenrecht ein eigenes Heft widmet" (S. 625), daß eine Rechtfertigung und Begründung dieses Vorhabens für nötig erachtet wird, die in einem Vorwort enthalten ist, für das N. Edelby, T. J. Jimenez-Urresti und P. Huizing verantwortlich zeichnen I. Manche Sätze in diesem Vorwort nimmt man mit Genugtuung zur Kenntnis, andere wecken Erstaunen, einige fordern zum Widerspruch heraus. Namentlich zwei Positionen lassen den Kanonisten aufhorchen. Erstens ist in dem Vorwort fortwährend von der Relativität des Kirchenrechts die Rede. Zweitens gipfeln die in dem Vorwort erhobenen Forderungen nach Revision des Kirchenrechts in der Parole nach ,,Enttheologisierung" des Kirchenrechts. Es soll im Folgenden geprüft werden, was es mit der "wesenhaften Relativität" des kanonischen Rechtes auf sich hat und ob die Forderung nach einer ,,Enttheologisierung" des Kirchenrechts zu Recht erhoben wird. Ist das Kirchenrecht wirklich wesenhaft relativ, wie die Verfasser behaupten, und besagt das, es sei theologisch indifferent? Und ist die Entkleidung des theologischen Charakters des Kirchenrechts wirklich eine Aufgabe der Kanonisten, für deren Vollbringung sie auf den Dienst der Autoren von Heft 8 der Zeitschrift "Concilium" angewiesen sind?

I. Wenn sich die Verfasser des Vorworts dieser Nummer die Mühe gemacht hätten, die von Karl Rahner herausgegebene und auch inhaltlich weithin geprägte 2. Auflage des ,,Lexikons für Theologie und Kirche" einzusehen, dann wäre ihnen beispielsweise in dem Artikel "Kirchenrecht" aufgefallen, daß dieser Begriff das gesamte Recht der katholischen Kirche umfaßt, ohne Unter-

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Kirchenrecht und Theologie. in: Concilium 1 (1965) 625 f.

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schied, ob es sich um göttliches oder menschliches Recht handelt, nur daß das göttliche Recht als unveränderlich, also gerade das Gegenteil von relativ, verstanden wird2 • Wer das kanonische Recht als "wesenhaft" relativ bezeichnet, muß die Folgerung ziehen, daß alles kanonische Recht relativ sei. Damit gelangt man zu einem verengten Begriff des kanonischen Rechts, der die Gefahr eines Mißverständnisses der Offenbarung in sich birgt. Es wird nämlich verkannt, daß mit dem Ereignis der Offenbarung göttliches Recht gesetzt wird. Recht ist ein Bestandteil der Offenbarung. Das Tun und Reden Jesu als des Offenbarers begründet einen Stamm von Normen, die das Leben der von ihm ge stifteten Gemeinschaft ordnen, die unabänderlich und unaufgebbar sind. Das läßt sich im einzelnen zeigen. Die Feier des Abendmahles etwa ist bindend und zwingend vom Herrn vorgeschrieben, nicht nur in allgemeiner, sondern in ganz konkreter Weise, nicht allein nach ihrem wesentlichen Inhalt, sondern auch in ihrer wesentlichen Form. Wenn der Stiftungsbefehl Jesu erfüllt werden soll, dann ist nicht nur irgendwie und auf irgendeine Art seines Todes zu gedenken, sondern dann haben die vom Herrn Bevollmächtigten in der von ihm geübten Weise mit den von ihm verwendeten Elementen und mit den von ihm gebrauchten Worten das Gedächtnis seines Todes zu erneuern. Die Gültigkeit ihres Tuns hängt davon ab, daß sie tun, was der Herr getan, und daß sie es so tun, wie er es getan. Wo aber die Wirksamkeit einer Handlung von der Einhaltung einer Form abhängt, die von einer Autorität verbindlich gemacht ist, da ist Recht vorhanden, und wenn die bindende Autorität der Sohn Gottes ist, dann liegt göttliches Recht vor. Was für den christlichen Kult gilt, trifft ebenfalls auf die christliche Lehre zu. Die Heilskraft der Verkündigung des Wortes Gottes ist an ihre sachliche Übereinstimmung mit dem Offenbarungswort Jesu und ihren formalen Vollzug durch die von Gott bzw. seinen Stellvertretern beauftragten Boten gebunden. Der Inhalt des Wortes ist autoritativ festgelegt, seine Weitergabe ist gesandten Organen anvertraut. Die jeweils ältere Generation beauftragter Verkündiger ermächtigt die jeweils jüngere Generation zur Verkündigung, und sie gibt weiter, was sie selbst empfangen hat. Nicht das religiöse Erlebnis erweckt und ermächtigt den christlichen Lehrer, sondern die erhaltene Sendung befähigt ihn zum Zeugnis. Der Geist wird dem gegeben, der die Handauflegung empfangen hat. Die Tradition bedingt die Sukzession, die Sukzession verbürgt die Tradition. Objektive, formale und autoritativ verbindlich gemachte Kriterien entscheiden über die Rechtmäßigkeit und Authentizität der Verkündigung. 2

K. Mörsdorf, Art. Kirchenrecht, in: LThK2 VI, 245 f.

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Das Recht ist also von der christlichen Verkündigung und Lehre nicht zu trennen. Tradition und Sukzession sind (auch) Rechtsbegriffe. Das gleiche gilt vom Dogma. Das Dogma, also die verbindlich gemachte Offenbarungswahrheit, ist nichts anderes als die Offenbarungswahrheit in Gestalt eines Rechtssatzes. Das Dogma ist ein Glaubensgesetz. Zu der kraft der Offenbarung bestehenden Glaubenspflicht tritt die von der Kirche als sichtbarer Gemeinschaft festgesetzte Annahmepflicht. Die Verbindlichmachung der geoffenbarten Wahrheit durch die Kirche als Rechtsgemeinschaft ist ein so elementarer Akt ihres Selbstverständnisses als des Hortes der Wahrheit, daß sie sich aus den Tatsachen der Offenbarung und der Stiftung der Kirche ohne weiteres ergibt. Mitnichten kann also die Rede davon sein, die Relativität des kanonischen Rechtes mache dessen Wesen aus. Der Kern des kanonischen Rechtes, das Offenbarungsrecht, ist absolut und unveränderlich. Relativ und veränderlich ist nicht das gesamte kanonische Recht, sondern jener Teil, der rein kirchliches, menschliches Recht ist.

11. Kein Kanonist wird den wesentlichen Unterschied zwischen Normen göttlichen und menschlichen (oder rein kirchlichen) Rechtes leugnen oder auch nur übersehen. Jeder Kanonist weiß daher apriori um die Relativität der letzteren. Darüber hat ihn aposteriori sein Studium der Rechtsgeschichte belehrt. Sorgfältig arbeitet jeder Kirchenrechtslehrer beispielsweise im Eherecht die göttlich-rechtliche bzw. menschlich-rechtliche Grundlage der verschiedenen kirchlichen Ehehindernisse heraus. Aber damit, daß dieser Unterschied erkannt ist und zugegeben wird, ist die der Kirche und der Wissenschaft gestellte Aufgabe nicht gelöst, sondern nur auf eine andere Ebene gehoben. Relativität des rein kirchlichen Rechtes besagt nicht Indifferenz gegenüber jeder denkbaren Gestalt desselben. Die dem kirchlichen Gesetzgeber bzw. der Kanonistik obliegende Aufgabe besteht gerade darin, jene Form des rein kirchlichen Rechtes zu finden, die sich dem göttlichen Recht am vollkommensten anschließt, d. h. die der Offenbarung bzw. dem Glauben am meisten entspricht und dem zu ordnenden Gegenstand am besten angepaßt ist. Unter den vielen denkbaren Lösungen haben also nicht nur solche auszuscheiden, die im Widerspruch zu den Dogmen der Kirche stehen, sondern sind auch jene abzulehnen, die der Heilssendung der Kirche 3 weniger dienlich sind als andere. Die Denkmöglichkeit von Rechtsänderungen entscheidet mithin nicht schon über ihre Zulässigkeit. Gerade hier 3 Eine theologische Zeitschrift wie "Concilium" sollte wissen, daß das lateinische Wort "salus" ein Femininum ist, und daher "die salus animarum" schreiben (S.625, 626).

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kommt der theologische Bezug jeder, aber wirklich jeder Nonn des Kirchenrechts zum Vorschein. Die zu rechtlicher Ordnung anstehenden Gebiete mögen scheinbar oder tatsächlich von dem Heilszweck der Kirche weit entfernt sein ohne jede Beziehung zu ihm sind sie nicht. Diese Beziehung aufzudecken und in der Gestalt und Formulierung der Nonnen sichtbar zu machen, ist die der Kirche unablässig obliegende Aufgabe. Der kirchliche Gesetzgeber und die Kanonistik sind auf unverletzliche dogmatische Grundsätze festgelegt, die sie stets vor Augen haben müssen. Die rechtliche Gestaltung kirchlicher Normen hat sich am theologischen Wesen der Kirche bzw. der zu regelnden Gegenstände zu orientieren und ist daran immer von neuem zu überprüfen. Das unveränderte Wesen der ordnungsbedürftigen Materien ist die unüberschreitbare Grenze und das unverrückbare Leitbild jeder kanonistischen Normierung. Die Redeweise von den kirchlichen Gesetzen, die "nur kanonistische Normen darstellen, die unter der Gewalt der Kirche stehen und von dieser beliebig modifiziert werden können" (S. 625), ist daher zumindest mißverständlich. Es sei gestattet, zu dieser Frage Karl Rahner zu zitieren. Dieser gewiß über den Verdacht der ,,Juridifizierung" der Theologie und der "Theologisierung" des kanonischen Rechts erhabene Zeuge schreibt: "Auch das ius humanum ist (soweit es nicht bloß faktische Konvention und mehr ist als Ergebnis bloßer Gewalt) infolge der Legitimiertheit der Autorität durch das göttliche Recht und durch die Ge verschiedene) Sachgebundenheit, die der reinen Willkür nie erlaubt, sich als Recht zu erklären, eine Partizipation des göttlichen Rechtes,,4. Was Rahner sagt, gilt schon von der Rechtsetzung der nur durch das natürliche göttliche Recht legitimierten Autorität wie der des Staates. Es hat in ungleich stärkerem Maße seine Berechtigung für die vom geoffenbarten Recht legitimierte Autorität der katholischen Kirche. Auch das rein kirchliche Recht ist geistlichen Wesens und trägt heiligen Charakter. Der geistliche Zug des gesamten göttlich-menschlichen Kirchenrechts schließt eine Zertrennung der einen, Äußeres und Inneres unlösbar verbindenden Kirche aus. Der katholische Kirchenbegriff gestattet nicht, zwischen einer heilsnotwendigen Wesens kirche und einer für die Gewinnung des Heils entbehrlichen empirischen Kirche zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen den relativen Nonnen des rein kirchlichen Rechtes und "dem absoluten ... Charakter der theologischen Normen" berechtigt nicht dazu, "einigermaßen gültig zwischen ,ecclesia juris' und ,ecclesia caritatis' zu unterscheiden" (S. 625). Diese verwaschenen, nun schon allzu oft strapazierten, bei jedem Schriftsteller in einem verschiedenen Sinne gebrauchten Ausdrücke sind nicht imstande, theologisch

4 K. Rahner, Art. Recht, Göttliches Recht und menschliches Recht, in: LThK2 VIII, 1033.

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befriedigende Aussagen über den gemeinten Sachverhalt zu machen. Recht und Liebe sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich. Die Liebe wird in der Regel zunächst einmal tun müssen, was rechtens ist, ehe sie mehr und anderes tun kann. - Dann geht es auch nicht an, der sog. Rechtskirche das Äußere und der sog. Liebeskirche das Innere zuzuweisen und dabei das Recht ohne weiteres als zum Äußeren gehörig zu rechnen, wobei Äußeres als relativ, wandelbar und weniger wichtig verstanden wird. Ein Recht, das eine Kirche wesentlich mitkonstituiert, ein Recht, das im Zentrum dieser Kirche, nämlich in Wort und Sakrament seinen Sitz hat, ein solches Recht ist nicht etwas bloß Äußeres, sondern auch etwas zutiefst Inneres. - Schließlich ist doch nicht zu verkennen, daß die Zuordnung von Kirchenrecht und Relativität auf der einen und von Theologie und Absolutheit auf der anderen Seite den Charakter der übrigen theologischen Disziplinen verkennt. Wie vieles etwa in der heute in hohem Kurs stehenden Liturgik ist relativ, historisch! Und auch in der Dogmatik ist nicht alles absolut. Wozu hätte diese Disziplin ein umfangreiches und subtiles System theologischer Gewißheitsgrade und Zensuren entwickelt, wenn die von ihr vorgetragenen oder abgelehnten Lehren allesamt auf der gleichen Ebene stünden? - Es muß dabei bleiben: Die Begriffe Rechtskirche und Liebeskirche sind ungeeignet, die Zusammenordnung von Göttlichem und Menschlichem in der Kirche auszudrücken. Sie sollten als verwirrungstiftend in wissenschaftlichen Abhandlungen ebenso wie in der kirchlichen Verkündigung vermieden werden. HI.

Die Relativität des rein kirchlichen Rechtes bedingt seine Veränderlichkeit. Kein Kanonist wird sich der Notwendigkeit, ja Unentbehrlichkeit von Rechtsänderungen verschließen. Die Erkenntnis der Revisionsfahigkeit und -bedürftigkeit kirchenrechtlicher Normen ist kein Fortschritt der mit Johannes XXIII. und dem 2. Vatikanischen Konzil anhebenden Epoche. Der nicht nur von außerhalb der Kirche stehenden Kreisen kritisierte oder gar geschmähte Pius XII. hat, wie jeder gerecht urteilende Kenner der Materie weiß, in außerordentlich weitblickender Weise neuen Verhältnissen und neuen Erkenntnissen durch neue Gesetze Rechnung getragen. Ich erinnere hier - beispielsweise - an die Einführung der Abendmesse, an die Erteilung der Firmvollmacht für Priester und an die Neuordnung der Karliturgie. Wogegen sich jedoch jeder verantwortungsbewußte Kanonist wenden wird, das sind vorschnelle, übereilte Rechtsänderungen, das sind unnötige, überflüssige oder gar schädliche Rechtsänderungen, das sind unausgegorene, dilettantische Rechtsänderungen, das sind abrupte, die Kontinuität zerbrechende, aus Ignoranz und Hybris hervorgehende Rechtsänderungen. - Der Kanonist wird sich auch gegen den heutzutage weit-

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verbreiteten Irrtum zur Wehr setzen, der (beinahe) alles Unheil in dem geltenden Recht findet und (beinahe) alles Heil von dem zu schaffenden Recht erwartet. Der Kanonist denkt nüchterner über die Aufgabe des Rechts. Das Recht vermag die Seelsorge nicht zu ersetzen, sondern nur zu unterstützen. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß in der Gegenwart diejenigen, die das Wort "pastoral" am meisten im Munde führen, der Seelsorge den größten Schaden zugefügt haben. Der Rückgang religiösen Eifers und religiösen Ernstes, der in den letzten Jahren überall zu beobachten ist, den jeder ehrliche Seelsorger zugibt und der sich statistisch belegen läßt, ist nämlich zum nicht geringen Teil der Wirksamkeit jener Kreise zuzuschreiben, die angeblich aus pastoralen Notwendigkeiten fortwährend unsinnige Rechtsänderungen propagieren oder gar schon vorwegnehmen in einer Art Antizipation einer ungewissen Zukunft und dadurch im gläubigen Volk eine beispiellose Verwirrung und Unsicherheit hervorgerufen haben, deren Folgen Autoritätsverlust und Minderung der Achtung vor dem Gesetz sind. Anpassung jener Einrichtungen und Formen der Kirche, die veränderlich sind, an gewandelte Verhältnisse ist erforderlich; strittig ist nicht diese Notwendigkeit, sondern ihr Ausmaß und der der Kirche zur Verfügung stehende Spielraum. - Fortschritt ist unerläßlich; kein Mensch wird sich gegen den Fortschritt wenden. Die Frage ist nur, ob etwas ein Fortschritt ist. -Vorgeschlagene Maßnahmen der Anpassung und des Fortschritts haben sich vor dem Glauben, der Vernunft und der Geschichte zu legitimieren. Erst wenn sie diese dreifache Prüfung bestanden haben, dürfen sie verwirklicht werden. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, einmal die Frage zu stellen, ob die häufige Anführung des Wortes Johannes' XXIII. vom notwendigen und erwünschten "aggiornamento" überhaupt berechtigt und für die Ableitung konkreter Forderungen geeignet ist. Meines Wissens hat Johannes XXIII. nur sehr andeutungsweise und wenig ins einzelne gehend von dem aggiornamento gesprochen. Der Tod hat verhindert, daß der Papst seine Andeutungen präzisierte. Nicht umsonst hat der Bischof von Münster die Impulse dieses Papstes "genial, aber unbestimmt" genannt. Solange daher jeder auf eigene Faust es unternimmt, Sinn, Richtung und Reichweite des angekündigten aggiornamento zu bestimmen und die Parolen "katholisch", "ökumenisch" und "pastoral" zu interpretieren, die Johannes XXIII. zugeschrieben werden und die angeblich das Gesicht des 2. Vatikanischen Konzils prägen, ist nicht damit zu rechnen, daß die wahren Intentionen des verstorbenen Papstes getroffen werden. Die Berufung auf ihn ist wertlos, wenn sie nur mit Hinweisen auf allgemein gehaltene Äußerungen zu argumentieren vermag. Das müssen sich auch die Verfasser des Vorworts in dem 8. Heft der Zeitschrift "Concilium" sagen lassen. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Kanonistik steht nicht neben der Theologie, sondern in der Theologie; sie ist eine theologische Disziplin, ein legitimer Teil der theologischen Wissenschaft. Es macht das Wesen der Kanonistik

