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German Pages 402 Year 2020
Miriam Lay Brander Schreiben in Archipelen
Mimesis
Romanische Literaturen der Welt Herausgegeben von Ottmar Ette
Band 83
Miriam Lay Brander
Schreiben in Archipelen Kleine Formen in post-kolonialen Kontexten
ISBN 978-3-11-063937-7 e-ISBN [PDF] 978-3-11-063948-3 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-063962-9 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2020940216 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Graffito in Valparaíso, Chile. © Miriam Lay Brander, 2014.
Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 1.1 1.2 1.3
1
Der Sinnspruch als transkulturelle kleine Form 15 Probleme der Erforschung kleiner Formen am Beispiel des Aphorismus 15 Ähnlichkeit: Aphorismus und Sprichwort 25 Der Sinnspruch als Gattung und Diskurselement 31
Teil I: Aphorismen- und Sprichwörtersammlungen 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.4.1 2.4.2
2.4.3 2.4.4 2.4.5
3 3.1 3.1.1
Kleine Formen zwischen Lebenspraxis und künstlerischer Autonomie 41 Das Sprichwort zwischen Volkssprache und Schriftkultur 45 Gracián und La Rochefoucauld: Sitz in der höfischen Gesellschaft 54 Der moderne Aphorismus: Rückzug aus der Gesellschaft 64 Maximilian I. (Mexiko): Memorias de Maximiliano 64 Antonio Porchia (Argentinien): Voces 67 Malcolm de Chazal (Mauritius): Sens-plastique 71 Nicolás Gómez Dávila (Kolumbien): Escolios a un texto implícito 74 Rückkehr zur Lebenspraxis 78 Julio Torri und das Ateneo de la Juventud Mexicano 78 Kunst der Verneinung: Der Aphorismus in den lateinamerikanischen Avantgarden (martinfierrismo und antropofagismo) 84 José Emilio Pacheco (Mexiko) und die antipoesía conversacional 93 Mariana Frenk-Westheim (Mexiko): … Y mil aventuras 97 Déwé Gorodé (Neukaledonien): Par les temps qui courent und das politische Graffito 102 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand 115 Sprichwort und Ethnographie 115 Das Sprichwort in der kolonialen Geschichtsschreibung Mexikos: Bernardino de Sahagún 115
VIII
3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Inhaltsverzeichnis
Das Sprichwort in Lateinamerika und sein Bezug zu Europa 118 Die Rolle des Sprichwortes in den lateinamerikanischen Charakterstudien 122 Kuba: Ethnographie und Afrokubanismus 127 Pädagogische und persönliche Sammlungen 134 Volkssprachliche Dokumentation und pragmatische Studien 138 Jean Paulhan in Madagaskar: L’expérience du proverbe und die kolonialen Sprichwörtersammlungen SubsaharaAfrikas 142 Sinnspruch und Archipelisierung: Aphorismus und Sprichwort als Mittel des (kulturellen) Widerstandes 146 Das Sprichwort in den französischsprachigen Antillen 148 Aphorismus und ästhetischer Widerstand: Cadernos de João von Aníbal Machado (Brasilien) 151 Aníbal Machados Aphoristik als archipelagische Schreibbewegung 164 Sinnspruch und Opazität bei Édouard Glissant 173
Teil II: Der Sinnspruch in narrativen und dramatischen Texten 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3
Kleine Formen zwischen Lokalismus und Universalität 185 João Guimarães Rosa: Grande Sertaõ 185 Themen und Orte des Sinnspruchs in Grande Sertaõ 185 Sertão und Gesetz 194 Sinnspruch und Erzählung 200 Sprichwort und Maxime im Theater Aimé Césaires 208 Das Theater Aimé Césaires zwischen Universalität und Kreolisierung 208 Orte des Sinnspruchs im Theater Césaires 213 Funktionen des Sinnspruchs bei Césaire 234
5 5.1 5.2 5.2.1
Kleine Formen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit 245 Alejo Carpentier: Viaje a la semilla 245 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle 257 Der Sinnspruch in der erzählten Welt 265
Inhaltsverzeichnis
5.2.2 5.2.3 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3
Der Sinnspruch zwischen autobiographischem, kollektivem und universellem Diskurs 272 Sinnspruch und Erzählstruktur 280 Post-koloniale Autodidakten: Kleine Formen als Anleitung zur Selbstbildung 289 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé 289 Der Sinnspruch im Spannungsfeld von widerstreitenden Traditionen und Autodidaxie 289 Aneignung volksislamischer Maximen: Gelegenheitshandeln und sprachliche Willkür 300 Patrick Chamoiseau: Ecrire en pays dominé und L’empreinte à Crusoé 315 Heraklits Fragmente: philosophie du devenir 322 Écrire en pays dominé: Kreolische Anthropophagie 334 Chutes et notes: Poetik des Undenkbaren 341
Funktionsweisen kleiner Formen in kolonialen und post-kolonialen Kontexten 353 Bibliographie Personenindex
365 387
IX
Einleitung Mit der zunehmenden Bedeutung von Mikroblogging und Kurznachrichten in sozialen Netzwerken erleben kleine Formen des Schreibens und der visuell-auditiven Darstellung Hochkonjunktur. Wenn die Kommunikationskanäle des Instant Messaging die Länge von Nachrichten in der Regel auf maximal 200 Zeichen beschränken, beugen sie sich den Anforderungen eines sich zunehmend beschleunigenden Alltags ihrer Nutzer und der damit verbundenen Knappheit von Aufmerksamkeitsressourcen, die nach einer möglichst verzögerungsfreien und effizienten Übermittlung von Informationen verlangt. Diese zunehmende Kondensierung von Informationen wirkt sich auch auf das literarische Schreiben aus. Zum einen nutzen vor allem junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller1 Instant MessagingDienste wie Instagram, Twitter, Tumblr oder TikTok zur Veröffentlichung von Kurzprosa, Lyrik oder intermedialen kleinen Formen. Auch Spruchformen gehören zu den Gattungen, die in Zeiten von Internet 2.0 einen Aufschwung erfahren. Aphorismen, Sprichwörter, Zitate, geflügelte Worte oder Epigramme sind in Online-Sammlungen such- und abrufbar und finden auch in den sozialen Medien häufig als Kommunikationsformen Anwendung, um auf engem Raum Meinungen und aktuelle Befindlichkeiten auszudrücken. Analog zur Fülle von Spruchformen im Netz hat aber auch die Publikation von gedruckten Sammlungen kleiner Formen erheblich zugenommen: Anthologien von Aphorismen, Anekdoten oder literarischen Vignetten sind in den Bibliotheksregalen immer häufiger zu finden. Die digitale Kommunikation scheint den gedruckten Text nicht abzulösen, sondern ihm lediglich ihre formalen Eigenschaften aufzuprägen. Analog zur Blüte kleiner Formen in unterschiedlichen medialen Kommunikationszusammenhängen interessiert sich auch die Forschung zunehmend für sie.2 In Bezug auf den spanischsprachigen Raum ist vor allem die Kürzesterzählung, der microrrelato, in den Fokus literaturwissenschaftlicher Studien gerückt,3 aber
1 Mangels einheitlicher Richtlinien in der deutschen Rechtschreibung wird im Folgenden zur Bezeichnung gemischter Geschlechtergruppen stellvertretend jeweils der männliche Plural gewählt. 2 So hat ihnen etwa die Humboldt-Universität zu Berlin ein eigenes Graduiertenkolleg gewidmet, das die Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen von der Antike bis zur Gegenwart untersucht (DFG-Graduiertenkolleg 2190: Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen). 3 Siehe exemplarisch Ottmar Ette/Dieter Ingenschay u. a. (Hg.): MicroBerlín. De minificciones y microrrelatos. Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2015; Irene Andrés-Suárez: Antología del microrrelato español (1906–2011): el cuarto género narrativo. Madrid: Cátedra 2012; Ottmar Ette: Del macrocosmos al microrrelato. Literatura y creación – nuevas perspectivas transareales. Aus dem Deutschen von Rosa María S. de Maihold. Guatemala: F&G Editores https://doi.org/10.1515/9783110639483-001
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Einleitung
auch schriftlich-visuelle Mischformen wie etwa das Meme.4 Der Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt auf zwei kleinen Formen, die eng miteinander verwandt sind, die jedoch bisher in voneinander getrennten disziplinären Kontexten betrachtet worden sind: Aphorismus und Sprichwort. Während das Sprichwort überwiegend Gegenstand von Ethnologie und Sprachwissenschaft geblieben ist und mit der Parömiologie eine eigene wissenschaftliche Disziplin hervorgebracht hat, wird die Beschäftigung mit dem Aphorismus in der Regel als Aufgabe der Literaturwissenschaft und allenfalls noch der Philosophie betrachtet. Diese historisch gewachsene Arbeitsteilung gilt es aus zwei Gründen zu hinterfragen: Zum einen wird sie der formalen Ähnlichkeit zwischen Aphorismus und Sprichwort, die sich erst ab dem 16. Jahrhundert als getrennte Gattungen etablierten, nicht gerecht (vgl. Kap. 2.1). Zum anderen lässt sie die zahlreichen kleinen Formen außer Acht, die sich in einem Kontinuum zwischen Aphorismus und Sprichwort bewegen und die sich keiner der beiden Gattungen eindeutig zuordnen lassen. Solche Zwischenformen finden sich gerade in post-kolonialen Literaturen häufig, da dort mündliche und schriftliche Ausdrucksformen oft ineinandergreifen. Eine etwas diffusere Gemeinsamkeit zwischen Aphorismus und Sprichwort besteht darin, dass beide Formen, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen, mit der geologischen Formation des Archipels in Verbindung gebracht worden sind. Haben sich die Surrealisten mehrfach der Metapher des Archipels bedient, um das aphoristische Schreiben zu charakterisieren – etwa René Char in seinen aphoristischen Prosagedichten oder der brasilianische Schriftsteller Aníbal Machado (vgl. Kap. 3.3) –, so greift auch der Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila, der als ‹kolumbianischer Nietzsche› beinahe Kultstatus erreicht hat, auf diesen Vergleich zurück. Er unterscheidet zwischen einer langsamen, ausführlichen Schreibweise («lenta y minuciosa») und einer kurzen, elliptischen («corta y elíptica»). Die erste Variante, als deren Hauptvertreter er Proust betrachtet, bedeutet für Gómez Dávila, sich ganz von einem Thema vereinnahmen zu lassen und es zur vollen Entfaltung zu bringen, mit all seinen assoziativen Kontexten und mäandernden Dynamiken.5 Ohne diese extensive Schreibweise zu verurteilen, stellt er ihr dieje2009; Ottmar Ette (Hg.): Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2008; Guillermo Siles: El microrrelato hispanoamericano: la formación de un género en el siglo XX. Buenos Aires: Corregidor 2007 sowie die von Ana Calvo Revilla herausgegebene Zeitschrift Microtextualidades. Revista Internacional de microrrelato y minificción. 4 Javier Ferrer: Memes de la corrupción en las redes sociales de España. In: Yvette Sánchez/Ottmar Ette (Hg.): Vivir lo breve: nanofilología y microformatos en obras de arte. Iberoamericana Vervuert (in Vorbereitung). 5 «Escribir de la primera manera es hundirse con delicia en el tema, penetrar en él deliberadamente, abandonarse sin resistencia a sus meandros y renunciar a adueñarse para que el tema
Einleitung
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nige entgegen, für die er selbst sich entschieden hat: Den kurzen, elliptischen Stil wie ihn unter anderem Nietzsche und Pascal – gewollt oder ungewollt6 – praktizierten. Diese Schreibweise erfasst ein Thema im Moment seines Entstehens oder kurz vor seiner Vollendung und kondensiert es zu seiner abstraktesten Form. Indem sie die Ursprünge und Verbindungen des behandelten Gegenstands im Verborgenen lässt, entstehen gleichsam Archipele, die aus einem unbekannten Meer hervortreten («archipiélagos que afloran en un mar desconocido»).7 Der Aphorismus ist für Gómez Dávila demnach, in der Metapher des Archipels
bien nos posea. Aquí convienen la lentitud y la calma; aquí conviene morar en cada idea, durar en la contemplación de cada principio, instalarse perezosamente en cada consecuencia. Las transiciones son, aquí, de una soberana importancia, pues es éste ante todo un arte del contexto de la idea, de sus orígenes, sus penumbras, sus nexos y sus silenciosos remansos. Así escriben Peguy o Proust, así sería posible una gran meditación metafísica.» [«Auf die erste Art und Weise zu schreiben heißt, sich mit Vergnügen in das Thema zu vertiefen, willentlich in es einzudringen, sich seinen Mäandern widerstandslos zu ergeben und darauf zu verzichten, sich seiner zu ermächtigen, sodass das Thema uns wirklich besitzt. Hier sind Langsamkeit und Ruhe angemessen; hier gilt es, bei jeder Idee zu verweilen, in der Betrachtung jeden Prinzips auszuharren, sich träge in jeder Konsequenz niederzulassen. Übergänge sind hier von erhabener Wichtigkeit, denn diese ist vor allem eine Kunst des Kontextes der Idee, ihrer Ursprünge, ihres Halbdunkels, ihrer Verbindungen und ihrer stillen stehenden Gewässer. So schreiben Peguy oder Proust, so wäre eine große metaphysische Meditation möglich.» (Eigene Übersetzung)]. Nicolás Gómez Dávila: Notas. Tomo I. Bogotá: Villega Editores 2003 [1954], S. 21, zit. n. Franco Volpi: El solitario de dios (prólogo). In: Nicolás Gómez Dávila: Escolios a un texto implícito, Girona: Atalanta 2009, S. 9–51, hier S. 18. 6 Es wird davon ausgegangen, dass Blaise Pascal seine Pensées nicht absichtlich in einem diskontinuierlichen Stil verfasste, sondern dass sein verfrühter Tod es ihm unmöglich machte, seine fragmentarischen Gedanken zu einem einheitlichen Text zusammenzufügen. 7 «Escribir de la segunda manera es asir el tema en su forma más abstracta, cuando apenas nace, o cuando muere dejando un puro esquema. […] Quien así escribe no toca sino las cimas de la idea, una dura punta de diamante. Entre las ideas juega el aire y se extiende el espacio. Sus relaciones son secretas, sus raíces escondidas. El pensamiento que las une y las lleva no se revela en su trabajo, sino en sus frutos, en ellas, desatadas y solas, archipiélagos que afloran en un mar desconocido. Así escribe Nietzsche, así quiso la muerte que Pascal escribiese.» [«Auf die zweite Weise zu schreiben heißt, das Thema in seiner abstraktesten Form zu erfassen, wenn es kaum geboren ist oder wenn es bereits stirbt und ein bloßes Schema hinterlässt. […] Wer so schreibt, berührt nur die Spitze des Eisbergs der Idee, eine harte Diamantenspitze. Zwischen den Gedanken rauscht spielend die Luft und der Raum dehnt sich aus. Ihre Zusammenhänge sind geheim, ihre Wurzeln verborgen. Der einende und führende Gedanke offenbart sich nicht in seiner Entstehung, sondern in den Früchten, die er trägt, entfesselt und alleine, als Archipele, die aus einem unbekannten Meer herausragen. So schreibt Nietzsche und der Tod wollte, dass auch Pascal so schrieb.» (Eigene Übersetzung)]. Notas, 21–22, zit. n. Franco Volpi: El solitario de dios, S. 18.
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gesprochen, die aus der Meeresoberfläche emporragende Spitze einer Landmasse von Gedanken, die ein unsichtbares Kontinuum bilden, jedoch nur in Form von isolierten, kondensierten sprachlichen Einheiten sichtbar sind. Während die Verbindung zwischen Aphorismus und Archipel sich weitgehend auf das Metaphorische beschränkt – eine Ausnahme bilden die Aphorismen von Malcolm de Chazal, die durch die Insel Mauritius inspiriert sind (Kap. 2.3.3) –, ist der Bezug zwischen Sprichwort und Archipel als historischer Zusammenhang thematisiert worden. Einige frankokaribische Autoren betrachten den Archipel in Bezug auf die Karibik und andere kreolische Sprachregionen wie dem Indischen Ozean als geographisch-historische Rahmenbedingung für eine Poetik, die aus dem erzwungenen Kulturkontakt zwischen europäischen Kolonisatoren und afrikanischen Sklaven hervorgegangen ist und in der das Sprichwort ein zentrales Element bildet. Wie Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant in Éloge de la Créolité (1989) darlegen, bildete das kreolische Sprichwort in den Plantagengesellschaften der heutigen französischsprachigen Karibik Teil eines Codes, über den die Sklaven verschlüsselt miteinander kommunizierten.8 Laut Édouard Glissant nahm dieser Code notgedrungen die diskontinuierliche Form von kurzen Erzählungen, Liedern und Sprichwörtern an, da seine Benutzer gezwungen waren, sich mit möglichst wenig Worten zu verständigen. Im Kontext der Plantagengesellschaften war das Sprichwort demnach Teil einer komprimierten Ausdrucksforn, die jedoch nicht, wie der Aphorismus bei Gómez Dávila, aus einem intellektuellen Denkmodus hervorging, sondern eine existenzielle Notwendigkeit, einen «acte de survie»,9 darstellte. Bildete die mündliche, fragmentarische Kommunikation für die Sklaven auf den Plantagen eine zentrale Voraussetzung, um ihr Überleben zu organisieren, so entstand auf ihrer Basis eine Schreibweise, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend ein Gegengewicht zur okzidentalen Literatur mit ihrer Tendenz zur Beschreibung und zum Dekor bildete. Das Sprichwort stellt als diskontinuierliche Kommunikationsform ein zentrales Element der Grundlage dar, auf der Glissant seine Poetik der ‹Archipelisierung›, d. h. eines aus der Verflechtung von Kulturen heraus entstehenden Moments des ästhetischen Widerstands, formuliert (Kap. 3.3). Sowohl Nicolás Gómez Dávila als auch die genannten frankokaribischen Autoren schreiben in einem post-kolonialen Kontext, d. h. in einem Zeitabschnitt, der sich chronologisch an die Kolonialzeit anschließt. Zeitlich variiert der Beginn der post-kolonialen Epoche in den betreffenden geographischen Gebieten stark.
8 Vgl. Édouard Glissant: Poétique de la Relation. Poétique III. Paris: Gallimard 1990, S. 82–83. 9 Édouard Glissant: Poétique de la Relation. Poétique III, S. 82.
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Abgesehen von Kuba und Puerto Rico erlangten bis 1825 alle lateinamerikanischen Staaten die formale Unabhängigkeit. Demgegenüber vollzog sich die Dekolonisierung der meisten afrikanischen Länder erst zwischen dem Ende des zweiten Weltkriegs und dem Jahr 1976. Die französischssprachigen Gebiete der Karibik und des Pazifiks sind als Départements d’outre-mer (Martinique, Guadeloupe) oder als Collectivité sui generis (Neukaledonien)10 bis heute Teile des französischen Staatsgebietes geblieben, während Mauritius 1968 die Unabhängigkeit erlangte. Auch in Bezug auf Brasilien ist die Verwendung des Begriffes ‹post-kolonial› nicht unproblematisch, da die portugiesische Krone ihre Präsenz dort nach der Unabhängigkeitsbewegung, die sie selbst unterstützt hatte, fortsetzte. Dennoch lassen sich in Brasilien ähnliche kulturelle Emanzipationsprozesse beobachten wie in den übrigen lateinamerikanischen Ländern, in denen die iberische Herrschaft mit den Unabhängigkeitsbewegungen des 19. Jahrhunderts ihren offiziellen Abschluss fand. Aufgrund der unterschiedlichen Zeiträume und Umstände der (De-)Kolonialisierung und als Reaktion auf die hauptsächlich im englisch- und französischsprachigen Raum verbreiteten postkolonialen Studien bevorzugen Kulturtheoretiker aus Lateinamerika wie Aníbal Quijano, Silvia Rivera Cusicanqui oder Walter Mignolo das Adjektiv ‹dekolonial›, um zum einen auf das vergleichsweise lange Fortwirken kolonialer Strukturen in Lateinamerika hinzuweisen und zum anderen, um auf die Vorherrschaft des postkolonialen Paradigmas, das andere Ansätze zur Kritik des Kolonialismus verdrängt hat, aufmerksam zu machen.11 Die für diese Studie gewählte Periodisierung ‹post-kolonial› kann – muss aber nicht notgedrungen– eine kritische Auseinandersetzung mit Kultur und Geschichte der kolonialen Epoche sowie deren Erbe beinhalten und berührt darin sowohl die postkolonialen als auch die dekolonialen Studien.12 Während sich ein Teil der in dieser Studie behandelten Autoren (Alejo Carpentier, Aimé Césaire, Patrick Chamoiseau, Raphaël Confiant, Edouard Glissant, Déwé Gorodé, Ahmadou Kourouma, Simone Schwarz-Bart) an Debatten des Postkolonialismus beteiligen, äußert sich Gómez Dávila in seinen Aphorismensammlungen zugunsten des iberischen Kolonialismus in Lateinamerika. Andere post-koloniale Aphoristiker wie die Mexikaner Julio Torri und Emilio Pacheco oder der Brasilianer João Guimarães Rosa tragen zweifellos zur kollektiven Suche einer spezifisch
10 Neukaledonien stimmte im Unabhängigkeitsreferendum 2018, das aufgrund seines Sonderstatus einer Collectivité sui generis gemäß der französischen Verfassung vorgesehen war, für einen Verbleib unter der Territorialhoheit Frankreichs. 11 Vgl. Isabel Exner/Gudrun Rath (Hg.): Lateinamerikanische Kulturtheorien. Konstanz: KUP 2015, S. 15–16. 12 Zur Unterscheidung von post-kolonial und postkolonial vgl. Bill Ashcroft: On the hyphen in ‹post-colonial›. In: New Literatures Review 32 (1996), S. 23–31.
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lateinamerikanischen bzw. brasilianischen Ausdrucksweise in Abgrenzung von den Traditionen in den jeweiligen kolonialen Mutterländern bei, wobei ihre Kritik am Kolonialismus implizit bleibt. Die Wahl des chronologischen Begriffs ‹post-kolonial› entspricht dem Versuch, ein transareales geographisches Gebiet zu benennen, dessen unterschiedliche Teile durch eine ähnliche historische Erfahrung verbunden sind, ohne allzu einseitig den negativen Bezug auf die Prägung dieser Regionen durch den Kolonialismus zu betonen. Der Bindestrich soll somit antagonistische Beziehungen, die sich in Dichotomien wie Identität und Alterität oder ‹eigen› und ‹fremd› verhärtet haben, ein Stück weit entdramatisieren.13 Allerdings werden solche Abgrenzungen dort berücksichtigt, wo sie von den Autoren kleiner Formen selbst intendiert sind. Verstellen solche Grenzziehungen auf der Makroebene den Blick auf miteinander vergleichbare Dynamiken, so sind sie auf der Mikroebene angesichts politischer Umstände häufig unverzichtbar, etwa dann, wenn der kubanische Schriftsteller Miguel Barnet im kommunistischen Parteiblatt Granma ein afrokubanisches Sprichwort heranzieht, um vor der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen seinem Heimatland und den USA zu warnen (Kap. 3.1.4). Das geographische Gebiet, auf das sich die vorliegende Studie erstreckt, umfasst diejenigen Regionen, deren Gesamtheit Édouard Glissant in Anlehnung an Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant als «territoire de la créolité»14 bezeichnet hat. Es handelt sich um Gebiete, in denen sich das Plantagensystem verbreitet und somit eine «massive und sehr schnelle Kontaktaufnahme zwischen Völkern, Sprachen, Kulturen, Rassen, Weltanschauungen und Kosmogonien»15 stattgefunden hat. Dazu zählen die Karibik und die Karibikküste Lateinamerikas, der Nord-Osten Brasiliens, aber auch Teile des Indischen Ozeans und des Pazi-
13 Damit knüpft die gewählte geographische Bezeichnung an das Paradigma der Ähnlichkeit an, das Albrecht Koschorke als «Kategorie der Entdramatisierung» betrachtet. Demnach «schwebt die Wahrnehmung von Ähnlichkeit ohne genauen Ort in der Übergangszone zwischen dem Selben und dem Anderen, dem Eigenen und dem Fremden und entzieht sich deshalb ein Stück weit den unter postkolonial-poststrukturalistischen Kulturwissenschaften beliebten Grenzparadoxien.» Albrecht Koschorke: Ähnlichkeit. Valenzen eines post-postkolonialen Konzepts. In: Anil Bhatti/Dorothee Kimmich (Hg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz: Konstanz University Press 2015, S. 35–45, hier S. 36. 14 Édouard Glissant: Poétique de la Relation. Poétique III, S. 77. 15 Patrick Chamoiseau: In der Stein-Welt. In: Pro Helvetia (Fondation suisse pour la culture) (Hg.): Kreolisierung der Kultur. Zürich: Selbstverlag 2000, S. 3–17, o. S.
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fiks. Ausgehend von diesen Brennpunkten trans- und interkultureller Prozesse16 wird ein Netz in weitere Länder Lateinamerikas und dem subsaharischen Afrika, die mit dem genannten geographischen Kern über Süd-Süd-Austauschprozesse wie Sklavenhandel oder Diapora verbunden sind, ausgelegt. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit bildet die Beobachtung, dass die Literaturen in den genannten Gebieten der post-kolonialen Romania eine relativ hohe Dichte an Aphorismen und Sprichwörtern aufweisen, sowohl in Form von Sammlungen als auch eingeflochten in andere Gattungen.17 In der Karibik ist der Anteil von narrativen und dramatischen Texten, in denen Sprichwörter verarbeitet werden, wesentlich größer als in den übrigen Teilen Lateinamerikas, was vermutlich der Präsenz eines afrikanischen bzw. kreolischen Elements zuzurechnen ist. Zugleich sind in der Karibik weit mehr europäische Sprichwörter verbreitet als im subsaharischen Afrika, da in der Karibik eine systematische Kolonialisierung durch Frankreich und Spanien, wie sie in West- und Zentralafrika erst gegen 1879 mit der französischen Eroberung des Senegals einsetzte, schon relativ früh stattfand – bereits bevor sich Sprichwort und Aphorismus in Europa als voneinander losgelöste Spruchformen herausbildeten. So geht die Entstehung kreolischer Sprichwörter auf den Kulturkontakt zwischen europäischen Kolonisatoren und afrikanischen Sklaven im 16. Jahrhundert zurück, und auch in Lateinamerika treffen das europäische und das präkolumbische Sprichwort bereits in diesem Zeitraum aufeinander, wie etwa die Historia general de las cosas de la Nueva España von Bernardino de Sahagún zeigt (Kap. 3.1.1).
16 Beide Begriffe, Inter- und Transkulturalität, fokussieren «Prozesse der kulturellen Grenzüberschreitung» (Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. Stuttgart/Weimar: Metzler 2012 S. 20) zwischen Kulturen, nehmen aber unterschiedliche Nuancierungen vor, um bestimmte Phänomene adäquat zu beschreiben (vgl. Andreas Langenohl/Ralph Poole/Manfred Weinberg: Transkulturalität. Klassische Texte. Bielefeld: transcript 2015, S. 12). Während die transkulturellen Studien die Vorstellung klar voneinander abgegrenzter Kulturen aufheben (vgl. Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma: Einleitung. In: dies. (Hg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld: transcript 2012, S. 7–21, hier S. 7), liegt dem Begriff der Interkulturalität noch die «Vorstellung autonomer kultureller Systeme» (Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation S. 19) zugrunde. Interkulturelle Ansätze nehmen Modi des Kontakts zwischen zwei oder mehreren Kulturen in den Blick und wollen beschreiben, welche Veränderungen im kulturellen Gesamtgefüge dieses Zusammentreffen auslöst. 17 Dies gilt auch für die Literaturen des Maghrebs: Zahlreiche Aphorismen enthält beispielsweise der Roman L’Auberge des Pauvres (Paris: Seuil 1999) des Marokkaners Tahar Ben Jelloun, der zudem in seinem Essay Éloge de l’amitié, ombre de la trahison (Paris: Seuil 2003) Fragmente von Cicero und Montaigne zitiert und zu eigenen Aphorismen verarbeitet. Ein umfangreiches aphoristisches Werk hat der ebenfalls marokkanische Schriftsteller Abdelmajid Benjelloun vorgelegt.
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Daher ist ein beträchtlicher Teil der in den französischen Überseegebieten verbreiteten Sprichwörter aus dem europäischen Kanon übernommen, in Lateinamerika und der spanischsprachigen Karibik gilt dies für die Mehrzahl der Sprichwörter. Die Aphorismenproduktion in diesen Regionen ist ebenfalls stark europäisch geprägt. Daher gilt die Aufmerksamkeit dieser Studie auch einer vergleichenden Gattungsgeschichte von Aphorismus und Sprichwort in Frankreich und, stellvertretend für die iberische Halbinsel, Spanien sowie der Aneignung der entsprechenden Traditionen in deren ehemaligen Kolonien. Die Analysen dieser Studie folgen einem inter- und transkulturellen Ansatz,18 d. h. sie fokussieren sowohl Verflechtungen und Transformationen von Spruchgattungen im Zuge kultureller Austauschprozesse als auch kulturübergreifende Formen als ein Gattungswissen, das sich quer durch die Kulturen zieht. Im Zentrum steht die Frage, welche anthropologischen, ideologischen, rhetorischen und strukturellen Funktionen kleine Formen in kolonialen und post-kolonialen Kontexten erfüllen. Das Anliegen, ein Panorama unterschiedlicher Funktionsweisen von Aphorismus und Sprichwort in kolonialen und post-kolonialen Kontexten französischer, spanischer und portugiesischer Sprache aufzuzeichnen, setzt eine Beschäftigung mit Autoren, Texten und Textsorten voraus, die von der Kritik bisher kaum oder nur unzureichend beachtet worden sind. Hat Werner Helmich zusammen mit anderen Literaturwissenschaftlern den französischen Aphorismus aus seinem Status als «Stiefkind der Romanistik»19 befreit, so fristet der Aphorismus in spanischer Sprache – ganz im Gegensatz zum microrrelato – weiterhin ein marginales Dasein. Die bisher erschienenen Monographien beschränken sich auf die Aphoristik des Jesuitenpaters Baltasar Gracián und des Nobelpreisträgers Juan Ramón Jiménez, weitere Einzelphänomene in den spanischsprachigen Literaturen haben in Aufsätzen ihren Niederschlag gefunden. Von der Forschung fast gänzlich unbeachtet geblieben sind die Aphorismen namhafter lateinamerikanischer Autoren. Eine Ausnahme bildet der bereits erwähnte Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila, der in Europa zwar dank der Vermittlung des italienischen Philosophiehistorikers Franco Volpi Bekanntheit erlangt hat, der jedoch innerhalb der lateinamerikanischen Literatur eine marginale Stellung einnimmt. Substanzielle Studien zum spanischsprachigen Aphorismus bilden also nach wie vor ein Desiderat. Ist die Erforschung des Aphorismus ein Randgebiet von Literaturwissenschaft und Philosophie geblieben, so ist dem Sprichwort weit mehr Aufmerksam-
18 Zur Unterscheidung von Inter- und Transkulturalität vgl. Anm. 16. 19 Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus. Innovation und Gattungsreflexion. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 2.
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keit zuteil geworden. In Bezug auf die außereuropäischen Literaturen sind vor allem Präsenz und Funktionsweisen afrikanischer Sprichwörter in literarischen Texten,20 der Ethnographie21 und in der gegenwärtigen Umgangssprache22 untersucht worden. Auch hier herrscht Nachholbedarf, was den lateinamerikanischen und karibischen Raum angeht.23 Weder die zahlreichen Sprichwörtersammlungen, die seit der Kolonialzeit in Lateinamerika und der Karibik entstanden sind, noch Funktionen von Sprichwörtern in unterschiedlichen Medien und Textgattungen sind bislang hinreichend erforscht. Doch auch im Hinblick auf den afrikanischen Kontext fehlt es noch an Studien, die Spruchformen nicht auf eine traditionelle afrikanische Mündlichkeit reduzieren, sondern auch mögliche Einflüsse einer beispielsweise islamischen Spruchweisheit berücksichtigen (vgl. Kap. 6.1). Die vorliegende Studie kann solche Lücken nur ansatzweise schließen. Ihr Anliegen besteht vielmehr darin, einen Eindruck vom globalen Beziehungsgeflecht zu vermitteln, in dem sich kleine Formen und ihre unterschiedlichen Ausprägungen bewegen. Hierfür bietet sich eine erweiterte Vergleichsmethode an, die an das kulturwissenschaftliche Verfahren des «illegitimen Vergleichen[s]»24 anknüpft. Dabei besteht die Illegitimität des Vergleichs darin, Gegenstände aufeinander zu beziehen, bei denen sich Ähnlichkeiten feststellen, jedoch
20 Siehe exemplarisch Simon Agbéko Amegbleame: De quelques manifestations de l’oralité dans le roman de Félix Couchoro Le proverbe et le chant. In: Papa S. Diop/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Littératures et sociétés africaines. Regards comparatistes et perspectives interculturelles. Mélanges offerts à János Riesz à l’occasion de son soixantième anniversaire. Tübingen: Narr 2001, S. 453–465; Saoudé Ali/Jean Derive: Présence de l’oralité dans la production écrite: Le proverbe dans la littérature contemporaine hausa. In: Ursula Baumgart/Jean Derive (Hg.): Littérature africaine et oralité. Paris: Karthala 2013, S. 79–93 ; die Beiträge in Ursula Baumgardt/Abdellah Bounfour (Hg.): Le proverbe en Afrique: forme fonction et sens. Paris: L’Harmattan 2004; Julie Emeto-Agbasière: Le proverbe dans le roman africain. In: Présence Francophone: Revue Internationale de Langue et de Littérature 29, S. 27–41sowie Serenah Tomba: La devise dans la société punu du Gabon: Simple production verbale ou genre littéraire? In: Ursula Baumgart/Jean Derive (Hg.): Littérature africaine et oralité. Paris: Karthala 2013, S. 137–152. 21 Z. B. Miriam Lay Brander: Transferts de ‹sagesse noire›: Les recueils de proverbes de langue française à l’époque coloniale. In: Michel Espagne/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Transferts de savoirs sur l’Afrique. Paris: Karthala 2015c, S. 81–101. 22 Aderemi Raji-Oyelade: Playful Blasphemies Postproverbials as Archetypes of Modernity in Yorùbá Culture. Trier: WVT 2012 (LuKA – Literaturen und Kunst Afrikas, B. 3). 23 Vgl. Shirley L. Arora: Paremiología hispanoamericana: ¿un campo en peligro de extinción? In: Paremia 9 (2000), S. 35–42. 24 Vgl. Helga Lutz/Jan FriedrichMißfelder/Tilo Renz: Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript 2006 sowie Hans-Jürgen Lüsebrink/Christiane Solte-Gresser/Manfred Schmeling: Einführung: Zwischen Transfer und Vergleich. In: dies. (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart: Steiner 2013, S. 12.
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keine eindeutigen inhaltlichen oder formalen Einflüsse nachweisen lassen.25 «Es geht um Austauschbeziehungen, die jenseits der gültigen Hoheitsbereiche und Raster des Vergleichens scheinbar Entlegenes und zeitlich voneinander Unabhängiges verbinden und in Beziehung setzen.»26 Dies setzt ein intuitives Erkennen von Ähnlichkeiten voraus, ohne dass von vorne herein ein tertium comparationis als Maßstab angelegt würde. Ähnlichkeit ist den Vergleichsgegenständen nicht eingeschrieben, sie gilt nicht «als eine Eigenschaft von Objekten, sondern als ein mehr oder weniger subjektives, mentales, kognitives Konzept, das Wahrnehmung möglich macht, strukturiert und orientiert.»27 Ein auf Ähnlichkeit basiertes Vorgehen, bei dem der Vergleich «systematisch instabil gehalten wird»28 ermöglicht es daher, so unterschiedliche Textproduktionen wie Jean Paulhans Reflexionen über das madagassische Sprichwort (Kap. 3.1.7) und das von Oswald de Andrade in Form von Aphorismen verfasste avantgardistische Manifest der brasilianischen Anthropophagie-Bewegung (Kap. 2.4.2) zu vergleichen und damit «Bande herzustellen zwischen kulturellen Gegenständen, die oberflächlich betrachtet nicht übereinstimmen und nicht vergleichbar sind.»29 Es handelt sich um sprachliche Erzeugnisse, die weder zeitgleich, noch im selben geographischen Raum entstanden sind und die darüber hinaus unterschiedlichen Diskursen zuzuordnen sind, im genannten Beispiel einem ethnologisch-linguistischen (Paulhan) und einem literarisch-ästhetischen (Andrade). In dieser transdisziplinären Perspektive geht die gewählte Herangehensweise über bestehende literaturwissenschaftliche Ansätze des illegitimen Vergleichs wie dem von Elisabeth Bronfen geprägten Verfahren des «cross-mapping», das sich auf den Vergleich ästhetischer Werke beschränkt, hinaus. Denn Ähnlichkeiten öffnen nicht nur zwischen genuin literarischen Texten fruchtbare Vergleichsperspektiven, sondern ermöglichen es gerade, Verbindungen zwischen Texten aus unterschiedlichen Diskursen aufzuzeigen.
25 Vgl. auch das von Elisabeth Bronfen konzipierte Verfahren des cross-mapping, das sich auf den Vergleich ästhetischer Werke bezieht, für die «keine eindeutigen intertextuellen Beziehungen im Sinne von explizit thematischen Einflüssen festgemacht werden können». Elisabeth Bronfen: Cross-mapping. Kulturwissenschaft als Kartographie von erzählender und visueller Sprache. In: Lutz Musner/Gotthard Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung, Praxis, Positionen. Wien: WUV Universitätsverlag 2002, S. 110–134 hier S. 111–112. 26 Helga Lutz/Jan Friedrich Mißfelder/Tilo Renz: Äpfel und Birnen, S. 8. 27 Anil Bhatti/Dorothee Kimmich: Einleitung. In: dies. (Hg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz: Konstanz University Press 2015, S. 7–31, hier S. 13. 28 Hans-Jürgen Lüsebrink/Christiane Solte-Gresser/Manfred Schmeling: Einführung. Zwischen Transfer und Vergleich, S. 12. 29 Elisabeth Bronfen: Cross-mapping, S. 111.
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Der Begriff der kleinen Form fungiert als heuristischer Suchbegriff, um Ähnlichkeiten zwischen Ausdrucksformen festzustellen, zwischen denen Literaturwissenschaft und Ethnologie eine Grenze gezogen haben (vgl. Kap. 1.2), vor allem im Zuge des so genannten Great Divide, der ‹primitive› Mündlichkeit und ‹zivilisierte› Schriftlichkeit voneinander schied.30 Um demgegenüber das Kontinuum zwischen schriftlichen und mündlichen Traditionen hervorzuheben, in dem sich kleine Formen bewegen, liegt der besondere Fokus dieser Arbeit auf Aphorismus und Sprichwort als zwei Ausprägungen der kleinen Form, von denen der Aphorismus überwiegend dem schriftlichen, das Sprichwort tendenziell dem mündlichen Diskurs zugeordnet werden. Diese beiden Ausdrucksformen wiederum sollen durch einen Terminus zusammengehalten werden, der den unterbestimmten Begriff der kleinen Form31 sinnvoll eingrenzt, dabei aber beweglich genug bleibt, um Ausdrucksformen, die nicht in das bestehende europäische Gattungssystem passen, nicht von vorne herein auszuschließen. ‹Aphorismus› und ‹Sprichwort› bilden die beiden relativ stabilen Brennpunkte eines vagen und durch fluide Ränder charakterisierten Gattungsbegriffs, den ich als ‹Sinnspruch› bezeichnen möchte. Dieser ist im Anschluss an André Jolles32 als Oberbegriff für sämtliche kleine Formen zu verstehen, die ein aus einer Summe von Erfahrungen oder Beobachtungen abgeleitetes Wissen komprimiert zum Ausdruck bringen. Dieser zunächst vagen Definition liegt das Anliegen zugrunde, bisherige Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Spruchgattungen zu hinterfragen und die Erforschung dieser Formen auf einen transkulturellen Vergleich hin zu öffnen. Kategorien wie Aphorismus, Maxime, Emblem, Epigramm, Sprichwort, geflügeltes Wort etc. sind innerhalb des europäischen Gattungssystems entstanden und daher häufig nicht geeignet, um verwandte Phänomene aus außereuropäischen Kontexten zu fassen. Die Bezeichnung ‹Sinnspruch› ist eine Kategorie mittlerer
30 Vgl. Erhard Schüttpelz: World Literature from the Perspective of Longue Durée. In: Christian Moser/Linda Simonis (Hg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V&R unipress 2014, S. 141–155. 31 Der begriffsgeschichtliche Ursprung des Terminus liegt im ausgehenden 19. Jahrhunderts, wo er sich auf unterschiedliche Formen der Kurzprosa bezog, die häufig das optisch abgetrennte untere Drittel einer Zeitungsseite füllten und deren Stil «skizzenhaft, impressionistisch und flüchtig sein konnte, in anderen Fällen lyrisch verdichtet, gedanklich konzentriert und gleichnishaft» (Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs Kleine Formen, http://www. kleine-formen.de/forschungsprogramm/. Zuletzt aufgerufen am 26.03.2020). Mit der Zeit erweiterte sich die Bedeutung des Begriffs, der heute sowohl für sämtliche Spruchformen als auch für kleine Erzählgattungen wie Kurzgeschichte oder Fabel, aber auch für Prosagattungen wie dem Essay oder der Chronik verwendet wird. 32 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen: Niemeyer 1974.
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Reichweite, die kleine Formen größerer Ausdehnung wie Kurzgeschichte oder Essay außen vor lässt, die aber elastisch genug ist, um Ähnlichkeiten zwischen Formen aufzuzeigen, die in einem nicht klar bestimmbaren Verhältnis der Nähe und Ferne33 zueinander stehen. Die gewählte Vergleichsmethode erhebt den Anspruch, sich zumindest ansatzweise von einer allzu eurozentrischen Literaturgeschichtsschreibung zu lösen. ‹Ansatzweise› deshalb, weil auch Begriffe wie ‹kleine Form›, ‹Aphorismus›, ‹Sprichwort› oder ‹Sinnspruch› einer europäischen Terminologie entstammen und somit Schwerpunkte setzen, die in traditionellen außereuropäischen Gattungssystemen nicht gleichermaßen bestehen.34 Nichtsdestotrotz wurde mit ‹Sinnspruch› eine bewusst weit gefasste Kategorie gewählt, die produktive Vergleichsmöglichkeiten nicht von vornherein verhindert, sondern transkulturelle Dynamiken aufzuzeigen vermag, die durch engere, aus rein europäischen Korpora abgeleitete Definitionen verborgen blieben.35 Das Hervorheben struktureller Analogien über räumliche, zeitliche, mediale und disziplinäre Grenzen hinweg bedeutet allerdings nicht, den Entstehungs- und Verwendungskontext der analysierten Gegenstände auszublenden.36 Vergleichbare Ausdrucksformen können in verschiedenen historischen und geographischen Zusammenhängen unabhängig voneinander auftreten. Das Miteinbeziehen dieser Kontexte ermöglicht es, über das bloße Feststellen einer Ähnlichkeit zwischen den Ausdrucksformen an sich Homologien zwischen ihren Funktionsweisen auszumachen. So wird der Sinnspruch, dessen aphoristische Variante als ein sich
33 Vgl. Anil Bhatti/Dorothee Kimmich: Einleitung, S. 14. 34 Als Beispiel wäre das traditionelle Gattungssystem der Punu (Gabun) zu nennen (vgl. Serenah Tomba: La devise dans la société punu du Gabon), auch wenn dieses freilich nicht mehr in seiner ursprünglichen Form besteht, sondern sich längst mit anderen Gattungssystemen wie dem europäischen vermischt hat. 35 Um die terminologischen Schwierigkeiten, die die trennscharfe Abgrenzung unterschiedlicher Spruchgattungen mit sich bringt, zu umgehen, haben auch andere Forschende übergreifende Begriffe wie «Rhumb» (Franz H. Mautner: Der Aphorismus als literarische Gattung. In: Gerhard Neumann (Hg.): Der Aphorismus: Zu Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1976, S. 19–74.), «fragment sentencieux» (Wierenga) oder «formes fixes» (Lanson) eingeführt (vgl. Carles Besa Camprubí: Formes brèves: Maxime, aphorisme, proverbe. In: Rivista di Letterature Moderne e Comparate 52, 1 (1999a), S. 1–15, hier S. 3), die im Hinblick auf das dieser Studie zugrunde liegende Korpus jedoch nur sehr begrenzt anwendbar sind und die auch spätere Studien zu Spruchgattungen kaum aufgegriffen haben. 36 Vgl. Helga Lutz/Jan Friedrich Mißfelder/Tilo Renz: Äpfel und Birnen, S. 15.
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gegen herrschende Denkordnungen gerichteter Satz beschrieben worden ist,37 in den ehemaligen Kolonien Frankreichs, Spaniens und Portugals in den unterschiedlichsten Zusammenhängen eingesetzt, um einem wie auch immer gearteten Widerstand – sei er sozial, politisch, kulturell, epistemologisch oder ästhetisch – Ausdruck zu verleihen. Obwohl sich Sinnsprüche in (fast) allen denkbaren medialen Ausprägungen wiederfinden, konzentriert sich die vorliegende Studie auf deren schriftliche Äußerungsformen, zum einen in Form von Sprichwörter- oder Aphorismensammlungen, zum anderen in Form von Aphorismen, Sprichwörtern oder Fragmenten, die sich überwiegend in der Erzählliteratur, häufig aber auch im Drama eingestreut finden. Die vorliegende Untersuchung trägt der Tatsache, dass der Sinnspruch sowohl als eigenständige Textform als auch als Diskurselement in anderen Gattungen auftritt, in ihrer Gliederung in zwei Teile Rechnung. Der erste Teil nimmt größtenteils (eine Ausnahme bilden Glissant und Pacheco) Aphorismen- und Sprichwörtersammlungen als Texttypen in den Blick, in denen die beiden Spruchformen je als unabhängige Gattungen erscheinen und von den Autoren auch als solche intendiert sind. Dabei lässt sich der Sinnspruch als ‹Gattungsraum› denken: Gattungsräume werden durch Dimensionen aufgespannt, die unterschiedliche Ausprägungen einer Gattung hervortreten lassen.38 Sie sind in der Regel multidimensional, d. h. «dass die Zahl der Dimensionen, von denen sie aufgespannt werden, nicht exakt begrenzbar ist»39. Unter den denkbaren Dimensionen, die den Gattungsraum des Sinnspruchs ausmachen, werden im ersten Teil zwei hervorgehoben. Erstens bewegt sich der Sinnspruch in Europa und Lateinamerika, wie in Kapitel 2 zu zeigen sein wird, zwischen lebenspraktischer Funktionalisierung durch (semi-)kollektive Produktions- und Rezeptionsformen oder durch eine der Mündlichkeit angeglichene Schriftsprache einerseits und künstlerischer
37 Vgl. Gerhard Neumann: Einleitung. In: Gerhard Neumann (Hg.): Der Aphorismus: Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1976, S. 1–18, hier S. 8. 38 Vgl. Kai M. Sicks: Gattungstheorie nach dem Spatial Turn: Überlegungen am Fall des Reiseromans. In: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009, S. 337–354, hier S. 342. Nach diesem an den kulturwissenschaftlichen spatial turn anschließenden Ansatz werden Gattungen als je eigene Räume mit durchlässigen und verschiebbaren Grenzen betrachtet, die sich teilweise gegenseitig durchdringen. Dieser Vorstellung liegt ein relationaler Raumbegriff zugrunde, demgemäß Gattungen nicht als Behälter im Sinne von Klassen zu verstehen sind, sondern sich ein Gattungsraum vielmehr über Relationen von Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen ästhetischen symbolischen Formen konstituiert. Diese haben somit «keine starren Positionen, sondern solche, die sich je nach Perspektive verändern» (Ebda., S. 339). 39 Ebda., S. 342.
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Autonomie, häufig in Verbindung mit einem sozialen Rückzug des Aphoristikers andererseits. Eine weitere Dimension, der Kapitel 3 gewidmet ist, verläuft zwischen ethnographischer Dokumentation von Sprichwörtern und dem Einsatz von Sinnsprüchen als Instrumente eines kulturellen Widerstandes. Während die kolonialen Sprichwörtersammlungen und einige ihrem Modell folgende Schriften ein Wissen über den Anderen zu produzieren suchen, kultivieren antikoloniale Verwendungsweisen des Sinnspruchs eine Intransparenz, die die eigene Kultur vor einer imperialen oder neokolonialen Vereinnahmung schützen soll. Dieses widerständige Potenzial des Sinnspruchs bildet auch die Grundlage für die Analyse der Aphorismensammlung Cadernos de João (1957) des brasilianischen Schriftstellers Aníbal Machado. Dort steht der Aphorismus weniger für eine antikoloniale Protesthaltung als vielmehr für einen avantgardistischen Gestus der Befreiung aus ästhetischen Zwängen. Diese Haltung des Widerstands sowie die Metapher des Archipels, die Machado seinem Aphorismen-Band voranstellt, ermöglichen wiederum den Bezug zu einer Poetik der Archipelisierung, wie sie der Charakterisierung des Sprichwortes durch frankokaribische Autoren zugrunde liegt. Im zweiten Teil der Studie steht der Sinnspruch als in andere Gattungen eingebettetes Diskurselement im Vordergrund, wobei dadurch weitere Pole sichtbar werden, zwischen denen sich die Gattung erstreckt. Kapitel 4 geht anhand dreier Theaterstücke von Aimé Césaire (1958–1969) und des Romans Grande Sertaõ (1956) von João Guimarães Rosa der Frage nach, inwieweit der Aphorismus, der im europäischen Kontext einst den universellen Anspruch eines Lehrsatzes oder einer Maxime erhob, Ausdrucksmittel einer neuen Universalität wird, in der sich die Spannung zwischen dem Lokalen und dem Globalen artikuliert. Kapitel 5 setzt sich am Beispiel von Alejo Carpentiers Kurzgeschichte Viaje a la Semilla (1944) und Simone Schwarz-Barts Roman Pluie et vent sur Télumée Miracle (1972) mit der Frage auseinander, wie die beiden Autoren das spannungsreiche Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Karibik durch ihren spezifischen Einsatz von Sinnsprüchen je unterschiedlich modellieren. Im 6. Kapitel zeige ich schließlich am Beispiel des Romans Allah n’est pas obligé (2000) von Ahmadou Kourouma und von Patrick Chamoiseaus autobiographischem Essay Ecrire en pays dominé (1997) sowie seinem Roman L’Empreinte à Crusoé (2012) unterschiedliche Formen einer produktiven Aneignung von Sinnsprüchen auf, die in beiden Fällen dem autodidaktischen Erlernen einer Überlebensstrategie dienen. Auf dieser Grundlage setzt sich das Kapitel überdies damit auseinander, wie der Aphorismus zum Ausgangspunkt einer fiktional-narrativ umgesetzten Reflexion über die Möglichkeiten werden kann, eine Ausdrucksweise jenseits der Dichotomie des Selbst und des Anderen zu finden.
1 Der Sinnspruch als transkulturelle kleine Form 1.1 Probleme der Erforschung kleiner Formen am Beispiel des Aphorismus Der Begriff des Sinnspruchs erscheint zunächst diffus: Weder kommt ihm in der deutschsprachigen Forschung eine eigenständige Gattungsgeschichte zu, noch besitzt er ein eindeutiges Pendant in anderen Sprachen. Wird er im Spanischen in der Regel mit apotegma, sentencia oder aforismo, im Portugiesischen mit frase (feita) und im Französischen mit sentence übersetzt, so ist die entsprechende englische Bezeichnung ‹aphorism›, wobei der englische Begriff zugleich noch die deutschen Lexeme ‹Aphorismus›, ‹Sentenz› und ‹Gedankensplitter› beinhaltet und die portugiesische Bezeichnung sich auch auf eine Redensart beziehen kann. In der deutschsprachigen Forschungsliteratur findet sich zwar der Begriff ‹Spruch›, der allerdings entweder im Sinne einer populären ‹Spruchdichtung› verstanden wird,1 deren Gattungsgeschichte sich in Teilen mit derjenigen des Sprichwortes überschneidet oder – und dies erweist sich im Hinblick auf die Perspektive dieser Arbeit als wesentlich fruchtbarer – als Oberbegriff unterschiedlicher mündlicher und schriftlicher Spruchformen wie Maxime, Sittenspruch, Sentenz, Geflügeltes Wort, Sprichwort und sprichwörtliche Redensart sowie Apophtegma. Dieser zweite, an Jolles angelehnte Ansatz hat in der Erforschung von Spruchgattungen kaum Anwendung gefunden. Vielmehr hat sich diese in gattungsgeschichtliche Studien einzelner Spruchformen ausdifferenziert. Dies kann dann sinnvoll sein, wenn es darum geht, Ausprägungen des Sinnspruchs in klar umgrenzten historischen oder geographischen Kontexten zu beschreiben.2 Darüber hinaus sind solche Studien deshalb hilfreich, weil übergeordnete Merkmale einer Gattung nur aus ihren einzelnen konkreten Ausprägungen erschließbar sind, die sich wiederum aufgrund geteilter Merkmale in Untergruppen klassifizieren lassen. Die zu trennscharfe
1 Vgl. Bernhard Sowinski: Der Spruch. In: Otto Knörrich (Hg.): Formen der Literatur: In Einzeldarstellungen. Stuttgart: Kröner 1991, S. 378–385. 2 Als Beispiele seien die Arbeiten von Werner Helmich genannt, der den modernen französischen Aphorismus in selbst geschaffene Kategorien wie beispielsweise Bildaphorismus, Tagebuch- und Notizbuch-Aphoristik (Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus) oder Maueraphoristik (Werner Helmich: Maueraphoristik. Einige kommunikationstheoretische Überlegungen zu den Graffiti des Mai ’68. In: Cahiers d’histoire des littératures romanes 5 (1981), S. 281–295.) unterteilt und so die Vielfalt der aphoristischen Produktionen in Frankreich vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart aufzeigt.
https://doi.org/10.1515/9783110639483-002
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1 Der Sinnspruch als transkulturelle kleine Form
Abgrenzung von Gattungen oder deren Ausprägungen birgt aber zugleich die Gefahr, sich in der Benennung immer spezifischerer Subgenres zu verlieren, die auf immer weniger Texte zutreffen und die sich kaum mehr auf andere kulturelle und sprachliche Kontexte übertragen lassen. Die Verschiebungen und Überlappungen in der Bezeichnung unterschiedlicher Spruchformen allein schon im Deutschen3, Französischen4, Spanischen5, Portugiesischen6 und Englischen7 machen eine Abgrenzung verschiedener Spruchgattungen zu einem schwierigen, wenn nicht aussichtslosen Unterfangen. Komparatistische Studien, die jeweils die Wort- und Begriffsgeschichte unterschiedlicher Spruchgattungen und ihre jeweiligen Ausprägungen in mehreren Sprachen und Kulturen vergleichend verfolgen, wurden bisher noch nicht durchgeführt. Auch die vorliegende Studie kann und will dies nicht leisten, wohl aber erste Schritte in Richtung einer transkulturell vergleichenden Erforschung des Sinnspruchs unternehmen. Ausgehend vom Vergleich der beiden vielleicht meistverbreiteten Spruchformen liegt ihr im Anschluss an Jolles eine allgemeinere Konzeption des Sinnspruchs zugrunde, die flexibel genug ist, um unterschiedliche Ausprägungen des Spruchs wie Maxime, Geflügeltes Wort, Sentenz, Apophtegma, Slogan, Axiom, aber auch außereuropäische Gattungen wie z. B. das von der Punu-Ethnie im Gabun verwendete kumbu8 ein-
3 Hier findet man in den einschlägigen Wörterbüchern Aphorismus, Apophtegma, Devise, Gedankensplitter, Geflügeltes Wort, Lebensregel, Lebensweisheit, Leitspruch, Maxime, Motto, Sentenz, Sinnspruch, Slogan, Sprichwort, Spruch. 4 Die einschlägigen Wörterbücher enthalten adage, aphorisme, apophtègme, devise, dicton, maxime, proverbe, sentence, slogan, wobei nicht jedes Lexem ein eindeutiges Pendant im Deutschen besitzt. 5 Concepción Teresa Alzola zählt für das Spanische folgende Bezeichnungen bzw. Untergruppen des Sinnspruchs in alphabetischer Reihenfolge auf: Adagio, aforismo, anejín o anejir, apólogo, apotegma, axioma, brocárdico, castigo, castigamiento, concepto, consejo, decir, dicharacho, dicho, doctrina, epifonema, escritura, ejemplo, flabiella, fábula, hablilla, jeroglífica, máxima, maza, maza de Fraga, moraleja, mote, palabra, parábola, paremia, pensamiento, precepto, principio, proverbio, (refrán), regla, retraher, símbolo, sentencia, verbo, verso. Concepción Teresa Alzola: Habla tradicional de Cuba: Refranero familiar. Miami: Asociazón de Hispanistas de las Américas 1987 (Sigle HTC), S. 21. 6 Einige Beispiele sind aforismo, ditado, dito proverbial, divisa, lema, máxima, provérbio, slogan. 7 Zu nennen wären etwa adage, aphorism, dictum, maxim, motto, proverb, saying, slogan. 8 Nach Serenah Tomba handelt es sich um einen konzisen Satz – Tomba vergleicht ihn mit einer Sentenz oder Maxime –, über den jeder Clan verfügt und der eine Verhaltensregel oder Devise vorgibt, nach der sich der jeweilige Clan zu richten hat. So lautet etwa das kumbu des Gong-Clans (gong bedeutet «verbergen») «Dissimule tes trésors, mais tu ne pourras dissimuler le malheur.» [«Verbirg deine Schätze, das Unglück kannst du allerdings nicht verbergen.» (Eigene Übersetzung)]. Serena Tomba: La devise dans la société punu du Gabon.
1.1 Probleme der Erforschung kleiner Formen am Beispiel des Aphorismus
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schließen zu können. Darüber hinaus sind die Grenzen dieser Kategorie zu anderen Gattungen, die zentrale Merkmale mit dem Sinnspruch teilen und dadurch an dieser Gattung partizipieren (z. B. Fragment, Epigramm, das madagassische hain-teny9), durchlässig. Dadurch lässt sich vermeiden, einzelne Untergattungen des Sinnspruchs identifizieren und von ihren Nachbargattungen abgrenzen zu müssen. Die Probleme, die solche Abgrenzungsversuche mit sich bringen bzw. die Vorteile, die aus der Zusammenschau unterschiedlicher Spruchgattungen resultieren, sind in den bisherigen Gattungsgeschichten von Aphorismus und Sprichwort deutlich geworden. Die Schwierigkeiten der Aphorismusforschung ergeben sich größtenteils aus der Uneinigkeit darüber, was unter einem Aphorismus zu verstehen ist – allein schon in deutschsprachigen Lexika und Handbüchern gehen die Definitionen teilweise stark auseinander. Damit gelten auch hier die spätestens seit Jauß10 etablierten und erörterten Probleme einer Handhabung des Gattungsbegriffs, die gerade im Rahmen eines transkulturellen Vergleichs und der damit verbundenen Pluralisierung von Kontexten der Gattungskonstitution noch potenziert werden11: das Auseinanderdriften von Wort- und Begriffsgeschichte12
9 Vgl. Kap. 3, Anm. 109. 10 Vgl. Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Heidelberg: Winter 1972 (B. 1), S. 107–138. 11 Vgl. Franz H. Mautner: Der Aphorismus als literarische Gattung, S. 19–21. 12 So werden heute auch Formen der Gattung ‹Aphorismus› zugerechnet, die zur Zeit ihrer Entstehung etwa als ‹Sentenz›, ‹Reflexion› oder ‹Maxime› bezeichnet wurden. Schon der Titel der Aphorismensammlung von La Rochefoucaulds Réflexions ou sentences ou maximes zeigt, dass im Frankreich des 17. Jahrhunderts keine einheitliche Bezeichnungstradition für die von ihm verfassten Kurzformen existierte. Seit der Antike hatte man das Wort ‹Aphorismus› nicht für literarische Texte verwendet, sondern, der hippokratischen Tradition folgend, für den Lehrsatz als einer Form wissenschaftlicher Sachprosa. Das griechische Etymon aforismós bezog sich ursprünglich auf einen medizinischen Erfahrungssatz und wurde durch italienische und spanische Tacitus-Kommentare im 16. und 17. Jahrhundert thematisch auf den Bereich der Politik ausgedehnt. Vgl. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 6. Im Spanischen erfährt der Begriff des Aphorismus, der bisher wie auch im Französischen der Medizin und Jurisprudenz zugeordnet worden war, im 16. Jahrhundert zudem eine semantische Erweiterung zu Merksatz, Spruch und Sprichwort, wobei sich nun Tendenzen zu einer Unterscheidung zwischen dem künstlerischen Aphorismus und seinen volkstümlichen Nachbargattungen beobachten lassen. Vgl. Fritz Schalk: Zur Geschichte des Wortes Aphorismus im Romanischen. In: ders.: Exempla romanischer Wortgeschichte. Frankfurt am Main: Klostermann 1966, S. 1–20, hier S. 13. Während das Französische vom 13. bis 15. Jahrhundert terminologisch noch nicht zwischen Sinnsprüchen volkstümlicher und gelehrter Herkunft unterscheidet, wird im Spanischen ein Unterschied gemacht zwischen dem so genannten refrán, der auf die sentenzenhaften Kehrreime in zahlreichen Volksliedern zurückgeht, und dem proverbio, das vor allem gelehrte Sinnsprüche bezeichnet.
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1 Der Sinnspruch als transkulturelle kleine Form
sowie Unstimmigkeiten hinsichtlich der Frage nach dem Entstehungszeitpunkt des Aphorismus als literarische Gattung. Die Entscheidung darüber, ob La Rochefoucauld, Gracián oder gar mehr als ein Jahrhundert zuvor Francesco Guicciardini mit seinen Ricordi (1512–1525) den literarischen Aphorismus ins Leben gerufen haben, hat für die Geschichte und Bestimmung des Aphorismus nur geringfügige Konsequenzen.13 Weit folgenreicher sind gattungsgeschichtliche Annahmen nicht-deutschsprachiger Aphorismus-Forschung, wenn sie, wie der englische Aphorismus-Forscher James Geary die «ersten echten Aphorismen»14 im alten Ägypten identifizieren. Es handelt sich dabei um Lehrsätze, die regionale Herrscher ihren Söhnen als Ratschläge hinterließen. Der mexikanische Aphoristiker und Essayist Gabriel Zaid weist darauf hin, dass die Gattung des Fragments, der er den Aphorismus zuordnet, weder ein Produkt der Neuzeit noch der Antike sei, und situiert es in der vorliterarischen Zeit. El fragmento como obra no es un rasgo de la modernidad, sino de la prehistoria. Los primeros ensayos mínimos no fueron los apuntes románticos, «fragmentarios de nacimiento», ni las máximas de La Rochefoucauld, ni siquiera los aforismos de Heráclito y Demócrito: fueron los refranes, anteriores a la escritura. Cuando aparece la escritura, no
Vgl. Mettmann: Spruchweisheit und Sprachdichtung in der spanischen und katalanischen Literatur des Mittelalters. In: Pack Carnes (Hg.): Proverbia in fabula. Essays on the relationship of the fable and the proverb. Bern: Peter Lang 1988, S. 165–194, hier S. 168. Im Deutschen geht der Begriff des Aphorismus erstmals in den Titeln deutscher Übersetzungen französischer Moralisten eine enge Verbindung mit einer literarischen Kurzform ein, während im Französischen für die durch die Moralisten begründete Spruchgattung bis ins 20. Jahrhundert die Bezeichnung maxime gängig bleibt. Die französische Aphorismusforschung übernimmt den Begriff aus dem deutschen Sprachgebrauch und führt ihn als literarischen Gattungsbegriff ein, und auch europaweit setzt sich, angetrieben durch eine sich etablierende deutsche Aphorismentradition, die einheitliche Bezeichnung ‹Aphorismus› durch. 13 Legt Fricke (Harald Fricke: Aphorismus. Stuttgart: Metzler 1984, S. 48) das Erscheinen der Réflexions ou sentences ou maximes La Rochefoucaulds in Den Haag 1664 als «Geburtsstunde des literarischen Aphorismus» fest, betrachtet Helmich als den Begründer der Gattung Gracián, dessen Oráculo manual y arte de prudencia La Rochefoucauld gekannt haben dürfte. Zumindest für den französischen Aphorismus spielt die Unterscheidung, so Helmich, wirkungsgeschichtlich keine bedeutende Rolle. Der Verdienst La Rochefoucaulds bestand darin, dass er von den zweigliedrigen Gracián-Texten nur den ersten als Maxime formulierten Teil übernahm, den er im Wortlaut häufig an den Text seines spanischen Vorgängers anlehnt. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 43. 14 James Geary: Die Welt in einem Satz (the world in one phrase). In: Petra Kamburg/Friedemann Spicker u. a. (Hg.): Gedanke, Bild und Witz. Aphorismen – Fachbeiträge – Illustrationen. Bochum: Universitätsverlag Brockmeyer 2009, S. 22–28, hier S. 23.
1.1 Probleme der Erforschung kleiner Formen am Beispiel des Aphorismus
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desaparece la creación de microtextos memorables. Continúa doblemente: de manera tradicional y ahora también por escrito, gracias a un escritor muy crítico y original: Heráclito.15
Auch der rumänische Philosoph und Aphoristiker Emil Cioran sieht in Heraklit, wenn auch nicht den Begründer, so zumindest einen frühen Repräsentanten der Gattung, bevor sich diese in einen philosophischen und einen wissenschaftlichen Strang teilte.16 Dem steht die deutschsprachige Auffassung vom Aphorismus als einer spezifischen Kunstform der Neuzeit gegenüber,17 derzufolge erst die französischen Moralisten der ursprünglich bloß wissenschaftlichen Äußerungsart eine ästhetische Form mit eigenen Gesetzen verleihen und ihre Aphorismen aus diesem Formbewusstsein heraus verfassen. Dieses bewusste Kultivieren einer Kunstform begreift Franz Mautner als Voraussetzung dafür, dass der Aphorismus zu einer «echte[n] Gattung»18 wird. Die genannten Differenzen in der Ursprungslokalisierung des Aphorismus rühren nicht zuletzt daher, dass sich das englische Lexem aphorism und das spanische aforismo nicht mit der deutschen Bezeichnung ‹Aphorismus› decken. Bezieht man solche Überlegungen mit ein, so führt dies zu einem sehr weiten Aphorismus-Begriff, der die Gattung weitgehend mit dem von Jolles eingeführten Oberbegriff «Spruch»19 gleichsetzt und ihn zu einer der ältesten literarischen Kunstformen überhaupt werden lässt. Die Geschichte des Aphorismus spaltet sich demnach ausgehend von vorliterarischen sinnspruchartigen Äußerungen in unterschiedliche mündliche und schriftliche Stränge auf, die sich dann teilweise wieder überschneiden. Die unterschiedlichen Positionen im Hinblick auf den Ursprung des Aphorismus zeigen exemplarisch, dass der Zeitpunkt, bei dem die Geschichte einer Gat-
15 Gabriel Zaid: Citas y aforismos. In: Letras libres. 2004, http://www.letraslibres.com/re vista/convivio/citas-y-aforismos (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020). «Das Fragment als Werk ist kein Merkmal der Moderne, sondern der Prähistorie. Die ersten Kürzestessays waren weder die ‹von Geburt an fragmentarischen› Aufzeichnungen aus der Romantik noch die Maximen von La Rochefoucauld, ja nicht einmal die Aphorismen von Heraklit und Demokrit: es waren die Sprichwörter, die vor der Schrift existierten. Als die Schrift erfunden wird, verschwindet damit nicht die Erschaffung bemerkenswerter Mikrotexte. Sie wird im zweifachen Sinn fortgeführt: auf die traditionelle Weise und von nun an auch in schriftlicher Form, was einem sehr kritischen und originellen Autor zu verdanken ist: Heraklit.» (Eigene Übersetzung). 16 Vgl. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 289. 17 Vgl. Fritz Schalk: Das Wesen des französischen Aphorismus. In: Gerhard Neumann (Hg.): Der Aphorismus. zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1976, S. 75–111, hier S. 87. 18 Franz H. Mautner: Der Aphorismus als literarische Gattung, S. 37. 19 André Jolles: Einfache Formen, S. 150.
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tung ansetzt, ebenso interessen- und perspektivenabhängig ist wie Gattungsbegriffe selbst. Eine transkulturelle Gattungsforschung kann sich nicht darauf beschränken, die Entwicklung einer Gattung von ihrem angenommenen Anfang bis gegebenenfalls zu ihrem ebenso angenommenen Ende nachzuzeichnen. Denn zu dem Zeitpunkt, an dem gattungstypische Merkmale beobachtbar werden, haben bereits zahlreiche Verflechtungsprozesse stattgefunden. Es sind grundsätzlich unterschiedliche Ursprünge einer Gattung denkbar, von denen ein Teil letztendlich im Dunkeln liegt. Die Fragen, die die Diskussion um den Ursprung des Aphorismus als Gattung aufwirft, führen zu einem weiteren Problem der Gattungsdefinition, nämlich zur Frage nach den Kriterien, aufgrund derer Texte der Gattung des Aphorismus zugeordnet werden. Der Aphorismus wird in der Regel anhand von formalen, inhaltlichen sowie produktions- und rezeptionsästhetischen Merkmalen bestimmt, was zu den bekannten Schwierigkeiten führt: Gattungen stehen stets in einem Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Innovation. Sie sind Begriffe, die als solche statisch, zugleich als historische Praktiken aber einem Prozess der Veränderung unterworfen sind. Um dieser historischen Dynamik von Gattungen gerecht zu werden, ohne dabei die Systemhaftigkeit des literarischen Feldes aufzugeben, besteht in der jüngeren allgemeinen Gattungstheorie sowie in der spezifischen Theorie bestimmter Gattungen die Tendenz, im Hinblick auf die Bestimmung einzelner Gattungen zwischen festen und variablen Merkmalen zu unterscheiden.20 Ein solches Vorgehen, das auch in der jüngeren deutschen Aphorismusforschung üblich ist,21 löst jedoch nicht die Probleme einer Gattungsbestimmung des Aphorismus: Nach welchen Kriterien lassen sich konstitutive und variable Merkmale voneinander trennen? Und wie sind Texte einzuordnen, die zwar nicht alle konstitutiven Merkmale, wohl aber eine Vielzahl der variablen Eigenschaften erfüllen? Zu den laut Helmich in der jüngeren Literaturwissenschaft unumstrittenen Merkmalen des literarischen Aphorismus gehören Kürze bzw. «Konzision», Diskontinuität bzw. «ko[n]textuelle Isolation» sowie die Autorintention. Dissens bestehe hingegen hinsichtlich der Kriterien der Prosaform22, der Nicht-Fiktiona-
20 Vgl. dazu allgemein die Unterscheidung zwischen konstitutiven und typischen Gattungsmerkmalen in Birgit Neumann/Ansgar Nünning: Einleitung, S. 9–10. 21 Vgl. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 19 sowie Monique Nemer: Les intermittences de la vérité. Maxime, sentence ou aphorisme. Notes sur l’évolution d’un genre. In: Studi francesi 26 (1982), S. 484–493, hier S. 485, aber auch schon Harald Fricke: Aphorismus, S. 14. 22 Vgl. Ulrike Schneider: Zu einigen Grundproblemen neuerer Aphorismusforschung. In: Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur 112, 2 (2002), S. 155–169.
1.1 Probleme der Erforschung kleiner Formen am Beispiel des Aphorismus
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lität bzw. Nicht-Narrativität sowie der Pointierung im Sinne eines Verblüffungseffekts. Allerdings, so wird zu zeigen sein, sind auch die drei von Helmich als «unstrittig» benannten Kriterien nicht uneingeschränkt haltbar. Schon allein die Tatsache, dass Helmich für die Merkmale ‹Kürze› und ‹Diskontinuität› die alternativen Ausdrücke «Konzision» und «ko[n]textuelle Isolation» in Anführungszeichen mit angibt, zeigt, dass kein einheitliches Verständnis darüber besteht, was mit diesen Kriterien gemeint ist. So betont etwa Harald Fricke, dass Konzision, die er übrigens nicht zu den notwendigen Merkmalen des Aphorismus zählt, nicht mit extremer Textkürze gleichzusetzen sei, da auch Aphorismen, die aus mehreren Sätzen bestehen, konzis formuliert sein können.23 Darüber hinaus ist Kürze ein relativer Begriff, der weitere Definitionen notwendig macht. Noch problematischer als das Kriterium der Kürze ist dasjenige der «ko[n]textuellen Isolation». Sobald man rezeptionsästhetische Überlegungen mit einbezieht24, lässt sich dieses Kriterium nicht mehr halten. Kaum jemand wird beispielsweise bestreiten, dass es sich beim Satz «ce qui paraît n’est presque jamais la vérité»25 in La princesse de Clèves um eine Maxime in der Tradition La Rochefoucaulds und damit um einen Aphorismus handelt, der in den Zusammenhang eines Romans eingefügt wurde. Dies bedeutet jedoch keinen Freibrief für Anthologisten, Zitate verkürzend und verfälschend aus ihrem Textzusammenhang herauszulösen und als Aphorismen zu editieren. Ähnliches gilt für die Untersuchung von Aphorismen als in andere Gattungen eingebettete Diskurselemente. Hier gilt es, den Kontext des so genannten Aphorismus mit zu berücksichtigen. Dabei sind Fragen wie die folgenden von Bedeutung: Inwiefern grenzt sich der Aphorismus als Einzelsatz von seiner textuellen Umgebung ab, etwa durch die Verwendung des gnomischen Präsens im Gegensatz zum Erzähltempus oder durch seine Markierung als Äußerung einer Figur? Unterscheidet er sich von seiner textuellen Umgebung durch gesteigerte sprachliche Dichte und inhaltliche Pointiertheit, indem er sich beispielsweise als kondensierte und prägnante Schlussfolgerung aus dem zuvor bzw. als Prämisse des nachfolgend Geschriebenen präsentiert? Damit ein Aphorismus als solcher erkennbar ist, bedarf er also tatsächlich einer kotextuellen Isolation, die jedoch nicht unbedingt im Schriftbild realisiert sein muss. Stephan Fedler spricht in
23 Vgl. Harald Fricke: Aphorismus, S. 14. 24 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Gattungen. In: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 253–269, hier S. 256. 25 Madame de Lafayette: La Princesse de Clèves. Paris: Gallimard 2000 [1678], S. 71.
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diesem Fall treffend von der «Isolierbarkeit» des Aphorismus, d. h. dieser muss ein semantisches Zentrum besitzen, das zwar verschiedene, rezeptionsabhängige Texteingänge ermöglicht, mit dem er sich aber von seinem Kotext, d. h. vom ihn umgebenden Text, abhebt.26 Die Frage nach der Isolation von Aphorismen ist eng verbunden mit dem Kriterium der Autorintention. Denn dass ein Aphorismus als drucktechnisch abgesetzter Text erscheint, ist meist die Entscheidung des Autors. Dies trifft jedoch nicht zu im Falle von Pascal oder Heraklit, deren Textfragmente in der Regel als Aphorismen betrachtet werden, auch wenn sie möglicherweise Teil eines längeren (noch zu realisierenden Textes) waren. Noch schwieriger als die Aphorismendefinition hat sich die Definition des Sprichwortes erwiesen. The definition of a proverb is too difficult to repay the undertaking and should we fortunately combine in a single definition all the essential elements and given them each the proper emphasis, we should not even then have a touchstone. An incommunicable quality tells us that this sentence is proverbial and that one is not.27
Die hier festgestellte Unmöglichkeit der Sprichwortdefinition macht das Grundproblem aller wissenschaftlichen Disziplinen deutlich, dass wissenschaftliche Fachbegriffe zunächst an die Alltagssprache verwiesen sind.28 Dies gilt für die Gattungsforschung in besonderem Maße, was mit dem Problem der Gattungsdefinitionen zusammenhängt: Diese können nicht allein vom Material ausgehen, das ja zunächst nach bestimmten Kriterien ausgewählt werden muss, die sich aus einem unwissenschaftlichen Vorverständnis der Gattung ergeben. Die Bestimmung einer Gattung bleibt in gewissem Maße also immer deduktiv, da sie, soweit keine normative Definition wie etwa im Fall der Tragödie vorliegt, von einem vorwissenschaftlichen Gattungsbegriff ausgeht. Und solange sie auf keine Gattungsdefinition zurückgreifen kann, bedient sich die Literaturwissenschaft eines alltagssprachlichen Vorverständnisses der zu definierenden Textsorten.29 Was die frühe Sprichwörterforschung festgestellt hat, kann also auch für andere (Spruch-)Gattungen, einschließlich dem Aphorismus, gelten: Gattungen
26 Vgl. Stephan Fedler: Der Aphorismus. Begriffsspiel zwischen Philosophie und Poesie. Stuttgart: Metzler 1992, S. 61–62. Eine vergleichbare Auffassung legt Dieter Lamping seiner Aphorismus-Definition zugrunde: «Ein ‹Aphorismus› ist eine kurze, pointierte Formulierung, die entweder für sich steht (als isolierter Aphorismus) oder für sich stehen kann (als isolierbarer integrierter Aphorismus).» Dieter Lamping: Aphorismus. In: ders. (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart: Kröner 2009, S. 17–21, hier S. 17. 27 Archer Taylor: The Proverb. Cambridge, MA: Harvard University Press 1931, S. 3. 28 Vgl. Stephan Fedler: Der Aphorismus, S. 22. 29 Vgl. ebda., S. 29.
1.1 Probleme der Erforschung kleiner Formen am Beispiel des Aphorismus
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werden in der Regel intuitiv aufgrund von individuellen und kollektiven Voreinstellungen erkannt.30 Zahlreiche parömiologische Studien sind dieser Feststellung gefolgt und haben auf eine Definition des Sprichwortes verzichtet.31 Dort wo die Sprichwörterforschung hingegen ihren Gegenstand zu definieren versucht, tritt das Problem auf, dass Eigenschaften, die anhand ethnographischer Forschungen zu Spruchgattungen einer bestimmten Gesellschaft herausgearbeitet werden, als universell gültig betrachtet werden. Dabei wird nicht der Tatsache Rechnung getragen, dass der gefundenen Definition ein kulturspezifischer Gattungsbegriff zugrunde liegt, der die Basis für die Zusammenstellung des Korpus bildet.32 Einer solchen Gefahr der definitorischen Universalisierung kann das intuitive Erkennen von Sinnsprüchen zumindest teilweise entgegenwirken – teilweise deshalb, weil auch das intuitive Erkennen von Gattungen durch kulturelle Voreinstellungen geprägt ist. Das Zugrundelegen eines weit gefassten Gattungsbegriffs ermöglicht es, vergleichbare Phänomene in anderen Sprachen und Kulturen nicht von vorneherein auszuschließen. So erlaubt die übergeordnete Gattungsbezeichnung ‹Sinnspruch›, eine Reihe von Kurztexten aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachen miteinander zu vergleichen, die von einer Summe von Erfahrungen und Beobachtungen abstrahieren. Mithilfe eines unscharfen Gattungsbegriffs lässt sich so eine Grundlage schaffen, auf der Gattungsmuster, die in unterschiedlichen Kulturen auftreten, beobachtet werden können, ohne dass die eine der anderen einverleibt werden muss.33
30 Ein Vorgehen, das zunächst von allgemeineren, intuitiven Gattungskategorien ausgeht und diese erst in einem zweiten Schritt in unterschiedliche Ausprägungen unterteilt, entspricht überdies den kognitiven Prozessen, mittels derer Individuen oder soziale Gruppierungen sich ein Wissen über Gattungen aneignen. Die kognitivistische Gattungstheorie nimmt an, dass so genannte basic-level-Kategorisierungen wie ‹Lied›, ‹Gedicht› oder ‹Geschichte› – zu denen man auch den Spruch zählen kann – kognitiv grundlegender und schneller begreifbar sind als «übergeordnete Kategorien wie Lyrik, Epik und Drama» (Rüdiger Zymner: Richtungen und Ansätze der poetologischen Gattungstheorie. Biopoetische/Kognitionswissenschaftliche Gattungstheorie. In: Rüdiger Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart; Weimar: Metzler 2010, S. 162–164, hier S. 163) oder untergeordnete Kategorien wie ‹Aphorismus›, ‹Maxime›, ‹Sentenz›, ‹Apophtegma› etc. 31 In diese Richtung argumentiert auch Domínguez Barajas in seiner Studie zum Gebrauch von Sprichwörtern in einem mexikanisch-nordamerikanischen Familienetzwerk. Elías Domínguez Barajas: The Function of Proverbs in Discourse: The Case of a Mexican Transnational Social Network. Berlin: De Gruyter Mouton 2010, S. 49. 32 Vgl. Charles L. Briggs: The Pragmatics of Proverb Performances in New Mexican Spanish. In: Wolfgang Mieder (Hg.): Wise Words: Essays on the Proverb. New York: Garland 1994, S. 793–810, hier S. 793–794. 33 Eine ‹Einverleibung› kreolischer Sprichwörter in eine europäische Aphorismen-Definition nimmt etwa Mark Bell in seiner Analyse von Simone Schwarz-Barts Roman Pluie et vent sur
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Von einer basalen Kategorie wie dem Sinnspruch auszugehen, kann helfen, ein unsystematisches Erfahrungswissen für eine (kultur)wissenschaftliche Erforschung von Spruchgattungen fruchtbar zu machen. Ein zentrales Merkmal solcher basalen Kategorien ist ihre Unschärfe, die unterschiedliche Gattungen verschwimmend ineinander übergehen lässt, statt sie trennscharf voneinander abzugrenzen. In der neueren Gattungstheorie zeichnet sich die Tendenz ab, die Suche nach einem eindeutigen Klassifizierungsschema aufzugeben – ohne jedoch wie die Poststrukturalisten eine Abschaffung des Gattungssystems zu fordern – und stattdessen auf wesentlich flexiblere Partizipationsmodelle zurückzugreifen.34 Diese Gattungsmodelle sind gerade im Hinblick auf transkulturelle Gattungsbeziehungen fruchtbar,35 da sie Gattungen als offene Systeme und nicht als festgelegte Einheiten konzipieren, was «die Flexibilität der Gruppenbildung innerhalb der Literatur und die enge Verflechtung zwischen Sprachkunst und Normalsprache»36 fördert. Grundlage solcher Partizipationsmodelle ist der Familienähnlichkeitsbegriff Wittgensteins. Dabei handelt es sich nicht um einen Klassen-, sondern um einen Typus-Begriff, der nicht voraussetzt, «daß alle ‹Mitglieder› einer ‹Familie› durch eine bestimmte Menge gemeinsamer Merkmale charakterisiert sind»37, sondern vielmehr durch sich je unterschiedlich überlappende Merkmale.38 In der Aphorismusforschung hat das Konzept der Familienähnlichkeit erst ansatzweise Anwendung gefunden.39 Fedler hebt in seiner Studie zum Aphorismus als «Begriffsspiel zwischen Philosophie und Poesie» hervor, dass der Familienähnlichkeitsbegriff im Hinblick auf den Aphorismus deshalb hilfreich sei, weil er die
Télumée Miracle vor. Mark Bell: Aphorism in the Francophone Novel of the Twenthieth Century. Quebec City: McGill-Queen’s University Press 1997. 34 Vgl. Ulrich Suerbaum: Text, Gattung, Intertextualität. In: Bernhard Fabian (Hg.): Ein anglistischer Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft. Berlin: Schmidt 2004, S. 82–125, hier S. 94–95. 35 Vgl. Friederike Pannewick/Christian Szyska: Crossings and passages in genre and culture – An introduction. In: dies. (Hg.): Crossings and passages in genre and culture. Wiesbaden: Reichert 2003, S. 1–9, hier S. 5. 36 Ulrich Suerbaum: Text, Gattung, Intertextualität, S. 88. 37 Klaus W. Hempfer: Gattung. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin/New York: De Gruyter (B. 1), S. 651–655, hier S. 663. 38 Es kann daher sein, dass zwei Texte gar keines der gängigen Gattungsmerkmale miteinander teilen, aber dennoch durch eine Reihe von Zwischengliedern miteinander verbunden sind. Vgl. Alastair Fowler: Kinds of Literature: An Introduction to the Theory of Genres and Modes. Oxford: Clarendon 1982. Zur Übertragung des Familienähnlichkeitsbegriff in die Literaturwissenschaft vgl. Werner Strube: Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung. Paderborn u. a.: Schöningh 1993, S. 23–25. 39 So beispielsweise bei Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: Mentis 2003, S. 98–99.
1.2 Ähnlichkeit: Aphorismus und Sprichwort
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Beziehungen zu benachbarten Gattungen beschreiben helfe und Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Aphorismentypen aufzeigen könne.40 Demnach lassen sich der Gattung des Aphorismus auch Texte zuordnen, so Fedler, «die nicht einem paradigmatischen Gattungsideal entsprechen. Aphorismen sind Texte, die sich in gleitenden Übergängen zwischen Witz und (philosophischer) These bewegen und in einem historischen Prozeß der semantischen Begriffsverschiebung auch von der einen Textsorte zur anderen wandern können»41. Auch wenn Fedlers Ansatz mit «Witz und (philosophischer) These» zwei Pole setzt, zwischen denen sich längst nicht alle Ausprägungen des Aphorismus einordnen lassen, so macht er doch deutlich, dass etwa zwei Texte als Aphorismen aufgefasst werden können, die kein einziges Merkmal miteinander teilen, die aber über mehrere Zwischenglieder eines Gattungskontinuums miteinander verbunden sind.
1.2 Ähnlichkeit: Aphorismus und Sprichwort In der deutschen Aphorismus- und Sprichwortforschung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Sprichwort und Aphorismus voneinander zu unterscheidende Gattungen sind.42 Dies trifft selbstverständlich dann zu, wenn man die europäische Gattungsgeschichte der beiden Formen in den Blick nimmt. Der deutschsprachige Begriff ‹Aphorismus› steht für die elaborierte Eigenschöpfung eines Autors, die sich je nach Forschungsinteresse auf die italienischen, spanischen und französischen Moralisten im 16. und 17. Jahrhundert, auf Heraklit von Ephesus (5./6. Jahrhundert vor Christus) oder auf andere, stets an einen Autor
40 Vor allem könne der Familienähnlichkeitsbegriff die Stellung des Aphorismus zwischen Philosophie und Poesie beschreiben (vgl. Stephan Fedler: Der Aphorismus, S. 190). Die gemeinsamen Merkmale von Aphorismen bestünden demnach in der «Gebundenheit an Begriffe, die eine allgemeine These evoziert» (ebda.), und in einem spezifischen poetischen Verfahren, das mithilfe verschiedener aphoristischer Techniken eine Pointe generiert. Die unterschiedlichen Merkmale sind die jeweils verwendeten poetischen Verfahren. Wenn man den Aphorismus aus seiner Stellung zwischen Philosophie und Poesie heraus begreife, so mache das eine systematische Bestimmung des Aphorismus nicht nur unmöglich, sondern auch hinfällig (ebda., S. 9–10). Der Familienähnlichkeitsbegriff, so räumt Fedler ein, eigne sich wenig dazu, den Aphorismus von so genannten Nachbargattungen «trennscharf» abzugrenzen (Witz, Maxime, Fragment, Sprichwort, Gnome, Sentenz, These, Essay …) Auch das Begriffsspiel mit der Funktion der Pointe könne den Aphorismus nicht scharf fassen. In ihr liege wie auch in zahlreichen anderen Abgrenzungsversuchen eine Bestimmung, die «von der kaum zu fixierenden, nämlich literaturwissenschaftlich nur am Text spekulativ zu erschließenden Produktionstätigkeit des Rezipienten abhängt» (ebda.). 41 Stephan Fedler: Der Aphorismus, S. 192. 42 Harald Fricke: Aphorismus, Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort. Stuttgart: Metzler 1977.
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oder eine Autorengruppe gebundene Ursprünge zurückführen lässt. Demgegenüber liegt der Ursprung des Sprichwortes, das in den antiken Sprichwortsammlungen in verschriftlichter Form auftaucht, jedoch immer wieder phasenweise mündlich tradiert wird, im Dunkel vorliterarischer Zeit. Die Unterscheidung der beiden Spruchgattungen ist dann sinnvoll, wenn sie im Lichte spezifischer kultureller oder epochaler Entwicklungen betrachtet werden. Für eine transkulturelle und transepochale Erforschung von Spruchgattungen bedarf sie jedoch einer Revidierung. Das Paradigma der Ähnlichkeit dient als Ausgangspunkt hierfür: Wurden Ähnlichkeiten zwischen Aphorismus und Sprichwort zunächst intuitiv festgestellt, so lassen sie sich nun in einem zweiten Schritt präzisieren. Die beiden Ausdrucksformen teilen rhetorische, linguistische und soziologische Merkmale miteinander, wobei sie unter diesen Aspekten auch Differenzen erkennen lassen. Denn Ähnlichkeit impliziert immer auch Differenz: zwei Gegenstände, die keine Differenzen aufweisen, sind sich nicht ähnlich, sondern identisch. In diesem Sinne bedeutet der Fokus auf Ähnlichkeiten keine undifferenzierte Allinklusion, vielmehr hilft die der Ähnlichkeit stets inhärente Differenz, Nuancen zu benennen, die im Falle einer radikalen Grenzziehung nicht sichtbar würden.
Rhetorische Aspekte Zentrales rhetorisches Merkmal sowohl des Sprichwortes als auch vieler Aphorismen ist ihre geschliffene Prägnanz,43 die ihnen im Gegensatz zu anderen Gattungen Schlagkraft verleiht. Allerdings wird diese Eigenschaft je unterschiedlich eingesetzt: Während das Sprichwort vor allem überzeugen möchte, und damit einen Denkprozess abschließt, möchte der Aphorismus den Leser überraschen und damit einen Denkprozess erst in Gang setzen.44 Das Sprichwort wiederholt als volkstümliche Gattung eine gemeinhin akzeptierte Erkenntnis – Roland Barthes hat solche Meinungen, die von einer großen Mehrheit geteilt werden und die sich häufig in Sinnsprüchen äußern, als doxa45 bezeichnet – und steht damit im
43 Vgl. für das Sprichwort Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 56. 44 Allerdings, so wird noch zu zeigen sein, kann auch das Sprichwort je nach Verwendungskontext ein überraschendes und irritierendes Potenzial entfalten. 45 «La Doxa (mot qui va revenir souvent), c’est l’Opinion publique, l’Esprit majoritaire, le Consensus petit-bourgeois, la Voix du Naturel, la Violence du Préjugé. On peut appeler doxologie (mot de Leibniz) toute manière de parler adaptée à l’apparence, à l’opinion ou à la pratique.» Roland Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes, Paris: Seuil 1995 [1975], S. 52. [«Die Doxa (ein Wort, das oft wiederkehren wird), das ist die öffentliche Meinung, der Geist der Mehrheit, der kleinbürgerliche Konsensus, die Stimme des Natürlichen, die Gewalt des Vorurteils. Doxologie (ein Wort von Leibniz) kann jede Art zu sprechen genannt werden, die
1.2 Ähnlichkeit: Aphorismus und Sprichwort
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Gegensatz zum Aphorismus als einem «dem System sich verweigernde[n], gegen die herrschende Denkordnung gedachte[n] Satz»46. Dennoch dienen sowohl Sprichwort als auch Aphorismus dazu, einem Gedanken Tiefe zu verleihen. Gelingt dies dem Aphorismus durch sprachliche Mittel, so setzt der Benutzer eines Sprichwortes in der Regel auf dessen gesellschaftliche Verwurzelung und damit auf eine kulturelle Tiefe.47 Anthropologische Definitionen führen die Überzeugungskraft von Sprichwörtern daher nicht auf ihre formalen und inhaltlichen Eigenschaften zurück, sondern allein auf ihr Alter. Wer ein Sprichwort verwendet, greift auf ein Wissen zurück, das sowohl der eigenen Rede als auch dem Verständnis des Empfängers vorgängig ist und das er lediglich auf den Kontext seiner Äußerung abstimmen muss. Zitiert wird nicht ein individueller Autor, sondern die linguistische Gemeinschaft: «Proverbs convince because they are preformed and inventoried in linguistic and cultural memory».48 Das Sprichwort ist also, wenn es zitiert wird, bereits im kulturellen Gedächtnis verankert, während ein Aphorismus in der Regel neu hervorgebracht wird – und im Gegensatz zum Sprichwort einen klar identifizierbaren Autor hat. Sobald ein Aphorismus im mündlichen Gebrauch häufig zitiert wird, ist er zum Sprichwort geworden. Eine weitere rhetorische Eigenschaft, die viele Aphorismen und Sprichwörter verbindet, ist ihr Verhüllungseffekt. Während Aphorismen häufig bewusst änigmatisch formuliert sind, um im Leser einen Denkprozess hervorzurufen, dient die Verwendung von Sprichwörtern bisweilen dazu, über den Bildgehalt des Sprichwortes indirekt etwas auszudrücken, das man nicht direkt zu sagen wagt.49 Wie noch zu zeigen sein wird, ist diese Opazität von sowohl Aphorismen als auch Sprichwörtern im Hinblick auf eine Poetik der Archipelisierung, in die sich Sprichwort und Aphorismus in interkulturellen Kontexten einschreiben, von besonderer Bedeutung, da sie ermöglicht, ein kulturelles Wissen vor denjenigen zu verbergen, die nicht dieselbe Kultur teilen50 und es so vor einer hegemonialen Vereinnahmung zu schützen.
dem Anschein, der Meinung oder der Praxis angepaßt ist.» Roland Barthes: Über mich selbst. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch, München: Matthes&Seitz 1978, S. 51.] Für einen Überblick über die Verwendung des Begriffs im Werk von Roland Barthes siehe Anne Herschberg Pierrot: Barthes and Doxa. In: Poetics Today 23, 3 (2002), S. 427–442. 46 Gerhard Neumann: Einleitung, S. 8. 47 Vgl. Adélékè Adéèkó: Proverbs, Textuality, and Nativism in African Literature. Gainesville/ Tallahassee u. a.: University Press of Florida 1998, S. 36. 48 Ebda., S. 31. 49 Vgl. Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 81. 50 Vgl. Clément Mbom: Edouard Glissant, de l’opacité à la relation. In: Jacques Chevrier (Hg.): Poétique d’Edouard Glissant. Paris: Presses de l’Université de Paris-Sorbonne 1999, S. 245–254, hier S. 247.
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Linguistische Merkmale Eine vergleichende linguistische Betrachtung von Sprichwort und Aphorismus macht deutlich, dass die beiden Spruchgattungen strukturelle Merkmale teilen, während sie sich semantisch und pragmatisch häufig stark unterscheiden. Als Unterscheidungskriterium zwischen ‹Aphorismus› und ‹Sprichwort› wird oft die Sprachverwendung genannt: Das Sprichwort bediene sich einer einfachen, alltäglichen, der Aphorismus einer elaborierten Sprache. Jolles wendet gegen diese Auffassung ein, dass «die Sprache des Sprichwortes» so sei, «daß alle seine Teile einzeln, in ihrer Bedeutung, in ihren syntaktischen und stilistischen Bindungen, in ihrer klanglichen Bewegung in Abwehr gegen jede Verallgemeinerung und jede Abstraktion stehen».51 Das Sprichwort hebt sich demnach durch seine stilistische Dichte gerade von der Alltagssprache ab und wird dadurch im diskursiven Kontext vom Hörer als Sprichwort erkannt, auch wenn es ihm nicht geläufig ist. Eine enge strukturelle Verbindung zwischen Aphorismus und Sprichwort sieht Fricke, wenn er einräumt, dass sich Sprichwörter von Aphorismen nach reinen Textmerkmalen kaum unterscheiden ließen.52 Sie teilten stilistische Figuren wie Assonanz, Wortspiel, Parallelismus, Anapher, Epipher, Gegensatztechnik, scheinbare Unlogik und Paradoxie, Ironie und Satire.53 Als häufige gemeinsame Strukturmerkmale sind der Identitätssatz (A ist B) und imperativische Formen und Handlungsempfehlungen («Man muss …», «Es ist nicht gut …», «Es ist notwendig …» etc.) zu nennen. Betrachtet man die Stilmittel von Ironie und Satire aus pragmatischer Sicht, so lässt sich feststellen, dass das Sprichwort solche Effekte im Gegensatz zum Aphorismus erst in der jeweiligen Verwendungssituation entfaltet, wenn es beispielsweise eine konkrete Handlung treffend entlarvt. Semantisch gesehen enthält das Sprichwort also einen doppelten, wenn nicht dreifachen Sinn: Den wörtlichen, den übertragenen und den pragmatischen Sinn, der sich aus der jeweiligen Verwendungssituation ergibt. Dies wird vor allem im zweiten Analyseteil deutlich werden, wenn ein zitierter Sinnspruch, wie etwa in Guimarães Rosas Roman Grande Sertão, in einen Widerspruch zu seinem fiktionalen Verwendungskontext tritt.
51 André Jolles: Einfache Formen, S. 167. 52 Vgl. Harald Fricke: Aphorismus, S. 23. 53 Vgl. für das Sprichwort Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 56.
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Soziologische und anthropologische Aspekte Aufgrund der Bedeutung, die dem Sprichwort in der alltäglichen Kommunikation zukommt, wurde ihm vonseiten der Soziologie und Anthropologie große Aufmerksamkeit entgegengebracht. Ein Teil des Interesses konzentriert sich dabei auf die Benutzer von Sprichwörtern: Soziologische Untersuchungen haben ergeben, dass Sprichwörter von älteren Menschen weitaus häufiger benutzt werden als von jüngeren.54 Den Befund, dass das Sprichwort hier «als Ausdruck von Lebensweisheit und Lebenserfahrung»55 fungiert, hat auch Javier Perucho im Hinblick auf den Aphorismus formuliert: «El aforismo es el género por excelencia de la madurez tanto del hombre como del literato, la oración de los escritores veteres; se trata de una expresión de sabiduría que condensa los saberes de una vida».56 Auch wenn geistige Reife nicht unbedingt mit hohem Lebensalter gleichzusetzen ist,57 setzt das Schreiben von Aphorismen eine geistige Reife im Sinne der Fähigkeit zur Abstraktion einer Summe von Erfahrungen voraus. Dasselbe gilt für das Sprichwort: Gerade in den außereuropäischen Kontexten, die hier von Belang sind, konservieren ältere Menschen ein mündlich tradiertes Wissen, das sie in Form von Sprichwörtern an die nächste Generation weitergeben (vgl. Kap. 5.2 und 6.1). Hat man die häufigere Verwendung von Sprichwörtern durch ältere Menschen erfolgreich nachgewiesen, so haben sich Versuche, den unterschiedlich häufigen Gebrauch von Sprichwörtern auf verschiedene Bildungsniveaus zurückzuführen, als unzulänglich herausgestellt. Angehörige sowohl weniger gebildeter als auch gebildeter Gesellschaftsschichten verwenden relativ häufig Sprichwörter.58 Der Gebrauch von Sprichwörtern ist also weniger diastratisch gebunden als
54 Das Sprichwort scheint unter jüngeren Generationen in unterschiedlichen Kulturen je unterschiedlich präsent zu sein. So stellt Sánchez Boudy im Vorwort zu seiner Sammlung kubanischer Sprichwörter (2000) fest, dass das Sprichwort in Kuba und unter in den USA lebenden Kubanern in allen Generationen Verwendung findet. Vgl. José Sánchez-Boudy: Diccionario de refranes populares cubanos. Miami, FL: Universal 2000, S. 10. 55 Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 78. 56 Javier Perucho: Escrituras privadas, lecturas públicas: El aforismo en México. In: Lejana. Revista Crítica de Narrativa Breve. 2011 (3, 1–12), S. 11, Hervorhebung im Original. «Der Aphorismus ist das Genre par excellence der Reife des Menschen wie auch des Literaten, das Gebet der veteres; es handelt sich um einen Ausdruck der Weisheit, der das Wissen eines ganzen Lebens verdichtet.» (Eigene Übersetzung). 57 Maximilian von Habsburg etwa, der zeitweise Kaiser von Mexiko war, schrieb einen Teil seiner Aphorismen im Alter von 19 Jahren; auch heutzutage schreiben immer mehr jüngere Autorinnen und Autoren Aphorismen, wie etwa in Mexiko Amaranta Caballero Prado oder in Mauritius Umar Timol. 58 Vgl. Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 79.
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derjenige von Aphorismen: Während Sprichwörter gewissermaßen zum Grundbestand einer Kultur zählen und somit in allen Gesellschaftsschichten verbreitet sind, beschränkt sich das Zitieren und Äußern von Aphorismen in der Regel auf die Bildungsschicht. Sprichwort und Aphorismus nehmen also keinen komplementären Sitz im Leben ein, sondern unterscheiden sich vielmehr durch ihren Verbreitungsgrad. Dies widerspricht dem Topos vom Sprichwort als Teil einer volkstümlichen Weisheit, der sich vor allem durch die ethnographischen Sprichwörtersammlungen seit Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Die kubanische Ethnologin und Schriftstellerin Lydia Cabrera etwa, auf deren Sammlung Refranes de Negros Viejos59 noch ausführlicher zurückzukommen sein wird (Kap. 3.1.4), ordnet das Sprichwort einer «sabiduría popular» zu – «sabiduría primitiva, antepasada y después pariente pobre y callejera de la filosofía».60 Als tendenzieller Unterschied zwischen den beiden Spruchgattungen wären also die Anonymität und mündliche Überlieferung des Sprichwortes, und die Literarizität, d. h. die eigenschöpferische Entstehung des Aphorismus festzuhalten. Im Gegensatz zum Sprichwort formuliert der Aphorismus gerade nicht eine allgemein akzeptierte Auffassung, sondern einen originellen und häufig polemischen Gedanken.61 Beide Spruchformen sind mit einer kreativen Sprachverwendung verbunden. Während diese im Falle des Sprichwortes jedoch in der Anwendung besteht, ist der Aphorismus an sich Ergebnis eines kreativen Aktes, der sich folglich durch semantische Autosuffizienz62 auszeichnet. Was die beiden Spruchgattungen verbindet, ist ihr von Jolles postulierter empirischer Ursprung: Aphorismus wie Sprichwort kondensieren Erfahrungen zu einem prägnanten Text. Es handelt sich, in der Metaphorik von Fricke63 gesprochen, um einen «Torso», ein um die Einzelerfahrung amputiertes Gebilde, das der Hörer bzw. Leser um seine eigene Erfahrung ergänzt. Die Abstraktion, die sich aus dem Zusammenfassen einer Summe von Erfahrungen oder Beobachtungen ergibt, lässt eine Leerstelle offen, die eine aktive Beteiligung des Hörers bzw. Lesers erfordert. Dieser vervollständigt den Inhalt des geäußerten Spruchs je nach pragmatischem Zusammenhang unterschiedlich: Während er die konkrete Bedeutung des Sprichwortes in der Regel aus dem unmittelbaren Zusammenhang eines alltagsbezogenen Äußerungskontextes ableitet, erschließt sich
59 Lydia Cabrera: Refranes de negros viejos. Miami: Colección de Chicherekú 1969. 60 Ebda., o. S. «Weisheit des Volkes, eine primitive Weisheit, eine Weisheit von gestern, später eine arme und streunende Verwandte der Philosophie.» (Eigene Übersetzung). 61 Vgl. Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 5. 62 Vgl. Carles Besa Camprubí: Formes brèves: Maxime, aphorisme, proverbe, S. 8. 63 Harald Fricke: Aphorismus, S. 8.
1.3 Der Sinnspruch als Gattung und Diskurselement
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ihm der Sinn des Aphorismus aus einem literarisch-intellektuellen Erfahrungshorizont. Hat das Sprichwort seinen Ort überwiegend in der Alltagskommunikation, so ist der Aphorismus vorwiegend in Zusammenhängen der literarischen Kommunikation zu finden. Aus diesen unterschiedlichen sozialen Kontexten heraus lassen sich die verschiedenen formalen Tendenzen von Aphorismus und Sprichwort begreifen.
1.3 Der Sinnspruch als Gattung und Diskurselement Dem Sinnspruch wohnt eine doppelte Bewegung inne: Abstrahiert sein Autor von einer Summe von Beobachtungen und Erfahrungen, so vollführt sein Rezipient – sei dies der Leser eines Aphorismus oder die Person, die ein Sprichwort äußert bzw. hört – eine Rückkoppelung an den eigenen spezifischen Erfahrungsund Beobachtungshorizont. Dieses Hin und Her zwischen Verallgemeinerung und partikularer Anwendung situiert den Sinnspruch zwischen den beiden archipelagischen Eigenschaften der Isolation und der Relation. Die Bewegung der Abstraktion löst den Sinnspruch aus seinem Erfahrungskontext heraus und verwandelt ihn in eine vorübergehend freischwebende Aussage. Gerade dieser isolierte Zustand macht ihn dann wieder auf andere individuelle Erfahrungskontexte anwendbar und lässt ihn eine Verbindung mit ihnen eingehen. Dies verdeutlicht, warum der Sinnspruch sowohl isoliert als auch eingebunden in einen spezifischen Zusammenhang verständlich ist. Dennoch erscheint er nie allein, sondern stets in Verbindung mit anderen Texten, entweder zusammen mit weiteren Sinnsprüchen (Aphorismen und Sprichwörtersammlungen) oder in andere mündliche und schriftliche Zusammenhänge eingebunden: Der Sinnspruch bildet ein beliebtes Diskurselement in den unterschiedlichsten Text- und Mediengattungen. Er taucht in rituellen Reden afrikanischer Gesellschaften, den so genannten palabres, genauso auf wie in Romanen, Kurzgeschichten oder Dramen. Und steht er allein, etwa auf einer Dekorationstafel oder als Graffito, dann prägt der materielle Träger seine Bedeutung maßgeblich mit. Wenn etwa das alte spanische Sprichwort «No por mucho madrugar amanece más temprano»64 als Graffito an einer Wand im chilenischen Valparaíso erscheint (s. Titelbild), dann warnt es weniger vor überstürztem oder allzu eifrigem Handeln, sondern richtet sich vielmehr gegen eine kapitalistische Arbeitsmoral.
64 Im Deutschen lautet die am Ehesten zutreffende Übersetzung wohl «Eile mit Weile» (wörtlich: «Wie früh man auch aufsteht, es wird deswegen nicht schneller hell.»)
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1 Der Sinnspruch als transkulturelle kleine Form
Die hybride Stellung des Sinnspruchs zwischen Gattung und Diskurselement trifft sowohl auf das Sprichwort als auch auf den Aphorismus und seine Ausprägungen zu. Noch während sich der literarische Aphorismus im Umfeld der französischen Moralisten als eigenständige künstlerische Gattung etabliert, wird sie bereits in andere Gattungen entlehnt: Die Zeitgenossen von La Rochefoucauld griffen die Maximen, die in den Salons zirkulierten, auf und flochten sie in ihre Werke ein, so etwa Madame de Lafayette in ihrem Roman La Princesse de Clèves.65 Dabei handelt es sich zunächst eher um Zitate als um eine eigenständige Nachahmung der von La Rochefoucauld begründeten Gattung. Erst in späteren Werken, vor allem in französischen Romanen des 19. Jahrhunderts, z. B. in Balzacs Comédie humaine, betten die jeweiligen Autoren selbst komponierte Maximen in einen narrativen Kontext ein, von dem sie sich durch ihren gnomischen Charakter deutlich abheben. Beispielsweise lehnte Balzac die Inhalte der klassischen Moralistik zwar ab, bediente sich aber ihrer Methoden,66 indem er Maximen in seine Romane einfließen ließ. Diente die klassische Moralistik der Ausbildung von Menschenkenntnis im geselligen Umfeld des Hofes (vgl. Kap. 2.2), so verfolgte die Variante der Moralistik im 19. Jahrhundert das Ziel der Einschätzung von Menschen in einer anonymen Welt, in der das Gegenüber nur in Ausschnitten wahrgenommen werden konnte, und in der sich ein Individuum auch nur in Ausschnitten zeigen durfte, wie es Madame de Beauséant in Balzacs Père Goriot in einer Maxime formuliert: «Notre cœur est un trésor, videz-le d’un coup, vous êtes ruinés. Nous ne pardonnons pas plus à un sentiment de s’être montré tout entier qu’à un homme de ne pas avoir un sou à lui».67 In den Roman eingeschobene Genres gelten seit Bachtin als Teil einer gattungskonstitutiven Redevielfalt.68 Damit können auch Sinnsprüche in den Roman aufgenommen werden, ohne «dort ihre konstruktive Elastizität und
65 So hallt im Aphorismus «ce qui paraît n’est presque jamais la vérité» (Madame de Lafayette: La Princesse de Clèves, S. 71) [«der äußere Schein entspricht fast nie der Wahrheit». (Eigene Übersetzung)], der häufig als Schlüssel zum Verständnis von La Princesse de Clèves betrachtet wird, die Quintessenz von La Rochefoucaulds Maximen wider. 66 Vgl. Pierre Barbéris: Le Père Goriot de Balzac. Écriture, structures, significations. Paris: Larousse 1972, S. 149. 67 Honoré de Balzac: Le Père Goriot. Paris: Gallimard 2000 [1842], S. 114. «Unser Herz ist ein Schatz, wenn man ihn auf einmal leert, so ist man ruiniert. Wir vergeben es einem Gefühl so wenig, sich nackt gezeigt zu haben, wie einem Mann, wenn er keinen Pfennig besitzt.» Honoré de Balzac: Vater Goriot. Deutsch von Rosa Schapire, Zürich: Diogenes 1998, S. 102. 68 Michail M. Bachtin: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Berlin u. a.: Aufbau-Verlag 1986, S. 147–149.
1.3 Der Sinnspruch als Gattung und Diskurselement
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Selbständigkeit sowie ihre sprachliche und stilistische Eigenart»69 zu verlieren. Wie am Beispiel von João Guimarães Rosa, Simone Schwarz-Bart und Ahmadou Kourouma deutlich werden wird, lassen sich Sinnsprüche im Roman häufig nicht einer bestimmten Variante zuordnen. Erscheinen sie also als Diskurselement, gehen mit dem Verlust ihrer Eigenständigkeit als Gattung auch Informationen verloren, die eine Zuordnung zu einer bestimmten Untergattung wie Sprichwort oder Aphorismus ermöglichen. Dabei können Sinnsprüche sowohl intentional, z. B. in Form von gedanklichen Aussprüchen des Autors (etwa aus dem Mund einer Figur oder als Erzählerkommentar), als auch «frei von Autorintentionen»70 formuliert werden. Im letzten Fall werden diskursive Teile des Gesamttextes vom Leser als Sinnsprüche erkannt, weil sie nicht an den zeitlichen und räumlichen Parametern der Erzählung teilnehmen oder weil sie sich durch einen höheren Allgemeinheitsgrad von ihrem Kotext abheben.71 In bestimmten Gattungen, wie z. B. der Fabel oder dem Emblem, gilt die Einbindung des Sinnspruchs als Gattungsmerkmal. So steht am Ende von Fabeln häufig ein Weisheitsspruch, der sicherstellen soll, dass der Leser die durch die Fabel zu vermittelnde Lehre erfasst.72 Solche Konstellationen finden sich sowohl in europäischen als auch außereuropäischen Literaturen. In Aimé Césaires Theaterstück Une saison au Congo73 etwa, das an späterer Stelle ausführlicher besprochen wird, erzählt einer der Protagonisten eine Geschichte (une histoire), die er mit einer Maxime abschließt. MOKUTU Puisque tu m’interroges, je te répondrai par une histoire. LUMUMBA Je déteste les histoires. MOKUTU C’est pour aller vite. A onze ans, je chassais avec mon grand-père. Brusquement, je me trouvai nez à nez avec un léopard. Affolé, je lui lance mon javelot et le blesse. Fureur de
69 Michail M. Bachtin: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans, S. 147. 70 Ebda. 71 Silvia Reuvekamp etwa hat die Einbindung von Sinnsprüchen am Beispiel des höfischen Romans untersucht. Silvia Reuvekamp: Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans. Berlin: De Gruyter 2007. 72 Zum Verhältnis von Sprichwort und Fabel vgl. ausführlich die Beiträge in Pack Carnes: Proverbia in Fabula. Essays on the Relationship of the Fable and the Proverb. Bern u. a.: Peter Lang 1988. 73 Aimé Césaire: Une saison au Congo. Paris: Éditions de Seuil 1973. Im Folgenden abgekürzt mit USAC.
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mon grand-père. Je dus aller récupérer l’arme. Ce jour-là, j’ai compris une fois pour toutes que l’on ne doit pas attaquer une bête, si on n’est pas sûr de la tuer. (USAC 33)74
Mit der Erzählung und der daraus gezogenen Lehre warnt der Politiker Mokutu seinen Gegenspieler, den kongolesischen Präsidenten Lumumba, sich mit ihm, seinem Feind, anzulegen, ohne die vollständige Sicherheit zu haben, ihn besiegen zu können. Mokutu leitet von seinem Kindheitserlebnis einen Lehrsatz ab, den sein Gegenüber nun auf seine spezifische Situation anwenden soll. Hier ist der Sinnspruch gleich zweifach intermedial eingebettet, nämlich in eine Erzählung, die wiederum Teil eines dramatischen Dialogs75 bildet. Im Drama findet der Sinnspruch zahlreiche Verwendungsmöglichkeiten (vgl. Kap. 4.2). Bereits im Drama der Antike werden Sentenzen eingesetzt, etwa zur indirekten Figurencharakterisierung, zur Markierung formaler Einheiten, zur Unterstützung der Argumentation in Konfliktsituationen oder zur Kommentierung des dramatischen Geschehens durch den Chor.76 Ihren Höhepunkt findet die dramatische Verwendung von Sinnsprüchen in der Stychomythie der Klassik und des 19. Jahrhunderts, einer aus Sentenzen bestehenden Wechselrede, in der der Sinnspruch zum Instrument eines schnellen und meist erregten verbalen Schlagabtauschs wird.77 Eine deutliche Ausprägung als argumentative Strategie erhält der Sinnspruch in Brechts Drama, das «nicht von der Handlung, sondern von der Sentenz her organisiert»78 ist. Darüber hinaus stellt der
74 «MOKUTU: Da du mich fragst, werde ich Dir mit einer Geschichte antworten. / LUMUMBA: Ich hasse Geschichten. / MOKUTU: Dann mache ich es kurz. Mit elf Jahren war ich mit meinem Großvater einmal auf der Jagd. Plötzlich sah ich mich einem Leoparden gegenüberstehen. Von Panik ergriffen werfe ich mit meinem Speer nach ihm und verletze ihn. Dann die Wut meines Großvaters. Ich musste die Waffe zurückholen. An diesem Tag habe ich ein für alle Mal verstanden, dass man ein wildes Tier nicht angreifen soll, wenn man sich nicht sicher ist, es auch zu töten.» (Eigene Übersetzung). Die deutsche Übersetzerin Monika Kind streicht diesen Dialog und lässt dafür den ihm vorangehenden Beschwerdemonolog Mokutus mit einem anderen Sprichwort enden: «Ein Sprichwort in meinem Dorfe sagt, das Glück ist ein Kamel. Was also tut der umsichtige Mann? Er wartet ruhig, bis das müde Tier sich niederläßt, und dann, hopp, hinauf!» Aimé Césaire: Im Kongo. Ein Stück über Patrick Lumumba. Übertragen von Monika Kind, Berlin: Klaus Wagenbach 1966, S. 35. 75 Beispiele aus dem kamerunesischen Volkstheater finden sich in Alain C. Pangop Kameni: Rire des crises postcoloniales. Le discours intermédiatique du théâtre comique populaire et la fictionnalisation de la politique linguistique au Cameroun. Münster: Lit. 2009, S. 124–126. 76 Jan Stenger: Poetische Argumentation: Die Funktion der Gnomik in den Epinikien des Bakchylides. Berlin/New York: De Gruyter 2008, S. 17–20. 77 Jacques Scherer: La dramaturgie classique en France. Paris: Nizet 1977, S. 25. 78 Hans Kaufmann: Bertolt Brecht – Geschichtsdrama und Parabelstück. Berlin: Rütten & Loening 1962, S. 160.
1.3 Der Sinnspruch als Gattung und Diskurselement
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Sinnspruch einen Bezug zum Publikum her,79 indem er die Erfahrung der fiktionalen Figuren auf eine abstrakte Ebene hebt, auf der die fingierte Erfahrung mit der realen Erfahrung des Zuschauers zusammentrifft. Die Fähigkeit des Sinnspruchs, Erfahrung und Beobachtung aus ihrem individuellen bzw. fiktionalen Kontext zu lösen und dadurch auf den spezifischen Kontext des Rezipienten anwendbar zu machen, lässt ihn zu einem beliebten Ausdrucksmittel in Kommunikationsmedien wie Film, Fernsehen und Presse werden. Ob in einer Wochenzeitung oder einer telenovela80, die kommunikative Funktion des Sinnspruchs «besteht im Stützen oder Unterstreichen der eigenen Meinung, Argumentationen können im Sprichwort kulminieren oder durch ein Sprichwort abgeschlossen werden, die inhaltliche Funktion von Sprichwörtern kann explizierend oder verhüllend, präzisierend oder verallgemeinernd, besonders aber auch intensivierend sein».81 In Pressetexten finden sich Sprichwörter daher häufig in hervorgehobenen Positionen, etwa als Artikel- oder Zwischenüberschriften sowie am Anfang oder am Ende eines Abschnitts als nachträgliche oder vorweggenommene Zusammenfassung, aber auch im fortlaufenden Text.82 Ähnlich wie über Pressetexte erreicht der Sinnspruch eine breite Masse von Rezipienten auch über Lieder, die die Einprägsamkeit schlagkräftiger Äußerungen durch Melodie und Rhythmus unterstützen. So ist etwa der Sinnspruch «petite hachette coupe gros bois» (TM 31), den Simone Schwarz-Bart in ihrem Roman Pluie et vent sur Télumée Miracle (vgl. Kap. 5.2) zitiert, eine Übersetzung des englischen Sprichwortes «Small axe cut great tree», das durch ein Lied von Bob Marley bekannt geworden ist83 und über das Schwarz-Bart ihren Roman in einen gesamtkaribischen Kontext einschreibt. Etwas komplexer gestaltet sich das Verhältnis zwischen Sinnspruch und Lyrik. Auch wenn weitgehend Konsens darüber besteht, dass der Aphorismus eine Prosagattung sei, ist seine Nähe zum Gedicht nicht von der Hand zu weisen.
79 Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Information und Synthese. München: Fink 1997, S. 121. 80 Für portugiesische bzw. brasilianische Beispiele siehe Gabriela Funk/Matthias Funk: Dicionário Prático de Provérbios Portugueses: Objectivos e Metodologia. In: Paremia 18 (2009), S. 43–51. 81 Christine Hundt: Zur Verwendung von komplexen lexikalischen Einheiten im Text: Ein Vergleich zum Gebrauch von Sprichwörtern und Phraseolexemen in portugiesischen Pressetexten. In: Martin Hummel/Christina Ossenkop (Hg.): Lusitanica et Romanica. Festschrift für Dieter Woll zum 65. Geburtstag. Hamburg: Buske 1998, S. 177–194, S. 190. 82 Vgl. Ebda., S. 191. 83 «So if you are the big tree / We are the small axe / Ready to cut you down». Marley richtet sich in seinem Lied gegen die Macht einzelner Musikproduzenten, die in den 1970er Jahren das jamaikanische Musikgeschäft dominieren.
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Kurt Spang ordnet den Aphorismus wegen seines Hangs zur individualisierenden Ästhetisierung und seiner Fähigkeit der konzisen Kondensierung der Lyrik zu84. Diese Zuordnung ließe sich auch damit rechtfertigen, dass der Aphorismus sich in vielen Fällen formal kaum von anderen lyrischen Gattungen wie dem Epigramm oder dem Prosagedicht unterscheidet. Vielmehr lässt sich die Ausdifferenzierung der drei Gattungsbezeichnungen aus ihren unterschiedlichen historischen Entstehungskontexten heraus erklären. Während sich das Wort aforismos in der griechischen Antike auf einen (medizinischen) Lehrsatz oder einen Weisheitsspruch bezog,85 bezeichnete epigramma in Altgriechenland einen in Stein gemeißelten Text wie etwa eine Weih- oder Grabinschrift.86 Es sind also die unterschiedlichen materiellen Träger und medialen Kontexte, aus denen zwei unterschiedliche Gattungen hervorgehen, die sich jedoch, sobald sie sich von ihren ursprünglichen Kontexten lösen, kaum mehr voneinander unterscheiden lassen. So wird das Epigramm im Mittelalter gelegentlich mit dem Sinnspruch gleichgesetzt,87 eine Auffassung, die sich im englischen Sprachraum teilweise bis heute gehalten hat.88 Der Begriff des Prosagedichts, dessen französische Bezeichnung poème en prose im frühen 18. Jahrhundert für «ein nicht (streng) versifiziertes Epos oder auch für den Roman»89 verwendet wurde, entsteht erst viel später. Die Nähe des Prosagedichts zum Roman verdeutlicht die Existenz eines Übergangsbereichs zwischen Lyrik und Prosa, in dem sich auch der Aphorismus situieren lässt, und der im Modernismus und den aus ihm hervorgehenden Entwicklungslinien eine programmatische Funktion erhält (siehe Kap. 2.4.3). Die hier nur grob skizzierten Beispiele deuten die Vielfalt von Verwendungsweisen des Sinnspruchs als Diskurselement in den unterschiedlichsten Textgattungen und Medien sowie seine Überschneidungen mit anderen Gattungen an. Die Beispiele zur Verwendung von Sinnsprüchen in Pressetexten und Liedern verweisen zudem darauf, dass sich der Bekanntheitsgrad eines Sprichwortes gerade über seine Einbindung in einen anderen diskursiven Kontext erhöhen kann, was wiederum die Fortsetzung seiner Überlieferung sichert.
84 Kurt Spang: Géneros literarios. In: Miguel Á. Garrido Gallardo (Hg.): El lenguaje literario. Vocabulario crítico. Madrid: Síntesis 2009, S. 1213–1344, hier S. 1249–1251. 85 Vgl. Dieter Lamping: Aphorismus, S. 17. 86 Vgl. Daniel Frey: Epigramm. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart: Kröner 2009, S. 186–197, S. 186. 87 Vgl. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner 2001, S. 222. 88 Vgl. Daniel Frey: Epigramm, S. 187. 89 Wolfgang Bunzel: Prosagedicht. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart: Kröner 2009, S. 587–592, hier S. 587.
1.3 Der Sinnspruch als Gattung und Diskurselement
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Insgesamt lässt sich im Hinblick auf die Analysen dieser Studie festzuhalten: Ein translingualer und transkultureller Vergleich von Sinnsprüchen macht in besonderem Maße deutlich, dass Gattungsbegriffe an die Alltagssprache verwiesen sind und ihre einzelnen Ausprägungen zunächst intuitiv durch das Feststellen von Ähnlichkeiten erkannt werden. Von dieser unsystematischen Grundlage ausgehend lassen sich dann unter Einbeziehung des jeweiligen Verwendungskontextes gemeinsame Funktionen ähnlicher Ausdrucksformen, aber auch Prozesse der Adaption und Transformation beschreiben. Die Auswahl der Texte, die das vorliegende Korpus bilden, wurde daher auf der Grundlage einer basalen Kategorie getroffen, die die beiden Forschungstraditionen zum Aphorismus und Sprichwort zusammenführt. Der Sinnspruch bildet so ein Gattungsarchipel, in dem unterschiedliche Textproduktionen durch ein Netz von Ähnlichkeiten miteinander verbunden sind, und dessen Ränder hin zu anderen Gattungsarchipelen offen sind. Diese Öffnung äußert sich einerseits darin, dass der Sinnspruch in einem Kontinuum mit anderen Gattungen wie etwa dem Gedicht oder der Kürzesterzählung steht. Andererseits fügt sich der Sinnspruch als Diskurselement in andere Gattungen ein und erfüllt dort unterschiedliche rhetorische, strukturelle, anthropologische und ideologische Funktionen, denen der zweite Teil dieser Studie gewidmet ist. Im sich nun anschließenden Teil soll der Sinnspruch als eigenständige Gattung im Fokus stehen, die sich in Sammlungen von Sprichwörtern und Aphorismen konstituiert. Dabei werden literarische, soziale und anthropologische Kontexte vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart aufgezeigt, die den Sinnspruch zwischen Volkssprache und gehobener Literatur, zwischen Lebenspraxis und Autonomie der Kunst und schließlich zwischen ethnographischer Dokumentation und kultureller Selbstbehauptung situieren.
Teil I: Aphorismen- und Sprichwörtersammlungen
2 Kleine Formen zwischen Lebenspraxis und künstlerischer Autonomie Die sich teilweise überschneidende Geschichte von Aphorismus und Sprichwort ist eng mit unterschiedlichen historischen und kulturellen Ausprägungen des Zusammenhangs von Kunst und Lebenspraxis verbunden. So hat der moderne Aphorismus seit der Herausbildung von Kunst als eigenständigem System, die in Europa in der Frühen Neuzeit einsetzt und im 19. Jahrhundert ihren Abschluss findet, seinen Hauptsitz in der literarischen Kommunikation. Dies bedeutet, dass seine Produktion und Rezeption individuell vollzogen werden. Demgegenüber werden Sprichwörter überwiegend in kollektiven Produktions- und Rezeptionszusammenhängen verwendet, und wo dies nicht der Fall ist, werden sie häufig eingesetzt, um Anwesenheit bzw. mündliche Kommunikation zu fingieren oder zu imitieren. Allerdings macht sich in der (post-kolonialen) Aphorismenproduktion des 20. Jahrhunderts eine Tendenz bemerkbar, die verstärkt lebenspraktische Elemente in Aphorismen einfließen lässt und sie dadurch dem Sprichwort annähert. Der Begriff der Lebenspraxis ist in unterschiedlichen Zusammenhängen theoretisiert worden. Peter Bürger begreift Lebenspraxis in seiner Theorie der Avantgarde (1974) als einen der ästhetischen Erfahrung diametral gegenüberstehenden Weltbezug, der nicht auf einem spezialisierten, sondern auf einem breit geteilten Wissen beruht. Während die Kunst des Hochmittelalters und der Frühen Neuzeit in sakralen oder geselligen und damit in kollektiven Zusammenhängen rezipiert wurde, so werden in der bürgerlichen Kunst Produktion und Rezeption des in der Kunst artikulierten Selbstverständnisses […] nicht mehr mit der Lebenspraxis verknüpft. […] Nicht nur die Produktion, auch die Rezeption wird jetzt individuell vollzogen. Einsame Versenkung in das Werk ist der adäquate Modus der Aneignung von Gebilden, die der Lebenspraxis des Bürgers entrückt sind, wenngleich sie noch den Anspruch erheben, diese zu deuten.1
Die Avantgarden, so Bürger, kritisieren die Institution Kunst als eine von der Lebenspraxis der Menschen abgehobene»2 und streben in Abgrenzung zum bürgerlichen Verständnis eine Versöhnung von Kunst und Lebenspraxis an. Dies bedeutet nicht, dass der Inhalt der Kunstwerke gesellschaftlich bedeutsam sein soll, sondern dass ausgehend von der Dekonstruktion der bürgerlichen Kunst eine neue
1 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 64–65. 2 Ebda., S. 66. https://doi.org/10.1515/9783110639483-003
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2 Kleine Formen zwischen Lebenspraxis und künstlerischer Autonomie
Lebenspraxis organisiert werden soll, die das Kunstwerk wieder in kollektive Rezeptionszusammenhänge einbettet (s. Kap. 2.4.2). Ein weiterer Bezugspunkt für eine Konzeptionalisierung der Lebenspraxis sind Michel de Certeaus arts de faire. Die «Kunst des Handelns» umfasst fragmentarische und auf Gelegenheiten ausgerichtete Alltagspraktiken wie Lesen, Sprechen, Gehen, Wohnen oder Kochen, die sich einem offiziellen Überwachungsapparat, der durch Medien und Bildungseinrichtungen repräsentiert wird, entziehen. Zentrales Merkmal dieser Praktiken ist, dass sie sich den dominanten Repräsentationen nicht widersetzen, sondern sie sich zu eigen machen, indem sie sie im Hinblick auf ihre eigenen Zwecke umcodieren. Sprichwörter sind eine populärkulturelle Ausdrucksform solcher Taktiken. Certeau unterscheidet den Alltagsgebrauch von Sprichwörtern von den ethnographischen Sprichwörtersammlungen, die aus der Notwendigkeit wissenschaftlicher Analyse heraus sprichwörtliche Aussagen aus ihrem historischen Alltagszusammenhang, ihrer «historicité cotidienne» herauslösen. Comme les outils, les proverbes, ou autres discours, sont marqués par des usages; ils présentent à l’analyse les empreintes d’actes ou de procès d’énonciation; ils signifient les opérations dont ils ont été l’objet, opérations relatives à des situations et envisageable comme des modalisations conjoncturelles de l’énoncé ou de la pratique; plus largement, ils indiquent donc une historicité sociale dans laquelle les sytèmes de représentation ou les procédés de fabrication n’apparaissent plus seulement comme des cadres normatifs mais comme des outils manipulés par des utlisateurs.3
Sprichwörter weisen also auch nach Certeau ein gewisses Widerstandspotenzial auf, richten sich jedoch, anders als der Aphorismus, nicht explizit gegen herrschende Denkordnungen, sondern unterlaufen dominante Darstellungssysteme. Sprichwörter hinterfragen nicht Denkordnungen an sich, sondern vielmehr die Verfahren und Modalitäten ihrer Darstellung. In diesem Sinne teilen sie mit dem Avantgardekunstwerk die Eigenschaft, gesellschaftliche Bedeutung nicht
3 Michel de Certeau: L’invention du quotidien I: Arts de faire. Paris: Gallimard 1990, S. 39–40, Hervorhebung im Original. «Sprichwörter oder andere Diskurse sind genauso wie Werkzeuge durch den Gebrauch gekennzeichnet; sie bieten der Analyse Abdrücke von Handlungen oder von Sprechvorgängen; sie bezeichnen die Operationen, deren Gegenstand sie gewesen sind, also Operationen, die von den Umständen abhängig sind und die als jeweilige Modalisierungen der Aussage und der Praxis betrachtet werden können; im weitesten Sinne verweisen sie also auf eine gesellschaftliche Geschichtlichkeit, in der die Vorstellungssysteme oder die Fabrikationsprozesse nicht mehr nur als ein normativer Rahmen erscheinen, sondern als Werkzeuge, die von denen, die sie gebrauchen, gehandhabt, manipuliert werden.» Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 64–65.
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in erster Linie über ihren Inhalt, sondern über ihren Aussage- und Rezeptionskontext zu transportieren. Dieser Gebrauchskontext bleibt dem Sprichwort nach Certeau auch dann noch eingeschrieben, wenn es aus ihm herausgelöst und in eine museale Darstellungsform gebracht wird. In eine ähnliche Richtung argumentiert Ottmar Ette, wenn er den Begriff des «Lebenswissens» als «ein je spezifischer Modus von Lebensführung und Lebenspraxis» beschreibt, der sich stets selbst reflektiert und der «an spezifische Lebenserfahrungen, nie aber an eine einzige Logik zurückgebunden [ist]; vielmehr ist in diesem Begriff gerade die (Überlebens-)Fähigkeit enthalten, gemäß verschiedener Logiken zugleich denken und handeln zu können.»4 Diese Diversität des Lebenswissens sei etwa in den Aphorismen von Gracián in einem «Nebeneinander des Heterogenen»5 eingelöst, das sich in unterschiedlichen ideologischen Standpunkten, vor allem aber in der «Spannung von interessebedingtem und sittlichem Handeln»6 manifestiere (vgl. Kap. 2.2). Dass das Nebeneinander von strategischem Kalkül und ethischer Wertvorstellung aufrechterhalten werden kann, verdanke sich der Sprachform des Aphorismus, der «nicht dem Zwang der Kohärenz»7 unterliege. Während das Sprichwort eine dominante Logik umgeht, bringt der Aphorismus bei Gracián zwei ebenbürtige, aber widerstreitende soziale Logiken sprachlich miteinander in Einklang. Dies macht ihn im Spanien der Frühen Neuzeit als einer Epoche des epistemischen Umbruchs8 in besonderer Weise brauchbar: «Indem die Sprachform des Aphorismus vom diskursiven Zwang zur Beseitigung der Widersprüche entlastet ist, kann sie zum Medium von heterogener Erfahrung als besonderer Erfahrungsform von Übergangsepochen werden.»9 Auf der Grundlage dieser drei Annäherungen, die, mit der Ausnahme von Bürger, bereits einen expliziten Bezug zum Sinnspruch herstellen, lässt sich der Bezug zwischen Sinnspruch und Lebenspraxis wie folgt umreißen: Ein lebenspraktischer Bezug liegt dann vor, wenn der Sinnspruch in kollektiven sozialen Zusammenhängen rezipiert wird, ein kollektiv breit geteiltes Wissen formuliert oder die Spuren seines – häufig taktischen – (Alltags-)Gebrauchs in sich trägt. Die folgenden Unterkapitel zeichnen Züge einer Kulturgeschichte von
4 Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kadmos 2004, S. 21, Hervorhebung im Original. 5 Hans Sanders: Scharfsinn. Ein Trauma der Moderne: Gracián und La Rochefoucauld. In: Iberoamericana 37/38 (1989), S. 4–39. 6 Ottmar Ette: ÜberLebenswissen, S. 21. 7 Ebda., S. 20. 8 Vgl. Miriam Lay Brander: Raum-Zeiten im Umbruch. Erzählen und Zeigen im Sevilla der Frühen Neuzeit. Bielefeld: transcript 2011. 9 Ottmar Ette: ÜberLebenswissen, S. 21.
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2 Kleine Formen zwischen Lebenspraxis und künstlerischer Autonomie
Aphorismus und Sprichwort unter besonderer Berücksichtigung der französischund spanischsprachigen Ausprägungen nach, wobei das Augenmerk insbesondere auf Berührungspunkten und Auseinanderdriften der beiden Spruchgattungen liegt. Eine Annäherung, so soll gezeigt werden, findet vor allem dort statt, wo das Sprichwort Einzug in die literarische Kommunikation hält und wo der Aphorismus lebenspraktische Komponenten aufweist. Diese Verknüpfung des Sinnspruchs mit der Lebenspraxis kann unterschiedliche Formen annehmen, die von semi-kollektiven Produktions- und Rezeptionsformen über die Verwendung einer der Mündlichkeit angeglichenen Schriftsprache bis hin zur politischen Indienstnahme des Sinnspruchs reichen. In einem ersten Schritt werden überblicksartig Verwendungsweisen des Sprichwortes von der Antike bis zum 19. Jahrhundert aufgezeigt, die diese Gattung zwischen Volkssprache und gehobener Literatur situieren. Davon ausgeschlossen bleiben zunächst noch die ethnographischen Sprichwörtersammlungen, denen ein eigenes Kapitel (3.1.) gewidmet ist. Während das Sprichwort in Europa bis zum 17. Jahrhundert häufig als gelehrte Gattung auftritt und sich so teilweise mit dem Aphorismus überschneidet, bewegen sich beide Spruchgattungen seit der Literarisierung des Aphorismus durch La Rochefoucauld auseinander, bleiben jedoch zunächst weiterhin an je unterschiedliche lebenspraktische Kontexte gebunden. Die sich anschließenden Unterkapitel zeichnen anhand von ausgewählten Autorinnen und Autoren vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart nach, wie sich der Aphorismus, der bei den französischen Moralisten noch im kollektiven Kontext der höfischen Gesellschaft rezipiert wurde, im 18. Jahrhundert allmählich von gemeinschaftlichen Produktions- und Rezeptionszusammenhängen löst, um im 20. Jahrhundert auf einer anderen Ebene erneut lebenspraktische Züge anzunehmen. Ausgangspunkt bilden hierbei die Maximen La Rochefoucaulds, der die Gattung des Aphorismus maßgeblich geprägt hat und auch für zahlreiche außereuropäische Aphoristiker ein zentraler Bezugspunkt geblieben ist. Nach einem knapp gehaltenen Abriss der europäischen Aphoristik im 18. Jahrhundert und deren Bedeutung für die Herauslösung der Gattung aus dem gesellschaftlichen Kontext des Hofes wird sich die Perspektive nach Lateinamerika verschieben, wo sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine eigenständige Aphorismentradition herausgebildet hat. Da die lateinamerikanische Aphoristik im Hinblick auf post-koloniale Funktionsweisen des Sinnspruchs zentral ist, soll darauf der Schwerpunkt des Kapitels liegen, das zudem einen Seitenblick auf den aus Mauritius stammenden Aphoristiker Malcolm de Chazal wirft. Den Abschluss bildet die Betrachtung des aphoristischen Werks der neukaledonischen Schriftstellerin Déwé Gorodé, deren politisch motivierte Aphorismen ein besonders eindrückliches Beispiel für die Rückbindung der Gattung an die Lebenspraxis darstellen.
2.1 Das Sprichwort zwischen Volkssprache und Schriftkultur
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2.1 Das Sprichwort zwischen Volkssprache und Schriftkultur Sprichwort und Aphorismus begegnen sich vor allem dort, wo sich die Volkssprache mit einer gehobenen literarischen Sprache und das Mündliche mit dem Schriftlichen überschneiden. Während beide Stile im Deutschen tendenziell getrennt auftreten, durchkreuzen sich im Spanischen populäre und preziöse Elemente beständig, wie Werner Krauss in seiner Studie zum spanischen Sprichwort gezeigt hat.10 Versucht man jedoch – und dies gilt für beide Sprachen – die Herkunft von Sprichwörtern zu bestimmen, so stellt man fest, dass der gegenwärtige Sprichwörterschatz auf mündliche wie auf schriftliche, auf volkstümliche wie auf gelehrte Quellen zurückgeht. Obwohl der Ursprung eines Großteils der bekannten Sprichwörter in der vorliterarischen Zeit vermutet wird, lässt sich für zahlreiche Exemplare der Gattung ein literarischer Ursprung nachweisen:11 Sie waren ursprünglich von Dichtern verfasste Aphorismen, die durch häufige Verwendung in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind. Die meisten heute im romanischsprachigen Raum gebräuchlichen Sprichwörter sind Übersetzungen oder Veränderungen von Zitaten aus der Literatur der griechisch-römischen Antike, der Bibel und anderen religiösen Schriften – beispielsweise aus der hinduistischen und chinesischen Tradition12 – sowie aus Orakeln13 und Riten.14 Im afrikanischen Raum gehen darüber hinaus einige Sprichwörter auf die Lehren des senegalesischen Philosophen Kocc Barma Fall zurück, der im 16. und 17. Jahrhundert mehrere Herrscher der Kajor-Dynastie beriet und dessen vier bekannteste Maximen, die in der Chronik von Kajor zitiert werden, jedem Wolof als Sprichwörter bekannt sind.15 In Lateinamerika fließen, wenn auch in vergleichsweise geringer Anzahl, poetische und philosophische Fragmente aus den Literaturen
10 Werner Krauss: Die Welt im spanischen Sprichwort. Wiesbaden: Limes 1946, S. 87. 11 Vgl. Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 26. 12 Vgl. Dionisio Cabal Antillón: Refranero de uso costarricense. San José: DCabalA. 2009, S. 35–36. 13 Vgl. Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 27, und Teresa Concepción Alzola: Habla tradicional de Cuba, S. 19. 14 Siehe exemplarisch für Sprichwörter der in Kamerun, Äquatorialguinea und Gabun lebenden Ethnie Ndowé Enenge A’Bodjedi: Ndowé Proverbs and Tales. In: Afro-Hispanic Review 28, 2 (2009), S. 365–378. 15 Vgl. Tanor Latsoukabé Fall: Receuil sur la vie des Damel. In: Bulletin de l’Institut fondamental d’Afrique noire 1 (1974), S. 98–146, hier S. 109, sowie Werner Glinga: Literatur in Senegal. Geschichte, Mythos und gesellschaftliches Ideal in der oralen und schriftlichen Literatur. Berlin: Reimer 1990, S. 174–176.
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der indigenen Bevölkerung in den überwiegend aus Europa übernommenen Sprichwörter-Bestand ein.16 Zu diesen schriftlichen Überlieferungen zählen religiöse Schriften wie der Popol Vuh, der Chilam Balam von Chumayel oder die Anales de los Xanil.17 In Lateinamerika wie in Europa, aber auch im Fall von Kocc Barma, dient die Schrift der mündlichen Überlieferung als Brücke: Mündlich tradierte, teilweise aus vorliterarischer Zeit stammende Sprichwörter werden in der Antike und im Mittelalter bzw. in Lateinamerika und Afrika in der präkolonialen Zeit gesammelt und schriftlich festgehalten, um dann wieder in den mündlichen Sprachgebrauch überzugehen. In der europäischen Antike nahmen viele griechische Philosophen und Dichter in ihre Werke volkstümliche Sprichwörter auf, die dann in den lateinischen Sprichwörtersammlungen des Mittelalters und der Renaissance, aber auch von den Philologen des 19. Jahrhunderts kompiliert wurden.18 Das «volksläufige», d. h. im Volksmund umlaufende Sprichwort19 war in der Antike also durchaus mit einer gehobenen Literatursprache kompatibel20 und wurde ihr im Mittelalter sogar zugeordnet, da man den volkstümlichen Ursprung von Sprichwörtern verkannte.21 Demgegenüber schätzten die spanischen Vulgärhumanisten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts diese Spruchformen gerade wegen ihrer Herkunft als «Quellen einer natürlichen Offenbarung»22. Die Vulgärhumanisten erkannten im Sprichwort archaische sprachliche Muster und maßen ihm deshalb eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung des spanischen Sprachbewusstseins bei. Der rein sammlerischen Tätigkeit schloss sich somit ein theoretisches Interesse am Sprichwort an,23 das sich nicht mehr nur auf die antiken Sprichwörter erstreckte, sondern auch auf diejenigen, die in die Volkssprachen aufgenommen oder aus diesen heraus entstanden waren.24 Hinter dieser Aufmerksamkeit, die dem Sprichwort von den Vulgärhumanisten entgegengebracht wurde, stand ein Glaube an den Modellcharakter «des
16 Vgl. Dionisio Cabal Antillón: Refranero de uso costarricense, S. 52–54. Dies erklärt die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung auch mit einer europäischen Geschichte des Sprichwortes, um seine verschiedenen Ausprägungen in kolonialen und post-kolonialen Kontexten zumindest teilweise nachvollziehen zu können. 17 Ebda., S. 52. 18 Vgl. Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 28. 19 Friedrich Seiler: Deutsche Sprichwörterkunde. München: Beck 1967 [1922], S. 2. 20 Vgl. Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 29. 21 Vgl. Werner Krauss: Die Welt im spanischen Sprichwort, S. 60. 22 Ebda., S. 60. 23 Vgl. Susanne Schmarje: Das sprichwörtliche Material in den Essais von Montaigne. New York/Berlin: De Gruyter 1973, S. 23. 24 Ebda.
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ursprünglichen und naturhaft verwurzelten Menschen»25 – ein Gedanke, den die Aufklärung im Konzept des ‹edlen Wilden› aufgreifen würde. Während sich die spanischen Vulgärhumanisten den Sprichwörtern volkstümlichen Ursprungs, den so genannten refranes, zuwandten, kompilierte Erasmus von Rotterdam in seiner 1500 erstmals erschienenen gelehrten Sammlung Adagia über 4000 Sprichwörter gelehrter Herkunft und bestimmte ihren antiken Ursprung.26 In der Sprichwortdefinition, die er im Vorwort zugrunde legt, führt Erasmus die seit Jahrhunderten bestehenden Begriffe «Sententia» («ein kurzer, weiser, unbildlicher Satz») und «Parabola» («ein kurzer, weiser, bildlicher Satz»)27 als zwei Variationen des Sprichwortes in dem Begriff «Proverbium» zusammen,28 d. h. er betrachtete das Sprichwort als gelehrten Satz, der bildlich sein konnte, dies aber nicht notgedungen sein musste.29 Galt das Interesse Erasmus’ ausschließlich gelehrten Varianten des Sprichwortes, so vereint die 1568 erschienene Philosophia vulgar, wie Juan de Mal Lara seine reich kommentierte Sprichwörtersammlung betitelte, tausend refranes. Diese würdigt der Autor als Quellen einer volkstümlichen Weisheit, die einem schriftlich tradierten Wissen wegen ihres Alters überlegen sei. Während die mittelalterlichen Sammlungen also noch nicht zwischen gelehrten und volkstümlichen Ausprägungen des Sprichwortes unterschieden, bildeten sich im Spanien der Renaissance zwei Typen der Gattung heraus: der refrán, dem ein volkstümlicher Ursprung zugesprochen wurde und das proverbio, das Erasmus zur gelehrten Gattung erhob. Neben seiner Bedeutung in Sprachgeschichte und Philosophie nahm das Sprichwort in der Frühen Neuzeit sowohl in Spanien als auch in Frankreich einen zentralen Platz in der literarischen Überlieferung ein. Diese Tendenz steht
25 Werner Krauss: Die Welt im spanischen Sprichwort, S. 60–61. 26 Vgl. Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 29. 27 Susanne Schmarje: Das sprichwörtliche Material in den Essais von Montaigne, S. 19, meine Hervorhebung. 28 Ebda., S. 21. 29 In Portugal findet die Rezeption der Adagia von Erasmus vor allem über zwei Texte statt: Juan Lorenzo Palmireno lässt in sein auf einem Lehrer-Schüler-Dialog basierendes Werk De vera & facile imitatione Ciceronis (1560) zahlreiche Sprichwörter in spanischer, katalanischer und lateinischer Sprache einfließen, wobei die lateinischen Sprichwörter von Erasmus stammen. Ein anderes Adaptionsverfahren wendet Jerónimo Cardoso an, wenn er in seinem lateinisch-portugiesischen Wörterbuch (posthum 1570) zahlreiche Einträge mit lateinischen Sinnsprüchen illustriert, die den Adagia entstammen. Vgl. Germán Colón Domènech: Los Adagia de Erasmo en español (Lorenzo Palmireno, 1560) y en portugués (Jerónimo Cardoso, 1570). In: Revista de Filología Española 84, 1 (2004), S. 5.
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im Zusammenhang einer generellen Vorliebe für kleine Formen in der Renaissance, wie Frank Lestringant in Anlehnung an Michel Jeanneret30 formuliert: Die gesamte Epoche zeichnet sich in ihren künstlerischen und literarischen Hervorbringungen durch Zersplitterung aus. […] Im Gegensatz zu dem von weltumfassender Geltung besessenen Mittelalter schätzt die Renaissance die kleinen Einheiten, die Sinnsprüche oder den bruchstückhaften Dialog mehr als den formvollendeten Traktat, sucht sie das Detail in der Malerei, die Singularität in den Naturwissenschaften, die Abweichung, das Ungeheuerliche, das ‹Wundersame› in der Anthropologie und Geschichte.31
Das Sprichwort fügt sich in diesen Kontext nicht nur wegen seiner Kürze ein, sondern auch, weil es als das volkstümliche ‹Andere› die gelehrte Aufmerksamkeit auf sich zog. In Frankreich erreichte die literarische Verarbeitung des Sprichwortes ihren Höhepunkt bei Rabelais,32 in Spanien durchdrang es bald alle Gattungen der kastilischen Dichtung33 und kulminierte schließlich in Cervantesʼ Figur des Sancho Panza. Durch ihn ist das Sprichwort laut Werner Krauss «die Verkörperung der Denk- und Lebensform eines universalen menschlichen Typus geworden.»34 Allerdings kippte hier der literarische Erfolg des Sprichwortes in seine ironische Dekonstruktion: Sprach aus Sancho Panza bereits eine Geringschätzung der filosofía vulgar, so brandmarkten Quevedo und Gracián das Sprichwort als abgegriffenes Sprachgut, das gerade wegen seines vulgären Charakters zu verachten sei.35 Auch im Frankreich des 17. Jahrhunderts stand die Herabwürdigung des Sprichwortes im Zeichen einer allgemeinen Abneigung
30 Michel Jeanneret: Le défi des signes. Rabelais et la crise de l’interprétation à la Renaissance. Orléans: Paradigme 1994, S. 57–59. 31 Frank Lestringant: Die Erfindung des Raums. Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance. Hg. von Jörg Dünne. Bielefeld: transcript 2012, S. 15. 32 Vgl. Susanne Schmarje: Das sprichwörtliche Material in den Essais von Montaigne, S. 25. 33 Vgl. Werner Krauss: Die Welt im spanischen Sprichwort, S. 57–58. Besonders häufig erscheinen Sprichwörter seit dem Siglo de Oro in Dramentiteln, etwa bei Tirso de Molina oder Lope de Vega, bei denen die auf Sprichwörtern basierenden Titel mehr als ein Viertel ihrer Stücke ausmachen. Vgl. Walter Mettmann: Spruchweisheit und Sprachdichtung in der spanischen und katalanischen Literatur des Mittelalters, S. 166. So speist sich der Titel des Stücks El perro del hortelano (1618) aus dem Sprichwort «El perro del hortelano no come ni deja comer» (wörtlich: «Der Hund des Gemüsegärtners frisst nicht und lässt auch niemanden fressen», eigene Übersetzung) und nimmt Bezug auf die Gräfin Diana, die sowohl sich selbst als auch die sie umgebenden Personen verdrießt. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: ‹Eine› Geschichte der spanischen Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 383. Das bis heute verwendete Sprichwort ist auch in den ehemaligen spanischen Kolonien verbreitet. Vgl. Concepción Teresa Alzola: Habla tradicional de Cuba, S. 62, n.291. 34 Werner Krauss: Die Welt im spanischen Sprichwort, S. 61. 35 Vgl. ebda., S. 62.
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gegenüber volkstümlichen Ausdrucksweisen. Diese Verachtung schlug teilweise um in jenen übertrieben preziösen Stil, von dem sich Molière in seinen Femmes savantes ironisch distanzierte.36 Die Abkehr vom Sprichwort im 17. Jahrhundert ging in Spanien mit der Hinwendung zu gelehrten Varianten des Sinnspruchs in der Tradition des politischen Lehrsatzes des römischen Historikers und Senators Tacitus37 einher, etwa in Werken wie Pedro de Figueroas Avisos de Príncipes en aforismos políticos (1647) oder den Aforismos políticos (1680) von Antonio Pérez, der zeitweilig unter Philipp II. das Amt des Staatssekretärs bekleidete. In dieser Tradition steht auch das Oráculo manual y arte de prudencia (1647)38 des Jesuitenpaters Baltasar Gracián, der bemüht war, die dort verfassten Aphorismen von ihren volkstümlichen Verwandten, den refranes, abzugrenzen. Dies klingt in Aphorismen wie En nada vulgar (OM 117–118) an, in denen Gracián diejenigen kritisiert, die mit ihrer Weisheit das gemeine Volk zu beeindrucken suchten, statt sich ausschließlich an eine gebildete Minderheit zu richten. Vor allem aber formuliert er seine Abneigung dem Vulgären gegenüber in einer seitenlangen Schmährede auf die refranes in seinem Roman El Criticón.39 Dort bemängelt Gracián die Situationsbedingtheit des volkstümlichen Sprichwortes, obwohl sich auch die Urteile in seinen eigenen Aphorismen auf konkrete Situationen beziehen. Werner Krauss löst diesen Widerspruch dahingehend auf, dass aus seiner Sicht gerade die formale Nähe von Sprichwort und Aphorismus Gracián zu einer seitenlangen Verurteilung der refranes veranlasst habe, da er sich gezwungen gesehen habe, eine «kritische Scheidewand»40 zwischen den beiden Gattungen aufzurichten, um sein aphoristisches Werk vom Verdacht des Vulgären zu befreien. Auch wenn Graciáns Aphorismen nicht weniger situationsbezogen sind als die von ihm verachteten refranes, so unterscheidet sich der gesellschaftliche Kontext, aus dem die beiden Spruchformen hervorgehen und den sie adressieren: Die höfische Gesellschaft, an die Gracián seine Aphorismen richtet, verlangt
36 Vgl. Susanne Schmarje: Das sprichwörtliche Material in den Essais von Montaigne, S. 25–26. 37 Wie Jürgen Stackelberg gezeigt hat, erfährt der Begriff des Aphorismus, der sich bisher auf die Lehrsätze des Hippokrates bezogen hatte, hier eine Übertragung vom medizinischen auf den politisch-moralistischen Bereich. Jürgen von Stackelberg: Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes ‘Aphorismus›. In: Gerhard Neumann (Hg.): Der Aphorismus: Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1976, S. 209–225, hier S. 210. Vgl. dazu auch Wolfgang Lasinger: Aphoristik und Intertextualität bei Baltasar Gracián. Eine Strukturanalyse mit subjektgeschichtlichem Ausblick. Tübingen: Narr 2000. 38 Baltasar Gracián: Oráculo manual y arte de prudencia. Madrid: Cátedra 2011 [1647]. Im Folgenden abgekürzt mit OM. 39 Baltasar Gracián: El Criticón III. Madrid: Espasa-Calpe 1971 [1651], S. 162–169. 40 Werner Krauss: Graciáns Lebenslehre. Frankfurt am Main: Klostermann 1947, S. 37.
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nach anderen Themen und Stilmitteln als die Alltagswelt des Volkes. Aus diesem je spezifischen ‹Sitz im Leben› in der Frühen Neuzeit lassen sich die unterschiedlichen Entwicklungen von Sprichwort und Aphorismus mit ihren eigentümlichen inhaltlichen und formalen Tendenzen erklären. Während der Aphorismus zu einer paradoxalen Struktur neigt, die einen Gedanken nicht abschließt, sondern erst in Gang bringt, entnimmt das Sprichwort seine Themen und rhetorischen Figuren dem zumindest scheinbar runden System einer vielfach erprobten Alltagspraxis und erhält dadurch seine tendenziell geschlossene Struktur. In Lateinamerika wurde das spanische Sprichwort zu einem Zeitpunkt rezipiert, zu dem es auf der iberischen Halbinsel bereits aus der gehobenen Literatur verbannt worden war. Die mexikanische Nonne Sor Juana Inés de la Cruz etwa fügte in ihr lyrisches Werk, das in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts erschien, neben gelehrten Sinnsprüchen auch Sprichwörter volkstümlichen Ursprungs ein41 und gestand ihnen dadurch denjenigen Platz in der Literatur zu, den sie in Spanien seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verloren hatten. Trotz der Verachtung, die dem Sprichwort teilweise entgegengebracht wurde, genoss es in gelehrten und geselligen Kreisen weiterhin Beliebtheit. Dies äußerte sich in Spanien in der Veröffentlichung zahlreicher Sprichwörtersammlungen und in Frankreich in bis ins 19. Jahrhundert hinein praktizierten Gesellschaftsspielen, bei denen die Teilnehmer in einer kleinen Theaterszene ein zu erratendes Sprichwort darstellten (proverbe dramatique) oder sich so weit wie möglich in sprichwörtlichen Wendungen unterhielten (jeu des proverbes).42 Während die Auseinandersetzung mit dem Sprichwort in Frankreich seit dem 17. Jahrhundert also weniger in der Literatur stattfand, sondern vielmehr eine spielerische Form annahm,43 blieb es in Spanien tief im philosophisch-literarischen Gedankengut verankert. Dies sei, so Krauss symptomatisch für den spanischen Nationalcharakter, der im Aufrechterhalten einer durch Christentum und Feudalismus geprägten mittelalterlichen Auffassung wurzle. Dieser universale Geist des Mittealters sei nicht nur in der Form des Sprichwortes, sondern auch im Inhalt zahlreicher
41 Vgl. Herón Pérez Martínez: Refrán viejo nunca miente. Zamora: Colegio de Michoacán 1993, S. 80–81. 42 Susanne Schmarje: Das sprichwörtliche Material in den Essais von Montaigne, S. 26, Hervorhebungen im Original. 43 Der Hang zum spielerischen Einsatz von Sprichwörtern in Frankreich äußert sich auch in der weit verbreiteten populären Gattung der Sprichwort-Predigt, in der «Zitatensucht und Binsenweisheit der Kanzelredner» parodiert werden. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1970, S. 426–427. Aber auch in ernst gemeinten Predigten setzte man Sprichwörter gern zur Auflockerung ein. Vgl. Walter Mettmann: Spruchweisheit und Sprachdichtung in der spanischen und katalanischen Literatur des Mittelalters, S. 184.