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aus, daß sie auf dogmatischer Grundlage und theologischen Prinzipien juristisch arbeitet. Diese Eigentümlichkeit unterscheidet sie von der weltlichen Rechtswissenschaft. Die Kirchenrechtswissenschaft ist ein Jahrtausend lang im Rahmen und als Zweig der Gesamttheologie betrieben worden, und wenn sie im 12. Jahrhundert als selbständige Disziplin aufzutreten begann, so bedeutete das nicht, daß sie den Zusammenhang und die Verbindung mit der Theologie verlor, sondern besagt nur, daß sie, neben der beibehaltenen Methode theologischer Arbeit, zum Bewußtsein der Notwendigkeit auch einer juristischen Arbeitsweise erwachte. Ein Blick in das Dekret Gratians genügt, um zu beweisen, daß der Bologneser Magister ebensosehr Theologe wie Jurist war. Die Heilige Schrift, die Schriften der Kirchenväter und die Entscheidungen der Konzilien spielen in diesem ersten und grundlegenden Werk der entstehenden Kanonistik die entscheidende Rolle. Die Verbindung, ja Verflechtung mit der Theologie ist für die Kanonistik wesentlich. Die Parolen nach "Entjuridifizierung" der Theologie und nach ,,Enttheologisierung" des Kirchenrechtes sind unangebrachte Schlagworte. Nicht die ,,Enttheologisierung" des Kirchenrechtes darf das Ziel der kanonistischen Arbeit sein, sondern seine "Theologisierung". Dabei ist unter "Theologisierung" das Bemühen zu verstehen, die theologischen Grundlagen des Rechts und die Rechtselemente der Offenbarung und des Glaubens klarer zu erfassen, die Bezüge zwischen kirchlicher Rechtsnorm und katholischer Wahrheit enger zu gestalten, Inhalt und Gestalt des Rechts zu einem immer vollkommeneren Ausdruck des Glaubens zu machen. Wenn die Kanonistik ihre Aufgabe so versteht, folgt sie dem Gesetz der Offenbarung und bleibt ihren Ursprüngen treu.

Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts * Jede Wissenschaft verdankt ihren Fortschritt dem Widerspruch. Immer wieder wird in dialektischem Dreischritt aus These und Antithese die Synthese geboren. Kaum jemand hat der kanonistischen Wissenschaft so fruchtbare Anregungen vermittelt wie Rudolph Sohm. Der oft Totgesagte ist heute genauso lebendig wie vor 50 Jahreni. Dieser geniale Jurist reformatorischer Provenienz kennt keine Halbheiten; er ist ein leidenschaftlicher, im guten Sinne radikaler Denker. Ihm konzentriert sich das Wesen des Katholizismus im Kirchenrecht. Seine Einwände gegen das Kirchenrecht lassen sich kurz auf den Schluß zurückführen: Das Wesen der Kirche ist geistlich. Das Wesen des Rechts ist weltlich. Also will die Kirche kraft ihres Wesens kein Rech? Niemand kann die Stringenz dieses Schlusses bestreiten, wenn die Prämissen richtig sind. In der Tat: Ist das Recht wesensnotwendig weltlich, so kann es der Kirche, wenn überhaupt, dann nur äußerlich, als menschliche Ordnung des äußeren Kirchenwesens anhaften 3• Dann ist die kanonistische Wissenschaft keine theologische, sondern eine juristische Disziplin. Nun ist unbestreitbar, daß der Obersatz des Sohmschen Schlusses zutrifft. Das Wesen der Kirche ist geistlich. Die Kirche ist ja die Gegenwart des Göttlichen in der Welt. Aber trifft auch der Untersatz zu? Ist das Wesen des Rechtes wirklich notwendig weltlich? Ich kann hier nicht die Frage behandeln, ob das Kirchenrecht im vollen Sinn

Recht sei. Ich halte diese Frage für entschieden, und zwar im bejahenden Sinne.

Man kann sagen, das Kirchenrecht sei ein schwaches Recht oder ein unvollkommenes Recht, weil ihm zu seiner Durchsetzung keine physischen Zwangs-

• Antrittsvorlesung, gehalten am 2. Februar 1961 an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz anläßlich der Übernahme des Lehrstuhls für Kirchenrecht in der Kath.Theol. Fakultät. I Vgl. W.-D. Marsch, Evangelische Theologie vor der Frage nach dem Recht, in: Evangelische Theologie 20 (1960) 489; K. Wortelker, Evangelisches Kirchenrecht Recht? (Hamburg 1960) 163 ff.

2 R. Sohm, Kirchenrecht I: Die geschichtlichen Grundlagen (Leipzig 1892); II: Katholisches Kirchenrecht (München / Leipzig 1923).

3

135.

Vgl. N. Lämmle, Beiträge zum Problem des Kirchenrechts (Rottenburg a. N. 1933)

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mittel zu Gebote stehen4, aber man kann nicht sagen, das Kirchenrecht sei überhaupt kein Recht. Es fehlt ihm keines der Momente, welche eine Gemeinschaftsordnung zum Recht machen, auch nicht der Zwang5 . Vorausgesetzt also, daß das Kirchenrecht im eigentlichen Sinne Recht ist, erhebt sich die Frage, ob das Recht an sich wesentlich weltlich ist, ob es also kraft seines Wesens dem Wesen der Kirche, die geistlich ist, widerstreitet. Denn nur dann, wenn es feststeht, daß das Recht an sich nicht notwendig weltlich ist, hat es einen Sinn, nach dem geistlichen Wesen des Kirchenrechts zu fragen. Versteht man unter Recht ..eine in einer Verbindung von Freiheit und Zwang wurzelnde Ordnung zur Ermöglichung eines Grundbestandes von Sittlichkeit und Sicherheit in den Beziehungen der Menschen unter sich und in der Gesellschaft,,6, so ergibt sich daraus nichts, was dazu zwingt, alles Recht, das Recht schlechthin als weltlich zu kennzeichnen. Die innerwesentliche Struktur des Rechts, die notwendig formal ist, besteht darin, gerecht zu sein. Seine inhaltliche Bestimmtheit und seine Eigenart gewinnt das Recht erst und nur von dem Sein, das es zu ordnen unternimmt. Weltlich kann das Recht nicht an sich, sondern nur mit Rücksicht auf seinen Inhalt genannt werden. Jenes Recht ist weltlich, das weltliche Verhältnisse ordnet. Die Seinsordnung, der sich das Recht anschließt und der es dient, bestimmt also die charakteristische Eigenart des Rechts 7• Wie das Sein analog ist, so ist auch das Recht analog. Ordnet das Recht natürliches Sein, dann heißt man es weltliches Recht. Ordnet es aber übernatürliches Sein, dann bezeichnet man es als geistliches Recht. Beidemale muß das Recht juristisch richtiges Recht seinS. Auch der Kanonist kann des Handwerkszeugs des Juristen nicht

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K. Petraschek, System der Rechtsphilosophie (Freiburg i. Br. 1932) 357 f.

5 Vgl. etwa H. Gerlach, Logisch-juristische Abhandlung über die Definition des Kirchenrechts (Paderborn 1862) 13; Petraschek 126. 128. 6

Petraschek 82.

Ausführlich handelt über diese Zusammenhänge W. Bertrams, Die Eigennatur des Kirchenrechts, in: Gregorianum 27 (1946) 527. 544 f. 7

8 Diesen Gedanken hebt neuerdings G. Söhngen, Der metakanonistische Bereich, ein rechtstheologischer Begriff: Die Kirche und ihre Ämter und Stände. Festgabe für Joseph Kardinal Frings (Köln 1960) 281 in klassischen Formulierungen hervor. "Wenn das Kirchenrecht gewiß Recht im analogen Sinn ist, dann hat solche Entsprechung ... doch nur einen guten Sinn, wenn das Kirchenrecht zunächst juristisch richtiges Recht ist. Und je vollkommener es dies ist, um so besser für das Kirchenrecht, und das nicht nur in juristischer, sondern auch in theologischer Hinsicht. Je juristischer darum die Sprache des Kirchenrechts gestaltet ist, desto besser ist es mit dem Kirchenrecht bestellt, und ich wiederhole, auch in theologischer Hinsicht. Reinheit der Sprache heißt im Kirchenrecht zunächst einmal Reinheit der juristischen Denk- und Sprechweise." S. noch J. F. Schul-

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entraten. Aber der Inhalt dessen, was die jeweilige Rechtsordnung umgreift, ist sehr verschieden, je nachdem er in der Schöpfungsordnung vorfindlich oder von der Offenbarungsordnung geschaffen ist. Das weltliche Recht tritt uns nun vorzugsweise in der Gestalt des staatlichen Rechtes entgegen. Das staatliche Recht ist weltlich, insofern es von dem aus der menschlichen Natur notwendig entstehenden Staat geschaffen ist, die zur Erfüllung der irdischen Bedürfnisse der Menschen erforderlichen Verhältnisse regelt und das zeitliche Wohl der Allgemeinheit zu gewährleisten sucht. Die Kennzeichnung des staatlichen Rechts als weltlich bedeutet also, daß es der Schöpfungsordnung angehört, daß es menschliches Recht ist, daß es natürlich ist. Das kirchliche Recht ist anders als das weltliche Recht. So eng und fruchtbar sich in der langen Geschichte wechselseitiger Beziehungen die beiden Rechtsordnungen berührt haben, so fest und allgemein war zu allen Zeiten die Überzeugung, daß das kanonische Recht, ein Recht eigener Art sei. Die Andersartigkeit des kanonischen Rechtes gegenüber dem weltlichen, insbesondere dem staatlichen Recht kommt in seiner Bezeichnung als geistliches Recht zum Ausdruck. Geistlich9 bedeutet nach biblischem und kirchlichem Sprachgebrauch "vom Geist gewirkt", "vom Geist erfüllt" oder "dem Geist entsprechend", und zwar ist unter diesem Geist der Geist Gottes zu verstehen; von daher besagt "geistlich" im Gegensatz zu "irdisch", "fleischlich" oder "weltlich" die Wesensbestimmtheit alles zur übernatürlichen Ordnung Gehörigen. Wird also das kirchliche Recht als geistliches Recht bezeichnet, so wird damit gesagt, daß es aus ihrem Geiste kommt lO, der da nicht bloß als "objektiver Geist" der Inbegriff bestimmter Überzeugungen und Grundsätze einer irdischen Gemeinschaft ist, sondern der lebendige und lebenspendende Gott. Eine kirchliche Ordnung, die nicht entweder vom göttlichen Geist gewirkt oder von demselben Geist erfüllt oder wenigstens diesem Geist gemäß ist, ist kein Recht in der Kirche. Alle Rechtsbegriffe und Rechtseinrichtungen der Kirche sind in letzter Linie am Geist Gottes zu messen", anders ausgedrückt, an ihrer Eignung, das übernatürte, Über die Bedeutung und Aufgabe des Kirchenrechts und der Kirchenrechtswissenschaft, in: AfkKR 1 (1857) 2. 14. 9

Vgl. LThK2 IV, 618.

10 Vgl. E. Wolf, Zur Rechtsgestalt der Kirche, in: Bekennende Kirche. Martin Niemöller zum 60. Geburtstag (München 1952) 258. 11 Vgl. E. Wolf, Bekennendes Kirchenrecht, in: Rechtsgedanke und biblische Weisung (Tübingen 1948) 67, der hervorhebt, daß für das Kirchenrecht die sonst gewohnten und passenden allgemeinen Rechtsbegriffe nicht gelten. Der Grund liegt darin, daß die Kirche als Glaubensgemeinde eine von allen anderen menschlichen Gemeinschaften unterschiedene Gemeinschaft ist, weil sie dem göttlichen Erwählungswillen ihr Dasein verdankt. S. auch ebenda 82 f.

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liche Leben der Gnade zu schenken, zu erhalten und zu entfalten 12 . Der geistliche Charakter des kanonischen Rechts zeigt sich in dreifacher Weise, in seiner Herkunft, seinem Gegenstand und seinem Ziel I3 . I. Göttliche Herkunft

Das kanonische Recht ist Recht der Kirche. Die Kirche ist kein Gemächte von Menschenhand, sondern Gottes Werk; sie ist nicht aus dem Gesellungstrieb und dem Organisationswillen der Menschen entstanden, sondern von Gott durch seinen Knecht Jesus geschaffen. Gottes Heilshandeln in Christus Jesus erwählt das neue Gottesvolk, in dem Gottes Herrschaft sich durchsetzt. 1. Das Gesetz im Evangelium

Das Heil, das Gott in Christus Jesus durch den Dienst der Menschen anbietet, ist nichts anderes als der gnädige Gott selbst. Die "Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes" (Tit. 3,4) offenbart sich indes nicht nur im Vergeben, sondern auch im Gebieten. Die Verkündigung von Gottes Geboten ist nicht weniger Heilsgabe als die Botschaft von Gottes Verzeihen. Das Evangelium schenkt nicht nur ein Haben und Besitzen, sondern auch ein Sollen und Müssen. Freilich tritt das Gesetz des Neuen Bundes nicht von außen als fremd an den Christen heran, sondern wird ihm innerlich als eigen gegeben. Die Forderung des neuen Gesetzes erhebt sich auf Grund von Glauben und Gnade als Wesensausdruck des neuen Seins. Weil es ein Sollen aus Gnade ist, schenkt die Gnade auch das Können. Derselbe Geist, der das Gebot aufstellt, wohnt in den Herzen der Gläubigen und befähigt sie zur Erfüllung des Gebotenen 14 •

12 Vgl. W. Bertrams, Vom Sinn des Kirchenrechts, in: Stimmen der Zeit 143 (1948/1949) 100.

13 Vgl. ähnlich M. Schmaus, Katholische Dogmatik III, 13-5: Die Lehre von der Kirche (München 1958) 457. 14 Schmaus III, 1 461 f. erläutert das Thema "Gesetz und Evangelium" dahin, daß Christus als der Gesandte des Vaters das Heil nicht nur angeboten, sondern die Menschen zur Annahme verpflichtet habe. Das Evangelium habe zugleich den Charakter des Gesetzes, freilich nicht mehr eines apersonalen Gesetzes, sondern jenes Gesetzes, das Christus selber ist. Die personale Bindung an Christus setze das Gebot nicht außer Kraft, sondern stelle es an den rechten Ort. Der Wert und der Verpflichtungscharakter der Gebote ruhe - nach der Befreiung vom alten Gesetz - darin, die Christusbezogenheit zu regeln. Sie haben die Funktion der Christusbindung, indem sie deren Tatsache dem gläubigen Bewußtsein lebendig erhalten und deren Inhalt auslegen. Vgl. auch P. Bläser, Gesetz und Evangelium, in: Catholica 14 (1960) 1-23. Nach ihm gehören in der Ver-

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So gibt es denn ein positives göttliches Recht, ein Recht, das nicht der Schöpfungsordnung, sondern der Erlösungsordnung angehört, nicht ein natürliches, sondern ein übernatürliches Recht. 15 2. Das Gesetz und die Bibel

Die Urkunde der Erlösung ist die Heilige Schrift. Der göttliche Ursprung des Kirchenrechts besagt seine Aufnahme in die Offenbarung, deren literarischer Niederschlag die Bibel ist, wie sie in der Kirche gelesen wird. Insofern die Bibel das Glaubensbuch der Kirche ist, sind die Grundlagen des kirchlichen Rechts Gegenstand des Glaubens. Der heilsnotwendige Glaube, der sich bejahend, hoffend und vertrauend auf das richtet, was Gott in Christus Jesus zum Heil der Menschheit getan hat, umfaßt auch das geoffenbarte Kirchenrecht und die göttliche Herkunft des Kirchenrechts. Eine Trennung von Glaube und Recht gibt es nicht. Das Kirchenrecht steht nicht im Vorhof der Offenbarung, sondern hat Zutritt zum Allerheiligsten. Es ist nicht ein aus praktischen Erwägungen oder infolge Überfremdung aufgesetztes Pfropfreis, sondern ein arteigener Schößling der geoffenbarten Wahrheit l6 .

kündigung Pauli Indikativ und Imperativ untrennbar zusammen. Die Imperative sind jedoch nicht reine Forderung, sondern sie sind das Pneuma selbst und geben in ihrer Forderung zugleich die Kraft der Erfüllung. Der Inhalt des Gesetzes ist zugleich Inhalt des Evangeliums. S. noch G. Söhngen, Gesetz und Evangelium, in: Catholica 14 (1960) 81-105; derselbe, Gesetz und Evangelium. Ihre analoge Einheit (Freiburg / München 1957). 15 Lämmle 140 f. untersucht, inwiefern Christi positiver Wille hinsichtlich der Kirche alle wesentlichen Eigenschaften einer Rechtsnorm im allgemeinen Sinne an sich trägt. Seine Willensäußerungen seien sozial, d. h. dem Gemeinwohl zugewandt. Sie entstammen einer höchsten Autorität, die Gesetzgebungsgewalt über alle Menschen hat. Sie seien als eigentliche Gesetze promulgiert, deutlich erkennbare, zeitlich und räumlich unbegrenzte Weisungen des Herrn der Welt, der während der Zeit seiner Gesetzgebung in Menschengestalt auf Erden weilte und dadurch wie jeder andere menschliche Gesetzgeber sich verständlich machen konnte. Der einzige - freilich entscheidende - Unterschied der Gesetzgebung Christi von jeder anderen liege in ihrem Geheimnischarakter; sie enthalte Normen, die zwar der menschlichen sozialen Vernunft nicht widersprechen, ihr aber auch nicht ohne weiteres einleuchten. Vgl. auch E. Rößer, Göttliches und menschliches, unveränderliches und veränderliches Kirchenrecht von der Entstehung der Kirche bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts (Paderborn 1934) 60 ff.