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Sprichwörter zu erkennen. Während die französischen Sprichwörter häufig «voller Verachtung für das Volk»44 seien, drücke sich in den spanischen Sprichwörtern eine mittelalterliche Lebensform aus, die sich, meist aus dem Blickwinkel des freien Bauern formuliert, gegen die Unterdrückung durch das feudalistische Herrentum richteten. Das Sprichwort wird für Krauss im Spanischen also zum Ausdruck einer Kampfstellung, die im Mittelalter in einem unterdrückten Widerstand gegen die feudale Hegemonie bestand. Dieses kritische Potenzial im Hinblick auf eine dominante Schicht ließ das spanische Sprichwort auch in der Frühen Neuzeit erkennen, wenn es die bisweilen zweifelhafte Lebensführung des Klerus anprangerte.45 Generell transportiert das spanische Sprichwort für Krauss eine Grundhaltung des Misstrauens, die in enger Verbindung mit kollektiven, lebenspraktischen Zusammenhängen steht. Es wurzle in einer äußersten Wachsamkeit gegenüber alltäglichen Dingen und in der «Bereitschaft, aus jedem Erleben Erfahrungen zu bilden.»46 Trotz seiner gesellschaftskritischen Züge blieb das Sprichwort in der Frühen Neuzeit von der Zensur verschont: Sein opaker Charakter, den es seiner häufig bildlichen Sprache verdankt, ermöglichte eine Grenzüberschreitung, ohne dass diese explizit als solche markiert war. Dadurch stellt das Sprichwort eine Alltagspraxis im Sinne Michel de Certeaus dar: Es nutzt die Spielräume einer dominanten Ordnung, indem es sich ihr vermeintlich zwar unterstellt, sie dabei aber hintergründig umgeht.47 Diesen taktischen Charakter wird das Sprichwort in kolonialen und postkolonialen Kontexten in veränderter Form entfalten. In Frankreich erfüllte das Sprichwort neben seiner spielerischen Funktion in den jeux de proverbes noch einen didaktischen Zweck mit ebenfalls sozialem Charakter: Wie die deutschen Sprichwörtersammlungen standen auch die französischen im 17. Jahrhundert im Dienste einer allgemeinen Spracherziehung, die eine «Zivilisierung der Mündlichkeit»48 zum Ziel hatte. Dem lesenden und vorlesenden Volk wurden über die Sprichwörtersammlungen die Lehren einer «Sprach-Regelung und Sprech-Zensur»49 vermittelt, die einen Teil der neuen gesellschaftlichen Kommunikationsnorm bildeten.50 Das Sprichwort entwickelte sich also zum Vehikel einer zivilisierten Mündlichkeit, die das Volkstümliche
44 Werner Krauss: Die Welt im spanischen Sprichwort, S. 64. 45 Vgl. ebda., S. 67. 46 Ebda., S. 66. 47 Vgl. Michel de Certeau: L’invention du quotidien I. 48 Rudolf Schenda: Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 23. 49 Rudolf Schenda: Von Mund zu Ohr, S. 30. 50 Ebda. S. 27.
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gesellschaftstauglich machen sollte. Daher fehlen Sprichwörter auch in den Almanachen und Kalendern des 18. und 19. Jahrhunderts nicht, die in Frankreich und Deutschland von der adligen über die arrivierte bürgerliche Dame bis hin zur Landbevölkerung ein breites Publikum erreichten.51 Auch in Lateinamerika und der Karibik fand die europäische Modegattung des Almanachs Anklang und animierte zu imitativen und produktiven Rezeptionsformen, wie etwa dem Almanach Royal d’Hayti52 oder dem in Mexiko verbreiteten Calendario de Galván. Überdies nahm das Sprichwort im 19. Jahrhundert auch in Mexiko eine didaktische Funktion an: In den politischen Richtungskämpfen nach der Unabhängigkeit war die kleine Form Teil eines erzieherischen Programms. Der Schriftsteller und Journalist José Joaquín Fernández de Lizardi etwa versah seine Romane mit Sprichwörtern und instruktiven Anekdoten, um die ungebildete Bevölkerung anzusprechen und zum Lesen zu bewegen.53 Sein Zeitgenosse Francisco Zarco verwendete feuilletonistische Kleingattungen wie refranes, caracteres, estampas oder cuadros, die er in der von ihm herausgegebenen liberalen Zeitschrift El siglo Diez y Nueve sowie weiteren von ihm mitgeprägten Presseorganen veröffentlichte. Solche typenhaften Darstellungen dienten dazu, dem politischen und gesellschaftlichen Verfall des vulgo entgegenzuwirken und ihn neu auf verloren gegangene Werte wie Frömmigkeit, Patriotismus und Bildung zu verpflichten.54 In den Almanachen gesellt sich das Sprichwort zu zahlreichen weiteren Gattungen, die einen herrschenden Publikumsgeschmack bedienen; so z. B. «medizinische Rezepte, land- und hauswirtschaftliche Ratschläge, moralische und erbauliche Geschichten, Anekdoten […], Gedichte und Lieder, Abenteuer-,
51 Vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch, S. 279–287. Siehe außerdem Susanne Greilich: Französischsprachige Volksalmanache des 18. und 19. Jahrhunderts. Strukturen, Wandlungen, intertextuelle Bezüge. Heidelberg: Winter 2004, Hans-Jürgen Lüsebrink/York-Gothard Mix: Französische Almanachkultur im deutschen Sprachraum (1700–1815). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, sowie York-Gothard Mix: Die Almanach- und Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: Harrassowitz 1996. 52 P. Roux: Almanach royal d’Hayti, pour l’année 1815. Sans-Souci. Archiviert im Schomburg Center for Research in Black Culture: Imprimerie Royale 1815. 53 Vgl. María Rosa Palazón Mayoral: José Joaquín Fernández de Lizardi. Pionero e idealista. In: Belem Clark de Lara/Elisa Speckman Guerra u. a. (Hg.): La república de las letras. Asomos a la cultura escrita del México decimonónico. Volumen III. Galería de escritores, Mexiko D.F.: UNAM, Casa de las Humanidades 2005, S. 37–51, hier S. 39. 54 Vgl. Karl Hölz: Mexiko im 19. Jahrhundert. In: Michael Rössner (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 137–149, hier S. 141 sowie Silvestre Villegas Revueltas: La experiencia literaria en Francisco Zarco. In: Belem Clark de Lara, Elisa Speckman Guerra u. a. (Hg.): La república de las letras. Asomos a la cultura escrita del México decimonónico. Volumen III. Galería de escritores. Mexiko D.F.: UNAM, Casa de las Humanidades 2005, S. 301–317, hier S. 313.
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Mord- und Schauergeschichten, Berichte von Exekutionen und Unglücksfällen, Reiseschilderungen, Sagen und Schwänke, historische Abhandlungen.»55 Der Almanach des traditions populaires (1983) etwa enthält einen Abschnitt «Proverbes créoles de la Guyane française», in dem zehn Sprichwörter in kreolischer Sprache und französischer Übersetzung aufgelistet sind. In den Volksalmanachen vom Typ Messager boiteux tauchen Sinnsprüche überwiegend zwischen den Lunaisons (Vorhersagen der Erscheinungen des Mondes) oder in einer Spalte neben ihnen auf, entweder in Form von allgemeinen Weisheitssprüchen (z. B. «Le sage règle ses desirs selon les evenements»56) oder in Form von Bauernregeln (z. B. «Lune rouge en se levant annonce le vent»57), die häufig eine Versform aufweisen und von Bildern begleitet sind. Anstelle von einfachen Lehrsätzen oder Sprichwörtern enthalten einige Almanache auch Aphorismen, so etwa der Grand Almanach Liégois de Mathieu Laensberg, wo sich im Jahr 1912 in der Rubrik «Pour rire» folgende Sinnsprüche finden: «Le travail qui fournit le nécessaire, la philosophie qui enseigne à se passer du superflu, voilà les véritables richesses.»58 Oder: «La tendresse est comme le café, une fois refroidie, elle ne se réchauffe point sans perdre de sa saveur.»59 Aus der Sicht von Erica Martínez Cabrera leiten die Almanache des 19. Jahrhunderts eine Zweiteilung des Sinnspruchs ein, die sich bis in die Gegenwart gehalten hat: Zum einen befördern sie die schriftliche Verbreitung einer Masse von volkstümlichen Spruchweisheiten, zum anderen setzt sich die Veröffentlichung von gelehrten Aphorismensammlungen nach dem moralistischen Vorbild (siehe nachfolgendes Unterkapitel) fort.60 Die oben beschriebene Tatsache,
55 Rudolf Schenda: Volk ohne Buch, S. 285. 56 Zit. In Susanne Greilich: Französischsprachige Volksalmanache des 18. und 19. Jahrhunderts, S. 67. Wörtlich: «Der Weise richtet seine Wünsche nach den Ereignissen.» (Eigene Übersetzung). 57 Zit. n. Liliane Desponds: Messager boiteux. Trois siècles d’histoire au travers du terroir. Yens sur Morges: Éditions Cabédita 1996, S. 97. Wörtlich: «Wenn der Mond beim Aufgehen rot ist, kündigt er Regen an.» (Eigene Übersetzung). 58 Mathieu Laensberg: Grand almanach Liégeois de Mathieu Laensberg. Nancy: Crépin-Leblon 1913, S. 46. «Die Arbeit bringt das Nötige, die Philosophie lehrt, sich von Überflüssigem zu trennen – das sind die wahren Reichtümer. (Eigene Übersetzung). 59 «Zärtlichkeit ist wie Kaffee, einmal abgekühlt lässt sie sich nicht mehr aufwärmen, ohne ihren Geschmack zu verlieren.» (Eigene Übersetzung). Ebda., S. 57. In den Musenalmanachen, die sich an ein gebildetes Publikum wenden, findet man Sinnsprüche vorwiegend in epigrammatischer Form, so etwa im Almanach des Muses, in dem kurze Epigramme häufig als Lückenfüller am Ende einer Seite stehen. 60 Vgl. Erika Martínez Cabrera: El aforismo en castellano, tradición y vanguardia. In: Revista Letral: Revista Electrónica de Estudios Transatlánticos de Literatura 7 (2011), S. 30–38, hier S. 32–33. Als Nachfolger der Almanache können im Internet verbreitete elektronische Sammlungen von Sprichwörtern, Zitaten und Aphorismen betrachtet werden, die jedoch nicht nur,
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dass volkstümliche Spruchgattungen in der französischen Klassik aus dem philosophisch-literarischen Gedankengut verdrängt wurden, legt jedoch nahe, dass sich diese Abspaltung bereits im 17. Jahrhundert vollzog. Was das volkstümliche Sprichwort und den literarischen Aphorismus im 17. Jahrhundert allerdings noch verband, war ihr Bezug zur Lebenspraxis: Beide Gattungen wurden in sozialen Kontexten (re)produziert und rezipiert, auch wenn diese sich nicht berührten. Im folgenden Abschnitt soll mit der höfischen Gesellschaft eine Form der sozialen Integration im Vordergrund stehen, die eine genuin schriftliche Variante des Sinnspruchs beförderte und in ihr zugleich beschrieben wurde.
2.2 Gracián und La Rochefoucauld: Sitz in der höfischen Gesellschaft Der gesellige Umgang mit dem Sprichwort, der die in der französischen Klassik praktizierten jeux de proverbes kennzeichnet, lässt sich in anderer Form zeitgleich auch im Hinblick auf den Aphorismus beobachten. Im Umfeld der Moralisten gehörte das Verfassen, Lesen und Diskutieren von Aphorismen zu einem Gesellschaftsspiel, wie es sich in den literarischen Salons Frankreichs entfaltete. Diese meist von Damen geführten Zentren des kulturellen Austauschs bildeten ein Gegengewicht zur stark reglementierten Gesellschaft am Hof Ludwigs XIV., der den Geburtsadel in ein aufwändiges Hofzeremoniell einband, um ihn politisch unschädlich zu machen.61 Demgegenüber boten die privaten Salons, in dem sich die hohe Aristokratie mit der Bourgeoisie mischte, dem Erbadel einen Raum, in dem er seine intellektuellen Tätigkeiten frei entfalten konnte. Der Aphorismus der französischen Klassik wurde also in einem Umfeld kultiviert, das in einem kompensatorischen Verhältnis zum Hof stand und von seinen sozialen Mechanismen beeinflusst wurde. Eine der Triebkräfte, die das Verhalten in der höfischen Gesellschaft steuerten, war die ständige Sorge um die eigene «Stellung in der Rangordnung des höfischen Prestiges»62. Die Abhängigkeit von Höhergestellten in einer Hierarchie, deren Spitze der König bildete, spiegelte sich
wie die Almanache, einer breiten Masse zugänglich sind, sondern darüber hinaus verschiedene Formen der aktiven Beteiligung ermöglichen, die von der Verlinkung mit persönlichen Seiten bis hin zum eigenen Eintragen zitierter oder selbst verfasster Sinnsprüche reichen. Vgl. Miriam Lay Brander ‹¿Gracias a Twitter, reviven los aforismos?› – Las formas breves en Internet In: Meridional. Revista Chilena de Estudios Latinoamericanos 5 (2015a), S. 1–40. 61 Isabelle Chariatte: La Rochefoucauld et la culture mondaine. Portraits du cœur de l’homme. Paris: Classiques Garnier 2011, S. 65–88. 62 Ebda., S. 179.
2.2 Gracián und La Rochefoucauld: Sitz in der höfischen Gesellschaft
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in den Salons dahingehend wider, dass diese als Orte der sozialen Beziehungen, des Austauschs von Wissen und des literarischen Schaffens häufig den Ausgangspunkt für eine berufliche, insbesondere künstlerische Karriere bildeten. Das Bestreben, in der sozialen Rangordnung aufzusteigen oder eine erworbene günstige Stellung zu bewahren, verlangte nach einer Beobachtungsfähigkeit, die das Verhalten des anderen einzuschätzen vermochte, um das eigene Handeln und Sprechen danach auszurichten. Diese «Kunst der Menschenbeobachtung»63, die Norbert Elias dem höfischen Umfeld zuschreibt, ist umso wirklichkeitsnäher, als sie niemals darauf abgestellt ist, den einzelnen Menschen für sich allein zu betrachten, wie ein Wesen, das primär aus seinem Inneren die wesentlichen Gesetze und Züge empfängt. Man betrachtet vielmehr innerhalb der höfischen Welt das Individuum immer in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit, als Menschen in seiner Beziehung zu anderen. Auch hierin zeigt sich die totale Gesellschaftsverbundenheit der höfischen Menschen.64
Dieses gesellschaftliche Eingebundensein schlug sich in literarischen Formen der Menschenschilderung nieder, die die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdbeobachtung schulten. Neben Memoiren, Briefsammlungen und bestimmten Arten der Lyrik gehörte der Aphorismus zu denjenigen Literaturformen, die den Bedürfnissen und Erfordernissen der Salongesellschaft entsprachen. Die enge Verbindung zwischen Aphorismus und der Salonkultur des 17. Jahrhunderts konkretisiert sich in der Figur des François de La Rochefoucauld, dessen Réflexions ou sentences ou maximes bis heute weltweit als Referenzwerk des literarischen Aphorismus gelten. La Rochefoucaulds Maximen artikulieren ein pessimistisches Menschenbild, das vermutlich von seiner Konfrontation mit den Repräsentanten des absolutistischen Staates geprägt war65 – eine Erfahrung, die La Rochefoucauld mit seiner Klasse verband und die in der Fronde des Princes gegen den Kardinal Mazarin, an der sich auch La Rochefoucauld beteiligte, einen Höhepunkt erfuhr. Nachdem er seine militärischen und politischen Aktivitäten eingestellt hatte, frequentierte La Rochefoucauld mehrere Salons großer Damen, darunter Madame de Sablé, in deren Umfeld seine Maximen und Reflexionen entstanden. Briefkorrespondenzen zwischen La Rochefoucauld, Madame de Sablé, die selbst Maximen verfasste, und Jacques Esprit, ebenfalls Autor von Maximen, deuten darauf hin, dass die Produktion der Aphorismen dieser Gelehrten von einem ständigen Austausch begleitet war. Die Maximen zirkulierten in den Salons, wurden gelesen, kommentiert und ergänzt. La Rochefoucaulds
63 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 180. 64 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 180. 65 Vgl. Hans Sanders: Scharfsinn, S. 30–31.
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Maximen und Reflexionen sind also tief in der Gesprächskultur der Salons verankert. Heinz Schlaffer benennt den Zusammenhang zwischen Aphorismus und Konversation in der höfischen Gesellschaft der französischen Klassik konkreter, wenn er die Maximen La Rochefoucaulds als nachträgliche Niederschrift von Bonmots beschreibt, die dem mündlich wesentlich weniger versierten Autor im Salon nicht glücken wollten und damit als schriftliche Substitute einer misslungenen mündlichen Kommunikation betrachtet werden können.66 Unabhängig davon, ob man dieser These folgt oder nicht, ist davon auszugehen, dass der literarische Aphorismus nicht das Ergebnis einer Lust an intellektueller Beschäftigung war, der der Aphoristiker in der Zurückgezogenheit seiner Kammer nachgegangen wäre, sondern dass das (mündliche) Vorlesen und (schriftliche) Kommentieren von Aphorismen Teil der Lebenspraxis des Adels war und sich aus den Anforderungen des sozialen Zusammenlebens speiste. Die höfische Gesellschaft bildet auch das Umfeld jener Lebenserfahrung, die Gracián in den 300 Aphorismen seines Oráculo Manual de arte y prudencia ausschnitthaft zur Sprache bringt. Es gibt Hinweise darauf, dass La Rochefoucauld das Oráculo manual schon im Salon der Mme de Sablé gelesen hatte, bevor es 1684 in französischer Übersetzung erschien.67 Obwohl sich das Leben des Jesuitenpaters nicht wie bei La Rochefoucauld überwiegend im höfischen Umfeld abspielte, war er doch sowohl mit den literarischen Salons als auch mit dem Hof Kastiliens vertraut. So kam er in den tertulias des adligen Mäzens und Gelehrten Vincensio Juan de Lastanosa mit einer Reihe von kulturellen Größen in Kontakt und sein Amt als Beichtvater des Vizekönigs von Aragón verschaffte ihm Zutritt zur höfischen Welt in Zaragoza. Seine Aphorismen entstanden im Kontext einer bürgerlichen Gesellschaft, die dem Hof zwar kritisch gegenüberstand, die aber insofern weiterhin von ihm dominiert wurde, als sie seine kompetitiven Mechanismen übernahm.68 Der Übergang zwischen bürgerlicher und höfischer Gesellschaft war im Spanien zur Zeit Graciáns fließend. Die höfische Gesellschaft umfasste herrschaftliche und kirchliche Gruppen, die gemeinsam mit den oberen Verwaltungsschichten von einem Günstlingssystem profitieren, das von ihnen im Gegenzug Loyalität gegenüber der Monarchie verlangte. Der Erfolg des Einzelnen innerhalb dieses Systems hing von der diplomatischen Fähigkeit ab, sich vordergründig einem höher Gestellten zu unterwerfen, zugleich aber durch einen präzisen Einsatz von Sprache die eigenen Ziele – persönliche Gefälligkeiten,
66 Heinz Schlaffer: Aphorismus und Konversation. In: Merkur 50, 1996, S. 1114–1121. 67 Vgl. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 43. 68 Anthony J. Cascardi: The Subject of Modernity. Cambridge: Cambrige University Press 1992, S. 255.
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Erlangung des Adelsrechts, steuerliche und andere finanzielle Vorteile, politischer Einfluss, künstlerische Förderung, etc. – zu erreichen.69 Graciáns Oráculo manual zählt zu den im 17. Jahrhundert reihenweise erschienenen Ratgebern, die Anweisungen zu gelungenem Handeln in den Vorzimmern des spanischen Thronsaals gaben. Formal steht die Aphorismensammlung in der Tradition der tacitistischen Kommentare, deren Zweiteilung Gracián übernimmt. Im Gegensatz zu diesen Werken, die die politischen Lehrsätze des Tacitus zitieren und kommentieren, schafft Gracián jedoch seine eigenen Sentenzen oder zitiert Fragmente aus seinem Werk, um sie sodann zu erklären. Allein schon der Titel von Baltasar Graciáns Oráculo Manual de arte y prudencia, das Norbert Elias als «erste[s] Handbuch der höfischen Psychologie»70 bezeichnet hat, verweist auf den konkreten gesellschaftlichen Kontext, in den der literarische Aphorismus von Anfang an eingebunden war. Der Begriff «manual» bezieht sich zunächst auf einen materiellen Aspekt, nämlich das sehr kleine und handliche Format des Buches, das es für konkrete Gebrauchssituationen tauglich machte.71 Der zweite Teil des Titels, «arte y prudencia», hebt den Anweisungscharakter des Handbuches hervor, das Ratschläge zu gelungenem Verhalten in der höfischen Gesellschaft erteilen sollte.72 Der Erfolg dieses Verhaltens hing davon ab, inwieweit es dem Handelnden gelang, ein Gleichgewicht zwischen der Befolgung moralischer Werte und der Verwirklichung säkularer Interessen zu finden.73 Gracián verzichtet auf einen allzu lehrmeisterhaften Gestus, richtet sich sein Handbuch doch an Gelehrte («sabios», OM 97), die eigentlich keiner Belehrung bedürfen. Diese «pragmatische Aporie»74 löst Gracián unter anderem dadurch
69 Francisco J. Sánchez: An Early Bourgeois Literature in Golden Age Spain. Lazarillo de Tormes, Guzmán de Alfarache and Baltasar Gracián. Chapel Hill: University of North Carolina 2003, S. 105 u. S. 109. 70 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005[1976] (Band 2), S. 479 ff (Anm. 134). 71 Wolfgang Lasinger: Aphoristik und Intertextualität bei Baltasar Gracián, S. 35. 72 Ebda., S. 36. 73 Diese Rechtfertigung der Selbstbereicherung und des Scheins verträgt sich mit der religiösen Haltung des Jesuitenpaters insofern, als Gracián davon ausgeht, dass die primitiven Lebensinstinkte in eine höhere Ordnung eingebettet sind. Vgl. Werner Krauss: Graciáns Lebenslehre, S. 20–21. Die irdische Welt ist eine gefallene, in der die ewige Welt zwar Bezugspunkt bleibt, jedoch keine Orientierung bieten kann. Wenn nun das Leben eine «milicia […] del hombre contra la malicia del hombre» (OM 107–108) [«Kampf des Menschen gegen die Verschlagenheit des Menschen» (eigene Übersetzung)] ist, dann ist der Eigennutz als Strategie, um sich in einer verdorbenen Welt zu behaupten, legitim. 74 Wolfgang Lasinger: Aphoristik und Intertextualität bei Baltasar Gracián, S. 46.
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auf, dass er anstelle des Imperativs den Infinitiv wählt. Titel wie Escusar vitorias del patrón (OM 104), Tratar con quien se pueda aprender (OM 106) oder Saberse atemperar (OM 134)75 und die ihnen folgenden Anweisungen lösen den in Aussicht gestellten Anleitungscharakter zwar ein, destabilisieren ihn aber zugleich durch die Unbestimmtheit des Infinitivs.76 Dennoch steht für Gracián die praktische Anwendbarkeit im Vordergrund, was etwa dann deutlich wird, wenn er vor einer realitätsenthobenen Gelehrsamkeit warnt: Los mui sabios son fáciles de engañar, porque aunque saben lo extraordinario, ignoran lo ordinario del vivir, que es más preciso. La contemplación de las cosas sublimes no les da lugar para las manuales; […] ¿De qué sirve el saber si no es práctico? Y el saber vivir es hoy el verdadero saber.77 (OM 229)
Führt allzu ausgeprägte Gelehrsamkeit zu Alltagsuntauglichkeit, so darf das in Graciáns Aphorismen formulierte Lebenswissen andererseits nicht in den Bereich der filosofía vulgar abgleiten. Der Jesuitenpater ist stets bemüht, sich vom Volksgeschmack («aplauso común», «aliento vulgar», «necedad común», OM 116–117)78 abzugrenzen. Allerdings ist der Grat zwischen der Dummheit des Volkes und derjenigen des gelehrten Einzelgängers schmal, wenn Gracián davor warnt, eine Meinung zu vertreten, die vom breiten Konsens abweicht: «No condenar solo lo que a muchos agrada. Algo ai bueno, pues satisfaze a tantos; y, aunque no se explica, se goza. La singularidad siempre es odiosa […]. Lo que todos dizen, o es, o quiere ser»79 (OM 246, Hervorhebung im Original). Setzt Gracián die Meinung der Masse zu Beginn dieses Aphorismus als Maßstab, so schränkt er dies mit dem letzten Satz wieder ein. Was die Mehrheit behauptet, ist wahr – oder beansprucht eben nur, wahr zu sein. Graciáns Aphorismen entstehen an der Schnittstelle von Gelehrsamkeit und Alltagserfahrung. Dabei geht er davon aus, dass strategisches Kalkül und ein an ethischen Normen orientiertes Handeln miteinander vereinbar sind. Diesen
75 «Sich vor Siegen über Vorgesetzte hüten», «Mit dem Umgang pflegen, von dem man lernen kann», «Sich zu beherrschen wissen» (eigene Übersetzungen, wie auch die folgenden). 76 Wolfgang Lasinger: Aphoristik und Intertextualität bei Baltasar Gracián, S. 67. 77 «Die ganz Gelehrten sind leicht zu täuschen, denn obwohl sie das Außergewöhnliche wissen, wissen sie über das Leben nichts vom Gewöhnlichen, welches notwendiger ist. Die Betrachtung der sublimen Dinge eignet sich nicht für Handbücher; […] Wozu dient das Wissen, wenn es nicht praktisch ist? Und Wissen, wie man lebt, ist heute das wahre Wissen.» 78 «gemeine Zustimmung», «Gemüt des Volkes», «gemeine Narrheit». 79 «Nicht als einziger verurteilen was vielen gefällt. Es ist etwas Gutes daran, da es so viele befriedigt; und, auch wenn es unbegreiflich erscheint, findet man Gefallen daran. Die Einzigartigkeit ist immer verhasst […]. Was alle sagen ist entweder so oder will so sein.»
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Optimismus teilt La Rochefoucauld nicht. Seine Maximen zeigen die unüberwindbare Distanz zwischen gelebter Realität und ethischem Anspruch auf. So kommt er zu dem Schluss, dass das, was gemeinhin als Tugend betrachtet wird – etwa Freundschaft, Nächstenliebe, Loyalität oder Vertrauen80 – nichts anderes sei als eigennütziges Handeln, das darauf abziele, die Eigenliebe des Einzelnen zu befriedigen. «Nos vertus ne sont, le plus souvent, que des vices déguisés.»81 Doch nicht genug damit, dass La Rochefoucauld scheinbar altruistische Taten als eigennützig entlarvt. Weit schlimmer erscheint die Tatsache, dass der Mensch sein Handeln nicht rational reflektieren, geschweige denn selbst bestimmen kann. Denn seine Leidenschaften – «l’envie d’abaisser les autres», «l’amour de la gloire», «la crainte de la honte» und «le dessein de faire fortune»82– verdunkeln seinen Verstand: «L’esprit est toujours la dupe du cœur.»83, lautet eine seiner meistzitierten Maximen. Der entlarvende Gestus La Rochefoucaulds spiegelt sich in der häufig dualen Struktur der Maxime wider: Formeln wie A est B (A ist B) oder A n’est que B (A ist nichts anderes als B) verleihen der Maxime eine gewisse Geschlossenheit und lassen die in ihr gemachten Aussagen als universell gültig erscheinen. Anders als Graciáns Oráculo manual vermögen die Maximen La Rochefoucualds keine Anweisungen für gelungenes Handeln zu geben. Zu groß ist die Kluft zwischen der Erfahrungswelt des französischen Aristokraten und dem moralischen Anspruch, der sich in seinen Maximen als unerreichbar erweist. Doch auch wenn sie sich mit gesellschaftlichen Diagnosen begnügen, so kann deren Lektüre doch einen tiefen Einblick in soziale Mechanismen geben und damit die kommunikativen Kompetenzen des Lesers im gesellschaftlichen Umgang schulen. Das Menschenbild La Rochefoucaulds war nicht unwesentlich von der Theologie des Jansenismus beeinflusst. Es entstand damit auf einem religiösen Boden, der den Rückzug aus der Gesellschaft noch bis in die Frühe Neuzeit hinein als moralisches Ideal betrachtete.84 Der Jansenismus förderte in einer frühen Phase
80 Vgl. Miriam Lay Brander: Vertrauen als Ausnahmezustand. Die confiance in der französischen Salonkultur des 17. Jahrhunderts. In: Martin Kirschner/Thomas Pittrof (Hg.): Vertrauen. Regensburg: EOS 2018, S. 201–231. 81 François de La Rochefoucauld: Maximes et réfléxions diverses. Hg. von Jacques Truchet, Paris: Flammarion 1977 [1664], S. 45. «Unsere Tugenden sind meistens nur verkleidete Laster.» (Eigene Übersetzung). 82 «die Lust, andere herabzusetzen», «die Liebe zum Ruhm», «die Furcht vor der Scham», «die Absicht, reich zu werden» (Eigene Übersetzung). 83 Ebda., S. 54. «Der Verstand wird stets vom Herzen getäuscht.» François de La Rochefoucauld: Maximen und Reflexionen. Übertragung und Nachwort von Konrad Nussbächer, Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1948, S. 17. 84 Dieses Ideal teilten auch die Jesuiten, ungeachtet ihrer theologischen Uneinigkeiten mit den Jansenisten. Allerdings wurden zur Zeit des Schaffens von Gracián auch die Jesuiten «von
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eine christliche Tugendhaftigkeit, die vor allem darin bestand, Versuchungen zu widerstehen und die menschlichen Leidenschaften zu zügeln.85 Um dieses moralische Ziel zu erreichen, schlugen die Jansenisten ein Regime der Einsamkeit vor, wie es in weltlichen Zusammenhängen unüblich war. Wenn die Anhänger des Jansenismus den gesellschaftlichen Umgang mieden, auch auf einer intellektuellen Ebene, so pflegten sie die Einsamkeit als Voraussetzung, um die Erfahrungen des alltäglichen Lebens von ihrer geistlichen Bedeutung unterscheiden zu können und um für ewige Wahrheiten empfänglich zu sein. In einer späteren Phase allerdings trat der Jansenismus aus der Geschlossenheit seines Zentrums Port-Royal heraus in die politische und aristokratische Welt, wo er sich unter die Schirmherrschaft von Mitgliedern des hohen Adels stellte.86 Es versteht sich von selbst, dass diese trotz ihrer Sympathie für den Jansenismus nicht auf die Vorzüge des sozialen Lebens in den Salons verzichten wollten,87 sondern vielmehr einige Aspekte der jansenistischen Lehre aufgriffen und an ihr mondänes Umfeld anpassten. So übernahm La Rochefoucauld die auf Augustinus zurückgehende und vom Jansenismus aufgegriffene Prädestinationslehre, die den Menschen als fremdbestimmt betrachtete, ersetzte die göttliche Vorsehung jedoch durch die Kraft des amour-propre. Die Konzeption der jegliches Handeln bestimmenden Eigenliebe basierte auf einer Auffassung vom Menschen als sozialem Wesen. Motive wie Habgier, das Streben nach Macht und Ansehen oder Angst vor Beschämung, die für La Rochefoucauld die hauptsächlichen Symptome des amour-propre waren, richteten das Handeln des Menschen auf eine Gesellschaft aus, in der er Anerkennung zu finden suchte. La Rochefoucauld machte die jansenistische Lehre also mit seinen Maximen im wahrsten Sinne des Wortes salonfähig, indem er sie auf die lebenspraktischen Erfordernisse des höfischen Lebens zuschnitt. Andererseits gefährdete gerade die jansenistische Prädestinationslehre die gesellschaftliche Funktion des Aphorismus. Mit ihr führte La Rochefoucauld ein anthropologisches Element in die höfische Gesellschaft ein, das der mondänen Selbstbehauptung zuwiderlief. Seine Auffassung vom Menschen als fremdbestimmtes, durch Eigenliebe gesteuertes Wesen war daher nicht unumstritten, genausowenig wie das Kommunikationsme-
dem Gedanken beherrscht, daß die moderne Welt sich viel zu weit von Gott entfernt habe, um für fromme Beschaulichkeit oder gar für quietistische Mystik noch Raum zu bieten und daß […] die Einsamkeit in Gott keine zeitgemäße Lebensform mehr sei». Karl Vossler: Poesie der Einsamkeit in Spanien. München: Beck 1950, S. 304. 85 Henry C. Clark: La Rochefoucauld and the Language of Unmasking in Seventeenth-Century France. Paris: Droz 1994, S. 74–75. 86 Ebda., S. 75. 87 Ebda., S. 76.
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dium, über das dieses Menschenbild in der höfischen Gesellschaft zirkulierte. Wie Roland Barthes gezeigt hat, stand die Maxime mit dem Umfeld, in dem sie kultiviert wurde, in einem zutiefst ambivalenten Verhältnis: Einerseits entsprach sie dem Lebensgefühl der Salongesellschaft mit ihrem ausgesprochenen Interesse an der psychologischen Analyse, deren Hellsichtigkeit nach einem konzisen Ausdrucksmittel verlangte. Andererseits bestand der Inhalt der Maxime gerade in der Kritik jener Gesellschaft, der sie entstammte. Dieser Widerspruch zwischen mondäner Selbstvergewisserung und Anklage der Mondänität88 verlieh der Maxime von Anfang an einen prekären Status: Sie drohte, ihre geschlossene Form zu verlieren oder aber aus dem sozialen Kontext des Hofes herauszufallen. Der Verfall der klassischen Maxime und ihres geselligen Rezeptionscharakters ist also bereits in der Gattung selbst angelegt. Auch ihr universeller Anspruch trug dazu bei. Wie das Sprichwort eignete sich die Maxime deshalb vorzüglich als Objekt eines Gesellschaftsspiels, weil sie überzeitliche Wahrheiten zu transportieren beanspruchte, die ihrerseits auf einen konkreten gesellschaftlichen Kontext bezogen werden konnten. Dass Sprichwort und Maxime durch ihre meist präsentische Form und die Abwesenheit der ersten Person tatsächlich auch universale Aussagen treffen, gilt jedoch nicht uneingeschränkt: Die Maxime setzt als literarischer Aphorismus eine Freiheit des Denkens voraus, die erst durch eine beginnende Subjektivität ermöglicht wurde. Sie vermittelte (wie in vielen Fällen auch das Sprichwort) keine als gültig anerkannten Wahrheiten, sondern widerlegte diese gerade. Allerdings ersetzten die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts akzeptiertes Wissen durch eine Wahrheit, die wiederum Universalität beanspruchte: Das Argument der Fremdbestimmtheit des Menschen durch den amour-propre ließ keine Freiheit des Handelns zu und machte dadurch jene Subjektivität zunichte, die sie zu postulieren vorgab. Dieses Paradox führte dazu, dass die Maxime sich schließlich unter Beibehalten der Form selbst aufhob. So bemerkt der Moralist Luc de Clapiers, Marquis de Vauvenargues: «Peu de maximes sont vraies à tous égards.»89 Bereits seit ihrem Höhepunkt trat die Maxime also in Kontrast zu einer sich mehr und mehr herausbildenden Subjektivität, aber auch zu einem zunehmenden Historizitätsbewusstsein. Die unmittelbaren Nachfolger La Rochefoucaulds, allen voran Jean de la Bruyère (1645–1696), grenzten sich teilweise explizit von der Maximentradition ab, wie sie ihr Vorgänger begründet hatte, indem sie nicht nur subjektive Momente in das Genre einführten,90 sondern außerdem in ihre
88 Vgl. Roland Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes, S. 87–88. 89 Luc d. C. d. Vauvenargues: Introduction à la connaissance de l’esprit humain. Paris: Société littéraire de France 1981 [1746], S. 193. 90 Vgl. Monique Nemer: Les intermittences de la vérité, S. 485–486.
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Reflexionen über die condition humaine soziale, politische und ökonomische Aspekte einfließen ließen.91 Diese inhaltliche Anreicherung durch subjektive und soziohistorische Inhalte ging einher mit einer formalen Öffnung: Die meist duale syntaktische Form der Maxime löste sich allmählich auf und an die Stelle unpersönlicher Ausdrücke trat die erste Person Singular. Die ursprüngliche, geschlossene Form der Maxime war mit dem aufkeimenden Bewusstsein um die Historizität von Wahrheit nicht mehr kompatibel. Im Einklang mit dieser zunehmenden Subjektivierung und Historisierung der Maxime drifteten Aphorismus und Sprichwort formal immer mehr auseinander, was in Frankreich mit einer generellen Ablehnung des Sprichwortes als Ausdruck des Volkstümlichen seit dem 17. Jahrhundert einherging. Damit kündigte sich schon zu La Rochefoucaulds Zeiten an, was für die Moralisten des 18. Jahrhunderts, unter ihnen der Marquis de Vauvenargues (1715–1747) und Nicolas Chamfort (1741–1794), zum Hauptanliegen werden sollte: die Fokussierung des sozialen und politischen Subjekts. Die negative Sichtweise auf die menschliche Natur, welche die Anthropologie La Rochefoucaulds gekennzeichnet hatte, geriet im Zuge einer Aufwertung der menschlichen Leidenschaften zunehmend in die Kritik. An die Stelle des Gedankens einer unveränderlichen menschlichen Natur trat eine positive Vorstellung, die den Menschen nicht mehr als Opfer seiner Leidenschaften begriff, sondern als aktives Subjekt, das politische und soziale Prozesse gestaltet.92 Diese Verschiebung besiegelte das Ende der klassischen Maxime:93 In dem Maße, wie sie sich inhaltlich für die politische und soziale Dimension öffnete, wurde sie zum modernen Aphorismus.94 Die inhaltliche und formale Öffnung der Maxime, die sie für ein Gesellschaftsspiel, wie Norbert Elias es beschreibt, untauglich machte, wurde von einer Verschiebung ihres Produktions- und Rezeptionskontextes begleitet. So übernahm etwa Chamfort zwar den Pessimismus der moralistischen Anthropologie, verfasste seine Maximen jedoch ohne jeglichen Bezug zur Welt des Hofes. Enttäuscht vom Ancien Régime und von sämtlichen Institutionen sowie überzeugt davon, dass die Gesellschaft die ohnehin schon schlechte menschliche Natur noch schlechter mache, zog er sich aus dem Sozialleben zurück. Dadurch löste er nicht nur die Maxime, sondern auch den Menschen aus seinem mondänen Rahmen heraus und warf ihn auf sich selbst zurück.95
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Vgl. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 46. Vgl. Monique Nemer: Les intermittences de la vérité, S. 489. Vgl. Léon Levrault: Maximes et Portraits (Evolution du genre). Paris: Delaplane 1909, S. 137. Vgl. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 51. Vgl. Francis Jeanson: Lignes de départ. Paris: Seuil 1963, S. 106–107.
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Chamfort steht sinnbildlich für einen Rückzug des Aphoristikers, dessen Werk sich im Zuge eines allmählichen Übergangs von der höfischen zur bürgerlichen Kunst im 19. Jahrhundert zunehmend aus kollektiven Rezeptionszusammenhängen herauslöst. Auf der Produktionsseite findet der Übergang von der kollektiven zur individuellen Rezeption ihr Pendant in einer zunehmenden Einbettung von Aphorismen in Tagebücher und Notizbücher,96 die Helmich von einer «intimistische[n] Wendung des Aphorismus»97 sprechen lässt. Spätestens mit der ästhetischen Subjekterfahrung der Romantik musste der Aphorismus seinen universellen Anspruch endgültig aufgeben: Die Spannung zwischen subjektiver Selbstverwirklichung in der Sprache und inhaltlicher Ausblendung von Subjektivität war nicht mehr haltbar. Damit verschob sich auch die Produktion des Aphorismus in die Einsamkeit des Studierzimmers, seine Rezeption in die des bürgerlichen Sessels.98 Auch wenn der moderne Aphorismus fortan tendenziell fern von lebenspraktischen und überindividuellen Zusammenhängen produziert und rezipiert wird, so weist seine Geschichte doch vereinzelt Momente einer Rückbindung an die Lebenspraxis auf, wie etwa im Umfeld der Avantgarden99 oder in der «Maueraphoristik»100 des Pariser Mai 1968. Im Folgenden wird es darum gehen, wie die Gattung in außereuropäischen Kontexten des 20. Jahrhunderts zwar ebenfalls durch den sozialen Rückzug des Aphoristikers geprägt ist, dabei aber punktuell immer wieder Momente sozialer Integration erfährt. Diese reichen von rezeptartigen Anweisungen auf der inhaltlichen Ebene (Maximilian I., Mariana Frenk-Westheim) über eine semi-kollektive Produktion und Rezeption innerhalb intellektueller Zirkel (Julio Torri, Avantgarden) oder die Bezugnahme
96 Vgl. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 68–102. 97 Ebda., S. 227. 98 Ein Prototyp des bürgerlichen Lesers, der nicht mehr in der Lage ist, das Gelesene auf seine Lebenswelt zu übertragen, ist die lesende Dame, die Balzac in seinem Roman Le Père Goriot beschreibt: «vous qui tenez ce livre d’une main blanche, vous qui vous enfoncez dans un moelleux fauteil en vous disant: Peut-être ceci va-t-il m’amuser. Après avoir lu les secrètes infortunes du père Goriot, vous dînerez avec appétit en mettant votre insensibilité sur le compte de l’auteur, en le taxant d’exagération, en l’accusant de poésie.» Honoré de Balzac: Le Père Goriot, S. 22. «Auch ihr, die ihr dies Buch in einer gutgepflegten Hand halten werdet und euch in einen weichen Stuhl auf Unterhaltung bedacht niederlaßt, werdet ein Gleiches tun. Nachdem ihr die geheimen Leiden von Vater Goriot gelesen haben werdet, werdet ihr gut zu Mittag essen, eure Gleichgültigkeit werdet ihr dem Verfasser zur Last legen und ihm Übertreibung und Schönfärberei vorwerfen.» Honoré de Balzac: Vater Goriot, S. 8. 99 Für einen Überblick übder die Aphorismenproduktion im surrealistischen und dadaistischen Umfeld siehe Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 105–109. 100 Werner Helmich: Maueraphoristik.
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auf Inhalte eines kollektiven Gedächtnisses (José Emilio Pacheco), bis hin zur Rezeption von Aphorismen im öffentlichen Raum (Antonio Porchia) oder die ästhetische Fundierung politischen Engagements (Déwé Gorodé).
2.3 Der moderne Aphorismus: Rückzug aus der Gesellschaft 2.3.1 Maximilian I. (Mexiko): Memorias de Maximiliano Der im 18. Jahrhundert bereits vereinzelt zu beobachtende Rückzug bedeutender Aphoristiker aus der Gesellschaft, der wesentlich zur Entkoppelung der Gattung von der Lebenspraxis beiträgt, wird mit dem romantischen Kult um den einsamen Gelehrten101 noch verstärkt – ein Ideal, das sich auch in den 1869 erschienenen Aphorismen Maximilians I. von Habsburg widerspiegelt.102 Für ‹Maximiliano›, wie er in Mexiko genannt wird, ist die Einsamkeit der Ort, an dem sich der gelehrte Geist ungestört alltäglicher und politischer Unruhen entfalten kann, was in den folgenden Aphorismen zum Ausdruck kommt: En la soledad es donde el alma alcanza pensamientos sublimes.103
(MM 225)
En la soledad se tiene ocasión de conocerse a sí mismo; punto al que jamás se llega en (MM 227) medio de la agitación del mundo.104 En la soledad desaparecen las pequeñas preocupaciones, el pensamiento toma una di(MM 227) rección más elevada, y se mueve en un círculo más vasto y más libre.105
101 Jean Pauls Held aus der Unsichtbaren Loge etwa wächst auf Anordnung seiner Mutter hin in einer unterirdischen Behausung auf, nur begleitet von seinem Erzieher, dem Genius, und wird erst nach Vollendung seines 10. Lebensjahres in die Gesellschaft eingeführt. Das Spannungsverhältnis, in das der unverdorbene Held unweigerlich mit der Gesellschaft tritt, lässt ihn in eine Welt des Empfindungsreichtums und der Phantasie treten, die dem gemeinen Menschen vorenthalten ist. Vgl. Walter Haug: Programmierte Einsamkeit. Zur Anthropologie eines narrativen Musters. In: Aleida Assmann/Jan Assmann: Einsamkeit. München: Fink 2000, S. 59–75, hier S. 61–64. 102 Maximiliano de Habsburgo: Aforismos. In: ders.: Memorias de Maximiliano. México, D.F.: F. Escalante 1869, S. 203–228. Im Folgenden abgekürzt mit MM. 103 «In der Einsamkeit erwacht die Seele zu erhabenen Gedanken.» Maximilian I.: Aus meinem Leben. Reiseskizzen, Aphorismen, Gedichte. Leipzig: Duncker und Humbolt 1867 (B. 7), S. 237. Im Folgenden abgekürzt mit MMd. 104 «In der Einsamkeit hat man Zeit mit sich selbst ins Reine zu kommen, wozu man im bewegten Leben der Welt nie kommt.» (MMd 241). 105 «In der Einsamkeit schwindet das Interesse am Kleinlichen, an dem Alltagsquark der Welt; die Gedanken wenden sich einer höheren Richtung, freieren Kreisen zu.» (MMd 242).
2.3 Der moderne Aphorismus: Rückzug aus der Gesellschaft
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Auch die romantische Vorstellung einer Läuterung im Zuge einer Bekehrung, die durch soziale Zurückgezogenheit ermöglicht wird,106 greift Maximilian in seinen Aphorismen auf: Para los malvados arrepentidos no hay otro medio de purificación que atravesar el Océano. En los bosques vírgenes se encuentra la penitencia y la rehabilitación.107 (MM 208)
Die in diesem Aphorismus erwähnten jungfräulichen Wälder auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans waren Maximilian, Erzherzog und jüngerer Bruder des österreichischen Kaisers Franz Josephs, nicht fremd. Nach seinem Studium der Schifffahrt unternahm er zahlreiche Reisen, während derer er zunächst das Mittelmeer und den Norden Afrikas und schließlich die Küsten Brasiliens erkundete. Als Maximilian auf Betreiben von Napoleon III. 1864 die Kaiserkrone für Mexiko annahm, war dort gerade die Guerra de Reforma zum Abschluss gekommen. Im weiterhin brisanten Spannungsfeld zwischen den liberalen Befürwortern der Verfassung von 1857, den gegnerischen konservativen Gruppierungen und den europäischen Mächten England, Frankreich und Spanien konnte Maximilian seine Macht nicht aufrechterhalten. Als er im Juni 1867 unter Präsident Benito Juárez hingerichtet wurde, hinterließ er der mexikanischen Nation das Erbe mehrerer kultureller Einrichtungen wie die durch ihn umstrukturierte Academia de San Carlos, ein naturgeschichtliches und ein archäologisches Museum sowie die Academia Imperial de Ciencias y Literatura. Seine Aphorismen, die er bereits seit dem jungen Alter von 19 Jahren im Zeitraum von 1851 bis 1862 während verschiedener Reisen verfasste und die in seinen Memoiren Recuerdos de mi vida (dt. Aus meinem Leben) in spanischer Übersetzung erhalten sind, bilden einen weiteren Teil des von ihm hinterlassenen geistigen Erbes. Reflektieren einige von ihnen die Reiseerfahrung Maximilianos (MM 205/206, 208, 227), so knüpft er mit Themen aus Philosophie (Zeit, Tod, Angst, die Philosophie selbst), Kunst und Religion (Gott, Schöpfung, Kritik an Protestantismus und Atheismus)
106 So heißt es etwa in Clemens Brentanos Gedichtfolge «Nachklänge Beethovenscher Musik» (Clemens Brentano: Ausgewählte Gedichte. Berlin: Edition Holzinger 2013): «Einsamkeit, du Geisterbronnen, / Mutter aller heil’gen Quellen / […] Seit du ganz mich überronnen / Mit den dunklen Wunderwellen, / […] kann ich […] / Dein, o Ew’ger, mich erinnern!» Und Jacob Burckardt (Jacob Burckardt: Griechische Kulturgeschichte. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1977 (B. 1), S. 44) beschreibt die Einsamkeit in der Antike als privilegierten Ort der Begegnung mit den Göttern: «In Wäldern und Bergschluchten wird man die Nähe von Pan und Artemis nicht los geworden sein.» Vgl. auch Bernhard Lang: Einsamkeit als Charisma: Zum Ursprung religiös motivierter Ehelosigkeit im Christentum. In: Aleida Assmann/Jan Assmann: Einsamkeit. München: Fink 2000, S. 173–188, hier S. 173–174. 107 «Für anrüchige Schufte ist der Ocean das beste Reinigungsbad, und der Urwald ein Feld der Buße und der Zukunft.» (MMd 201).
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an eine bis in die Antike zurückreichende Aphorismentradition an. Dort wo er sich mit Bescheidenheit und Ehrgeiz sowie mit Vernunft und Leidenschaft auseinandersetzt, nimmt er den moralistischen Themenkomplex der condition humaine auf. Dabei wertet er die Leidenschaften («la ambición y la pasión de la gloria», MM 205)108 im Einklang mit den seit dem 18. Jahrhundert dominanten Tendenzen positiv. Dies zeigt der folgende, an die Dreigliedrigkeit der Sprüche Salomos angelehnte Aphorismus, in dem Maximilian den Ehrgeiz und das Streben nach Ehre als hauptsächliche Triebfedern des Heldentums identifiziert: Tres cosas dominan al hombre: la imaginación, la sensibilidad, y el egoismo: la ley y la religión forman su manto de las dos primeras; el amor se apoya en las dos últimas. Pero es necesario no olvidar que hay un egoismo noble, como hay otro vulgar; expresion del primero son la ambicion y la pasion de la gloria, móviles generosos de nuestras grandes acciones.109 (MM 205)
Ein Großteil der Aphorismen Maximilians speisen sich jedoch aus politischen Themen, insbesondere der Kunst des Regierens, der Person des Herrschers und seinem Verhältnis zum Volk – Themen, die über die tacitistischen Kommentare Eingang in die europäische Aphorismentradition der Renaissance gefunden und die bereits die Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts aufgegriffen hatten: Los pueblos no han sido creados para los soberanos, sino los soberanos para los pueblos.110 (MM 224)
Die bei Maximilian zu beobachtende Verschränkung einer Praxis des Regierens mit deren Reflexion zeigt, dass der Aphorismus im 19. Jahrhundert seinen alltagspraktischen Bezug trotz seiner Funktion als Medium gelehrter Einsamkeit teilweise noch beibehält. Was die Aphorismen des Kaisers von Mexiko vor allem mit der Lebenspraxis verbindet, ist ihr normativer Charakter. Formulierungen wie «No es bueno …» («Es ist nicht gut …»), «Es necesario …» («Es ist notwendig …», MM 203), «Preciso es …» («Es ist richtig …», MM 204), «El príncipe debe estar …» («Der Fürst muss … sein», MM 209) machen den Aphorismus zur Handlungsanweisung und verbinden philosophisch-literarische Reflexion mit konkretem Handeln.
108 «der Ehrgeiz und die Ruhmsucht» (MMd 191). 109 «Drei Dinge sind es, die den Menschen beherrschen: die Einbildungskraft, die Sinnlichkeit, und der Egoismus. Gesetz und Religion weben ihr Kleid aus den beiden ersteren; die Liebe stützt sich auf das zweite und dritte. Es ist aber wohl zu bemerken, dass der Egoismus sich in einen edlen und gemeinen theilt. Der Ehrgeiz und die Ruhmsucht, zwei edle Triebfedern des Menschen, sind der Ausdruck der edlen Selbstliebe. (MMd 191). 110 «Die Völker sind nicht für die Herrscher da, sondern die Herrscher für die Völker.» (MMd 234).
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Gelehrte Tätigkeit ohne ihre praktische Umsetzung erscheint Maximilian nutzlos, wie er im folgenden Aphorismus prägnant formuliert: No hay dicha sino en la actividad.111
(MM 219)
Damit macht er die machiavellistische Wendung «von der Theorie zum Tatwissen»112 mit, die bereits Gracián vollzogen hat: «Que el saber las cosas y no obrarlas, no es ser filósofo, sino gramático.»113 Umgekehrt war für Gracián theoretisches Wissen unabdingbar für gelungenes Handeln: «no se vive si no se sabe»114 (OM 110). Sowohl bei Gracián als auch bei Maximilian sind Gelehrsamkeit und Lebenspraxis eng miteinander verschränkt, auch wenn Produktion und Rezeption ihrer Aphorismen außerhalb eines sozialen Rahmens stattfinden.
2.3.2 Antonio Porchia (Argentinien): Voces Der von Maximilian als Voraussetzung für Erkenntnis gepriesene gesellschaftliche Rückzug wird zur bevorzugten Lebensweise einiger moderner Aphoristiker. So sieht der italienischstämmige Argentinier Antonio Porchia (1885–1968), der im Zeitraum von 1943 bis 1970 ausschließlich Aphorismen veröffentlicht, die abgeschiedene schriftstellerische Tätigkeit als Weg zu jener Erkenntnisform, die sich in seinen Voces, wie Porchia seine Aphorismen nennt, artikuliert. Allerdings genügt sich das Bewusstsein, das der Aphoristiker durch seine einsame Tätigkeit erwirbt, wie auch bei Maximiliano nicht selbst. Vielmehr bildet es für Porchia die Voraussetzung für ein gelungenes Zusammenleben. «Para convivir hay que tener un estado de conciencia. […] Vivir es convivir. Vivir es hacer vivir.»115 Echtes Zusammenleben erfordert ein gewisses Maß an (Selbst-)Reflexion, das durch einen vorübergehenden Rückzug aus der Gesellschaft erreicht und über das literarische Schreibens zu einem gemeinschaftsstiftenden Moment wird: «La poesía une,
111 «Nur in der Thätigkeit ist Glück.» (MMd 222). 112 Werner Krauss: Graciáns Lebenslehre, S. 83. 113 Baltasar Gracián: El Discreto. Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes 2005 [1646], http://www.cervantesvirtual.com/obra/el-discreto–0/ (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020). «Denn die Dinge zu wissen und sie nicht in die Tat umzusetzen bedeutet nicht Philosoph zu sein, sondern Grammatiker.» (Eigene Übersetzung). 114 «Man lebt nicht, wenn man nicht weiß.» (Eigene Übersetzung). 115 Daniel Barros: Estar con Antonio Porchia. In: Antonio Porchia: Voces reunidas. Valencia: Pre-Textos 2006 [1964], S. 177–179, hier S. 179. «Zum Zusammenleben benötigt man einen Bewusstseinszustand. […] Leben heißt zusammenleben. Leben heißt Leben schaffen.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden).
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vincula; cuando somos, somos uniones.»116 Diesen Gedanken einer Phase der Einsamkeit, in der der Aphorismus dem Erlangen einer höheren Bewusstseinsstufe dient, die das Individuum wiederum zu solidarischem Denken und Handeln befähigt, wird Patrick Chamoiseau in seinem Roman L’empreinte à Crusoé auf der Grundlage einer produktiven Rezeption der Aphorismen Heraklits neu entfalten (vgl. Kap. 6.2). Antonio Porchia war im Alter von 15 Jahren nach dem tödlichen Unfall seines Vaters mit seiner Familie nach Argentinien ausgewandert, wo er mit Arbeiten als Schreiner, Hafenarbeiter und Druckereigehilfe zum Lebensunterhalt der Familie beitrug. Seine ersten Aphorismen erschienen in La Fragua (1938 oder 1939), einer Zeitung der Linken, an der Porchia im Rahmen eines aktivistischen Engagements in der Federación Obrera Regional Argentina (FORA) mitwirkte.117 In dieser Hinsicht weist sein aphoristisches Schreiben Gemeinsamkeiten mit demjenigen von Avantgardisten wie Oliverio Girondo (vgl. Kap. 2.4.2) auf, die ihre Aphorismen in Zeitschriften publizierten und somit durch Teile ihres aphoristischen Werks die Stimme einer kollektiven Bewegung sprechen ließen. Insgesamt führte Porchia ein zurückgezogenes Leben, wobei seine Aphorismen Teil eines philosophisch-literarischen Austausches waren, den er regelmäßig mit seinen Freunden pflegte. Porchias ‹Zusammenleben› bezieht sich zunächst auf einen begrenzten Zirkel, zu dem neben einigen Künstlern aus dem Viertel La Boca in Buenos Aires die US-amerikanischen Schriftsteller Henry Miller und W. S. Mervin, der argentinische Dichter Roberto Juarroz oder die französischen Surealisten Roger Caillois und André Breton zählten, die das poetische Werk von Porchia verehrten.118 Dieser hingegen versuchte nicht, sich in die literarische Gemeinschaft seiner Zeit zu integrieren und stritt auch jeglichen Zusammenhang mit den Werken möglicher Vorläufer ab.119 Er zog es offenbar vor, in seinem kleinen Garten zu arbeiten und von Zeit zu Zeit eine voz zu schreiben, weniger für die Nachwelt, sondern eher, um sie einem seiner Freunde zu schenken. Diese Dialektik zwischen Zusammenleben und Rückzug spiegelt sich nicht zuletzt in der polyphonen Struktur seiner Aphorismen wider, die Porchia nicht umsonst als Voces (Stimmen) bezeichnet: Nicht die Meinung eines Einzelnen wird hier, etwa in lehrhafter Absicht, zusammengefasst. Vielmehr fließen unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Stimmen zusammen, die im Innern des Individuums erklingen oder von außen an es herantreten. Diese innere
116 Ebda., S. 178. «Die Poesie vereint, sie verbindet; wenn wir sind, sind wir Unionen.» 117 Vgl. Daniel González Dueñas/Alejandro Toledo: Prólogo, S. 17. 118 Daniel González Dueñas/Alejandro Toledo: Prólogo. In: Antonio Porchia (Hg.): Voces reunidas. Valencia: Pre-Textos 2006, S. 13–33, hier S. 14 u. S. 18. 119 Vgl. ebda., S. 21.
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Vielstimmigkeit tritt, wie später auch bei Mariana Frenk-Westheim (vgl. Kap. 2.4.4) an die Stelle eines sozialen Umgangs. Dadurch wird eine Polyvalenz erzeugt, die sich formal in impliziten Äußerungen, Widersprüchen, Multireferenzialität, Fragesätzen, dem Spiel mit den syntaktischen Elementen von Subjekt und Objekt oder der Verkettung mehrerer Stimmen artikuliert. Ein Beispiel für eine solche durch Polyphonie generierte Widersprüchlichkeit sei hier stellvertretend genannt:120 Dios mío, casi no he creído nunca en ti, pero siempre te he amado.121
Aus dem schizophren wirkenden Aphorismus sprechen die zwei Stimmen eines einzigen zweifelnden Individuums, das nicht an einen Gott glauben kann, dessen Existenz es zugleich zugrunde legt. Der dadurch entstehende Widerspruch wird durch die Antithese von «casi nunca» und «siempre» verstärkt. Das Paradox, die bei Porchia dominante rhetorische Figur, fungiert hier nicht nur als Stilmittel, sondern charakterisiert das Denken des Autors: An die Stelle von Universalität beanspruchenden ‹Wahrheiten› tritt ein Verständnis der Dinge, das in augenblicklichen Erscheinungen,122 die im Gegensatz zueinander stehen können, emergiert. Trotz der gedanklichen Komplexität von Porchias Aphorismen geht ihr Wirkungsbereich über eine intellektuelle Elite hinaus, die seine Aphorismen im privaten Austausch oder bei der Lektüre seiner Publikationen rezipiert. In der Eingangshalle eines Krankenhauses in der Provinz Buenos Aires etwa war in den 1970er Jahren in Form einer Wandinschrift eine voz von Porchia zu lesen: No ves el río del llanto porque le falta una lágrima tuya.123
Es mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen, dass Teile eines für den durchschnittlichen Leser nur schwer zugänglichen Werkes solche Kreise ziehen. Allerdings macht die durch Kürze und eine melodische Sprache erzeugte Schlagkraft, die durch ein direktes Miteinbeziehen des Lesers mithilfe der zweiten Person verstärkt wird, selbst einen verschlüsselten Satz wie den obigen einprägsam und auf die eigene Erfahrung anwendbar. Der Einzelne fühlt sich durch das Bennenen einer «lágrima tuya» («Träne von Dir») in seinem Schmerz
120 Zahlreiche weitere Beispiele führen die Herausgeber der Voces reunidas an. Siehe Antonio Porchia: Voces Reunidas. Valencia: Pre-Textos 2006, S. 231–272. 121 Ebda., S. 41. «Mein Gott, ich habe so gut wie niemals an Dich geglaubt, aber ich habe Dich immer geliebt.» (Eigene Übersetzung). 122 Vgl. Werner Helmich: Cohérence et fragmentation de la pensée aphoristique d’Antonio Porchia. In: Marie-Jeanne Ortemann (Hg.): Fragment(s), fragmentation aphorisme poétique. Nantes: CRINI 1998, S. 77–99., hier: S. 89. 123 Ebda., S. 23. «Du siehst den Fluss des Weinens nicht, weil ihm eine Träne von dir fehlt.»
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ernst genommen und in einer Gemeinschaft der Leidenden, versinnbildlicht im Strom der Tränen, behutsam aufgefangen. Ein weiteres Beispiel für die lebenspraktische Relevanz einer voz von Porchia führt Juarroz an, wenn er von folgender Begebenheit berichtet: En uno de los momentos tristes de mi país se da una conjunción terrible: dos mujeres en la cárcel están amenazadas con sentencia de muerte. Llega por entonces la noche de Navidad; una de ellas escribe una misiva a la otra, que está en una celda de aislamiento. En este escrito aparecen frases alentadoras: ‹No pierdes la confianza.› ‹Siempre queda una posibilidad de salir, de salvarnos.› ‹Te pido que recuerdes esto y trates de mantener la esperanza.› Yo he visto una reproducción facsimilar de esa carta. Lo increíble se localiza en la parte superior de la hoja; con la misma caligrafía antecediendo al texto, hay una frase puesta entre comillas, sin el nombre de autor a quien se cita. La frase, lo recuerdo tan bien es: El amor que no es todo dolor, no es amor. Es una de las voces de Porchia. He narrado esto en Buenos Aires (lo hice muchas veces en París, por ejemplo) para que la gente termine por una vez de comprender una de las claves en las que siempre he insistido: la poesía es la mayor realidad, el mayor realismo posible. Si no lo fuera, no podría estar ayudando a alguien que va a morir.124
Die Anekdote zeigt beispielhaft auf, wie ein Aphorismus, der eine Summe von Erfahrungen zu einem Merksatz abstrahiert, individuell um eine Einzelerfahrung ergänzt und damit wieder in der Alltagserfahrung rückverankert wird. Dabei weist der vorliegende Fall die Besonderheit auf, dass eine Abstraktion intellektueller Erfahrung in einen existenziell prekären Zusammenhang zurückfließt, der mit der Metapher des gelehrten Elfenbeinturms wenig gemein hat. Juarroz führt dies als Beleg dafür an, dass die Dichtung keine weltabgewandte Tätigkeit ist, sondern alltagspraktische Folgen zeigt. Diese Aussage lässt sich im Hinblick auf den Aphorismus dahingehend umformulieren, dass dieser eine poetische Variante des Sinnspruchs ist, die trotz ihrer zunehmenden Verschiebung in eine rein lite-
124 Roberto Juarroz: Poesía y creación. Diálogos con Guillermo Boido. Buenos Aires: Carlos Lohlé 1980, zit. in Daniel González Dueñas/Alejandro Toledo: Prólogo, S. 30. «In einem der traurigsten Momente meines Landes ergibt sich eine schreckliche Verknüpfung: zwei Frauen im Gefängnis droht das Todesurteil. Es kommt der Heiligabend; eine der beiden Frauen schreibt der anderen, die sich gerade in Einzelhaft befindet, einen Brief. In diesem Schriftstück tauchen ermutigende Sätze auf: ‹Verliere nicht das Vertrauen.› ‹Es gibt immer einen Ausweg, eine Möglichkeit, uns zu retten.› ‹Bitte behalte dies im Kopf und versuche, die Hoffnung nicht aufzugeben.› Ich habe eine getreue Nachbildung dieses Briefes gesehen. Das Unglaubliche findet man im oberen Teil des Blattes; in derselben Schrift ist dem Text ein Zitat vorangestellt, ohne Angabe des Autors. Das Zitat, ich erinnere mich genau, lautet: Die Liebe, welche nicht gänzlich Schmerz ist, ist keine. Das ist aus den Voces von Porchia. Ich habe diese Geschichte in Buenos Aires erzählt (das tat ich beispielsweise auch oft in Paris), damit die Leute endlich einmal einen der Schlüsselgedanken verstehen, auf denen ich immer bestanden habe: die Poesie ist die größte Wahrheit, der größtmögliche Realismus. Wenn sie das nicht wäre, könnte sie nicht denen beistehen, die dem Tode geweiht sind.» (Eigene Übersetzung).
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rarische Kommunikation weiterhin in der Lage ist, einen Sitz in der Alltagsrealität einzunehmen. Davon zeugt auch die ubiquitäre Präsenz von Aphorismen im privaten wie öffentlichen Raum – auf Abreißkalendern, Dekorationstafeln, Haushaltstextilien, Kleidungsstücken oder in Zugwaggons der Schweizer Bundesbahn –, die die Trennung zwischen literarischer Kommunikation und Alltag verschwimmen lassen.
2.3.3 Malcolm de Chazal (Mauritius): Sens-plastique Eine noch größere intellektuelle und soziale Abgeschiedenheit als Antonio Porchia umgab den aus Mauritius stammenden Schriftsteller Malcolm de Chazal (1902–1981), dessen Aphorismensammlung Sens-plastique (1945)125 zwei Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Voces-Serie seines argentinischen Zeitgenossen erschien. Chazals Vorfahren väterlicherseits waren im 18. Jahrhundert von Frankreich nach Mauritius ausgewandert und gehörten dort zur wirtschaftlichen und politischen Aristokratie, sein Großvater mütterlicherseits hatte sich als Offizier der britischen Kolonialmacht dauerhaft auf Mauritius niedergelassen. Nach seinem Studium der Zuckertechnologie in den USA kehrte Chazal 1925 nach Mauritius zurück, wo er zunächst in den Familienbesitzungen in der Zuckerrohrwirtschaft, dann ab 1937 nur noch in Teilzeit in der Elektrizitäts- und Telefongesellschaft des Landes arbeitete, um sich zunehmend dem literarischen Schreiben und der Malerei zu widmen. Was Porchia und Chazal trotz der geographischen Distanz verbindet, sind ihre Beziehungen zu André Breton, dessen Vermittlung beide Autoren ihre, wenn auch bescheidene literarische Bekanntheit in Europa verdanken.126 Doch nicht nur Breton, sondern auch Jean Paulhan, der sich bereits vor seiner surrealistischen Phase während eines Aufenthalts in Madagaskar mit Spruchgattungen auseinandergesetzt hatte (vgl. Kap. 3.1.7), war von der obskuren Bildlichkeit des magischen Analogiedenkens Chazals eingenommen. Chazal selbst stritt
125 Malcolm de Chazal: Sens-plastique. Paris: Gallimard 1948. Im Folgenden abgekürzt mit SP. 126 Als weiterer iberoamerikanischer Aphoristiker, der mit Breton in Verbindung stand, ist der Brasilianer Murilo Mendes zu nennen, der in seiner Aphorismensammlung O discípulo de Emaús einen katholischen und mystischen Einfluss mit einer von Heraklit geprägten dialektischen Weltsicht verbindet. Murilo Mendes: O discípulo de Emaús. In ders.: Poesia completa e prosa. Rio de Janeiro: Nova Aguilar 1994 [1945], S. 813–891. Vgl. Miriam Lay Brander: ‹Form der Ewigkeit›: Unendlichkeitsdimensionen im iberoamerikanischen Aphorismus des 20. Jahrhunderts. In: Kurt Hahn/Barbara Kuhn u. a. (Hg.): Unendlichkeiten: Zur Textpoetik der (Post-)Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann. In Vorbereitung a.
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jegliche Nähe zum Surrealismus ab, da es letzterem aus seiner Sicht nur um das Unterbewusstsein ging, wohingegen er eine Erkenntnis anstrebte, die das Sichtbare mit dem Unsichtbaren, das Natürliche mit dem Übernatürlichen verband.127 Chazal verwendet den Aphorismus als Ausdrucksform eines so genannten unisme, einer Einheit aller Elemente des Universums: Der Mensch mit seinem Körper und Geist, Flora und Fauna sowie das Göttliche verbinden sich zu einem einzigen Sein, das durch den Menschen (und nicht wie im vormodernen Analogiedenken durch einen personalen Gott) zusammengehalten wird. Unterschiedliche Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung sowie sämtliche Wissens- und Erfahrungsgebiete (Wissenschaft, Religion, Kunst) verschmelzen zu einer einzigen Wissensform, einer science-poétique.128 Dies äußert sich in Synästhesien wie Les épices font fox-trotter la langue et valser le palais. Épices: danse des orteils de l’odorat. (SP 8)
oder in Definitionen wie L’Art, c’est la nature accélérée et Dieu au ralenti.129
(SP 30)
Der Titel der meistrezipierten Aphorismensammlung Chazals, Sens-plastique, benennt einen sechsten Sinn, der aus einer Synthese der anderen fünf Sinne hervorgeht und der dem Dichter eine enge Korrespondenz mit der Natur und dem Göttlichen ermögliche.130 Die Einheit der verschiedenen Seinsbereiche ist geprägt durch eine multidimensionale Wahrnehmung und Kommunikation – eine Blume kann einen Menschen genauso wahrnehmen wie umgekehrt –, die Chazal durch Sprache zu rekonstruieren sucht. Dieses Anliegen verdeutlichen in Sens-plastique zahlreiche Anthropomorphismen: La graine est le sac à main des plantes.131
(SP 2)
Le rouge est éternellement enceinte du soleil – avortant dans le rose; accouchant du (SP 3) jaune dans l’orangé; et de jumelles bleues et mauve dans le grenat.132
127 Vgl. Bernard Violet: L’ombre d’une île. Toulouse: L’Ether Vague 1994, S. 19. 128 Ebda. 18. 129 «Kunst ist beschleunigte Natur und verlangsamter Gott.» Malcolm de Chazal: Plastische Sinne (SENS_PLASTIQUE) und zwölf Fotografien von Manfred Paul. Nachdichtung aus dem Französischen v. Rolf A. Burkart, Berlin: Edition Quatre En Samisdat (Aletheia IV) 1996, S. 66. 130 Vgl. Christophe Chabbert: Malcolm de Chazal, l’homme des genèses. De la recherche des origines à la découverte de l’avenir perdu. Paris: L’Harmattan 2001, S. 28. 131 «Der Same ist die Handtasche der Pflanzen.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 132 Malcolm de Chazal: Plastische Sinne, S. 11. «Das Rot ist geht ewig mit der Sonne schwanger – hat eine Fehlgeburt im Rosa; entbindet vom Gelb im Orange; und von blauen und zartlilafarbenen Zwillingen im Granatfarbenen.»
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La fleur ne connaît pas les «jours de semaine». Elle est toujours en costume du dimanche.133 (SP 19) Le fruit a un regard indéfini. Quelque «dirigée» la forme du fruit, l’on ne peut «situer» son regard.134 (SP 285)
Chazals Unismus ist zugleich ein Universalismus. Dies lässt sich zunächst daran erkennen, dass man Bezüge zum geographisch-kulturellen Umfeld bei Chazal vergeblich sucht. Zwar gibt er in einem persönlichen Gespräch mit dem ebenfalls mauritischen Schriftsteller und Aphoristiker Khal Torabully an, dass er sein Werk an keinem anderen Ort als Mauritius hätte verfassen können,135 doch bezieht er sich damit lediglich auf die Natur der Insel und die Inspiration, die diese auf ihn ausgeübt habe, während er sich von der ihn umgebenden Gesellschaft entschieden distanziert. L’île Maurice ne représente rien pour moi. C’est un pays de bourgeois, d’êtres atrocement attachés au matérialisme; pays où la calomnie est quotidienne, où la haine que les habitants ont pour moi semble apparemment être leur seule raison de vivre! Les Mauriciens sont formés de différentes races, mais une chose les tient: le complexe chazalien, c’est-à-dire le refus absolu des nouveaux temps, le refus de la poésie, le refus du vivant!136
Im Einklang mit dieser Aussage lebt Chazal ein zurückgezogenes Leben. Wie der Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila, auf den im nächsten Unterkapitel zurückzukommen sein wird, ist Chazal der Auffassung, dass sozialer Umgang die geistigen Fähigkeiten des Menschen einschränke: La solitude ouvre le compas de l’œil qui se refermera ensuite quand l’homme est en groupe, comme diminueront les inflexions de voix individuelle à mesure que le nombre
133 «Die Blume kennt die ‹Wochentage› nicht. Sie trägt immer ihr Sonntagskleid.» 134 «Die Frucht hat einen unbegrenzten Blick. Ist die Form der Frucht etwas ‹gerichtet›, kann man ihren Blick nicht ‹verorten›.» 135 Miriam Lay Brander/Khal Torabully: ‹Dire la vie de façon kaléidoscopique›: Entretien avec Khal Torabully sur l’écriture d’aphorismes. In: Gesine Müller/Natascha Ueckmann (Hg.): Kreolisierung revisited. Debatten um ein weltweites Kulturkonzept. Bielefeld: transcript 2013, S. 297– 304, hier S. 299. 136 Zit. in Bernard Violet: L’ombre d’une île, S. 19–20. «Die Insel Mauritius bedeutet mir nichts. Es ist ein Land des Bürgertums, von Lebewesen, die hoffnungslos dem Materialismus verfallen sind; ein Land, in dem die Verleumdung an der Tagesordnung ist, in dem der Hass, den die Bewohner gegen mich empfinden, offenbar ihr einziger Lebensinhalt zu sein scheint! Die Bewohner von Mauritius setzen sich aus verschiedenen Rassen zusammen, aber etwas hält sie zusammen: der Chazal-Komplex, das heißt, die absolute Ablehnung alles Neuen, die Ablehnung der Poesie, die Ablehnung des Lebendigen!»
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de gens en compagnie s’accroît. La foule rend toutes nos facultés plus petites, comme le corps s’effile pour laisser place aux autres.137 (SP 216)
In anderen Worten: Je höher die Anzahl an Menschen, von der ein Individuum umgeben ist, umso mehr leidet sein Denk- und Urteilsvermögen darunter. Die Isolation als soziologische Rahmenbedingung von Chazals Aphorismenproduktion bedeutet jedoch nicht notgedrungen, dass auch die Rezeption seines Werks fern von kollektiven, lebenspraktischen Zusammenhängen erfolgt, wie bereits im Hinblick auf Porchia deutlich wurde. Chazal veröffentlicht einige seiner Aphorismen in der Zeitung Advance138, dem Publikationsorgan der Arbeiterpartei, in der er selbst Mitglied war – und verleiht ihnen durch diesen Publikationsort, ähnlich wie sein argentinischer Zeitgenosse, zumindest im Ansatz eine politische Funktion.
2.3.4 Nicolás Gómez Dávila (Kolumbien): Escolios a un texto implícito Betrachtete Porchia gelehrte Abgeschiedenheit als lediglich temporäre Notwendigkeit für ein gelungenes Zusammenleben und sah Chazal im gesellschaftlichen Umgang eine Gefahr für das Denk- und Urteilsvermögen, so bevorzugte auch der kolumbianische Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila (1913–1994) die soziale Isolation, mit der Ausnahme von Ehe und Familie – Gómez Dávila war von seinem 23. Lebensjahr bis zu seinem Lebensende mit Emilia Nieto Ramos, mit der er zwei Söhne und eine Tochter hatte, verheiratet –, dem Jockey-Club von Bogotá, den Gómez Dávila regelmäßig besuchte sowie gelegentliche Treffen mit seinem Freundeskreis bestehend aus kolumbianischen Intellektuellen. Davon abgesehen lebte er abgeschieden in einer Villa am Stadtrand der kolumnianischen Hauptstadt, wo er sich eine private Bibliothek aufbaute, die an seinem Lebensende etwa 30.000 Bände in fast allen abendländischen Sprachen umfasste. Gómez Dávila hatte seine humanistische Bildung, für die seine Eltern den Wohnsitz der Familie nach Paris verlegt hatten, bedingt durch eine schwere Lungenerkrankung überwiegend durch Hauslehrer und autodidaktisches Lernen erworben und lebte nun in Kolumbien als Privatgelehrter, der nicht nur jegliche Vernetzung mit zeitgenössischen iberoamerikanischen Schriftstellern ablehnte,
137 «Die Einsamkeit öffnet den Kompass des Auges, das sich dann schließt, wenn der Mensch in Gesellschaft ist, so wie sich der Tonfall einzelner Stimmen in dem Maße verliert, wie sich die Anzahl von Leuten in Gesellschaft erhöht. Die Menge verkleinert alle unsere Fähigkeiten, so wie der Körper sich dünn macht, um anderen Platz zu machen.» 138 Vgl. Miriam Lay Brander/Khal Torabully: Dire la vie de façon kaléidoscopique, S. 299.