16 Mit Recht sagt J. Heckei, Das Decretum Gratiani und das deutsche evangelische Kirchenrecht: Studia Gratiana III (Bononiae 1955) 493 von der mittelalterlichen Kirche (was freilich von der Kirche zu allen Zeiten gilt): "In der mittelalterlichen Kirche waren doch Glauben und Recht nicht zu trennen. Im göttlichen Recht hatte sie ihre zugleich

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Die Einheit von Glaube und Recht hat zwei Folgen: Einmal ist der Glaube Maßstab allen menschlichen Rechts in der Kirche, und zum anderen ist Kirchenrecht wider den Glauben Unrecht 17 • a) Der Glaube als Maßstab des menschlichen Rechts Der Glaube ist nicht nur insofern Maßstab des menschlichen Rechts in der Kirche, als dieses nichts enthalten darf, was dem Glauben widerspricht, sondern auch insofern, als es aus dem Glauben gestaltet werden muß. Der Glaube ist nicht nur Schranke, sondern auch Richtschnur aller kirchlichen Rechtssetzung l8 • Das gesamte vom kirchlichen Gesetzgeber gesetzte Recht muß vom Glauben geprägt, muß, um eine Formel von Erik Wolf aufzugreifen l9 , bekennendes Recht sein. Es liegt dem Kirchenrecht nicht nur daran, nützliche und praktische Normen zu setzen, sondern vor allem Normen zu finden, die Christum treiben 20•

glaubensmäßige und rechtliche Grundlage. Diesen Kirchenbegriff kann man nicht in zwei Hälften, eine dogmatische und eine juristische, zerschneiden." 17 Daß das kirchliche Recht wie jedes Recht ohne Übereinstimmung mit dem Naturrecht keine Geltung beanspruchen kann, ist selbstverständlich. Vgl. etwa G. J. Ebers, Grundriß des katholischen Kirchenrechts (Wien 1950) 231 f. 18 Dies sprach A. von Scheurl, Die Selbständigkeit des Kirchenrechts, in: Zeitschrift für Kirchenrecht 12 (1873) 62 f. aus, wenn er erklärte, es gebe keine kirchenregimentliche Verfügung oder Handlung, deren materielle Rechtmäßigkeit nicht dadurch bedingt wäre, daß sie ihren letzten Grund im Evangelium, in dem geoffenbarten Willen Gottes hat, daß damit gewissermaßen Gottes Wort angewendet wird, freilich nicht unmittelbar, sondern so, daß daraus unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände die unmittelbar zu befolgende Regel abgeleitet wird, während die Gebote der weltlichen Obrigkeit Gehorsam fordern, wenn sie nur nichts gebieten, was wider Gottes Wort ist. - Der Glaube gibt Hinweise, welche Gebiete und welche Gegenstände kirchlichen Lebens rechtlicher Regelung bedürftig sind. Der Glaube lehrt, welcher Formen und Mittel der Gesetzgeber sich bedienen darf und welche er zu meiden hat. 19 Wolf, Bekennendes Kirchenrecht 67 f. Er führt aus, daß alles Kirchenrecht nicht anders beschaffen sein kann als sonstiges Wesen der Kirche auch, und das heißt: es muß Zeugnis ablegen von der christlichen Offenbarungswahrheit, es muß bekennendes Recht sein. Die von der Kirche gelebte Ordnung muß beispielhaft vorgelebt werden als ein Akt des kirchlichen Bekenntnisses. Vgl. jetzt auch derselbe, Ordnung der Kirche. Lehr- und Handbuch des Kirchenrechts auf ökumenischer Basis (Frankfurt am Main 1960) 18 f.

20 Die Ausrichtung des Kirchenrechts an Glauben und Bekenntnis hat auch zur Folge, daß es ein gemeinsames Kirchenrecht verschiedener religiöser oder auch bloß christlicher Bekenntnisse nicht geben kann. Das Kirchenrecht der einen, auf Primat und Episkopat als Elementen göttlichen Rechts und Gegenständen des Glaubens gegründeten,

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b) Unwirksamkeit des Kirchenrechts wider den Glauben Wenn der Glaube, der sich im Bekenntnis verleiblicht, Schranke und Richtschnur der kirchlichen Gesetzgebung sein muß, dann hat auch in der katholischen Kirche der Grundsatz unbedingte Geltung, der im Kirchenkampf der protestantischen Christen geprägt wurde: Was bekenntniswidrig ist, ist in der Kirche auch rechtswidrig. Menschliches Recht, das wider den Glauben steht, ist unwirksam, ist Unrecht21 • 3. Göttliche Legitimation menschlicher Rechtssetzung

Nicht nur die Tatsache, daß es überhaupt Recht in der Kirche gibt, beruht auf göttlicher Anordnung, sondern auch die wesentlichen Grundlagen der rechtlichen Ordnung in der Kirche leiten sich von Gottes Stiftung her. So sind die Grundzüge der kirchlichen Verfassung göttlichen Rechtes 22 • Die Inhaber des apostolischen Amtes in der Kirche sind im Besitz einer ihnen von Christus übertragenen Hoheitsgewalt. Kraft dieser hoheitlichen Hirtengewalt setzen sie das sogenannte menschliche Recht23 • Weil die kirchlichen Amtsträger ihre Gewalt von Christus herleiten und in seiner Vertretung tätig werden, schaffen

sichtbaren Kirche Jesu Christi ist spezifisch verschieden von dem Recht jeder anderen christlichen Gemeinschaft. Ebenso kann das Kirchenrecht nie zur Gänze Ausdruck der nationalen Eigentümlichkeiten eines Volkes werden, so wenig einer Aufnahme nationaler Rechtselemente in das Kirchenrecht andere Hindernisse als der Geist Christi und der Nutzen für die Heilsaufgabe der Kirche entgegenstehen. 21 Besonders eindringlich wird dies von M. Schoch, Evangelisches Kirchenrecht und biblische Weisung (Zürich 1954) 117. 122 herausgestellt. Nach ihm gibt es im Raum der Kirche die Unterscheidung zwischen materiell unrichtigem, aber formal gültigem Recht nicht. Entscheidend ist vielmehr nur, ob eine Bestimmung mit dem Wesen der Kirche übereinstimmt oder nicht, ob sie vom Bekenntnis her zu rechtfertigen ist oder nicht. Widerspricht die rechtliche Ordnung der Kirche der Aufgabe, das Wort Gottes zu verkündigen, so ist der Gültigkeit der Vorschrift der Boden entzogen. Eine bloß formale Rechtsgültigkeit von kirchlichen Vorschriften, die mit dem Wesen der Kirche nicht vereinbar sind, kennt nach ihm das evangelische Kirchenrecht nicht. Das gleiche gilt für die Verwaltung. Verwaltungsmaßnahmen, die gegen die Schrift verstoßen, sind unwirksam. 22 Lämmle 141. J. B. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts 14 (Freiburg im Breisgau 1925) 10 stellt Anordnungen des CIC zusammen, in denen sich der kirchliche Gesetzgeber auf göttliche Weisung beruft. Vgl. auch K. Rahner, Primat und Episkopat, in: Stimmen der Zeit 161 (1957/1958) 321-336. 23

Lämmle 141 f.; Schmaus III, 1461.

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sie im Gewissen verbindliches Recht für die Glieder der Kirche 24 • Das menschliche Recht ist also geistlich legitimiert. Dazu kommt, daß die Rechtssetzung der kirchlichen Amtsträger, wie die Regierung der Kirche überhaupt, unter dem Einfluß des Geistes Gottes steht, den Christus verheißen und gesandt hat25 •

24 Schmaus III, 1 461. Schmaus III, 1 458 hebt hervor, daß das ius mere ecc1esiasticum nicht durch einfache Entfaltung des von Christus Grundgelegten hervorgebracht wird, sondern von der Kirche aufgrund der ihr verliehenen hoheitlichen Gewalt in freier Entscheidung nach den Bedürfnissen der jeweiligen Lage geschaffen wird. Es dient der Verdeutlichung und Durchsetzung des ius divinum. Er unterscheidet zwischen Ausführungsbestimmungen zum göttlichen Recht, die das von Christus gesetzte Recht in die Wirklichkeit des Lebens überzuführen suchen, und zwischen Bestimmungen, die einfach der Ordnung des kirchlichen Lebens dienen wollen. Schmaus stellt hier den Grundsatz auf, daß das göttliche Recht in das kirchliche Recht um so mehr hineinwirkt, je wichtiger ein Rechtssatz für die Gesamtordnung ist und je enger sein Inhalt mit der Aufgabe der Kirche verbunden ist, um so weniger, je geringfügiger ein Rechtssatz für die Gesamtordnung ist und je weiter er von der Aufgabe der Kirche entfernt ist. - Ich möchte ergänzen: Ein Rechtssatz, der in keiner Hinsicht mehr der Aufgabe der Kirche dient, ist unwirksam. Hier hätte der Gesetzgeber den Bereich seiner Zuständigkeit überschritten; seine Gewaltübung würde nicht mehr vom göttlichen Recht, von der ihm letztlich von Christus verliehenen hoheitlichen Hirtengewalt gedeckt. 25 Das heißt selbstverständlich nicht, daß die der Kirche in Glaubens- und Sittenfragen zustehende Unfehlbarkeit (vgl. c. 1322 § 1; Lämmle 113) für jeden Akt der Gesetzgebung in Anspruch genommen werden könnte. Der Geist Gottes geht auch nicht in rechtliche Einrichtungen ein, wie er in den einzelnen Christen eingeht, in ihm wohnt und ihn zu einem Leben aus seiner Kraft und unter seinem Antrieb befähigt. Jedoch sind es Geistbegabte, die in der Macht und gewiß nicht selten unter der Einsprechung des göttlichen Geistes in der Gesetzgebung tätig werden. Besonders geistes mächtig dürfte die Gesetzgebungstätigkeit der kirchlichen Synoden, vor allem der Allgemeinen Konzilien sein. Wenn das kirchliche Recht nicht ohne das Wirken des Heiligen Geistes zustandekommt, dann darf angenommen werden, daß die kirchliche Gesetzgebung im ganzen und grundsätzlich dem Wesen der Kirche entspricht und den wesentlichen Bedürfnissen des Volkes Gottes Genüge leistet. So wenig dieser Beistand so weit geht, Irrwege und Versäumnisse im einzelnen und für gewisse Zeit auszuschließen, so sicher ist doch, daß, auf die Dauer gesehen und in der Ordnung der wesentlichen Lebensäußerungen der Kirche, die Gesetzgebungstätigkeit der kirchlichen Hoheitsträger dem Heilszweck der Kirche nicht zuwiderläuft, sondern ihm entschlossen dient und daß die Gesetzgebungsorgane fern von blinder Beharrung und ohne verhängnisvolle Übereilung das Recht den wechselnden Verhältnissen geschmeidig und dennoch grundsatztreu anzupassen wissen. Nach Eichmann / Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici (München / Paderborn / Wien 1959) 39 bewirkt der Beistand des Heiligen Geistes eine Bewahrung vor einem Abgleiten von der sittlichen Rechtsidee und eine innere Höherentwicklung des Kirchenrechts. A. Hagen, Prinzipien des katholischen Kirchenrechts (Würzburg 1949) 49 sieht in dem Glauben an das Walten des Heiligen

e

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11. Göttlicher Gehalt

Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts erschöpft sich nicht in der Herkunft der rechtlich verfaßten Kirche aus der Stiftung Gottes. Vielmehr ist der Gegenstand, dem das Recht verbunden ist und den es ordnet, geistlicher Art. Gott ordnet durch das Kirchemecht sein in der Kirche gegenwärtiges Heilshandeln in Christus Jesus. Gott wendet sein in Christus Jesus offenbar gewordenes gnädiges Handeln den Menschen in rechtlich-geordneter Form zu. Ähnlich wie in Jesus sich Göttliches und Menschliches zu einer untrennbaren Wirkeinheit verbanden, tritt im Heilshandeln Christi in der Kirche Göttliches in menschlicher Gestalt, und das heißt auch in rechtlicher Form, an den Menschen heran 26 • Getreu dem gottmenschlichen Wesen der Kirche 27 sind die entschei-

Geistes das wirksamste Mittel gegen grundlose und übereilte Rechtsänderungen. Nach P. Lippert, Die Kirche Christi (Freiburg i. Br. 1931) 154 ist dem Kirchenrecht nirgends etwas von willkürlich schaltender Regentenlaune anzumerken; man fühle fast an jedem Punkt die objektive Notwendigkeit oder Sachlichkeit, aus der alles geflossen ist. 26 Gegen den von protestantischer Seite erhobenen Vorwurf, in der katholischen Lehre löse sich die Christologie in Ekklesiologie auf, darf auf Schmaus III, 1 699 verwiesen werden. Dort wird ausgeführt, daß die heilsvermittelnde Tätigkeit der Kirche Christus nicht nur keinen Eintrag tut, sondern seiner Aktivität erst konkrete und leibhaftige Gestalt verleiht. Die Heilsfunktion der Kirche erfülle das Gesetz, das durch die Menschwerdung Gottes in die Geschichte eingegangen ist, daß sich nämlich das Göttliche im Menschlichen verleiblicht und darstellt und das Menschliche als Mittel und Werkzeug benutzt. Der verherrlichte Christus bedient sich für sein Heilshandeln menschlicher Organe, die sich von ihm als Werkzeuge benützen lassen, indem sie ihre eigene Aktivität in die Aktivität Christi eingehen lassen oder vielmehr indem sie sich von Christus in sein Heilstun einbeziehen lassen. Schmaus III, 1 461 weist auch darauf hin, daß dort, wo nur die Gottheit Christi beachtet oder wo die Menschheit zwar einbezogen, aber nicht als Werkzeug göttlichen Handeins, sondern nur als Zeichen und Bürgschaft des von Gott gewirkten Heiles verstanden wird, der kirchlichen Rechtsgewalt keine Wirksamkeit für das Heil zugewiesen werden kann. 27 Zu der Einheit von Sichtbarem und Unsichtbarem in der Kirche vgl. Schmaus III, 1 405: Wesenselemente des Begriffes Volk Gottes sind die sichtbare Verfassung und das unsichtbare geistliche Leben im Heiligen Geiste; L. Ott, Grundriß der katholischen Dogmatik (Basel / Freiburg / Wien 41959) 355: Zum mystischen Leib Christi gehört ein äußeres, sichtbares, juridisches Element, die rechtliche Organisation, und ein inneres, unsichtbares, mystisches Element, die Gnadenvermittlung; o. Semmelroth, Das Geistliche Amt (Frankfurt am Main 1958) 83: Das wesensgerecht verwirklichte Institutionelle in der Kirche steht als sakramentale Wirklichkeit mit dem gnadenhaft Göttlichen im Verhältnis gegenseitiger Förderung. Die klare gesellschaftliche Prägung der Kirche soll der Verwirklichung des Göttlichen im Menschlichen dienen und ihr das Feld bereiten;

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denden Vorgänge, in denen Gott den Menschen ergreift und heiligt28 , rechtlich geordnet. Die rechtliche Ordnung menschlicher Worte und irdischer Zeichen birgt und verbürgt Christi erlöserische Tätigkeit29 • Wort und Sakrament sind in der Kirche rechtlich geprägt. 1. Rechtlicher Charakter des Wortes

a) Die Sendung Jesus Christus forderte die Annahme seiner Botschaft, weil er der Gesandte Gottes war. Die Autorität des sich offenbarenden Gottes ist der letzte Grund der Verpflichtung zur Annahme der Botschaft Jesu, die Sendung Jesu durch den sich offenbarenden Gott der nächste Grund. Die Sendung Jesu ist ein formaler, der Geschichte angehöriger, in der Vergangenheit liegender Grund30 • Ebenso ist das in der Kirche verkündete und gehörte Wort nur dann als das Zeugnis der Kirche von der Selbstoffenbarung Gottes bzw. als das Selbstzeugnis Gottes durch den Dienst der Kirche legitimiert, wenn seine Verkündiger in der von Christus herkommenden Sendungsreihe stehen. Christus hat seine Sendung in einem formalen Akt an die Apostel übertragen. Diese haben ihrerseits die ihnen von Christus übertragene Sendung an die Presbyter und Episkopen weitergegeben. So reiht sich Glied an Glied in einer nicht abreißenden Sukzessionskette von Sendungsträgern. Jedes Glied dieser Sukzessionsreihe beansprucht für seine Botschaft Gehorsam, weil und insofern es Vollmacht und Auftrag zur Verkündigung von dem vorhergehenden Glied empfangen hat. Ohne rechtmäßige Sendung gibt es keine rechtmäßige Wortverkündigung. Gottes Wort autoritativ vorlegen und authentisch auslegen kann nur, wer gesandt ist, wie Jesus gesandt war3 !.

die kraftvolle Wirksamkeit des Göttlichen wird in der klaren gesellschaftlichen Prägung der Kirche als seinem sakramentalen Ausdruckszeichen vergegenständlicht. Für die Bedeutung von Wort und Sakrament in der Kirche vgl.

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III,

407 f. 29

Ähnlich Bertrams, Vom Sinn des Kirchenrechts 106 ff.

30 V gl. dafür K. Mörsdorf, Zur Grundlegung des Rechtes der Kirche, in: MThZ 3 (1952) 332; derselbe, Altkanonisches "Sakramentsrecht"?, in: Studia Gratiana I (Bononiae 1953) 494; M. Kaiser, Die Einheit der Kirchengewalt nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes und der Apostolischen Väter (München 1956) 16 ff.

3! Vgl. dazu H. Flatten, Missio canonica, in: Verkündigung und Glaube. Festgabe für Franz X. Arnold (Freiburg i. Br. 1958) 123-141; J. Wenner, Kirchliches Lehrapostolat

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Gottes Wort wird also nicht allein an seiner inneren Kraft erkanne 2 , sondern auch an seiner äußeren Beglaubigung durch die amtliche Lehrvorlage der in der Sendungsreihe stehenden Zeugen. Mit der Abhängigkeit der Wortverkündigung von der Sendung, die sich in rechtlicher Form vollzieht, ist das kanonische Recht untrennbar mit der in der Predigt sich vollziehenden Gnadenmitteilung33 verknüpft. In der Hülle des menschlichen Wortes, zu der auch seine rechtliche Ordnung gehört, ergreift der im Wort gegenwärtige Herr den Hörer und zieht ihn in sein Leben hinein. Daß hier wirklich Gottes Wort und nicht menschliche Weisheit verkündigt wird, das verbürgt der in der kanonischen Sendung wirkende Herr. b) Das Glaubensgesetz Nicht nur die Träger der amtlichen Wortverkündigung in der Kirche sind an das Recht gebunden, sondern auch die Hörer des Wortes. Sie sind in einer doppelten Weise zum Glauben verpflichtet. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die Menschen von dem offenbarenden Gott zum Gehorsam gegen seine Offenbarung verpflichtet werden 34 • Die Kirche erhebt aber darüber hinaus die göttliche Offenbarung zum Glaubensgesetz und macht so als gesellschaftliche Institution die dem Menschen Gott gegenüber obliegende Pflicht als Rechtspflicht der Glieder ihrer Gemeinschaft geltend. Wer zu ihr gehören will, muß die Offenbarung annehmen; verweigert er die Annahme, dann ist er im Banne 35 •

in Wort und Schrift (Paderborn 2 1953) 19 f. 27 f.; Kaiser 70; J. Ratzinger, Primat, Episkopat und successio apostolica, in: Catholica 13 (1959) 266 ff. 32

Dies war die Ansicht Rudolph Sohms (Katholisches Kirchenrecht 23. 27 f.).

33 Nach Semmelroth 188 ist die Verkündigung des Wortes der Versöhnung und der Gnade die heils wirksame Trägerin des Heiligen Geistes in das Innere des hörenden Menschen. Vgl. jetzt denselben, Theologische Deutung der Verkündigung des Wortes Gottes, in: Catholica 14 (1960) 270-291. 34 Vgl. c. 1322 § 2. 35 Vgl. dafür Schmaus III, 1 721. Schmaus vergiBt nicht hinzuzufügen, daß der Gläubige, der ein von der Kirche aufgestelltes Dogma bejaht und sich so dem Glaubensgesetz der Kirche beugt, die darin enthaltene Wahrheit nicht um der kirchlichen Autorität willen bejaht, sondern um Gottes willen. Die kirchliche Rechtsgewalt geht nicht in das innere Gefüge der von der Kirche vorgelegten Wahrheit und nicht in das Gefüge des die Wahrheit bejahenden Glaubens ein. Sie verpflichtet den Menschen auf Gott um Gottes willen, der die absolute Wahrheit ist. Ähnlich hebt Söhngen, Der metakanonistische Bereich 283 den Unterschied zwischen Glaubensgesetz und Heilskraft des Glaubens

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Diese Verpflichtung spricht die Kirche in einer zweifachen Weise aus, entweder durch feierlichen Lehrspruch des Papstes bzw. des Allgemeinen KonZilS 36 oder durch das ordentliche allgemeine Lehramt37 • Im ersten Falle liegt ein nach den formalen Erfordernissen der Gesetzgebung zustandegekommenes Gesetz, im zweiten Falle Gewohnheitsrecht vor38 • In diesem Sinne ist also zu verstehen, was das Erste Vatikanische Konzil im dritten Hauptstück der dritten Sitzung festgelegt und der CIC in c. 1323 § 1 wörtlich übernommen hat: ,,Mit göttlichem und katholischem Glauben ist alles das zu glauben, was im geschriebenen oder mündlich überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche entweder durch feierliche Lehrentscheidung oder durch das ordentliche allgemeine Lehramt als göttliche Offenbarung zu glauben vorgestellt wird." Das Dogma ist die in Gesetzesform erscheinende Offenbarung. Indem die unfehlbare Kirche 39 sich auf eine der beiden geschilderten Weisen zu einer Wahrheit bekennt und sie als geoffenbart bezeugt, ge-

hervor: ,,Dogma ist nun einmal der Glaube oder die Glaubenswahrheit als Satz und Gesetz, als Lehrsatz und Lehrgesetz; die Glaubenswirklichkeit selbst, der rechtfertigende Glaube im Ereignis ist der Glaube nicht ohne Satz und Gesetz, nicht ohne das Bekenntnis zu den Glaubenssätzen, aber nun doch in seiner Heilskraft der Glaube nicht auf Grund von Gesetz und Gesetzeswerken und von einem zuerst lehrgesetzlich verstandenen Bekenntnis." 36 Vgl. F. X. Leitner, Der hl. Thomas über das unfehlbare Lehramt der Kirche (Regensburg 1874); Eichmann / Mörsdorj 119 377 ff. 37 Vgl. dafür jetzt M. Caudron, Magistere ordinaire et infaillibilite pontificale d'apres la constitution Dei Filius, in: EphTheolLov 36 (1960) 393-431.

38 Vgl. M. J. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik. Erstes Buch: Theologische Erkenntnislehre (Freiburg i. Br. 21948) 187 ff. 190. S. auch W. Bartz, Die lehrende Kirche. Ein Beitrag zur Ekklesiologie M. J. Scheebens (Trier 1959). - U. Stutz, Der Geist des CIC (Stuttgart 1918) 160 erblickt in dem vatikanischen Lehrgebäude den Gipfelpunkt in der Verrechtlichung des Dogmas. 39 Die Kirche kann nur deshalb ihre Glieder auf eine Wahrheit als geoffenbart verpflichten, weil sie unfehlbar ist. Der Beistand des Heiligen Geistes verdichtet sich hier gleichsam, so daß ein Irrtum ausgeschlossen ist. Für die Unfehlbarkeit des Papstes im besonderen vgl. Lämmle 130 f.; Schmaus III, 1 818. Dieser betont mit Recht, daß die Unfehlbarkeitsentscheidung nicht neuen Glauben schafft, sondern den bestehenden feststellt. Die Entscheidung geht über das bisher Gegebene nicht insofern hinaus, als sie neue Offenbarung bietet, sondern als sie den bestehenden Glauben für alle zum Glaubensgesetz erhebt, so daß nach einer solchen Entscheidung niemand die in der Entscheidung vorgelegte Wahrheit ablehnen kann, ohne sich aus der Glaubensgemeinschaft der Kirche auszuschließen.

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winnt diese Wahrheit den Charakter des unabänderlichen40 Glaubensgesetzes. Es ist für den Getauften verbindlich nicht mehr nur auf Grund der göttlichen Offenbarung, sondern auf Grund der kirchlichen Gesetzgebung. Die kirchlichen Hoheitsträger können seine Anerkennung fordern, die Leistung eines öffentlichen Bekenntnisses verlangen und seine Verletzung unter Strafe stellen41. Durch das Glaubensgesetz wird die Einheit der Kirche im Glauben und somit die Gemeinschaft der Kirche als sichtbare Glaubensgemeinschaft gesichert42 • 2. Rechtlicher Charakter des Sakramentes

Ebenso innig und unablöslich wie dem Wort ist das kanonische Recht dem Sakrament verbunden, wie es nicht anders sein kann, wenn anders Wort und Sakrament die Autbauelemente der Kirche als einer sichtbaren Gemeinschaft sind43 • Weil die Sakramente äußere, dem gesellschaftlichen Leben der Kirche verbundene bewirkende Zeichen der inneren Begegnung mit Christus sind, müssen sie im Ordnungsgefüge des kirchlichen Rechts stehen. Aus den gottgegebenen Strukturen der Sakramente erwächst ein göttliches Sakramentenrecht. Unabhängig von jedem menschlichen Tun, das über die zum Zustandekommen des Sakramentes unerläßliche Mitwirkung von Spender und Empfänger hinausgeht, schaffen gewisse Sakramente unauthebbare und von der Rechtsordnung zu respektierende Seinstatbestände. Sodann greift die Kirche in dreifacher Weise in das Sakrament mit ihrer rechtlichen Ordnung ein.

40 Dies hebt hervor J. A. EiseIe, Die Rechtsstellung des Papstes im Verhältnis zu den allgemeinen Konzilien (Emsdetten o. J.) 77. 41

Vgl. Wenner 14 ff.; Schmaus III, 1 812.

Schmaus III, 1 722. Es ist selbstverständlich, daß, wie Schmaus eigens erwälmt, das kirchliche Glaubensgesetz auf die innere Unterwerfung unter die von der Kirche verkündete Offenbarungswahrheit, also auf heilshaftes Handeln des Menschen zielt, daß mithin der Sinn der rechtlichen Bindung durch die kirchliche Lehrgewalt nicht erfüllt würde, wenn sich jemand bloß äußerlich ohne innere Überzeugung in die Glaubensgemeinschaft einfügen würde. 42

43 Schmaus III, 1 407 f.; vgl. Lämmle 169. Eichmann / MörsdorfI 29 f. weist darauf hin, daß das Sakrament als sichtbares und wirksames Sinnbild einer unsichtbaren Heilswirklichkeit mit dem Rechtssymbol verwandt ist. Dieses weist in gemeinschaftsbezogener Weise auf eine unsichtbare Wirklichkeit hin. Es ist entweder ein Gegenstand, der über seine sinnliche Erscheinung hinaus etwas aussagt, oder eine Handlung, die im sinnbildlichen Geschehen etwas Unsichtbares bewirkt.

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a) Göttliches Recht in Taufe und Weihe Das Sakrament der Taufe schafft den neuen Menschen nicht nur durch die Tilgung von Schuld und Strafe, sondern auch durch die Eingliederung in den Leib Christi, der die hierarchisch verfaßte Kirche ist44 • Gottes Handeln in der Taufe ist seinsmächtig, seine Wirkung unauthebbar. Die Bindung an die Kirche und ihre Rechtsgewalt ist, was die Pflichten angeht, unwiderruflich. Der Getaufte kommt von der Kirche nicht mehr los. Was ihm gelingt, wenn er die Bindung an die Kirche zu lösen sucht, das ist die Abwerfung gewisser staatsrechtlicher Pflichten, die sich aus der Stellung der Kirche als einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ergeben45 • Außerdem entzieht ihm die Kirche zahlreiche - nicht alle - Rechte. Aber auch der Apostat wird von der Kirche in Pflicht genommen. Die Achtung vor dem Gotteswerk in dem Getauften und die Verantwortung für ihre unersetzbare Sendung verwehren es der Kirche, den Apostaten freizugeben. Semel Christianus - semper Christianus46 • Das Sakrament der Weihe vermittelt dem Geweihten einen unauslöschlichen Charakter und gliedert ihn für immer und unwiderruflich aus der Schar der Gläubigen aus 47 • Die im göttlichen Handeln der sakramentalen Weihe geschaffene Formung ist so mächtig und unzerstörbar, daß sie weder durch den Willen des Geweihten noch durch Maßnahmen der kirchlichen Autorität zunichte gemacht werden kann. Die Rechtsmaßnahme der Rückführung in den Laienstancf8 hebt nicht die Weihe auf und entzieht nicht das Recht selbst, das in der Weihe gründet und unverlierbar ist, sondern unterbindet nur die erlaubte Ausübung desselben. Der Laisierte wird als Laie behandelt, wenn er auch gültig geweiht ist und geweiht bleibt. Das Recht zollt der kraft göttlichen Rechtes unzerstörbaren Mächtigkeit der Weihe Anerkennung, wenn es in Todesgefahr jeden, auch den gebannten und degradierten Priester zur Spendung des Bußsakramentes ermächtigt49 •

44 Vgl. W. Bertrams, Die personale Struktur des Kirchenrechts, in: Stimmen der Zeit 164 (1958/1959) 128. 129. 45

Vgl. meinen Beitrag: Der Kirchenaustritt in der DDR, in: ThpQ 108 (1960) 290-

46

Vgl. etwa A. Hagen, Die kirchliche Mitgliedschaft (Rottenburg a. N. 1938) 78 ff.

294.

Vgl. z. B. O. Semmelroth, Amt und Person des Priesters, in: Stimmen der Zeit 161 (1957/1958) 241-254. 47

48

Cc. 211-214.

49

C. 882. Vgl. H. Jone, Gesetzbuch der lateinischen Kirche

126.

nZ (Paderborn

1952)

Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts

39

b) Hineinwirken der Kirche in das Sakrament Die Kirche wirkt sodann in dreifacher Weise in das Sakrament hinein. Sie legt das sakramentale Zeichen in dem ihr von Christus belassenen Spielraum fest. Bei der Spendung gewisser Sakramente verbinden sich Weihegewalt und Hirtengewalt zu einer Wirkeinheit. Das gesamte sakramentale Leben der Kirche ist rechtlich geordnetSo. (1) Entscheidend für die Wirksamkeit der Sakramente ist neben der Intention das sakramentale Zeichen. So gewiß die Substanz der Sakramente auf die Stiftung Jesu zurückgeht, so sicher ist die Ermächtigung der kirchlichen Hirtengewalt, das sakramentale Zeichen näher zu gestaltenSI . Sie entfaltet den von Jesus festgelegten Kern der Sakramente mit der Wirkung, daß nur durch das von ihr entfaltete Zeichen das Sakrament zustande kommtS2 . Zum letzten Male hat die Kirche von der ihr hierzu verliehenen Gewalt in der Konstitution "Sacramentum Ordinis" Pius' XII. vom 30. November 1947 bezüglich des sakramentalen Zeichens der Priesterweihe Gebrauch gemacht53 • Ein Recht, das in dem heiligen Bereich, wo Gott wirkt, verbindliche Anordnungen über Wirksamkeit und Unwirksamkeit zu treffen vermag, ist innerlichst heilig, geistlich, übernatürlich. (2) Wie wenig sich die kirchliche Hirtengewalt in einem äußeren oder gar äußerlichen Herrschen und Gebieten erschöpft, sondern zutiefst dem sakramentalen Wesen der Kirche verbunden ist, zeigt sich eindringlich bei dem Zusammenwirken von Weihe- und Hirtengewalt in der Spendung bestimmter, vielleicht sogar aller SakramenteS4 . Sicher ist, daß für das Zustandekommen

50

Schmaus III, 1 723 .