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sondern sich auch von politischem Engagement fern hielt. Seine Aphorismensammlung Escolios a un texto implícito (1977) trägt daher in der deutschen Übersetzung nicht zu Unrecht den Titel «Einsamkeiten». Gómez Dávila war intellektuell nicht in der Gegenwart seines Heimatlandes verwurzelt,139 vielmehr identifizierte er sich humoristisch mit lateinamerikanischen Figuren aus vergangenen Zeiten, die wie er ein zurückgezogenes Leben führten: Der bildungsschwache Kanonikus des einstigen Metropolitankapitels von Santa Fé (de Bogotá, d.Ü.), die säuerliche Betschwester von Bogotá, der grobianische Hacendero in der Hochebene, wir alle sind vom gleichen Schlage. Mit meinen Landsleuten von heute habe ich nur den Reisepaß gemeinsam.140
Gómez Dávila selbst streitet seine Vorliebe für die Zurückgezogenheit nicht ab: «Humilmente acepto que me circunde un ancho silencio; pero haced, Dios mío, que las palabras pueblen mi soledad y labren en ella sus ricas mieles.»141 Die Einsamkeit ist für ihn ein Umstand, den es zu akzeptieren gilt, zugleich aber auch eine Bedingung für die Dichtung. Dennoch versteht Gómez Dávila sein poetisches Schaffen nicht als Selbstgespräch: Sein Adressat ist das Papier, das seine Gedanken aufnimmt. Hay espíritus suficientemente solitarios para comunicarse a sí mismos, en su silencio interior, el fruto de sus experiencias. Mas yo no pertenezco a ese orden de inteligencias tan abruptas; requiero el discurso que acompaña el ruido ténue del lápiz, resbalando sobre la hoja intacta.142
Doch auch in seinem politischen Denken schlägt Gómez Dávila einen anderen Weg ein als seine literarischen Zeitgenossen. Wie Till Kinzel, wenn auch überspitzt polarisierend, formuliert, ist Gómez Dávila «kein typischer Schriftsteller des lateinamerikanischen Kontinents, denn weder teilt er die politische Ausrichtung der
139 Vgl. Franz Niedermayer: Über Nicolás Gómez Dávila. In: Nicolás Gómez Dávila: Einsamkeiten. Wien: Karolinger 1987, S. 169–181, hier S. 175. 140 Nicolás Gómez Dávila: Einsamkeiten: Glossen und Text in einem. Wien: Karolinger 1987, S. 173. 141 Nicolás Gómez Dávila: Notas, 93, zit. n. Franco Volpi: El solitario de dios (prólogo), S. 17. «Demütig akzeptiere ich, dass mich eine weite Stille umgibt; aber schenkt, mein Gott, dass Worte meine Einsamkeit bevölkern und sie mit süßem Honig füllen.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 142 Nicolás Gómez Dávila: Notas, 15–16, zit. n. Franco Volpi: El solitario de dios (prólogo), S. 19. «Es gibt Geister, die einsam genug sind, um sich in ihrer inneren Stille die Frucht ihrer Erfahrungen selbst mitzuteilen. Aber ich gehöre nicht zu diesem Orden von solch schroffen Intelligenzen; ich brauche den Diskurs, der das sanfte Geräusch eines Stiftes begleitet, wie er über das unberührte Blatt gleitet.»
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meisten anderen Autoren, die wie García Márquez auf der äußersten Linken stehen, noch diejenige solcher radikaler Marktliberaler wie des Peruaners Mario Vargas Llosa, der sich in mehreren seiner Romane mit den politischen Verhältnissen der lateinamerikanischen Staaten auseinandersetzte.»143 Vielmehr geht das ausgeprägte Einzelgängertum Gómez Dávilas mit einer reaktionären Haltung gegen den Modernismus einher – er selbst bezeichnet sich als reaccionario, wobei er den Begriff positiv wendet144 –, die sich im folgenden Aphorismus antithetisch zuspitzt: Pensar como nuestros contemporáneos es la receta de la prosperidad y de la estupidez.145
Gómez Dávilas Modernismuskritik richtet sich vor allem gegen die weltweiten Demokratiebewegungen, die in den 1950er, -60er und -70er Jahren in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern durch Militärdiktaturen erstickt worden waren. Los parlamentos democráticos no son recintos donde se discute, sino donde el absolutismo popular registra sus edictos.146 A medida que el estado crece, el individuo disminuye.147 Mientras más graves sean los problemas, mayor es el número de ineptos que la democracia llama a resolverlos.148 La presencia política de la muchedumbre culmina siempre en un apocalipsis infernal.149
Die optimale politische Form sieht Gómez Dávila in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft, die sich in ähnlicher Form im Latifundienwesen der lateinamerikanischen Gesellschaften wiederholt hat. Dies wird im folgenden Aphorismus deutlich,
143 Till Kinzel: Nicolás Gómez Dávila. Parteigänger verlorener Sachen. Schnellroda: Antaios 2006, S. 23. 144 Vgl. Franz Niedermayer: Über Nicolás Gómez Dávila, S. 177–178. 145 Nicolás Gómez Dávila: Escolios a un texto implícito (Selección). Bogotá: Villegas 2001, S. 38. «Wie unsere Zeitgenossen zu denken ist das Rezept für Wohlstand und Dummheit.» 146 Nicolás Gómez Dávila: Escolios a un texto implícito (Selección), S. 27. «Die demokratischen Parlamente sind keine Orte, an denen diskutiert wird, sondern an denen der Volksabsolutismus seine Edikte erlässt.» 147 Ebda., S. 28. «In dem Maße wie der Staat wächst, schrumpft der Einzelne.» 148 Ebda., S. 31. «Je größer die Probleme, desto höher die Anzahl an Unfähigen, denen die Demokratie aufträgt, sie zu lösen.» 149 Ebda., S. 32. «Die politische Präsenz der Masse gipfelt immer in einer höllischen Apokalypse.»
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der die mittelalterliche Gesellschaft gegenüber anderen Gesellschaftsformen wie dem Bürgertum oder dem Kommunismus als das kleinere Übel erscheinen lässt: En la sociedad medieval la sociedad es el estado; en la sociedad burguesa estado y sociedad se enfrentan; en la sociedad comunista el estado es la sociedad.150
Eine weitere Zielscheibe der Kritik Gómez Dávilas ist der technische Fortschritt und ein damit verbundener Fortschrittsoptimismus, der zwar ein «saber hacer» im Sinne neuer Möglichkeiten preist, jedoch die im «qué hacer» ausgedrückte Frage nach dem Sinn des menschlichen Tuns nicht beantworten kann. No logrando realizar lo que anhela, el «progreso» bautiza anhelo lo que realiza.151 La técnica no cumple los viejos sueños del hombre, sino los remeda con sorna.152
Angesichts solch radikaler Ansichten verwundert es nicht, dass Gómez Dávilas Werk bei seinen Zeitgenossen so wenig Echo produzierte, was der Aphoristiker durchaus beabsichtigte. Denn gerade das Einzelgängertum legitimiere sein Denken: La lucha contra el mundo moderno tiene que ser solitaria. Donde haya dos hay traición.153
Der gesellschaftliche Rückzug wird hier zur Voraussetzung für ein kritisches Denken, das, sobald es von mehreren Personen geteilt würde, seine Radikalität und damit seine Berechtigung verlieren würde. Somit treibt Gómez Dávila die Abgeschiedenheit des Aphoristikers auf die Spitze: Der Kolumbianer lehnt nicht nur jegliche Form kollektiver Produktions- und Rezeptionsformen ab, sondern verzichtet auch auf die Vorstellung eines impliziten oder potenziellen Lesers und situiert sein Werk damit nicht nur jenseits der sozialen, sondern auch jenseits der literarischen Kommunikation. Gómez Dávilas Aphorismen sind so weit von der politischen und sozialen Realität seiner Zeit entfernt, dass sie weder in politischen Publikationsorganen oder im öffentlichen Raum erscheinen noch in konkretes Handeln münden könnten. Auch scheint Gómez Dávila
150 Ebda., S. 33. «In der mittelalterlichen Gesellschaft bildet diese den Staat; in der bürgerlichen Gesellschaft stehen sich Staat und Gesellschaft gegenüber; in der kommunistischen Gesellschaft ist der Staat die Gesellschaft.» 151 Ebda., S. 28. «Weil es ihm nicht gelingt zu verwirklichen, wonach er sich sehnt, tauft der ‹Fortschritt› das Sehnsucht, was er verwirklicht.» 152 Ebda. «Die Technik erfüllt nicht die alten Träume des Menschen, sondern ahmt sie spöttisch nach.» 153 Nicolás Gómez Dávila: Escolios a un texto implícito, Tomo II. Bogotá: Instituto Colombiano de Cultura 1977, S. 666. Zit. n. Franco Volpi: El solitario de dios (prólogo), S. 34. «Der Kampf gegen die moderne Welt muss ein einsamer sein. Wo zwei sind, kommt es zum Verrat.»
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zumindest in Lateinamerika kaum einen Intellektuellen gefunden zu haben, der sein Denken teilte. Dass seine Schriften dennoch, vor allem in Deutschland, Verbreitung gefunden haben, verdankt sich zum einen dem italienischen Professor Franco Volpi, der die Texte des kolumbianischen Philosophen in Europa und Lateinamerika zugänglich machte, zum anderen aber gerade der Radikalität seines Denkens und dem Anspruch des Kolumbianers, dieses frei von jeglichen kollektiven Zwängen entwickelt zu haben.
2.4 Rückkehr zur Lebenspraxis Die bisherigen Beispiele lateinamerikanischer Aphoristiker, mit einem Seitenblick nach Mauritius, haben gezeigt, dass mit dem Rückzug des Aphoristikers aus dem kollektiven Umfeld des Hofes seit dem 18. Jahrhundert die soziale Einbindung der Gattung zwar in den Hintergrund tritt, dass der Aphorismus jedoch einen Teil seiner lebenspraktischen Ausrichtung durchaus beibehält. Während Gómez Dávila jegliche gesellschaftliche Verankerung seiner Aphorismen ausschließt, erscheint zumindest ein Teil der Aphorismen von Porchia und Chazal in Arbeiterzeitschriften und fließt damit in einen lebenspraktisch-politischen Kontext ein. Auf diese Weise setzen sie, wenn auch in stark reduzierter Intensität, die Tendenz der Avantgarde-Aphoristik fort, die sich aus dem semi-kollektiven Umfeld literarisch-künstlerischer Bewegungen und Zeitschriften speist. ‹Semikollektiv› deshalb, weil die Aphorismen, die im Umfeld der Avantgarden entstehen, trotz ihrer gesellschaftlichen Einbindung stark individualisierte Sichtweisen darstellen, die sich weitaus weniger als die Maximen La Rochefoucaulds nach dem kollektiven Geschmack ihres sozialen Umfeldes richten.
2.4.1 Julio Torri und das Ateneo de la Juventud Mexicano Als Vorläufer der lateinamerikanischen Avantgarde-Aphoristik, der zugleich eine reiche lateinamerikanische Aphorismentradition eröffnete, kann der mexikanische Schriftsteller und Rechtsanwalt Julio Torri (1889–1970) gelten.154 Seine bereits 1915 verfassten Aphorismen, die er erst 1940 unter dem Titel Almanaque de las horas als Teil seiner Textsammlung De fusilamientos veröffentlichte, entstehen
154 Häufig wird der Beginn der mexikanischen Aphorismentradition auch bei den 1927 in Paris herausgegebenen und seither achtfach aufgelegten Epigramas des mexikanischen Rechtsanwalts und Philosophieprofessors Carlos Díaz Dufoo hijo angesetzt. Allerdings zirkulierten die Aphorismen von Torri in intellektuellen mexikanischen Kreisen bereits seit 1915.
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im Umfeld des Ateneo de la Juventud Mexicano, das 1909 von Justo Sierra zusammen mit dem aus der Dominikanischen Republik stammenden Pedro Henríquez Ureña und dem Schriftsteller Alfonso Reyes gegründet worden war. Auch wenn das Ateneo keine einheitliche Bewegung darstellte, so verband seine Mitglieder die Ablehnung des Positivismus europäischer Abstammung, der die wissenschaftliche Grundlage der von Porfirio Díaz forcierten Industrialisierung und Urbanisierung darstellte. Die ateneistas verknüpften im Bestreben einer «cultura libre»155 im Sinne eines freien schöpferischen Prinzips ihr Interesse für die europäische Literatur und Philosophie – vor allem für den deutschen Idealismus von Kant, Hegel und Schopenhauer, aber auch für Nietzsche, der bekanntlich einen großen Teil seiner Gedanken in Aphorismen ausdrückte – mit einer Hervorhebung des spezifisch Mexikanischen und Lateinamerikanischen. Ihre Werke greifen Aspekte der europäischen Geistesgeschichte und der modernistischen Ästhetik auf, um auf ihrer Grundlage eigene Inhalte und Ästhetiken zu entwickeln. Ein wesentliches Merkmal der im Umfeld des Athenäums entstandenen Texte ist ihr Anspruch auf stilistische Perfektion, die ihr Ausdrucksmittel in Kurzgattungen wie dem Aphorismus, dem Kurzessay, dem Prosagedicht oder der Kurzgeschichte findet. Estos géneros – a veces híbridos – les permiten captar el germen de una idea sin tener que desarrollarla o agotarla, lo cual corresponde exactamente a su exigente concepto del arte. La brevedad, la concisión, la sugerencia, apuntan hacia un lenguaje que se podría llamar generacional.156
Der kurze, konzise Stil, den ein Großteil der ateneistas pflegt, stellt sich programmatisch gegen die ausladende Detailfülle, die die Werke der lateinamerikanischen Romantik, des Neoklassizismus, des Modernismus und eines literarischen mexikanischen Patriotismus kennzeichneten. Die Unterscheidung zwischen der ornamentalen Schreibweise der bisherigen lateinamerikanischen Literatur und
155 Armando Pereira: Ateneo de la Juventud. In: ders. (Hg.): Diccionario de literatura mexicana. Siglo XX. México D.F.: Ediciones Coyoacán 2004, S. 38–48, hier S. 43. 156 Serge I. Zaitzeff: Hacia el concepto de una generación perdida mexicana. In: Revista iberoamericana LV, 148–149 (1989), S. 751–757, hier S. 755. «Diese – manchmal hybriden – Genres erlauben es ihnen, den Kern eines Gedankens zu erfassen ohne letzteren ausführen oder ausschöpfen zu müssen, was exakt ihrem anspruchsvollen Konzept von Kunst entspricht. Die Kürze, die Knappheit, die Andeutung weisen in Richung einer Sprache, die man ‹generationell› nennen könnte.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). Auch Alfonso Reyes, einer der wohl prominentesten Vertreter des Athenäums, verfasste Aphorismen – so genannte Briznas –, die er in seinem Anecdotario zusammen mit Anekdoten, Kurz- und Kürzestgeschichten, aber auch in Zeitschriften veröffentlichte. Diese Kurztexte stellen für ihn ein Nebenprodukt seiner übrigen schriftstellerischen Tätigkeit dar: «el gotear espontáneo de la tinta, la enfermedad congénita de la pluma» [«das spontane Tropfen der Tinte, die angeborene Krankheit der Feder»]. Alfonso Reyes: Anecdotario. México, D.F.: Lectorum 2012 [1959], S. 63.
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einem lakonischen Stil, der sich jegliche Redundanzen verbietet, verleitet Antonio Caso zum folgenden metaphorischen Vergleich: «de equiparar a la marmita plebeya nuestra vieja literatura hispano americana, tan verbosa y desmelenada, y al gotero preciso y hermético, esta nueva literatura que ‹brota a pulsaciones›».157 Caso benennt die mikrometrische Präzision der Schreibweise seiner Generation sogar als Kennzeichen der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur schlechthin: «Abrid un libro de algun contemporáneo, y el esfuerzo vernáculo, hispano americano, os evocará la exactitud micrométrica del cuenta gotas.»158 Eine ähnliche Gegenüberstellung wird Ángel Rama im Hinblick auf die 1959 erschienenen Obras completas (y otros cuentos) von Augusto Monterroso formulieren: [H]abiendo nacido por 1921 en Guatemala, país de los quetzales, los vibrantes huipiles, la suntuosa poesía maya, la verba inflamada de Miguel Ángel Asturias, varias dictaduras seriadas y otras muestras del esplendor lujurioso de los trópicos, ha puesto punto final al mito del tropicalismo literario. O en todo caso ha demostrado que no es un subproducto de las temperaturas caliginosas y las selvas en libertad, sino una enfermedad estrictamente privativa de las letras que puede hacer estragos en zonas frías o áridas del continente, entre señores de abotonados trajes negros y altos cuellos almidonados.159
Die lateinamerikanischen Vertreter des Aphorismus widerlegen damit die in den 1970er Jahren weit verbreitete Theorie des barroco americano, nach der Amerika von einem barocken Geist beherrscht sei, der sich in der literarischen Produktion widerspiegle. Alejo Carpentier führt diesen Geist auf die lateiname-
157 Antonio Caso: De la marmita al cuenta gotas. In: ders. (Hg.): Obras completas. México: UNAM 1976 [1917], S. 25–27, hier S. 26. «unsere alte hispanoamerikanische Literatur, die so schwatzhaft und ungehobelt ist, mit dem plebejischen Kochtopf zu vergleichen, und diese neue Literatur, die ‹pulsschlagartig aufkeimt›, mit der genauen und hermetischen Pipette.» 158 Ebda., S. 26. «Schlagt das Buch irgendeines zeitgenössischen Autors auf und die einheimische hispanoamerikanische Kraft wird euch die mikrometrische Genauigkeit einer Pipette ins Gedächtnis rufen.» 159 Ángel Rama: Augusto Monterroso: Fabulista para nuestro tiempo. In: Eco, Bogotá: 1974, S. 315–320, hier S. 316. «Er, der 1921 in Guatemala geboren wurde, im Land der Quetzale, der lebhaften Huipiles, der üppigen Poesie der Maya, der flammenden Rede von Miguel Ángel Asturias, mehrerer aufeinanderfolgender Diktaturen und anderer Beweise der luxuriösen Pracht der Tropen, hat dem Mythos vom literarischen tropicalismo ein Ende gesetzt. Oder jedenfalls hat er bewiesen, dass es kein Nebenprodukt der schwülen Temperaturen und der Freiheit des Dschungels ist, sondern eine strikt der Literatur eigene Krankheit, welche sogar in den kalten oder den kargen Zonen des Kontinents Verwüstung anrichten kann, inmitten der Herren mit den zugeknöpften schwarzen Anzügen und den geschniegelten hohen Krägen.»
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rikanischen Kultursynthesen zurück und geht in seiner Kontexttheorie sogar so weit, den barocken Sprachstil ontologisch in der manieristischen Wucherung der natürlichen Welt zu verankern.160 Die lateinamerikanische Literatur repräsentiert demnach eine ihr vorgängige, verzerrte Natur, deren Auswüchse sich in einem üppigen Stil niederschlagen. Diesem lateinamerikanischen Sprachrealismus hält Rama einen Verweis auf den nüchternen Stil eines Monterroso entgegen, der mit seiner konzisen Schreibweise an eine auf das Ateneo zurückgehende mexikanische Tradition anknüpfen kann. Die klare Ausdrucksweise des kurzen Stils, die Caso im Hinblick auf die Mitglieder des Athenäums hervorhebt, ermögliche dem Schriftsteller eine geistige Unabhängigkeit von literarischen Traditionen und Gattungsnormen sowie von patriotischen oder ideologischen Verzerrungen. Damit spielt Caso zweifelsohne auf die seinerzeit verbreitete ideologische Indienstnahme der Literatur durch den sozial gefärbten Realismus im indigenistischen und im Revolutionsroman an. Mit der Kritik am Positivismus geht eine Distanzierung vom Realismus einher, der in den genannten Gattungen für sozialen Protest funktionalisiert wird und der die mexikanische Literatur seit der Revolution bestimmt. Die Intellektuellen des Athenäums bevorzugen eine philosophische oder metaphysische Reflexion der Schwierigkeiten, die die harte Realität eines Landes mit sich bringt, in dem sie in einem «inneren Exil»161 leben. Insbesondere Julio Torri besteht auf eine Unabhängigkeit der Literatur von der historischen Realität, auf die er in seinen Aphorismen höchstens indirekt anspielt, ohne seine eigene politische Position durchscheinen zu lassen. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn Torri im Titel seines Werks De Fusilamientos auf eine traditionelle Hinrichtungspraxis Bezug zu nehmen scheint, diese jedoch durch die für Torri ungewöhnliche Datierung in den konkreten historischen Kontext des von Revolutionen erschütterten Mexikos mit seinen zahlreichen Erschießungen einbettet.162 Dennoch verbietet er sich, explizite Bezüge zur Revolution herzustellen, was seine Texte, wie Serge Zaitzeff formuliert, fern von sozial-politischen Zusammenhängen zu Fragmenten eines spirituellen Tagebuchs («fragmentos de un diario espiritual»163) werden lässt.
160 Alejo Carpentier: Lo barroco y lo real maravilloso. In: ders. (Hg.): Tientos, diferencias y otros ensayos. Barcelona: Plaza y Janés 1987, S. 103–119, hier S. 110–112 sowie Vittoria Borsò: México jenseits der Einsamkeit – Versuch einer interkulturellen Analyse. Kritischer Rückblick auf die Diskurse des magischen Realismus. Frankfurt am Main: Vervuert 1994, S. 143. 161 Serge I. Zaitzeff: Hacia el concepto de una generación perdida mexicana, S. 756. 162 Vgl. Rafael Olea Franco: Un lujo mexicano: Julio Torri. In: Caravelle 78 (2002), S. 143–161, hier S. 156. 163 Serge I. Zaitzeff: Hacia el concepto de una generación perdida mexicana, S. 756.
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Ähnlich wie die Maximen der französischen Moralisten konzentrieren sich die Aphorismen Torris auf die Beschreibung der conditio humana, beschränken diese jedoch nicht auf einen geschlossenen gesellschaftlichen Rahmen: Todos tenemos dos filosofías: aquella cuyas ideas morales quebrantamos en nuestra conducta, a causa de nuestra voluntad frágil; y otra filosofía, más humana, con la que nos consolamos de nuestras caídas y flaquezas.164
Die für Torris Aphorismen typische Ironie, die hier vor allem durch die Aporie einer nicht umsetzbaren Handlungsgrundlage entsteht, ist nicht zu überlesen. Zugleich kommt im soeben zitierten wie auch im folgenden Aphorismus der handlungspraktische Aspekt, der bereits bei Maximilian zu beobachten war, zum Ausdruck: «Toda la historia de la vida de un hombre está en su actitud.»165 Im Einklang mit dieser lebenspraktischen Komponente nehmen manche Aphorismen einen geradezu sprichwörtlichen Charakter an wie etwa «Cuando alguien fracasa, nadie se ríe ni se alegra sino el que fracasó antes.»166 Torri grenzt sein Werk zwar eindeutig von politischem Engagement ab, möchte es aber zugleich in demjenigen gemeinschaftlichen Geist verankert wissen, der die Mitglieder des Ateneo verband. Diese setzten sich gemeinsam für eine mexikanische und lateinamerikanische Identität und gegen ein Fortschrittsdenken ein, das eine Destruktion des Nationalen und Lokalen mit sich brachte. Daher lehnt Torri einen sozial gefärbten Realismus genauso ab wie den Rückzug aus der Gesellschaft: El solitario se alimenta de sí mismo, a sí mismo destruye. Su paisaje es siempre el mismo, su universo lleno está de sí mismo. Cuando viaja o frecuenta otros hombres inteligentes, tendrá que hacer muchas rectificaciones a sus juicios, ideas y percepciones, errores que proceden del vicio mental que se llama soledad y que ha estorbado el sano y libre desarrollo de su entendimiento, anquilosándolo en un monólogo infecundo. El romanticismo preconiza y exalta la soledad, pero el siglo XVIII, más sabio, ensalzaba la sociabilidad, ‹flor de la civilización›. Del romanticismo data una desproporcionada estimación del yo respecto de los demás. El romántico es a veces un actor genial en un teatro vacío. Él solo llena y rebasa el
164 Julio Torri: Almanaque de las horas. In: ders.: Tres libros. Ensayos y poemas. De fusilamientos. Prosas dispersas. México, D.F.: Fondo de cultura económica 1996 [1940], S. 82–91, hier S. 85. «Wir alle haben zwei Philosophien: jene, mit deren moralischen Vorstellungen wir aufgrund unseres zerbrechlichen Willens in unserem Handeln brechen; und eine andere Philosophie, eine humanere, mit der wir uns über unser Scheitern und unsere Schwächen hinwegtrösten.» 165 Ebda., S. 83. «Die ganze Lebensgeschichte eines Menschen spiegelt sich in seinem Verhalten wider.» 166 Ebda., S. 82. «Sobald jemand scheitert, lacht niemand noch erfreut sich jemand bis auf jener, der zuvor gescheitert ist.»
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grande escenario que es el mundo. A menudo antójasenos el romanticismo como una galería de grandes insociables, grandes huraños, grandes egoistas, grandes solitarios.167
War gelehrte Isolation bei Maximiliano noch eine Voraussetzung für reflektiertes Handeln, so verurteilt Torri sie scharf als egoistische Ungeselligkeit, ja als Misanthropie. Dennoch spielt das Thema der Einsamkeit für die Mitglieder des Athenäums eine Rolle, nicht etwa im Hinblick auf gelehrtes Einzelgängertum, sondern auf durch äußere Umstände bedingte intellektuelle Isolation. Nachdem Alfonso Reyes und Pedro Henríquez Ureña 1915 das Land verlassen hatten, umgab Julio Torri wie auch andere Schriftsteller, die unter dem Mentorat Reyes’ geschrieben hatten, eine Einsamkeit, die sie zu Exilierten im eigenen Land168 machte. Dies führt Zaitzeff dazu, die zweite Generation des Athenäums, zu der Torri zählt, als eine verlorene Generation zu bezeichnen, was sich mit der Tatsache deckt, dass ihre Werke innerhalb der mexikanischen Literatur eine Randstellung einnehmen.169 Dennoch trägt die Aphorismenproduktion und -rezeption in Mexiko zwischen dem Beginn des 20. Jahrhunderts und den 1960er Jahren insofern kollektive Züge, als sich die Aphoristiker des ateneo – Carlos Díaz Dufoo hijo, Reyes, Torri und schließlich Salvador Elizondo – nahestehen, was sich auch in intertextuellen Bezügen zwischen ihren Werken manifestiert.170 Das mexikanische
167 Julio Torri: Almanaque de las horas, S. 86. «Der Einsame ernährt sich von sich selbst, sich selbst zerstört er. Seine Landschaft ist immer dieselbe, sein Universum ist voll von ihm selbst. Sobald er auf Reisen geht oder mit anderen intelligenten Menschen verkehrt, wird er wohl viele Berichtigungen an seiner Meinung, seinen Vorstellungen und Wahrnehmungen vornehmen müssen, an all diesen Fehlern, die aus diesem mentalen Laster namens Einsamkeit hervorgehen, und welches die gesunde und freie Entwicklung seines Verständnisses behindert hat, indem es ihn auf einen unfruchtbaren Monolog versteift hat. Die Romantik preist und verherrlicht die Einsamkeit, das gelehrtere 18. Jahrhundert hingegen rühmte die Geselligkeit, diese ‹Blume der Zivilisation›. Von der Romantik stammt eine unverhältnismäßige Überschätzung des Ichs im Hinblick auf die anderen. Der Romantiker ähnelt bisweilen einem genialen Schauspieler in einem leeren Theater. Er allein füllt und durchmisst diese großartige Bühne der Welt. Oft kommt uns die Romantik vor wie eine Galerie, die all die ungeselligen, mürrischen, egoistischen und einsamen Größen zur Schau stellt.» 168 Serge I. Zaitzeff: Hacia el concepto de una generación perdida mexicana, S. 752. 169 Ebda., S. 756. 170 Haben einige Kritiker die außergewöhnliche Nähe zwischen den Werken von Díaz Dufoo und Torri festgestellt (z. B. Gabriel Wolfson: La construcción de Carlos Díaz Dufoo como un raro canónico. In: Tema y variaciones de literatura 33 (2009), S. 169–203, hier S. 170), die sich nicht zuletzt in Torris Vorwort zu den Epigramas äußert, so lassen sich auch zwischen den Aphorismen von Díaz Dufoo und Torri einerseits und den 1969 veröffentlichten Cuadernos de escritura (Salvador Elizondo: Cuaderno de escritura. Coyoacán, México: Vuelta 1992 [1969]) von Salvador
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Athenäum ist durch einen gemeinschaftlichen Geist gekennzeichnet, der für die lateinamerikanischen Avantgarde-Bewegungen insgesamt konstitutiv wird und der eine Rückbindung des aphoristischen Schreibens an die Lebenspraxis bewirkt.
2.4.2 Kunst der Verneinung: Der Aphorismus in den lateinamerikanischen Avantgarden (martinfierrismo und antropofagismo) Entwickeln die Aphoristiker des mexikanischen Ateneo de la Juventud ihre aphoristische Schreibweise als Gegengewicht zum extensiven Stil des indigenistischen und Revolutionsromans, so ist auch den Aphoristikern, deren Werke innerhalb lateinamerikanischer Avantgarde-Bewegungen entstehen, daran gelegen, mit bestehenden literarischen Traditionen zu brechen. Allerdings richten sich diese Autoren, anders als die ateneistas, nicht gegen einen bestimmten Stil, sondern gegen die Ideale einer Bildungsoligarchie, die im Einklang mit französischen Vorbildern wie dem Parnassianismus in der Theorie des l’art pour l’art und der mit ihr einhergehenden Trennung von Lebenspraxis und Kunst eine ästhetische Verkörperung gefunden haben. In den lateinamerikanischen Avantgarden erfreut sich der Sinnspruch ausgesprochener Beliebtheit. Jorge Luis Borges etwa bedient sich einer Sentenz von Gracián, um die Ästhetik der spanisch-argentinischen Avantgarde-Bewegung des Ultraismus zusammenzufassen: «Más obran quintaesencias que fárragos».171 Im Einklang mit dieser Regel ergibt sich die Einheit eines Gedichts nach der ultraistischen Auffassung aus einem einzigen Thema, das sich aus mehreren Metaphern speist. Eine gesteigerte Prominenz erfährt der Aphorismus in der sich an den Ultraismus anschließenden Bewegung des Martinfierrismo. Von 1924 bis 1927 erscheinen in der argentinischen Avantgarde-Zeitschrift Martín Fierro Aphorismen des Herausgebers Oliverio Girondo (Membretes)172 sowie anderer nationaler und
Elizondo andererseits inhaltliche Gemeinsamkeiten, wie etwa die Motive Himmel, Hölle und Fegefeuer feststellen. Außerdem verbindet den kosmopolitisch eingestellten Elizondo mit seinen beiden Vorgängern die Ablehnung des realistischen Romans, dessen Autoren er die Verschleierung des sprachlichen Konstruktcharakters ihres Werks vorwirft. Vgl. Steven Bell: Literatura crítica y crítca de la literatura: Teoría y práctica en la obra de Salvador Elizondo. In: Chasqui: Revista de literatura latinoamericana 11, 1 (1981), S. 41–52, hier S. 43. 171 Jorge Luis Borges: Ultraísmo. In: Jorge Schwartz (Hg.): Las vanguardias latinoamericanas. Madrid: Cátedra 1991 [1921], S. 133–138, hier S. 136. «Quintessenzen sind wirksamer als Wirrwarr». (Eigene Übersetzung). 172 Martín Fierro: periódico de arte y crítica libre. Buenos Aires 1924–1927, hier 4 (Mai 1924), S. 27; 8–9 (August-September 1924), S. 58; 32 (August 1926), S. 233; 34 (Oktober 1926), S. 258.
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internationaler Schriftsteller und Künstler wie den Argentiniern Carlos Grünberg (Icongruencias)173, Andrés Terzaga (Líneas)174, Sergio Piñero (Greguerías criollas)175, Adán Diehl (Notas)176 und Xul Solar (Algunos piensos cortos de Cristian Morgenstern)177, dem Mexikaner Leopoldo Hurtado (Celuloide)178, dem Spanier José Bergamín (Aforística figurativa)179 sowie den Franzosen Rémy de Gourmont (Pensamientos)180 und Paul-Jean Toulet (Fragmento)181. Auch wenn Martín Fierro eher für eine ästhetisierende und weniger für eine politisch-soziale Richtung der lateinamerikanischen Avantgarden steht,182 so verbindet den Martinfierrismus mit den übrigen Avantgarde-Bewegungen doch das Anliegen, die Trennung von Kunst und Lebenspraxis aufzuheben, die in Europa wie in Lateinamerika183 «zum entscheidenden Merkmal der Autonomie der bürgerlichen Kunst»184 geworden ist. Wie Bürger in seiner auch in Lateinamerika breit rezipierten Theorie der Avantgarde darlegt, besagt die Forderung der Avantgardisten nach einer wieder lebenspraktischen Ausrichtung der Kunst nicht, dass der Inhalt der Werke soziale Relevanz haben solle. Vielmehr richtet sich ihre Kritik an der Abgehobenheit der Kunst von der Lebenspraxis gegen «die individuelle Produktion und die davon getrennte individuelle Rezeption»185. Martín Fierro bietet zusammen mit anderen avantgardistischen Zeitschriften den Vertretern der neuen Kunsttheorie eine Plattform, auf der sich Literaturproduktion bzw. Reproduktion von Kunst mit deren Kritik verbinden und die einem sich ständig vergrößernden Publikum Einsicht in den Literatur- und Kunstbetrieb gibt.186 Die Zeitschrift besteht in der Regel aus nur vier Seiten, die neben Vorabdrucken und Erstveröffentlichungen, darunter
173 Carlos Grünberg: Icongruencias. In: Martín Fierro 10–11 (September – Oktober 1924), S. 70. 174 Andrés Terzaga: Líneas. In: Martín Fierro 10–11 (Oktober – November 1924), S. 72. 175 Sergio Piñero: Greguerías criollas. In: Martín Fierro 12–13 (Oktober – November 1924), S. 85. 176 Adán Diehl: Notas. In: Martín Fierro 33 (1926), S. 282. 177 Xul Solar: Algunos piensos cortos de Cristian Morgenstern. In: Martín Fierro 41 (Mai 1927), S. 317. 178 Leopoldo Hurtado: Celuloide. In: Martín Fierro 35 (November 1926), S. 267. 179 José Bergamín: Aforística figurativa. In: Martín Fierro 36 (1926), S. 282. 180 Rémy de Gourmont: Pensamientos. In: Martín Fierro 8–9 (1924), S. 57. 181 Paul-Jean Toulet: Fragmento. In: Martín Fierro 8–9 (1924), S. 58. 182 Vgl. Jorge Schwartz (Hg.): Las vanguardias latinoamericanas. Madrid: Cátedra 1991, S. 44–45. 183 Vgl. Eliseo Lara Órdenes: Estética y política en la literatura. Elementos críticos para los estudios literarios. 2013, https://unab.academia.edu/EliseoLaraOrdenes (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020), S. 3. 184 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 66. 185 Ebda., S. 72. 186 Vgl. Silvia Gonzalvo: Einleitung. In: Oliverio Girondo: Membretes/Denkzettel. Hg. von Silvia Gonzalvo, übers. von Kunibert Baumann, Bamberg: Universitätsbibliothek 1990, S. 7–39, hier S. 7.
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Girondos Membretes, kritische Essays sowie ironisch-satirische Beiträge über das ganze Spektrum der zeitgenössischen Kunst und Literatur, ergänzt durch aktuelle Informationen und Buchbesprechungen enthalten.187 In den Avantgarde-Zeitschriften findet der Aphorismus ein neues soziales Umfeld und gewinnt durch die ständige unmittelbare Verbindung der Produktion mit der Rezeption für kurze Zeit seine Funktion als kollektive Praxis, die er im 19. Jahrhundert verloren hatte. Was Zeitschriften wie Martín Fierro jedoch von den literarischen Salons der französischen Klassik unterscheidet, ist die Tatsache, dass der Aphorismus in ihnen nicht aus der Motivation der Menschenbeobachtung heraus kultiviert wird, sondern im Rahmen einer Suche nach neuen Kunstformen, um mit den Traditionen bürgerlicher Kunst zu brechen. Einige der genannten Autoren, darunter Piñero und Girondo, verfassen ihre Aphorismen nach dem Vorbild des spanischen Schriftstellers Ramón Gómez de la Sernas, dessen bildhaft-aphoristische Greguerías weder inhaltlich noch formal an die europäische Aphorismentradition anschließen.188 Gómez de la Serna selbst verzichtet auf eine Definition dieser kleinen Form und häuft stattdessen in seinem Prolog bildliche Umschreibungen der Greguería an, die die Gattung schwer greifbar machen. Diese Opazität des Gattungsbegriffs ist beabsichtigt und entspricht der ultraistischen Auffassung, dass mithilfe von Metaphern eine direkte Verbindung zwischen Empfindung und Sprache ohne einen Umweg über den Verstand geschaffen werden könne. Gómez de la Serna sieht seine humoristische und mit Metaphern spielende Variante des Aphorismus als die Erfindung einer neuen Gattung an, die einigen Martinfierristas zur bevorzugten Form ihres Schaffens wird. So schreibt er im Prolog zu seinen Greguerías: Desde hace nueve años me dedico a la Greguería, porque la Greguería me tiene convencido por cómo nació aquel día de escepticismo y cansancio en que cogí todos los ingredientes
187 Silvia Gonzalvo: Einleitung, S. 8. 188 Eine kompakte Begriffsdefinition der Greguería ist bisher nicht gefunden (vgl. Laurie Anne Laget: Greguería. In: Alain Montandon/Saulo Neiva (Hg.): Dictionnaire raisonné sur la caducité des formes et des genres littéraires. Genf/Paris: Droz 2014, S. 386–397, hier S. 385), obschon die Real Academia Española im Mai 1960 die folgende Definition akzeptiert: «GREGUERÍA: Agudeza o imagen en prosa que presenta una visión personal y sorprendente de algún aspecto de la realidad y que ha sido lanzada y así denominada caprichosamente hacia 1912 por el escritor Ramón Gómez de la Serna.» Ramón Gómez de la Serna: Total de Greguerías. Madrid: Aguilar 1962, S. 24, Anm. 1. [«GREGUERÍA: Witz oder Bild in Prosa, das eine persönliche und überraschende Sichtweise auf einen Aspekt der Realität darstellt und die gegen 1912 vom Schriftsteller Ramón Gómez de la Serna in Umlauf gebracht und eigens so bezeichnet wurde.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden)].
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de mi laboratorio, todos, frasco por frasco, y los mezclé, surgiendo de su precipitación, de su depuración, de su disolución radical, la Greguería.189
Die Greguería ist demnach das Ergebnis einer Dekomposition und einer zufälligen Rekomposition von Zutaten, aus der der metaphysische Anteil, der die Maxime noch kennzeichnete, eliminiert ist. «Las cosas apelmazadas y trascendentales deben desaparecer, comprendida entre ellas la Máxima, dura como una piedra, dura como los antiguos rencores contra la vida; ¡oh! a la Máxima es a lo que menos se quiere parecer la Greguería.»190 Besonders dürfte die Avantgardisten neben dem Bruch mit literarischen Traditionen der lebenspraktische Anspruch, den Gómez de la Serna für seine Kurzprosa erhebt, angesprochen haben: La Greguería es el género que se debe escribir en los bancos públicos, en los pretiles de los puentes, en las mesas de los cafés, al ir solo en los simones lentos acompañando a los entierros, en las mesas de las cocinas, en los frogones, etc.191
Greguerías sollen den Menschen überall, sowohl in privaten als auch öffentlichen Räumen begegnen und das Verrichten alltäglicher Tätigkeiten begleiten. Allerdings scheint sich die Nähe zur Alltagspraxis in den Greguerías darauf zu beschränken, dass sie Alltagsgegenstände wie Schere, Siphonflasche oder Streichhölzer aufgreifen und diese dekontextualisieren und dadurch verfremden, um in einer surrealistisch anmutenden Geste das Wunderbare im Alltag zum Vorschein zu bringen. Während Gómez de la Serna die Relevanz seiner subjektiven Realitätsbetrachtung für den Leser somit ausblendet, beansprucht Girondo für seine Membretes eine pädagogische Funktion. «Sie ‹bezwecken› etwas, wollen der Jugend helfen, die veralteten ästhetischen Kategorien abzulegen. Sie wollen das Publikum erziehen, indem sie eine Leserschaft ausbilden,
189 Ramón Gómez de la Serna: Obras completas IV. Ramonismo II. Greguerías, Muestrario (1917–1919). Barcelona: Galaxia Gutenberg 1997, S. 41. «Seit neun Jahren widme ich mich nun der greguería, weil ich von ihr überzeugt bin, vom Tage an wie sie aus Skeptizismus und Trägheit heraus entstand, als ich alle Zutaten aus meinem Labor nahm, alle, Fläschchen für Fläschchen, und sie miteinander vermischte, bis aus der Ausfällung, der Reinigung, der radikalen Lösung die greguería entstand.» 190 Ramón Gómez de la Serna: Obras completas IV, S. 42. «Die schwer lesbaren und transzendentalen Themen müssen verschwinden, einschließlich der Maxime, die hart wie Stein ist, hart wie der alte Groll gegen das Leben; oh! Der Maxime will die greguería am wenigsten gleichen.» 191 Ebda., S. 48. «Die greguería is das Genre, das auf öffentlichen Bänken geschrieben werden muss, auf Brüstungen von Brücken, an Cafétischen, beim Fahren in den langsamen Kutschen, die Leichenzüge begleiten, an Küchentischen, am Herd, etc.»
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die in der Lage ist, zeitgenössische und künftige Werke zu verstehen.»192 Die folgenden Aphorismen, in denen Girondo sich humoristisch über Größen der europäischen Literatur, Kunst und Musik hinwegsetzt, lassen sowohl Lakonismus und Bildhaftigkeit der Greguería als auch das Anliegen einer Sensibilisierung für neue Kunstformen erkennen: Renán es el hombre más bien educado que conozco; hasta cuando cree tener razón, se empeña en convencernos que no la tiene. El problema más serio de Goya tuvo que resolver al pintar los tapices, fue un problema de azúcar: un terrón más y sólo hubieran podido utilizarse para la tapa de alguna bombonera. En música al pleonasmo se le titula: Variación.193
Die didaktische Anleitung zum Verständnis avantgardistischer Kunst setzt eine Ablehnung von bisher als Meisterwerke betrachteten Exemplaren voraus, wie sie Rémy de Gourmont in einem Aphorismus auf den Punkt bringt: Confieso que al contemplar por primera vez la Mona Lisa de Leonardo, me quedé sorprendido. Jamás había visto una mujer de expresión más tonta.194
Die Pointe besteht hier darin, dass der erste Satz beim Leser die Erwartung weckt, es würde gleich eine ästhetische Emotion der Bewunderung beschrieben, die der Betrachter beim Anblick der Mona Lisa empfunden habe. Statt diese Erwartung zu erfüllen, benennt er jedoch eine negative Überraschung und bricht so mit den positiven Konnotationen, die die bisherige Kunstkritik in Verbindung mit Leonardo da Vincis Gemälde etabliert hat. Der Bruch mit dem traditionellen Schönheits- und Mimesisbegriff in Verbindung mit einer lebenspraktischen Ausrichtung der Kunst verlangt nach neuen
192 Silvia Gonzalvo: Einleitung, S. 31. Das lebenspraktische, pädagogische Anliegen der Martinfierristas äußert sich bei Girondo nicht zuletzt darin, dass er, im Gegensatz zu Gómez de la Sernas Greguerías, seine Membretes selbst nie in Buchform veröffentlichte – offenbar betrachtete der Argentinier eine Avantgarde-Zeitschrift als das angemessene Umfeld für seine Kurzprosa, während er sein poetisches Werk in verschiedenen Buchbänden editierte. Vgl. Ebda., S. 26. 193 Oliverio Girondo: Membretes. In: Martín Fierro 8–9 (1924), S. 58. «Renán ist der am besten erzogene Mann, den ich kenne; sogar wenn er glaubt, Recht zu haben, beharrt er darauf, uns zu überzeugen, dass er im Unrecht ist.» «Das gravierendste Problem, das Goya beim Malen der Gobelins zu lösen hatte, war ein Zuckerproblem: ein Stück Zucker mehr und man hätte sie nur als Deckel einer Pralinenschachtel verwenden können.» «In der Musik betitelt man einen Pleonasmus so: Variation.» 194 Rémy de Gourmont: Pensamientos. In: Martín Fierro 8–9 (1924), S. 57. «Ich gestehe, dass ich beim ersten Betrachten der Mona Lisa von Leonardo überrascht war. Nie hatte ich eine Frau mit einem dümmeren Ausdruck gesehen.»
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Ausdrucksformen, die die Avantgardisten bei Künstlern wie Gómez de la Serna oder Picasso finden. Antes del cubismo, en el cubismo y después del cubismo, Picasso es pintor puro; inventor formal; constructor abstracto; arquitecto poético; creador absoluto.195
Wie dieser Aphorismus von José Bergamín nahelegt, ist die Nachahmung europäischer Künstler und Gattungen, auch wenn diese Modelle ihrerseits die europäische Literaturtradition negieren, nicht mit der lateinamerikanischen Verankerung der Bewegung vereinbar, wie sie Girondo im Manifiesto Martín Fierro, das die erste Ausgabe der Zeitschrift einleitete, postuliert.196 Sie bringt den Martínfierristas vielmehr den Vorwurf ein, den argentinischen Nationalcharakter zu verraten. Nachahmung verstößt außerdem gegen das avantgardistische Verbot der Imititation, das Adán Diehl im folgenden Aphorismus formuliert: Siempre quien imita ha comprendido mal. Si fuera capaz de comprender no imitaría.197
Durch die Publikation von Kurztexten, die alle dem kollektiven Anliegen einer Neuausrichtung der Kunst dienen sollen, in unterschiedlichen Ausgaben der Zeitschrift, entsteht eine Vielstimmigkeit, in der sich die Aussagen der Autoren teilweise gegenseitig aufheben. Der kollektive Geist des Martinfierrismus und seine Solidarisierung mit europäischen Avantgarde-Strömungen wie dem Kubismus treten in Widerspruch zur Forderung nach Individualität und Neuheit des einzelnen Kunstwerkes. Indem die Avantgardisten mit jeglicher Form der Nachahmung brechen, entziehen sie sich selbst die Möglichkeit einer kollektiven Erneuerung der Kunst oder, wie es José Bergamín aphoristisch formuliert: El arroyo huye de sí mismo.198
195 José Bergamín: Aforística figurativa, S. 282. «Vor, während und nach dem Kubismus ist Picasso ein reiner Maler, ein Erfinder der Form, ein Konstrukteur des Abstrakten, ein poetischer Architekt, ein absoluter Schöpfer.» 196 Oliverio Girondo: Manifiesto Martín Fierro. In: Jorge Schwartz (Hg.): Las vanguardias latinoamericanas. Madrid: Cátedra 1991 [1924], S. 142–143, hier S. 143. «Martín Fierro cree en la importancia del aporte intelectual de América, previo tijeretazo a todo cordón umbilical. […] / Martín Fierro tiene fe en nuestra fonética, en nuestra visión, en nuestros modales, en nuestro oído, en nuestra capacidad digestiva y de asimilación.» [«Martín Fierro glaubt an die Bedeutung des intellektuellen Beitrags Amerikas, sofern das Durchschneiden der Nabelschnur geschehen ist. […] / Martín Fierro glaubt an unsere Phonetik, unsere Vision, unsere Manieren, unser Gehör und unsere Fähigkeit der Verdauung und der Assimilation.» 197 Adán Diehl: Notas, S. 282. «Wann immer jemand nachahmt, hat er falsch verstanden. Wäre er des Verstehens fähig, würde er nicht nachahmen.» 198 José Bergamín: Aforística figurativa, S. 282. «Der Bach flieht vor sich selbst.»
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Was die zitierten Aphorismen verbindet, ist ein Argumentationsschema, das im Einklang mit zahlreichen Avantgarde-Manifesten in der Negation besteht. In sämtlichen Kurztexten werden herkömmliche Kunstformen abgelehnt, ohne dass Aussagen über mögliche Alternativen getroffen werden. Zwar schlägt Henri de Gourmont das Stilmittel der Kürze als neues gestalterisches Verfahren vor,199 womit jedoch auch er unfreiwillig an eine europäische aphoristische Tradition anknüpft. Somit richtet sich der Aphorismus der Martínfierristas zwar gegen eine herrschende Denkordnung, vermag dieser allerdings keine neuen Inhalte entgegenzusetzen. Analog geht die Abkehr von traditionellen Ausdrucksweisen durch die Avantgarden mit der Unmöglichkeit einher, neue, geteilte künstlerische Praktiken zu finden, da sich diese selbst in Traditionen zu verwandeln drohen – ein Paradox, auf das unter anderem der mexikanische Nobelpreisträger Octavio Paz in seinem Essay Los hijos del limo hingewiesen hat.200 Einen anderen Umgang mit traditionellen europäischen Denk- und Ausdrucksweisen kennzeichnet die brasilianische Avantgarde-Bewegung der Antropofagia. Zwar teilt sie mit dem Martinfierrismus das Moment der Verneinung, besetzt jedoch die Leerstelle, die durch die Ablehnung von (europäischen) Traditionen entsteht, mit dem Motiv des Kannibalismus: Só a antropofagia nos une. Socialmente. Economicamente. Filosoficamente.201
Mit diesem Aphorismus eröffnet Oswald de Andrade die programmatische Streitschrift der Bewegung, indem er das europäische Klischee des Kannibalismus als Akt der Aneignung darstellt, der sich in sämtlichen Zonen des Kulturkontakts, vor allem aber in Brasilien abspielt. Im «Manifesto antropofago» (1928)202 bedient sich Andrade durchgängig der Gattung des Aphorismus,203 womit er den provo-
199 «El arte que no sabe evocar en un verso, en una frase, en una melodía o en una pincelada, todo un momento de la vida, bien puede ser orfebrería: no es arte.» Henri de Gourmont: Notas. In Martín Fierro 33 (1926), S. 282. [«Die Kunst, welche es nicht versteht, in einem Vers, einem Satz, einer Melodie oder einem Pinselstrich einen ganzen Moment des Lebens hervorzurufen, kann genauso gut die Arbeit eines Schmieds sein: sie ist keine Kunst.»] 200 Octavio Paz: Los hijos del limo. Barcelona: Seix Barral 1974, S. 159–160. 201 Oswald de Andrade: Manifesto antropofago. In: Revista de Antropofagia 1, 3 u. 7 (1928), S. 3. «Nur die Anthropophagie vereint uns. Gesellschaftlich. Wirtschaftlich. Philosophisch.» Oswald de Andrade: Anthropophagisches Manifest. Übers. von Maralde Meyer-Minnemann und Berthold Zilly. In: Isabel Exner/Gudrun Rath (Hg.): Lateinamerikanische Kulturtheorien, Konstanz: KUP 2015 [1928], S. 45–50, hier S. 45. 202 Im Folgenden abgeküzt mit MA. Die Verweise auf die deutsche Übersetzung von Maralde Meyer-Minnemann und Berthold Zilly werden jeweils mit MAd abgekürzt. 203 Ein weiterer prominenter Anhänger der Anthropophagie-Bewegung war Murilo Mendes, der ebenfalls ein Teil seines Werkes in Aphorismen verfasste. Allerdings erscheint
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kativen und widerständischen Charakter der Bewegung unterstreicht und seine Aussagen zugleich in eine Art revidierten Gesetzeskanon kleidet. Única lei do mundo. Expressão mascarada de todos os individualismos, de todos os coletivismos. De todas as religiões. De todos os tratados de paz.204 (MA 3) Só me interessa o que não é meu. Lei do homem. Lei do antropofago.205
(MA 3)
Andrade spielt so mit der Janusköpfigkeit der klassischen Maxime, die universelle Gesetzmäßigkeiten auszudrücken und zugleich dominante Auffassungen zu widerlegen sucht. Der geistige Kannibalismus folgt einem ungeschriebenen Gesetz, das von außen oktroyierte Normen außer Kraft setzt. Nunca fomos catequizados. Vivemos através de um direito sonâmbulo. Fizemos Cristo nascer na Bahia. Ou em Belém do Pará.206 (MA 3)
Der Akt der Aneignung besteht in diesem Fall darin, die zentrale Figur derjenigen Religion, die die Europäer in Brasilien einführten, in zwei brasilianischen Städten mit starkem afrikanischem und indischem Einfluss207 zu verankern und so den europäischen Katechismus durch einen genuin brasilianischen Synkretismus zu ersetzen. Im folgenden berühmten Aphorismus geht Andrade in seiner heterodoxen Umkehrung europäischer Normen so weit, die Erklärung der Menschenrechte, wie sie aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist, als Ergebnis einer weltweiten kollektiven Widerstandsbewegung zu deklarieren, die vergangene und künftige Revolutionen in sich vereint: Queremos a Revolução Caraíba. Maior que a revolução Francesa. A unificação de todas as revoltas eficazes na direção do homem. Sem nós a Europa não teria sequer a sua pobre declaração dos direitos do homem.208 (MA 3)
seine Aphorismensammlung O discípulo de Emaús (1944) erst nach der Auflösung der AvantgardeBewegung. Ferner folgt er in seinen Aphorismen weniger dem manifestativen Stil seines Vorgängers Oswald de Andrade, sondern schreibt sich mit seinem Leitgedanken von der Einheit der Gegensätze in eine europäische Aphorismentradition ein, die auf Heraklit zurückgeht. Vgl. Kap. 6.2. 204 «Einziges Gesetz der Welt. Maskierter Ausdruck aller Individualismen, aller Kollektivismen. Aller Religionen. Aller Friedensverträge.» (MAd, S. 45). 205 «Mich interessiert nur, was mir nicht gehört. Gesetz des Menschen. Gesetz des Anthropophagen.» (MAd, S. 45). 206 «Wir sind nie katechisiert worden. Wir leben dank einem schlafwandlerischen Gesetz. Wir ließen Christus in Baia zur Welt kommen. Oder in Belém do Pará.» (MAd, S. 46). 207 Vgl. Jorge Schwartz (Hg.): Las vanguardias latinoamericanas, S. 175, Anm. 36. 208 «Wir wollen die Karibische Revolution. Größer als die Französische Revolution. Die Vereinigung aller wirklichen Revolten, die zum Menschen führen. Ohne uns hätte Europa nicht einmal seine armselige Erklärung der Menschenrechte.» (MAd, S. 46).
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Das Anthropophagische Manifest teilt mit dem Manifiesto de Martín Fierro eine zentrale rhetorische Struktur, die den verneinenden Charakter beider Strömungen unterstreicht. Es handelt sich um die anaphorische Wiederholung der Präpositionen «frente a» (Martín Fierro)209 und «contra» («Manifesto antropofago»)210 am Satzbeginn. Dieses Stilmittel, das Oswald de Andrade in 13 von gut 50 Aphorismen seines Manifests verwendet, nähert seine Aphoristik dem politischen Slogan an und verleiht ihr einen stark didaktischen Impuls: Das Manifest zielt darauf ab, die ästhetischen Ideen, die es zugleich umsetzt und ideologisch untermauert, zu verbreiten.211 Die lebenspraktische Ausrichtung, die der Aphorismus in den lateinamerikanischen Avantgarden erhält, besteht also zum einen darin, dass er über die semikollektive Produktions- und Rezeptionsform der Zeitschrift zirkuliert und zum anderen darin, dass er belehren will. Dabei bleibt er jedoch, wie in der Aphoristik des mexikanischen Athenäums, von jeglichem politischen Engagement losgelöst. Die Entscheidung einiger Avantgarde-Schriftsteller gegen Ende der 1930er Jahre, sich einem politischen und sozialen Aktivismus zuzuwenden, bedeutet das Ende vieler Avantgarde-Zeitschriften und geht mit einer Abkehr zahlreicher AvantgardeKünstler von der selbst entwickelten Ästhetik, teilweise sogar von ihrer künstlerischen Tätigkeit einher. So führen interne politische Differenzen zur Auflösung der Zeitschrift Martín Fierro, und Oswald de Andrade gibt seine anthropophagistischen Avantgarde-Experimente zugunsten eines Engagements im Partido Comunista Brasileiro auf.212 In jüngster Zeit setzen einige – nun elektronische – Zeitschriften den avantgardistischen Kollektivgeist in veränderter Form fort, indem sie die
209 «Frente a la impermeabilidad del honorable público. / Frente a la funeraria solemnidad del historiador y del catedrático que momifica todo cuanto toca. […]» Oliverio Girondo: Manifiesto Martín Fierro, S. 142. [«Gegen die Undurchläsigkeit des ehrwürdigen Publikums. / Gegen die Grabesfeierlichkeit des Geschichtsschreibers und des Professors, der alles mumifiziert, sobald er es berührt.» (Eigene Übersetzung).] 210 «Contra toda as catecheses» (MA, S. 3) [«Gegen alle Katechesen» (MAd, S. 45)]; «Contra u mundo reversivel e as idéas objectivadas» (MA, S. 3) [«Gegen die umkehrbare Welt und die objektivierten Ideen.» (MAd, S. 47)]; «Contra a verdade dos povos misionarios» (MA, S. 7) [«Gegen die Wahrheit der missionarischen Völker.» MAd 48)]; «Contra Goethe, a mãe dos Grachos, e a Côrte de D. João VIo.» (MA, S. 7) [«Gegen Goethe, die Mutter der Gracchen und den Hof von König João VI.» MAd, S. 49)]; «Contra a realidade social, vestida e oppresora, cadastrada por Freud» (MA, S. 7) [«Gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit, angekleidet und unterdrückt, von Freud klassifiziert» (MAd, S. 50)], etc. 211 Vgl. Viviana Gelado: Un ‹arte de la negociación›: El manifiesto de vanguardia en América latina. In: Revista Iberoamericana 74, 224 (2008), S. 649–666, hier S. 654. 212 Vgl. Jorge Schwartz (Hg.): Las vanguardias latinoamericanas, S. 39.
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Funktion eines Forums erfüllen, das die (Re-)Produktion von Kunstwerken, insbesondere von kleinen Formen, eng mit deren Rezeption verknüpft.213
2.4.3 José Emilio Pacheco (Mexiko) und die antipoesía conversacional Die Zeitschriften und Manifeste der Avantgarden bringen eine soziale Integration des Aphoristikers mit sich, indem sie eine gesellschaftliche Wirkung beanspruchen und sich damit radikal von der Selbstgenügsamkeit bürgerlicher Kunst absetzen. Diese Verbindung von Aphorismus und Lebenspraxis setzt sich in der so genannten antipoesía conversacional der lateinamerikanischen PostAvantgarden in veränderter Form fort. Während bei den Avantgardisten die Wirkung der Kunst, statt ihres Inhalts, lebenspraktisch angelegt ist, bezieht sich die Kurzprosa des mexikanischen Dichters José Emilio Pacheco (1939–2014) gerade auf eine lebensweltliche Realität, wenn sie historische Ereignisse thematisiert, die im kollektiven Bewusstsein der Mexikaner verankert sind. Besonders schmerzhaft ist die Generation von Pacheco durch das Massaker von Tlatelolco geprägt. Die Spannungen und Konflikte der 1960er Jahre zwischen dem mexikanischen Establishment, das durch die Fortschrittsideologie des desarrollismo gefestigt worden war, und den Anhängern demokratischer Protestbewegungen finden ihren Höhepunkt in der blutigen Niederschlagung der Studentendemonstration am 2. Oktober 1968 auf dem Platz von Tlatelolco – ein Ereignis, das den Mythos der Mexikanischen Revolution endgültig zusammenbrechen lässt. Pachecos Lyrikband No me preguntes cómo pasa el tiempo, der Gedichte von 1964 bis 1968 umfasst und der unter dem Eindruck der erschütternden Erfahrung von Tlatelolco seinen Abschluss findet, markiert eine Zäsur im Werk des mexikanischen Dichters. Von der formal strengen Poesie seines Frühwerks geht der Lyriker zu konzisen Kurzformen über, die sich teilweise nicht mehr von Aphorismen unterscheiden lassen. Lyrik und Kurzprosa, Gedicht und Aphorismus gehen eine Verbindung ein, die sich einerseits der Fähigkeit des Aphorismus, sich in die unterschiedlichsten Ko-Texte einzufügen, verdankt,214 und zum anderen der Entstehung einer neuen Form der Lyrik, die nicht nur die Grenzen hin zur
213 Vgl. dazu ausführlich Miriam Lay Brander: ‹¿Gracias a Twitter, reviven los aforismos?› – Las formas breves en Internet. In: Meridional. Revista Chilena de Estudios Latinoamericanos 5 (2015a), S. 1–40. 214 Kurt Spang geht sogar so weit, den Aphorismus wegen seiner dichten und elaborierten Sprache, seinem Anspruch auf Originalität, die auf einen höchstmöglichen ästhetischen Effekt abzielt, und seiner kondensierten Einheit als lyrische Gattung zu identifizieren. Kurt Spang: Géneros literarios, S. 1249–1251.
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Prosa überschreitet – diesen Schritt vollzogen bereits die Modernisten –, sondern deren oberstes Gebot die Kürze ist. Auch wenn der Aphorismus seinen Ursprung nicht in einer musikalischen, sondern vielmehr wissenschaftlichen Tradition hat, steht er dem Prosagedicht nahe, das sich ab dem späten 19. Jahrhundert in der europäischen Moderne herausbildet und im frühen 20. Jahrhundert zu einer Massenerscheinung wird. Als Archetypus der Gattung gilt Baudelaires Gedichtsammlung Spleen de Paris (1869), die er mit Petits poèmes en prose untertitelt. Baudelaire schafft in diesen Gedichten ein kalkuliertes Spannungsverhältnis zwischen Lyrik und Prosa und begeht damit einen «Akt der ‹Rebellion› gegen die Zwänge der normativen französischen Metrik und Strophik»215, indem er zwei angeblich inkompatible Ausdrucksformen miteinander verbindet. José Emilio Pacheco scheint in seiner späten Lyrik Baudelaires Ästhetik des Flüchtigen und Kontingenten aufzugreifen, wobei es bei ihm nicht um das Beklagen eines pathologischen Gesellschaftszustandes geht, den die französischen Modernisten im Second Empire zu erkennen glaubten, sondern um den Ausdruck eines erschütterten Geschichtsbildes, in dem der Mythos der Mexikanischen Revolution durch die Ereignisse von Tlatelolco in sich zusammengefallen ist. In der spanischsprachigen Welt war es der aus Nicaragua stammende Autor Rubén Darío, der nicht nur dem Modernismo, sondern auch dem Prosagedicht zum Durchbruch verhalf – ein Autor, den Pacheco als Pionier einer neuen lateinamerikanischen Schreibweise würdigt, wenngleich er seinen Hang zum Kosmopolitismus nicht teilt. Weiteren Auftrieb erhält das Prosagedicht in Lateinamerika durch Octavio Paz, der ihm eine umgangssprachliche Wendung verleiht. Dieser kolloquiale Ton findet bei Pacheco seinen besonderen Ausdruck in einer Antipoesie, die sich konversationelle Elemente einverleibt. Stilistisches Kennzeichen dieser poesía conversacional ist ein umgangs- und alltagssprachlicher Ton, der jedoch dem Literarischen verbunden bleibt und daher nicht mit der Alltagssprache gleichgesetzt werden kann.216 Inhaltlich ist diese Form der Lyrik eng mit aktuellen historischen Ereignissen verknüpft, ja sie präsentiert sich als poetisches Ausdrucksmittel einer empirischen Realität,217 die sie jedoch nicht abzubilden, sondern deren Unberechenbarkeit und Opazität sie poetisch zu spiegeln sucht. In der antipoesía conversacional dominiert ein lyrisches Ich, das nicht mehr aus einer subjektiven Perspektive heraus spricht, sondern einen kollektiven alltägli-
215 Wolfgang Bunzel: Prosagedicht, S. 588. 216 Vgl. Samuel Gordón: El tiempo en el cuento hispano-americano: Antología de ficción y crítica. México City: Univ. Nacional Autónoma de México 1989, S. 255. 217 Vgl. Ebda., S. 23.
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chen Diskurs in die Poesie integriert.218 Sie behält zwar den autoaffirmativen und emanzipatorischen Charakter einer monologischen und intimistischen Lyrik bei, nähert sich aber zugleich einer «lírica cantada y sociable»219 an, die sich durch einen kollektiven Präsentations- und Rezeptionsrahmen auszeichnete. Auch wenn Pacheco auf die Rhythmik dieser frühen Form der Lyrik verzichtet, teilt er mit ihr einige zentrale Themen, die dem sozialen Leben entnommen sind (Geburt, Tod, Krieg, historische Ereignisse, Liebe) und übernimmt ihren häufig dialogischen Charakter. In No me preguntes cómo pasa el tiempo wird die Abwendung von einer dem Sublimen verpflichteten Lyrik und die Hinwendung zu einem konversationellen Stil etwa dort deutlich, wo Pacheco auf eine sprichwortähnliche metaphorische Rede zurückgreift. Dies ist in einem Rubén Darío gewidmeten Epigramm der Fall, in dem Pacheco den hundertsten Jahrestag des Dichters mit einem gnomischen Satz verbindet. El centenario de Rubén Darío (1867–1916) Sólo el árbol tocado por el rayo guarda el poder del fuego en su madera.220
In dieser Hommage, die aufgrund der verwendeten Naturmetaphorik wie ein Sprichwort anmutet, würdigt Pacheco die Begabung Daríos und die Wirkung, die von seinem Werk ausgeht und auf künftige Generationen ausgehen wird. Die Aussage des aphoristischen Satzes ergibt sich hier erst aus seiner Verbindung mit dem Titel, der ein konkretes Ereignis benennt. Ihre sprichwörtliche Schlagkraft erhält sie, neben den verwendeten Metaphern von Blitz und Feuer, durch die Restriktion («sólo») sowie die Antithese zwischen dem Augenblicklichen («tocado por el rayo») und der im Verb «guardar» ausgedrückten Beständigkeit. Die im vorhergehenden Beispiel zu beobachtende Opazität des Inhalts bei gleichzeitiger Konkretheit des Titels kennzeichnet auch die folgenden Epigramme. Ihr Titel verweist auf die Eingriffe der mexikanischen Armee, die am 28. August 1968 auf dem Zócalo in Mexiko-Stadt die Teilnehmer einer studentischen Protestbewegung zerstreute und am 28. Oktober desselben Jahres im berühmten Massaker von Tlatelolco auf der Plaza de las Tres Culturas 300 Demonstranten tötete.
218 Vgl. Ebda., S. 13. 219 Kurt Spang: Géneros literarios, S. 1247. 220 José E. Pacheco: No me preguntes cómo pasa el tiempo. Poemas 1964–1968. México, D.F.: Era 1998 [1984], S. 34, Hervorhebung im Original. Die Hundertjahrfeier von Rubén Darío (1867–1916) / Nur der Baum, der vom Blitz getroffen wurde / behält die Macht des Feuers in seinem Holz.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden).
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Agosto 1968 ¿Habrá un día en que acabe para siempre la abyecta procesión del matadero? 1968 Página blanca al fin: Todo es posible.221
Beide Epigramme fassen eine Serie von historischen Ereignissen zusammen, schließen sie jedoch nicht ab, sondern eröffnen ihre Fortführung unter anderen Vorzeichen neu. Der erste Aphorismus bekräftigt die Fortsetzbarkeit einer Reihe von gewaltsamen Ereignissen, indem er sowohl metaphorisch als auch konkret gesprochen keinen Punkt, sondern ein Fragezeichen setzt. Im Massaker von Tlatelolco widerholt sich ein kaltblütiges Morden, das zwar in der Geschichte zahlreiche Präzedenzen kennt, das allerdings Ausmaße angenommen hat, die das lyrische Ich (bzw. das lyrische Wir) nicht für möglich gehalten hätte. Der Fragesatz im ersten und die Leere der unbeschriebenen Seite im zweiten Epigramm drücken eine Fassungslosigkeit über die Wucht der aktuell erlebten Gewalt aus, die durch die Gegenüberstellung zweier Absoluta, dem Nichts der leeren Seite und dem «todo» des Möglichen, noch unterstrichen wird. Pacheco trifft in den genannten Beispielen Aussagen, die aus der Abstraktion einer Reihe von Erfahrungen gewonnen sind, reintegriert sie jedoch in eine aktuelle Realität, indem er der abstrahierten Erfahrung ein historisches Ereignis zuordnet. Trotz dieser konkreten Zuweisungen lässt er Leerstellen offen, die es dem Leser überlassen, den Zusammenhang zwischen der aphoristischen Aussage und dem evozierten historischen Ereignis zu bestimmen. Pacheco tritt in einen Dialog mit dem Leser, indem er im kollektiven Gedächtnis verankerte Ereignisse aufruft, diese in einer allgemeinen Aussage oder Frage aufgehen lässt und den Leser damit zu einer gemeinsamen Deutung der Realität einlädt. Der dialogische Charakter der Kurzprosa Pachecos verleiht ihr eine ansatzweise lebenspraktische Dimension. Diese besteht jedoch nicht, wie im avantgardistischen Aphorismus, in einem semi-kollektiven Produktions- und Rezeptionskontext, vielmehr bleibt die kollektive Komponente in Pachecos Werk textimmanent. Daher kann in seinem Fall nur bedingt von einer Rückkehr zur Lebenspraxis die Rede sein. Weder die Produktion noch die Rezeption seiner Kurzprosa vollzieht sich in einem kollektiven Rahmen, allerdings
221 José E. Pacheco: No me preguntes cómo pasa el tiempo, S. 20–21, Hervorhebung im Original. «August 1968 / Wird es einen Tag geben da sie für immer endet, / die schändliche Prozession des Schlachthofs?; 1968 / Am Ende die weiße Seite: / Alles ist möglich.»
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erweckt die konkrete Bezugnahme auf die von Autor und Leser geteilte lebensweltliche Erfahrung in Kombination mit dem Appell an die Mitwirkung des Lesers den Anschein einer Konversation auf Augenhöhe.
2.4.4 Mariana Frenk-Westheim (Mexiko): … Y mil aventuras Eine wie Pacheco konversationelle, wenn auch wesentlich alltagsnähere Form des Dialogs zwischen Autor und Leser praktiziert Mariana Frenk-Westheim (1898–2004) in ihrer Sammlung von Aphorismen und Kürzestgeschichten … Y mil aventuras (1992). Die 1898 unter dem Namen Marianne Freund in Hamburg geborene jüdische Deutsch-Mexikanerin erreichte das stolze Alter von 106 Jahren und lebte somit in drei Jahrhunderten.222 Mit ihrem Mann Ernst Frenk und ihren beiden Kindern verließ sie 1930 das zunehmend durch ein antisemitisches Klima geprägte Deutschland, um bis zum Ende ihres Lebens im mexikanischen Exil zu leben. Ihr Studium der romanischen Sprachen sowie ihr ausgeprägtes Interesse an Literatur, Musik, Kunst und Architektur ließen sie schnell in mexikanischen intellektuellen Kreisen Fuß fassen. So verschaffte ihr kein geringerer als Alfonso Reyes Zugang zur Universidad Autónoma de México (UNAM), wo sie ohne akademischen Titel zunächst die deutsche Sprache und später deutsche Literatur und Literaturtheorie lehrte.223 Darüber hinaus arbeitete sie als Übersetzerin, zunächst am Instituto Politécnico Nacional, und machte später das expressionistische Referenzwerk Abstraktion und Einfühlung von Wilhelm Worringer sowie die Schriften ihres zweiten Ehegatten, dem ebenfalls aus Deutschland emigrierten Kunstkritikers Paul Westheim, einem spanischsprachigen Publikum zugänglich. Vor allem aber wurde Mariana Frenk-Westheim in Deutschland durch die Übersetzung des Romans Pedro Páramo von Juan Rulfo bekannt, dem, wie Pacheco in einem Vortrag über Rulfo im Palacio de Bellas Artes in Mexiko Stadt betonte,224 ersten im Ausland breit rezipierten mexikanischen Schriftsteller. Auf Einladung des Künstlers und Museographen Fernando Gamboa hin arbeitete sie im Museo de Arte Moderno mit und verfasste Dutzende von Texten zu Künstlern
222 Die sich nun anschließenden biographischen Informationen sind Peter Krieger: In memoriam Mariana Frenk-Westheim (1898–2004). In: Anales del instituto de investigaciones estéticas 86 (2005), S. 219–225 entnommen. 223 Matthias Jäger: Aquí les tocó vivir. Un primer acercamiento a la contribución de de Paul Westheim y Mariana Frenk-Westheim al discurso artístico-literario mexicano. Tesis profesional para obtener el título de Magíster Artium. Bielefeld: Universität Bielefeld 2002, S. 79. 224 Ebda., S. 80.
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und Ausstellungen, die im 2005 erschienenen Band Arte entre dos continentes. Artículos y ensayos225 kompiliert sind. Frenk-Westheims Aphorismensammlung … Y mil aventuras erscheint in einer Lebensphase der Autorin, die von zunehmender körperlicher Schwäche, aber auch einer ungebrochenen geistigen Vitalität gekennzeichnet ist. Im Alter von 94 Jahren ist die seit fast 30 Jahren verwitwete Autorin unfreiwillig zur Einzelgängerin geworden. Dies spiegelt sich in ihrem Werk wider, wobei FrenkWestheim zwischen Einsamkeit im Sinne sozialer Isolation und im Sinne eines Geühls unterscheidet. Während erstere ihrer aktuellen Lebensform entspricht behauptet sie letzteres nicht zu kennen: ¿Quieres saber por qué, viviendo sola, nunca me siento sola? Porque soy muchos.226
Die Erfahrungen und Begegnungen, die das Leben der Nachfahrin sephardischer Juden227 prägten, kondensieren sich in kurzen prägnanten Sätzen, die die Vielstimmigkeit eines über lange Zeit gewachsenen Gedankengutes in sich bergen. Gerade die soziale Isolation der Autorin ermöglicht die Reflexion von über viele Jahrzehnte gesammelten Erfahrungen und wird durch sie kompensiert. Der Aphorismus erscheint hier deshalb als geeignetes Ausdrucksmittel der einsamen Autorin, weil er in der Lage ist, die Menge der reflektierten Erfahrungen und Beobachtungen zusammenzufassen und dadurch auf engem Raum eine Vielstimmigkeit zu generieren, die eine soziale Integration zumindest teilweise ersetzen kann. Im Gegensatz zur Gattung des Romans, aber auch zu den Aphorismen Porchias, schlägt sich die Vielstimmigkeit bei Frenk-Westheim teilweise in praktischen Ratschlägen nieder, wie etwa in der folgenden von Oscar Wilde übernommenen Regel. Más vale escribir bien que escribir mucho; más vale escribir mucho que escribir mal. (Libre adaptación de un aforismo de Oscar Wilde.) (YMA 24) No te sientas gigante por ser más alto que los enanos que te rodean.
(YMA 25)
¿Lo hago hoy o mañana? Mejor mañana. Te queda tiempo para comprender que no vale la pena hacerlo.228 (YMA 99)
225 Mariana Frenk-Westheim: Arte entre dos continentes. Artículos y ensayos. Hg. Von Roberto García Bonilla. México: Siglo Veintiuno 2005. 226 Mariana Frenk-Westheim: … Y mil aventuras. Mexiko, D.F.: Siglo Veintiuno 2001, S. 103. Im Folgenden abgekürzt mit YMA. «Willst du wissen, wieso ich, obwohl ich allein lebe, mich nie allein fühle? Weil ich viele zugleich bin.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 227 Vgl. Peter Krieger: In memoriam Mariana Frenk-Westheim (1898–2004), S. 220–221. 228 «Es ist besser, gut zu schreiben als viel zu schreiben; es ist besser, viel zu schreiben als schlecht zu schreiben. (Frei nach einem Aphorismus von Oscar Wilde.)»; «Fühle dich nicht wie ein Riese nur weil du größer bist als die Zwerge, die dich umgeben.»; «Erledige ich es
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99
Wie Walter Benjamins mündlichem Erzähler, der im Gegensatz zum modernen Schriftsteller noch in der Lage war, Erlebtes in die Lebenspraxis zu übersetzen (vgl. Kap. 4.1.3), gelingt es Frenk-Westheim, aus ihrer Erfahrung alltagsbezogene Weisheiten abzuleiten. Allerdings geht der handlungspraktische Aspekt Hand in Hand mit intellektueller Beschäftigung. Hacer es un pretexto para no pensar; pensar es un pretexto para no hacer.229
(YMA 24)
Gibt Maximiliano der Tat den Vorrang, so halten sich in diesem Aphorismus Denken und Tat die Waage, was das chiastische Ineinandergreifen der beiden parallel kostruierten und sprachlich gleich gewichteten Teile dieses Aphorismus unterstreicht. Der lebenspraktische Charakter der Aphorismen Frenk-Westheims ist begleitet von einem optimistischen Ton: Im Vergleich zu Porchia, dessen Voces zwar ebenfalls von einer internen Vielstimmigkeit geprägt sind, der ihnen jedoch eine Anthropologie des Leidens zugrunde legt,230 spricht aus den Aphorismen Frenk-Westheims eine lebensbejahende Perspektive, die sich in Sätzen ausdrückt wie etwa ¿Tú, vieja? ¡Pero todavía puedes temblar de felicidad!
(YMA 30)
oder La gran felicidad está hecha de pequeñas renuncias.231
(YMA 43)
Diese Beispiele geben überdies einen Eindruck von der inhaltlichen und formalen Einfachheit der Frenk-Westheim’schen Aphorismen, die im Gegensatz zur teilweise elitären und intellektuell anspruchsvollen Schreibweise von Aphoristikern wie Gómez Dávila, Porchia und auch Pacheco stehen. Durch zahlreiche Apostrophe wirkt die von Frenk-Westheim verwendete Sprache spontan und damit lebensnah, unzählige Imperative und Ratschläge lassen ihr aphoristisches Werk als einen poetischen Alltagsratgeber erscheinen. Frenk-Westheims Aphorismen verstärken den dialogischen Charakter der poesía conversacional Pachecos, der auch als ein generelles Merkmal des Aphorismus hervorgehoben
heute oder morgen? Besser morgen. Dann bleibt dir Zeit zu begreifen, dass es überhaupt nicht wert ist, getan zu werden.» 229 «Zu tun ist ein Vorwand, um nicht zu denken; zu denken ist ein Vorwand, um nicht zu tun.» 230 Vgl. Werner Helmich: Cohérence et fragmentation de la pensée aphoristique d’Antonio Porchia, S. 81. 231 «Du und alt? Aber du kannst ja immer noch vor Glück beben!»; «Das große Glück besteht im kleinen Verzicht.»
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worden ist.232 Bei Frenk-Westheim erhält die tendenziell dialogische Ausrichtung des Aphorismus dadurch eine starke Ausprägung, dass zahlreiche Aphorismen fiktive, alltagssprachlich gehaltene Wortwechsel wiedergeben: – Es estúpido lo que estoy haciendo? – Claro que sí. Pero díme, ¿te ayuda a vivir? – Me hace vivir. – Entonces no es estúpido. (YMA 99)233
Der kollektive Gestus von Frenk-Westheims Aphorismen, der durch eine spontan wirkende, mündliche Kommunikation imitierende Sprache sowie durch einen ratgeberischen Ton entsteht, wird dadurch noch verstärkt, dass sich die Autorin explizit an eine weibliche Leserschaft richtet, indem sie bei Artikeln und Adjektiven stets die feminine Form verwendet. Es wäre auch denkbar, dass sich FrenkWestheim damit selbst anspricht (wie im obigen Aphorismus: «¿Tú, vieja?»), was mit der Aussage «soy muchos» im weiter oben zitierten Aphorismus übereinstimmen würde. In diesem Fall wären ihre Aphorismen nicht als Hinwendung zu einer neuen Form schriftbasierter Kollektivität, sondern als isolierte Selbstgespräche zu lesen. Dem widerspricht allerdings im Prolog die Anrede «Querido lector», mit der die Autorin sich explizit an ein Gegenüber wendet. Die Tatsache, dass sie hier einen männlichen Leser mit einbezieht, steht wiederum im Gegensatz zur obigen Annahme der ausschließlichen Adressierung von Leserinnen, was man dahingehend deuten könnte, dass Frenk-Westheim mit der Publikation ihres Buches ihre aphoristischen Selbstgespräche einem (männlichen) Leser zugänglich macht. Die Entstehung ihrer Aphorismen beschreibt sie folgendermaßen: Ah, de los aforismos te puedo decir algo que quizá te interese: vienen volando como pájaros o mariposas, perfectos en su forma definitiva o todavía con defectos estilísticos, que hay que corregir. Y ahora sí, basta. Mi deseo es que al leer este librito sonrías como yo sonreía al escribirlo.234 (YMA 10)
Frenk-Westheim schafft hier ein Spannungsverhältnis zwischen einsamer Produktion bzw. Rezeption (das Vor-Sich-Hin-Lächeln der Autorin beim Schreiben und das erhoffte, ebenso einsame Vor-Sich-Hin-Lächeln des Lesers) und einem
232 Vgl. Jorge Ruffinelli: Introducción. In: Augusto Monterroso: Lo demás es silencio. Madrid: Cátedra 42013, S. 14–29. 233 «Ist es dumm, was ich gerade mache? / Aber natürlich. Aber, sag mir, hilft es dir beim Leben? / Es lässt mich leben. / Dann ist es nicht dumm.» 234 «Ah, über die Aphorismen kann ich dir etwas erzählen, das dich vielleicht interessiert: sie kommen geflogen wie Vögel oder Schmetterlinge, vollkommen in ihrer endgültigen Form oder noch mit stilistischen Fehlern, die es zu korrigieren gilt. Nun aber genug. Mein Wunsch ist es, dass du beim Lesen dieses Buches lächelst wie ich gelächelt habe, als ich es schrieb.»
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Dialog mit dem Leser, wie ihn auch Emilio Pacheco in seinen Prosa-Epigrammen sucht. Neben dem möglichen Hinweis auf ein Selbstgespräch der Autorin deutet der Gebrauch der femininen Form jedoch noch auf etwas anderes hin: Diese für den erfahrenen Leser bzw. die erfahrene Leserin ungewöhnliche Geste lenkt das Augenmerk auf die Tatsache, dass die Gattung des Aphorismus bis in die Gegenwart fast ausschließlich von Männern praktiziert wurde. Frenk-Westheim gehört zusammen mit Marie von Ebner-Eschenbach, Déwé Gorodé, deren Aphorismensammlung das folgende Unterkapitel gewidmet ist, und jüngeren mexikanischen Autorinnen wie Amaranta Caballero Prado235 zu den wenigen Frauen, die sich der aphoristischen Schreibweise bedienen. Alle drei Merkmale von Frenk-Westheims Aphorismen – die sprachliche Einfachheit, der mündlich-dialogische Charakter und das weibliche Element – verbinden sich eindrücklich im folgenden, ebenfalls als kurzer Dialog strukturierten Aphorismus: – ¿Y por qué te odian tanto las feministas? – Porque para ellas soy muy femenina.236
(YMA 111)
Die ausgeprägte mündlich-dialogische Komponente sowie die gattungsbedingte Kürze von Frenk-Westheims Prosa evozieren einen Kontext der Anwesenheit und rücken den Aphorismus in die Nähe des Sprichwortes. Allerdings bleibt der kollektiv-lebenspraktische Charakter auf das Medium der Sprache begrenzt, während sich Produktion und Rezeption weiterhin individuell vollziehen, wie das im Prolog angesprochene zeitversetzte Lächeln der Autorin und des Lesers nahelegt. Anders als das Sprichwort entfalten die Aphorismen Frenk-Westheims ihre Bedeutung nicht in einem textexternen Kommunikationskontext, sondern innerhalb der literarischen Kommunikation. Somit besteht der lebenspraktische Charakter ihrer Aphorismen weniger in der Andeutung eines kollektiven Produktions- und Rezeptionsrahmens, sondern vielmehr in seiner Eigenschaft, individuell Erlebtes in Ratschläge umzuwandeln. Damit teilt Frenk-Westheim mit dem Benjaminschen Erzähler die Fähigkeit des vormodernen Erzählers, aus der eigenen Erfahrung ein Wissen zu generieren, das wiederum zur Erfahrung der Leserin
235 Amaranta Caballero: Bravísimas Bravérrimas. Aforismos. Tijuana: Editorial De la Esquina 2005. Mit dem Titel spielt die Autorin auf den Essay von Augusto Monterroso Breve, brevísimo (In: ders.: Literatura y vida. Madrid: Alfaguara 2004, S. 97–115) an, in dem der Mexikaner eine neue Gattung zwischen Prosagedicht, Kurz- und Kürzestgeschichte sowie Kurz- und Kürzestessay skizziert. 236 «Und warum hassen dich die Feministinnen so sehr? / Weil ich in ihren Augen sehr weiblich bin.»
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werden kann. Hierauf wird im Zusammenhang mit dem Roman Grande Sertão des brasilianischen Schriftstellers João Guimarães Rosa zurückzukommen sein.
2.4.5 Déwé Gorodé (Neukaledonien): Par les temps qui courent und das politische Graffito Der häufig sowohl emotive als auch appellative Ton der Aphorismen FrenkWestheims kennzeichnet auch die 1996 erschienene Textsammlung Par les temps qui courent237 der neukaledonischen Schriftstellerin Déwé Gorodé. Während sich die Ausrufe, Fragen und Ratschläge von Frenk-Westheim lediglich an einen impliziten Rezipientenkreis richten, der die Autorin selbst mit einschließt, sind die Kurztexte von Déwé Gorodé als ästhetisierte Meinungsäußerung einer politisch aktiven Schriftstellerin zu lesen, die sich kritisch mit neokolonialen Strukturen in der unter französischer Territorialhoheit stehenden melanesischen Inselgruppe auseinandersetzt. Obwohl die in Par les temps zusammengestellten Aphorismen, Prosagedichte und Kürzestgeschichten in einem völlig anderen historischen, politischen und geographischen Kontext als demjenigen Lateinamerikas entstehen, weisen sie doch einige Merkmale auf, die in den bisherigen Betrachtungen zur lateinamerikanischen Aphorismenproduktion des 20. Jahrhunderts sichtbar geworden sind. Die Aphoristik der 1949 im Norden Neukaledoniens geborenen Schriftstellerin und Politikerin deutet eine Form der sozialen Integration an, die den didaktischen Ansatz der Avantgarden einerseits mit der Thematisierung historischer Inhalte, wie sie die Lyrik Pachecos aufweist, und andererseits mit der von FrenkWestheim praktizierten Imitation von Mündlichkeit verbindet. Äußert sich diese Rückbindung der Gattung an die Lebenspraxis bei Frenk-Westheim in einer emotiv-appellativen Alltagssprache, so kreuzt Gorodé den Aphorismus mit traditionellen Ausdrucksformen der kanakischen238 Kultur, indem sie deren Themen
237 Déwé Gorodé: Par les temps qui courent. Nouméa: Grain de sable 1996. Im Folgenden abgekürzt mit PTC. 238 «Kanaky» ist die selbstgewählte Bezeichnung Neukaledoniens durch die Anhänger der Unabhängigkeitsbewegungen. Vgl. Veronika Ntoumos: Déwé Gorodé: une esthétique militante ou l’art de cultiver des identités plurielles. In: Dialogues francophones 17 (2011), S. 213–216, hier S. 213, Anm. 1. Diese historische Konstruktion stimmt laut Caroline Graille nicht mit den präkolonialen ethnischen Verhältnissen Neukaledoniens überein, sondern entwirft ein nostalgisch idealisiertes Bild der autochthonen Kultur, das auf einer Betonung einzelner Identitätssymbole durch melanesische und westliche Intellektuelle beruht (Caroline Graille: Coutume et changement social en Nouvelle-Calédonie. In: Journal de la Société des Océanistes 109, 2 (1999), S. 97–119, hier S. 98). Das Adjektiv ‹kanakisch› ist eine von mir vorgenommene deutsche Anpassung des französischen invariablen Adjektivs kanak.
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und rhythmische Strukturen aufgreift und sie mit philosophischen, sozialen, politischen, anthropologischen und moralistischen Inhalten verbindet. Darüber hinaus lässt Gorodé Elemente visueller Poesie in ihre Aphoristik einfließen und knüpft damit an die graphischen Experimente der Avantgarden an. Ähnlich wie bei den Avantgarde-Bewegungen der 1920er und -30er Jahre spricht aus Gorodés Aphoristik ein politisches Anliegen, doch geht es ihr nicht um eine generelle Wiedervereinigung von Kunst und Lebenspraxis, sondern um die Vermittlung einer politisch-programmatischen Haltung. Was die Aphorismen Gorodés grundlegend von denjenigen ihrer lateinamerikanischen Vorgänger und von denjenigen FrenkWestheims unterscheidet, ist ihr militanter Charakter. Anders als die Aphoristiker aus dem Umfeld des Athenäums oder des Martinfierrismus verbirgt Gorodé ihre politische Gesinnung keineswegs, vielmehr gehen die poetischen Texte der Autorin mit ihrem Aktivismus Hand in Hand. Dabei lässt ihr aphoristisches Werk Einflüsse aus im Wesentlichen zwei Phasen ihres politischen Engagements erkennen: ihre Teilnahme an Protesten der Post-68er-Bewegung in Frankreich, vor allem aber ihr Einsatz für die Unabhängigkeit Neukaledoniens, die inzwischen mit dem Volksreferendum von 2018, bei dem die neukaledonische Bevölkerung für einen Verbleib bei Frankreich stimmte, in unerreichbare Ferne gerückt ist. Während ihres Studiums der Literaturwissenschaften in Montpellier von 1969 bis 1973 schloss sich Gorodé der Post-68er-Studierendenbewegung an und lernte so die marxistischen Ideale kennen, die in ihre erste Gedichtsammlung Sous les cendres des conques (1985) einflossen239 und die ihr gesamtes Werk prägen sollten.240 In Par les temps lassen sich die Spuren des Pariser Mai auf mehreren Ebenen erkennen. Gorodés Spiel mit unterschiedlichen Schriftgrößen, aber auch die von ihr verwendeten rhetorischen Verfahren, erinnern an die Graffiti und Agitationsplakate, die im Mai 1968 nicht nur in Paris, sondern in ganz Frankreich an Fassaden und Innenwänden vor allem höherer Bildungseinrichtungen und Verwaltungsgebäude zu sehen waren.241 Indem Gorodé politische Kunstformen wie Graffito oder Slogan aufgreift, impliziert sie dreierlei: Erstens markiert sie ihr Schreiben als Akt der Rebellion242 gegen die Fremdbestimmung durch eine
239 Vgl. Raylene Ramsay: Déwé Gorodé: The Paradoxes of Being a Kanak Woman Writer. In: Kunapipi 2 (2005), S. 23–42, hier S. 30. 240 Vgl. Veronika Ntoumos: Déwé Gorodé: une esthétique militante ou l’art de cultiver des identités plurielles, S. 213. 241 Vgl. exemplarisch die photographischen Sammlungen von Vasco Gasquet: Les 500 affiches de mai 68. Paris: Balland 1978 und Walter Lewino: L´Imagination au pouvoir. Paris: Le Terrain Vague 1968. 242 Vgl. Patricia. A. Mastick: The Function of Political Graffiti as Artistic Creativity. In: New York Folklore Quarterly 27 (1971), S. 280–296.
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Obrigkeit. Par les temps lässt nicht nur einen Widerstand gegen die politische und kulturelle Abhängigkeit von Frankreich erkennen, sondern darüber hinaus gegen den zeitgenössischen Opportunismus und das Nutznießertum kanakischer Stammesoberhäupter, die sich einen hegemonialen indigenistischen Diskurs zu ihren Gunsten aneignen.243 Zweitens ahmt Gorodé den kollektiven Geist der Protestbewegungen nach, die hinter den Mai-Graffiti stehen. Diese weisen zwar individualistische und anarchistische Züge auf, lassen aber gerade im kollektiven Sich-Berufen auf eine individualistische Ideologie einen gemeinsamen politischen Willen erkennen.244 Damit betont Gorodé, dass es sich bei den in ihren Aphorismen geäußerten politischen Meinungen um gemeinschaftliche Anliegen handelt. Beruht die Produktion ihrer Aphorismen also auf einer geteilten politischen Einstellung, so beinhaltet auch ihre Rezeption ein Kollektivmoment, wenn Gorodé das Lesen von Graffiti durch eine städtische Öffentlichkeit imitiert. Zwar ist auch der Leser von Graffiti (wie ihr Verfasser) «formal ein einzelner, aber durch die öffentliche Lektüre zugleich einem Kollektiv mit ähnlichen Erfahrungen verbunden und weit vom isolierten Buchleser entfernt».245 Doch auch wenn die Rezeption von Gorodés Aphorismen in der Regel im privaten Raum stattfinden dürfte, so bietet ihre graphische, sprachliche und inhaltliche Gestaltung dem Leser die Möglichkeit, sich als Betrachter politischer Graffiti zu imaginieren. Drittens hebt Gorodé den engen Zusammenhang ihres aphoristischen Schreibens mit politischem Handeln hervor, denn das Anbringen eines Graffitos oder Agitationsplakats ist nicht nur an sich ein politischer Akt, sondern begleitet und untermauert andere politische Aktivitäten wie Streiks und Demonstrationen.246 Die Nähe von Gorodés Aphorismen zum politischen Aktivismus, die durch die Art und Weise ihrer visuellen Gestaltung betont wird, äußert sich jedoch in erster Linie auf einer sprachlichen Ebene. Zum einen knüpfen Gorodés Aphorismen an rhetorische Konventionen von Slogans an, wie sie in den Demonstrationen des Pariser Mai sowohl mündlich proklamiert wurden als auch auf Plakaten und Flugblättern schriftlich zirkulierten.247 Die Textsorte des Slogan ist in zwei
243 Vgl. Dominique Jouve: Les Modalités du voyage: trajets temporels et itinéraires identitaires dans les œuvres de Déwé Görödé (1985–2009). In: Nottingham French Studies 51.1 (2012), S. 26–40, hier S. 30 sowie Caroline Graille: Coutume et changement social en Nouvelle-Calédonie, S. 98. 244 Vgl. Werner Helmich: Maueraphoristik, S. 283. 245 Ebda., S. 290, Anm. 35. 246 Vgl. Vasco Gasquet: Les 500 affiches de mai 68, S. 8. 247 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Semi-Oralität. In: Hans-Jürgen Lüsebrink u. a.: Französische Kultur- und Medienwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Narr 2004, S. 189–211, hier S. 194.
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unterschiedlichen «Materialitäten der Kommunikation»248 verankert, dem Medium der Schriftlichkeit und mündlichen Kommunikationsformen. Diese Verknüpfung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die in kulturellen Übergangsepochen wie der Französischen Revolution, der 1968er-Revolution, aber auch in der Frühen Neuzeit besonders ausgeprägt ist,249 macht den Slogan auch als Ausdrucksform eines postkolonialen Widerstands geeignet, wobei die Integration mündlicher Elemente in den geschriebenen Text in post-kolonialen Kontexten eine spezifische Funktion erfüllt. Dient sie in kulturellen Übergangsphasen dazu, «ostentativ an Kommunikationsgewohnheiten und -stile des breiten (Lese-)Publikums anzuknüpfen,250 so greifen post-koloniale Autorinnen und Autoren häufig darauf zurück, um einer durch die europäischen Mutterländer oktroyierten Schriftkultur ein über autochthone Sprachen mündlich tradiertes Wissen entgegenzusetzen (vgl. auch Kap. 5.2). Bei Gorodé geschieht dies dann, wenn die Autorin traditionelle soziale und kommunikative Konzepte ihrer Kultur einfließen lässt, diese aber zugleich auf eine kulturelle Mehrdeutigkeit hin öffnet. In der von Gorodé häufig verwendeten Polysemie sowie einer Reihe weiterer Überraschungs- und Erkenntnistechniken, auf die noch im Detail einzugehen ist, unterscheiden sich Gorodés Aphorismen vom politischen Slogan und nähern sich den Graffiti als Ausdrucksformen der Mairevolte mit einem stärker poetischen Charakter an. Wie Werner Helmich gezeigt hat, sind die Graffiti zumeist keine schmucklosen politischen Parolen, sondern ästhetisch elaborierte Texte, die sich einer Reihe von aus der aphoristischen Tradition heraus entwickelten Techniken bedienen. Dazu gehören neben der Polysemie die Neudefinition gängiger Begriffe, eine ungewöhnliche Metaphorik, antithetische Konstruktionen oder Zitatparodie251 – Verfahren, in denen sich die Mai-Graffiti von anderen Textproduktionen des Pariser Mai, aber auch von anderen Graffiti unterscheiden und auf die auch Gorodé zurückgreift. Ist die graphische und sprachliche Aufmachung der Textsammlung Par les temps von den öffentlichen Kunstformen der Pariser Mairevolte geprägt, so speisen sich ihre Inhalte aus den Anliegen der separatistischen Bewegung Neukaledoniens, für die Gorodé seit 1974 kämpft. Nach der Rückkehr in ihre Heimat schloss sich die Autorin der studentischen Unabhängigkeitsbewegung der Foulards Rouges an, die junge Neukaledonier 1969 unter dem Eindruck der Pariser Studierendenrevolten gegründet hatten. Als aktives Mitglied der separatistisch-marxistischen Partei PALIKA (Parti de Libération Kanak), an deren
248 Hans Ulrich Gumbrecht u. a. (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. 249 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Semi-Oralität, S. 194. 250 Ebda., S. 193. 251 Werner Helmich: Maueraphoristik, S. 286–289.
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Gründung sich Gorodé 1976 beteiligt hatte, setzte sie sich in den 1970er Jahren für die Unabhängigkeit einer nation kanak ein. Seit 2001 ist Gorodé, deren Teilnahme an Demonstrationen der neukaledonischen Separatisten ihr mehrere Gefängnisaufenthalte eingebracht hatte, Mitglied der neukaledonischen Regierung, die sie von 2001 bis 2009 als Vizepräsidentin vertrat. Die Autorin begreift ihr Werk als ethisches Instrument eines kollektiv geführten Kampfes, das den Zugang zu einer politisch noch nicht realisierten Freiheit ermöglicht.252 Ein Teil ihres politischen und sozialen Engagements, der sich auch in ihrem (aphoristischen) Werk widerspiegelt, gilt der Erhaltung und Stärkung der in Neukaledonien gesprochenen Sprachen. Wie die meisten Autoren in den ehemaligen französischen Kolonien schreibt Gorodé in französischer Sprache, übernimmt allerdings nicht deren geistesgeschichtliche Implikationen, sondern unterwirft sie ihrem eigenen, kanakisch geprägten Denken, wie Hamid Mokaddem schreibt: «Ce n’est plus la langue dominante qui impose la pensée, mais la pensée qui expose et qui transpose la langue dans le style kanak.»253 Weder das europäische Französisch noch die Muttersprache der Autorin genügen, um ein durch interkulturelle Prozesse transformiertes Denken zum Ausdruck zu bringen und bedürfen daher einer interlangue254: Gorodé erweitert das hexagonale Französisch um Ausdrücke und Semantiken des paicî, einer der in Neukaledonien gesprochenen Sprachen, die Gorodé nach ihrer Lehrerausbildung in Montpellier an verschiedenen öffentlichen Schulen Neukaledoniens unterrichtete. So erläutert sie dem außenstehenden Leser im folgenden Aphorismus die Implikationen des kanakischen Lexems für «Erde»: «Dans ma langue / la terre / se dit / ‹Nâ-puu› / ‹Là où l’on dort›» (PTC 48)255. Die enge Verbindung zwischen Mensch und Erde im kanakischen Weltbild und deren Zerstörung durch kulturelle Assimilation bildet einen der thematischen Schwerpunkte in Par les temps (z. B. «Pour les uns / la terre / pour / les autres / rien / qu’un / caillou vert», PTC 38; «Au pays / de / la terre / se multiplient les /
252 Vgl. Veronika Ntoumos: Déwé Gorodé: une esthétique militante ou l’art de cultiver des identités plurielles, S. 213–214. 253 Hamid Mokaddem: Par les temps qui courent de Déwé Gorodé ou l’exigence de la pensée dans la parole kanak. In: Notre Librairie: Revue du Livre: Afrique, Caraïbes, Océan Indien 134 (1998), S. 95–102, hier S. 95. «Nicht mehr die dominante Sprache gibt den Gedanken vor, sondern der Gedanke stellt die Sprache aus und überträgt sie in den kanakischen Stil.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 254 Jean-Marc Moura beschreibt interlangue in Anlehnung an den von Bill Ashcroft geprägten Begriff als Bruch mit den linguistischen Normen der verwendeten Sprache, mit dem Ziel, eine eigene literarische Sprache zu schaffen. Vgl. Jean-Marc Moura: Littératures francophones et théorie postcoloniale. Paris: Presses Uni. de France 2005. 255 «In meiner Sprache / nennt man / die Erde / ‹Nâ-puu› / ‹Da wo man schläft›». (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden).
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SDF», PTC 52)256. Die inhatliche Achse, um die Gorodés Aphorismen hauptsächlich kreisen, bildet jedoch die ideologische Kritik an der französischen Hegemonie in Neukaledonien («L’Etat français veille encore au grain de son caillou stratégique du Pacifique», PTC 39)257, verbunden mit einer Verurteilung der Selbstbereicherung, die sie den den Frankreich-affinen Gruppierungen Neukaledoniens vorwirft:
Abbildung 1: Déwé Gorodé: Par les temps qui courent. Nouméa: Grain de sable 1996, S. 44.258
Mit dem soziologisch unscharfen Begriff «coutume» («Brauch», «Sitte»), der sich auf einen autochthonen Verhaltenscode bezieht, ruft Gorodé den zentralen Bezugspunkt kanakischer Identität und das bevorzugte Symbol im Kampf um kulturelle Autonomie auf.259 Indem sie «des uns» und «des autres» graphisch hervorhebt, betont sie den Gegensatz zwischen denjenigen Gruppierungen, die sich aus Bequemlichkeit dem Einfluss der französischen Politik und Kultur unterwerfen, und denjenigen, die an den traditionellen kanakischen Werten festhalten. Dass letztere von ersteren ausgenutzt würden, wird dadurch graphisch unterstrichen, dass «des uns» größer gedruckt ist als «des autres». Damit greift Gorodé ein Muster des westlichen Imperialismus auf, das darin bestand, bestimmte Ethnien und Rassen als das Andere, Barbarische zu markieren, das es zu unterwerfen und zu zivilisieren galt. Für Gorodé setzt sich diese imperiale Logik in der französischen Assimiliationspolitik in Neukaledonien fort. Aus ihrer Sicht spielen die gegnerischen politischen Gruppierungen Neukaledoniens dem französischen Staat in die Hände, indem sie bereitwillig von dessen Vorzügen profitieren und so die eigene Kultur preisgeben.
256 «Für die einen / die Erde / für / die anderen / nichts / als ein / grüner Stein»; «Im Land / der / Erde / multiplizieren sich die / Obdachlosen». 257 «Der französische Staat wacht immer noch über seinen strategischen Stein im Pazifik». 258 «Die Faulheit / der einen / nährt sich aus den Gebräuchen / der anderen». 259 Vgl. Caroline Graille: Coutume et changement social en Nouvelle-Calédonie, S. 98. Laut Graille handelt es sich um einen sterotypisierten Begriff, der genauso konstruiert ist wie die ethnische Bezeichnung «kanak». Zwar würden in Neukaledonien tatsächlich Sitten und Bräuche, die sich von denen der westlichen Kultur unterscheiden, gepflegt und an nachfolgende Generationen weitergegeben, doch handle es sich dabei um eine Form des Autoexotismus, mit dem sich die melanesischen Verfechter einer ‹eigenen› Kultur letzendlich nur dem Fremdbild anpassen, das ihr von außen aufgesetzt wird.
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Die Zeremonien der kanakischen coutume finden im Rahmen von größeren kollektiven Ereignissen statt, bei denen die betroffenen Clans vollzählig anwesend sind. Sie beinhalten den Austausch von Gaben und so genannten palabres, d. h. von rituellen Reden, in deren Inhalt, Abfolge und Dauer sich Hierarchien und verwandtschaftliche Beziehungen widerspiegeln. Unter dem Einfluss des westlichen Kapitalismus entwickeln sich diese Zeremonien, die bisher der Festigung sozialer Beziehungen zwischen Ahnenreihen, Familien und Clans gedient hatten, für manche Individuen zur Quelle eines – so die Überzeugung der Autorin – staatlich geförderten Profits: «Il y en a / qui vivent au-dessus de leur moyens / et font payer les autres / en passant / éventuellement / par la coutume» (PTC 45).260 Die Praktiken der kanakischen Kultur werden zum Ort eines Nutznießertums, aber auch des bequemen Rückzugs, der sich einer Verteidigung ebendieser Kultur gegenüber fremden Einflüssen entzieht, wie der folgende zeugmatische Vergleich der coutume mit einer Sekte zeigt: «Qui fuit / la lutte / va / à la coutume / et à la secte (PTC 43).261 Mehr noch, die coutume richtet sich durch ihre Pervertierung gegen die Mitglieder ihrer Kultur selbst. Vor diesem Hintergrund nehmen die humoristischen Sätze Gorodés eine bisweilen vorwurfsvoll-aggressive Färbung an, wie etwa im folgenden Aphorismus, in dem der kämpferische Ton jedoch durch ein paronomasisches Wortspiel am Ende relativiert ist:
Abbildung 2: Déwé Gorodé: Par les temps qui courent. Nouméa: Grain de sable 1996, S. 60.262
260 «Manche / leben über ihre Mittel / und lassen die anderen bezahlen / wobei sie sich / gelegentlich / des Brauchtums bedienen». 261 «Wer den Kampf scheut / geht / zum Brauchtum / und zur Sekte». 262 «Der Clan schafft / Sub-Clans / so wie Gruppen / kleine Gruppen / von Interessen / von Verrätern / und Zuhältern / aller Art / von Klatschbasen / Puffmüttern / und anderen Kupplerinnen».
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Die Frankreich-affinen politischen Gruppierungen Neukaledoniens werden zu Kupplern, die durch ihre politischen Arrangements die kanakische Kultur zerstören (an anderer Stelle vergleicht Gorodé ihre politischen Machenschaften implizit mit dem so genannten boucan, einer bösartigen Praktik der Hexerei, PTC 56). Diese Unterminierung von innen heraus wird graphisch dadurch markiert, dass «traîtres» im Zentrum des symmetrisch aufgebauten Textes steht, zugleich aber durch Einrückung aus ihm heraustritt. Darüber hinaus zeichnet Gorodé hier sowohl sprachlich als auch visuell eine Genealogie des Verrats, an deren oberster Spitze der Clan steht, aus dem immer kleinere Gruppierungen und schließlich einzelne Personen hervortreten, die, motiviert durch persönliche und kollektive Interessen – die Hervorhebng von «intérêts» suggeriert, dass diese die Wurzel allen Übels sind – ihre kulturelle Gemeinschaft verraten. Den Knotenpunkt des politischen Verrats bilden für Gorodé und die ihr Gleichgesinnten die 1988 geschlossenen Accords de Matignon, die einen (erzwungenen) Konsens zwischen den politischen Kräften des Archipels enthalten: der separatistischen Bewegung, der auch Gorodé angehörte, einerseits, und dem Frankreich-nahen Rassemblement pour la Calédonie dans la République (RPCR) andererseits. Auch wenn die Accords de Matignon in Neukaledonien eine Phase der relativen Stabilität einläuteten, blieb die politische Situation angespannt, wie die Ermordung des damals amtierenden Präsidenten der Union Calédoniénne und Mit-Unterzeichner der Accords de Matignon, Jean-Marie Tjibaou, am 4. Mai 1989 durch einen kanakischen Extremisten beweist. Ein Schlagwort der Accords bildete der Konsens (le consensus), der zugleich die zentrale Grundlage der kanakischen Kultur darstellt, da er das Funktionieren der Gesellschaft gewährleistet.263 Indem Gorodé dieses Schlagwort so häufig verwendet wie kein anderes – in elf von insgesamt gut 80 Aphorismen kommt der Begriff explizit vor –, ahmt sie seinen inflationären Gebrauch im politischen Diskurs nach. Dabei entlarvt sie den Konsens als neokolonialistisches Diktat, das nicht dem Einvernehmen zweier gleichwertiger Parteien, sondern einem Missverständnis entspringt:
Abbildung 3: Déwé Gorodé: Par les temps qui courent. Nouméa: Grain de sable 1996, S. 21.264
263 Vgl. Hamid Mokaddem: Par les temps qui courent de Déwé Gorodé ou l’exigence de la pensée dans la parole kanak, S. 99. 264 «Wer ist wer / im Missverständnis / des Konsens?»
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Durch die Verwendung unterschiedlicher Schriftgrößen markiert sie die Gleichwertigkeit der Vertragspartner, die durch die Symmetrie von «Qui est qui» suggeriert wird, als eine scheinbare. Das verhältnismäßig große Fragezeichen imitiert eine typische Struktur politischer Graffiti, die auf das ausdrückliche Hinterfragen etablierter Meinungen und Institutionen abzielt. Auch die von Gorodé häufig verwendeten Paronomasien und Kookkurenzen sind Ausdruck eines retournement, d. h. einer pointierten Reaktion auf Aussagen der dominanten Macht, die als falsch oder diskriminierend betrachtet werden.265 So unterstreichen zahlreiche ihrer Aphorismen die Behauptung, dass die Übereinkünfte zwischen der französischen und der neukaledonischen Regierung nur auf den ersten Blick als Konsens erscheinen, in ihrem Wesen diesem Begriff jedoch diametral gegenüberstehen.
Abbildung 4: Déwé Gorodé: Par les temps qui courent. Nouméa: Grain de sable 1996, S. 17.266
Durch seine Kookkurenz mit den negativ besetzten Lexemen («censure», «sangsue») wird der Begriff «consensus» als repressiv bzw. nutznießerisch entlarvt. Während «censure» auf eine (neo-)koloniale Unterdrückung verweist, deutet «sang-sue» auf eine melanesische Elite hin, die sich den hegemonialen Diskurs angeeignet hat, um von ihm zu profitieren. Dass sich in der vermeintlichen Übereinkunft zweier Seiten letztendlich eine einzige Stimme behauptet, bringt der Aphorismus in Abbildung 5 zum Ausdruck: Auch hier wird zunächst visuell eine Symmetrie erzeugt, die jedoch dann nicht, wie im obigen Zitat, graphisch, sondern sprachlich durch das übergewichtige «moi» zerstört wird. Gorodé spielt hier abermals auf die Accords de Matignon an, die die französische Regierung als Übereinkunft zwischen zwei gleichwertigen Partnern inszenierte, die aus ihrer Sicht jedoch eine neue, versteckte Form des Absolutismus sind. Der berühmte Ausspruch von Ludwig XIV. findet ein ironisch verfremdetes Echo im 1966 veröffentlichten Lied «Et moi, et moi, et moi», in dem der französische Rock-
265 Vgl. Werner Helmich: Maueraphoristik, S. 289. 266 «Konsens / wie Zensur / oder aber / Konsens / wie / Blutegel».
2.4 Rückkehr zur Lebenspraxis
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Abbildung 5: Déwé Gorodé: Par les temps qui courent. Nouméa: Grain de sable 1996, S. 14.267
musiker Jacques Dutronc einen abgrundtiefen Egoismus besingt,268 und mit dem Gorodé zum wiederholten Male die nutznießerische Haltung der Assimilationsbefürworter anprangert. Über die Figur von Ludwig XIV. stellt Gorodé eine Verbindung zwischen ihrer eigenen, neokolonialen und der höfischen Gesellschaft im Frankreich des 17. Jahrhunderts her, die sie über das Themenfeld der Moralistik zusätzlich verstärkt. Die materielle Selbstbereicherung, die Gorodé den ‹Verrätern› ihrer Kultur vorwirft, ist, ganz im Sinne der Moralistik, Ausdruck eines Größenwahns («la folie des grandeurs», PTC 65) und des Strebens nach Ehre («La gloire est une poupée gonflable», PTC 69). Gorodé exemplifiziert die von den Moralisten als überzeitlich präsentierte Eigenliebe anhand eines konkreten historischen Kontextes, dessen Umstände den amour-propre befördern. Der literarische Aphorismus, der in seinen Anfängen in eine kollektive höfische Lebenspraxis eingebunden war, tritt hier in einen neuen Kontext der sozialen Integration ein, der in den graphischen Hinweisen auf die (Post-)68er-Protestbewegungen,269 dem Aufrufen 267 «Konsens / zwischen / erstem Partner / zweitem Partner / für / gegen / Schiedsrichter /’Der Staat, das bin ich› / ‘Und ich … und ich … und ich› / (wohlbekannte Melodie)». 268 Vgl. Jacques Lanzmann/Amélie de Turckheim: Rencontre avec Jacques Lanzmann. In: CLÉS. o.J., http://www.cles.com/enquetes/article/rencontre-avec-jacques-lanzmann (zuletzt aufgerufen am 21.04.2016). 269 Werner Helmich sieht in den Mai-Graffiti eine Wiederbelebung des geselligen Moments der klassischen Maxime, «das in der intimeren Aphoristik des 19. Jahrhunderts weitgehend verschüttet war […]: an die Stelle der relativ geschlossenen Honnêteté-Gesellschaft der Salons tritt eine städtische Öffentlichkeit, deren kritische Reaktion bewußt herausgefordert wird. Die Inschriften lassen sich somit als der Versuch einer in erweitertem Sinn öffentlichen politischen
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2 Kleine Formen zwischen Lebenspraxis und künstlerischer Autonomie
von traditionellen Praktiken der kanakischen Kultur und vor allem der politischen Aussagen in Gorodés Aphorismen sichtbar wird. Dieser lebenspraktische Bezug wird dadurch noch verstärkt, dass Gorodé in ihre Aphorismen Anglizismen und Elemente des Argot wie «fric» (PTC 41), «magot» (PTC 57, beides umgangssprachliche Bezeichnungen für ‹Geld›) und «came» (‹Drogen›, PTC 68) einfließen lässt. Damit imitiert sie nicht nur eine mündliche Alltagssprache, sondern schreibt ihre Aphorismen abermals in die Tradition der Maueraphoristik des Pariser Mai mit ihren häufigen provokativen Vulgarismen270 ein. Gorodé schafft in Par les temps ein komplexes Spiel mit unterschiedlichen Traditionen des Sinnspruchs, die von einem mündlich tradierten autochthonen Gedächtnis über die moralistische Maxime bis hin zur «Maueraphoristik»271 der (Post-)68er reichen. Besonders eindrücklich zeigt sich die Verbindung von kulturellen Reminiszensen, sprachlichen Überraschungstechniken und aufwändiger graphischer Gestaltung im folgenden visuellen Aphorismus:
Abbildung 6: Déwé Gorodé: Par les temps qui courent. Nouméa: Grain de sable 1996, S. 33.
Das Gebilde aus Text und graphischen Elementen ermöglicht zwei Lesarten: Liest man seinen Text wörtlich, so erhält man den wie ein Sprichwort anmutenden Satz «La mort nourrit le charognard» («Der Tod ernährt den Aasfresser»). Darüber hinaus legt die visuelle Anordnung der einzelnen Elemente zu einem lachenden Gesicht die Aussage «La mort nous rit» («Der Tod lacht uns an») nahe. Die Paronomasie von «nourrit» und «nous rit» verweist auf die Ambiguität von Sprache, die wiederum auf die Scheinheiligkeit derjenigen hindeutet, die sich an der französischen Assimilationspolitik bereichern und damit den Tod der kanakischen Kultur herbeiführen, von dem sie zugleich wie Aasgeier profitieren.
Aphoristik interpretieren, der surrealistische Ansätze aufgreift und sie in größerem Maßstab in die Alltagsrealität hineinwirken läßt.» Werner Helmich: Maueraphoristik, S. 290. 270 Vgl. Werner Helmich: Maueraphoristik, S. 286 sowie für Beispiele Laurie (Xavier Laurie: Langage d’une révolution. In: Vie et Langage 23 (1974), S. 448–453). 271 Vgl. Werner Helmich: Maueraphoristik.
2.4 Rückkehr zur Lebenspraxis
113
* Indem Gorodé verschiedene kulturelle, politische und literarische Traditionen bewusst miteinander verknüpft, aktiviert sie mehrere lebenspraktische Funktionen, die im Zuge einer Herausbildung der Kunst als eigenständiges System in den Hintergrund getreten waren, und die der Aphorismus im Laufe des 20. Jahrhunderts teilweise wiedergewinnt. Die Avantgarde-Bewegungen der 1920er Jahre, in denen auch der Aphorismus – wenngleich unter anderen Gattungsbezeichnungen – kultiviert wird, versuchen sich an einer Wiedervereinigung von Kunst und Lebenspraxis, die sich beispielsweise in der didaktischen Absicht zeigt, die sowohl die Aphoristiker im Umfeld des Martinfierrismus als auch Oswald de Andrade im Anthropophagischen Manifest verfolgen. Ferner schaffen die Martinfierristen, wie auch zahlreiche andere Avantgarde-Bewegungen, mit ihrer Zeitschrift einen kollektiven Produktions- und Rezeptionsmechanismus, der dem Zirkulieren von Maximen und anderen Gattungen in der französischen Salongesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts recht nahe kommt. Während die kollektiven Produktions- und Rezeptionsformen des martinfierristischen Aphorismus jedoch häufig im Gegensatz zu dessen Inhalten stehen, die bewusst kaum lebenspraktische Bezüge zulassen, stellt das aphoristische Prosagedicht eines José Emilio Pacheco gerade über Bezüge zum Zeitgeschehen verbunden mit einem konversationellen Gestus einen kollektiven Rahmen her, in dem ein Dialog zwischen Autor und Leser stattfinden kann. Der Sinnspruch wird einer konversationellen Lyrik einverleibt, die zwar individuell rezipiert wird, jedoch sowohl durch ihre Sprache als auch durch ihre Inhalte eine soziale Ausrichtung erhält. Ist der informelle Charakter des Prosagedichts von Pacheco und zahlreichen anderen lateinamerikanischen Autoren seit den 1960er Jahren durch die kollektive Erfahrung von extraliterarischen Ereignissen wie die kubanische Revolution und das Massaker von Tlatelolco 1968 motiviert,272 so knüpft Mariana Frenk-Westheim in ihren Aphorismen an individuelle Erfahrungen an. Diese erhalten dadurch einen kollektiv-lebenspraktischen Charakter, dass die Deutsch-Mexikanerin eine mündliche Kommunikationssituation inszeniert. Der lebenspraktische Bezug ihrer Aphoristik besteht also weder, wie bei den Avantagarden, in einem semi-kollektiven Produktions- bzw. Rezeptionskontext, noch, wie bei Pacheco, im Aufrufen eines kollektiven Gedächtnisses, sondern in der sprachlichen Imitation eines Alltagsggesprächs, dessen umgangssprachliche Eigenschaften durch die extreme Kürze ihrer Texte noch hervorgehoben werden.
272 Vgl. Carmen Alemany Bay: Para una revisión de la poesía conversacional. In: Alma Mater 13–14 (1997), S. 49–55, http://sisbib.unmsm.edu.pe/bibvirtual/publicaciones/alma_mater/ 1997_n13-14/poesia.htm#nuevamente (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020).
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2 Kleine Formen zwischen Lebenspraxis und künstlerischer Autonomie
Damit entwirft Frenk-Westheim eine eigene, genuin aphoristische Variante der lateinamerikanischen poesía conversacional. Die Aphorismen von Déwé Gorodé schließlich vereinen zahlreiche lebenspraktische Elemente, die in verschiedenen Ausprägungen des Aphorismus in unterschiedlicher Intensität hervorgetreten sind: traditionelle und vulgärpopuläre Mündlichkeit, moralistische Menschenbeobachtung sowie die Spur kollektiver Produktions- und Rezeptionsformen. Diesen Eigenschaften fügt die Autorin den Willen zum politischen und kulturellen Widerstand hinzu: Gorodé mag sich vor allem deshalb für den Aphorismus als literarisches Werkzeug ihrer Kritik an der französischen Assimilationspolitik entschieden haben, weil er sich laut Gerhard Neumann wie kaum eine andere Gattung für den Widerstand gegen herrschende Denkordnungen eignet. Wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, trifft Neumanns Definition des Aphorismus als «der einzelne, unverbundene, dem System sich verweigernde, gegen die herrschende Denkordnung gedachte Satz»273 in Teilen auch auf das Sprichwort zu. Allerdings durchläuft dieses in den untersuchten archipelagischen Kontexten mit den kolonialen Sammlungen so genannter mündlicher Literatur eine Phase, in der es den Organen der Kolonialverwaltung zu einer Quelle von Wissen über die dominierten Völker wird, bevor es sich – gemeinsam mit dem Aphorismus – gegen herrschende Denkordnungen und somit als Mittel des kulturellen Widerstandes durch die Dominierten behaupten kann.
273 Gerhard Neumann: Einleitung, S. 8.
3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand 3.1 Sprichwort und Ethnographie 3.1.1 Das Sprichwort in der kolonialen Geschichtsschreibung Mexikos: Bernardino de Sahagún Sprichwörter erscheinen aufgrund ihres häufig anonymen Ursprungs und ihrer kontinuierlichen Wiederholung durch Sprecher aus unterschiedlichen Epochen und sozialen Schichten in stärkerem Maße als andere linguistische Muster dazu geeignet, die Weltmodelle einer bestimmten Gesellschaft zu überliefern oder ins Spiel zu bringen. Dies mag erklären, warum sie eine so beliebte Grundlage ethnographischer Analyse bilden und warum sie die ersten volkstümlichen Ausdrucksformen waren, die die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zogen – lange bevor sich die Ethnographie als eigenständige Disziplin herausbildete. Dabei wurde und wird der Gefahr des Essenzialismus, die darin besteht, aus einem Sprichwort verkürzend Rückschlüsse auf die kulturellen Werte seines Benutzers zu ziehen, statt sie als individuelle Äußerungen zu betrachten, nicht immer Rechnung getragen. Dienen Sprichwörter in der Kolonialzeit entweder der Erziehung der kolonialen Bevölkerung oder dem Studium der eroberten Kulturen, so werden sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck der Suche nach lateinamerikanischer Identität und schließlich, gegen Mitte des Jahrhunderts, vereinzelt zum Mittel kultureller Resistenz. Damit erfüllt das Sprichwort fortan die widerständische Funktion, die Werner Krauss seiner spanischen Variante bereits für das Mittelalter attestierte (vgl. Kap. 2.1). Die erste Sammlung von hispanoamerikanischen Sprichwörtern geht auf den spanischen Franziskaner und Missionar Bernardino de Sahagún zurück, dessen Historia general de las cosas de la Nueva España (1540–1585) ein Kapitel mit über 80 Sprichwörtern und knapp 50 Rätseln der Nahua von Tenochtitlán enthält. Das Interesse an diesen von den ‹Indios› verwendeten Kurzformen gehört zu der von der spanischen Kolonialverwaltung koordinierten Erforschung aller Aspekte der eroberten Kultur zwischen 1547 und 1587.1 Dabei wird jedoch deutlich, dass Sahagúns Rezeption der
1 Vgl. Ángel M. Garibay: Los historiadores del México Antiguo en el Virreinato de la Nueva España, discurso de ingreso a la Academia Real Mexicana de la Historia. In: Cuadernos Americanos 132, 1 (1964), S. 129–147, hier S. 129. https://doi.org/10.1515/9783110639483-004
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
indigenen Sprichwörter bereits vom europäischen Kanon vorgeprägt ist: Wie Herón Pérez Martínez festgestellt hat, weisen einige der von Sahagún kompilierten Sprichwörter erstaunliche Ähnlichkeiten mit refranes aus Cervantes’ Don Quijote auf. Dies sei damit zu erklären, dass Sahagún bei der Übersetzung der Kurzformen aus dem Nahuatl auf textuelle Clichés aus der europäischen Literatur zurückgriff und Nahua-Sinnsprüche mit spanischen refranes übersetzte.2 Möglicherweise bezieht sich Pérez Martínez mit dieser Beobachtung auf Sprichwörter wie «La gota cava la piedra»3, die zwar so nicht bei Cervantes stehen, dafür aber im Vocabulario de refranes y frases proverbiales von Gonzalo Correas sowie in weiteren frühneuzeitlichen parömiologischen Studien und literarischen Werken.4 Sahagún gibt sodann neben der Erklärung des entsprechenden NahuaSprichwortes eine weitere Übersetzung an («la perseverancia hace mucho»5), die näher am Original zu sein scheint als die oben genannte Übersetzung («La gota cava la piedra»6). Este refrán se dice de los que porfían o perseveran en salir con alguna cosa que parece que es muy dificoltosa, así como el que no tiene habilidad para alguno de los oficios mecánicos, y queriéndole deprender porfía, y sale con él. Por esto dicen: «la perseverancia hace mucho».7
Sahagún identifiziert hier einen im Nahuatl gebräuchlichen Satz aus etischer Perspektive als refrán und überträgt ihn in ein spanisches Sprichwort, das denselben Sinn vermittelt. In anderen Fällen ersetzt er die Symboliken der Nahua durch europäische Symboliken wie beispielsweise in «El lobo o zorro no trae consigo el fuego para cocer o asar lo que ha de comer»8. Dass im ursprünglichen Satz von dem in Mexiko verbreiteten Kojote statt von einem Wolf oder Fuchs
2 Herón Pérez Martínez: Refrán viejo nunca miente, S. 79–80. 3 Bernardino d. Sahagún: Historia general de las cosas de Nueva España. 2 Bde. Madrid: Alianza 1988 (B. 1), S. 443, Hervorhebung hier und im Folgenden im Original. 4 Vgl. Ana Balderas García: La paremiología mexicana heredera de la tradición española. Los atisbos en la Historia general de Sahagún. In: Destiempos. Revista de curiosidad cultural 37 (2014), S. 43–57, hier S. 50. 5 «Die Beharrlichkeit erreicht vieles.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 6 «Steter Tropfen höhlt den Stein.» 7 Bernardino d. Sahagún: Historia general de las cosas de Nueva España, S. 443. «Man sagt dieses Sprichtwort über all jene, die darauf beharren, in einer Angelegenheit, die sehr schwierig erscheint, nicht aufzugeben, etwa wie jemand, der kein Geschick bei mechanischen Arbeiten hat und, obwohl man ihn davon abbringen will, dennoch weitermacht und es letztlich doch schafft. Deshalb sagt man: ‹Die Beharrlichkeit erreicht vieles›.» 8 Ebda., S. 446. «Der Wolf oder der Fuchs hat kein Feuer dabei, um zu kochen oder zu braten, was er fressen wird.»
3.1 Sprichwort und Ethnographie
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die Rede sein muss, legt die Erklärung nahe, die Sahagún zu diesem Sprichwort liefert: Este refrán se dice del que por no esperar a que se cueza o ase la vianda la comen medio cruda, por sucorrer a su hambre. Y si alguno los reprende porque comen la carne medio cruda, para escusar su bestialidad dicen: ‹cuix ítleuh yetinemi cóyotl›: «Más cruda la comen los coyotes.»9
An anderer Stelle stellt Sahagún einen expliziten Vergleich zwischen dem europäischen Fuchs und dem in Mexiko beheimateten Kojoten an: «Hay en esta tierra un animal que se llama cóyotl, al cual algunos de los españoles llaman zorro, y otros le llaman lobo. Y según sus propiedades, a mi ver, ni es lobo ni zorro, sino animal propio desta tierra».10 An Sahagúns Erklärung des Sprichwortes fällt auf, dass er die Tiermetaphorik der Nahua in eine europäische überträgt, im Folgenden dann aber nicht auf die metaphorische, sondern auf die wörtliche Bedeutung des Sprichwortes eingeht. Statt wie im vorherigen Fall zu erläutern, in welchem Kontext das Sprichwort verwendet wird, liest er aus ihm die Praxis der Nahua heraus, Fleisch halb roh zu essen. Somit ergibt sich ein Widerspruch zwischen der Übersetzung des Sprichwortes und seiner Interpretation: Während die Übersetzung mexikanische durch europäische Semantiken ersetzt und somit darauf abzielt, das Eigene im Fremden zu erkennen, markiert der zugehörige Kommentar gerade die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden, indem er auf die Existenz unterschiedlicher Essgewohnheiten aufmerksam macht. Der bei Sahagún zu beobachtende «parömiologische Hybridismus»11, der die europäischen Sprichwörter mit denjenigen aus der ‚Neuen Welt‘ kreuzt, ist laut Herón Pérez Martínez charakteristisch für die mexikanische Sprichwörtertradition, nur dass sich die Richtung der produktiven Rezeption im Laufe der Zeit umgekehrt hat. Sahagún ersetzte den Kojoten im oben genannten Sprichwort vermutlich durch ein in Europa heimisches Tier, um die Erwartungen des europäischen Lesers nicht zu enttäuschen. Schreibt Sahagún also noch für ein europäisches Publikum, so beginnen lateinamerikanische Autoren im 19. Jahrhundert,
9 Ebda. «Dieses Sprichwort sagt man über die, die es nicht erwarten können, dass das Fleisch fertig gekocht oder gebraten ist und es deshalb halbroh essen, um ihren Hunger zu stillen. Und wenn jemand sie tadelt, weil sie das Fleisch halbroh essen, sagen sie als Entschuldigung für ihre Bestialität: ‹cuix ítleuh yetinemi cóyotl›: ‹Die Kojoten essen es noch roher.›» 10 Bernardino d. Sahagún: Historia general de las cosas de Nueva España, 2 Bde. Madrid: Alianza 1988 (B. 2),S. 682. «Es gibt in diesem Land ein Tier namens cóyotl, das einige Spanier ‹Fuchs› und andere ‹Wolf› nennen. Und aufgrund seiner Eigenheiten ist es aus meiner Sicht weder Wolf noch Fuchs, sondern eine diesem Land eigene Tierart.» 11 Herón Pérez Martínez: Refrán viejo nunca miente, S. 80.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
für ihre eigenen Landsleute zu schreiben.12 Nun werden Sprichwörter spanischen Ursprungs auf die lokalen lateinamerikanischen Gegebenheiten abgestimmt. So wird etwa das spanische Sprichwort «Quien se va para Sevilla, pierde su Silla» in Costa Rica zu «El que se va pa’ Limón, pierde su sillón.»13 Ein Kulturtransfer findet jedoch in der Regel nur in die eine Richtung, nämlich von Spanien nach Amerika statt, da die an den geographischen Kontext Costa Ricas angepasste Version des Sprichwortes wohl kaum ins iberische Kulturgut übergegangen sein dürfte, genauso wenig wie die Rezeption der Sinnsprüche aus dem Nahuatl durch Sahagún. Was den spanischen Sprichwörterschatz aber tatsächlich erweiterte, waren die Erfahrungen im Austausch mit den neu eroberten Gebieten, die sich zu Redensarten verfestigten wie Si el que va a Indias es loco, el que no va es tonto oder Hacienda de Indias y herencia de hisopo, luce mucho y dura poco14. Der spanische refranero musste sich durch ein historisches Ereignis von solcher Tragweite wie die ‹Entdeckung› der ‹Neuen Welt› notgedrungen erweitern.15
3.1.2 Das Sprichwort in Lateinamerika und sein Bezug zu Europa Das 17., 18. und 19. Jahrhundert ist in Lateinamerika von der Rezeption europäischer Sprichwörtersammlungen geprägt, die sich teilweise, wie bei Sor Juana Inés de la Cruz, in der Verwendung spanischer Sprichwörter in literarischen Texten äußert.16 In Argentinien, um ein weiteres Beispiel zu nennen, finden sich Sprichwörter gegen Ende des 19. Jahrhunderts in volkstümlichen Genres wie den cancioneros populares, die die auf dem Land gesprochene Sprache
12 Der Venezolaner Andrés Bello etwa schreibt in seiner 1847 erschienenen Gramática de la lengua castellana destinada al uso de los americanos: «No tengo la pretensión de escribir para los castellanos. Mis lecciones se dirigen a mis hermanos los habitantes de Hispanoamérica.» Andrés Bello: Obras completas. Caracas: La Casa de Bello 1995 (B. 4), S. 11. [«Ich habe nicht den Anspruch, für die Kastilier zu schreiben. Meine Lektionen richten sich an meine Brüder, die Bewohner Hispanoamerikas.»] 13 Dionisio Cabal Antillón: Refranero de uso costarricense, S. 23. Wörtlich übersetzt: «Wer nach Sevilla geht, verliert seinen Stuhl.» Bzw. in Costa Rica: «Wer nach Limón geht, verliert seinen Sessel.» 14 Emilio Rodríguez Demorizi: Refranero dominicano. Rom: Stab. Tip. Menaglia 1950, S. 15, Hervorhebung im Original. «Wenn derjenige, der in die Indias geht, verrückt ist, dann ist dumm, wer nicht geht.» Oder «Ein Vermögen in den Indias und ein Ysop als Erbe macht einiges her, aber hält nicht lange.» 15 Vgl. Ebda. 16 Vgl. Herón Pérez Martínez: Refrán viejo nunca miente, S. 86.
3.1 Sprichwort und Ethnographie
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nachahmen, oder in der poesía gauchesca17. Hier dient die Verwendung von Sprichwörtern der Ausbildung eines argentinischen Nationalcharakters, der sich mythisch verklärend auf die Figur des Gauchos als Nachkomme iberischer Einwanderer und der indigenen Bevölkerung sowie auf den campesino stützt. Auch wenn das Sprichwort in der Kolonialliteratur und der nationalistisch geprägten Literatur nach den Unabhängigkeiten eine Rolle spielt, entsteht eine eigene lateinamerikanische Parömiologie erst im 20. Jahrhundert. Zu den ersten mexikanischen Sprichwörtersammlungen zählen die Historia de modismos y refranes mexicanos (1921) des Geistlichen José Trinidad Laris sowie Origen y significación de algunas frases, locuciones, refranes, adagios y proverbios (1921) von Luis M. Rivera.18 Beide übernehmen die Struktur der alten spanischen Sammlungen, indem sie die Sprichwörter alphabetisch ordnen und mit einem Kommentar versehen.19 Allerdings bestehen sie auf den genuin mexikanischen Ursprung einiger Sprichwörter und stimmen so in die für ihre Zeit typische Postulierung des Eigenen, spezifisch Lateinamerikanischen ein, wie sie der Sprachwissenschaftler Darío Rubio in seiner bekannten Sammlung Refranes, Proverbios, Dichos y Dicharachos Mexicanos (1932) formuliert. Das erklärte Ziel dieser Anthologie lautet, «fijar de manera precisa […] los orígenes respectivos para poder evitar confusiones y distinguir lo nuestro de lo ajeno»20, wobei sich Rubio mit «lo ajeno» auf die ebenfalls in Mexiko zirkulierenden iberischen Sprichwörter bezieht. Eine solche Abgrenzung des Lateinamerikanischen von der sprachlichen und kulturellen Übermacht der iberischen Halbinsel wird wesentlich später auch bei José Pérez zu beobachten sein, der in seinen 1991 erschienenen Provérbios Brasileiros die Brasilianität der gesammelten Sprichwörter betont. Ähnlich wie Rubio etabliert auch er eine starke Dichotomie zwischen den verbreiteten Sprichwörtern aus Portugal («de lá») und den lokalen Sprichwörtern («de cá»). Dass diese in Brasilien entstanden seien, äußere sich nicht nur in ihren linguistischen Eigenschaften und in ihrem Inhalt, sondern auch darin, dass ihre Pointe nur vor dem Hintergrund der brasilianischen Gesellschaft und Geographie zu verstehen sei, was sich beispielsweise in der beträchtlichen Menge an Sprichwörtern von Farbigen
17 Vgl. Walter Quiroga: Martín Fierro y la paremiología en la literatura argentina. In: Paremia 13 (2004), S. 93–98, hier S. 94–96. 18 Herón Pérez Martínez: Refrán viejo nunca miente, S. 87. 19 Vgl. ebda., S. 90. 20 Darío Rubio: Refranes, Proverbios, Dichos y Dicharachos Mexicanos. México: A.P. Marquez 1940, zit. n. Herón Pérez Martínez: Refrán viejo nunca miente, S. 90. «die jeweiligen Ursprünge genau festzulegen, um Verwechslungen vermeiden und das Unsrige vom Fremden unterscheiden zu können.»
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
und über Farbige im brasilianischen Sprichwörterschatz zeige.21 Pérez verstärkt die lokale Verankerung der Sprichwörter damit, dass er häufig die Bevölkerungsgruppe (z. B. negro) oder ihre regionale Herkunft (z. B. gáucho22) angibt. Legen Rubio und einige spätere Herausgeber von Sprichwörtersammlungen Wert auf eine Abgrenzung von der ehemaligen Kolonialmacht, so geht es dem aus der Dominikanischen Republik stammenden und in Mexiko lebenden Pedro Henríquez Ureña in seinem zwischen 1935 und 1936 geschriebenen Werk El español en Santo Domingo gerade darum, die Nähe des in der Dominikanischen Republik gesprochenen Spanisch zur iberischen Varietät nachzuweisen. Keine spanischsprachige Region habe ein so altertümliches Spanisch wie Santo Domingo bewahrt, was sich in der Konservierung zahlreicher traditioneller Ausdrücke äußere.23 Als Nachweis dieser These dient ihm unter anderem eine Reihe von Sprichwörtern, die er im Kapitel La tradición en refranes y frases hechas, cantos y cuentos, juegos y oraciones neben sprichwörtlichen Redensarten, Liedern, Spielen, Erzählungen und Gebeten zusammenstellt. Die Sprichwörter sind strikt unterteilt in solche spanischen («Refranes viejos») und solche lokalen Ursprungs, wobei letztere den wesentlich kleineren Teil ausmachen. Zudem beschränkt Henríquez Ureña den Sprichwörterschatz lateinamerikanischen Ursprungs mit der Bezeichnung «de tipo criollo»/«mestizo»24 auf die Zeit nach Beginn der Kolonisierung und blendet somit präkolumbische Sprichwörter aus. Die proklamierte Nähe des in Santo Domingo gesprochenen Spanisch zum Iberospanischen durchdringt so die gesamte Gestaltung der Sammlung und deren Beschreibungssprache und geht so weit, das indigene Element vollständig aus dem Sprichwörterschatz zu verdrängen. Die «Refranes viejos» bezieht Henríquez Ureña aus den großen spanischen Sprichwörtersammlungen, darunter vor allem Hernán Núñez de Guzmáns Refranes o proverbios en castellano sowie Correas Vocabulario de refranes y frases proverbiales, und der spanischen Literatur (Cervantes, Quevedo, Lope de Vega, Juan de Valdés) des 15. bis 17. Jahrhunderts. Den refranes «de tipo criollo» schreibt er einen lokalen Ursprung zu oder betrachtet sie als lokale Adaptationen, die sich etwa durch die Einführung indigener Gegenstände auszeichnen. Die gleichzeitige Betonung des iberischen und des lateinamerikanischen Elements steht im Einklang mit der arielistischen Strömung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich unter Berufung auf die einerseits europäischen, andererseits indigenen Wurzeln Lateinamerikas von einer gegen Ende des 19.
21 Vgl. José Pérez: Provérbios Brasileiros. Rio de Janeiro: Ediouro 1991, S. 8–9. 22 Die Herkunftsbezeichnung bezieht sich auf den Bundesstaat Rio Grande do Sul. 23 Pedro Henríquez Ureña: La tradición en refranes y frases hechas, cantos y cuentos, juegos y oraciones. In: El español en santo domingo. Santo Domingo: Taller 1975 [1940], S. 7. 24 Ebda., S. 114.
3.1 Sprichwort und Ethnographie
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Jahrhunderts vorherrschenden angelsächsischen Tendenz distanzierte.25 War der Blick Lateinamerikas bis dahin in die USA gerichtet, so sprechen sich Henríquez Ureña und andere Mitglieder des Ateneo de la Juventud Mexicano wie Antonio Caso, José Vasconcelos und Alfonso Reyes entschieden für eine Verankerung lateinamerikanischer Identität in der griechisch-lateinischen Kultur aus, betonen zugleich aber den indigenen Bevölkerungsanteil und die Kulturmischung Lateinamerikas.26 Diese lokalen Wurzeln sind nach Ureña und seinen Zeitgenossen vor allem auf dem Land zu finden, was sich unter anderem in einer relativ großen Verbreitung von refranes äußere: «Las nuevas generaciones son menos aficionadas al refrán que los ‹viejos›. Pero el campesino, por lo menos, lo conserva en abundancia y lo aumenta.»27 Die ländliche und indigene Bevölkerung ist aus der Sicht Ureñas also in besonderem Maße in der Lage, lateinamerikanisches Kulturgut zu produzieren und zu bewahren, da sie sich gegenüber den aus Nordamerika drohenden Modernisierungsschüben als resistent erweist. Als Träger volkstümlicher Praktiken und Formen wie dem Sprichwort wird sie damit zur bevorzugten Projektionsfläche identitärer Selbstvergewisserung. Emilio Rodríguez Demorizi treibt die bei Henríquez Ureña ansatzweise beobachtete Orientierung an der europäischen Kultur noch weiter, indem er in seinem 1950 veröffentlichten Refranero dominicano die Hispanität der dominikanischen Bevölkerung nachweisen will: El refranero dominicano, arca de la sabiduría y del habla criollas, atesora nuestra más rica y viva herencia hispánica, porque en ningún libro, como en el refranero, se manifiesta con igual fuerza y plenitud el espíritu de un pueblo. Este es, pues, claro testimonio de nuestra honda hispanidad.28
25 Die Strömung des Arielismus geht auf den 1900 erschienenen Essay Ariel von José Enrique Rodó zurück, in dem der Uruguayer die Figur Ariel aus Shakespeares Drama The Tempest (William Shakespeare: The Tempest. Oxford: Clarendon Press 1939 [1611]) zum Vorbild eines lateinamerikanischen Kulturalismus im Gegensatz zu dem durch Calibán verkörperten Materialismus macht. Ein weiteres Schlüsselwerk des Arielismus ist La raza cósmica (José Vasconcelos: La raza cósmica. In: ders.: Obras completas. México: Libros Mexicanos Unidos 1958 [1925] (B. 2), S. 903–1067), das sämtliche Elemente der Strömung in sich vereint. Vgl. Eduardo Devés Valdés: El pensamiento latinoamericano en el siglo XX. Entre la modernizacion y la identidad. Tomo I: Del Ariel de Rodó a la CEPAL (1900–1950). Buenos Aires: Biblos 2012 (B. 1), S. 100. 26 Vgl. ebda. 27 Pedro Henríquez Ureña: La tradición en refranes y frases hechas, cantos y cuentos, juegos y oraciones, S. 108. «Die neuen Generationen zeigen weniger Begeisterung für das Sprichwort als die ‹alten›. Aber zumindest der Bauer bewahrt es im Überfluss und mehrt es.» 28 Emilio Rodríguez Demorizi: Refranero dominicano, S. 43. «Der dominikanische refranero, die Truhe der Weisheit und Sprechweise der criollos, vereinigt in sich unser reichstes und le-
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
Als Quelle für seine umfangreiche Sammlung dienen ihm in der Dominikanischen Republik entstandene Sprichwörtersammlungen, darunter diejenige von Henríquez Ureña. Im Gegensatz zu Ureña trifft Demorizi jedoch keine strikte Unterscheidung zwischen den Sprichwörtern spanischen und denjenigen dominikanischen Ursprungs. Vielmehr setzt er den lateinamerikanischen refranero weitgehend mit dem spanischen gleich, abgesehen von den Varianten der autochthonen29 und den französischsprachigen Sprichwörtern, die unter anderem über Haiti Eingang in die Dominikanische Republik fanden.30 Wie Henríquez Ureña betrachtet auch Demorizi die ländliche Bevölkerung als hauptsächlichen Träger von Sprichwörtern und macht damit die Doppelbewegung des arielistischen Projekts zwischen (gelehrten) europäischen Modellen einerseits und indigenen, ländlichen, volkstümlichen Elementen andererseits mit. Wie in den Sprichwörtersammlungen seiner Vorgänger präsentiert Demorizi die refranes in alphabetischer Reihenfolge und jeweils mit Erläuterung sowie Angabe der Quelle. Eine Neuerung besteht darin, dass Demorizi, möglicherweise der von Inés de la Cruz eröffneten Tradition folgend, hin und wieder Gedicht- oder Liedstrophen anführt, in denen der jeweilige refrán vorkommt. Dieses Vorgehen begründet er mit der These Fray Martín Sarmientos, nach der sich die spanische Dichtkunst auf der Grundlage des refranero herausgebildet habe. Demnach setzt Demorizi voraus, dass die europäische Kultur auf den Pfeilern des Volkstümlichen stehe, wodurch es ihm gelingt, die beiden Brennpunkte des Arielismus – das antike europäische und das indigene Erbe – miteinander zu verknüpfen.
3.1.3 Die Rolle des Sprichwortes in den lateinamerikanischen Charakterstudien Eine Aufwertung des Volkstümlichen liegt auch Luisita Aguileras 1955 erschienener Studie Refranero panameño. Contribución a la paremiología hispanoamericana zugrunde, die an der Universidad de Chile als Dissertation angenommen wurde und die als ein weiteres Referenzwerk der hispanoamerikanischen Parömiologie gilt.31 Auch wenn bei Aguilera im Einklang mit der Textsorte die Auswertung von
bendigstes hispanisches Erbe, weil sich der Geist eines Volkes in keinem Buch mit gleicher Kraft und Fülle zeigt wie im refranero. So ist er ein klares Zeugnis unserer tiefen Hispanität.» 29 Vgl. Ebda., S. 14. Aus Sahagúns Sammlung von Nahuatl-Sprichwörtern schließt Demorizi, dass der refrán auch unter den Indios von Quisqueya in der Dominikanischen Republik existiert haben muss. Vgl. ebda., S. 15. 30 Vgl. ebda., S. 41. 31 Vgl. Shirley L. Arora: Paremiología hispanoamericana, S. 36.
3.1 Sprichwort und Ethnographie
123
Sprichwörtern einen höheren Stellenwert einnimmt als in den bisher genannten Sammlungen, so verbindet sie mit diesen doch das wissenschaftliche – und nicht folkloristische – Interesse am Sprichwort. Zusätzlich zu den von ihren Vorgängern verwendeten Quellen bezieht sie neben der babylonischen Literatur,32 den Schriften der V. und VI. ägyptischen Dynastie und der chinesischen Weisheitsliteratur vor Konfuzius auch volkstümliches Gedankengut wie abergläubisches Material, Fabeln und Erzählungen, Beobachtungen der Natur und alltägliche Erfahrungen33 als Quellen von Sprichwörtern mit ein. So entstamme etwa das Sprichwort «Amarra tu perra que mi perro anda suelto»34 einer Volkserzählung aus Panama, in der sich ein Vater bei seinem Freund darüber beklagt, dass dessen Sohn hinter seiner Tochter her sei, worauf sein Freund den sprichwörtlich gewordenen Satz entgegnet. Wie Demorizi betont Aguilera den volkstümlichen Ursprung der europäischen Spruchliteratur: «Nadie puede asegurar que los proverbios de Salomón, célébres en el mundo, no sean refranes comunes entre el pueblo hebreo antes que el sabio rey los elevara a la categoría de monumentos literarios.»35 In ihrem umfangreichen Werk, das einschließlich der analytischen Teile sowie einem Abschnitt zu sprichwörtlichen Redensarten rund 800 Seiten stark ist, unterteilt Aguilera das gesammelte Material in bildhafte und nicht-bildhafte refranes. Diese sind wiederum sortiert nach ihrem Bezug zu Lebewesen (Menschen, Tiere) und Nicht-Lebewesen (Minerale, Metalle, Elemente, Naturphänomene, Planeten). Im letzten Teil unternimmt die Autorin den Versuch, die psychologischen Züge des panamesischen Volkes auf der Grundlage seiner Sprichwörter zu skizzieren, was die für ihre Dissertation zuständige Prüfungskommission im Prolog besonders würdigt.36 Aguilera äußert sich folgendermaßen zu diesem Vorgehen, mit dem sie sich in eine andere ideengeschichtliche Richtung als Henríquez Ureña und Demorizi bewegt: Quien desee conocer a fondo el espíritu de un pueblo, tiene que adentrarse en su poesía popular y su refranero. Sólo así podrá encontrar el secreto de las reacciones de ese
32 Vgl. Luisita Aguilera: Refranero panameño: Contribución a la paremiología hispanoamericana. Santiago de Chile: Universidad de Chile 1955, S. 20. 33 Vgl. Ebda., S. 14–16. 34 «Binde deine Hündin fest, denn mein Hund läuft frei herum.» 35 Ebda., S. 14. «Niemand kann mit Sicherheit sagen, dass die salomonischen Sprichwörter, die in der ganzen Welt berühmt sind, nicht gängige Sprichwörter des hebräischen Volkes waren, bis sie der weise König zu literarischen Denkmälern erhob.» 36 Vgl. Ebda., S. 7.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
pueblo, de sus impulsos, de sus afectos, de todo aquello que conmueve y agita el corazón y la conciencia.37
So zeige sich beispielsweise im Sprichwort «El último mono nunca se ahoga», das den spanischen refrán «El último mono se ahoga» in sein Gegenteil verkehrt, das optimistische Wesen des Panameño.38 Mit ihrem Interesse an einer «fisonomía espiritual», wie sie die psychische Verfasstheit ihrer Landsleute nennt, reiht sich Aguilera in die Tradition nationaler Charakterstudien ein, deren Verbreitung in Lateinamerika zwischen 1930 und 1950 ihren Höhepunkt erreicht.39 Diese Studien suchen nationale und lateinamerikanische Identität introspektiv mithilfe einer Fokussierung auf psychologische Aspekte zu ermitteln, häufig in Verbindung mit einem indigenen oder afroamerikanischen Element. Der Anthropologe Arthur Ramos etwa führt in O Folclore Negro do Brasil: demopsicologia e psicanálise (1935) eine psychologische Analyse der afrobrasilianischen Kultur durch und distanziert sich dabei explizit von einem folkloristischen Blickwinkel: «Neste livro, o ‹folclore negro› do Brasil não è estudado como material pitoresco, para recreio de espíritus curiosos.»40 Damit grenzt er sich zugleich vom pathetischen Gestus der abolitionistischen Kampagne ab, der in den bisherigen ethnographischen Studien in der (teilweise imaginären) Beschreibung der prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen der Sklaven in den Plantagen, Zuckerrohrmühlen, Minen und Fabriken widerhallte. Ramos geht es stattdessen um die demopsychologische Erforschung eines kollektiven Unbewussten («inconsciente colectivo»41) der Farbigen, einer afrobrasilianischen Psyche, zu der das Sprichwort einen Zugang ermögliche. Er betrachtet die afrobrasilianischen Sprichwörter als Überreste einer afrikanischen Volksliteratur, die, wie der Autor im Anschluss an den französischen Anthropologen Maurice Delafosse festhält, mündlich und anonym tradiert sei42 und die die brasilianische Folklore wesentlich beeinflusst habe. So stellt Ramos augenfällige Ähnlichkeiten 37 Luisita Aguilera: Refranero panameño, S. 9. «Wer den Geist eines Volkes ergründen will, muss sich in seine volkstümliche Dichtung und seinen Sprichwörterschatz vertiefen. Nur so wird man die Geheimnisse der Reaktionen dieses Volkes, seiner Impulse, seiner Affekte, von allem, was das Herz und das Bewusstsein bewegt, aufdecken.» 38 Vgl. Ebda., S. 733. «Der letzte Affe ertrinkt nie», im Spanischen: «Der letzte Affe ertrinkt.» 39 Vgl. Eduardo Devés Valdés: El pensamiento latinoamericano en el siglo XX, S. 253. Diese Studien sind meist in essayistischer Form verfasst. 40 Arthur Ramos: O Folclore Negro do Brasil: Demopsicologia e psicanálise. Río de Janeiro: Livraria-Editora da Casa do Estudante do Brasil 1935, S. 9. «In diesem Buch wird die ‹schwarze Folklore› Brasiliens nicht als pittoreskes Material untersucht, zur Unterhaltung neugieriger Geister.» 41 Ebda., S. 10. 42 Vgl. ebda., S. 149.