51 D. 931. Vgl. jetzt dafür E. LOpez-Doriga, Die Natur der Jurisdiktion im Bußsakrament, in: ZfkTh 82 (1960) 414 ff.

52 Schmaus I1I, 1 723; derselbe, Katholische Dogmatik IV, 13-4 (München 1952) 63; IV, 15 (München 1957) 71 f. Vgl. auch K. Rahner, Kirche und Sakramente (Freiburg / Basel! Wien 1961) 37 ff.

53 AAS 40 (1948) 5-7. Vgl. Schmaus IV, 1 63: Der Papst scheint es für möglich zu erklären, daß bei der Priesterweihe einmal die Übergabe der Instrumente zur Gültigkeit erforderlich war. Er verfügt jedoch, daß sie hinfort - ohne rückwirkende Kraft - nicht mehr notwendig ist. - Um eine Erklärung dieses Sachverhaltes bemüht sich auch Semmelroth 301 f. Die Gewalt der Kirche über das sakramentale Symbol reicht bis dahin, wo Christi Anordnung beginnt. Der Herr kann der Kirche einen großen Spielraum in der Wahl des Zeichens gelassen haben. Die Festlegung des Zeichens geschieht durch die kirchliche Autorität nicht kraft ihrer Lehrgewalt, sondern kraft ihres Hirtenamtes. 54 V gl. hierfür die zahlreichen Veröffentlichungen von K. Mörsdorf zum Thema, z. B. Abgrenzung und Zusammenspiel von Weihegewalt und Hirtengewalt, in: KiW 4 (1951) 17-22; Weihegewalt und Hirtengewalt in Abgrenzung und Bezug, in: MiscComi

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mancher Sakramente der Besitz kirchlicher Hoheitsgewalt, die immer rechtlicher Art ist, unentbehrlich ist. Im Sakrament der Buße werden einem Getauften, der die rechte bußfertige Haltung zeigt, die nach der Taufe begangenen Sünden durch die hoheitliche Lossprechung seitens eines von der kirchlichen Autorität hierzu bevollmächtigten Priesters nachgelassen 55 • In Übereinstimmung mit dem siebten Hauptstück der vierzehnten Sitzung des Trienter Konzils 56 stellt der eIe fest, daß zur sakramentalen Lossprechung von den Sünden außer der priesterlichen Weihegewalt hoheitliche Hirtengewalt über den bußwilligen Sünder erforderlich ist57 . Die sakramentale Lossprechung, die an die Stelle der im alten Bußritus geübten Rekonziliation getreten ist, bewirkt ebenso wie diese an sich und unmittelbar die Versöhnung mit der Kirche, und die Versöhnung mit der Kirche (pax cum Ecclesia) als bewirktes und bewirkendes Zeichen (res et sacramentum) ist sakramental ursächlich für die Versöhnung mit Gott (pax cum Deo). Der Hoheitsakt, durch den der Sünder mit rechtsgestaltender Wirkung wieder in die aktive Kirchengemeinschaft hineingestellt und in den vollen Genuß seiner Gliedschaftsrechte eingesetzt wird, gewährt und verbürgt die Verzeihung Gottes. Die Notwendigkeit der hoheitlichen Hirtengewalt zur sakramentalen Lossprechung ergibt sich somit aus dem Wesen des sakramentalen Geschehens58 . Ein ähnliches Zusammenwirken von priesterlicher Weihegewalt und hoheitlicher Hirtengewalt ist bei der Spendung der Firmung durch den einfachen Priester zu beobachten. Ordentlicher Spender der Firmung ist der konsekrierte Bischof. Außerordentlicher Spender ist ein durch das allgemeine Recht oder 16 (1951) 91-110; Der Träger der eucharistischen Feier, in: Pro mundi vita. Festschrift der Theologischen Fakultät der Universität München zum Eucharistischen Weltkongreß (München 1960) 223-237. 55 C. 870. 56

D. 903.

57

C. 872.

58 Vgl. dafür K. Mörsdorf, Der hoheitliche Charakter der sakramentalen Lossprechung, in: TThZ 57 (1948) 335-348; Eichmann / MörsdoifI 322 f. 11 68 f.; Schmaus m, I 712. S. auch D. Nothomb, La nature du pouvoir de juridiction du confesseur, in: NouvRevTh 82 (1960) 470-482; G. Dejaifve, Der Erste unter den Bischöfen, in: ThGI 51 (1961) 19 f. Eine völlig andere Ansicht über die Bedeutung der Jurisdiktion beim Bußsakrament vertritt neuerdings LOpez-Doriga in seinem oben erwähnten Aufsatz. Nach ihm ist die kirchliche Jurisdiktion beim Bußsakrament nichts weiter als eine zur Gültigkeit der Lossprechung notwendige Erlaubnis der Kirche für die Ausübung der allein ursächlichen Weihegewalt. Dazu kann hier nicht Stellung genommen werden. Aber auch in dieser Erklärung zeigt sich die weitgehende Vollmacht der Hirtengewalt über die Sakramente.

Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts

41

durch päpstliches Indult bevollmächtigter Priester59 • Dem Priester wird durch die Erteilung der Firmvollmacht nicht Weihegewalt, sondern Hirtengewalt übertragen. Was der geweihte Bischof ihm voraushat, nämlich einen unverlierbaren Grundbestand an Hirtengewalt, das wird ihm durch den kirchlichen Rechtsakt der Delegation gegeben60• Dasselbe Zusammenspiel von Weihegewalt und Hirtengewalt ist endlich auch bei der Spendung von Weihen durch einen Priester wirksam61 • (3) Schließlich ist das gesamte sakramentale Leben der Kirche rechtlich geordnet. Der kirchliche Gesetzgeber erläßt Vorschriften über Spendung und Empfang, Spender und Empfanger, Zeit und Ort der Spendung, Eintragung und Beweis der Spendung62 • Die Ausübung der Weihegewalt wird von der Hirtengewalt gelenkt und geleitet. Diese Bestimmungen sind jedoch für die Weihe59

C. 782.

60

Vgl. Eichmannl MörsdorfII 36 f. ; Schmaus III, 1 712 ff.

61 Ordentlicher Spender der Weihe ist allein der konsekrierte Bischof (c. 951). Außerordentlicher Spender ist ein Priester, der von Rechts wegen oder durch päpstliches Indult zur Erteilung einiger Weihen bevollmächtigt ist (cc. 951, 957, 964 n. 1). Nach heutiger Praxis werden Nichtbischöfe nur noch zur Spendung der Tonsur und der niederen Weihen bevollmächtigt. In früherer Zeit wurde jedoch auch die Vollmacht zur Spendung höherer Weihen an nichtbischöfliche Weihespender erteilt (vgl. Ott 547 f. mit Literatur). Mörsdorfsieht folgerichtig in der Vollmacht zur Weihespendung - wie in der Firmvollmacht - keine Vollmacht der Weihegewalt, sondern der Oberhirtengewalt, die der Papst aus der Fülle seiner Primatialgewalt gibt. Vgl. Eichmann I MörsdorfII 99. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, daß die Kirche seit dem tridentinischen Dekret "Tametsi" (D. 990 ff.) die Gültigkeit der christlichen Ehen von einer bestimmten Eheschließungsform abhängig macht, indem sie erklärt: Wer anders als in Gegenwart des Pfarrers oder, mit Ermächtigung des Pfarrers oder des Oberhirten, eines anderen Priesters und vor zwei oder drei Zeugen eine Ehe zu schließen versucht, den macht die heilige Synode zu einem solchen Eheabschluß völlig unfahig und erklärt Eheverträge dieser Art für ungültig und nichtig (D. 992). Vgl. c. 1094. Dazu liimmle 130. Wenn mit dieser Bestimmung auch nicht das sakramentale Zeichen geändert wurde, so zeigt sich doch, daß die Kirche irritierende Bestimmungen menschlichen Rechtes zur Bedingung für das Zustandekommen des Ehevertrages und damit des Ehesakramentes erheben kann.

62 Cc. 731-1153; H. Keller, Liturgie und Kirchenrecht, in: Scholastik 17 (1942) 346 hebt hervor, daß die Liturgie in weitem Umfang Inhalt des Kirchenrechts ist und dadurch seine Art bestimmt, indem sie ihm mittelbar ein sakrales Gepräge gibt. Die Kirche regelt durch ihr Recht die gottesdienstlichen Handlungen, und diese werden in ihrem Auftrag von den dazu bestimmten Personen verrichtet (352). Die rechtliche Bestimmtheit ist ein Wesensmoment der Liturgie (376). Der göttliche Keim der Liturgie wird entfaltet und das Menschliche an ihr wird gestaltet auch durch das Kirchenrecht (383).

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gewalt nicht konstitutiv, sondern regu[ativ63 • Sie dienen der guten Ordnung der im äußeren Bereich des kirchlichen Lebens sich vollziehenden Sakramente. Deswegen sind diese Anordnungen nicht gleichgültig. Denn sie zielen allesamt auf die sakrale Mitte des kirchlichen Lebens, welche das eucharistische Opfersakrament ist. In all diesen Bestimmungen nimmt letztlich Christus die Gläubigen durch das Wort der Kirche in Pflicht64 • Es ergibt sich, daß der wesentliche Gegenstand, den das kanonische Recht ordnet, geistlich, übernatürlich ist. In Wort und Sakrament ist Gott selbst wirksam65 • Selbstverständlich wird das übernatürliche Sein nicht unmittelbar rechtlich erfaßt. Als geistige und unsichtbare Wirklichkeit steht es dem Zugriff des Rechts nicht offen. Aber alle äußeren Akte, welche dieses Sein erzeugen, vermitteln, vermehren und vermindern, werden vom Recht geordnet66 • Nun besteht kein Zweifel, daß das kanonische Recht auch rein natürliche Gegenstände ergreift. Man denke nur an das Vermögensrecht, an das Prozeßrecht und an das Strafrecht. Indes werden natürliche Gegenstände vom kanonischen Recht nur dann und nur so weit erfaßt, wenn und insofern sie in irgendeiner engeren oder weiteren Beziehung zu übernatürlichen Gegenständen und allgemein zu dem übernatürlichen Ziel der Kirche stehen67 • Das geistliche Wesen des Kirchenrechts wird dadurch nicht beeinträchtigt, ebensowenig wie die zur hypostatischen Union aufgenommene menschliche Natur Jesu die göttliche Person be63

Schmaus III, 1 723 .

64

Schmaus III, 1 408.

Wie bei diesem Sachverhalt R. Sohm (Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, in: Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. A. Wach, München / Leipzig 1918,582) erklären kann, die Kirche Christi sei nach "neukatholischer Auffassung" kein Sakrament mehr und sie habe sich aus dem Körper Christi in eine Körperschaft Christi verwandelt, ist unerfindlich. 65

66 V gl. Bertrams, Die Eigennatur des Kirchenrechts 543 f. Söhngen, Der metakanonistische Bereich 283 hebt hervor, daß Kirchenrecht und Dogma innerlich und wesentlich auf den Überbereich der Heilswirklichkeit und Heilsgerechtigkeit selbst bezogen sind, daß sie also ihren Heilssinn und ihre Heilsnotwendigkeit nicht in sich selbst, sondern in der Transzendenz auf den metadogmatischen und metakanonistischen Bereich haben. Dogma und Recht sind als solche nicht selber das Heilsgeschehen in sich selbst, sondern sie sind die notwendigen von Gott und der Kirche gesetzten Bedingungen der Vermittlung des Heiles. Die kirchliche Rechtswirklichkeit ist nicht in sich selbst Heilsgerechtigkeit, sondern nur innerlich und wesentlich auf die Heilsgerechtigkeit, die aus der Gnade kommt, bezogen. Glaubens- und Rechtsordnung sind wohl rechtmäßiger Inhalt der Verkündigung, aber kein selbstgenügender, sondern ein über sich hinausweisender Inhalt. 67 Bertrams, Die Eigennatur der Kirchenrechts 545 erläutert den Sachverhalt dahin, daß die natürlichen Güter nur Objekt des Kirchenrechts sind, weil und soweit das übernatürliche Leben der Kirche ihrer bedarf.

Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts

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einträchtigt68 , nur die Nähe zu dem geistlichen Wesen ist bei den verschiedenen Teilen des kanonischen Rechts größer oder geringer69 •

111. Göttliches Ziel Der göttliche Ursprung der kirchlichen Rechtsgewalt und der geistliche Inhalt bzw. Bezug kirchlicher Rechtshandlungen werden ergänzt und gekrönt durch das geistliche, gottgesetzte Ziel des kanonischen Rechts. Das letzte Ziel des kirchlichen Rechts ist - wie das der Kirche überhaupt - die Verherrlichung Gottes durch die Hinführung der Menschen zum ewigen Heifo. Das nächste Ziel ist die Gewährleistung der gesellschaftlichen Ordnung in der Kirche zur Heiligung der Gläubigen. Ein kirchlicher Rechtssatz oder ein Akt kirchlicher Rechtspflege, der nicht letztlich Dienst an der Gottesherrschaft und dem Heil der Menschen ist, wäre unwirksam71 • Die Ausrichtung auf das geistliche Ziel

68 Die Grundlegung jeder Auffassung über die Kirche und das kirchliche Recht in dem Verständnis Jesu und seiner Menschwerdung weist Bertrams, Die Eigennatur des Kirchenrechts 538 ff. überzeugend nach. Die Kirche als Rechtsgemeinschaft ist schon in der Menschwerdung des Wortes Gottes enthalten (542). 69

Vgl. Bertrams, Vom Sinn des Kirchenrechts 107 f.

xv.

70 Bei der Ansprache anläßlich der Überreichung des CIC sprach Papst Benedikt davon, daß die Kodifikation zum Ruhme Gottes und fiir die Errettung der Seelen dienen solle (Stutz 32). Pius XlI. erklärte in seiner Ansprache an die Sacra Romana Rota vom 29. Oktober 1947 (AAS 39 [1947] 459), die kirchliche Gerichtsgewalt sei und bleibe eingeschlossen in die Fülle des Lebens der Kirche mit ihrem hohen Ziel, himmlische und ewige Güter zu verschaffen. Dieser finis operis der kirchlichen Gerichtsgewalt gebe ihr das objektive Gepräge und mache sie zu einer Einrichtung der Kirche als einer übernatürlichen Gesellschaft. 71 Dieser Gedanke wird von Wolf, Bekennendes Kirchenrecht 72 ff. 76 f. energisch durchgedacht. Die geistliche Lebensmitte der Gemeinde müsse ihre Ordnung bedingen und bestimmen. Von der Beziehung auf die Gemeinde als Tauf-, Verkündigungs- und Abendmahlsgemeinschaft werde die normative Kraft allen Kirchenrechts autorisiert. Der innerste Kern der Ordnung der Gemeinde müsse Gottesdienstordnung sein. Anderes Tun der Gemeinde müsse von der Gottesdienstordnung her bestimmt und geregelt sein. Es gebe keinen "äußerlichen" kirchlichen Dienst, der nicht auch Gottesdienst sei. Es gebe keine "praktisch" notwendige kirchliche Ordnung, die nicht zugleich als Verkündigung aufgefaßt und getan werden müsse. - Semmelroth 106 fordert zur Vorsicht auf bei einem Ausspielen weltlicher Verwaltungsaufgaben in der Kirche gegen geistliche Christusaufgaben. Da Christus der in die menschliche Geschichte eingegangene Gott ist und seine Kirche als Fortexistenz der göttlichen Wirklichkeit in der menschlichen Geschichte stiftete, habe alles, was zur Realisierung christlicher Existenz dient und gehört, seine letzte und eigentliche Legitimierung in Christus. Alle kirchliche Amtlichkeit, auch die rein gesellschaftlichverwaltungsmäßige, hat daher Anteil an dem Christusamte, wenn auch dieser Anteil nicht

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des kirchlichen Rechts äußert sich in Grundsätzen, Einrichtungen und Merkmalen, die dem kirchlichen Recht den Charakter des Geistlichen unverwechselbar aufprägen, unter anderem in der kanonischen Billigkeit, in der Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Bereich und in dem eschatologischen Zug, der das kanonische Recht durchweht.