3.1 Sprichwort und Ethnographie
125
zwischen Sprichwörtern aus Angola und von den Bantu-Völkern einerseits und den in Brasilien verbreiteten portugiesischen Sprichwörtern andererseits fest.43 Letztere seien das Ergebnis einer Transkulturation44 zwischen den Sprichwörtern afrikanischen und denjenigen europäischen Ursprungs. Dabei sind die angolischen Sprichwörter, wie Ramos an einem Beispiel zeigt, häufig bereits Synkretismen eines alten portugiesischen Sprichwortes mit einem Sprichwort aus der in Angola gesprochenen Quimbundo-Sprache, die wiederum an den portugiesischsprachigen Kontext Brasiliens angepasst wurden.45 Zu den afrobrasilianischen Sprichwörtern zählt Ramos sowohl diejenigen, die Aussagen über Farbige enthalten als auch diejenigen afrikanischen Ursprungs, die die afrikanischstämmigen Brasilianer an die neuen geographischen und sozialen Gegebenheiten anglichen. Im Hinblick auf die erste Gruppe stellt er fest, dass eine Reihe der brasilianischen Folklore als Satire auf die Farbigen zu verstehen sei.46 So drücke sich in zahlreichen Liedern und Sprichwörtern die Geringschätzung des Schwarzen aus, etwa in solchen Sprichwörtern, die seinen Hang zur Faulheit postulieren (z. B. «Negro de luva é sinal de chuva»47). Die zweite Gruppe von Sprichwörtern, die Ramos identifiziert, sei Teil einer Folklore, die der Farbige einsetze, um mit dem ihm überlegenen Weißen zu kommunizieren.48 Sie seien Ausdruck eines «inconsciente folclórico», das eine diachrone und eine synchrone Komponente besitze49: Das folklorische Unterbewusstsein stelle Bezüge nicht nur zu längst Vergangenem, sondern auch zu anderen (farbigen) Subjekten her. Es handle sich um eine archaische Struktur, die in der Form von Aberglauben, kulturellen Überresten und prälogischen Werten in die zivilisierte Gegenwart Brasiliens eindringe und sich in Manifestationen des Unterbewusstseins wie dem Primitiven, dem Traum, der Schizophrenie und der expressionistischen Kunst
43 Vgl. Arthur Ramos: O Folclore Negro do Brasil, S. 222–223. 44 Auch wenn Ramos diesen Begriff nicht verwendet, so entspricht seine Beschreibung doch dem von Fernando Ortiz geprägten Konzept einer Transformation kultureller Artefakte infolge der (erzwungenen) Entwurzelung und Reintegration einer Kultur in einen neuen kulturellen Kontext. Vgl. Fernando Ortiz: Contrapunteo cubano del tabaco y del azúcar. La Habana: 1983. 45 Vgl. Arthur Ramos: O Folclore Negro do Brasil, S. 224–225. 46 Vgl. Ebda., S. 243. 47 Ebda., S. 245. «Ein Schwarzer mit Handschuhen kündigt den Regen an». Während einige Sprichwörtersammlungen des subsaharischen Afrikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts (z. B. Henri Trilles: Proverbes, légendes et contes fang. Neuchâtel: Imprimerie Paul Attinger 1904) mithilfe von Sprichwörtern die Faulheit der Farbigen nachzuweisen suchen, nimmt Ramos die Farbigen in Schutz, indem er die Sprichwörter über sie, die ihnen Faulheit attestieren, als Stigmatisierung durch die sie unterdrückenden Weißen wertet. 48 Vgl. Arthur Ramos: O Folclore Negro do Brasil, S. 256. 49 Vgl. Ebda., S. 258.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
ausdrücke. Ohne dieses folkloristische Substrat ist die gegenwärtige brasilianische Kultur für Ramos nicht zu verstehen. Geben also für Henríquez Ureña und Demorizi Sprichwörter hauptsächlich Aufschluss über das europäische Erbe der Dominikanischen Republik, wobei sie das indigene Element durchaus zu integrieren suchen, so schreibt sich Ramos’ Analyse brasilianischer Sprichwörter eindeutig in die Bewegung des Afroamerikanismus ein, die seit den 1920er Jahren lateinamerikanische Identität auf die afrikanischen Wurzeln des Kontinents zurückführt. Gegen Ende der 1950er und bis Mitte der -70er Jahre geht die Publikation lateinamerikanischer refraneros stark zurück. Zu den wenigen Ausnahmen von Sammlungen, die in diesem Zeitraum, etwa in Mexiko erscheinen, gehört der 1961 publizierte und inzwischen vielfach aufgelegte Refranero popular mexicano von Miguel Velasco Valdés. Dieser verfolgt die Absicht, das Denken, Fühlen und Meinen der weniger gebildeten Schichten in Mexiko darzustellen und dabei deren intelligentes Potenzial und ihre Fähigkeit zum philosophischen Denken herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund geht es ihm um die spezifisch mexikanischen «dicharachos, dichos, refranes y agudezas»50, deren regionale Besonderheiten er in den Kommentaren zu den einzelnen Sprichwörtern erläutert.51 Damit schließt er sich an die bereits in früheren Sammlungen beobachtete Stärkung der ländlichen Bevölkerung als Garant lateinamerikanischer bzw. nationaler Identität an.
50 Vgl. Miguel Velasco Valdés: Refranero popular mexicano. México: B. Costa-Amic Editor 1978 [1961], S. 7. «Zoten, Witze, Sprichwörter und Scharfsinnigkeiten» (eigene Übersetzung). 51 Z.B. «A CADA CAPILLITA LE LLEGA SU FIESTECITA Dicho claramente mexicano por el abuso de diminutivos. Explica que a todos llegará su hora de dicha o desgracia, sin que alguien pueda escapar a su sino. Podría ser alusión a la ciudad de Cholula, Pue., donde dizque hay 365 iglesias, según cierto cronista español, cosa inexacta. La hipérbole llega a afirmar que en aquel poblado puede celebrarse una fiesta religiosa en cada día del año, sin utilizarse para ello una misma capilla. Quizá ni con los templos aledaños se alcanze la mitad de aquella cifra.» Ebda., S. 11. [«JEDES KAPELLCHEN ERHÄLT SEIN FESTLEIN Eindeutig mexikanische Redensart wegen des übermäßigen Gebrauchs von Diminutiven. Es sagt aus, dass für alle ihre Zeit des Glücks oder Unglücks kommen wird, ohne dass jemand seinem Schicksal entkommen könnte. Es könnte eine Anspielung auf die Stadt Cholula (im mexikanischen Bundesstaat Puebla, Anm. M.L.B.) sein, wo es angeblich 365 Kirchen gibt, was laut einem gewissen spanischen Chronisten aber falsch ist. Die Übertreibung bestätigt letztlich, dass man in jenem Dorf an jedem Tag des Jahres ein religiöses Fest feiern könnte, ohne dafür eine eigene Kapelle zu brauchen. Vielleicht käme man nicht einmal mit den benachbarten Tempeln auf die Hälfte dieser Zahl.»]
3.1 Sprichwort und Ethnographie
127
3.1.4 Kuba: Ethnographie und Afrokubanismus Dass das Sammeln und Analysieren von Sprichwörtern zwischen 1955 und 1975 nachlässt, hängt vermutlich damit zusammen, dass die Themen von Modernisierung und Entwicklung, die 1948 mit der Gründung der Comisión Económica para América Latina (CEPAL) einen institutionellen Rahmen erhalten, in intellektuellen Kreisen gegenüber dem Anliegen einer Suche nach lateinamerikanischer Identität in den Vordergrund rücken.52 Eine Ausnahme bildet Kuba, das sich während der Revolution und nach deren Sieg im Jahre 1959 verstärkt auf sein afrokubanisches Erbe zurückbesinnt, dank der offiziellen Aufhebung der Massendiskriminierung und der poetischen Vorarbeit durch José Martí und Nicolás Guillén sowie dem Konzept der Transkulturation, das von nun an die Diskussionen um kubanische (und karibische) Identität bestimmt.53 Ein Merkmal ethnographischer Tätigkeit im Kuba nach der Revolution ist eine Intensivierung der bereits begonnenen Sammlung und Sichtung mündlicher Literatur, die nun allerdings teilweise aus dem Exil erfolgt. Im Zentrum der exilkubanischen Aufmerksamkeit stehen folkloristische Forschungen und Textsammlungen von Erzählungen, Legenden und Sprichwörtern, gefolgt von Studien über die afrokubanischen Religionen, Anthologien und Studien afroamerikanischer Gedichte, wobei sich gerade die Verlage Universal und Cubamerica in Miami als Zentren exilkubanischer Produktionen erwiesen haben. […] Das Auftauchen und die Verbreitung oraler Literatur in Form von Sprichwörtern, z. B. in Lydia Cabreras Refranes de negros viejos (1969), Erzählungen, Fabeln und Geschichten entspricht nun nicht dem Anliegen der afrikastämmigen Amerikaner, sich an Afrika zurückzuerinnern, alte Sehnsüchte zu wecken, sondern der Absicht, sich in einer afroamerikanischen Identität zu manifestieren, die zwar aus dem kollektiven Gedächtnis der Afrikaner schöpft, sich aber mehr und mehr mit den Elementen einer amerikanischen Realität und Umwelt vereinigt.54
Vor diesem Hintergrund und als Ertrag ihres unerschöpflichen ethnographischen Interesses an der afrokubanischen Kultur veröffentlicht die Exilkubanerin Lydia Cabrera mit Refranes de negros viejos 1970 in Miami eine Sammlung von Sinnsprüchen («proverbios, sentencias, máximas y aforismos»). Wie bereits erwähnt55 betrachtet Cabrera diese diskursiven Formen, einen seit dem Vulgärhumanismus
52 Vgl. Eduardo Devés Valdés: El pensamiento latinoamericano en el siglo XX. Tomo II: Desde la CEPAL al neoliberalismo (1950–1990). Buenos Aires: Editorial 2008, S. 65. 53 Vgl. Kurt Grötsch: Der Kampf um die Integration; Afrokubaner als Protagonisten und Autoren in der Literatur Kubas des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Vervuert 1989, S. 7. Als Beispiel sei neben den Arbeiten von Lydia Cabrera die Studie von José L. Franco Folklore criollo y afrocubano. Havanna: Junta Nacional de Arqueología y Etnología 1959 genannt. 54 Kurt Grötsch: Der Kampf um die Integration, S. 28–29. 55 Vgl. Kap. 2.1.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
des 16. Jahrhunderts verbreiteten Allgemeinplatz aufgreifend, als Zeugnisse einer «sabiduría popular», die sie teils in einem universellen Gedankengut, teils in der afrokubanischen Mythologie verortet.56 Darüber hinaus erkennt sie in einer Reihe der geäußerten Sprichwörter einen kreolischen, kanarischen oder iberischen Ursprung. Neben Gesprächen mit älteren Kubanern dient ihr die Gebrauchsliteratur des Kultes Regla de Ocha als Quelle, in der die Sprichwörter als Symbole für unterschiedliche Wahrsagesysteme stehen und ein Urteil oder einen Ratschlag untermauern sollen.57 Ferner gelingt es Cabrera mithilfe des französischen Ethnologen und Yoruba-Priesters Pierre Verger sowie eines jungen in Paris lebenden Angehörigen der Ethnie nagó, den reinen Yoruba-Ursprung einiger Sprichwörter zu bestimmen. Generell fällt es ihr jedoch schwer – gerade wegen ihrer häufig universellen Anwendbarkeit –, die Herkunft der einzelnen Sprichwörter zu ermitteln, auch wenn viele ihrer Gesprächspartner beteuern, ihr Ursprung liege in einer der afrikanischen Sprachen lucumí, dajome oder congo. Geht also die indigenistische und afroamerikanische Tendenz und damit das Interesse am Sprichwort als Ausdrucksmittel afrikanischstämmiger, indigener und ländlicher Gruppierungen in Lateinamerika zwischen 1950 und 1970 tendenziell zurück, so blüht es im kubanischen Exil seit 1959 erst richtig auf. Der Verlust der Heimat befeuert, wie im Falle Cabreras deutlich wird, die Auseinandersetzung mit der kubanischen Identität und dem afrokubanischen Erbe als deren wesentlichen Bestandteil. Verliert das Sprichwort in anderen lateinamerikanischen Ländern um die Mitte des Jahrhunderts seine Funktion als Mittel nationaler bzw. lateinamerikanischer58 Autoaffirmation, so gilt es in Kuba bis heute als Teil der cubanía im Sinne einer spezifisch kubanischen Idiosynkrasie.59
56 Bereits während ihres Studiums der Orientalistik war Cabrera von der Universalität einiger folkloristischer Schemata fasziniert. Vgl. Rosario Hiriart: Lydia Cabrera: Vida hecha arte. New York: Eliseo Torres & Sons 1978, S. 73. 57 In Carpentiers folkloristischem Roman Ecué-Yamba-Ó wird die hohe Präsenz von Sprichwörtern in afrokubanischen Kulten auch dort deutlich, wo der Autor ein Initiationsritual des Ñáñigo-Kultes schildert. In dessen Rahmen wird ein Dialog aus kultischen Formeln geführt, zu denen auch Sprichwörter zählen. Alejo Carpentier: ¡Ecue-Yamba-O! Historia afrocubana. Madrid: Alianza 2002 [1927/33], S. 164 . 58 Während viele Sprichwörtersammlungen national bezogen bleiben, stellen einzelne einen gesamt-lateinamerikanischen Bezug her, wie etwa Jorge Montenegro, der in Sammlungen von Sprichwörtern aus Honduras auf die Ähnlichkeit zwischen den eigenen Bräuchen und Traditionen und denjenigen in anderen lateinamerikanischen Ländern verweist. Vgl. Jorge Montenegro: El refranero de Montenegro. Refranes, modismos debidamente explicados. Tegucigalpa: Litografía López 2004, S. 4. 59 Dies hebt Romelia Lierena in ihrem Breve refranero popular cubano hervor. Romelia Lierena: Breve refranero popular cubano. La Habana: Academia 2011, S. 7.
3.1 Sprichwort und Ethnographie
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Während das Interesse Lydia Cabreras am kubanischen Sprichwort darin besteht, der afrokubanischen Kultur einen universellen Charakter zuzuschreiben, zugleich aber ihre Partikularitäten zu erkennen, sieht der ebenfalls im nordamerikanischen Exil lebende Kubaner José Sánchez Boudy in den kubanischen refranes, die er während eines halben Jahrhunderts in Kuba und unter in den USA lebenden Kubanern gesammelt hat, eine subversiv-kreative Aneignung des spanischen Sprichwortes. Generell sind die lateinamerikanischen refranes für ihn Ausdruck eines Kampfes zwischen dem Eigenen, Lateinamerikanischen, und dem ursprünglich Fremden, der spanischen Sprache, die sich jedoch zu einem Teil hispanoamerikanischer Identität entwickelt hat. Aus dem rebellischen Akt der kreativen Transformation des spanischen Sprichwortes in Kuba geht aus seiner Sicht ein Synkretismus hervor, in dem sich ein spanisches Wissen und seine Form mit dem spezifisch Kubanischen verbinden.60 Allerdings geht Sánchez Boudy nicht darauf ein, worin dieses kubanische Element besteht.61 Aus der breiten Akzeptanz der aus dem Spanischen übernommenen Gattungsbezeichnung refrán und der Tatsache, dass kubanische Sprichwörter in spanischer Sprache geäußert werden, schließt er, dass das kubanische Sprichwort spanische Wurzeln haben müsse. Damit blendet er aus, dass einige kubanische Sprichwörter, wie Lydia Cabrera bereits drei Jahrzehnte zuvor gezeigt hat,62 ihren Ursprung in einer kreolischen Sprache oder in den afrokubanischen Religionen haben und dass der starke Hang der afrikanischen Sprachen zum sprichwörtlichen Ausdruck dazu beigetragen haben dürfte, dass das Sprichwort in Kuba bis heute eine größere Verbreitung findet als in den übrigen ehemaligen Kolonien Spaniens. Stattdessen führt er die vergleichsweise enorme Verbreitung des refrán in Kuba auf den verschwindend geringen Einfluss der autochthonen Bevölkerung und die zahlenmäßig relativ hohe Präsenz einer ländlichen spanischstämmigen Bevölkerung während der Kolonialzeit zurück. Damit nimmt Sánchez Boudy eine Perspektive ein, die sich wesentlich von derjenigen Lydia Cabreras unterscheidet. Während Cabrera das Afrokubanische als Hauptquelle der kubanischen Sprichwörter betrachtet – dies mag auch daran liegen, dass ihre Informanten ausschließlich Afrokubaner oder Spezialisten für afroamerikanische Religionen sind –, dabei aber die spanische Herkunft einiger Sprichwörter anerkennt, schreibt Sánchez Boudy dem kubanischen Sprichwort einen spanischen Ursprung zu, der die nichtspanischen Elemente absorbiert.
60 Vgl. José Sánchez-Boudy: Diccionario de refranes populares cubanos, S. 9–10. 61 Lediglich ein Sprichwort dient der Illustration des kubanischen Elements: «potrica que se encabrita dale pita» Ebda., S. 10. [«der jungen Stute, die sich aufbäumt, gib Agave»]. 62 Sánchez Boudy würdigt die Sprichwörtersammlung Lydia Cabreras zwar in einer Fußnote, bezieht ihre Beobachtungen jedoch nicht in seine Überlegungen mit ein.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
Bereits in Cabreras Cuentos negros de Cuba, die 1936 zunächst in französischer Sprache erschienen, waren eine Reihe von afrokubanischen refranes eingeflossen. Die Entstehungsgeschichte dieser Sammlung von Erzählungen zeigt die durchaus ambivalente Rolle, die Cabrera in der Auseinandersetzung mit dem Sprichwort als Teil eines afrokubanischen Erbes einnimmt. Aus einer angesehenen weißen Familie in Havanna stammend, entwickelt Cabrera während ihres Studiums in Paris eine Sicht auf die afrokubanische Kultur, die durch Nähe und Distanz zugleich gekennzeichnet ist.63 Die dort absolvierten orientalischen Studien wecken in ihr, nicht ohne eine gewisse Nostalgie, das Interesse an der afrokubanischen Folklore, die ihr aus ihrer Kindheit aus dem Zusammenleben mit dem farbigen Hauspersonal der Familie vertraut ist.64 In Paris beginnt Cabrera dann auch diejenigen Erzählungen zu transkribieren, die sie in ihrer Kindheit aus dem Munde der Hausangestellten gehört hatte. Trotz dieses etischen Blickwinkels legt Cabrera mit den Cuentos negros de Cuba65 als eine der ersten kubanischen Intellektuellen Zeugnis darüber ab, dass die afrikanische Vergangenheit, die einen großen Teil der kubanischen Bevölkerung verbindet, einen beträchtlichen Teil der Nationalidentität Kubas ausmacht.66 In Afrika fänden Sprichwörter, so Mirta Fernández Martínez, als rhetorische Mittel in allen gesellschaftlichen Bereichen Anwendung.67 Glaubt man dieser 63 Vgl. Lynda Hoffman-Jeep: Creating Ethnography: Zora Neale Hurston and Lydia Cabrera. In: African American Review 39, 3 (2005), S. 337–353. Generell ist die ethnographische Tradition Kubas, wie sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausbildet, stark von der europäischen Mode des negrismo und der damit verbundenen exogenen Neugier an der Kultur der Farbigen beeinflusst. Auch Cabreras Schwager Fernando Ortiz kommt während seines Jurastudiums in Madrid mit ethnographischen Schriften über den ñáñigo-Kult in Kontakt, die in ihm das wissenschaftliche Interesse an dieser afrokubanischen Sekte und dem Afrokubanischen im Allgemeinen wecken und ihn zum Verfassen der Studie La mala vida en la Habana anregen. 64 Vgl. Rosario Hiriart: Lydia Cabrera: Vida hecha arte, S. 72–73. 65 Lydia Cabrera: Cuentos negros de Cuba. Miami: Ediciones Universal 1993 [1936]. Im Folgenden abgekürzt mit CNC. 66 Vgl. Susanna Regazzoni: La ambigua realidad afrocubana en los cuentos de Lydia Cabrera. In: ders. (Hg.): Alma cubana: Transculturación, mestizaje e hibridismo. The cuban spirit: Transculturation, mestizaje and hybridism. Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2006, S. 143–165, hier S. 148. 67 «La palabra africana está constantemente ilustrada o enriquecida por [el proverbio], hasta el punto que entre los bambará se dice que ‹la palabra sin proverbio es como la salsa sin sal›.» Mirta Fernández Martínez: Oralidad y africanía en Cuba. La Habana: Editorial de Ciencias Sociales 2005, S. 149. [«Die afrikanische Rede ist durchgehend veranschaulicht oder [durch das Sprichwort] bereichert, was so weit geht, dass man unter den Bambara sagt, das Wort ohne Sprichwort ist wie Soße ohne Salz.» (Anm. M.L.B. Die Immanenz der lautlichen Folge sal in salsa verstärkt im Spanischen noch die Bedeutung von Salz für die Würzigkeit der Soße)] .
3.1 Sprichwort und Ethnographie
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Aussage, so verwundert es nicht, dass zahlreiche von Lydia Cabrera gesammelte afrokubanische Erzählungen Sprichwörter enthalten. So lautet etwa die Moral der Erzählung «Dos reinas», in der die geizige Lucumí-Königin Oloya Gúanna regelmäßig bei ihrer Nachbarin Eléren Güedde isst, die sich dadurch ausgenutzt fühlt: «el que da, siempre le parece que da mucho, aunque dé poco; el que recibe, siempre cree que le dan poco, aunque reciba mucho.»68 (CNC 39) In «La loma de Mambiala» («Der Hügel von Mambiala») markiert ein Sprichwort den Wendepunkt der Handlung: «Pero la suerte que cae de repente sobre el hombre humilde, raro es que no le traiga aparejada su perdición al mismo tiempo»69 (CNC 97). Nachdem der faule Schwarze Serapio durch ein Wunder zu Wohlstand gekommen ist, stürzt er sich nach einem, ebenfalls von einem Sprichwort begleiteten retardierenden Moment («Dios protege dos veces a los vagos»70, CNC 100) ins Verderben. Diese knapp skizzierten Beispiele lassen die vielfältigen Funktionen erahnen, die das Sprichwort in den Cuentos negros einnimmt und die vom rhetorischen Mittel in der Figurenrede über den Erzählerkommentar bis hin zu strukturellen Funktionen reichen. Wie die Cuentos negros selbst entstammen auch die darin eingestreuten Sprichwörter der Erinnerung der Autorin an das Zusammenleben mit den afrikanischen Hausangestellten in ihrer Kindheit, die ihren Ratschlägen und Verboten häufig durch Sinnsprüche Nachdruck verliehen: Raro fue el tiempo en que las niñeras negras no fungiesen de Patronio con los niños blancos que tenían a su cuidado, acompañando un consejo o un regaño, una prohibición, con algún ejemplo de la cantera africana que, por lo menos en nuestro caso, quedaba grabado en la imaginación infantil, que entonces encantaba Esopo, las Mil y una noches, Perrault, La Fontaine, Anderson y Grimm.71
Auch der kubanische Ethnologe Fernando Ortiz nimmt den sentenzenhaften Charakter der afrikanischen Sprachen in seinem Vorwort zu den Cuentos negros
68 «Dem, der gibt, kommt es immer viel vor, auch wenn er wenig gibt; der, der bekommt, glaubt immer, dass man ihm wenig gibt, auch wenn er viel bekommt.» 69 «Aber es ist schon seltsam, dass das Glück, das plötzlich auf den Bescheidenden fällt, nicht auch gleich sein Verderben mit sich bringt.» 70 «Die Faulen beschützt Gott zweimal.» 71 Lydia Cabrera: Oye Ogbo. In: La enciclopedia de Cuba. San Juan-Madrid: Editorial Playor 1974 (Bd. 8), S. 268–303. «Nicht selten waren die schwarzen Kindermädchen auch die Hüterinnen der weißen Kinder, für die sie Sorge trugen, und fügten einem Rat, einer Schelte oder einem Verbot irgendein Beispiel aus der afrikanischen Fundgrube an, das sich zumindest in unserem Fall in die kindliche Vorstellungskraft einprägte, die damals Äsop, die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, Perrault, La Fontaine, Anderson und Grimm entzückte.»
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auf, indem er den eigens kreierten Aphorismus «Todo pueblo que se niega a sí mismo está en trance de suicidio»72 in einem afrokubanischen Sprichwort kulminieren lässt: «Lo dice un proverbio afrocubano: Chivo que rompe tambó con su pellejo paga»73 (CNC 10). Das von Ortiz gewählte Sprichwort entstammt dem Wahrsagesystem des Santería-Kultes Dilogún, auch bekannt als caracoles, so benannt nach den 16 Kaurimuscheln, die als Wahrsageinstrument gleich Würfeln geworfen werden. Das Wahrsagesystem afrikanischer Herkunft, das vor allem in der Karibik, in Zentralamerika und Brasilien verbreitet ist, beruht auf 16 Zeichen (oddun), die je auf eine weissagende Figur verweisen. Jeder dieser Figuren sind wiederum bestimmte Sprichwörter74 zugeordnet, die in der Regel alten Yoruba-Erzählungen entnommen sind und mit deren Hilfe der Befragte die Situation seines Klienten charakterisiert. Es liegt nahe, dass das Sprichwort «Chivo que rompe tambó con su pellejo paga» eine Strafe für einen begangenen Fehler ankündigt, oder, im Falle einer noch nicht begangenen Tat, eine Warnung ausdrückt. Fernando Ortiz führt es im Vorwort zu den Cuentos negros an, um die Haltung derjenigen zu kritisieren, die die afrokubanischen Wurzeln Kubas verkennen oder leugnen und sich damit den eigenen Boden unter den Füßen entziehen. Der kubanische Schriftsteller Miguel Barnet, Präsident der Unión de Escritores y Artistas de Cuba (UNEAC), hat dasselbe Sprichwort am 8. Februar 2015 in einem Artikel in der von der kubanischen Regierung finanzierten Zeitung Granma aufgegriffen.75 Im genannten Zeitungsartikel richtet sich Barnet gegen die kurz zuvor mit den USA aufgenommenen diplomatischen Beziehungen seines Landes. Die Verdienste der Revolutionsregierung würdigend warnt er vor der nordamerikanischen Bürokratie, dem republikanischen Konservatismus und einem auf Konsum ausgerichteten Kapitalismus. Kubanische Identität geht für ihn auf die Befreiung aus der kulturellen Kolonisierung zurück und beruht, wie er unter Bezugnahme
72 «Jedes Volk, das sich selbst leugnet, befindet sich in einem selbstmörderischen Wahn.» 73 «Wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: Der Bock, der die Trommel zerstört, bezahlt dafür mit seinem Fell.» 74 Für eine Auflistung siehe «Refranes y dichos de osha-ifá-santería». 75 Miguel Barnet: Chivo que rompe tambó con su pellejo paga. In: Granma, 08.02.2015, http://www.granma.cu/cuba/2015-02-08/chivo-que-rompe-tambo-con-su-pellejo-paga (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020). Bereits 2007 hatte Barnet mit diesen Worten seine Dankesrede eröffnet, als er den von Santander-Santiago und der Universität von Talca verliehenen Premio Iberoamericano de Letras «José Donoso» entgegennahm. Miguel Barnet: Palabras de agradecimiento al recibir el Premio Iberoamericano de Letras ‹José Donoso› 2007. In: UNIVERSUM 23, 1 (2008), S. 309–311, hier S. 309.
3.1 Sprichwort und Ethnographie
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auf Ortiz hervorhebt, auf spanischen, afrikanischen und asiatischen Wurzeln. Die autochthonen Werte zu bewahren und die kubanische Kultur gegen einen geistigen Verfall zu verteidigen, betrachtet er als übergeordnetes Ziel der intellektuellen Tätigkeit in Kuba. «No hacerlo sería correr el riesgo de caminar sobre escombros o hundirnos en el pantano de la dependencia colonial y la mediocridad.»76 Und er schließt seinen Artikel mit den Worten von Fernando Ortiz aus dem Vorwort zu den Cuentos negros: «Todo pueblo que se niega a sí mismo está en trance de suicidio. Lo dice un proverbio afrocubano: ‹Chivo que rompe tambó con su pellejo paga›»77, denen er hinzufügt: «Salvémonos.»78 In beiden Texten, Ortiz’ Vorwort und Barnets Zeitungsartikel, ruft das zitierte Sprichwort zum kulturellen Widerstand auf.79 Beschränkt sich dieser bei Ortiz noch auf eine überwiegend ästhetische Ebene, so erhält er bei Barnet eine politische Dimension. Dennoch, und wenngleich ihr Erscheinen 75 Jahre auseinanderliegt, teilen die beiden Texte ein doppeltes Anliegen: eine nach innen gerichtete Stärkung der eigenen kulturellen Traditionen und eine nach außen gewandte Abgrenzung von einer als bedrohlich empfundenen kulturellen Übermacht. Dieses überzeitliche und doch auf eine bestimmte Kultur bezogene Anliegen lässt sich offenbar kaum besser artikulieren als mithilfe des Sprichwortes Chivo que rompe tambor …, das, in spanischer Sprache mit kubanischem Akzent ausgedrückt, auf die Synthese aus afrikanischen und spanischen Elementen in Kuba verweist und zugleich eine Warnung ausspricht. Bezeichnend ist dabei, dass Barnet, ähnlich wie bereits die Neukaledonierin Déwé Gorodé, nicht in erster Linie vor der Bedrohung von außen, sondern vielmehr vor derjenigen von innen warnt: Mit dem Bock (chivo) spielt er auf den Kubaner an, der Verrat an seinem kulturellen Erbe übt und dafür mit seinem eigenen Fell, also dem Verlust seiner eigenen Identität bezahlt. Dem Sprichwort eignet eine Zirkularität, die in dem Kontext, in dem Barnet es verwendet, die kubanischen Intellektuellen selbst für die kulturelle Unterwerfung ihres Landes verantwortlich macht.
76 «Es nicht zu tun wäre Gefahr zu laufen, über Trümmer zu gehen oder uns im Sumpf der kolonialen Abhängigkeit und der Mittelmäßigkeit zu versenken.» 77 «Der Bock, der die Trommel zerstört, bezahlt dafür mit seinem Fell.» 78 «Retten wir uns!» 79 Auch Cabal Antillón beschreibt das Sprichwort in seinem Refranero de uso costarricense als sprachliches Mittel des Widerstandes gegen eine von politischer Seite vorangetriebene Homogenisierung der Kultur Costa Ricas im Zuge ökonomischer Interessen. Diese rufe den Widerspruch einer «großen anonymen Stimme» hervor, der sich im folgenden Sprichwort ausdrücke: «El patrón a seguir es no seguir al patrón». Dionisio Cabal Antillón: Refranero de uso costarricense, S. 72. [«Der Chef, dem es zu folgen gilt, ist, dem Chef nicht zu folgen.»]
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
3.1.5 Pädagogische und persönliche Sammlungen Geht das Sammeln mündlicher Folklore in Kuba in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ungebrochen weiter, so steigt in den 1980er und -90er Jahren die Anzahl an refraneros auch in den übrigen lateinamerikanischen Ländern wieder beträchtlich an. Dabei fällt auf, dass die Autoren der in diesem Zeitraum erschienenen Sprichwörtersammlungen häufig ein pädagogisches Ziel verfolgen, indem sie etwa fehlerhafte Sprachverwendungen volkstümlicher lateinamerikanischer Sprichwörter korrigieren oder Sprichwörter im Hinblick auf deren Einsatz im Schulunterricht zusammenstellen. Damit übernehmen diese Sammlungen auf einer anderen Ebene den didaktischen Gebrauch von Sprichwörtern durch Missionare, die in der Kolonialzeit spanische Sprichwörter gezielt zur Erziehung der indigenen Bevölkerung eingeführt hatten.80 Was die Sprichwörtersammlungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch deutlich von ihren kolonialen Vorgängern unterscheidet, ist ihr persönlicher Charakter. Ihre Autoren beziehen die zusammengestellten Sprichwörter häufig aus ihrem privaten Umfeld, weshalb der Übergang zwischen pädagogisch motivierten und persönlichen Sammlungen fließend ist. Eine zumindest teilweise pädagogische Absicht verfolgt José Jesús García Salas in seiner 1984 erschienenen Sammlung Lenguaje coloquial. Los refranes y ‹El Quijote› de Cervantes. El refranero venezolano. Dem Herausgeber geht es zum einen darum, Material für eine analytische Lektüre der Sprichwörter im Quijote zur Verfügung zu stellen, und zum anderen, das kreative Potenzial der Volkssprache aufzuzeigen. In einer Vorbemerkung weist er auf die Polemik hin, die seinerzeit um die Auseinandersetzung mit volkstümlichen Sprachverwendungen herrscht: El tema [del lenguaje coloquial, Anm. M.L.B] resulta polémico hasta en su nominación. Porque hay quienes no aceptan que el lenguaje usado diariamente, y en forma popular o familiar, en los mercados, medios de transporte, plazas públicas y nuestro propio hogar, sea aceptado como algo típico nacido en nuestras costumbres heredadas en algunos casos de nuestros conquistadores y antepasados, o con mayor frecuencia, creados [sic!] por la imaginación viva, creadora y suspicaz de nuestro pueblo.81
80 Vgl. Concepción Teresa Alzola Habla tradicional de Cuba, S. 25. 81 José J. García Salas: Lenguaje coloquial. Los refranes y ‹El Quijote› de Cervantes. El refranero venezolano. Caracas: Dirección de Artes Gráficas del Ministerio de la Defensa 1984, S. 3. «Das Thema (der Umgangssprache, Anm. M.L.B.) ist selbst in seiner Bezeichnung polemisch. Denn es gibt Menschen, die nicht akzeptieren, dass die täglich und öffentlich oder im familiären Umfeld verwendete Sprache, gesprochen auf den Märkten, in den Transportmitteln, auf öffentlichen Plätzen und in unserem eigenen Zuhause, als etwas Typisches akzeptiert werden soll, das unseren Bräuchen entsprungen ist, die wir in manchen Fällen von unseren Eroberern und
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Wie bereits Henríquez Ureña und Demorizi betrachtet auch García Salas Sprichwörter als Brücke zwischen dem spanischen Erbe und dem einfachen Volk, allerdings scheint diese Verbindung längst nicht mehr so unproblematisch wie zu Zeiten seiner Vorgänger zu sein, wie die etwas apologetisch anmutende Vorbemerkung zeigt. Das einfache Volk erscheint nicht mehr als Bewahrer von Traditionen, sondern als schöpferische Masse, die neue und zugleich pittoreske Sprachformen hervorbringt.82 Ein ebenfalls pädagogisches Ziel verfolgt zunächst Raquel G. Gómez mit ihrer Studie Refranero popular desde mi pueblito83. Allerdings fließen in diese Sammlung, wie der Titel bereits ankündigt, persönliche Interessen mit ein. Das Buch entstand auf der Grundlage einer kleineren Sammlung von in Puerto Rico gebräuchlichen Sprichwörtern mit ihrer jeweiligen Übersetzung ins Englische, die die Autorin im bilingualen Schulunterricht mit Schülern aus New York einsetzte. Das Zusammentragen von Sprichwörtern für den Schulunterricht mündet aber dann in einen regelrechten Sammeleifer, nicht zuletzt befeuert durch den Einfluss des Vaters der Autorin, der zahlreiche refranes verwendete. Mit «mi pueblito» bezieht sich die Herausgeberin auf ein Viertel von Bayamón in Puerto Rico, in dem sie ihre Kindheit verbrachte und dem sie ihre Sprichwörtersammlung widmet. Neben der pädagogischen Linie berührt der Refranero popular desde mi pueblito eine Strömung von Sprichwörtersammlungen, die aus einem privaten Interesse der Kompilatoren hervorgehen. Es handelt sich um häufig kleine, teilweise illustrierte Büchlein, die Sprichwörter aus dem sozialen Umfeld ihrer Herausgeber vereinen und keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erheben. So veröffentlicht etwa Francisco Salvador mit El Refranero Hondureño 1981 eine kleine Sammlung mit Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten, die sein Volksschullehrer Jesús Aguilar Paz auf Karteikarten notiert und gesammelt hatte. Solche persönlichen Sprichwörtersammlungen setzen oft mit einer Beschreibung des privaten Umfeldes oder einer Anekdote ein. Salvador etwa erzählt einleitend
Vorfahren geerbt haben, oder die häufiger von der lebendigen, schöpferischen und argwöhnischen Vorstellungskraft unseres Volkes geschaffen wurden.» 82 Die Auffassung von Sprichwörtern als pittoreskem Element hat sich bis in die Gegenwart halten können. So schreibt Jorge Montenegro in seinem Büchlein El refranero de Montenegro. Refranes, modismos debidamente explicados: «Los refranes se dicen en forma pintoresca en nuestro país y contienen enseñanzas morales con una profunda sabiduría popular.» Jorge Montenegro: El refranero de Montenegro, S. 3. [«Man verwendet Sprichwörter in unserem Land auf malerische Art und Weise und sie enthalten moralische Lehren mit einer tiefen Volksweisheit.»] 83 Raquel G. Gómez: Refranero popular desde mi pueblito nuevo. Dominikanische Republik: Corripio 1995 [1991].
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zum Refranero Hondureño, wie er als Kind die Ankunft von Jesús Aguilar Paz in seinem Dorf beobachtet hatte, ohne zu wissen, dass er dessen Schüler sein würde.84 Aus einem privaten Umfeld heraus entstand auch die weitaus umfangreichere Sammlung von Concepción Teresa Alzola Habla tradicional de Cuba: Refranero Popular85, die 1987 in Miami erschien. Ihr Inhalt ist dem Umfeld der familia der Autorin entnommen, wobei hierzu nicht nur der engere oder auch erweiterte Familienkreis zählt, sondern darüber hinaus eine Reihe von weiteren Personen, die in ihrem Haus in Marianao, einer Vorstadt von Havanna, einund ausgingen: das Hauspersonal, Warenanbieter, die benötigte Produkte lieferten und ihrer Mutter so den Gang zum Einkaufen ersparten, Patienten ihres Vaters sowie Bekannte der Familie. Den beträchtlichsten Teil der in ihrem Band enthaltenen Sprichwörter verdankt Alzola ihrer Patin, die zusammen mit ihrem Mann nach dem Börsenkrach 1929 in das Haus der Familie zog und die in einem kleinen Schreibheft beständig nebst Rätseln und Liebesgedichten auch refranes notierte. Alzola sortierte die Sprichwörter im Jahr 1962 gemeinsam mit ihrer Patin und hielt sich von 1963 bis 1965 in Madrid auf, um die gesammelten Sprichwörter mit spanischen Anthologien abzugleichen (vgl. HTC 32). Ihre Anordnung folgt einer alphabetischen Reihenfolge, wobei sie in der einführenden Studie zum einen nach Themen, zum anderen nach ihren Quellen strukturiert sind. Eine auffallend hohe Anzahl von Sprichwörtern kreist um das Thema Geld, was dem Beruf des Mannes ihrer Patin geschuldet sein dürfte (z. B. «Barcelona es bona si la bolsa sona.» HTC 50, n.9386). Alzola weist darauf hin, dass sich von den zahlreichen spanischen Sprichwörtern, die in Kuba überlebten, nur einige wenige an die neue geographische Umgebung anpassten und unter dem Einfluss nicht-spanischer ethnischer Gruppen veränderten. Hierzu gehören einige Sprichwörter mit kubanischer phonetischer Färbung wie Barriga vacía no pué trabajá. Barriga llena no pué doblar. (HTC 51, n.95)87
Sprichwörter mit spezifisch kubanischen Themen wie der bereits mehrfach zitierte afrokubanische refrán «Chivo que rompe tambor con su pellejo paga» (HTC 56, n.183) zählt sie ebenfalls zu dieser Gruppe.
84 85 86 87
Jesús Aguilar Paz: El Refranero Hondureño. Tegucigalpa: Guaymuras 1981. Concepción Teresa Alzola: Habla tradicional de Cuba. Im Folgenden abgekürzt mit HTC. «Barcelona ist gut, wenn der Geldbeutel klingelt.» «Ein leerer Bauch / kann nicht arbeiten. / Ein voller Bauch / kann sich nicht beugen.»
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Einige der Sprichwörter stammen aus dem Mund ihres Onkels Juan, der einen Teil seines Lebens als Stauer zusammen mit Afrokubanern, Haitianern und Jamaikanern gearbeitet hatte, weshalb die entsprechenden Sprichwörter eine ‹schwarze› phonetische Färbung aufweisen, wie etwa «La mula que corcovea no sirve pa’ carretón»88 (HTC 79, n.541). Allerdings interessiert sich Alzola im Gegensatz zu Cabrera insgesamt kaum für das sprichwörtliche Repertoire der farbigen Bevölkerung in Kuba. Auch wenn sie die Refranes de negros viejos in einer Fußnote erwähnt, bezieht sie diesen reichen Schatz afrokubanischer Sprichwörter nicht in ihr Korpus mit ein, sondern richtet ihr Augenmerk vielmehr auf die Sprichwörter spanischen Ursprungs. Im Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit den kubanischen refranes steht die Frage, warum aus der Fülle von Sprichwörtern, die mit den Eroberern und Entdeckern nach Kuba gelangten und die Missionare gezielt als didaktische Mittel importierten, ausgerechnet diejenigen überlebt haben, die sie in ihren Recherchen ausfindig machen konnte (vgl. HTC 25). Ihre Antwort lautet, dass ein Großteil der gesammelten refranes auf Beobachtungen des alltäglichen Zusammenlebens beruht, aus denen Verhaltensregeln abgeleitet werden. Im Einklang mit dieser sozialen Ausrichtung dominieren in den von Alzola gesammelten Sprichwörtern Feststellungen zu Sein und Schein, zu Ursache und Wirkung, zu beispielhaftem Verhalten, zu Widerwärtigkeiten, zu Bedürftigkeit und Ungerechtigkeit, Aufforderungen zu Kühnheit und Entschlossenheit sowie zu Genügsamkeit und Abstinenz. Tugenden werden gelobt und Charakterschwächen getadelt. Demgegenüber ist der Anteil von Sprichwörtern, die metaphysische Inhalte oder Beobachtungen der Natur («Aguacate maduro, peo seguro.»89 HTC 46, n.22; «El mar es generoso, pero traicionero.»90 HTC 62, n.279) beinhalten, verhältnismäßig gering (vgl. HTC 25–26). In den Refranes de negros viejos sind solche Themen dafür umso dominanter. Dort basieren zahlreiche Sprichwörter auf Naturbeobachtungen («El ñame atora y el quimbombó resbala»91; «El Sol no pasa por la sombra»92) und Aussagen über Gott bzw. die Götter («Las estrellas son los ojos de Olorún (Dios)»93; «Elegguá compone y descompone»94). Allerdings ist die Feststellung Alzolas, dass eine göttliche Vorsehung beharrlich abgelehnt werde, aus ihrem eigenen Material heraus nicht haltbar. Dem von ihr angeführten, in mehreren Kulturen verbreiteten Sprichwort «Ayúdate, que
88 «Das Maultier, das bockt, taugt nicht für den Karren.» 89 «Eine reife Avokado ist ein sicherer Betrug.» (Anm. M.L.B.: peo von pego ‹Betrug›) 90 «Das Meer ist großzügig, aber heimtückisch.» 91 «Die Jamswurzel bleibt stecken und die Okra gleitet.» 92 «Die Sonne geht nicht als Schatten durch.» 93 «Die Sterne sind die Augen Olorúns (Gottes).» 94 «Elegguá fügt zusammen und zerstört.»
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Dios te ayudará.»95 (HTC 50, n.91) widerspricht der refrán «El ojo de la Providencia no duerme.»96 (HTC 62, n.286). Die Unterschiedlichkeit der Quellen, aus denen die in einem bestimmten Kulturraum verwendeten Sprichwörter stammen, kann dazu führen, dass einige sich widersprechen. Dass beide der genannten Sprichwörter in Kuba überleben konnten und im Haus von Alzolas Familie geäußert wurden, zeugt von der Vielfalt sozialer und religiöser Gruppierungen, die auf engstem Raum miteinander interagieren. Alzolas Sammlung verweist also trotz oder gerade wegen ihres persönlichen Zugangs auf die vielfältigen Ursprünge des Sprichwortes, die in Kuba zusammenfließen. Darüber hinaus macht ein Vergleich zwischen ihrer Sammlung von überwiegend aus einem privaten Umfeld stammenden Sprichwörtern und Cabreras Anthologie afrokubanischer refranes exemplarisch deutlich, dass die Zusammensetzung eines Sprichwörterkorpus und die auf seiner Grundlage getroffenen Schlussfolgerungen zur Verbreitung von Sprichwörtern innerhalb einer Region in hohem Maße von persönlichen Interessen abhängt. Dieser Befund lässt sich nicht zuletzt auf die Auswahl des Korpus von Sinnsprüchen übertragen, das dieser Studie zugrunde liegt. Die ubiquitäre Gegenwart des Sinnspruchs in den unterschiedlichsten Diskursen und Textgattungen begünstigt nicht nur eine interessengeleitete Selektion, sondern macht sie notwendig. Der daraus resultierenden Gefahr der Ergebnissteuerung begegnet diese Studie insofern, als sie eine breite Perspektive wählt, die unterschiedliche Spruchgattungen, Traditionen sowie ideologische Einstellungen in einen Dialog treten lässt und dadurch ein Panorama erschließt, das zwar durch persönliche Lektüreerfahrungen geprägt, aber dennoch offen genug ist, um die Pluralität von kolonialen und post-kolonialen Verwendungsweisen des Sinnspruchs hervortreten zu lassen.
3.1.6 Volkssprachliche Dokumentation und pragmatische Studien Eine weitere Tendenz, die sich in den lateinamerikanischen Sprichwörtersammlungen seit den 1990er Jahren beobachten lässt, ist der Wunsch, gesprochene Sprache mithilfe von Sprichwörtern zu dokumentieren und dadurch zu bewahren. Hatte García Salas in seinem Refranero venezolano 1984 noch den umstrittenen Charakter der Volkssprache problematisiert,97 so werten neuere Sprichwörtersammlungen die Volkssprache auf, wobei es nun nicht mehr, wie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, in erster Linie darum geht, lateinamerikanische Identität
95 «Hilf dir selbst, so hilft Dir Gott.» 96 «Das Auge der göttlichen Vorsehung schläft nicht.» 97 Vgl. José J. García Salas: Lenguaje coloquial. Los refranes y ‹El Quijote› de Cervantes. El refranero venezolano.
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in einem volkstümlichen Milieu zu verankern. Vielmehr werden die Sprichwörter als Teil eines nationalen Erbes betrachtet, das es an künftige Generationen weiterzugeben gilt – «preservarlos para futuras generaciones», wie Roberto Fernández Valledor in seiner 1991 erschienenen Sammlung Del refranero puertorriqueño en el contexto hispánico y antillano schreibt.98 Ein ähnliches Ziel verfolgt Dionisio Cabal Antillón in seinem Refranero de uso costarricense (2009), wenn er anstrebt, eine «cultura de identidad nacional»99 wiederherzustellen und die «‹retraheres y patrañas, fablas y parlillas› […] de los ‹ticos›, especie única de la selva americana»100 vor dem Vergessen zu bewahren. Als Quellen dienen ihm Gespräche in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Plätzen, Märkten oder der Straße sowie die Befragung von älteren Mitbürgern. Neben der spanischen Herkunft und der lokalen Anpassung spanischer Sprichwörter in Costa Rica bezieht er von berühmten Persönlichkeiten oder aus der Nationalliteratur stammende Geflügelte Worte, refranes aus den indigenen Kulturen101 und der anglo-afrokaribischen Tradition sowie Sprüche chinesischer Herkunft als Ursprünge des gegenwärtigen Sprichwörterkanons in Costa Rica mit ein.102
98 Roberto Fernández Valledor: Del refranero puertorriqueño en el contexto hispánico y antillano. Madrid: Ediciones Siruela 1991, S. 11. 99 Dionisio Cabal Antillón: Refranero de uso costarricense, S. 11. «Kultur nationaler Identität». 100 Dionisio Cabal Antillón: Refranero de uso costarricense, S. 12, Hervorhebung im Original. «‹sprichwörtlichen Redensarten und Märchen, Fabeln und Geschwätz› […] der ‹ticos› (Anm. M.L.B.: Bezeichnung für die Bewohner Costa Ricas), eine einzigartige Art des amerikanischen Urwaldes». 101 «El refrán como estructura de pensamiento, como vaso de conocimiento y forma de transmisión de ambos, no tiene correspondiente ‹literal› entre los indígenas. Pero en sus poemas y en su filosofía, en sus adivinaciones y profecías, fluye el mismo plasma que le da razón de ser a nuestros refranes: la enseñanza de los hechos narrados o exaltados por el poeta y el sabio, permiten a los demás las interferencias necesarias para vivir debidamente.» Ebda., S. 89. [«Der refrán als Denkstruktur, als Gefäß der Erkenntnis und Übermittlungsform von beidem hat bei den Indigenen keine entsprechende wörtliche Entsprechung. Aber in ihren Gedichten und ihrer Philosophie, in ihren Wahrsagungen und Prophezeiungen fließt dasselbe Plasma, das unseren refranes ihre Daseinsberechtigung gibt: die Lehre der Geschehnisse, die der Dichter und der Weise erzählt oder preist, sie erlauben den Übrigen die nötigen Interferenzen, um zu leben wie es sich gehört.»] 102 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts setzte die Einwanderung chinesischer Arbeiter in Costa Rica ein, die sich vor allem im Bergwerk-Gebiet Guanacaste sowie an den Küsten von Puntarenas und Limón niederließen. Im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts leben Tausende in der Meseta Central. Vgl. ebda., S. 93. Fernández Valledor zieht auch arabische und jüdischsefardische Wurzeln der Sprichwörter in Costa Rica in Betracht, wobei in diesem Fall nicht klar zu bestimmen sei, ob sie über den Umweg des spanischen Wortschatzes oder direkt über in Costa Rica lebende Nachkommen konvertierter Juden in die lokale Kultur eingegangen sind (Ebda., S. 70). Wieder andere Sprichwörter stammten aus der Kolonialzeit und spiegelten die Relation von Unterdrückern und Unterdrückten wider, hätten aber im heutigen Gebrauch
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Neben den pädagogisch und persönlich motivierten refraneros entstehen schließlich seit den 1990er Jahren wissenschaftliche Sprichwörtersammlungen, die das Sprichwortgut einer bestimmten Nation in den Blick nehmen. Dabei wollen sie jedoch nicht, wie die Charakterstudien, mit ihrer Hilfe Wesenszüge der Angehörigen einer Nation bestimmen. Diese Studien können als Parömiologie im engeren Sinne betrachtet werden, da sie das Sprichwort weniger als ideologisches, psychologisches oder pädagogisches Mittel instrumentalisieren, sondern es aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten: die generelle Herkunft des Sprichwortes und etymologische Aspekte des Wortes refrán, Verwandtschaft mit anderen Spruchgattungen, Quellen des nationalen refraneros, thematische und strukturelle Eigenschaften der jeweiligen Sprichwörter sowie Entwicklungs- und Transformationsprozesse. Besonders hervorzuheben sind hier die beiden Studien von Herón Pérez Martínez Refrán viejo nunca miente (1993) und Refranero mexicano (2004). Das in der letztgenannten Studie vereinte und von der Academia Mexicana bereitgestellte Material ist nach alphabetisch geordneten Stichworten strukturiert und mit jeweils ausführlichen Erklärungen zu den formalen, strukturellen und argumentativen Eigenschaften sowie zu möglichen Verwendungskontexten versehen. Der Autor wendet sich gegen den fokloristischen Gemeinplatz, Sprichwörter seien Teil einer «filosofía popular», indem er sie aus pragmatischer Perspektive betrachtet: [L]os refranes no son ni expresiones de una filosofía popular, ni cosas por el estilo, son sólo puntos de apoyo del hablar del pueblo. Son, en efecto, las verdades del hablar cotidiano, sus puntos de acuerdo culturales, en que un pueblo finca su argumentar cotidiano cuando habla, cuando defiende sus puntos de vista, y, en general, cuando alega.103
Die Sprichwörter verlieren hier den essenzialistischen, pittoresken und schließlich musealen Charakter, den bisherige Sprichwörtersammlungen ihnen zugeschrieben haben. Statt die Sprichwörter aus ihren unzähligen Kommunikationskontexten herauszulösen und in einer musealen Ordnung erstarren zu lassen,104 werden sie hier zu Alltagspraktiken, die untrennbar mit ihren Akteuren, in diesem Fall ihren pejorativen Status verloren, z. B. «Indio que canta es que quiere huir.» [«Ein Indio, der singt, will fliehen.»] Roberto Fernández Valledor: Del refranero puertorriqueño en el contexto hispánico y antillano, S. 94. 103 Héron Pérez Martínez: Refranero mexicano. México, D.F.: Fondo de Cultura Económica 2004, S. 14. «Die refranes sind weder Ausdruck einer volkstümlichen Philosophie noch Stilsache, sie sind nur Stützpunkte der Volkssprache. Sie sind in der Tat die Wahrheiten des täglichen Sprechens, die kulturellen Einverständnisse des Volkes, in denen es sein tägliches Argumentieren unterbringt, wenn es spricht, wenn es seine Sichtweisen verteidigt und, ganz allgemein, wenn es streitet.» 104 Vgl. Michel de Certeau: L’invention du quotidien I, S. 38–39.
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den Äußerungssubjekten der Sprichwörter, verbunden sind. Diese Alltagsfunktion von Sprichwörtern hat Michel de Certeau in L’invention du quotidien wie folgt beschrieben: Comme les outils, les proverbes, ou autres discours, sont marqués par des usages; ils présentent à l’analyse les empreintes d’actes ou de procès d’énonciation, ils signifient les opérations dont ils ont été l’objet, opérations relatives à des situations et envisageables comme des modalisations conjoncturelles de l’énoncé ou de la pratique; plus largement, ils indiquent donc une historicité sociale dans laquelle les systèmes de représentation ou les procédés de fabrication n’apparaissent plus seulement comme des cadres normatifs mais comme des outils manipulés par des utilisateurs.105
Sprichwörter sind keine festgefügten Sprachdenkmale, sondern verändern sich im Prozess ihrer Verwendung, wie etwa die Anpassungen von spanischen Sprichwörtern an spezifisch lateinamerikanische Kontexte zeigen. Dass sie, wie Certeau hier schreibt, von ihren Nutzern manipulativ eingesetzt werden können, machen Beispiele in postkolonialen Werken wie Aimé Césaires Drama La tragédie du roi Christophe (Kap. 4.2) oder Simone Schwarz-Barts Roman Pluie et vent sur Télumée Miracle (Kap. 5.2) deutlich. Sprichwörter tragen das Potenzial unzähliger Anwendungen in sich, das sie nur in einem konkreten Kommunikationszusammenhang entfalten können. Strukturalistisch gesprochen kann ein Sprichwort innerhalb des Systems der langue nie seinen vollständigen Sinn erlangen, sondern nur im Akt der parole. Pérez Martínez’ Angaben zu etwaigen Äußerungskontexten, die ansatzweise übrigens bereits Sahagún gemacht hatte, zeichnen die Gebrauchsspuren, die sich im Sprichwort verfestigt haben, zwar nach und machen ihre soziale Historizität sichtbar. Allerdings bleibt der konkrete Artikulationszusammenhang selbst in solchen pragmatischen Studien noch abstrakt, da lediglich mögliche, nicht aber tatsächliche Verwendungen angegeben werden. Auch Pérez Martínez’ Sammlung bewegt sich auf der Ebene der langue und nicht auf derjenigen der parole.106
105 Ebda., S. 39–40, Hervorhebungen im Original. «Sprichwörter oder andere Diskurse sind genauso wie Werkzeuge durch den Gebrauch gekennzeichnet; sie bieten der Analyse Abdrücke von Handlungen oder von Sprechvorgängen; sie bezeichnen die Operationen, deren Gegenstand sie gewesen sind, also Operationen, die von den Umständen abhängig sind und die als jeweilige Modalisierungen der Aussage und der Praxis betrachtet werden können; im weitesten Sinne verweisen sie also auf eine gesellschaftliche Geschichtlichkeit, in der die Vorstellungssysteme oder die Fabrikationsprozesse nicht mehr nur als ein normativer Rahmen erscheinen, sondern als Werkzeuge, die von denen, die sie gebrauchen, gehandhabt, manipuliert werden.» Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 64–65. 106 Neuere ethnographische Studien analysieren Sprichwörter in konkreten soziolinguistischen Kontexten, etwa um diskursive Praktiken ethnolinguistischer Minderheiten zu beschreiben.
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Wie Sprichwörter hingegen ihr praktisches – und zugleich taktisches – Potenzial in konkreten Konversationszusammenhängen entfalten, hat der französische Schriftsteller und Publizist Jean Paulhan bereits 1925 auf eindrückliche Weise in seinem Essay L’expérience du proverbe vorgeführt und damit ein einzigartiges Zeugnis einer kolonialen Auseinandersetzung mit dem Sprichwort vorgelegt, die sich nicht zu einer musealen Ausstellung verfestigt.
3.1.7 Jean Paulhan in Madagaskar: L’expérience du proverbe und die kolonialen Sprichwörtersammlungen Subsahara-Afrikas Bevor Jean Paulhan 1925 Chefredakteur der literaturkritischen Nouvelle Revue Française wurde, 1941 die philosophisch-literarische Zeitschrift Les lettres françaises mitbegründete und 1945 schließlich den Grand Prix de Littérature der Académie Française für sein gesamtes Werk erhielt, war er von 1908 bis 1910 als Lehrer in Madagaskar tätig, wo er Zeuge einer ihm bislang unbekannten Sprachverwendung wurde: Im Zusammenleben mit einer madagassischen Familie beobachtete er, wie bestimmte Äußerungen, die sich von ihrem Kontext abhoben, den Ton einer Diskussion augenblicklich veränderten, sie beschleunigten, ins Stocken geraten ließen oder einen drohenden Streit im Keim zu ersticken vermochten.107 Diese «seconde langue malgache»108, die sich weniger durch ihre sprachliche Struktur, als vielmehr durch ihren Effekt auszeichnete,109 hat Paulhan als Sprichwörter identifiziert. Er stellte fest, dass eine Aussage in einem Gespräch umso mehr Gewicht hatte, je mehr dieser Spruchformen sie enthielt. Ein einzelnes Sprichwort rief in der Regel eine Antwort mit zwei Sprichwörtern hervor, die wiederum mit drei Sprichwörtern beantwortet wurde.110
Elías Domínguez Barajas beispielsweise untersucht die linguistischen, kognitiven und kulturellen Funktionen von Sprichwörtern anhand eines transnationalen Familiennetzwerkes, das sich zwischen dem mexikanischen Staat Michoacán und Chicago aufspannt. Vgl. Elías Domínguez Barajas: The Function of Proverbs in Discourse. 107 Vgl. Jean Paulhan: L’Expérience du proverbe. Préface de Jean-Yves Pouilloux. Paris: L’Échoppe 1993, S. 16. 108 Ebda., S. 15. 109 Vgl. Jean Paulhan: L’Expérience du proverbe. Préface de Jean-Yves Pouilloux, S. 11. 110 Dieser Gebrauch von Sprichwörtern, der sich in den einfachsten Unterhaltungen beobachten lässt, ist in den poetischen Wortgefechten hain-teny codifiziert. Vgl. Jacqueline F. Paulhan: Cahiers Jean Paulhan: 2 Jean Paulhan et Madagascar 1908–1910. Paris: Gallimard 1982, S. 326. Der Schlüssel zum Verständnis eines hain-teny besteht laut Paulhan im Verhältnis zwischen einem ihm zugrundeliegenden Sprichwort bzw. mehreren Sprichwörtern, und ihrem Kontext, der das Sprichwort umrahmt und erklärt (ebda., S. 204). Die Sprichwörter verdichten sich im
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In seiner Studie L’expérience du proverbe war es Paulhan weniger daran gelegen, die Besonderheiten der Sprichwörter Madagaskars herauszuarbeiten oder mit ihrer Hilfe ethnologische, linguistische und psychologische Aspekte der madagassischen Kultur zu verstehen, auch wenn seine Überlegungen sicherlich nicht frei von anthropologischen Vorannahmen waren. Vielmehr schildert er in diesem Text seinen persönlichen Zugang zum madagassischen Sprichwort sowie seinen bald mehr, bald weniger erfolgreichen Umgang mit ihm. Si les difficultés, que me présentèrent en particulier les proverbes, sont propres à la langue malgache, ou communes à toutes les langues, je ne le chercherai pas ici. Je ne veux que décrire, avec le plus de soin qu’il me sera possible, mon expérience, et les découvertes – ou bien les ruses – qui me firent dépasser ces difficultés.111
Dass die Mitglieder seiner Gastfamilie in Gesprächen häufig Sprichwörter verwendeten, wurde dem Franzosen zum Stolperstein: entweder, weil er ihren Sinn in der gehörten Rede verkannte oder, weil er sie in seiner eigenen Rede auf eine unangebrachte Art und Weise anbrachte. Diese Schwierigkeit spornte ihn an, Taktiken («ruses») zu finden, um mit der Opazität des Sprichwortes umzugehen, dessen Bedeutung dem kulturell Außenstehenden verborgen bleibt. Eine dieser Taktiken bestand darin, sich vor einem Gespräch eine Reihe von Sprichwörtern zurechtzulegen, um sich ihrer dann je nach Verlauf des Gesprächs zu bedienen.112 Würde Werner Krauss das Sprichwort (insbesondere das spanische) einige Jahrzehnte später als diskursive Taktik beschreiben und würden frankokaribische Intellektuelle und Schriftsteller es gegen Ende des Jahrhunderts als Verschleierungstaktik zum Selbstschutz gegen eine neokoloniale Vereinnahmung identifizieren, so trägt das madagassische Sprichwort in der Art und Weise, in der Paulhan es schildert, das Potenzial eines kulturellen Widerstandes in sich, ohne dass sich die Nutzer oder Paulhan als Rezipient dessen bewusst gewesen wären: Obwohl Paulhan der madagassischen Sprache so weit mächtig war, dass
Laufe eines hain-teny, bis dieses mit einer Anhäufung von Sprichwörtern endet und durch diese eine Art Moral erhält (ebda., S. 206). 111 Jean Paulhan: L’Expérience du proverbe. Préface de Jean-Yves Pouilloux, S. 13. «Ob die Schwierigkeiten, vor die mich insbesondere die Sprichwörter stellten, dem Madagassischen eigen sind, oder allen Sprachen gemein, darüber werde ich hier nicht nachdenken. Ich will nur mit der größten mir möglichen Sorgfalt meine Erfahrung und die Entdeckungen – oder aber die Taktiken – beschreiben, die mich diese Schwierigkeiten bewältigen ließen.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 112 Vgl. Jacqueline F. Paulhan: Cahiers Jean Paulhan: 2 Jean Paulhan et Madagascar 1908– 1910, S. 329.
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er sie nach seiner Rückkehr nach Frankreich an der Ecole des langues orientales in Paris unterrichten konnte, gelang es ihm nicht, zur Bedeutung der Sprichwörter in ihrem jeweiligen Kommunikationszusammenhang vorzudringen. Dies ist wohl der Tragweite der pragmatischen Dimension geschuldet, angesichts derer rein sprachliche Aspekte des Sprichwortes nur einen verhältnismäßig kleinen Teil zur Bedeutung beitragen. Das Verständnis vieler Sprichwörter erfordert ein außersprachliches Wissen, das nur über Beobachtung und Erfahrung erworben werden kann. Auch wenn Paulhan über dieses Wissen nicht verfügte, sind es gerade die nonverbalen Elemente, die es ihm erlaubten, ein Sprichwort in seinem sprachlichen Kontext zu erkennen. Il m’arrivait de le reconnaître à l’étrangeté des mots qu’il contenait, nouveaux dans la conversation, différents du sujet dont il était jusque-là question. J’avais d’autres indices de sa présence: il était dit assez rapidement, et plus esquissé que dit – mais avec une dignité, et un sérieux singuliers. Rabe allait jusqu’à se lever chaque fois qu’il prononçait un proverbe; Ralay écartait les bras et se penchait en avant. Lorsque Rasoa commençait à parler en proverbes, j’avais l’impression qu’elle allait nous annoncer quelque grave nouvelle, étrangère à notre conversation: un accident, une mort. Je n’ai jamais vu personne interrompre les proverbes, mais il semblait au contraire que chacun portât son attention à les favoriser, à les faciliter – comme l’on est ‹de cœur› avec un acrobate qui accomplit un tour dangereux; ou bien encore comme aux refrains d’une opérette, les adversaires de tout à l’heure se trouvent brusquement d’accord.113
Diese, wie Paulhan selbst gesteht, naive Beschreibung zeugt nicht nur von der Unfähigkeit des Beobachters, den Sinn des geäußerten Sprichwortes zu fassen, sondern auch von seiner Absicht, die Opazität, die das madagassische Sprichwort umgibt, in dessen Beschreibung aufrecht zu erhalten. Darin unterscheidet sich Paulhans Schilderung des Sprichwortes maßgeblich von den ethnologischen Sammlungen afrikanischer Sprichwörter seiner Zeit. Seit 1885 wurde in Europa,
113 Jean Paulhan: L’Expérience du proverbe. Préface de Jean-Yves Pouilloux, S. 16. «So konnte es passieren, dass ich es an der Eigenartigkeit der Wörter, die es enthielt, wiedererkannte, die neu in der Unterhaltung waren, anders als das Thema, um das es bisher gegangen war. Ich hatte andere Beweise für seine Präsenz: es wurde ziemlich schnell ausgesprochen, und mehr angedeutet als gesagt – aber mit einzigartiger Würde und Ernsthaftigkeit. Rabe ging sogar so weit, sich jedesmal zu erheben, wenn er ein Sprichwort aussprach; Ralay breitete die Arme aus und beugte sich nach vorne. Wenn Rasoa begann, in Sprichwörtern zu sprechen, hatte ich den Eindruck, dass sie uns irgendeine ernste Neuigkeit berichten wollte, die nicht Thema unserer Unterhaltung war: ein Unfall, ein Todesfall. Ich habe nie gesehen, dass jemand ein Sprichwort unterbricht, im Gegenteil schien es, als ob jeder seine Aufmerksamkeit darauf ausrichtete, sie zu bevorzugen, ihre Äußerung zu erleichtern – so wie man mit einem Akrobaten mitfiebert, der eine gefährlichen Nummer vollführt; oder aber wie in den Refrains einer Operette, in denen sich Gegenspieler plötzlich einig sind.»
3.1 Sprichwort und Ethnographie
145
vornehmlich in Frankreich und Belgien, eine beträchtliche Anzahl von Sammlungen so genannter mündlicher Literatur aus dem subsaharischen Afrika veröffentlicht, die Erzählungen, Fabeln, Legenden, Rätsel sowie Sprichwörter und andere Spruchgattungen kompilierten. Mit dem Aufkommen eines psychologischen und ethnologischen Diskurses in den 1930er Jahren erlebten diese Sammlungen einen zusätzlichen Aufschwung. Das Sprichwort bildete unter den von Missionaren, Lehrern, Beamten der Kolonialverwaltung und in geringem Maße auch von afrikanischen Intellektuellen gesammelten Textproben eine bevorzugte Gattung. Ein großer Teil der Sammlungen von übersetzten, teilweise auch annotierten und erläuterten Sprichwörtern, erschien in Zeitschriften, andere in linguistischen Handbüchern, wieder andere in ethnographischen Werken oder als Monographien. Die Mehrheit dieser Sammlungen, die sich zwischen Folklore, Literatur und Wissenschaft situieren, entsprang einem ethnologischen oder ethnolinguistischen, und zu einem geringen Teil auch einem pädagogischen Interesse.114 Gemeinsam haben sie, auch mit den zeitgleich entstandenen lateinamerikanischen Sprichwörtersammlungen, dass sie das Sprichwort aus seinem kommunikativen und sozial-historischen Kontext herauslösen, um es einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen oder um folkloristische Neugier zu befriedigen.115 Während es sich französische und belgische Linguisten, Pädagogen und Missionare zum Ziel gesetzt haben, mithilfe des Sammelns, Übersetzens und Annotierens von Sprichwörtern in die Tiefen, die ‹Seele› der kolonisierten Völker vorzudringen,116 hebt Paulhan durch seine Schilderungen gerade das Geheimnis hervor, das die Äußerung von Sprichwörtern umgibt, ohne es zunächst lüften zu wollen.117 Ja, der Autor kommt zu dem Schluss, dass das Sprichwort seine
114 Vgl. dazu ausführlich Miriam Lay Brander: Transferts de ‹sagesse noire›: Les recueils de proverbes de langue française à l’époque coloniale. In: Michel Espagne/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Transferts de savoirs sur l’Afrique. Paris: Karthala 2015c, S. 81–101. 115 Vgl. Michel de Certeau: L’invention du quotidien I, S. 38. 116 Vgl. Miriam Lay Brander: Transferts de ‹sagesse noire›. 117 Diese fehlende Transparenz ist womöglich der Grund, warum es Paulhan nicht gelang, seine Studien in eine wissenschaftliche Form zu bringen, die sie als Dissertation akzeptabel gemacht hätten. Auch wenn Paulhan seine Dissertation nie vollendete, wurden seine Forschungen von einigen seiner Zeitgenossen wie Guillaume Apollinaire sowie den Anthropologen Lucien Lévy-Bruhl und Marcel Jousse geschätzt. Vgl. Jacqueline F. Paulhan: Cahiers Jean Paulhan: 2 Jean Paulhan et Madagascar 1908–1910, S. 232. Paulhan erkannte den Nachteil eines Themas an, das sich keiner der damaligen Disziplinen eindeutig zuordnen lässt, das aber mehrere Disziplinen wie Psychologie, Logik, Sprachwissenschaft und Philosophie berührt (ebda., S. 264). Möglicherweise entschied er sich deshalb für eine Veröffentlichung derjenigen Ergebnisse, die seinen persönlichen Zugang zum madagassischen Sprichwort dokumentieren: L’expérience du proverbe erschien 1925 in der Nr. 5 der Zeitschrift Commerce (ebda., S. 238).
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
Autorität gerade seiner Opazität («obscurité»118) verdanke, seien doch seine Versuche, die gehörten Sprichwörter deuten zu wollen und mit seinen madagassischen Gastgebern über die Bedeutung eines Sprichwortes außerhalb eines bestimmten Gebrauchskontextes zu sprechen, vergeblich.119 Ein Sprichwort zu erklären und damit seine Opazität aufzuheben, bedeutet für ihn demnach, es zu entkräften. Nur die europäisch gebildeten Jugendlichen, die Paulhan befragt und deren mit Anglizismen und Französismen durchsetzte Sprache Paulhan befremden, können ihm den Sinn der Sprichwörter erklären, obwohl – oder gerade weil – sie sie verachten.120 Sobald das Sprichwort seines Geheimnisses beraubt ist, verliert es seinen Wert und wird im Falle der madagassischen Jugendlichen sogar zum Gegenstand von Spott und Ablehnung. In Jean Paulhans Auseinandersetzung mit dem madagassischen Sprichwort klingt bereits das an, was in den Kommentaren frankokaribischer Schriftsteller zum Sprichwort seit den 1990er Jahren deutlich wird: dass sich das Sprichwort als diskursive Form, die ein kulturelles Wissen kodiert, in besonderem Maße für eine verschlüsselte Kommunikation zum Schutz gegen eine kulturelle Übermacht eignet. Diesen kodifizierten Charakter verkannten die Autoren kolonialer Sprichwörtersammlungen, wenn sie Sprichwörter aus ihrem konkreten Kommunikationskontext herauslösten und glaubten, mit ihrer Hilfe Zugang zu einer verborgenen Psyche der beherrschten Völker zu erhalten. Allerdings wird bei den frankokaribischen Autoren der Gemeinplatz einer sagesse noire oder sabiduría popular durch einen anderen abgelöst, nämlich durch denjenigen einer Stilisierung des Sprichwortes zum Träger eines kreolischen, dem westlichen Hörer oder Leser verborgenen Wissens.
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung: Aphorismus und Sprichwort als Mittel des (kulturellen) Widerstandes Die Auffassung vom Sprichwort als Mittel des kulturellen Widerstandes ist nun schon mehrfach angeklungen.121 Funktionalisierte Ortiz ein afrokubanisches Sprichwort – Chivo que rompe tambó … – für einen ästhetischen Widerstand gegen den Verlust oder das Leugnen eines afrokubanischen Erbes, so hat Miguel Barnet
118 Jean Paulhan: L’Expérience du proverbe. Préface de Jean-Yves Pouilloux, S. 25. 119 Vgl. Ebda., S. 18–28. 120 Vgl. Ebda., S. 29–30. 121 Das vorliegende Unterkapitel ist eine überarbeitete und erweiterte Version eines im September 2015 in der Revista Chilena de Literatura erschienenen Artikels. Vgl. Miriam Lay Brander: Intimos arquipélagos: La aforística en Cadernos de João de Aníbal Machado y la poética de la archipelización. In: Revista Chilena de Literatura 90 (2015b), S. 129–150.
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung
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dasselbe Sprichwort für politische Zwecke aufgegriffen, um die Intellektuellen Kubas zum Widerstand gegen die neu aufgenommenen diplomatischen Beziehungen seines Landes mit den USA aufzurufen. Die sich nun anschließenden Überlegungen sind der Vorstellung vom Sprichwort als Mittel kultureller Resistenz in den französischsprachigen Antillen gewidmet, wobei die Frage nach dem widerständischen Potenzial des Sinnspruchs auf zweifache Weise erweitert wird. Zum einen ist zu fragen, ob der Aphorismus dieselben oder andere Funktionen des Widerstandes erfüllt wie das Sprichwort. Bei Déwé Gorodé, aber auch im Anthropophagischen Manifest von Oswald de Andrade wurde bereits sichtbar, dass der Aphorismus ein kreativ-subversives Potenzial birgt. Um die Möglichkeiten des Aphorismus im Hinblick auf einen postkolonialen Widerstand noch weiter auszuloten, lohnt ein Blick auf das Werk von Édouard Glissant, der sich in seinen essayistischen Schriften einer zunehmend aphoristischen Schreibweise bedient. Zum anderen – und dies hängt eng mit der Frage nach dem widerständischen Potenzial des Aphorismus zusammen – wird das aphoristische Schreiben Glissants mit demjenigen des brasilianischen Schriftstellers Aníbal Machado verglichen, mit dem es die Nähe zum Surrealismus und dessen Ansatz einer ästhetischen Resistenz, vor allem aber die Metapher des Archipels als Sinnbild für Dynamiken des Widerstands teilt. Die kulturelle Lage der französischsprachigen Antillen unterscheidet sich insofern vom untersuchten lateinamerikanischen und madagassischen Kontext, als sie, wie die Heimat der Neukaledonierin Gorodé, politisch immer noch an ein europäisches Zentrum gebunden bleiben. Daher geht es den gegenwärtigen französischsprachigen Autoren auf den Antillen, anders als kubanischen Ethnographen wie Lydia Cabrera oder Miguel Barnet, nicht in erster Linie um eine Rehabilitation des afrikanischen Erbes, sondern vielmehr um eine Neupositionierung gegenüber der kulturellen französischen Übermacht. Für den postkolonialen Kontext der französischsprachigen Antillen bedeutet dies die Proklamierung einer eigenen kreolischen Kultur, die sowohl eine Assimilation an die europäisch-westliche Kultur als auch eine Rückkehr zu einem afrikanischen Ursprung ausschließt. Glissant sieht die frankokaribischen Kulturen einer beständigen Kreolisierung ausgesetzt, die er definiert als «un mouvement perpétuel d’interpénétrabilité culturelle et linguistique qui fait qu’on ne débouche pas sur une définition de l’être».122 Er grenzt sich damit sowohl von der Négritude als auch von der Créolité ab, da beide Strömungen eine farbige respektive kreolische Identität zu definieren und damit festzuschreiben suchen. Unter den Vertretern der Créolité-Bewegung erfährt das Konzept der Kreolisierung insofern eine Radikalisierung, als sie den Identitätsdiskurs der Négritude explizit
122 Edouard Glissant: Introduction à une poétique du divers. Paris: Gallimard 1996, S. 125.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
verneinen und den hybriden Charakter kultureller Mischungen betonen: «Ni Européens, ni Africains, ni Asiatiques, nous nous proclamons Créoles.»123 In der hier nur sehr knapp skizzierten Suche nach kreolischer Identität kommt sowohl dem Sprichwort als auch dem Aphorismus eine zentrale Funktion zu. Während das Sprichwort als Element einer linguistischen Kreolisierung und Kreolität beschrieben und eingesetzt wird, bedient sich Glissant eines aphoristischen Schreibens, das sich über diskursive und epistemologische Grenzen hinwegsetzt und so zum Ausdruck einer transversalen Poetik wird, die jenseits konkreter sprachlicher und kultureller Verflechtungsprozesse liegt.
3.2.1 Das Sprichwort in den französischsprachigen Antillen Wie Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant in ihrem manifestartigen Essay Eloge de la Créolité (1989) darlegen, bildete das kreolische Sprichwort in den Plantagengesellschaften der heute französischsprachigen Karibik Teil eines Codes, über den die Sklaven verschlüsselt miteinander kommunizierten und der notgedrungen die fragmentarische Form von kurzen Textsorten wie contes, Sinnsprüchen und Liedern annahm.124 Diese auf Mündlichkeit basierende Kommunikationsform stellt aus der Sicht der Autoren einen privilegierten Modus kreolischer Identität dar, ein «système de contre-valeurs, une contre-culture»125. Nach dem Zusammenbruch der Plantagengesellschaft befand sich dieses Kommunikationssystem im Leerlauf, da es für eine zunehmend an Frankreich assimilierte, urbane Gesellschaft als soziales Ausdrucksmittel obsolet geworden war. Es entstand ein Abgrund zwischen einem schriftlichen Ausdruck, der einen universell-modernen Anspruch erhob, und einer scheinbar überholten Mündlichkeit, «l’oralité créole traditionnelle où sommeille une belle part
123 Jean Bernabé/Patrick Chamoiseau/Raphaël Confiant: Eloge de la créolité/In Praise of Creoleness. Edition bilingue, Paris: Gallimard 1993 [1989], S. 13. 124 Vgl. Edouard Glissant: Poétique de la Relation. Poétique III1990, S. 82–83. 125 Jean Bernabé/Patrick Chamoiseau/Raphaël Confiant: Eloge de la créolité/In Praise of Creoleness, S. 33. Obgleich Chamoiseau und Confiant das Manifest Eloge de la Créolité gemeinsam verfasst haben, scheiden sich ihre literarischen Verfahren zusehends voneinander (vgl. Ralph Ludwig: Frankokaribische Literatur, Tübingen: Narr 2008, S. 156). Während Confiant in Le grand livre des proverbes créoles mithilfe des Sammelns und Verschriftlichens archaischer, aber durchaus noch gebräuchlicher Formen des Sinnspruchs ein Archiv kreolischer Kultur zu schaffen sucht, verwirft Chamoiseau das Notieren und Zitieren kreolischer Sprichwörter zugunsten einer Sammlung von Fragmenten aus seiner persönlichen Lektüreerfahrung – einer sentimenthèque, wie Chamoiseau diese Sammlung in seinem autobiographischen Essay Ecrire en pays dominé bezeichnet. Vgl. Kap. 6.2.
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung
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de notre être.»126 Laut Bernabé, Chamoiseau und Confiant wurden ausgerechnet die folkloristischen Autoren, die die traditionellen kreolischen Diskursformen einem neugierigen europäischen Publikum, häufig aus kommerziellen Beweggründen heraus, zugänglich machten, zu Bewahrern der kreolischen Mündlichkeit. Diese exotistisch motivierte Rückkehr zu den traditionellen Genres – auch zum Sprichwort – sei notwendig gewesen, um eine durchbrochene kulturelle Kontinuität, mit deren Hilfe sich eine kreolische Identität zu behaupten vermag, wieder herstellen zu können: «Pourvoyeuse de contes, proverbes, ‹titim›, comptines, chansons …, etc., l’oralité est notre intelligence, elle est notre lecture de ce monde, le tâtonnement, aveugle encore, de notre complexité.»127 Glaubt man Raphaël Confiant, einem der Mitbegründer der Créolité-Bewegung und Herausgeber der Sprichwörtersammlung Le grand livre des proverbes créoles. Ti-Pawol (2004), sind Sprichwort, dicton, adage, Maxime, Sentenz, Lebensregel und Aphorismus zeitlose, von historischen Prozessen unberührte Ausdrucksformen: Les proverbes ne sont pas, contrairement à une idée reçue, des paroles du passé, des ‹paroles du temps-longtemps› comme on dit aux Antilles. Le proverbe n’a point de temps: il est éternel. Ainsi, lorsque la langue aura disparu, quand elle aura été éffacée par d’autres terreaux linguistiques à cause des incessants bouleversements de l’histoire, le proverbe, lui, continuera à briller de son obscur éclat.128
Trotz dieser essenzialisierenden Beschreibung blendet Confiant den historischen Entstehungskontext der kreolischen Sprichwörter keineswegs aus. Sie seien meist direkt aus einem Dialekt der «langue d’oïl» oder einer westafrikanischen Sprache übersetzt. Ein Teil von ihnen schöpfe aus der Quelle einer universellen Weisheit, ein anderer Teil vermittle eine Anschauung, die in enger Verbindung mit der Welt der Sklaven stehe.129 Damit teilt Confiant das Anliegen Lydia Cabreras einer zugleich universalen und lokalen Verankerung des Sprichwortes,
126 Jean Bernabé/ Patrick Chamoiseau/Raphaël Confiant: Eloge de la créolité/In Praise of Creoleness, S. 35. 127 Ebda., S. 33. 128 Raphaël Confiant: Le grand livre des proverbes créoles. Ti-Pawol, Montréal: Presse du Châtelet 2004, S. 7. «Die Sprichwörter sind nicht, entgegen einer allgemein verbreiteten Vorstellung, Worte der Vergangenheit, ‹Worte der langen Zeit›, wie man auf den Antillen sagt. Das Sprichwort hat keinen Zeitpunkt: es ist ewig. So wird das Sprichwort, wenn die Sprache verschwunden sein wird, wenn sie aufgrund von ständigen Umwälzungen der Geschichte von anderen sprachlichen Nährböden ausgelöscht sein wird, in seinem dunklen Glanz weiter scheinen.» (Eigene Übersetzung). 129 Ebda., S. 12.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
wobei er, anders als Cabrera, den europäischen Ursprung der karibischen Sprichwörter mit einbezieht. Aufgrund seiner spezifischen Zeitlichkeit und Opazität eignet sich das Sprichwort in einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Sprachen miteinander konkurrieren, für Confiant in besonderem Maße, um kulturellen Widerstand zu leisten: «Dans des sociétés comme les sociétés créoles où deux (voire plusieurs) langues rivales se partagent l’écosystème linguistique, il saute aux yeux que le proverbe est l’un des lieux majeurs de la résistance culturelle, de la créolité.»130 Confiants Sammlung unterscheidet sich zwar ihrer Form nach kaum von den kolonialen Anthologien afrikanischer Sprichwörter, vermittelt aber schon allein dadurch eine andere ideologische Botschaft, dass sie von einem farbigen Martinikaner zusammengestellt wurde.131 Die Sammlung fällt in die historisch-anthropologische Phase des literarischen Schaffens von Confiant, während der er auch in seinen Romanen «historische Vorgänge und Fakten auf[greift], die eine zentrale Rolle im kulturellen Gedächtnis der Antillen spielen oder – aus der Sicht des Autors – spielen sollten»132. Wie für die Sammler kolonialer afrikanischer Versionen sind Sprichwörter auch für Confiant Monumente einer Kultur, denn «le proverbe fige la langue dans un écrin de marbre ou, plus exactement, de pierre, puisque sa marque première est la lapidarité. Le proverbe cicèle la langue, il en est l’orfèvre.»133 Das Sammeln, Verschriftlichen und Übersetzen kreolischer Sprichwörter dient Confiant dazu, ein kreolisches kulturelles Gedächtnis zu bewahren und es einer
130 Ebda. «In Gesellschaften wie den kreolischen, in denen sich zwei (oder mehrere) rivalisierende Sprachen das linguistische Ökosystem teilen, springt es ins Auge, dass das Sprichwort einer der Hauptorte des kulturellen Widerstandes ist.» Übersetzt in Miriam Lay Brander: ‹Das Zicklein, das die Trommel zerstört …› Sprichwörter als Botschaften kulturellen Widerstands. In: Themen Thesen Texte 5 (2016): S. 15–17, https://www.exc16.uni-konstanz.de/lay-brandersprichwoerter-kuba.html (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020). 131 Dies trifft auch für die Sammlung Sagesse noire. Sentences et proverbes Malinkés (Fily Dabo Sissoko : Sagesse noire. Sentences et proverbes Malinkés. Paris: Editions de la Tour du Guet 1955) des sudanesischen Schriftstellers Fily Dabo Sissoko zu, der allerdings darauf bedacht ist, die Ähnlichkeiten der sudanesischen Sprichwörter mit europäischen Aphorismen aufzuzeigen und so eine universelle vorliterarische Kultur nachzuweisen, aus der sowohl die afrikanischen Sprichwörter als auch die Aphorismen der griechischen Antike hervorgegangen seien. Vgl. Miriam Lay Brander: Transferts de ‹sagesse noire›, S. 97–98. 132 Ralph Ludwig Frankokaribische Literatur, S. 160. 133 Raphaël Confiant: Le grand livre des proverbes créoles. Ti-Pawol, S. 7–8. «(…) das Sprichwort lässt die Sprache in einer Marmorschatulle erstarren oder, genauer noch, einer aus Stein, da ihr wichtigstes Merkmal der Lapidarstil ist. Das Sprichwort ziseliert die Sprache, es ist ihr Schmied.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden).
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung
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breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.134 Damit reiht sich Confiants Sprichwörtersammlung in ein Korpus von Werken in kreolischer Sprache ein, das in den letzten Jahrzehnten deutlich angewachsen ist und das letztendlich auf die frühen Sammlungen oraler Literatur in den Antillen zurückgeht. Es handelt sich um eine passive Art des Widerstandes mit dem Ziel, das Kulturgut einer sprachlichen Minderheit gegenüber einer übermächtig erscheinenden Kultur, die die kreolische Kultur zu assimilieren droht, zu verteidigen.
3.2.2 Aphorismus und ästhetischer Widerstand: Cadernos de João von Aníbal Machado (Brasilien) Das Moment des Widerstands bildet einen zentralen Bestandteil des von Glissant geprägten Konzepts der Archipelisierung. Dessen Kern besteht in einem fragmentarischen Denken, «une autre forme de pensée, plus intuitive, plus fragile, menacée, mais accordée au chaos-monde et à ses imprévus»135. Die archipelagische Denkweise stelle sich einer kontinentalen Epistemologie entgegen, die auf einer legitimen Basis die – nicht nur literarischen – Dynamiken der Welt zu kontrollieren suche. Es handelt sich um ein nicht-systematisches, induktives Denken, das aus Prozessen der Kreolisierung hervorgeht und das Mündlichkeit und Schriftlichkeit einander annähert.136 Ästhetisch setzt Glissant das archipelagische Denken in seinen Schriften dadurch um, dass er die in den europäischen
134 Z.B. die 1846 erstmals erschienenen und 2002 neu aufgelegten Fabelsammlungen des in Martinique ansässigen Kommandeurs François Achille Marbot; vgl. Ralph Ludwig: Frankokaribische Literatur, S. 145. 135 Edouard Glissant: Introduction à une poétique du divers, S. 43. «eine andere Denkform, intuitiver, zerbrechlicher, bedroht, aber im Einklang mit dem ‹Welt-Chaos› und seinen Unvorhersehbarkeiten». 136 «une pensée non systématique, inductive, explorant l’imprévu de la totalité-monde et accordant l’écriture à l’oralité et l’oralité à l’écriture». Edouard Glissant: Introduction à une poétique du divers, S. 43–44. [«ein nicht systematisches, induktives Denken, das das Unvorhergesehene der ‹Welt-Totalität› erforscht und das die Schrift auf die Mündlichkeit und die Mündlichkeit auf die Schrift verweist». (Eigene Übersetzung).] Glissant entwickelt diesen epistemologischen Gedanken sodann in Richtung einer geographisch gedachten transnationalen Regionalisierung weiter: «Ce que je vois aujourd’hui, c’est que les continents ‹s’archipélisent› […]. Les Amériques s’archipélisent, elles se constituent en régions par-dessus les frontières nationales. […] L’Europe s’archipélise. Les régions linguistiques, les régions culturelles, par-delà les barrières des nations, sont des îles, mais des îles ouvertes, c’est leur principale condition de survie.» Edouard Glissant: Introduction à une poétique du divers, S. 44. [«Was ich heute sehe, ist, dass die Kontinente sich ‹archipelisieren› […]. Die Amerikas archipelisieren sich, sie konstituieren sich in Regionen über nationale Grenzen hinweg. […] Europa archipelisiert sich. Sprachliche Regionen, kulturelle Regio-
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
und lateinamerikanischen Avantgarden angelegte asystematische und fragmentarische Schreibweise als Ausdruck einer zunehmenden kulturellen Kreolisierung einsetzt. Dabei spielt die Archipel-Metapher insbesondere für seine Rezeption des europäischen Surrealismus eine Rolle: Das widerständische und unberechenbare Potenzial des Archipels bildet für ihn das Bindeglied zwischen den französischen Surrealisten und seinem intellektuellen Vater Aimé Césaire, dessen Werk stark durch den Surrealismus geprägt sei,137 wie Glissant in La cohée du Lamentin schreibt: En réalité, ce qu’il [Wifredo Lam, Anm. M.L.B.] vérifie avec Picasso, comme avec les Surréalistes ou avec Césaire, c’est la convergence organique autant qu’historique de ces révolutions de la sensibilité. Il est «moderne» avec Picasso et «africain» avec Césaire, parce que les poétiques de leurs univers abordent aux mêmes archipels de la démesure, de la révolte et de la beauté convulsive que fréquentent, pour d’autres raisons ou déraisons, André Breton et ses amis.138
Die Metapher des Archipels, die dem Konzept der Archipelisierung zugrunde liegt, ist im Umfeld des Surrealismus mehrfach auf das aphoristische Schreiben bezogen worden. René Char etwa, der den Aphorismus ähnlich wie José E. Pacheco als lyrisches Ausdrucksmittel verwendet,139 greift die Metapher bereits im Titel seines Gedichtbandes La parole en archipel (1962) auf und erhebt sie dadurch zum ästhetischen Programm. Seine Gedichte präsentieren ein Konglomerat von Fragmenten, die für sich allein stehend Inseln des Gedächtnisses und der Empfindung bilden140 und die sich in ihrer Gesamtheit zu einem textuellen Archipel verbinden. In derselben, surrealistischen Linie lässt sich auch das Werk des brasilianischen Schriftstellers Aníbal Machado (1894–1964) verorten, worauf
nen, jenseits von nationalen Grenzen, bilden Inseln, aber offene Inseln, was ihre hauptsächliche Überlebensbedingung ist.»]. 137 Vgl. Gesine Müller: J.-M. G. Le Clézio, Édouard Glissant, Epeli Hau’Ofa: Avantgarden in Ozeanien. In: Wolfgang Asholt (Hg.): Avantgarde und Modernismus. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 169–180, hier S. 169–173. 138 Edouard Glissant: La cohée du Lamentin. Poétique V. Paris: Gallimard 2005b, S. 1982. «In Wirklichkeit ist das, was Wifredo Lam mit Picasso, den Surrealisten oder mit Césaire auf den Prüfstand stellt, die organische wie auch historische Verschmelzung dieser Umwälzungen der Empfindsamkeit. Er ist ‹modern› mit Picasso und ‹afrikanisch› mit Césaire, weil die Poetiken ihrer Universen an denselben Archipelen der Maßlosigkeit, der Revolte und der konvulsiven Schönheit anlegen, auf denen André Breton und seine Freunde aus anderen Gründen oder auch aus Unvernunft heraus verkehren.» 139 Vgl. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 146–150. 140 Ferdinand Simonis: Die Lyrik René Chars – Dichtung als Archipel und im Zeichen Orions. In: Orbis Litterarum: International Review of Literary Studies 43 (1988), S. 270–288, hier S. 275–276.
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung
153
bereits Hinweise in seinen Manuskripten hindeuten, die belegen, dass er das Werk Chars rezipiert und dessen formale Züge teilweise übernommen und adaptiert hat.141 Obwohl Aníbal Machado laut dem namhaften brasilianischen Literaturkritiker Antonio Cândido zu den kultiviertesten Vertretern der brasilianischen Literatur zählt,142 wird er in Werken der brasilianischen Literaturgeschichte, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Der aus dem Bundesstaat Minas Gerais gebürtige Jurist und spätere Professor für Literatur, dessen Haus in Río de Janeiro sonntags stets für einen intellektuellen Austausch offenstand, arbeitete bei mehreren brasilianischen Zeitschriften mit und nahm an der zweiten Phase des Anthropofagismus teil. Wie die übrigen Anhänger dieser Bewegung strebte Machado eine Reform des modernistischen Stils des Parnassianismus an, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach französischem und portugiesischem Vorbild in Brasilien durchgesetzt hatte. Mit seinen Zeitgenossen des mexikanischen Ateneo verbindet ihn die Haltung eines stillen Protestes gegen die soziale Ordnung, ohne dass er damit eine bestimmte ideologische Position einnehmen, geschweige denn in die literarische Produktion aufnehmen würde. In seinem Band Cadernos de João (1957)143 skizziert Machado in Form von Aphorismen und Prosagedichten ein Denken, das er in seinem bisherigen Werk entwickelt hat, d. h. in mehreren seit 1944 verfassten und in dem Band A morte da Porta-Estandarte e Outras Historias versammelten Kurzgeschichten und dem Roman João Ternura, beide 1965 posthum veröffentlicht. Eines der Hauptmerkmale dieses Denkens besteht in einem psychologisch gefärbten Intimismus, der in der brasilianischen Literatur seit den 1930er Jahren entsteht und der Ausdruck des emotionalen Konflikts zwischen dem Individuum und der modernen Gesellschaft ist. Es handelt sich um eine Introspektion, die bisweilen in die Zonen des Traums und des Irrealen eintaucht und ein Kontinuum zwischen einem dem Wahrscheinlichen verhafteten Realismus und dem Surrealismus herstellt.144
141 Vgl. Marcos V. Teixeira: Aníbal Machado: Um escritor em preparativos. São Paulo: 2011, http://www.teses.usp.br/teses/disponiveis/8/8149/tde-17082012-103315/pt-br.php (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020), S. 20. Zum Verhältnis von Aníbal Machado zum Surrealismus siehe auch Stefan Baciu: Aníbal M. Machado: Contribución para el conocimiento de la poesía parasurrealista en el Brasil. In: Revue annuelle du CRECIF 4 (1982), S. 72–89. 142 Antônio Cândido: Die Stellung Brasiliens in der neuen Erzählliteratur Lateinamerikas. In: Mechtild Strausfeld (Hg.): Brasilianische Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 20– 46, hier S. 33. 143 Aníbal Machado: Cadernos de João. Rio de Janeiro: José Olympio 2004 [1957]. Im Folgenden abkekürzt mit CJ. 144 Vgl. Alfredo Bosi: História concisa da literatura Brasileira, São Paulo: Editora Cultrix 1994, S. 388.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
Machado kultiviert in Cadernos de João eine Form der lyrischen Kurzprosa, der er gleich im Prolog das Sinnbild des Archipels voranstellt: Mapa irregular do nosso descontínuo interior com os fragmentos, vozes, reflexões, imagens de lirismo e revolta – inclusive amostras de cerâmica verbal – dos muitos personagens imprecisos que o animam. Afloramento de íntimos arquipélagos, luzir espaçado das constelacões predominantes … O autor apenas se reserva o direito de administrar o seu próprio caos e de impor-lhe certa ordem na tranqüilidade formal das palavras. 145 (CJ 17)
Machado beschreibt seine Aphorismen und Reflexionen als poetische Konstellationen, die, gleich den Inseln eines Archipels, aus dem Innern des Individuums herausragen, um die Oberfläche eines unendlichen und unkontrollierbaren Meeres zu durchbrechen. Was die Vorstellung des Archipels von Machado mit derjenigen des Kolumbianers Gómez Dávila146 verbindet, ist die Spontaneität, mit der die gedanklichen Inseln im Moment ihrer Entstehung emergieren. In beiden Fällen ist der Aphorismus Ausdruck einer stillen Auflehnung: bei Gómez Dávila gegen die Moderne, bei Machado gegen ästhetische Zwänge, die der Zeitgeist dem Dichter auferlegt. Die Metapher des Archipels ist also bei Machado wie bei Gómez Dávila nicht nur eng mit einer aphoristischen Schreibweise, sondern auch mit einer Haltung des Widerstandes verbunden. Mit dem Moment des Widerstandes einerseits und der surrealistischen Vorstellung der Insel andererseits knüpft Machado an zwei zentrale Grundlagen an, auf denen Glissant in den 1990er Jahren seine Poetik der Archipelisierung formulieren wird. Der surrealistische Aphorismus in seiner lateinamerikanischen, in diesem Fall brasilianischen Variante, kann somit als Vorläufer eines poetischen Programms der kulturellen Globalisierung betrachtet werden, in dem das Moment einer ästhetischen Auflehnung maßgeblich ist. Während Machado weniger eine postkoloniale als vielmehr eine avantgardistische Haltung einnimmt, funktionalisiert Glissant die Metapher des Archipels für eine antihierarchische, relationale Weltkonzeption. Damit beteiligt er sich zwar an der zeitgenössischen postkolonialen Debatte, übernimmt aber nicht deren Dichotomien wie ‹eigen und fremd› oder ‹Zentrum und Peripherie›. Vielmehr geht
145 «Eine unregelmäßige Karte unseres diskontinuierlichen Inneren mit den Fragmenten, Stimmen, Reflexionen, Bildern der Lyrik und der Revolte – einschließlich Mustern aus verbaler Keramik – der vielen ungenauen Figuren die diese Karte lebendig machen. Auftrieb intimster Archipele, gelegentliches Aufleuchten der vorherrschenden Konstellationen … Der Autor behält sich nur das Recht vor, sein eigenes Chaos zu verwalten und ihm in der formalen Ruhe der Wörter eine gewisse Ordnung aufzuerlegen.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 146 Vgl. Einleitung.
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es ihm mit seinem Relationalitätsbegriff um unvorhersehbare Synergien, deren Produkte herkömmliche Kategorien sprengen.147 Diesen Gedanken eines nicht berechenbaren Emergierens hybrider Dynamiken, die sich in einer fragmentarischen Ästhetik niederschlagen, teilt er mit Aníbal Machado. Für Machado ist der poetische Text die fragmentarische, sichtbare Oberfläche eines diskontinuierlichen Inneren, aus dem Stimmen, Gedanken und poetische Bilder auftauchen. Diese «íntimos arquipélagos» unterwirft der Autor einer sprachlichen Ordnung, die er mithilfe der «tranqüilidade formal das palavras» schafft und die sich nicht zuletzt in der konzisen Ausdrucksform des Aphorismus manifestiert. Der Metapher des Archipels liegt die Verbindung zweier scheinbar paradoxer Eigenschaften zugrunde: die Isolation der Insel und die Verbindung des Ganzen.148 Diese beiden räumlichen Merkmale finden ihre zeitliche Entsprechung in der Plötzlichkeit unerwarteter Ereignisse, Eindrücke und Gedanken einerseits und der überzeitlichen Kontinuität eines beständigen Seins andererseits. Gaston Bachelard (1884–1962), der in Brasilien breit rezipiert wurde und der auch das Werk von Édouard Glissant beeinflusste, hat diesen zeitlichen Aspekt im Hinblick auf die poetische Imagination formuliert, auch wenn er sich nicht explizit der Archipel-Metapher bedient: Les forces imaginantes de notre esprit se développent sur deux axes très différentes. Les unes trouvent leur essor dans la nouveauté; elles s’amusent du pittoresque, de la variété, de l’événement inattendu. L’imagination qu’elles animent a toujours un printemps à décrire. Dans la nature, loin de nous, déjà vivantes, elles produisent des fleurs. Les autres forces imaginantes creusent le fond de l’être; elles veulent trouver dans l’être, à la fois le primitif et l’éternel. Elles dominent les saisons et l’histoire. Dans la nature, en nous et hors de nous, elles produisent des germes; des germes où la forme est enfoncée dans une substance, où la forme est interne.149
147 Vgl. Patrick Crowley: Édouard Glissant: Resistance and opacité. In: Romance Studies 24, 2 (2006), S. 105–115, hier S. 106. 148 Vgl. Jean-Louis Joubert: L’archipel Glissant. In: Jacques Chevrier (Hg.): Poétiques d’Édouard Glissant. Paris: Presses de l’Université de Paris-Sorbonne 1999, S. 317–322, hier S. 318. 149 Gaston Bachelard: L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière. Paris: José Corti 1947, S. 1. «Die Vorstellungskräfte unseres Geistes entwickeln sich über zwei sehr unterschiedliche Achsen. Die einen blühen in der Neuheit auf; sie erfreuen sich am Pittoresken, an der Vielfalt, dem unerwarteten Ereignis. Die Vorstellung, welche sie animiert, hat immer einen Frühling, den sie beschreiben kann. In der Natur, weit weg von uns, lassen sie, die sie schon lebendig sind, die Blumen blühen.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
Die beiden von Bachelard definierten untrennbaren Achsen der Vorstellungskraft decken sich mit den Dimensionen des Archipels, wie Machado sie beschreibt. Der ersten, vertikalen Achse entspricht bei Machado das Erscheinen der Inseln auf der Wasseroberfläche des Ozeans («[a]floramento de íntimos arquipélagos, luzir espaçado das constelacões predominantes …», CJ 17), das die Blitzartigkeit der künstlerischen Schöpfung repräsentiert. Die andere, horizontale Achse findet sich in den Tiefen des inneren Meeres wieder, in dem sich «fragmentos, vozes, reflexões, imagens de lirismo e revolta» miteinander vermischen und sich gegenseitig anregen. Damit sich die Vorstellungskraft in ein Werk verwandeln kann, in dem sich der Leser wiederfindet, ist es notwendig, dass sie die Tiefen des Inneren verlässt und sich an die Oberfläche der Formen und Farben begibt.150 Die Imagination kann ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn sie in eine konkrete Realisierung mündet und wenn die tiefe Essenz der Imagination sich im Bereich der Zeitlichkeit etabliert. Es ist diese «Poetik des Moments, das konstante Aufkommen eines frischen Windes einer epiphanischen Erneuerung»151, die sich in Machados Aphorismen zeigt, wenn er von der «força de uma aparição»152 (CJ 20) spricht, oder von der plötzlichen Erscheinung des poetischen Bildes: A imagem poética, em súbita aparição, já vem com os ritmos orgânicos que a prendem a todo o sistema do Universo.153 (CJ 108)
Macht Machado im kurzen Prolog, der Cadernos de João vorangestellt ist, von den räumlichen Metaphern des Archipels und der Karte Gebrauch, um die kreative Vorstellungskraft zu beschreiben, so entwickelt er an anderer Stelle den Gedanken einer inneren Kartographie weiter und setzt dem «mapa irregular de nosso descontinuo interior» (CJ 17) eine Technik gegenüber, die das Unvorhergesehene ausschließt und einen vollständig vermessenen Raum erschafft, in dem «alles kartographiert und nummeriert» ist («tudo está cartografado e numerado», CJ 55). Diese Unterscheidung lässt sich mühelos mit der Glissant’schen Gegenüberstellung eines archipelagischen und eines kontinentalen Die anderen Vorstellungskräfte ergründen die Tiefe des Seins; in diesem wollen sie das Ursprüngliche und das Ewige zugleich finden. Sie beherrschen die Jahreszeiten und die Geschichte. In der Natur, in uns und außerhalb von uns, bringen sie Keime hervor; Keime, deren Form tief in einer Substanz liegt, wo die Form innerlich ist.» 150 Vgl. ebda., S. 8. 151 Luis C. Salazar Quintana: La fenomenología de la imaginación y la ensoñación creante en Gastón Bachelard. In: Synthesis 41 (2007), S. 1–8, hier S. 3. 152 «Kraft einer Erscheinung» 153 «Das poetische Bild, in plötzlicher Erscheinung, kommt schon mit den organischen Rhythmen, die es mit dem ganzen System des Universums verbinden.»
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung
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Denkens verbinden. Während ersteres fragil und unvorhersehbar ist, unterwirft sich letzteres die Welt seit den Kolonisierungsbewegungen der Frühen Neuzeit mithilfe moderner kartographischer Techniken. Dies wird vor allem dann plausibel, wenn Machado für eine Erweiterung des inneren Raumes plädiert, die nicht mithilfe kolonialer Besetzung, sondern unter Berücksichtigung des Traums erreicht werden solle. Elevar a temperatura do espíritu ao nivel de fusão dos resíduos calcificados; purificar os sentidos até que o Universo se deixe surpreender em seu estado de virginidade original; dilatar as fronteiras de nosso espaço interior, não por ocupação colonizadora, mas excitando ao vôo os pássaros nele adormecidos; aquiecer ao apelo numeroso das coisas; promover à condição de árvore o que dentro de nós se esfria em pedra, e à condição de vento o que se esgalha em árvore: ritos preparatórios, íntimas providências, preliminares silenciosas à chegada da Poesía.154 (CJ 72)
Über die Darstellung der poetischen Schöpfung in räumlichen Parametern hinaus schreibt Machado dem inneren Raum diejenige zeitliche Dimension zu, die die Unterscheidung Bachelards zwischen dem Neuen und dem Unerwarteten der imaginierenden Kräfte einerseits und ihrem ewigen Untergrund andererseits kennzeichnet. Verschiedene Aphorismen Machados tragen den Titel «O verbo no infinito»155 (CJ 20, 71, 72, 73), der die Dialektik zwischen der Beständigkeit des inneren Raumes und den kreativen Ausbrüchen des Geistes ausdrückt. Wie im oben zitierten Aphorismus deutlich wird, muss das zunächst passive («adormecido») Innere des Menschen vorbereitet werden, sodass es in der Lage ist, diejenigen Impulse des Universums zu empfangen («aquiecer ao apelo numeroso das coisas»), die ihn zur Poesie anregen («excitando ao vôo»). Wenn der zeitlose Teil des inneren Raumes («O sentimento do absoluto, do intemporal, do permanente», CJ 23) nicht genutzt und kultiviert wird, verwandelt er sich in eine Wüste, in der, so Machado, nur der Mystiker überleben kann: Há no espírito uma zona de silêncio que funciona longe e à revelia da nossa atividade imediata.
154 «Die Temperatur des Geistes auf das Schmelzniveau der verkalkten Abfälle erhöhen; die Sinne reinigen, bis sich das Universum in seinem Zustand ursprünglicher Jungfräulichkeit überraschen lässt; die Grenzen unseres Innenraumes auszudehnen, nicht aus kolonisierender Besetzung, sondern indem man die Vögel im Flug erregt, während sie schlafen; sich dem häufigen Ruf der Dinge anschließen; unter der Bedingung eines Baumes zu fördern, was in uns zu einem Stein abkühlt, und unter der Bedingung eines Windes, was sich zu einem Baum verzweigt: Vorbereitungsriten, intime Vorsehungen, stille Einleitungen beim Eintreffen der Poesie.» 155 «Das Verbum im Unendlichen».
158
3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
Se não a freqüentas e cultivas, vira cripta mortuária. Inútil então esperar dela qualquer socorro.156
(CJ 112)
Diesem unendlichen und unbeweglichen Element des Geistes stellt Machado das dramatische Gefühl der Bewegung gegenüber («o sentimento dramático do movimento», CJ 23), das das Provisorische einschließt, das Werden, das auch für Glisssant untrennbar mit der archipelagischen Denkweise verbunden ist. Wenn die Bewegung der Gedanken den Dichter zunächst in einen Zustand eines orientierungslosen Flottierens versetzt, ermöglichen ihre Zentripetalkräfte es ihm, ein Universum aus menschlichen und terrestrischen Energien in ständiger Metamorphose zu formen» («[um] Universo alimentado por energias humanas e telúricas em constante transformação e metamorfose», CJ 23), in dem der Mensch sich selbst zu entdecken beginnt. Die beiden soeben zitierten Aphorismen illustrieren nicht nur die Beziehung zwischen dem blitzartig aufleuchtenden verbo und seinem inneren und zeitlosen Ursprung, sondern verdeutlichen auch die schöpferische Verbindung, die Machado zwischen dem Weltall und dem poetischen Bild identifiziert, eine Verbindung, die auch Bachelard herstellt. Für ihn haben die phänomenologischen Fundamente der kreativen Vorstellungskraft ihren Ursprung in den vier Elementen der antiken Philosophie: Feuer, Wasser, Luft und Land. Machado stellt – ähnlich wie Chazal – eine analogische Verbindung zwischen der Materie und der Dichtkunst her, wobei in seinem Universum die Grenzen zwischen dem Reich der Mineralien, dem Pflanzen- und Tierreich verwischen,157 wie im folgenden Fragment deutlich wird: Quando as pedras forem promovidas ao reino vegetal…158 (CJ 34, Hervorhebung im Original)
Doch weder Bachelard noch Machado verstehen die Verbindung von Materie und Poesie lediglich in physikalischen und organischen Begriffen, sondern im Sinne einer Hermeneutik, die diese Beziehung als ein ästhetisches Gefühl interpretiert.159 So erkennt das Individuum Machados sich selbst in der Materie wieder und entdeckt in ihr schließlich sein wahres Sein:
156 «Es gibt im Geist eine Zone der Stille, die weit entfernt von und in Abwesenheit unserer unmittelbaren Aktivität funktioniert. Wenn Du sie nicht regelmäßig besuchst und pflegst, verwandelt sie sich in eine Todeskrypta. Nutzlos also, von ihr irgendwelche Hilfe zu erwarten.» 157 Vgl. Maria A. Lopes Dean: Metáfora e Prosopopéia: O Universo Animado de Aníbal Machado. In: Luso-Brazilian Review 19, 1 (1982b), S. 93–109, hier S. 93. 158 «Wenn die Steine ins Königreich der Pflanzen befördert werden.» 159 Vgl. Luis C. Salazar Quintana: La fenomenología de la imaginación y la ensoñación creante en Gastón Bachelard, S. 4.
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Moléculas dentro de um turbilhão sem começo nem fim, rolamos anônimos ante a indiferença das coisas. De repente, uma delas – pedra, árvore, gesto, inseto, grito, curva de montanha ou rosto de mulher – qualquer saliência de silêncio – aponta para nós, vemnos ao encontro e se revela, ao mesmo tempo que nos revela a nós mesmos. E comêçamos a ser. 160 (CJ 88)
Damit besteht das Sein des Menschen selbst in der Dialektik zwischen der Unendlichkeit des Ozeans und dem Auftauchen der ästhetischen Emotionen, die das innere «caos» strukturieren (CJ 17). Bemerkenswert ist, dass sich unter den Dingen, die dem Menschen eine Begegnung mit sich selbst ermöglichen, auf der einen Seite die Objekte der Natur (Stein, Baum, Insekt, Berg) dominieren und auf der anderen genuin menschliche Motive und Ausdrucksweisen (Geste, Schrei, Gesicht einer Frau). Während der Surrealismus in Lateinamerika wegen seiner Entfernung von der Natur kritisiert wurde,161 behaupten dem Surrealismus nahestehende Dichter wie Machado – zusammen mit Aphoristikern wie René Char und Malcolm de Chazal –, dass eine enge Beziehung zwischen dem Individuum und der Natur gerade in den Bereichen des Unterbewussten und des Traums möglich ist. Machado, der sich selbst als Surrealist beschreibt,162 zeigt sich weniger interessiert an den surrealistischen Extravaganzen des poetischen Schaffens als an der Sorge um das menschliche Schicksal, das die Surrealisten der nachfolgenden Generation vererben.163 Ferner ist es der Rekurs auf die Metapher der Insel, mit der sich Machado an den Surrealismus annähert, indem er das «descontinuo interior» seines lyrischen Ichs mit «íntimos arquipélagos» (CJ 17) vergleicht. Die surrealistische Vorstellung von der Insel revolutioniert das bis dahin gültige insulare Imaginarium. In der griechischen Terminologie bedeutete der Ausdruck archi-pelagos nichts anderes als ein mit Inseln übersätes Meer.
160 «Moleküle in einem Wirbelsturm ohne Anfang noch Ende, so rollen wir anonym gegenüber der Gleichgültigkeit der Dinge. Plötzlich zeigt eine von ihnen – Stein, Baum, Geste, Insekt, Schrei, Wölbung eines Berges oder Frauengesicht – jedwedes Hervortreten von Stille – auf uns, kommt uns entgegen und offenbart sich, zur selben Zeit wie sie uns uns selbst offenbart. Und wir beginnen zu sein.» 161 Im Vorwort zu El reino de este mundo wirft Carpentier den Surrealisten vor, künstliche und triviale Bilder zu konstruieren und dabei das Wunderbare als intrinsischen Teil des Realen zu vernachlässigen. Alejo Carpentier: El reino de este mundo. Madrid: Alianza Editorial 2003. Vgl. auch Ferdinand Simonis: Die Lyrik René Chars – Dichtung als Archipel und im Zeichen Orions, S. 271. 162 Vgl. Maria A. Lopes Dean: Aníbal Machado e o sonho. In: Minas Gerais 813 (1982a), S. 6– 7, hier S. 6. 163 Vgl. Mario Pontes: O iniciado do movimento. In: Aníbal Machado (Hg.): Cadernos de João, Rio de Janeiro: José Olympio 2004, S. 7–13, hier S. 9.
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Im Zentrum stand das verbindende Element des Wassers, das die Inseln umspülte und nicht, wie in der Gegenwart, die Konstellation einer Inselgruppe. Diese antike Auffassung vom Archipel als offenem Raum wird in der frühen Neuzeit von der Utopie des Archipels abgelöst, das auf dem Ideal der passiven, transparenten und regierbaren Insel basiert164 und zum Objekt der paradiesischen Träumereien der ersten Seefahrer und der Kolonialherrschaft in Amerika wird. Surrealisten wie Breton und Masson befreien die Insel schließlich von ihrer kolonialen Konnotation, indem sie mit dem Ideal des Archipels als Projektionsfläche für Utopien brechen und dieses in einen mysteriösen Ort verwandeln, der als Vermittler zwischen dem Ich und der Welt fungiert.165 Somit stehen nicht mehr der transparente Raum im Vordergrund, sondern die unsichtbaren Beziehungen, die sich in einer fragmentierten Oberfläche konkretisieren. Diesen Gedanken wird Glissant im Hinblick auf die Karibik weiterentwickeln: Die verborgenen Beziehungen, die die Inseln der Karibik miteinander verbinden, bestehen für ihn in der geteilten Erfahrung des Plantagensystems und der Sklaverei sowie des damit verbundenen erzwungenen Kulturkontakts, den Glissant positiv als Möglichkeit pluraler Identitäten zu wenden sucht. Die daraus hervorgehende archipelagische Denkweise beinhaltet ein Moment des Widerstands, in dem sich den Bestrebungen einer kontinentalen Vereinheitlichung die Idee der linguistischen, kulturellen und historischen Pluralität des Archipels entgegenstellt. Le monde se créolise, c’est-à-dire les cultures du monde mises en contact de manière foudroyante et absolument consciente aujourd’hui les unes avec les autres se changent
164 Vgl. Michael Dash: Ile Rocher/Ile mangrove. Éléments d’une pensée archipélique dans l’œuvre d’Édouard Glissant. In: Jacques Chevrier (Hg.): Poétiques d’Édouard Glissant, Paris: Presses de l’Université de Paris-Sorbonne 1999, S. 17–24, hier S. 18. 165 «On n’a vraiment rien à ajouter à ce site pour le parfaire.» André Breton: Martinique: charmeuse de serpents. Paris: Pauvert 1972, S. 20 ; «Nous sommes très loin ici des perspectives inventées. La grande nature n’aime pas les droites avenues et n’admet pas la symétrie, qui est l’apanage traditionnel de l’homme.» Ebda. S. 30 ; «C’est vrai, là toutes les formes se confrontent et tous les contrastes s’exaltent. Au cœur de la forêt, que j’aime cette expression! Oui, notre cœur est au centre de cet enchevêtrement prodigieux. Quelles échelles pour le rêve, ces lianes implacables! Ces branches, quels arcs tendus pour les flèches de nos pensées.» Ebda., S. 29, Hervorhebung im Original. [«Man braucht diesem Ort wirklich nichts hinzuzufügen, um ihn vollkommen zu machen.» André Breton: Martinique. Kreolischer Dialog. Frankfurt a. Main: Qumram 1981, S. 2; «Wir sind hier sehr weit weg von jeder erfundenen Perspektive. Die große Natur mag die geraden Avenuen nicht und verweigert die Symmetrie, das traditionelle Erbteil des Menschen.» Ebda., S. 8; «Es ist wahr, hier reiben sich alle Formen und entflammen sich alle Kontraste. Im Herzen des Waldes. Wie liebe ich diesen Ausdruck! Denn unser Herz ist mitten in diesem unendlichen Geflecht. Welche Traumleitern, diese unerbittlichen Lianen! Und die Äste – gespannte Bogen für die Pfeile unserer Gedanken.» Ebda.]
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en s’échangeant à travers des heurts irrémissibles, des guerres sans pitié mais aussi des avancées de conscience et d’espoir qui permettent de dire – que les humanités d’aujourd’hui abandonnent quelque chose à quoi elles s’obstinaient depuis longtemps, à savoir que l’identité d’un être n’est valable et reconnaissable que si elle est exclusive de l’identité de tous les autres êtres possibles.166
Während die archipelagische Poetik Glissants einen kollektiven Charakter aufweist, der sich in der individuellen Schaffenskraft eines jeden kreolischen Schriftstellers manifestiert, stellt Machado das Individuum und dessen Beziehung nicht nur zur Gesellschaft, sondern zum gesamten Universum in den Mittelpunkt. Zwar lässt auch Machado in seinen Aphorismen einen gewissen Anti-Kolonialismus durchscheinen, der im Zitat eines Aphorismus von René Daumal deutlich wird: Mais l’Occident individualiste-dualiste-libre-arbitriste, triste, capitaliste-colonialiste-impérialiste est couvert d’étiquettes du même genre à n’en plus finir, il est foutu, vous ne pouvez vous douter comme j’en suis sûr.167 (CJ 172)
Dennoch steht nicht der Wille zum postkolonialen Widerstand im Zentrum seines Denkens, sondern vielmehr der Widerstand des Individuums gegen die Unterdrückung seiner Vorstellungskraft: Cada qual pode mergulhar tranqüilo no fundo de sua cisterna. De repente, porém, o vento do mundo sopra lá em cima, na roda da torre do moinho; é lá vão subindo as águas subterrâneas de nosso ser – sujas, revoltas …168 (CJ 122)
166 Edouard Glissant: Introduction à une poétique du divers, S. 15. «Ich behaupte also, daß die Welt sich kreolisiert. Schlagartig und dabei in vollem Bewußtsein, werden die Kulturen der Welt miteinander in Kontakt gebracht, verändern sich in ihrem Austausch, was häufig zu unabwendbaren Zusammenstößen, erbarmungslosen Kriegen führt, aber es sind auch Vorposten des Bewußtseins und der Hoffnung erkennbar. Dies berechtigt zu der beileibe nicht utopischen Aussage, daß die menschlichen Gemeinschaften ungern aufgeben möchten, woran sie lange festgehalten haben, nämlich, daß die Identität eines Seins nur dann etwas wert und erkennbar sei, wenn sie die Identität aller möglichen anderen Seinsweisen ausschließt.» Edouard Glissant: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill, Berlin: Wunderhorn 2005a, S. 11. 167 «Aber der individualistisch-dualistisch-frei-arbitristische, traurige, kapitalistisch-kolonialistisch-imperialistische Okzident ist bedeckt mit nicht enden wollenden Etiketten derselben Art, er ist kaputt, Sie können ja nicht ahnen, wie sicher ich mir da bin.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 168 «Jeder einzelne kann in Ruhe in die Tiefe seiner Zisterne eintauchen. Plötzlich jedoch bläst der Wind der Welt dort oben, am Rad des Turms der Mühle; und gerade da steigen die unterirdischen Gewässer unseres Seins auf – schmutzig, aufgewühlt …»
162
3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
Obwohl die Revolte für Machado Angelegenheit eines jeden einzelnen («cada qual») ist, hat vor allem der Dichter sich vom äußeren Druck sozialer Ungerechtigkeit zu befreien, um die Reinheit seiner Dichtung zu bewahren: Uma ordem social anti-humana e injusta perturba o sono dos poetas. Não querer tomar conhecimento dela é fazer-se cúmplice de uma evasão que humilha e enfraquece a poesia.169 (CJ 166)
Die im vorherigen Aphorismus geschilderten inneren Ausbrüche («De repente […] vão subindo as águas subterrâneas de nosso ser – sujas, revoltas …, CJ 122) bringen diejenigen «imagens de lirismo e revolta» hervor, die der Autor im Prolog erwähnt. Diese gedanklichen Archipele haben nichts mit dem kolonialen Bild der paradiesischen Insel zu tun – wie die Formulierung «dilatar as fronteiras de nosso espaço interior, não por ocupação colonizadora, mas excitando ao vôo os pássaros nele adormecidos» (CJ 72) unterstreicht –, sondern stehen für diejenige Befreiung der Vorstellungskraft, die in der surrealistischen Inselmetaphorik angelegt ist. Eine der Formen dieses Widerstands ist bei Machado der Humor, ein typisches Merkmal der Gattung des Aphorimus generell: Humor, rebelião tranqüila do espírito contra a miséria envergonhada da condição humana.170 (CJ 45) O homem que ri, liberta-se. […]171
(CJ 162)
Der Humor ist eine Ausdrucksform der ästhetischen Emotion, die gleichsam über das menschliche Innere hinausragt, genauso wie die Inseln eines Archipels sich von der Wasseroberfläche eines unendlichen und gleichförmigen Ozeans abheben. Der Traum ist eine noch subtilere Form des Widerstands, wie bereits im Bild des Vogels angedeutet ist, den der Schlafende im Flug zu erhaschen hat (CJ 72). In Übereinstimmung mit der surrealistischen Konzeption nimmt Machado den Traum nicht als einen Zustand der Passivität wahr, sondern als Quelle des künstlerischen Schaffens schlechthin. Eine ganze Serie von Aphorismen, die in dem 1951 publizierten Band Topografía da insônia vereint
169 «Eine anti-humane und ungerechte soziale Ordnung stört den Schlaf der Dichter. Sie nicht zur Kenntnis zu nehmen heißt, sich zum Komplizen einer Flucht zu machen, welche die Dichtung erniedrigt und schwächt.» 170 Humor, ruhige Rebellion des Geistes gegen die beschämte Misere der conditio humana.» 171 Der Mensch, der lacht, befreit sich.»
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung
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sind und die in Cadernos de João erneut herausgegeben wurden, bezeugen die zentrale Stellung, die der Traum in Machados Denken einnimmt: Pela insônia das noites, vai-se prosseguindo, em delicioso trabalho clandestino, a construção de uma plataforma de espera onde serás recebida com os despojos de tua viagem pelos astros.172 (CJ 36)
Wie in diesem Aphorismus und in den folgenden deutlich wird, erstarrt für Machado das Individuum, wenn die Schlaflosigkeit nicht in eine imaginäre Reise mündet, in einem Zustand der Sterilität, d. h. einer Unempfänglichkeit gegenüber der ästhetischen Emotion: Quando chegamos a perceber que são as mesmas coisas que se repetem, fingindo de novas – já a insônia está lavrando pelos pontos mais protegidos e em toda a extensão de nosso ser.173 (CJ 118) Esterilidade da insônia. Que posso ver ou achar com minha pobre lâmpada de mão, por esses salões excessivamente iluminados?174 (CJ 121) O pior momento não é o da morte. O pior momento seria se ela, minutos antes de chegar, (CJ 101, Hervorhebung im Original) nos acordasse do sonho da Vida…175
Den berühmten Titel des Werks von Calderón de la Barca, La vida es sueño, aufgreifend charakterisiert Machado das Leben selbst als Traum, jedoch nicht hinsichtlich seiner Vergänglichkeit, sondern im Sinne der von den Surrealisten übernommenen Kontinuität zwischen Traum und Realität. Schließlich spiegelt sich die Rebellion des dichterischen Geistes auch in der poetischen Form wider, mit der Machado sein Denken artikuliert. Wie die übrigen Vertreter der historischen Avantgarde lehnt der brasilianische Aphoristiker den traditionellen Vers ab, da er ihn als Norm begreift, die die Kreativität des Dichters begrenzt: Artista do verso, muitas vezes inimigo inesperado da poesia …176
(CJ 37)
172 «Durch die Schlaflosigkeit der Nächte setzt sich in entzückender heimlicher Arbeit der Bau einer Warteplattform fort, wo Du mit der Ausbeute von Deiner Reise zu den Gestirnen empfangen werden wirst.» 173 «Wenn es uns gelingt wahrzunehmen, dass es dieselben Dinge sind, die sich wiederholen, und nur vorgeben, neu zu sein – ist die Schlaflosigkeit schon dabei, die am besten geschützten Stellen und in der ganzen Ausdehnung unseres Seins zu bebauen.» 174 «Unfruchtbarkeit der Schlaflosigkeit. Was kann ich sehen oder glauben mit meiner ärmlichen Lampe in der Hand in diesen übermäßig beleuchteten Salons?» 175 «Der schlimmste Moment ist nicht der des Todes. Der schlimmste Moment wäre, wenn er uns, Minuten bevor er kommt, aus dem Traum des Lebens aufwecken würde …» 176 «Verskünstler, häufig ein unerwarteter Feind der Dichtung.»
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
Anstelle des Verses wählt Machado eine ganze Bandbreite von Kurzgattungen, die sich in einem fragmentarischen Komplex präsentieren: (philosophische) Reflexionen, Lebensregeln, Kurzgeschichten, Dialoge, poetische Beschreibungen, Landschaftsbilder, Lebensweisheiten. Diese (avantgardistische) Vielfalt der Gattungen wird ein zentraler Bestandteil der Poetik des Archipels werden, wie Glissant sie versteht. Sämtliche Gattungsrenzen überschreitend bildet sein Werk ein «œuvre en archipel»177, in dem jeder Text eine Insel darstellt, ein einzigartiges literarisches Projekt, das jedoch über intertextuelle Verbindungen mit weiteren literarischen Werken des Autors in Beziehung steht. In derselben Weise sind die Aphorismen Machados, obwohl sie als isolierte Fragmente autonom sind und dadurch unabhängig voneinander gelesen und verstanden werden können, in Archipelen organisiert, die über thematische, semantische, formale und graphische Brücken miteinander verbunden sind.
3.2.3 Aníbal Machados Aphoristik als archipelagische Schreibbewegung Thematische und semantische Archipele Die in Cadernos de João verstreuten Aphorismen sind durch wiederkehrende Motive miteinander verknüpft, die sich bald wörtlich, bald als Metaphern lesen lassen. Diese Leitmotive erfüllen zum einen die Funktion, verschiedene Aphorismen miteinander in Beziehung zu setzen und zum anderen, den einzelnen Satz zu strukturieren. Allerdings geht die Funktion des semantischen Archipels, wie die bei Machado vorliegende Variante des Leitmotivs hier bezeichnet werden soll, über die Strukturbildung hinaus, indem es nicht nur «auf Zusammenhänge vorausoder zurückweist, sie in Erinnerung ruft, auf gleiche Figuren, Situationen, Gefühle, Ideen, verweist»,178 sondern als plötzliche Erscheinung die Bedeutung einer Verbalstruktur erhellt. In einem der Aphorismen mit dem Titel «O verbo no infinito» beschreibt Machado diese epiphanische Funktion seiner Motive folgendermaßen: No curso regular da frase pode uma palavra, uma imagem ou um movimento imprevisto assumir a força de uma aparição e iluminar subitamente toda a estrutura verbal. O que era neutro e opaco passa então a irradiar. Como se as palavras esperassem a privilegiada, portadora do elemento mágico que leva a todas a transfiguração da poesia.179 (CJ 20)
177 Jean-Louis Joubert: L’archipel Glissant, S. 318. 178 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S. 459. 179 «Im regulären Verlauf eines Satzes kann ein Wort, ein Bild oder eine unvorhergesehene Bewegung die Kraft einer Erscheinung entfalten und plötzlich die ganze Verbalstruktur erhellen. Was neutral und undurchsichtig war, wird dann ausstrahlen. So als ob die Wörter den privilegierten Träger des magischen Elementes erwarten würden, der allen die Verwandlung der Dichtung bringt.»
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung
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So wie die ästhetische Emotion, die nach Bachelard das unendliche Universum des Individuums strukturiert, kann eine semantische Einheit die Bedeutung eines Satzes schlaglichtartig offenlegen. Diese Unvorhersehbarkeit, mit der das Leitmotiv bei Machado auftritt, verbindet es mit Glissants Poetik der Archipelisierung. Und genau dieses plötzliche Hervortreten der semantischen Insel ist es, das dem Satz bei Machado einen poetischen Status verleiht. Um ihren vollständigen Sinn zu entfalten, muss die Bedeutungseinheit jedoch in einer archipelagischen Konstellation mithilfe von Wiederholungen mit anderen Wortstrukturen verbunden werden. Einige der Themen, die sich auf diese Weise aus den Aphorismen Machados hervorheben, wurden bereits erwähnt: Raum und Zeit, die Beziehung des Menschen zum Universum, Revolte, Traum, Poesie und Dichter, Tod. Über diese thematischen Archipele hinaus findet sich in Cadernos de João eine Reihe von wiederkehrenden Motiven wie Vogel, Sonne und Wind, Stadt, Gefängnis, Fest und Lachen. Das dominierende Motiv allerdings, das die Aphorismen Machados regelrecht überflutet und damit einmal mehr in die Nähe von Glissant rückt, ist das Wasser, in den meisten Fällen in Bezug zum Meer. In verschiedenen semantischen Konstellationen nimmt das Wasser bei Machado eine komplexe Bedeutung an, die es bald mit Ruhe und Freiheit, bald mit dem Mysteriösen und den Turbulenzen eines Schiffbruchs in Beziehung bringt. In erster Linie ist das Wasser für Machado jedoch, wie auch für Bachelard, Symbol des Lebens: Nada mais aflitivo do que um rio seco e uma piscina vazia. Nada que mais relembre a vida que se foi, do que esses dois esqueletos da água.180 (CJ 86, Hervorhebung im Original)
Wirkt ein leeres Flussbett oder ein leeres Schwimmbecken bedrückend, so ist ein Archipel ohne Wasser gar nicht denkbar. Erst das Wasser macht die Berge, die aus dem Meer herausragen, zu Inseln und bildet zugleich eine sichtbare Verbindung zwischen ihnen. Im geographischen wie im poetischen Archipel erfolgt die Navigation nicht unter, sondern an der Wasser- bzw. Textoberfläche. Daher steht im Zentrum des maritimen Codes von Machado das Schiff als Transportmittel auf dem Wasser: VIAJANTE SEM PASSAPORTE Enfim, o que importa é o frêmito da partida; a pista, a praia e a plataforma se afastando … a palpitação das águas no sulco distanciante da popa …181 (CJ 33, Hervorhebung im Original)
180 «Nichts traurigeres als ein ausgetrocknetes Flussbett und ein leeres Schwimmbad. Nichts, das mehr an ein vergangenes Leben erinnert, als diese zwei Skelette des Wassers.» 181 «REISENDER OHNE PASS. Letztlich ist das, was zählt, das Beben des Aufbruchs; die Strecke, der Strand und die Plattform, die sich entfernen … der Pulsschlag des Wassers am Kiel, der sich vom Heck entfernt …»
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Tanto nos leva ao porto o navio quanto o mar.182
(CJ 31, Hervorhebung im Original)
Todos os navios em todos os mares mal conseguem sustentar o peso da noite que cai sobre as águas.183 (CJ 74)
Die Orientierungslosigkeit des Schiffes in der Nacht, die im letzten Aphorismus zum Ausdruck kommt, kann als Fehlen von Anhaltspunkten beim dichterischen Schaffen verstanden werden, aber auch von semantischen Ankern, die dem Leser innerhalb des poetischen Textes Orientierung bieten. Darüber hinaus kann die Reise des Schiffes für die unberechenbaren Dynamiken des Gedächtnisses stehen, ein weiteres Thema, das sich in den Aphorismen Machados wiederholt: Esse aglomerado de ossos, vísceras e humores, esse complexo de fibras excitáveis e depósito de memórias – é menos unidade orgânica do que passagem dos fluidos, folhas da grande árvore cósmica que liga céus e terra, espírito e sangue, espaço de dentro e espaço de fora em viva transmutação de forças com o Universo. Ninguém precisa sair de si para participar do ilimitado. Cada cual está perto do longe e contém o Todo, como a gota de água é mar dentro do mar.184 (CJ 54)
Das Gedächtnis («depósito de memórias») verbindet sich zunächst mit der ästhetischen Emotion des Dichters («fibras excitáveis») zu einem inneren Raum («espaço de dentro»), der wiederum mit dem Universum («espaço de fora») verschmilzt. In einem Prosagedicht mit dem Titel «A Bola de Agua» illustriert Machado diese ästhetische Erfahrung in Form einer Erzählung, die das surrealistische Bild eines aus dem Meer ragenden Felsblocks185 umspielt: Não terei por muito tempo meu suplemento de terra. Nem mais serei tranqüilo. Aqui não se ouviam as vagas. Aqui se esquecia o vulto do navio desaparecido. Aqui, o mar não era mais que pressentimento de areias e conchas sob os pés.
182 «Das Schiff bringt uns genauso zum Hafen wie das Meer.» 183 «Allen Schiffen auf allen Meeren gelingt es nur schwerlich, das Gewicht der Nacht zu tragen, die auf das Wasser fällt.» 184 «Diese Ansammlung von Knochen, Eingeweiden und Körpersäften, dieser Komplex von erregbaren Fasern und Speicher von Erinnerungen – es ist weniger eine organische Einheit als Durchgang für Flüssigkeiten, Blätter des großen kosmischen Baumes, der Himmel und Erde verbindet, Geist und Blut, inneren und äußeren Raum in lebendiger Umwandlung von Kräften mit dem Universum. Niemand muss aus sich selbst herausgehen, um am Grenzenlosen teilzuhaben. Jeder einzelne ist nahe am Fernen und enthält das große Ganze, so wie der Wassertropfen ein Meer im Meer ist.» 185 «le rocher de l’île qui ouvre la mer libre». André Breton: Martinique: charmeuse de serpents, S. 32. [«der Felsen der Insel, der das freie Meer eröffnet»].
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[…] Pois foi num dia de canícula que vi surgir do horizonte o bloco de pedra. Surgir e crescer. E veio avançando em direção à minha cabeça. Vi a parábola do monstro em viagem pelos céus. Vi seu corpo de safira desmaiada – concreção de mar en poliedro de pedra. Só o percibi quando arrebentou perto. E borrifou as plantas. E me deixou gosto de sal na boca. Ò mar, é teu pedaço. Por menos que eu creia, é teu pedaço – cristal erguido em vôo de pássaro, desmanchando-se em água. Ameaça ou mensagem? Ah! por que não segui a sorte do navio? (CJ 140/141)186
Im ersten Teil des Gedichts präsentiert sich ein ruhiges Meer, dessen Unbeweglichkeit durch die Erwähnung mehrerer leerer Schaluppen am Strand verstärkt wird und das im Vergessen des seit Langem verschwundenen Schiffes seine Entsprechung findet. Diese Stille wird eines Tages jäh unterbrochen, als ein Felsblock, der sich in ein Monster verwandelt, das lyrische Ich aufschreckt. Überwältigt von diesem mysteriösen Zusammentreffen wirft es sich vor, sich auf dem bewegungslosen Landstück des Vergessens eingerichtet zu haben, statt dem Schiff zu folgen, das damit zum Symbol eines sich ständig in Bewegung befindenden Gedächtnisses wird. Die Lähmung des Dichters, die abrupt vom magischen Erscheinen des Felsblocks am Horizont unterbrochen wird, lässt sich mithilfe des folgenden Aphorismus noch deutlicher fassen. Dieser weist auf die Entdeckungen einer Epoche hin, die das Denken einer gesamten Generation von Dichtern gefangen genommen habe – gemeint ist wohl die modernistische Strömung des Parnassianismus,
186 «Ich werde für lange Zeit mein zusätzliches Stück Erde nicht mehr haben. Ich werde keine Ruhe mehr haben. / Hier hörte man die Wellen nicht. / Hier vergaß man die Gestalt des verschwundenen Schiffes. / Hier war die See nicht mehr als ein Gefühl von Sand und Muscheln unter den Füßen. / […] So geschah es an einem Tag der Hundstage, dass ich den Felsblock am Horizont auftauchen sah. Auftauchen und größer werden. Und er kam immer näher in Richtung meines Hauptes heran. / Ich sah die Parabel des Monsters auf seiner Reise durch die Himmel. / Ich sah seinen Rumpf aus mattem Saphir – die Verwirklichung des Meeres auf einem steinernen Polyeder. / Ich nahm ihn erst wahr, als er in der Nähe zerplatzte. Und die Pflanzen besprengte. Und mir einen salzigen Geschmack im Mund hinterließ. / Oh Meer, das ist Dein Stück. / So wenig ich es auch glaubte ist es Dein Stück – ein aufgerichteter Kristall im Vogelflug, der zu Wasser zerfällt. / Bedrohung oder Botschaft? / Ach! Warum verfolgte ich nicht das Schicksal des Schiffes?»
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der sich auch nach der politischen Unabhängigkeit Brasiliens weiterhin an europäischen Vorbildern orientierte: O pensamento fica prisioneiro por algum tempo de suas últimas descobertas. Estas acabam incorporando-se ao espíritu geral da época e compondo a fisionomia provisória de uma geração. 187 (CJ 22)
Demgegenüber fordert Machado den Dichter auf, sich nie mit seinen neuesten Entdeckungen zufriedenzugeben, sondern seinen Geist stets lebendig zu halten: Não te empenhes na exclusividade do que descobres. Pertence a todos. Na superfície das águas ou no azul do céu tuas iniciais não se gravam.188
(CJ 81)
Erneut greift Machado auf das Motiv des Meeres zurück, um das er ein komplexes Netz von Bedeutungen konstruiert hat, die sich zwischen den Polen der Unbeweglichkeit und der Bewegung situieren. Wenn die gleichförmige Wasseroberfläche des Ozeans durch den Kurs eines Schiffes oder durch eine Insel durchbrochen wird oder wenn der «vento do mundo» über die Zisterne des Subjekts weht und die unterirdischen Wasser des Seins («águas subterrâneas de nosso ser», CJ 122) bewegt, geraten die ruhigen Wasser des Universums in Aufruhr und produzieren lyrische und revoltierende Bilder. Machado benutzt die Technik des semantischen Archipels nicht nur in seinen Aphorismen, sondern auch in seinem narrativen Werk. So bestimmt der maritime Code eine Reihe von Bildern, die in den Erzählungen A morte da PortaEstandarte e Outras Historias (1965) auftauchen. In der Erzählung O telegrama de Ataxerxes etwa kondensiert sich die Sehnsucht Esmeraldas, der Frau des Protagonisten, im Anblick der Inseln von Pedra Branca. In einigen Geschichten steht das Meer dem Land gegenüber, dessen solide, sichtbare und ansteigende Vertikalität sich als eine Fortsetzung der Tiefe des unermesslichen Meeres verstehen lässt.189 Die Gegenüberstellung von Land und Meer wiederholt sich in den Cadernos de João, so etwa in einem Epigramm mit dem Titel «Cabeça e rochedo»: «Corpo que andavas no campo, agora rolas no mar.» (CJ 139)190, oder in der Kurzerzählung «Silêncio na construção»: «De um lado era a cidade grande; de outro,
187 «Das Denken bleibt eine Zeit lang Gefangener seiner letzten Entdeckungen. Diese gliedern sich letztlich in den allgemeinen Geist der Epoche ein und bilden die provisorische Gestalt einer Generation.» 188 «Bemühe Dich nicht um die Exklusivität dessen, was Du entdeckst. Es gehört allen. Auf der Oberfläche des Wassers oder dem Blau des Himmels lassen sich Deine Initialen nicht einprägen.» 189 Vgl. Maria A. Lopes Dean: Metáfora e Prosopopéia, S. 95. 190 «Körper, der Du auf dem Land wandertest, nun kullerst Du ins Meer.»
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o mar sem jangadas.» (CJ 91)191, wobei sich im zweiten Beispiel der Stillstand der Baustelle in der bewegungslosen Meeresoberfläche wiederholt. Die genannten Beispiele von thematischen und semantischen Archipelen zeigen, dass der Archipel in Machados Werk nicht nur eine metaphorische Rolle einnimmt, sondern darüber hinaus eine strukturierende Funktion erfüllt. Diese manifestiert sich einerseits in der Wiederholung von Motiven, die über das Denken des Autors Aufschluss geben, und andererseits, wie nun zu erläutern sein wird, in den formalen und graphischen Aspekten, die die Fragmente von Cadernos de João organisieren. Formale Archipele Abgesehen von ABC das catástrofes und Topografia da insônia, beides Sammlungen von Aphorismen, die bereits 1951 publiziert und in revidierter und erweiterter Form in Cadernos de João integriert wurden, umfasst der Band weitere Aphorismen, die sich, indem sie mit identischen Titeln überschrieben sind, zu einem archipelagischen Komplex verbinden. Diese Gruppen von Aphorismen sind ebenfalls durch semantische Bezüge verbunden, mithilfe derer der Autor Verbindungen zwischen einzelnen, im Meer des Gesamttextes verstreuten Aphorismen, herstellt. Allerdings ist ihre Zusammengehörigkeit im Gegensatz zu den bisherigen Beispielen graphisch markiert. Da diese Variante des Leitmotivs in Machados Aphorismen auffallend häufig vorkommt, soll sie im Folgenden gesondert betrachtet werden, zumal sie den Eindruck eines archipelagischen Aufbaus der Spruchsammlung noch verstärkt. Ein erster formaler Archipel ist das bereits genannte «O verbo no infinito», das sowohl metapoetische Überlegungen192 als auch kurze Lebensweisheiten enthält: Partir para a dimensão universal, mas levando no bico ou nas patas o grão de terra com que alimentar o vôo.193 (CJ 73) Não se apoderar daquilo que se descobre. Nem esconder. Mostrar aos outros. Passar adi(CJ 71) ante…194
Auch wenn die beiden Aphorismen unterschiedliche Grade von Metaphorizität aufweisen, haben sie mit den übrigen Fragmenten ihrer Gruppe die schon im Titel
191 «Auf der einen Seite war die große Stadt; auf der anderen die See ohne Flöße.» 192 S. die obigen Zitate CJ 20, 72. 193 «In die Dimension des Universums aufbrechen, aber im Schnabel oder den Klauen doch das Korn von der Erde mitnehmen, mit dem man den Flug nährt.» 194 «Sich nicht dessen bemächtigen, das man entdeckt. Noch es verstecken. Es den anderen zeigen. Weiter voranschreiten …»
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angedeutete Dialektik zwischen Unendlichkeit bzw. Unbeweglichkeit und Impuls gemein («o grão de terra com que alimentar o vôo», «passar adiante»). Ein weiterer formaler Archipel, der mit dem kurzen Titel «Se …» überschrieben ist, verbindet zwei Aphorismen, die, ähnlich wie «O verbo no infinito», den Impuls der ästhetischen Emotion thematisieren: Se foi esquecida a obra a que destre ou supões ter dado o melhor de teu gênio e de teu sangue, não fiques ao lado dela como guardião de túmulo, mas como lavrador à espera de que a semente germine.195 (CJ 53) Se tiveres de deixar uma cidade onde tudo te pareceu diferente e maravilhoso196, aconselho-te a não voltar. À segunda visita, e possível que ela te surja ainda sob a transfiguração poética da primeira. Na terceira, fugirá definitivamente da luz subjetiva de teus olhos para a aborrecida semelhança com as demais.197 (CJ 67)
Beide Aphorismen fordern dazu auf, die ästhetische Emotion lebendig zu halten und zu fördern, sei es durch eine aktive Erwartungshaltung oder durch Verhindern einer Gewohnheit, die zu stereotypischen Voreinstellungen der subjektiven Wahrnehmung führt. Die Technik des Wiederholens von Titeln erlaubt es dem Autor, verschiedene literarische Gattungen unter einer semantischen Einheit zu fassen. So vereint Machado etwa unter dem Titel «Os anti-sombra» zwei Aphorismen und zwei Kurzgeschichten. Die so entstandenen semantischen Archipele lenken den Blick weg von der Form auf ihre Inhalte und stellen sich so in den Dienst einer avantgardistischen Dekonstruktion von Gattungen. Dennoch können gewisse Fragmente innerhalb eines formalen Archipels auch der gleichen Gattung angehören, wie im Fall der Textgruppe «A atividade dos homens», die ausschließlich Kurzgeschichten
195 «Wenn das Werk, das geschickt erscheint oder bei dem Du das Beste deines Talents und deines Blutes gegeben zu haben glaubst, in Vergessenheit geraten ist, so bleibe nicht an seiner Seite wie ein Grabwächter, sondern wie ein Bauer, der wartet, bis der Samen keimt.» 196 Das Wunderbare, das hier einen Teil des ästhetischen Gefühls bildet, ist bei Machado eine Variante des insôlito, einer Kategorie der brasilianischen Litertaturkritik, die sich auf all das bezieht, was von der Norm abweicht und den Erwartungshorizont übersteigt, das Übernatürliche und das Fantastische mit eingeschlossen. Sie weist einige Gemeinsamkeiten mit dem Magischen Realismus der hispanoamerikanischen Literatur auf. Vgl. Antônio Cândido: Die Stellung Brasiliens in der neuen Erzählliteratur Lateinamerikas, S. 46, Hinweis des Übersetzers. 197 «Wenn Du eine Stadt verlassen müsstest, wo dir alles anders und wunderschön vorkam, so rate ich dir, nicht zurückzukehren. Auf den zweiten Blick ist es möglich, dass sie dir noch unter der poetischen Gestalt des ersten erscheint. Auf den dritten wird sie definitiv aus dem subjektiven Licht deiner Augen entfliehen in die langweilige Ähnlichkeit mit den anderen Städten.»
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verschiedener Länge enthält. Der Ausdruck «atividade» zeigt bereits an, dass in diesem formalen Archipel nicht philosophische oder metaliterarische Reflexionen im Vordergrund stehen, sondern Beispiele menschlichen Handelns. Ebenfalls in dieser anwendungsbasierten Linie präsentiert Machado in der Gruppe «Os personagens» Porträts von Personen, die die menschliche Existenz mithilfe von konkreten Beispielen illustrieren, während die kurz und metaphorisch gestalteten Aphorismen diese auf einer abstrakten Ebene analysieren. Über die Organisation der Aphorismen von Cadernos de João in Gruppen hinaus kann die Gesamtheit der Aphorismen, die ja dem Denken eines einzigen Autors entspringen, als ein formaler Archipel angesehen werden, insbesondere dann, wenn man die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs archi-pelagos als ein mit Inseln übersätes Meer bedenkt. Zudem stellt Cadernos de João, wie bereits erwähnt, einen formalen Archipel innerhalb von Machados Gesamtwerk dar. Es lässt semantische Einheiten hervortreten, die in anderen Kontexten der literarischen Produktion Machados erscheinen und deren Bedeutung in ihrer aphoristischen Kondensierung zugespitzt wird. Graphische Archipele Eine dritte Ebene des archipelagischen Charakters der Aphorismen Machados besteht in der technischen Anordnung der semantischen Einheiten nach Themen, Metaphern, Motiven und Titeln. Es handelt sich um eine Isolation und zugleich Verbindung der Fragmente über das graphische Bild des Gesamttextes. Die Aphorismen in Cadernos de João sind durch einen Leerraum voneinander getrennt, der weder ein fehlendes Wort noch eine Grenze markiert, sondern der auf die Dialektik von Isolation und Verbindung verweist. Einserseits kann jeder Aphorismus ohne seinen Kontext gelesen und verstanden werden. Andererseits sind Machados Aphorismen, wie oben detailliert dargestellt wurde, über semantische Verbindungen miteinander verknüpft, die Einblick in das Denken des Autors geben. Die Vereinigung von Fragmenten, die in mehreren Schritten stattfand, in einem Buch – abgesehen von ABC das catástrofes und Topografia da insônia umfassen die Cadernos die 1955 erstmalig publizierte Sammlung Poemas em prosa –, ist nicht das einzige Verfahren der Materialisierung, das der Autor von Cadernos vornimmt. In ABC das catástrofes erscheint ein handgeschriebener Text mit dem Titel «Desastre no poema» (CJ 139, s. Abbildung 7), der sich nicht nur durch seinen manuskripthaften Charakter vom Kontext abhebt, sondern auch durch seine Form: Die Anordnung der Wörter in Gruppen, die über eine Seite verstreut sind, erinnern auf den ersten Blick an die Inseln eines Archipels.
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Abbildung 7: Desastre no poema. In: Aníbal Machado: Cadernos de João. Rio de Janeiro: José Olympio 42004 [1957], S. 139.
Entziffert man jedoch die Wortstücke, so wird deutlich, dass nicht der maritime Code aufgerufen wird, sondern die Isotopie der Katastrophe: Destroços de uma estrofe catastrófica descarrilhada à margem da linha ruinas de poema escombros do nada.198
(CJ 139, meine Transkription)
Dennoch erlaubt das Bild der Ruine («ruinas de poema») eine Verbindung zum Archipel, da die Überbleibsel eines Bau- bzw. Kunstwerks gleich der aus dem Wasser herausragenden Insel nur einen kleinen Teil einer weitaus größeren Gedankenwelt darstellen, die sich über das kleine Reststück imaginieren lässt. Es scheint daher kein Zufall zu sein, dass diesem Gedicht unmittelbar zwei weitere folgen, die das Bild des Felsblocks im Meer ins Zentrum stellen, unter ihnen
198 «Zerstörungen einer katastrophalen Strophe / entgleist über den Zeilenrand / Gedichtruinen / Trümmer des Nichts.»
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das oben zitierte «A Bola de Agua». So wie der Felsblock auf etwas verweist, das sich unter der Wasseroberfläche befindet, so bilden die Überreste im obigen Gedicht eine Beziehung zwischen Teil und Ganzem ab. Im Aphorismus, der der Skizze unmittelbar vorangestellt ist, ist von einem augenblicklichen Desaster («desastre instantáneo», CJ 138) die Rede, von dem ein Funkeln («fulguração») ausgeht, das sich nicht aus einer äußeren Lichtquelle speist. Was also «Desastre no poema» mit diesen benachbarten Gedichten vereint, ist das Plötzliche, das Unerwartete, das Aufblitzende, das sich dem Leser in Machados Werk geradezu aufdrängt und das eines der wichtigsten Züge von Glissants Poetik der Archipelisierung bilden wird.
3.2.4 Sinnspruch und Opazität bei Édouard Glissant Mehrere Aspekte von Cadernos de João deuten darauf hin, dass Machado bereits Grundzüge eines poetischen Programms der Archipelisierung vorwegnimmt, das Édouard Glissant in den 1990er-Jahren formulieren wird. Dabei sind die Ähnlichkeiten zwischen den Werken der beiden Schriftsteller insofern kein Zufall, als beide den französischen Surrealismus rezipiert haben und ihre Poetik auf ihn gründen. Auch der Einfluss Bachelards dürfte maßgeblich zu den Ähnlichkeiten zwischen den Werken der beiden Autoren beigetragen haben. Während sich die Archipelisierung bei Machado jedoch weitgehend auf eine ästhetische und metaliterarische Ebene beschränkt und nur vereinzelt auf den kulturellen und geographischen Kontext Brasiliens Bezug nimmt, verbindet Glissant die surrealistische Inselmetapher mit dem Imaginären der Antillen. Dies geschieht beispielsweise, wenn Glissant die bei Bachelard und Machado noch rein schriftbezogene poetische Ausdrucksweise um den Aspekt der Mündlichkeit erweitert, indem er Schrift und Oralität in ständiger Reziprozität aufeinander bezieht. Im Folgenden soll die Frage im Zentrum stehen, inwiefern der Aphorismus als archipelagische Gattung, d. h. als privilegiertes Ausdrucksmittel eines ästhetischen Programms der kulturellen Globalisierung, wie Glissant sie versteht, betrachtet werden kann. Hierfür lohnt es sich, einen Blick auf die Form von Glissants Werk zu werfen. Wie Machados Sammlung kleiner Formen lässt es sich nicht einer bestimmten Gattung zuordnen, sondern macht die Weigerung seines Autors sichtbar, zwischen poetischen, wissenschaftlichen und essayistischen Schreibweisen zu unterscheiden.199 So lässt Glissant in seinem theoretischen Werk (Poétique I–IV) unterschiedliche Gattungen
199 Andrea Schwieger Hiepko: Rhythm ‘n’ Creole. Antonio Benítez Rojo und Edouard Glissant. Postkoloniale Poetiken der kulturellen Globalisierung, Berlin: Kadmos 2009, S. 20. Eine generelle
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in einen Dialog miteinander treten, darunter Aphorismen, Aufzählungen, kürzere und längere Reflexionen, essayistische Ausführungen, Handlungsanweisungen, Kurzgedichte sowie Zitate aus seinem fiktionalen Werk. Glissant treibt also die bei den Avantgarden zu beobachtende Auflösung von Gattungsgrenzen noch weiter, indem er nicht nur unterschiedliche literarische Genres miteinander vermischt, sondern die Grenzen des literarischen Diskurses sprengt. Diese diskursive Hybridität bestimmte den Aphorismus von Anfang an, wenn er sich bald dem medizinischen, bald dem philosophischen und schließlich dem literarischen Diskurs annäherte, ohne in einem davon vollständig aufzugehen. Damit eignet dem Aphorismus seit jeher derjenige transdiskursive Charakter, der auch das Werk Glissants kennzeichnet. Glissants aphoristische Schreibweise spiegelt sein archipelagisches Denken wider: Sie bildet, in den Worten von Andrea Schwieger Hiepko, «Inseln der Bedeutung, der Begriffe, der Formen, die sich sprunghaft fortbewegen, ohne den Impetus der Herstellung von Kontinuität aufrecht erhalten zu wollen»200. Dabei wird der Aphorismus, wie schon ansatzweise bei Machado, für ein postkoloniales Denken funktionalisiert. Die fragmentarische, diskontinuierliche Darstellung philosophisch-poetischer Aussagen bringt eine Subversion der westlichen philo-
Ablehnung des europäischen Gattungssystems bringt Glissant im Traité du Tout-monde folgendermaßen vorsichtig zum Ausdruck: «Dans cet état nouveau de littérature, l’ancienne et si féconde division en genres littéraires ne constitue peut-être plus loi. Qu’est-ce que le roman et qu’est-ce que le poème ? Nous ne croyons plus que le récit est la forme naturelle de l’histoire. L’histoire qu’on raconte et maîtrise était naguère inhérente à l’histoire qu’on fait et qu’on régit. Celle-ci était garante de celle-là, pour les peuples d’Occident, et celle-là éclat légitime de celle-ci. Il y a encore du prestige de cette solidarité dans la vogue des romans à la mode, en Europe et dans les Amériques. Nous sommes tentés par d’autres partitions. L’éclatement de la totalitémonde et la précipitation des techniques audiovisuelles ou informatiques ont ouvert le champ à une infinie variété de genres possibles dont nous n’avons pas idée.» Edouard Glissant : Traité du Tout-Monde, Paris : Gallimard 1997b, S. 121–122. [«Bei diesem neuen Zustand der Literatur stellt die alte und so fruchtbare Aufteilung in literarische Gattungen vielleicht kein Gesetz mehr dar. Was ist ein Roman und was ist ein Gedicht? Wir glauben nicht mehr, daß die Erzählung die natürliche Form des Schreibens ist. Die Geschichte, die man erzählte und beherrschte, war einst Teil der Geschichte in Großbuchstaben, die man macht und beherrscht. Bei den Völkern des Westens garantierte die Geschichte das Erzählen und dieses war ihr legitimer Splitter. In der Flut der modischen Romane in Europa und Amerika genießt diese Solidarität zwischen Geschichte-Machen und – Erzählen noch ein gewisses Prestige. Uns reizen andere Einteilungen. Das Zersprengen der Welt-Totalität und die rasante Schnelligkeit der audiovisuellen und digitalen Medien haben das Feld geöffnet für eine unendliche Vielfalt möglicher Gattungen, die wir uns noch gar nicht vorstellen können.» Edouard Glissant: Traktat über die Welt. aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill, Heidelberg: Wunderhorn 1999, S. 109.] 200 Andrea Schwieger Hiepko: Rhythm ’n’ Creole, S. 65.