1. Aequitas canonica Die kanonische Billigkeit, aequitas canonica, ist eine der HauptsteIlen, an denen das geistliche Wesen des kanonischen Rechts im Hinblick auf sein göttliches Ziel zutage tritt. Die kanonische Billigkeit besteht in einer höheren Gerechtigkeit, die mit Rücksicht auf das geistliche Wohl der Allgemeinheit oder eines einzelnen das strenge Recht in bestimmten Fällen mildert, manchmal aber auch verschärft72 • Die von der kanonischen Billigkeit getragene Rechtssetzung, Rechtsfindung und Rechtsanwendung sucht den sittlichen Werten zum Durchbruch zu verhelfen und so das Ideal der Gerechtigkeit im praktischen Rechtsleben zu verwirklichen73 • Das kanonische Recht unterscheidet zwischen aequitas scripta und aequitas non scripta, je nachdem ein Gesetz selbst formell auf ein Vorgehen nach dem Grundsatz der Billigkeit verweist oder ein Handeln unter Beachtung der Billigkeit nur kraft der allgemeinen Rechtsgrundsätze möglich ist. Die aequitas scripta berechtigt und verpflichtet den Handelnden zur Beachtung der Umstände bei einem Vorgehen nach dem Gesetz. Es soll dadurch gegenüber dem notwendig allgemeinen Charakter des Gesetzes die Besonderheit des einzelnen Falles berücksichtigt werden. Verweise auf dieses billige Vorgehen finden sich in einer großen Zahl von Gesetzen74 • Im besonderen ist von der kanonischen Billigkeit Gebrauch zu machen, wenn eine Gesetzeslücke zu ergänzen ist75 •

in allen Tätigkeiten der Kirche gleich ist. "Aber eine Amtlichkeit, die gar keinen Anteil am Christusamt der Kirche hätte, könnte in Wahrheit auch keine Amtlichkeit der Kirche sein." 72

V gl. A. van Hove, De legibus ecclesiasticis (Mecheln / Rom 1930) 289 s.

73

Eichmann / MörsdorjI 124.

74 Vgl. etwa ce. 144. 192 § 3. 2156 § 2.388.428. 1574 § 2. 1455 n. 2. 643 § 2. 671 nn. 5, 7. - 1500. - 1731 n. 2. (Nonnae SR Rotae art. 156 § 1.) 1797 § 2. 1805. 1833 n. 2. 1951 § 2. 1929. 1687-1689. 1905-1907. - 2214 § 2. 2222 § 1. 2224 § 2. - 1529. 1551. 1517. 1542 § 2. Vgl. für diese Aufstellung und für weitere Stellen eh. Lefebvre, Le röle de l'equite en droit canonique, in: EphlurCan 7 (1951) 138 ss. S. auch van Hove 290 s. 75 Nach c. 20 greift bei der Schließung von Gesetzeslücken die Analogie Platz. Wer vor die Notwendigkeit gestellt ist, eine Gesetzeslücke zu schließen, dem sind vier Mittel an die Hand gegeben. Zunächst hat man sich an die vom Gesetz für ähnliche Fälle ge-

Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts

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Die aequitas non scripta gründet sich auf die Überlegung, daß der Wille des Gesetzgebers vernünftig ist. Er kann nur anordnen, was vom Wohle der Gemeinschaft gefordert ist, und in dem Maße, als dieses es erfordert. Stößt das allgemeine Gesetz auf Umstände, unter denen die Erfüllung des Gesetzes unsittlich, unvernünftig oder unmöglich ist, darf von der aequitas non scripta Gebrauch gemacht werden76. Im besonderen verhilft die ungeschriebene kanonische Billigkeit der Gewissensentscheidung der Epikie77 bei konträrem Wegfall des Gesetzeszweckes 78 , bei Normenkollision79 und bei Unmöglichkeit der Gesetzeserfüllung 80 zur Anerkennung im äußeren Bereich8!. troffenen Bestimmungen zu halten (Gesetzesanalogie). Sind solche nicht vorhanden, ist auf die allgemeinen Rechtsprinzipien zurückzugreifen (Rechtsanalogie). Diese allgemeinen Rechtsgrundsätze sind jedoch unter Beachtung der kanonischen Billigkeit anzuwenden. Das gleiche gilt für die Gesetzesanalogie (Eichmann / Mörsdorf I 123). Vor allem der Richter wird auf diese Weise in die Lage versetzt, unter Rückgriff auf die kanonischen oder allgemeinen Rechtsgrundsätze, deren gerechte, den Umständen entsprechende Anwendung auf den vorliegenden Fall die Billigkeit verbürgt, den vom Gesetz nicht vorgesehenen Fall einer befriedigenden Lösung zuzuführen. An dritter und vierter Stelle sind der Kurialstil und die gemeinsame ständige Meinung der Gelehrten heranzuziehen. Vgl. zur Auslegung von c. 20 vor allem DDC V 405-408. 76

Lefebvre 145; van Hove 292.

Unter Epikie verstehe ich (mit van Hove 294) das Gewissensurteil, daß ein Gesetz im inneren Bereich in einem einzelnen Falle wegen besonderer Umstände nicht zu beobachten sei. Die Berechtigung zur Nichtbeobachtung ergibt sich aus der Erkenntnis, daß der Gesetzgeber in dem bestimmten Falle nicht verpflichten könne, weil die Beobachtung des Gesetzes unsittlich oder schädlich wäre, oder nicht verpflichten wolle, weil die Beobachtung unvernünftig oder zu schwer wäre. 77

78 Der Gesetzeszweck kann von seiten des Gegenstandes und von seiten des vom Gesetzgeber intendierten Zieles entfallen, so daß die Befolgung des Gesetzes schlecht, ungerecht oder schädlich wäre. In einem solchen Falle die Befolgung des Gesetzes verlangen zu wollen geht über die Macht des Gesetzgebers hinaus. Vgl. van Hove 296. Daß c. 21 ebenso wie alle anderen Gesetze diesem Grundsatz untersteht, macht H. Flatten, Die Mischehenkautionen bei physischer Unmöglichkeit künftiger Nachkommenschaft, in: ThQ 137 (1957) 257-288 einsichtig. 79 Mehrere Normen können im Einzelfall so zusammenstoßen, daß nicht alle zugleich erfüllt werden können, sondern nur eine oder einige. In diesem Falle ist das werthöhere Gesetz zu beobachten und das wertniedere nicht zu befolgen. Welches Gesetz den höheren Wert zu verwirklichen sucht, ergibt sich im allgemeinen aus dem näheren oder entfernteren Bezug zur kirchlichen Gemeinschaft (vgl. Eichmann / MörsdorfI 115; van Hove 298).

80 Es ist überflüssig zu erwähnen, daß absolute physische Unmöglichkeit immer von der Beobachtung des Gesetzes entschuldigt (Reg. iur. 6 in VIIO ). Genauerer Erklärung bedarf jedoch die moralische Unmöglichkeit. Moralische Unmöglichkeit (auf die der schwere Nachteil des c. 2205 § 2 hinweist) liegt vor, wenn mit der Beobachtung des

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Es ist ohne weiteres einsichtig, daß die kanonische Billigkeit in Spannung zu der im kanonischen Recht ohnehin nicht absoluten Unverbrüchlichkeit des Rechts 82 und zu dem Grundsatz der Rechtssicherheit steht. Eine Durchbrechung des positiven Rechts unter Berufung auf die kanonische Billigkeit darf indes nur dann erfolgen, wenn auf keinem anderen Wege eine gerechte Lösung der anstehenden Frage zu finden ist. Dann liegt ein gerechter Grund vor83 , der berechtigt, aus dem geoffenbarten Wort Gottes und dem mit diesem übereinstimmenden Geist der Rechtsordnung 84 eine neue Regel zu finden 85 • Gesetzes zufällig eine besondere Schwierigkeit verbunden wäre, zu deren Überwindung eine so große Anstrengung erforderlich wäre, daß sie dem einzelnen nicht zugemutet werden kann (Eichmann / MörsdorfI 115; van Hove 298). Es wird dabei angenommen, daß der Gesetzgeber nur unter normalen Umständen und Schwierigkeiten verpflichten konnte und wollte, nicht unter außerordentlichen und unvorhergesehenen. Allerdings sind bei der Anwendung dieses Grundsatzes besondere Sicherungen zu gewissenhafter Beurteilung der Lage erforderlich. Der aus der Beobachtung fließende Schaden oder Nachteil (die mit der Beobachtung verbundene Schwierigkeit) muß so erheblich sein, daß er (sie) in keinem gerechten Verhältnis zu der Bedeutung des Gesetzes steht. Im besonderen muß der Schaden oder Nachteil, in dem die besondere Schwierigkeit der Gesetzeserfüllung gelegen ist, verschieden sein von jener Schwierigkeit, die sich normalerweise und regelmäßig notwendig aus der Gesetzesbeobachtung ergibt. Denn die letztere war von dem Gesetzgeber vorausgesehen und beabsichtigt (vgl. Lefebvre 147). Grundsätze für die Abschätzung des genügenden Grundes zur Aussetzung der Gesetzesbeobachtung im Falle der Unmöglichkeit der Gesetzeserfüllung gibt van Hove 299 an. 81 Die Epikie läßt die objektive Gesetzesverpflichtung unverändert bestehen; sie betrifft nur die Zurechenbarkeit der Nichterfüllung im inneren Bereich. Im äußeren Bereich ist die Berechtigung des Gewissensurteiles nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, besonders aber nach der kanonischen Billigkeit zu beurteilen. Vgl. van Hove 295.

82 V gl. dafür jetzt A. Szentirmai, Der Umfang der verpflichtenden Kraft des Gesetzes im kanonischen Recht, in: AÖR 85 (1960) 337-353. Der Verfasser faßt seinen Überblick in dem Urteil zusammen, daß die verpflichtende Kraft der kanonischen Gesetze, besonders im Vergleich mit dem weltlichen Recht, alles andere als absolut sei. Das positive Gesetz sei eher programmatisch denn nonnierend. 83 DDC V 405. 84

Lefebvre 148.

85 Eichmann / MörsdorfI 126. Hier wird betont, daß Epikie und kanonische Billigkeit, die eine gemeinsame Wurzel haben, nämlich die Berufung auf ein höheres Recht als das positive Recht und dessen Verankerung im Gewissen, ihre gemeinsame Grenze an dem unabänderlichen, d. h. dem göttlichen Recht haben. Im besonderen darf der kirchliche Hoheitsträger sich die freiheitliche Weise, in der Epikie geübt werden kann, nicht zu eigen machen, denn die von ihm geübte Rechtspflege dient primär dem Wohl der Gemeinschaft und nicht des einzelnen. Vgl. auch den Unterschied zwischen Epikie und Billigkeit, wie ihn van Hove 303 s. herausarbeitet.

Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts

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Ein Beispiel dafür, daß die kanonische Billigkeit nicht nur in der Milderung des rigor iuris sich auswirkt, sondern auch zu einer an sich nicht vorgesehenen Strenge führen kann, bietet die Strafverhängung ohne vorhergehende Stra/drohung, wie sie in c. 2222 § 1 vorgesehen ist86 • Keine weltliche Gesetzgebung darf es sich erlauben, von dem ehernen Grundsatz des Nulla poena sine lege poenali praevia abzugehen 87 • Das kanonische Recht durchbricht diesen rechtspositivistischen Grundsatz und räumt aus seiner naturrechtlichen Grundhaltung dem rechtmäßigen Oberen die Befugnis ein, eine nicht mit Strafe bedrohte Gesetzesverletzung mit einer gerechten Strafe zu ahnden, wenn das gegebene Ärgernis oder die besondere Schwere der Gesetzesverletzung dies erforderlich machen 88 • Hier zeigt sich, daß der kirchliche Gesetzgeber, weit entfernt von allem Perfektionismus, das Gesetz Christi, die göttliche Offenbarung, ernst nimmt. Was recht und unrecht ist, was strafwürdig und straflos ist, das hat der mündige Christ nicht allein dem CIC zu entnehmen, sondern das ergibt sich auch aus der täglichen ordentlichen Lehrverkündigung der Kirche und aus dem neuen Gesetz, das der Geist in das Herz jedes Christen geschrieben hat. Wer den Sinn Christi hat, muß imstande sein, die Schwere einer Gesetzesverpflichtung abzuschätzen, und er muß bereit sein, die Strafe auf sich zu nehmen, wenn er gefehlt hat. Die kanonische Billigkeit verlangt in einem solchen Fall, daß der Mangel einer Strafdrohung nicht die Bestrafung verhindert, die zur Ahndung eines schweren, vom Strafgesetz nicht erfaßten Unrechts erforderlich erscheint89 • So ist die kanonische Billigkeit ausdrucksvolles Kennzeichen einer Rechtsordnung, welche die Gemeinschaftsordnung gewährleistet, um dem einzelnen das Erreichen des übernatürlichen Zieles zu ermöglichen. Zugleich ist sie das dynamische Prinzip des kirchlichen Rechts. Konservative GrundeinsteIlung und Traditionsverbundenheit stehen notwendigen Rechtsänderungen nicht entgegen. Die kirchliche Rechtsordnung wird nicht starr auf dem Gesetz bestehen, das sich zum Schaden der Gemeinschaft oder auch nur eines einzelnen auswirkt. Salus animarum suprema lex. Das kanonische Recht kennt keine Durchsetzung des Rechtes um jeden Preis. Niemals ist es bereit, als Preis für die Auf86 Zur Problematik vgl. Eichmann / Mörsdorj"III 9 (Paderborn 1960) 299 f.; Jone (Paderborn 1953) 450.

ne

87 Zu den von diesem Grundsatz abweichenden Nürnberger Prozessen vgl. K. Heinze / F. und K. Schilling, Die Rechtsprechung der Nürnberger Militärtribunale (Bonn 1952); W. Grewe / O. Küster, Nürnberg als Rechtsfrage. Eine Diskussion (Stuttgart 1947); StL6 V 1131-1136. 88 Nach c. 2222 § 1 können Zensuren nicht verhängt werden (vgl. cc. 2241. 2242), sondern nur Sühnstrafen. 89

V gl. noch Hagen, Prinzipien 367 f.

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rechterhaltung eines Gesetzes, den Verlust des ewigen Lebens zu zahlen. Für die Kirche existiert die Gefahr nicht, welcher der Staat nach den Erfahrungen der Geschichte manchmal nicht ausweichen kann, daß nämlich eine von unglücklichen Mehrheitsverhältnissen sich herleitende Rechtsordnung den Untergang einer Nation herbeiführt, weil sich keine Mehrheit fand, sie zu ändern, und weil die positiven Kräfte im Staat das gesatzte Recht nicht einer höheren Gerechtigkeit zu opfern wagten. Die kanonische Billigkeit, verbunden mit dem Privilegien- und Dispensationswesen, sichert dem kirchlichen Recht jene Geschmeidigkeit und Anpassungsfahigkeit, die es bisher allen Umweltsbedingungen einer zweitausendjährigen Geschichte gewachsen sein ließ - für den Gläubigen untrügliches Merkmal göttlicher Herkunft und göttlicher Leitung der Kirche.

2. Äußerer und innerer Bereich Eine der folgenschwersten, aber das geistliche Wesen der kirchlichen Rechtsgewalt von jeder anderen Rechtsgewalt abhebenden Unterscheidungen ist die zwischen äußerem und innerem Bereich, forum extemum und forum intemum9o • Entgegen manchen falschen Auffassungen ist von vornherein zu betonen, daß in beiden Bereichen die eine einheitliche hoheitliche Hirtengewalt der Kirche tätig wird. Das Unterscheidungsprinzip zwischen beiden Bereichen kann nicht von der Art der hier handelnden Gewalt, sondern allein von der Weise des Tätigwerdens ein und derselben Gewalt her gewonnen werden. Im äußeren Bereich ist das Vorgehen der Hirtengewalt öffentlich, im inneren Bereich ist es geheim. Art und Grad der Geheimhaltung sind verschieden, je nachdem die Hirtengewalt im nichtsakramentalen inneren Bereich oder im sakramentalen inneren Bereich, d. h. im Sakrament der Buße, tätig wird 91 • Im sakramentalen inneren Bereich werden die Sünden vergeben, einerlei ob es sich um öffentliche oder geheime Sünden handelt. Dieser Bereich wird betreten, wenn ein Christ einem Beichtvater seine Sünden bekennt92 . Der Unterschied zwischen dem Vorgehen im äußeren Bereich und im nichtsakramentalen inneren Bereich besteht im wesentlichen darin, daß im ersten Falle unter voller Namensnennung der betreffenden Personen und im zweiten Falle unter Decknamen verhandelt und entschieden wird und daß demzufolge

90

Für diese Ausführungen stütze ich mich auf Eichmann / MörsdorfI 317 ff.

91 Für das Vorgehen im Bußsakrament s. die cc. 870-910, besonders cc. 888. 889891. Vgl. auch cc. 900 n. 2. 900 § 2. 1045 § 3.1757 § 3 n. 2. 2027 § 2 n. 1. 2254 § 1. 92 Es können aber im inneren sakramentalen Bereich auch andere hoheitliche Akte außer der sakramentalen Lossprechung vorgenommen werden. Vgl. c. 202 § 2.

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Entscheide der einen Art gegebenenfalls in die amtlichen Kirchenbücher einzutragen sind und Entscheide der anderen Art geheim aufbewahrt werden93 • Von der zu entscheidenden Sache her gesehen gilt der Grundsatz, daß das, was öffentlich bekannt ist oder aller Voraussicht nach bekannt werden wird, im äußeren Bereich und das, was geheim ist und aller Voraussicht nach geheim bleiben wird, im inneren Bereich zu behandeln ist. Es steht aber jedermann frei, seine geheime Sache im äußeren Bereich behandeln zu lassen 94 • Hinsichtlich der Wirksamkeit der im äußeren und im inneren Bereich gesetzten Akte gilt als oberster Grundsatz, daß jede Entscheidung, gleichgültig in welchem Bereich sie ergehen mag, die zu entscheidende Sache rechtlich wirksam und wirklich entscheidet95 • Indes bleibt bei der Entscheidung im inneren Bereich die Möglichkeit, daß ein falscher Schein entsteht, wenn nämlich das bisher geheime Hindernis öffentlich bekannt wird. Ein solcher Schein kann bei der Entscheidung im äußeren Bereich nicht entstehen. Es kann daher notwendig werden, daß eine Sache, die im inneren Bereich bereits wirklich und wirksam entschieden ist, noch einer Entscheidung im äußeren Bereich bedarf, um den falschen Schein zu beseitigen96 • Welche erhebliche praktische Bedeutung für das geistliche Wohl des einzelnen der Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Bereich zukommt, sei an zwei Beispielen erläutert. Eine poena latae sententiae ist eine kirchliche Strafe, die mit der Begehung der Straftat ohne weiteres, d. h. ohne Dazwischentreten eines kirchlichen Hoheitsträgers eintritt. Schon die Existenz einer solchen Strafe ist charakteristisch für ein Recht, das den Rechtsunterworfenen stets mit der Wirklichkeit Gottes konfrontiert sieht. Sobald der Täter sich der Straftat in seinem Gewissen be93

Vgl. c. 1047.

94 Umgekehrt wird es wenigstens in der Regel unzulässig sein, öffentlich bekannte Sachen im inneren Bereich zu behandeln.

95 Daran kann die unglückliche Formulierung des c. 202 § 1 nichts ändern. Für die obige Ansicht spricht eindeutig c. 1047. Nur weil das Hindernis rechtlich wirksam und endgültig behoben ist, bedarf es beim Bekanntwerden keiner neuen Dispens für den äußeren Bereich. Die absolutio in foro interno, von der c. 2251 spricht, ist keine rechtsgestaltende Lossprechung, sondern eine rechtsbekräftigende Erklärung, welche den im äußeren Bereich bestehenden Schein des Bestehens der Strafe beseitigt. Der (allein) im inneren Bereich Losgesprochene verhält sich auch im äußeren Bereich nicht so, als ob er losgesprochen sei, sondern als tatsächlich Losgesprochener. 96 Es muß aber der wesentliche Unterschied zwischen der konstitutiven Entscheidung, welche das Hindernis oder die Strafe aufhebt, und der deklarativen Entscheidung, welche die Aufhebung im äußeren Bereich offenkundig macht, festgehalten werden.

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wußt wird, ist die Tatstrafe im äußeren und im inneren Bereich verbindlich. Er hat sie grundsätzlich an sich selbst zu vollstrecken. Indes haftet der von selbst eingetretenen Strafe etwas Unsicheres an. Wenn die Straftat geheim geblieben ist, darf der Betroffene die Beobachtung der Strafwirkungen aussetzen, sofern dies nicht ohne Gefahr für seinen guten Ruf geschehen kann. Nur wenn die Straftat notorisch war, dürfen die verantwortlichen Hüter des äußeren Bereiches von ihm die Beobachtung fordern. Die bestehende Unsicherheit über die Strafe wird erst durch einen feststellenden Spruch des kirchlichen Hoheitsträgers behoben97 • Ein solcher Spruch wird in der Regel nur bei schweren öffentlich bekannten Vergehen erfolgen. In geheimen Fällen werden die Tatstrafen gewöhnlich im inneren sakramentalen Bereich, also im Bußsakrament, nachgelassen 98 • Aus diesem Beispiel ergibt sich, wie sehr die Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Bereich dem Schutz des einzelnen Kirchengliedes dient. Der gute Ruf des Täters wird geschont. Zugleich bleibt aber der Strafanspruch der kirchlichen Obrigkeit gewahrt. Dem Täter widerfahrt, was er verdient: die Bestrafung. Es wird ihm zum Bewußtsein gebracht, daß er strafwürdige Schuld auf sich geladen hat. Nur ein geistliches Recht, das die Wirklichkeit Gottes und sein Wirken in den Seelen ernst nimmt, kann in dieser Weise den Kampf gegen das Verbrechen führen. Die Nichtigkeit einer Ehe muß regelmäßig in einem bestimmten Verfahren vor dem kirchlichen Hoheitsträger, sei es dem Richter, sei es dem Ortsoberhirten, festgestellt werden99 • In jedem Falle ist der Beweis für die Nichtigkeit der Ehe im äußeren Bereich zu erbringen 100 • Gelingt dieser nicht, dann sind die beiden Personen als Ehegatten zu behandeln 101. Das hat u. a. zur Folge, daß sie 97

Ce. 2217. 2232 § 1. 2223 § 4.

98

Eichmann / MörsdorfIlI 334. 350 ff. 353.

In der Regel ist der gemeingerichtliche Eheprozeß zu führen (ce. 1960-1989 mit EPO). Bei bestimmten, durch Urkunden sicher nachweisbaren Nichtigkeitsfällen genügt das verwaltungsgerichtliche Verfahren (ce. 1990-1992). Bei Nichtigkeit infolge Nichteinhaltung der sicher vorgeschriebenen kanonischen Eheschließungsform ist das Verwaltungsverfahren vor dem Generalvikar hinreichend. 99

100 Die Beweismittel sind in den Verfahren zur Feststellung der Nichtigkeit der Ehe grundSätzlich keine anderen als in anderen Verfahren. Außergerichtliche Aussagen eines Gatten, die für die Nichtigkeit der Ehe sprechen, sind, wenn sie vor der Eheschließung oder zu unverdächtiger Zeit nach der Eheschließung gemacht worden sind, Beweisstützen, deren Würdigung dem Richter obliegt (EPO Art. 116). Die gerichtliche Aussage eines Gatten gegen die Gültigkeit der Ehe besitzt keinen selbständigen Beweiswert (EPO Art. 117). 101 C. 1014.

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eine neue Ehe vor dem Angesicht der Kirche nicht eingehen können, wie sehr sie auch persönlich von der Nichtigkeit ihrer ersten Ehe überzeugt sein mögen. Was im inneren Bereich vorliegt, kann im äußeren Bereich nicht zur Anerkennung gebracht werden, weil die für die erfolgreiche Durchführung eines kirchlichen Verfahrens unerläßlichen Beweise nicht erbracht werden können. In jüngster Zeit hat nun die Sacra Paenitentiaria, also eine Behörde des inneren Bereichs 102 , nach Scheitern der Nichtigkeitsverfahren anläßlich der Gewährung einer sanatio in radice Ehen implicite für nichtig erklärt, und zwar mit Wirkung auch für den äußeren Bereich, einzig auf die Versicherung des Bittstellers hin, er sei von der Nichtigkeit seiner Ehe überzeugt, könne sie jedoch nicht beweisen 103 • Hier wird die glaubwürdige Beteuerung eines Gläubigen, die er im inneren Bereich abgibt, zum Anlaß und zur einzigen Stütze der Feststellung der Nichtigkeit einer Ehe im inneren Bereich, wobei dieser Feststellung Wirkung für den äußeren Bereich zugesprochen wird lO4 • Ein solches Vorgehen erscheint im staatlichen Bereich undenkbar. Es muß dem weltlichen Juristen als die Auflösung jeder Rechtssicherheit erscheinen. Nun ist dies auch im kirchlichen Bereich keineswegs die Regel. Aber daß es überhaupt möglich ist, läßt erkennen, daß das kanonische Recht entschlossen alle formalen Hindernisse wegräumt, die dem übernatürlichen Ziel der Gläubigen im Wege sein können. Dieses Verhalten entspricht seinem geistlichen Wesen. Die Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Bereich, zwischen einem Vorgehen und einer Wirksamkeit im äußeren und inneren Bereich dient in einer Weise dem geistlichen Ziel der kirchlichen Rechtspflege, wie sie dem weltlichen Recht nicht zugänglich ist.

102

C. 258.

103 J. Bank, Connubia canonica (Rom I Freiburg i. Br. I Barcelona 1959) 583 s. Es wird von einem katholischen Mann die sanatio in radice seiner zweiten Ehe erbeten. Huiusmodo gratia per Sacrarn Poenitentiariarn imploratur cum in foro externo impossibile sit invaliditatem probare prioris matrimonii. Sacra Paenitentiaria de speciali et expressa Apostolica Auctoritate benigne sic annuente SS.mo D. N. Pio PP. XII, praefaturn matrimonium civile inter Titium et Bertham, dummodo consensus perseveret, in radice sanat et convalidat. Pro foro conscientiae, ita tarnen ut haec gratia in foro quoque externo suffragetur. 104 Der Beweis der erfolgten Nichtigerklärung und sanatio soll durch das Reskript erbracht werden: Ad quem effectum praesentes litterae, cum adnotatione in earum calce norninum, cognorninum et patriae coniugum, in secreto Archivo Curiae caute serventur, ut pro quocumque futuro eventu de matrimonii validitate constare possit. Das im äußeren Bereich geführte gerichtliche Verfahren war in 23 Jahren nicht zu einem Entscheid für die Nichtigkeit der ersten Ehe gekommen.

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Die Kirche kann in ihrem Gebieten und Zwingen nicht mit äußerer Gewalt auftreten, sondern sucht stets die innere Einsicht und Zustimmung zu ihren Maßnahmen zu gewinnen. Ihr geht es nicht allein um legales, sondern um heils wirksames Handeln und Verhalten der Gläubigen. Sie strebt danach, äußeren und inneren Bereich, äußeres Legalverhalten und innere Überzeugung zur Deckung zu bringen. Nicht immer läßt sich ein Gegensatz zwischen Äußerem und Innerem vermeiden. Es gibt Umstände und Verhältnisse, die zu harten Maßnahmen im äußeren Bereich zwingen. Aber um des Seelenheiles willen ist die Kirche im inneren Bereich nachgiebig 105 • Im besonderen gewährt sie eine geheime Erledigung von Strafsachen, wenn die öffentliche Erledigung niemandem von Nutzen wäre. Die Rechtsverhältnisse der einzelnen Personen können im inneren Bereich geordnet werden, solange dies für die kirchliche Gemeinschaft keine nachteiligen Folgen hat 106 • Vor allem hat die Kirche nun schon seit vielen Jahrhunderten das gesamte Bußverfahren in den inneren, und zwar in den sakramentalen Bereich verlegt. Sie kommt damit der menschlichen Scham entgegen, hält aber an den wesentlichen Erfordernissen fest. So dient die Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Bereich wesentlich dem Ausgleich zwischen den Anforderungen der Gemeinschaft und den Interessen des einzelnen. Dabei liegt das Gewicht im äußeren Bereich stärker auf dem Gemeinwohl, im inneren Bereich stärker auf dem Einzelwohl. Muß das Recht im äußeren Bereich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zum unmittelbaren Ziel seiner Anordnungen machen, so kann es im inneren Bereich unmittelbar das übernatürliche Ziel des einzelnen anstreben 107 • 3. Eschatologischer Zug

Das göttliche Ziel, dem die Kirche in ihrer rechtlichen Gestalt zueilt, gibt schließlich dem gesamten kirchlichen Leben und damit auch dem kanonischen 105 Aber selbst im äußeren Bereich muß die Lossprechung von einer Beugestrafe gewährt werden, wenn der Betroffene bereut und sich bekehrt, also ein seelisches Verhalten zeigt, das keineswegs immer im äußeren Bereich nachprüfbar ist. Vgl. cc. 2248 § 2. 2242 § 3. 106

Vgl. Bertrams, Die personale Struktur des Kirchenrechts 131 f.

Lämmle 147 spricht insofern mit Recht von der individualistischen Grundrichtung des Kirchenrechts. Vgl. die Ausführungen von W. Bertrams, Das Privatrecht der Kirche, in: Gregorianum 25 (1944) 295. 306. 311; derselbe, De natura iuridica fori interni Ecclesiae, in: Periodica40 (1951) 307-340. 107

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Recht einen eschatologischen Zug. Der eschatologische Zug zeigt sich in zweifacher Weise. Einmal weiß sich die Kirche zum Untergang bestimmt. Sie geht der Vollendung entgegen, deren Werkzeug und Symbol sie war\08. Zum anderen hat die jenseitige Wirklichkeit bereits jetzt in der Kirche Gegenwart. Kirchliche Existenz bedeutet Nachbarschaft mit dem Jenseitigen lO9 . In ihrem Gebieten, Verwalten und Richten weiß sich die Kirche als Organ des Herrn, der durch sie und in ihr seine Herde der Vollendung, dem Zustand der offenbaren Gottesherrschaft"O, entgegenführt. Der Kirche ist bewußt, daß sie nicht das Reich Gottes selber ist, sondern ihm entgegengeht"l. Daß der Weg, auf dem die Kirche dem wiederkommenden Herrn entgegenschreitet, der rechte ist, das verbürgen ihr die göttliche Herkunft ihrer Gestalt und der göttliche Reichtum ihrer Gaben. Auch durch die rechtliche Seite ihres Wesens bereitet Gott sein Volk für den Tag Christi 112. Das Warten auf den kommenden Äon, der freilich seit Jesu Erscheinen schon über den alten Äon gekommen ist, prägt alle Bestimmungen des kanonischen Rechts. Indes tritt es in einigen deutlicher zutage als in anderen. Wenn die Dogmenoffenbarung auf der einen Seite ein leuchtendes Denkmal der göttlichen Herrlichkeit und Liebe im Neuen Bunde darstellt, so kann das Dogma auf der anderen Seite seinen Erdcharakter nicht verleugnen: es zwingt den Menschen nicht zum Glauben und gibt ihm nicht die ganze und nicht alle Wahrheit. Auch vom Dogma gilt das Wort Pauli, daß wir hienieden durch einen Spiegel im Rätsel schauen (1 Kor 13,12). Insofern fügt sich das Dogma in den

108 Semmelroth l35. Vgl. auch Schmaus III, I 464: Das jetzige Stadium der Kirche ist mit der geschichtlichen Existenz Jesu zu vergleichen. Nach Schmaus würde den eschatologischen Charakter der Kirche mißverstehen, wer mit dem Hinweis darauf, daß der Auferstandene es ist, der in der Kirche wirkt, der Kirche das Institutionelle abspräche und nur das Pneumatische gelten ließe. Die volle Teilnahme am Herrlichkeitsleben Christi ist der nachgeschichtlichen Existenz der Kirche bzw. ihrer Glieder vorbehalten. 109

Semmelroth 135.

110 Vgl. dafür jetzt R. Schnackenburg, Gottes Herrschaft und Reich (Freiburg i. Br. 1959). 111 Vgl. Schmaus III, 1 684 ff.

112 J. A. Ginzel, Handbuch des neuesten in Österreich geltenden Kirchenrechts I (Wien 1857) 18 nahm bereits das eschatologische Ziel in seine Definition des Kirchenrechts auf, wenn er es bestimmte als die sittliche und gesellige Ordnung, welche der Erlöser in jener Körperschaft, die sein Leib ist, als das Haupt derselben grundgelegt hat und durch den Heiligen Geist mitte1st des von ihm gesetzten Apostolates immerfort zu dem Zweck erhält und entwickelt, daß die Gesamtheit wie jedes einzelne Glied derselben geheiligt und beseligt werde. - Vgl. auch Lämmle 171.

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eschatologischen Grundzug der Kirche ein, indem es durch seine endliche Beschränktheit über sich selbst hinausweist in einen Zustand vollkommener Gotteserkenntnis 113. Wie nahtlos sich charismatische Verwirklichung der eschatologischen Grundgestimmtheit der Kirche und rechtlich-institutionelles Gepräge zusammenfinden, wird in den kanonischen Ständen der Vollkommenheit und im Zölibat des katholischen Priesters sichtbar. Im klösterlichen Stand ist "eine gesellschaftliche Konkretheit des Charismatischen und Enthusiastischen in der Kirche,,114 erreicht. In dem dreifachen Verzicht der klösterlichen Gelübde wird der alles überragende Wert des eschatologischen Zieles vor aller Welt feierlich bekannt 1l5 • Und in der ehelosen Lebensform des Weltpriesters ragt nicht nur, wie Adolf von Harnack es formulierte, ein Stück des Evangeliums in die Kirche der Gegenwart, sondern auch ein Anfang der eschatologischen Vollendung, "wo sie nicht mehr freien noch gefreit werden" (Mt 22,30), wo Gott alles in allem ist (1 Kor 15,28)1l6. Es ist zwar keine erschöpfende, jedoch eine treffende und wesentliche Aussage über die Kirche, wenn Rudolph Sohm einmal erklärt: ,,Das Wesen des Katholizismus besteht darin, daß er zwischen der Kirche im religiösen Sinn (der Kirche Christi) und der Kirche im Rechtssinn nicht unterscheidet. Die Kirche im Lehrsinn ist ihm zugleich Kirche im Rechtssinn und umgekehrt: die

113

Lämmle 164.

K. Rahner, Die Armut des Ordenslebens in einer veränderten Welt, in: Geist und Leben 33 (1960) 268. Rahner hebt hervor, daß es keine Kirche der eschatologischen Endzeit geben könne, in der nicht die evangelischen Räte als Wesensmerkmale der Kirche selbst gelebt werden. In dem Maße, in dem ein solches Leben organisatorische Formen annimmt, die das Charismatische in einem gewissen Sinn institutionalisieren, gehören die klösterlichen Verbände zum Wesen der Kirche, in denen sie ihr eigenes Leben unter bestimmten Rücksichten lebt, konkret macht und für die Welt greifbar darstellt. Die Entscheidungssituation ist in ihrer Radikalität geschichtlich bedingt, nämlich durch das unüberbietbare Heilsangebot Gottes in Christus. Ihr antwortet u. a. die evangelische Armut, die Rahner als "ein Stück der Sichtbarkeit der eschatologischen Repräsentanz der Gnade, die die Kirche ist" bezeichnet. 114

115 Semmelroth 73 f. Nach ihm gehört der Stand der evangelischen Räte in die Vielfalt der Kräfte und Wirklichkeiten, die im Gefüge der gesellschaftlich gegliederten Kirche das Drängen in die jenseitige Gottbegegnung wachhalten sollen. Die charismatische Dynamik ist hier zu einem Stand geworden. "Was da erwählt wird, ist von der Dynamik einer besonderen Jenseitsausrichtung geprägt; und es ist dennoch ein Stand, in den man berufen wird und in den man mit Überlegung endgültig eintritt."

116 H. Doms, Vom Sinn des Zölibats. Historische und systematische Erwägungen (Münster / Westf. 1954); W. Bertrams, Der Zölibat des Priesters (Würzburg 1960).

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Kirche Christi ist ihm eine rechtlich verfaßte Organisation"l17. Tatsächlich, es gibt keinen Unterschied zwischen der Kirche im Lehrsinn, d. h. der Kirche nach dem Begriff, wie er ihrem eigenen, durch das Dogma bestimmten Wesen entspricht, und der Kirche im Rechtssinn, d. h. der Kirche als Quelle einer kirchlichen Rechtsordnung und als Subjekt von Rechten 118• Das kanonische Recht ist nicht ein entbehrlicher Teil des menschlichen Antlitzes der Kirche, sondern es ist Wesensausdruck der sichtbaren Kirche Jesu Christi, an deren geistlichem Wesen das Recht teilhat. Es ist diese auch in ihrem Recht sichtbare Kirche, von der Irenäus einmal sagt: "Wo nämlich die Kirche ist, da ist auch Gottes Geist und wo Gottes Geist ist, dort ist die Kirche und alle Gnade"l19.

117

Wesen und Ursprung des Katholizismus (Berlin / Leipzig 21912) 13 f.

llg

L. Bendix, Kirche und Kirchenrecht (Mainz 1895) 34.

Adv. haereses 3, 24, 1 (pG 7,966; F. Sagnard, Irenee de Lyon, Contre les heresies, Livre m. Edition critique. Paris 1952,400). ll9

Die Kontinuität im kanonischen Recht Das allgemeine Lebensgefühl der Gegenwart ist darauf gerichtet, "modern" zu sein. In diesem Worte sieht man die "magische Formel", welche die Vergangenheit bannt'. ,,Das Neu-Sein ... ist für uns eine so hervorragende Eigenschaft, daß ihr Fehlen uns alle anderen Vorzüge zunichte macht und ihr Vorhandensein sie ersetzt. Bei Strafe der Bedeutungslosigkeit, Verachtung und Langeweile zwingen wir uns, in der Kunst, den Sitten, der Politik und den Ideen immer ,fortgeschrittener' zu sein, und wir sind so geartet, daß wir nur noch das Erstaunen und die unmittelbare Schockwirkung würdigen können,,2. Demgegenüber hat eine Institution mit einer zweitausendjährigen Geschichte, die sich bewußt zu ihrer Vergangenheit bekennt, weil sie gar nicht anders kann, einen schweren Stand. Leicht haftet ihr das Stigma des Altmodischen, Verbrauchten und Überholten an, das Bedeutung für die Gegenwart nicht mehr beanspruchen kann. Ist dieses Urteil für die Kirche als Ganzes im Schwange, dann in betonter Weise für ihr Recht. Unterliegen doch positive Normierungen besonders raschem Wechsel. Ich bin mir deshalb darüber klar, daß ich von vornherein in einer ungünstigen Ausgangsposition bin, wenn ich daran gehe, die Kontinuität des kirchlichen Rechtes zum Gegenstand von Überlegungen zu machen. Das Problem der Kontinuität im kanonischen Recht ist umrissen mit den Begriffen des göttlichen und des menschlichen (= rein kirchlichen) Rechtes3 , ihrem Zusammenhang und ihrer Verschiedenheit. Das göttliche Recht ist die Gesamtheit jener Normen für das Zusammenleben der Menschen, die Gott selbst verbindlich gemacht hat, und zwar entweder durch die Ordnung der Natur (= Schöpfung) oder durch das Geschehen in Jesus Christus (= Offenbarung).

1

P. Hazard, Die Krise des europäischen Geistes. Hamburg 1939,55.

2 P. Valery, Regards sur le monde actuel. Paris 1931, 161. Deutsche Übersetzung nach H. Bacht, Tradition als menschliches und theologisches Problem, in: Stimmen der Zeit 159 (1956/57) 286. 3 E. Rösser, Göttliches und menschliches, unveränderliches und veränderliches Kirchenrecht von der Entstehung der Kirche bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts. Paderborn 1934 = Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft, Heft 64; K. Rahner, Über den Begriff des ,,Jus divinum" im katholischen Verständnis, in: Schriften zur Theologie V, Einsiedein / Zürich / Köln 1962,249-277; derselbe, Recht, Göttliches R. u. menschliches R., in: LThK2 VIII, 1033.

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Anders ausgedrückt, wenn man von dem Naturrecht4 absieht: Unter positivem göttlichem Recht versteht die Kirche jene Wahrheiten, Einrichtungen und Gesetze, die im Offenbarungsereignis begründet sind und Gott selbst zum Urheber haben. Auch die kirchliche Lehre, das Glaubensgut, kann und muß unter dem Gesichtspunkt des Rechts, und zwar des göttlichen Rechts betrachtet werden und ist sehr früh unter diesem Gesichtspunkt betrachtet worden5 • I. Die Kontinuität im positiven göttlichen Recht

Das göttliche Recht ist die stärkste Säule der Kontinuität des Lebens der Kirche im allgemeinen und ihres Rechtes im besonderen. Die jedem Recht eigene Tendenz zur Beharrung erfahrt durch das göttliche Recht eine metaphysische Vertiefung. Das göttliche Recht ist unveränderlich. Unveränderlichkeit des göttlichen Rechtes besagt, daß eine Vorschrift unmittelbar göttlichen Ursprungs ihre Geltung nicht verlieren und in ihrem wesentlichen Gehalt nicht modifiziert werden kann6 • 1. Das begründende Offenbarungsereignis

Das Christentum7 ist eine Religion, die in ihrem Anfang und in ihrem wesentlichen Inhalt auf ein geschichtliches Geschehen zurückgeführt wird. Es ist jenes factum historicum, das mit dem Namen Jesus von Nazareth 8 angedeutet ist. Aus der wesentlichen Bindung des Christentums an die es begründenden geschichtlichen Ereignisse9 ergibt sich die Notwendigkeit, die Kontinuität mit dem Anfang zu wahren. Die Kirche ist überzeugt, daß der Ursprung in Jesus Christus absolut normativ und deshalb unaufgebbar ist. Sie versteht sich als die 4 Ph. Delhaye / F. Böckle / K. Rahner / A. Hollerbach, Art. Naturrecht, Naturgesetz, natürliches Sittengesetz, in: LThK2 VII, 821-829.

5 Rösser,

92 f.

6

Rösser, 146.

7

K. Rahner, Art. Christentum, in: LThK2 II, 1100-1115.

8 A. Vögtle / R. Schnackenburg / A. Grillmeier / K. Rahner, Art. Jesus Christus, in: LThK2 V, 922-961. 9 Die christliche Offenbarung ist 1. geschichtlich, d. h. raumzeitlich ereignishaft, und bedarf daher einer weiterbezeugenden Überlieferung, 2. worthaft, d. h. sie hat den menschlichen Begriff und so das Wort zum konstituierenden Moment, 3. sozial, d. h. sie wendet sich nicht nur an den Einzelnen, sondern an die Allgemeinheit, und 4. eschatologisch, d. h. sie wird nicht mehr durch eine neue innerweltliche Offenbarung abgelöst (K. Rahner, Art. Heilige Schrift, in: LThK2 V, 115 f.).

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im wesentlichen ungebrochene Entwicklung des von Christus gepflanzten Keimes. Die Kirche beansprucht, das gleiche Rechtssubjekt zu sein, "das durch die Stiftung Christi ins Leben getreten ist und das sich ihrem Wesen nach nie geändert hat"lO. ,,Der Charakter der Offenbarung in Jesus Christus als der bleibenden und geschichtlichen, der schlechthin unüberholbaren und zugleich universalen, alle betreffenden und betreffen wollenden Offenbarung Gottes bedingt und erfordert als Offenbarung ,einmal und ein für alle Mal' über das geschichtlich Gewordene und Gewesene hinaus eine ständig bleibende Gegenwärtigkeit und Gleichzeitigkeit. Diese ist gegeben in der Kirche als der Anwesenheit des Wortes, des Werkes, des Geistes und der Person Jesu Christi und der in ihm gegebenen Erfüllung aller ihm vorausliegenden oder ihm folgenden Weisen, Formen und Gestalten der Offenbarung. In der Kirche als ganzer und in allen Weisen ihres Tuns, zuhöchst in Wort und Sakrament und in der dafür gestifteten Verfaßtheit, Struktur und Funktion, Überlieferung, Bewahrung und Ausstattung der Kirche wird die Offenbarung als Ganzes und in allen ihren Dimensionen jeweils anwesend gemacht und jeder Zeit vermittelt und erschlossen"ll. Weil die Kirche die Fortsetzung und stetige Gegenwart des Erlösungswerkes Christi ise 2, ist die Wahrung des Zusammenhanges mit dem sie begründenden und tragenden Ereignis eine Lebensfrage für sie. Die Wahrung des Zusammenhanges der Kirche mit ihren Ursprüngen drückt sich in der Wesenseigenschaft der Apostolizität aus. "Apostolizität der Kirche als eine Wesenseigenschaft und ein Merkmal der Kirche bezeichnet die in der raumzeitlichen Entwicklung gleichbleibende Wesensidentität mit der Kirche der Apostel (D 247 379 1686),,13. Sie besagt eine dreifache Verbindung der Kirche der Gegenwart mit der Kirche der Apostel, 1. ratione originis, d. h. kraft ihrer Gründung durch die Apostel, 2. ratione identitatis, d. h. dank ihrer wesentlichen Übereinstimmung mit der Kirche der Apostel in Lehre, Gottesdienst und Verfassung, und 3. ratione successionis, d. h. wegen ihrer Regierung durch Vorsteher, "die wirkliche und rechtmäßige Amtsnachfolger der Apostel inner-

10 A.

11

Hagen, Prinzipien des katholischen Kirchenrechts. Würzburg 1949,55.

H. Fries, Art. Offenbarung, in: LThK2 VII, 1114.

12 V gl. den § 36 in J. A. Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, Neueste Auflage Regensburg 1871, 329-334, vor allem S. 332 f.: "So ist denn die sichtbare Kirche ... der unter den Menschen in menschlicher Form fortwährend erscheinende, stets sich erneuernde, ewig sich verjüngende Sohn Gottes, die andauernde fleischwerdung desselben, so wie denn auch die Gläubigen in der heiligen Schrift der Leib Christi genannt werden. " 13

O. Karrer, Art. Apostolizität der Kirche, in: LThK2 1,765.

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halb der Einheit der Kirche sind,,14. Die Apostolizität der Kirche "gewährleistet mit dem Beistand des verheißenen Geistes die kontinuierliche Einheit der Glaubensverkündigung und Gnadenvermittlung,,15.

2. Das Depositum jidei Die Offenbarung ist der Kirche "ganz und ausschließlich durch die Vermittlung der Apostel" überkommen (D 783). Die öffentliche Offenbarung ist mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen. Ein neu von außen hinzukommender, inhaltlicher Zuwachs der Offenbarung ist damit ausgeschlossenl 6 • Der klassische Ausdruck dieses Sachverhaltes ist der Begriff des Depositum jidei. Depositum fidei ist das der Kirche anvertraute Glaubensgut = die apostolische Tradition, die Christus seiner Kirche anvertraut hat (D 1800) = die heiligen Schriften und die göttliche Tradition, die dem Lehramt der Kirche zur Bewahrung, zum Schutz und zur authentischen Erklärung anvertraut sind (D 2313)17. Das Behüten des Überkommenen ,,kann aber nicht in der mechanischen Wiederholung der Formen und Ausdrucke der apostolischen Überlieferung bestehen. Denn mit der Übergabe an die Schüler des Apostels wird die apostolische zur kirchlichen Tradition und steht bisher unbekannten Situationen und in der Kirche aufkommenden Irrlehren gegenüber. Mit solchen hatte sich schon Paulus auseinanderzusetzen und war gezwungen, nicht nur Apostel des Evangeliums zu sein, sondern auch Lehrer, d. h. das richtige Verständnis des Evangeliums zu vermitteln (2 Tim 1,11). Dies ist die neue Note, die die apostolische Überlieferung in der Form des Depositum fidei erhält, daß es bei ihr nicht mehr nur um die Ansage der Frohbotschaft des Heiles, um Jesus Christus, um Verkündigung geht, sondern um die Vermittlung ihres richtigen Verständnisses in der Form der Lehre in der Auseinandersetzung mit neuen geistigen Situationen und mit den aufbrechenden Irrlehren,,18. In dem Begriff des Depositum fidei ist die Kontinuität zwischen apostolischer und kirchlicher Verkündigung ausgesprochen. Der Apostel als ursprünglicher Offenbarungsträger ist der deponens, die Kirche ist der depositarius, Schrift und Überlieferung sind das zu treuer Hut anvertraute Gut. ,,Die apostolische Überlieferung setzt sich ... als Depositum fidei in der kirchlichen Überlieferung fort. Diese ist die Daseinsweise der apostolischen Überlieferung im Raum der Kirche, die dadurch erst zur Ausprägung

14 M. Buchberger, Art. Apostolizität, in: LThK 1(1930) 571. 15

O. Karrer, Art. Apostolizität der Kirche, in: LThK2 I, 765.

16

H. Bacht, Art. Apostel, in: LThK2 I, 738.

17

J. R. Geiselmann, Art. Depositum fidei, in: LThK2 III, 236.

18 J. R. Geiselmann, Art. Depositum fidei, in: LThK2 III, 236 f.

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und Entfaltung ihres Wesens gelangt. Denn die apostolische TIapci8o