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sophischen Ausdrucksweise mit sich, die vereinzelt bereits – etwa bei Heraklit, Pascal oder Nietzsche – eine Fragmentierung erfahren hat. Sie durchbricht den positivistischen, linearen Herrschaftsdiskurs und setzt damit das Konzept einer auf einen einzelnen Ursprung rückführbaren Kultur außer Kraft.201 Das fragmentarische Schreiben ist bei Glissant also nicht lediglich als ein Merkmal des postmodernen Diskurses zu betrachten, sondern wird zur Grundlage für «einen Prozess der Selbsterkenntnis und die Konstitution und Emanzipation des kolonisierten Subjekts»202. Für eine solche postkoloniale Selbstbehauptung gilt es nach Glissant Ausdrucksformen zu finden, die der Auflösung von linearen Zeitstrukturen und, damit verbunden, von unilingualen Rhetoriken gerecht werden. Gerade der Sinnspruch ermöglicht durch seine kondensierte Form, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem «ordre du surgissement»203 aufgehen lässt, ein Ausbrechen aus der linearen Zeit westlicher Erzählmuster. Dies führt Glissant in seinen aphoristischen Schriften204 eindrücklich vor. Wie Helmich gezeigt hat, wird Glissants Werk zunehmend fragmentarischer und axiomatischer und nähert sich dadurch mehr und mehr einer Lehrbuch-Aphoristik in hippokratischer Tradition an.205 So fasst Glissant beispielsweise seine Argumentation zur Pluralisierung von Zeitlichkeiten in Traité du Tout-monde (1997) mit einem graphisch abgesetzten, kurzen Satz zusammen: «La Transhistoire s’étend.»206 Der Satz liest sich nicht nur wegen seines abstrahierenden Charakters als Aphorismus, sondern auch wegen seiner Doppeldeutigkeit, die darin besteht, dass sich eine transkulturelle Geschichtsschreibung einerseits durch horizontale Verknüpfungen und nicht durch eine lineare, auf einen Ursprung rückführbare Struktur artikuliert und dass sie sich andererseits verbreitet, indem sie in einem weltweiten Imaginären mehr und mehr hervortritt. Der Aphorismus wird bei Glissant also zum Modell einer Schreibweise, die sich von der Linearität des westlichen Wissenschaftsdiskurses zu lösen beginnt.
201 Vgl. Andrea Schwieger Hiepko: Rhythm ’n’ Creole, S. 72–73. 202 Ebda., S. 73. 203 Miriam Lay Brander/Khal Torabully: Dire la vie de façon kaléidoscopique, S. 304. «Ordnung des Auftauchens» (eigene Übersetzung). 204 Vgl. Werner Helmich: Des pensées en archipel. A propos du statut textuel de la poétique d’Edouard Glissant. In: Carmelina Imbroscio/Nadia Minerva u. a. (Hg.): Des îles en archipel … flottements autour du thème insulaire en hommage à Carminella Biondi. Bern u. a.: Peter Lang 2008, S. 35–50. 205 Vgl. ebda., 48. 206 Edouard Glissant: Traité du Tout-Monde, S. 113. Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill: «Die Über-Geschichte breitet sich aus.» Edouard Glissant: Traktat über die Welt, S. 100.
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Eine der poetischen Leitfiguren im Werk von Glissant, die die transparente Linearität westlicher Historizität zerstreut und einen großen Teil moderner Aphorismen kennzeichnet, ist die Opazität. Sie ermöglicht es dem kolonisierten Subjekt¸ ein psychisch-kulturelles Geheimnis zu wahren, d. h. die Unverständlichkeit gewisser kultureller Tatbestände gegenüber denen beizubehalten, die nicht dieselbe Kultur teilen,207 und so einer imperialistisch gewollten Transparenz und Geschlossenheit das Modell offener Identitäten entgegen zu setzen («opposer à la transparence des modèles l’opacité ouverte des existences non réductibles»208). Ähnlich wie das Sprichwort weist der Aphorismus durch seinen Hang zu Metaphorik und Sprachspiel einen opaken Charakter auf. Dies gilt vor allem für die surrealistisch beeinflusste Aphorismentradition: In ihrem Anspruch, eine dem Alltagsverstand unzugängliche Komponente der Realität zu erschließen und sich damit vom konventionellen Realismus abzusetzen, wehren die surrealistischen Texte jegliche Erklärung, Einordnung und Funktionalisierung ab – eine Resistenz, die auf einer ästhetischen Ebene auch der im Kontext der lateinamerikanischen Avantgarden kultivierte Aphorismus für sich beansprucht. Seine Opazität verbindet den modernen Aphorismus schließlich mit dem Sprichwort und macht ihn dadurch mit Kontexten der Kreolisierung kompatibel, die von einem Verschmelzen mündlicher und schriftlicher Ausdrucksformen gekennzeichnet sind. Wie Glissant betont hat, ist die kreolische Mündlichkeit weder mit der oralen Praxis im Theater noch mit einer fingierten Mündlichkeit im Roman zu verwechseln, die beide den Status des geschriebenen Wortes nicht in Frage stellen.209 Vielmehr handelt es sich um eine Oralität, deren Inhalte und Rhythmen westliche Episteme und deren Rhetorik außer Kraft setzen: «Elle échappe aux systèmes des rhétoriques traditionnelles qui soutenaient toujours une linéarité ou une unicité du temps et de la langue.»210 So heißt es in einem kreolischen Sprichwort, das Glissant beispielhaft für eine Divergenz zwischen westlichen und karibischen Zeitkonzeptionen anführt211: «‹Un nègre est un siècle.› Non pas tellement qu’il
207 Clément Mbom: Edouard Glissant, de l’opacité à la relation, S. 247. 208 Edouard Glissant: Traité du Tout-Monde, S. 29, Hervorhebung im Original. «[…] der Transparenz der Modelle die offene Opazität der nicht reduzierbaren Existenzen entgegenzusetzen.» Edouard Glissant: Traktat über die Welt, S. 24. 209 Vgl. Edouard Glissant: Traité du Tout-Monde, S. 109. 210 Ebda., S. 111. «Sie entgeht den traditionellen Systemen der Rhetoriken, die stets an einer Linearität und einer Einheit von Zeit und Sprache festhielten.» Edouard Glissant: Traktat über die Welt, S. 98. 211 Es ließen sich weitere Beispiele aus Traité du Tout-Monde nennen, bei denen Glissant seine Argumentation mit Sprichwörtern untermauert, wie etwa im Kapitel zu Nelson Mandela: «Et une sagesse légère qui résonne en sentences simples: ‹Ce qu’il y a d’étrange et de beau
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung
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dure, ni que sa rancune soit paciente, mais qu’il est impénétrable et qu’on ne peut en voir le bout.»212 An die Stelle einer Einheit und Linearität von Sprache, so legt das von Glissant zitierte und gedeutete Sprichwort sowohl formal als auch inhaltlich nahe, tritt eine Undurchdringlichkeit, wie sie in den Ausdrucksweisen der Farbigen angelegt sei. Sowohl das kreolische Sprichwort als auch der surrealistische Aphorismus verdanken ihre Opazität und das daraus hervorgehende subversive Potenzial ihrem bildhaften Charakter. Das häufig blitzartige Aufleuchten beider Spruchformen lässt sie Bilder hervorbringen,213 die Helmich im Hinblick auf die surrealistisch beeinflussten Aphorismen etwa eines René Char, Ramón Gómez de la Serna oder Malcolm Chazal zur Einführung der Untergattung des «Bildaphorismus» veranlasst haben.214 Allerdings hat der surrealistische Bildaphorismus wenig mit der volksläufigen Bildlichkeit des Sprichwortes zu tun. Während der Surrealismus traumartige und damit verschlüsselte Bilder evoziert, bezieht das Sprichwort seine Bilder in der Regel aus den Themenkreisen des Volksglaubens, des Berufslebens und der Natur215 und damit aus alltagspraktischen Zusammenhängen.216 Dies bedeutet jedoch auch, dass diese Bildlichkeit, wie bereits bei Paulhan deutlich wurde, nur derjenige verstehen und wirkungsvoll einsetzen kann, der mit den entsprechenden Alltagskontexten vertraut ist. Ähnlich wie Certeau, für den das Sprichwort eine mögliche Taktik darstellt, um dominante Diskurse zu umgehen, beschreibt Glissant die Bildlichkeit der kreolischen Sprachen (das kreolische
dans la musique africaine, c’est qu’elle vous redonne courage même si elle raconte une histoire triste.›» Edouard Glissant: Traité du Tout-Monde, S. 153. «Und eine leicht daherkommende Weisheit, die in einfachen Sätzen anklingt: ‹Das Seltsame und Schöne an der afrikanischen Musik ist, daß sie einem wieder Mut gibt, selbst wenn sie eine traurige Geschichte erzählt.›» Edouard Glissant: Traktat über die Welt, S. 139, Hervorhebung im (deutschen) Original. 212 Edouard Glissant: Traité du Tout-Monde, S. 112. «‹Ein Neger ist ein Jahrhundert.› Das heißt nicht so sehr, daß er Dauer besitzt, oder daß seine Rache geduldig ist, sondern daß er undurchdringlich ist und man sein Ende nicht absehen kann.» Edouard Glissant: Traktat über die Welt, S. 99. 213 Vgl. Miriam Lay Brander/Khal Torabully: Dire la vie de façon kaléidoscopique, S. 304; Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 132–159. 214 Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 132–159. 215 Vgl. Lutz Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, S. 65–70. 216 Dass sich das Sprichwort zunehmend auch aus der Wirtschaftssprache sowie der technischen und politischen Sprache speist (vgl. Wolfgang Mieder: Das Sprichwort in unserer Zeit. Frauenfeld: Huber 1975), zeigt, dass mit dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen sich auch diejenigen Ausdrucksmittel verändern, in denen sich die langfristig gesammelten Erfahrungen einer Kultur sedimentieren.
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3 Kleine Formen zwischen Ethnographie und kulturellem Widerstand
Sprichwort eingeschlossen) als eine List, die aus der Notwendigkeit heraus entstanden sei, die Freiräume eines dominanten Diskurses zu nutzen, ohne dessen Normen offensichtlich zu verletzen. [L]’imagé, c’est-à-dire le ‹concret› et tous ses dérives métaphoriques, n’est pas, dans la langue créole, une donnée ordinaire. C’est un détour forcé. Ce n’est pas une malice implicite, c’est une ruse concertée. Il y a quelque chose de pathétique dans le détour imagé de la sagesse populaire créole.217
Diese Funktion der Opazität, die das kreolische Sprichwort laut Glissant und den Begründern der Créolité-Bewegung in den Plantagen entwickelt hat, behält es in der fiktionalen Welt der zeitgenössischen karibischen Literatur bei. Allerdings gilt es, die Opazität des kreolischen Sprichwortes vom Opazitätsbegriff Glissants zu unterscheiden. Das Sprichwort wie etwa Schwarz-Bart es in ihrem Roman Pluie et vent sur Télumée Miracle (vgl. Kap. 5.2) einsetzt, ist nur für Außenstehende opak, d. h. für die weißen Dienstherren, denen die kreolische Metaphorik fremd ist, während es unter den Sklaven und ihren Nachkommen zur Verständigung untereinander dient und somit transparent ist. Demgegenüber ist Glissants Werk durch eine generelle Intransparenz gekennzeichnet, die ein Leser weder aus den Antillen noch aus Europa zu durchdringen vermag. Während das Sprichwort bei SchwarzBart also für eine antikoloniale Haltung steht, ist Glissants aphoristische Opazität in einem erweiterten Kontext zu sehen, der über eine postkoloniale Kritik hinausgeht. Sie bezieht sich generell auf alles, was nicht gedanklichen Kategorien unterworfen werden kann, die auf ein Verstehen mithilfe der Herstellung von Transparenz abzielen.218 Diese universelle Haltung lässt laut einigen Kritikern das postkoloniale Anliegen Glissants in den Hintergrund treten.219 Dennoch legt sie die Grundlagen für eine alternative Epistemologie, die auch postkolonialen Interessen dient. Dies macht allein schon der Vergleich zu Machados Werk deutlich, dessen Gedanke eines individuellen ästhetischen Widerstandes Glissant um eine kollektive Dimension bereichert, die für postkoloniale Resistenz fruchtbar
217 Edouard Glissant: Le discours antillais. Paris: Gallimard 1997a, S. 409–410. «Das Bild, das heißt das ‹Konkrete› und all seine metaphorischen Ableitungen, ist in der kreolischen Sprache nicht eine gewöhnliche Gegebenheit. Es ist ein erzwungener Umweg. Es ist nicht eine implizite Böswilligkeit, es ist eine abgesprochene List. Es liegt etwas Pathetisches im bilderreichen Umweg der kreolischen Volksweisheit.» (Eigene Übersetzung). 218 Vgl. Patrick Crowley: Édouard Glissant: Resistance and opacité, S. 106. 219 In den Worten von Patrick Crowley (ebda., S. 110): «Glissant is not so much interested in the specific terrain of postcolonial resistance as he is in the capacity of poetic language to unsettle categorial systems of thought that are allied to power. As such, any postcolonial resistance that one may encounter in Glissant’s work is simply part of a more general cultural and political resistance.»
3.2 Sinnspruch und Archipelisierung
179
gemacht werden kann. Ist die Kolonisierung bei Machado lediglich eine Metapher für die Einschränkung der Vorstellungskraft, so bedeutet sie für Glissant einen historischen Tatbestand, dessen Folgen es kollektiv zu überwinden gilt. Sowohl Aphorismus als auch Sprichwort entfalten also in den untersuchten post-kolonialen Kontexten ein widerständisches Potenzial und laufen dadurch aufeinander zu. Steht der Aphorismus bei Aníbal Machado im Zeichen einer avantgardistischen Auflehnung gegen die Ästhetiken des Modernismus, so kondensiert sich in ihm bei Glissant eine fragmentarische Schreibweise, die westliche Rhetoriken zu durchbrechen sucht und dadurch zum Symbol einer kulturellen Emanzipation wird. Bei Déwé Gorodé und Miguel Barnet erhält der Sinnspruch darüber hinaus eine politische Dimension: Während sich die Neukaledonierin den europäischen Aphorismus subversiv-kreativ zur ästhetischen Untermauerung ihres politischen Engagements gegen die französische Assimilationspolitik aneignet, setzt der Kubaner den Sinnspruch im Massenmedium einer (Internet-)Zeitung ein, um seiner anti-nordamerikanistischen Haltung Ausdruck zu verleihen. Dabei spiegelt sich das kämpferische und unvorhersehbare Potenzial des Sinnspruchs in seiner Form wider: zum einen darin, dass er sich aufgrund seiner Kürze und Konzision in einen stilistischen Faustschlag («coup de poing»220) und damit in eine sprachliche Waffe verwandeln kann; zum anderen, weil er durch seine häufig opake Tendenz westliche Rhetoriken mit ihren epistemologischen Implikationen zu durchbrechen vermag.
220 Miriam Lay Brander/Khal Torabully: Dire la vie de façon kaléidoscopique, S. 304.
Teil II: Der Sinnspruch in narrativen und dramatischen Texten
Die beabsichtigte Intransparenz von Glissants Aphorismen führt dazu, dass die Einzelerfahrungen und Beobachtungen des Autors in einer Art und Weise kondensiert werden, die dem Leser eine Rückbindung an die individuelle Erfahrung erschwert. Auch die intimistische Aphoristik eines Aníbal Machado lässt eher die Kreativität des Autors hervortreten, als dass sie eine Perspektive auf die Welt des Lesers eröffnet. Dies gilt in wesentlich geringerem Maße für das Sprichwort, dessen semantische Selbstgenügsamkeit durch seine Loslösung vom Autor und durch seine Nähe zu alltagspraktischen Kontexten in der Regel auf ein Minimum reduziert ist. Ist der Aphorismus also eher produktionsorientiert, so ist das Sprichwort tendenziell rezeptionsorientiert: Es dient weniger dem Ausdruck einer Innerlichkeit des Produzenten, sondern erfüllt vielmehr eine Appellfunktion, indem es beim Rezipienten eine Wirkung zu erzielen sucht, oder eine Symbolfunktion, indem es sich auf Gegenstände oder Sachverhalte der Wirklichkeit bezieht. Wird der Sinnspruch nun als Diskurselement in andere Gattungen eingebettet, so verschwimmt dieser Unterschied zwischen den genannten Sprachfunktionen. Innerhalb der erzählten Welt bleibt er zunächst weitgehend erhalten: Ein durch eine fiktionale Figur geäußertes Sprichwort dient meist dazu, ein ebenfalls fiktionales Gegenüber zu überzeugen, anzugreifen, sich ihm gegenüber zu verteidigen oder zu rechtfertigen. Dagegen sagen aphoristische Reflexionen auf der Figurenebene meist etwas über die innere Verfasstheit einer Figur aus. Auf der Vermittlungsebene sowie auf der realen Produktions- und Rezeptionsebene, nähern sich Sprichwort und Aphorismus einander aber an, indem sie sich beide kommentierend oder strukturierend auf das Erzählte und weniger auf die Person des Erzählers oder eines fiktiven Lesers beziehen. Auf der Ebene einer realen Produktion und Rezeption verschiebt sich diese Funktion von Sinnsprüchen in Richtung des Rezipienten: Integriert ein Autor Aphorismen oder Sprichwörter in einen narrativen Text, so möchte er dem Leser damit Orientierung bieten und ihm das Verstehen übergeordneter Aussagen des Textes erleichtern. Allerding ist eine zentrale Botschaft in modernen und postmodernen Kontexten selten mit einem Sinnspruch deckungsgleich. Die Aussagen eines narrativen Textes, so werden die Analysen des zweiten Teils zeigen, präsentieren sich dem Leser nicht in Form von Sinnsprüchen, sondern ergeben sich aus dem Zusammenspiel sinnspruchartiger Äußerungen auf der intra- und extradiegetischen Ebene mit ihrem narrativen Kontext. Anders verhält es sich in den Dramen Aimé Césaires, in denen einzelne Sinnsprüche, wie ebenfalls zu zeigen sein wird, übergeordnete Aussagen transportieren können.
https://doi.org/10.1515/9783110639483-005
Der Sinnspruch in narrativen und dramatischen Texten
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Kleine Formen wie Aphorismen oder Sprichwörter stellen innerhalb narrativer und dramatischer Texte also weder ein zu vernachlässigendes Beiwerk1 noch ein contragénero2 (eine Gegengattung) dar. Sie fungieren aber auch nicht in erster Linie als Ideengeber des Autors, der ausgehend von ihm bekannten Sinnsprüchen die Handlung oder eine Figur konzipiert.3 Vielmehr bilden sie als Schnittstellen zwischen der erzählten Welt, der Erzählebene und der Welt des Lesers Bereiche, in denen der Rezipient die geschilderten Erfahrungen und Beobachtungen auf seine individuelle Erfahrung übertragen kann.
1 So vertritt Todorov die These, dass Maximen im Roman für eine als construction verstandene Lektüre irrelevant seien, da sie nicht an den Parametern der Zeit, des Modus und der Perspektive teilnähmen. Tzvetan Todorov: La lecture comme construction. In: Poétique 24 (1975), S. 417–425, hier S. 417–418. 2 Claudio Guillén: Entre lo uno y lo diverso. Introducción a la literatura comparada. Barcelona: Crítica 1985, S. 141–181. 3 So etwa Aldous Huxley: Along the Road. Notes and Essays of a Tourist. London: Triad Books 1986, S. 72–75. Vgl. Carles Besa Camprubí: La máxima como hábito estilístico y huella de escritura en la Recherche. In: Cuadernos de investigación filológica 25 (1999b), S. 73–91, hier S. 75.
4 Kleine Formen zwischen Lokalismus und Universalität 4.1 João Guimarães Rosa: Grande Sertaõ 4.1.1 Themen und Orte des Sinnspruchs in Grande Sertaõ Der 1956 erschienene Roman Grande Sertão: Veredas4 von João Guimarães Rosa, der unbestritten zu den bedeutendsten Werken der brasilianischen Literatur zählt, ist gespickt mit Sprichwörtern, Maximen5 und aphoristischen Reflexionen. In ihm schildert der Gutsbesitzer Riobaldo in einem fingierten Monolog einem Gast seine Streifzüge durch den Sertão,6 zunächst als unerfahrener jagunço7, dann als hartgesottener Bandenführer. Sein Bericht von gewaltsamen Konflikten, tagelangen Märschen, diversen Begegnungen und Liebschaften ist geknüpft an eine Auseinandersetzung mit dem alten Widerstreit zwischen dem Guten und dem Bösen, Gott und dem Teufel, dem Riobaldo vergeblich seine Seele zu verkaufen sucht. Im ersten Teil des Romans gibt der Erzähler eine scheinbar zusammenhanglose Reihe von Anekdoten zum Besten, auf deren Grundlage er sich mit klassischen Themen der europäischen Philosophie wie Liebe und Hass, Gut und Böse oder Leben und Tod auseinandersetzt. Ohne eine
4 João Guimarães Rosa: Grande Sertão: Veredas. São Paolo: Nova Aguilar 1974 [1956]. Im Folgenden abgekürzt mit GS. Referenzen auf die deutsche Übersetzung von Curt Meyer-Clason werden jeweils mit GSd abgekürzt. (João Guimarães Rosa: Grande Sertão: Veredas. Übers. von Curt Meyer-Clason, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1987 [1956]). 5 Wurde die Gattungsbezeichnung ‹Maxime› bisher für den moralistischen Aphorismus des 17. Jahrhunderts verwendet, der gerade keine moralische Botschaft transportierte, so dient er fortan der Bezeichnung «einer allgemeingültigen moralischen Vorschrift». Dieter Lamping: Aphorismus, S. 19. 6 Curt Meyer-Clason, der den Roman ins Deutsche übersetzt hat, schildert den Schauplatz des Romans, in dem sein Autor zugleich aufgewachsen ist, mit den folgenden Worten: «Sertão – das sind Bergzüge und Täler, Moore und Marschen, Schluchten und Gipfel. Tertiärformationen, unterirdische Flüsse, die als Quellen an die Oberfläche dringen, kaktusgefleckte Ödlandstreifen. Die Bewohner des Sertão sind halbnomadische, rauhe Viehtreiber; ihre Rastplätze sind das Dorf, Oase in der Ebene, ein Stück Ackerland, die Fazenda – das Landgut –, tief gelegene Wasserstellen, die von Steilhängen geschützten Haine der schattenspendenden Burití-Palme». Curt Meyer-Clason: Der Sertão des Guimarães Rosa. In: Mechtild Strausfeld (Hg.): Brasilianische Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 249–272, hier S. 250. 7 «Jagunço» wird vom Autor im Glossar beschrieben als «Bandit, Mitglied gesetzloser Räuberbanden im Dienste rivalisierender Politiker, die sich untereinander oder auch die Regierungstruppen bekriegen» (GSd S. 554). https://doi.org/10.1515/9783110639483-006
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4 Kleine Formen zwischen Lokalismus und Universalität
befriedigende Antwort auf seine Fragen zu finden, geht Riobaldo dazu über, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Nach dem Tod seiner Mutter lebt er auf der Farm seines Patenonkels Selorico Mendes, von wo aus der Bandenführer Zé Bebelo ihn als jagunço rekrutiert. Nach der ersten Schlacht mit der verfeindeten Bande des Hermógenes verlässt Riobaldo die Truppe Zé Bebelos, um sich dem gefürchteten Bandenführer Joca Ramiro anzuschließen, zwischen dessen Bandenmitglied Diadorim alias Reinaldo und Riobaldo sich eine enge Freundschaft entwickelt. Die beiden beschließen gemeinsam, die Truppe von Joca Ramiro zu verlassen und sich der Bande von Titão Passos anzuschließen, der zuvor an der Seite des Erzfeindes Hermógenes gekämpft hatte. Als Hermógenes Joca Ramiro ermordet, schließen sich sämtliche jagunços unter der Führung Zé Bebelos, dem Joca Ramiro zuvor das Leben gerettet hat, zusammen, um in einen erbitterten Kampf gegen den Mörder des großen Bandenführers zu treten. In dieser Zeit hat Riobaldo zwei Liebschaften, die Diadorims Eifersucht hervorrufen: zunächst mit der Prostituierten Nhorinhá und daraufhin mit Otacília, mit der sich Riobaldo später verloben wird. Die beiden verfeindeten Großbanden unter der Führung von Zé Bebelo und Hermógenes verbünden sich kurzzeitig, um gegen die Regierungstruppen zu kämpfen, jedoch verlässt die Bande Zé Bebelos bald das Schlachtfeld und erreicht Veredas-Mortas, wo Riobaldo an der Stelle Zé Bebelos die Führung der Bande im Kampf gegen Hermógenes übernimmt. In einer abschließenden blutigen Schlacht mit Riobaldo an der Spitze liefern sich Diadorim und Hermógenes einen direkten Kampf, in dem beide umkommen. In diesem Augenblick erfährt Riobaldo, dass Diadorim in Wahrheit Maria Deodorina da Fé Bittancourt Marins ist, die Tochter von Joca Ramiro, dessen Tod sie nun gerächt und dafür mit ihrem eigenen Leben bezahlt hat. In den unzähligen Arbeiten zu Grande Sertão wurde den in dem Roman enthaltenen kleinen Formen kaum Aufmerksamkeit geschenkt, und wenn dies geschehen ist, dann lediglich unter didaktischen Gesichtspunkten.8 Thomas J. Braga etwa betont den moralisierenden Charakter der über 400 Sentenzen im Sinne von fundamentalen Prinzipien oder Verhaltensregeln, die er in Grande Sertão identifiziert hat. Allerdings dekonstruiert Rosa mit seinem monumentalen Werk gerade den didaktischen Anspruch des Sinnspruchs – allein schon der inflationäre Gebrauch von Sprichwörtern und Maximen durch den Erzähler schwächt deren Autorität. Die Aussagekraft von Sinnsprüchen misst sich in Grande Sertão einzig daran, inwieweit sie sich mit der Erfahrung des Protagonisten decken und inwieweit sie diese kommunizierbar machen können.
8 Einen Überblick über die unterschiedlichen Forschungslinien gibt Claudia C. Soares: Grande Sertão: Veredas: A crítica revisitada. In: Letras de Hoje 47, 2 (2012), S. 136–145.
4.1 João Guimarães Rosa: Grande Sertaõ
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Nicht das teleologische Moment eines Bildungsziels steht im Vordergrund, sondern der Lernprozess selbst, den der Erzähler auf seinen Wegen durch den Sertão durchläuft: «O rio não quer ir a nenhuma parte, ele quer é chegar a ser mais grosso, mais fundo» (GS 621).9 Braga klassifiziert die Sinnsprüche in Grande Sertão nach thematischen Gesichtspunkten, die die persönliche moralische Suche des Protagonisten bestimmen: Leben und Tod, Liebe und Freundschaft, Gott und der Teufel, Sertão und jagunço. Den vier von Braga genannten Bereichen, die sicherlich die hauptsächlichen Themenkomplexe bilden, um die die kleinen Formen in Grande Sertão kreisen, ist noch das Begriffspaar Angst und Mut hinzuzufügen, dem über 20 Sinnsprüche gewidmet sind. Weitere Aphorismen und Sprichwörter, jeweils mindestens zehn, setzen sich mit Themen wie Täuschung und (Des-)Illusion, Krieg und Kampf sowie Reise und Abschied auseinander. Die unterschiedlichen Themenkreise sind eng miteinander verknüpft, was in zahlreichen Sinnsprüchen zum Ausdruck kommt. So sind die Maximen zu Angst und Mut teilweise an die Thematik der Liebe gekoppelt: «Aqui digo: que se teme por amor; mas que, por amor, também, é que a coragem se faz» (GS 652).10 Auch die Themen von Liebe und Tod berühren sich, wie der Erzähler selbst in einer Maxime formuliert: «Artes que morte e amor têm paragens demarcadas. No escuro» (GS 217).11 Die Personifizierung dieses Geheimnisses ist die als Mann travestierte Maria Deodorina/Diadorim, an der sich diese Aussage erfüllen wird. Denn in dem Moment, als der vermeintliche Diadorim stirbt, offenbart sich das Geheimnis, das ihn umgab und es wird offensichtlich, warum Riobaldo ihn heimlich liebte: Nicht wegen seiner scheinbar homosexuellen Neigungen, sondern weil sich hinter der Maske Diadorims eine schöne Frau verbarg. Im Moment der Desillusionierung, das der Tod Diadorims mit sich bringt und das eine Reihe von Sinnsprüchen in Grande Sertão kennzeichnet, trifft die Tradition der klassischen Maxime mit derjenigen des europäischen Bildungsromans und dessen brasilianischer Variante zusammen.12 So verweisen
9 «Der Fluss will nirgends ankommen, er will nur breiter, tiefer werden.» (GSd S. 397). 10 «Ich behaupte: Liebe erzeugt Angst, aber auch Mut.» (GSd S. 416). 11 «Tod und Liebe überschneiden sich im Geheimnis.» (GSd S. 149). 12 Horst Nitschack verweist darauf, dass das im deutschen und französischen Bildungsroman postulierte Bildungsideal sich selbst in den entsprechenden Werken als nicht realisierbar entlarvt. In Mário de Andrades Roman Macunaíma, der als produktive Rezeption des europäischen Bildungsromans gelesen werden kann, artikuliert sich dieses desillusionierende Moment im gewaltsamen Scheitern des Protagonisten. Vgl. Horst Nitschack: Tropische Subjektivität und europäische Bildungstradition: Macunaíma, der Held ohne jeden Charakter von Mário de Andrade. Oder: Macunaíma, ein Wilhelm Meister in den Tropen?. In: Pandaemonium Germanicum: Revista de Estudos Germanísticos 16, 22 (2013), S. 156–178, hier S. 166.
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4 Kleine Formen zwischen Lokalismus und Universalität
zahlreiche Sinnsprüche auf den illusorischen Charakter der Welt, wie z. B. folgende: A gente sabe mais, de um homem, é o que ele esconde.13
(GS 477) 14
E, o que não existe de se ver, tem força completa demais, em certas ocasiões. A razão normal de coisa nenhuma não é verdadeira, não maneja.
15
(GS 701) (GS 500)
Die antithetische Form dieser Maximen unterstreicht den Widerspruch zwischen Sein und Schein, der sich in ihnen artikuliert. Desillusionierend sind auch Riobaldos Aussagen über den Krieg, genauso wie über das Leben, in denen er die Trughaftigkeit beider feststellt: «Vida, e guerra, é o que é: esses tontos movimentos, só o contrário do que assim não seja» (GS 318).16 Der Widerspruch des Krieges besteht für Riobaldo darin, dass er ein Produkt tierischer Triebe im Menschen sei und seinem moralischen Verständnis zuwiderlaufe. «Vi: o que guerreia é o bicho, não é o homem» (GS 791).17 Dieser irrationale Charakter des Krieges äußert sich im Roman nicht zuletzt darin, dass die Reflexionen, die sonst die Erzählung Riobaldos stets durchdringen, in der Schilderung von Kampfszenen in Grande Sertão keinen Platz haben. Stattdessen ruft Riobaldo in solchen Situationen eine Reihe von ihm bekannten Sprichwörtern und Maximen auf, ohne sie zu reflektieren: «A carabina, em mãos, coisa mexedora» (GS 834).18 «A cabeça da gente é que dá voltas, mesmo no esconderijo, como para se desviar. Mas não se tem medo a gasto» (GS 834–835).19 «Um comanda é com o hoje, não é com o ontem» (GS 835).20 «A morte de cada um já está em edital» (GS 835).21 Diese Maximen erfüllen in den Schlachtszenen eine doppelte Funktion: Auf der sprachlichen Ebene empfinden diese kurzen, schlagkräftigen Sätze den Rhythmus des Kampfes nach. Auf der Figurenebene scheinen diese althergebrachten Weisheiten dem, der sie ausspricht, in der Kontingenz der Schlacht und damit in einer Situation, in der kein reflektiertes Handeln möglich ist, Halt und Orientierung zu bieten.
13 «Der Mensch verrät sich am meisten durch das, was er verbirgt.» (GSd S. 312). 14 «Was nicht sichtbar ist, hat mitunter größere Gewalt.» (GSd S. 446). 15 «Der übliche Grund einer Sache ist nicht ihr wahrer.» (GSd S. 326). 16 «Leben und Krieg sind ja nichts als verschlungene Gespinste, widersprüchliches Wirken, anrüchiger Anschein.» (GSd S. 214). 17 «Ich sah: Wer kämpft, ist das Tier in uns, nicht der Mensch.» (GSd S. 501). 18 «Ein Gewehr in der Hand ist ein rastloses Geschöpf.» (GSd S. 527). 19 «Selbst im Versteck verrenkt sich unwillkürlich der Kopf, wie um den Kugeln auszuweichen. Aber keiner verliert ihn.» (GSd S. 527). 20 «Man kommandiert heute, nicht gestern.» (GSd S. 527). 21 «Der Todestag eines jeden steht im Voraus fest.» (GSd S. 527).
4.1 João Guimarães Rosa: Grande Sertaõ
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Was einen Großteil der Aspekte verbindet, die in den Sinnsprüchen in Grande Sertão zur Sprache kommen, ist die Figur des Teufels in seiner Unberechenbarkeit und mit seinen unzähligen Gesichtern. So greift Riobaldo auch in einer seiner Beschreibungen des Lebens auf den Vergleich mit dem Teufel zurück: «A vida é muito discordada. Tem partes. Tem artes. Tem as neblinas de Siruiz. Tem as caras todas do Cão22, e as vertentes do viver» (GS 722).23 Viele Gesichter hat in Grande Sertão nicht nur der Teufel, sondern auch die Art und Weise, sich ihn innerhalb der erzählten Welt vorzustellen. Obwohl Riobaldo bereits zu Beginn seiner Laufbahn Zweifel an der Existenz des Teufels hegt, verkauft er ihm dennoch seine Seele, ohne zu wissen, ob der faustische Akt gelungen ist. Im Gegensatz zu den «moradores» (GS 4)24, die es nicht einmal wagen, den Namen des Teufels auszusprechen, scheut Riobaldo die Begegnung mit ihm nicht, denn, wie er dies in einer Maxime begründet, «[q]uem muito se evita, se convive» (GS 4).25 Riobaldos Zweifel gipfeln schließlich in der Einsicht, dass der Teufel, dem er sich verschrieben hat, nicht nur Herr der Täuschung, sondern selbst eine Illusion ist: «[E]ntão, a alma, a gente vende, só, é sem nenhum comprador …» (GS 693).26 Dass die Vorstellungen vom Teufel unterschiedlich, wandelbar und situationsgebunden sind, drückt sich in einem Fragment aus, das dem Roman vorangestellt ist und das sich innerhalb der Erzählung Riobaldos ständig wiederholt: «O diabo na rua, no meio do redemunho … (GS, z. B. 343).27 Die elliptische Struktur dieser kleinen Form gibt keinerlei Aufschluss über die Existenz oder Nicht-Existenz des Teufels. Statt zu definieren, was der Teufel ist oder tut, stellt sie lediglich dessen Präsenz fest – ob in realer oder imaginärer Form, bleibt dahingestellt. Der Roman wird somit nicht durch einen in sich geschlossenen Sinnspruch zusammengefasst, sondern durch eine fragmentarische Äußerung, die zahlreiche Deutungen offen lässt. Diese bildet eine mise en abyme der Struktur eines Romans, der weder eine kohärente Handlung aufweist noch eine zusammenhängende Weltsicht vermittelt. Diese Bruchstückhaftigkeit, die, ganz im Sinne des romantischen Fragments, die Lehrfunktion der Literatur
22 Gemeint ist hier wohl das dreiköpfige Ungeheuer Kerberos aus der griechischen Mythologie, das auch als Höllenhund bekannt ist und das Meyer-Clason hier mit «Teufelshund» übersetzt. 23 «Das Leben ist ein einziger Widerspruch. Es hat Arten, es hat Unarten, und die Sehnsucht des Sängers Siriuz [sic!]. Es hat alle Gesichter des Teufelshundes und die tausend Richtungen des Tuns.» (GSd S. 459). 24 «Leute[n] in der Gegend» (GSd S. 11–12). 25 «Was einer meidet, sitzt ihm erst recht im Nacken.» (GSd S. 12). 26 «Wir verkaufen unsere Seele, ohne dass es einen Käufer gibt …» (GSd S. 441). 27 «Der Teufel auf der Gasse, mitten im Wirbelwind …» (z. B. GSd S. 229, Hervorhebung im Original).
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4 Kleine Formen zwischen Lokalismus und Universalität
generell in Frage stellt,28 steht im Gegensatz zum didaktischen Anspruch zahlreicher kleiner Formen in Grande Sertão. Während diese aus der Mikroperspektive allgemeingültige Wahrheiten vermitteln, wird ihr universeller Gestus aus der Makroperspektive des Romans dekonstruiert. Die geäußerten Sinnsprüche zielen also nicht darauf ab, den Leser zu belehren, sondern geben Aufschluss über den eigenen Lernprozess des Erzählers. Dieses Primat des Lernens über das Lehren wird auch in der folgenden von Riobaldo geäußerten Maxime deutlich: «Mestre não é quem sempre ensina, mas quem de repente aprende» (GS 436).29 Die Sinnsprüche in Grande Sertão lassen sich auf drei verschiedenen Ebenen situieren. Aus der erlebenden Perspektive geäußert erweisen sie sich meist als Gemeinplätze oder unreflektierte Aussagen, die häufig alsbald korrigiert, verworfen oder durch ihren Kontext widerlegt werden. Aber auch als rhetorische Waffe in Wortduellen begegnen sie häufig. Einer der jagunço-Kumpanen Riobaldos ist Jequintinhão, ein «antigo capataz arrieiro, que só se dizia por ditados» (GS 450).30 Ob Riobaldo ihm wohl nacheifert, wenn er in einer Auseinandersetzung mit seinem Bandenführer Zé Bebelo um die richtige Kriegsstrategie gegen die verfeindete jagunço-Bande Sprichwörter anhäuft? «A maluqueira, Tatarana, isso que você está definindo…» Zé Bebelo me contestou. «Maluqueiras – é o que não dá certo. Mas só é maluqueira depois que se sabe que não acertou!»[…] «Um homem, para a façanha assim, só mesmo se…» «Sol procura é as pontas dos aços…’ eu cortei, sem meio medir o razoado».31 (GS 607–608)
Auch wenn Riobaldo, wie er hier selbst eingesteht, anstelle von wohlüberlegten Weisheitssprüchen Gemeinplätze daherplappert, scheint er sich mit seinem sentenzenhaften Sprechen zu einer Autorität innerhalb der Bande emporzuschwingen. Als eine Andacht abgehalten werden soll, bemerkt er: «Reza é começo de quaresma …» Os que riram, riram. Foram deixando de lado aquela mexida igrejeira. Apondo em balança, que é que isso me representava? Tudo eu palpava com os pés, nisso eu respingava um tardar» (GS 609).32 Die von Riobaldo zitierten
28 Vgl. Michael Braun: Fragment. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart: Kröner 2009, S. 281–286, hier S. 285. 29 «Meister ist nicht, wer immer lehrt, sondern wer rasch lernt.» (GSd S. 288). 30 «ein ehemaliger Eselstreiber, der nur in Sprichwörtern redete» (GSd S. 296). 31 «‹Was du da vorschlägst, Feuersalamander [gemeint ist Riobaldo, Anm. M.L.B.], ist der reine Wahnsinn …›, erwiderte Zé Bebelo. /‹Wahnsinn ist das, was nicht hinhaut. Ein Vorschlag ist erst Wahnsinn, wenn er fehlgeschlagen ist!› / […] / ‹Solch ein Wagnis bringt nur einer wie …› / ‹Die Sonne sucht sich Stahlspitzen aus …›, unterbrach ich ihn, ohne recht zu überlegen, was ich da sagte.›» (GSd S. 390, meine Hervorhebungen). 32 «Heute Gebet, morgen Lügengered …» Gelächter. Und schon war das fromme Getue zu Ende. Wenn ich alles abwog, was brachte mir das ein? Ich trat allen auf die Hühneraugen und
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Sprichwörter verfehlen ihre unmittelbare Wirkung offenbar nicht, rücken ihn aber auch in die Position des einsamen Schulmeisters. Andere Sinnsprüche sind eindeutig auf der Erzählebene lokalisiert, worauf im folgenden Zitat das Temporaladverb «hoje» («heute») hindeutet: «Ah, hoje, ah – tomara eu ter! Rir, antes da hora, engasga» (GS 584).33 Aus der erzählenden Perspektive dienen die Sinnsprüche Riobaldo häufig dazu, Erkanntes zu kondensieren, wobei sie keine praktischen Ratschläge vermitteln, sondern die Kontingenz des Lebens sowie die raum-zeitliche Relativität moralisch richtigen Handelns feststellen. Dies ist beispielsweise in der folgenden Maxime der Fall, in der Riobaldo sein Verhalten als jagunço aus der erzählenden Distanz reflektiert: «Digo: o real não está na saída nem na chegada: ele se dispõe para a gente é no meio da travessia. Mesmo fui muito tolo!» (GS 85).34 Riobaldos Kommentar macht die Spannung deutlich, in dem der durchlaufene Lernprozess steht: Der Verzicht auf ein teleologisches Bildungsergebnis («chegada») zugunsten gelebter Erfahrung («travessia») ist nicht mit dem Negieren einer Notwendigkeit des Lernens gleichzusetzen. Weisheit zu erlangen bedeutet demnach nicht, ein vorherbestimmtes Lernziel zu erreichen, sondern gerade in der Ziellosigkeit des Lebens, im Roman verkörpert durch die verwundenen Pfade des Sertão, die richtigen Entscheidungen zu treffen: «E que: para cada dia, e cada hora, só uma ação possível da gente é que consegue ser acerta» (GS 693).35 Eine weitere Maxime, die Riobaldo aus der erzählenden Perspektive äußert, schildert das Dilemma, in dem er sich befindet, als er sich mitten im Krieg gegen Hermógenes zwischen seiner Rolle als Befehlshaber und seiner Pflicht gegenüber seiner Verlobten Otacília hin- und hergerissen sieht: «Que diversas honras diferentes homem tem, umas às outras contrárias» (GS 811).36 Statt eines eindeutigen Ratschlags, an dem sich Riobaldo in seiner Unentschlossenheit
erreichte damit nur, dass der Abstand zwischen mir und ihnen immer größer wurde.» (GSd S. 390–391). 33 «Ach, heute – ich wollte, ich könnte es! Vorzeitig lachen nimmt einem die Luft weg. Wer vorzeitig lacht, verschluckt sich.» (GSd S. 376, meine Hervorhebung). 34 «Ich will damit sagen: das Wirkliche geschieht nicht im Aufbruch, nicht in der Ankunft: es begegnet uns mitten auf der Reise. Trotzdem war ich dumm!» (GSd S. 62). 35 «Es gibt für jeden Tag, für jede Stunde nur eine mögliche Handlung, durch die der Mensch das Richtige zu tun vermag.» (GSd S. 441). 36 «Der Mensch hat zweierlei Ehre, die eine ist der anderen feindlich gesinnt.» (GSd S. 513) Der hier aufgerufene Widerspruch zwischen zwei widerstreitenden ethischen Prinzipien erinnert an den Aphorismus von Julio Torri: «Todos tenemos dos filosofías: aquella cuyas ideas morales quebrantamos en nuestra conducta, a causa de nuestra voluntad frágil; y otra filosofía, más humana, con la que nos consolamos de nuestras caídas y flaquezas.» Julio Torri: Almanaque de las horas, S. 85. Vgl. Kap. 4.1.2.
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hätte orientieren können, gibt dieser Sinnspruch die Aporien des Lebens wieder. Dennoch ist auch die erzählende Perspektive nicht ganz frei von Gemeinplätzen: «Eu sei: nojo é invenção, do Que-NãoHá, para estorvar que se tenha dó» (GS 76).37 Dient die vorhergehende Maxime dem Erzähler dazu, sich innerlich von unangenehmen Erinnerungen zu distanzieren, so kann er mit der folgenden seinen Hochmut entschuldigen: «Fui louvado e dito valedor, certo nas idéias. Ao senhor confesso, desmedi satisfação, no ouvir aquilo – que assoprada na vaidade é a alegria que dá chama mais depressa e mais a ar» (GS 202).38 Oder: «[C]omo nenhum não citava o nome do Hermógenes. Aí estava direito – que no imigo, em véspera, não se proseia» (GS 824).39 Riobaldo greift also auf den Gemeinplatz zurück, dass man am Vorabend der Schlacht nicht vom Feind spricht, um die Widersprüchlichkeit einer Situation aufzulösen. Was aus einer erlebenden Perspektive heraus nicht zu bewältigen ist – «Falo por palavras tortas. Conto minha vida, que não entendi» (GS 701).40 – vermag das Denken und Sprechen in Maximen aus der Distanz zumindest teilweise in geordnete Bahnen zu lenken. Häufig vermischen sich erzählende und erlebende Perspektive, wie etwa in der folgenden regelrechten Flut von Weisheitsregeln: De homem que não possui nenhum poder nenhum, dinheiro nenhum, o senhor tenha todo medo! O que mais digo: convém nunca a gente entrar no meio de pessoas muito diferentes da gente. Mesmo que maldade própria não tenham, eles estão com vida cerrada no costume de si, o senhor é de externos, no sutil o senhor sofre perigos. Tem muitos recantos de muita pele de gente. Aprendi dos antigos. O que assenta justo é cada um fugir do que bem não se pertence. Parar o bom longe do ruim, o são longe do doente, o vivo longe do morto, o frio longe do quente, o rico longe do pobre. O senhor não descuide desse regulamento, e com as suas duas mãos o senhor puxe a rédea. Numa o senhor põe ouro, na outra prata; depois, para ninguém não ver, elas o senhor fecha bem. E foi o que eu pensei.41 (GS 553)
37 «Ich weiß: der Ekel ist die Erfindung des Anderen, um uns daran zu hindern, dass wir Mitleid haben.» (GSd S. 58). 38 «Ich wurde gelobt und als ein Mann mit klarem Kopf gewürdigt. Ich gestehe, Senhor, ich platzte vor Befriedigung, als ich das hörte, denn die von der Eitelkeit ausgelöste Freude schlägt am raschesten Flammen.» (GSd S. 139, meine Hervorhebung). 39 «Keiner nahm den Namen des Hermógenes in den Mund. Und das war gut – am Vorabend der Schlacht spricht man nicht vom Feind.» (GSd S. 520, meine Hervorhebungen). 40 «Ich spreche verdreht, verzwickt. Ich erzähle Ihnen mein Leben, das ich nicht begriff.» (GSd S. 446). 41 «Man nehme sich in Acht vor Menschen, die kein Geld und keine Macht haben. Und noch etwas: Man mische sich nicht unter Menschen, die sehr verschieden von uns sind. Selbst wenn sie nicht eigentlich böswillig sind, so führen sie doch ein so abgeschlossenes Leben, dass einer, der von außen kommt, nur in Gefahren gerät, die er nicht ahnt. Es gibt viele Winkel auf der Erde, wo die Leute ihre eigene Haut haben. Auch das habe ich bei Menschen der alten
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Die geringschätzige Rückschau «So dachte ich.» setzt die Aufforderung «Halten Sie sich an diese Regeln, Senhor» außer Kraft und macht die mangelnde Anwendbarkeit der abgegriffenen Redewendungen deutlich. Dass sich Riobaldo auch im Alter noch nicht von erlernten Gemeinplätzen hat lösen können, zeugt davon, dass seine Suche nach einer verbindlichen Verhaltensnorm zum Zeitpunkt des Erzählens noch immer nicht abgeschlossen ist. Schließlich sind einige Sinnsprüche in Grande Sertão auf einer metareflexiven Ebene zu finden, etwa dann, wenn der Autor Riobaldo Maximen in den Mund legt, mit denen er das Verhältnis von Fiktion und Realität reflektiert: «A quanta coisa limpa verdadeira uma pessoa de alta instrução não concebe! Aí podem encher este mundo de outros movimentos, sem os erros e volteios da vida em sua lerdeza de sarrafaçar» (GS 112).42 Rosa stellt hier dem aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriff die «Verirrungen und Verrenkungen» seines Protagonisten gegenüber und nimmt damit von jeglicher Exemplarität im klassischen Sinne Abstand. Dass er somit einem didaktischen Anspruch entsagt, wird durch die mangelnde Bildung seines Erzählers unterstrichen. Dieser bezeichnet sich mehrfach als unwissend, was er jedoch an einer Stelle als Vorteil auslegt und auch dies mit einer Maxime begründet: «Sou um homem ignorante. Gosto de ser. Não é só no escuro que a gente percebe a luzinha dividida?» (GS 435).43 Und: «Não podendo entender a razão da vida, é só assim que se pode ser vero bom jagunço …» (GS 819).44 Gerade die Tatsache, ungebildet zu sein, ermöglicht Riobaldo eine Sicht auf die Wirklichkeit, die dem Gelehrten verborgen bleibt: «Essas desordenadas da vida da gente: tudo o que estoura manso e guampa quieto, e que só tem a razoável explicação para quem está mesmo longe dos motivos» (GS 697).45 Wirkliche Weisheit bedeutet für den Erzähler, damit aufzuhören, in den Kontingenzen des Lebens metaphysische Zusammenhänge erkennen zu wollen.
Zeit gelernt. Drum ist es klug, die zu fliehen, die nicht zu uns passen. Halte das Gute weit weg vom Schlechten, das Gesunde vom Kranken, den Lebendigen vom Toten, den Reichen weit ab vom Armen. Halten Sie sich an diese Regeln, Senhor, und ziehen Sie mit beiden Händen am Zügel. Legen Sie Gold in die eine, Silber in die andere Hand, und halten Sie sie gut geschlossen, damit es niemand sieht. So dachte ich.» (GSd S. 357). 42 «Wie viel Wahres einer, der was Richtiges studiert hat, doch erfinden kann! Auf solche Weise kann einer die Welt ganz anders füllen, ohne die Verirrungen und Verrenkungen des Lebens mit seinem törichten Getue.» (GSd S. 82). 43 «Ich bin ein unwissender Mensch, ich bins gern. Erkennt man das kleinste Lichtlein nicht erst richtig im Dunkeln?» (GSd S. 287). 44 «Nur wenn einer den Sinn des Lebens nicht begreift, kann er wahrhaftig ein guter Jagunço sein.» (GSd S. 518). 45 «Alle Wirrnis in unserem Leben, das, was sich unauffällig regt und lautlos zutage tritt, wird nur Menschen offenbar, die von den geistigen Ursachen nichts ahnen.» (GSd S. 443).
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4.1.2 Sertão und Gesetz Mit der Abwertung geistiger Ursachen geht in Grande Sertão die Dekonstruktion traditioneller Dichotomien einher. So versucht Riobaldo vergeblich, das Gute und das Böse, das mit der Thematik um Gott und Teufel korreliert, voneinander zu trennen. Lediglich Jõe Bexiguento, einem «[d]uro homem jagunço» (GS 307),46 scheint dies zu gelingen. «Deus a gente respeita, do demônio se esconjura e aparta …» (GS 307),47 sagt er. Die Charakterisierung Bexiguentos qualifiziert diesen wohl kaum als Autorität, die allgemeingültige Aussagen über die Welt glaubhaft vermitteln könnte. Deshalb verwundert es auch nicht, dass seine Maxime Riobaldo keine befriedigende Antwort auf die ihn quälende Frage nach der Existenz und dem Wesen des Teufels geben kann. Als Riobaldo gegen Ende des Romans erkennen muss, dass der Teufel, dem er sich verschrieben hat, gar nicht existiert, sieht er auch die raum-zeitliche Relativität der Kategorien von Gut und Böse ein. «Para cada dia, e cada hora, só uma ação possível da gente é que consegue ser a certa» (GS 693).48 Allerdings, so sinniert er weiter, sei es schwer, diese richtige Handlung in der gegebenen Situation zu erkennen, was dazu führe, dass sich der Mensch in einer Reihe von falschen und verfehlten Handlungen verstricke. Riobaldos Ethik ist ambivalent: Einerseits muss sich richtiges Handeln frei von übergeordneten Prinzipien aus der konkreten Situation heraus ergeben, zugleich geht er jedoch von jeweils nur einer möglichen korrekten Handlung und damit von der Existenz eines verborgenen Maßstabes aus. In dieser Spannung zwischen der Ablehnung prästabilierter Handlungsgrundsätze und der gleichzeitigen Voraussetzung ihrer Existenz bewegt sich der gesamte Monolog des Erzählers. Só o que eu quis, todo o tempo, o que eu pelejei para achar, era uma só coisa – a inteira – cujo significado e vislumbrado dela eu vejo que sempre tive. A que era: que existe uma receita, a norma dum caminho certo, estreito, de cada uma pessoa viver – e essa pauta cada um tem – mas a gente mesmo, no comum, não sabe encontrar; como é que, sozinho, por si, alguém ia poder encontrar e saber? Mas, esse norteado, tem. Tem que ter. Se não, a vida de todos ficava sendo sempre o confuso dessa doideira que é.49 (GS 692–693)
46 «hartgesottene[n] Jagunço» mit einem «begrenzten Horizont» (GSd S. 207). Im Original: «a idéia dele era curta» (GS S. 307). 47 «Der Mensch achtet Gott, den Teufel aber beschwört er und treibt ihn aus …» (GSd S. 207). 48 «Es gibt für jeden Tag, für jede Stunde nur eine mögliche Handlung, durch die der Mensch das Richtige zu tun vermag.» (GSd S. 441). 49 «Ich hatte die ganze Zeit angestrengt eines zu finden gesucht, ein Ganzes, dessen Bedeutung – das sehe ich jetzt – ich immer annähernd begriffen hatte: dass es das Rezept, die Norm, für einen rechten, engen Weg gibt, nach dem ein jeglicher leben soll, einen Pfad, den er meist nur nicht findet. Wie soll man ihn auch allein finden, wissen? Trotzdem gibt es eine derartige
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Für diesen Versuch des Protagonisten – und des Menschen generell –, gültige moralische Richtlinien zu finden, stehen die Maximen in Grande Sertão.50 Sie sind Ausdruck der Suche nach einem Rezept, einer Norm, einer Weisung, die dem Erzähler-Protagonisten in einer unberechenbaren Welt – geographisch realisiert im Sertão – Halt und Orientierung bieten könnten. Damit nimmt Rosa einen zentralen Aspekt des Erziehungsromans im 18. Jahrhundert auf, in dem Aphorismen und Maximen als Anleitung zum Selbstlernen dienen.51 War die ‹Sentenz› dort, wie Geoffrey Bennington52 am Beispiel des französischen Romans gezeigt hat, Ausdruck der legislativen Grundlage, auf die sich der Romandiskurs stützte, so verweist die betont übertriebene und häufig widersprüchliche Verwendung von Sinnsprüchen und deren Öffnung hin zum Fragment in Grande Sertão gerade auf das Fehlen einer moralischen Norm. Im Gegensatz zur Unmöglichkeit, eine verbindliche Lebensregel zu finden, fällt es Riobaldo umso leichter, die im Sertão gültigen Gesetze zu formulieren. Dabei geht es nicht etwa um soziale oder politische Normen des Zusammenlebens, sondern um den Menschen in seiner Beziehung zur Umwelt: «O sertão não tem janelas nem portas. E a regra é assim: ou o senhor bendito governa o sertão, ou o sertão maldito vos governa …» (GS 709).53 Während sich die Suche nach einem Patentrezept für das Leben als äußerst komplex, ja aussichtslos erweist, lässt sich das Gesetz des Sertão in einer einzigen Maxime zusammenfassen, auch wenn diese sich darauf beschränkt, seine Unberechenbarkeit festzustellen. Anstelle metaphysischer Größen wie Gott und Teufel wird der Sertão in seiner tellurisch-mythischen Dimension54 zur regierenden Instanz. Insgesamt wirken die Maximen, in denen Riobaldo Aussagen über den Sertão trifft, anders als seine handlungsorientierten Weisheitssprüche, meist zutreffend und mit der Erfahrung
Weisung, es muss sie geben. Sonst bleibt unser Leben für immer jenes wahnwitzige Durcheinander, das es ist.» (GSd S. 440–441). 50 Vgl. Thomas J. Braga: Maxims in Grande Sertão: Veredas. In: Modern Language Studies 22, 3 (1992), S. 76–83, hier S. 83. 51 So etwa bei Rousseau, der in Émile Maximen, Aphorismen und Axiomen eine zentrale Bedeutung bei der Schulung eines moralischen und religiösen Empfindens sowie der Entwicklung intellektueller, sozialer und praktischer Fähigkeiten beimisst. Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Autodidaxie. In: Iwan-Michelangelo D’Aprile/Stefanie Stockhorst (Hg.): Rousseau und die Moderne. Eine kleine Enzyklopädie. Göttingen: Wallstein 2013, S. 21–33, hier S. 27–28. 52 Geoffrey Bennington: Sententiousness and the Novel: Laying down the Law in EighteenthCentury French Fiction. Cambridge: Cambridge University Press 1985. 53 «Der Sertão hat weder Fenster noch Türen. Und sein Gesetz lautet: Entweder du bist gesegnet und regierst den Sertão oder der Sertão ist verwünscht und regiert dich …» (GSd S. 450–451). 54 Vgl. Curt Meyer-Clason: Der Sertão des Guimarães Rosa, S. 258.
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des Protagonisten vereinbar. Dies liegt daran, dass Riobaldo für sich begriffen hat, dass die Ordnung des Sertão gerade in der Unordnung, sein Gesetz gerade in der Willkür liegt. Wie im vorherigen Beispiel wird der Sertão in einer Reihe von weiteren Maximen, die ihn in seiner Unberechenbarkeit, Verschlagenheit und Unzähmbarkeit schildern, mit einer Person oder einem Tier gleichgesetzt: Homem a pé, esses Gerais comem.55
(GS 527)
Todos que malmontam no sertão só alcançam de reger em rédea por uns trechos; que sor(GS 532) rateiro o sertão vai virando tigre debaixo da sela.56 Sertão, – se diz –, o senhor querendo procurar, nunca não encontra. De repente, por si, quando a gente não espera, o sertão vem.57 (GS 541)
Der Sertão wird in diesen Sinnsprüchen, vor allem im letzten, zur Personifikation des Schicksals, das den Menschen unerwartet und ohne dessen Zutun ereilt. Neben dieser Funktion des Sertão als handelnder und lebensbestimmender Instanz stellen die Pfade (veredas) durch das halbwüstenartige Binnenland ein Sinnbild der moralischen Suche Riobaldos dar. Allerdings spielt sich das Ringen um das richtige Handeln nicht in dem allegorischen Raum ab, als den Braga den Sertão in Rosas Roman charakterisiert.58 Tatsächlich legen einige Maximen über den Sertão nahe, dass es sich um einen Raum handelt, der geographisch gar nicht existiert: «O Sertão é sem lugar» (GS 500).59 «Sertão: é dentro da gente» (GS 435).60 Allerdings wird diese Universalität in den unzähligen realistischen Darstellungen des Sertão und seiner Bewohner teilweise wieder aufgehoben. Wenn Riobaldo und seine jagunços von Sempre-Verde abreiten, sich «so nahe wie möglich an den São Francisco halten, bis nach Jequitaí» (GSd 266), an die Amargoso-Lagune und nach sieben Léguas an einen Wasserfall des Gorutuba gelangen, zwischen Quem-Quem und Solidão biwakieren, etc., dann bewegen sie sich durch einen geographisch recht präzise lokalisierbaren Raum. Auch einzelne regional gefärbte Sinnsprüche bewirken eine geographische Verankerung
55 «Wer sich zu Fuß in die Gerais wagt, den fressen die Gerais.» (GSd S. 343). 56 «Jeder, der den Sertão nach seinem Willen zügeln und gängeln will, hält sich nur eine Weile im Sattel, aber insgeheim verwandelt sich der Sertão unter ihm in einen Tiger.» (GSd S. 345). 57 «Sertão – so heißt es – findet man nicht, solange man ihn sucht. Plötzlich aber, wenn man es am wenigsten vermutet, kommt der Sertão ganz von allein.» (GSd S. 351). 58 Vgl. Thomas J. Braga: Maxims in Grande Sertão: Veredas, S. 77. 59 «Der Sertão ist ortlos.» (GSd S. 362). 60 «Sertão – der ist innen im Menschen.» (GSd S. 287).
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der Erzählung, etwa wenn sie auf lokale Toponomien zurückgreifen, wie in dem Sprichwort «Que até capivara se senta é para pensar – não é para se entristecer.» (GS 362)61 Oder in dem Sprichwort, mit dem Riobaldo sein sexuelles Verlangen nach Diadorim/Diadorina rechtfertigt: «Andorinha que vem e que vai, quer é ir bem pousar nas duas torres da matriz de Carinhanha …» (GS 443).62 Wie der vorhergehende ist auch der folgende Sinnspruch, der seine Metaphorik der brasilianischen Flora entlehnt und der auf Riobaldos zahlreiche Liebschaften anspielt, sexuell konnotiert: «O buriti é das margens, ele cai seus cocos na vereda – as águas levam – em beiras, o coquinho as águas mesmas replantam; dai o buritizal, de um lado e do outro se alinhando, acompanhando, que nem que por um cálculo» (GS 535).63 Die hochgewachsene brasilianische Burití-Palme dient auch noch in weiteren Sinnsprüchen als Metapher: «O que é que buriti diz? É: – Eu sei e não sei … Que é que o boi diz: – Me ensina o que eu sabia … Bobice de todos» (GS 570).64 Mithilfe der Gegenüberstellung der Burití-Palme und des Ochsen lassen sich die gesamten Sinnsprüche des Romans in zwei Kategorien einteilen, die noch einmal die Spannung zwischen dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und der NichtExistenz universeller Wahrheiten deutlich machen: Die Burití-Palme steht in ihrem Oszillieren zwischen Wissen und Nicht-Wissen für diejenigen Sinnsprüche, die die Aporien des Lebens kundtun und der Ochse für diejenigen, die unbestritten anerkannte Wahrheiten wiederholen. Solche Gemeinplätze erscheinen im Roman nicht nur als wenig zielführend, sondern vermögen jegliche wirkliche Weisheit zunichte zu machen, wie Riobaldos Beschreibung eines toten Flusslaufs zeigt: Só esta coisa o senhor guarde: meia-légua dali, um outro corgo – vereda, parado, sua água sem – cor por sobre de barro preto. Essas veredas eram duas, uma perto da outra; e logo depois, alargadas, formavam um tristonho brejão, tão fechado de moitas de plantas, tão apodrecido que em escuro: marimbus que não davam salvação. Elas tinham um nome conjunto – que eram as Veredas-Mortas. O senhor guarde bem.65 (GS 570–571)
61 «Selbst wenn ein Capivara [Bewohner einer Ortschaft im Staat Pernambuco, Anm. M.L.B.] sich setzt, so geschieht es zum Nachdenken, nicht zum Trauern.» (GSd S. 242). 62 «Eine Schwalbe, die dauernd unterwegs ist, will hin und wieder auf den beiden Kirchtürmen von Carinhanha nisten.» (GSd S. 292). 63 «Der Burití wächst immer am Flussufer, er lässt seine Samenkerne ins Wasser fallen, die Strömung nimmt sie mit, setzt sie an den Ufern ab und pflanzt sie dort entlang. Drum begleitet ein Buritíhain seinen Fluss stets auf beiden Seiten, fast als sei es so geplant.» (GSd S. 347). 64 «Was sagt der Burití? Dies: Ich weiß und weiß nicht … Was sagt der Ochse: Lehre mich, was ich schon weiß. Lauter Dummheiten.» (GSd S. 368). 65 «Behalten Sie nur dies: Eine halbe Légua entfernt rann das farblos [sic!] Wasser eines anderen Baches über schwarzen Schlamm. Die beiden Flüßchen flossen eine Weile nebeneinander
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Die Eindringlichkeit, mit der Riobaldo die Beschreibung in seine Erzählung einbettet («Behalten Sie nur dies»; «Vergessen Sie den Namen nicht!»), unterstreicht die zentrale Bedeutung der Metapher der toten Flussläufe für den Roman. Dort, wo Weisheiten allein wegen ihrer allgemeinen Akzeptanz geglaubt werden, verhindern sie ein angemessenes Erfassen von Situationen und folglich korrektes Handeln. Fehlerlose Entscheidungen müssen aus jeder Situation heraus neu getroffen werden und nicht aufgrund von überliefertem Wissen oder geistigen Prinzipien. In der regionalen Färbung einiger Sinnsprüche,66 die zugleich universelle Aussagen zu treffen beanspruchen, spiegelt sich die Spannung zwischen Lokalismus und Universalität wider, die charakteristisch für zahlreiche Werke der brasilianischen Literatur ist, und die Rosa in seinem Roman auf die Spitze treibt. Der Sertão ist weder ein rein allegorischer noch ein rein geographischer Raum, sondern birgt die beiden Ebenen von lokaler Erfahrung und universeller Geltung in sich. Er ist zwar einerseits geographisch lokalisierbar, steht aber zugleich als Prototyp für sämtliche Orte auf der Welt, an denen Gewalt und Hinterhältigkeit regieren, wie die Sinnsprüche nach dem Muster «Sertão ist da, wo …» zeigen: [S]ertão é onde manda quem é forte, com as astúcias. Deus mesmo, quando vier, que (GS 19) venha armado!67 Sertão é onde homem tem de ter a dura nuca e mão quadrada.68
(GS 148)
hin, dann verbreiterten sie sich zu einem trostlosen Tümpel, zugewachsen von Pflanzengewirr, düster und faulig, ein weicher, bodenloser Morast, der alles verschluckte. Sie hatten einen gemeinsamen Namen: Veredas-Mortas – Tote Flußläufe. Vergessen Sie den Namen nicht!» (GSd S. 368). 66 Im Sertão vermischte sich das Portugiesische mit Elementen der Indio- und Bantu-Sprachen und erlebte eine Art neue Primitivität, die sich in Minas Gerais dank der isolierten Lage der Region fast unberührt erhalten konnte. Vgl. Curt Meyer-Clason: Der Sertão des Guimarães Rosa. Allerdings möchte sich Rosa nicht auf Regionalismen festlegen, sondern ist auf der Suche nach einer universellen Sprache, wie er in einem Brief vom 3. November 1964 schreibt: «Ich bin kein Brasilianisierer. Im Gegenteil, vielleicht ziehe ich die Schreibweise Portugals, die stärkere, konkretere, kompaktere und saftigere vor […] Ich will alles: das Minensische, das Brasilianische, das Portugiesische, das Lateinische – vielleicht sogar das Idiom der Eskimos oder Tartaren. Ich möchte die Zunge, die man vor Babel sprach.» Zit. n. Curt Meyer-Clason: Der Sertão des Guimarães Rosa, S. 262. 67 «Sertão ist da, wo Faust und Verschlagenheit das Regiment führen. Auch Gott, sollte er sich hierherwagen, soll lieber eine Knarre mitbringen!» (GSd S. 22). 68 «Sertão ist da, wo einer den Nacken hinhalten und blitzschnell zuschlagen muss.» (GSd S. 105).
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Sertão é isto: o senhor empurra para trás, mas de repente ele volta a rodear o senhor dos lados. Sertão é quando menos se espera; digo.69 (GS 402)
Allerdings sind die halbwüstenartigen Landschaften des Sertão durchaus auch positiv konnotiert. So bemerkt Riobaldo, als er während eines Tagesmarschs an der Seite Diadorims von einem Glücksgefühl durchströmt wird: «Sertão foi feito é para ser sempre assim: alegrias!» (GS 719).70 Dass der Sertão jedoch auch hier als Metapher für das Leben zu lesen ist, zeigt die vorhergehende Maxime «Travessia – do Sertão – a toda travessia» (GS 719).71 Analog zur Spannung zwischen geographischer Lokalisierbarkeit und allegorischer Universalität, in der die Darstellung des Sertão steht, bewegen sich auch die Sinnsprüche in Grande Sertão zwischen individueller Erfahrung und universeller Generalisierbarkeit, wie aus dem Kontext der beiden zitierten Sinnsprüche hervorgeht. Ihnen geht eine Reflexion Riobaldos voraus, in der er die von Diadorim geäußerte Maxime «Se carece de ter muita coragem.» (GS 718)72 als Binsenwahrheit abtut: «era só uma recordação, assim um fraseado verdadeiro, ditado da vida. O que não fosse destinado para ele nem para mim, mas que era para todos. Ou, então, sendo para mim, mas em outros passados, de primeiro» (GS 718–719).73 Riobaldos Überlegungen machen die drei Ebenen, auf denen ein Sinnspruch Gültigkeit erlangen kann, deutlich: eine individuelle («sendo para mim»), eine kollektive («em outros passados») und eine universelle Ebene («para todos»). Allerdings heben sich die individuelle in der kollektiven und die kollektive in der universellen Dimension auf, sodass die Sinnsprüche zu leeren Floskeln werden, die für Riobaldos individuelle Suche kaum wegweisend sind. Es sind Antworten auf Fragen, «die [er] nicht stellte» (GSd 456). Kann der universelle Geltungsanspruch der von Diadorim geäußerten Maxime der individuellen Erfahrung Riobaldos also nicht standhalten, so erscheint die universelle Dimension des Sertão sehr wohl mit seiner geographischen Realität vereinbar. Rosas Sertão lässt sich bald geographisch, bald im Innern des Menschen, bald an jedem beliebigen Ort lokalisieren und wird schließlich zum Sinnbild für die ganze Welt. Das Verhältnis zwischen Sertão und Welt besteht
69 «Sertão ist dies: Man glaubt, man habe ihn hinter sich und schon ist er wieder da und dringt von allen Seiten auf einen ein. Sertão ist da, wo man ihn am wenigsten erwartet.» (GSd S. 266). 70 «Der Sertão ist dazu gemacht, eines zu sein: Freude.» (GSd S. 457). 71 «Die Reise durch den Sertão ist die Reise durchs Leben.» (GSd S: 457). 72 «Man muß viel Mut haben …» (GSd S. 465, Hervorhebung im Original). 73 «… nur eine Erinnerung, eine Redensart, erlernt vom Leben. Es ging weder ihn noch mich im Einzelnen etwas an, sondern die ganze Welt. Wenn es aber mir galt, so hatte er es früher schon zu anderen gesagt.» (GSd S. 456–457).
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nicht lediglich in einer Ähnlichkeitsrelation, sondern in einer realen räumlichen Beziehung. Dabei ist die Substitutionsbeziehung umkehrbar: «O Sertão é do tamanho do mundo» (GS 96)74 und die ganze Welt ist ein Sertão: «E nisto, que conto ao senhor, se vê o Sertão do mundo» (GS 484).75 In beiden Varianten hebt Riobaldo seine lokale und individuelle Erfahrung auf eine universelle Ebene, indem er den Raum, in dem sie sich abspielt, mit der Welt gleichsetzt. Die Kühnheit dieser Metonymie liegt darin, dass der von Rosa gewählte geographische Raum nicht etwa eines der kosmopolitischen Zentren darstellt, sondern ausgerechnet eine Region Brasiliens, die sich international kaum geöffnet hat und die mit Euclides da Cunhas literarischer Reportage Os Sertões (1902) zu einem Symbol des brasilianischen Nationalismus geworden ist. Vor diesem Hintergrund lesen zahlreiche Kritiker Grande Sertão als Interpretation oder Repräsentation von Brasilien.76 Antonio Cândido geht einen Schritt weiter, wenn er die Dokumentation der «vida sertaneja» und die mit ihr verbundene Psychologie des Ländlichen dank der Fiktion auf eine universelle Ebene gehoben sieht.77 Doch nicht nur der Fiktion, sondern in beträchtlichem Maße auch den vom Autor verwendeten Sprichwörtern und Maximen verdankt sich die universelle Dimension von Grande Sertão. Als Diskurselement, das Einzelerfahrungen mit deren Abstraktion zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten verbindet, bekräftigt der Sinnspruch durch sein häufiges Auftreten in Grande Sertão die Spannung des Romans zwischen Regionalismus und Kosmopolitismus, zwischen lokaler Erfahrung und universellem Geltungsanspruch.
4.1.3 Sinnspruch und Erzählung Mit der Aussage, dass in seinen Erlebnissen im Sertão die gesamte Welt sichtbar werde, beansprucht Riobaldo für seine Erzählung Exemplarität und stilisiert sich somit zum Erzähler im Sinne Walter Benjamins. Laut dessen berühmt gewordener These, die er in seinem 1936 erschienenen und in Lateinamerika breit rezipierten Essay «Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows» vertritt,78 würden die großen Erzähler dadurch unsterblich, dass sie mit
74 «Der Sertão ist so groß wie die Welt.» (GSd S. 71). 75 «In dem, was ich Ihnen erzähle, Senhor, sehen wir den Sertão der Welt.» (GSd S. 317). 76 Vgl. Claudia C. Soares: Grande Sertão: Veredas: A crítica revisitada, S. 136. 77 Vgl. Antônio Cândido: O homem dos avessos. In: Eduardo Coutinho (Hg.): Guimarães Rosa. Rio de Janeiro: Civilização Brasileira 1983, S. 294–299, hier S. 295. 78 Zur Benjamin-Rezeption in Lateinamerika siehe Horst Nitschack: Walter Benjamin in Lateinamerika: Eine widersprüchliche Erfolgsgeschichte. In: Peter Birle/Friedhelm Schmidt-Welle
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ihren Geschichten eine kollektive Erfahrung kommunizierbar machten. «Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören.»79 Diese «Kunst des Erzählens»80 gehe mit der Entstehung des Romans verloren, da er «aus mündlicher Tradition weder kommt noch in sie eingeht.»81 Rosa knüpft auf unterschiedliche Weise an die Benjamin’sche Konzeption des Erzählers an. Zum einen bezieht er den Stoff seines Romans aus der Erfahrung anderer, indem er wie ein Ethnologe die Region des Sertão bereist und sich Notizen von mündlichen Berichten macht. Zum anderen beruft er sich explizit auf den karolingischen Sagenstoff und damit auf das Substrat einer mündlich überlieferten Epik. Der Gedanke vom Erzähler als Stimme einer Kommunität findet sich auch in Rosas Erzählungen Primeiras Estorias (1962), in denen ein Erzähler zwischen der ersten Person Singular und der ersten Person Plural schwankt und so eine Gemeinschaft adressiert, in deren Namen er auch spricht. Diese kollektiv ausgerichtete Mündlichkeit greift Rosa in Grande Sertão auf, um sie ironisch zu brechen und so die These Benjamins zu bestätigen: Das moderne Individuum vermag sich in seiner Isolation nicht mehr «exemplarisch auszusprechen»,82 es ist nicht mehr in der Lage, seine Erfahrungen so zu artikulieren, dass sie dem Leser in dessen Erfahrungswelt Wegweisung geben könnten. Diese Diskrepanz zwischen der Erfahrungswelt des Erzählers und derjenigen des Lesers findet im Roman ein Pendant im starken Bildungsunterschied zwischen Riobaldo und seinem Gegenüber, der einen gelehrten urbanen Leser verkörpert. Die exzessive Verwendung von Sprichwörtern durch den Erzähler in Grande Sertão steht für den Versuch, aus individuell Erlebtem in Form von exemplarischen Aussagen Weisheit zu generieren und das Erlebte zur Erfahrung seines Gegenübers zu machen. Dies gelingt Riobaldo allerdings nur bedingt: Die formulierten Sinnsprüche stehen häufig im Widerspruch zum Erlebten, geben Binsenweisheiten wieder, werden vom Erzähler fehlgedeutet oder widerrufen.
(Hg.): Wechselseitige Rezeptionsprozesse Deutschlands und Lateinamerikas im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Vervuert 2007, S. 47–77. In einem Interview gibt Rosa kurz vor seinem Tod im Jahr 1967 bekannt, dass Walter Benjamin neben anderen Autoren wie Júlio Dantas, Fernando Camacho, Goethe, Rubem Braga, Magalhaes Júnior, Machado de Assis und Eça de Queirós sein Werk beeinflusst habe. Vgl. Fernando Camacho: Entrevista com João Guimarães Rosa. In: Humboldt 18, 37 (1978), S. 42–53, hier S. 52. 79 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders.: Illuminationen. Hg. von Siegfrid Unseld, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 409–436, hier S. 413. 80 Ebda., S. 409. 81 Ebda., S. 413. 82 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, S. 413.
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So erscheinen einige Sinnsprüche in Grande Sertão semantisch verzerrt, wie etwa der folgende: «Bem, o diabo regula seu estado preto, nas criaturas, nas mulheres, nos homens. Até: nas crianças – eu digo. Pois não é ditado: ‹menino – trem do diabo›?» (GS 7).83 Der Erzähler missdeutet das Sprichwort, indem er seine Metaphorik verkennt und es stattdessen wörtlich liest. An anderer Stelle nimmt Riobaldo die Anwendung eines Sprichwortes zurück: «Anta entra n’água, se rupeia. Mas, não. Era não» (GS 204).84 Einige Sinnsprüche werden nur implizit revidiert, etwa dann, wenn Riobaldo seine Zuneigung zu Diadorim kommentiert: «As prisões que estão refincadas no vago, na gente» (GS 445).85 Dieser Ausspruch erweist sich in dem Moment als falsch, in dem Diadorim sich als Frau entpuppt, was Riobaldos Zuneigung zu ihm/ihr erklärt. Nicht seine scheinbar homosexuellen Neigungen fesselten ihn an Diadorim, sondern die weiblichen Reize seiner Weggefährtin. Der Grund für die Revidierung von geäußerten Maximen liegt häufig darin, dass die in ihnen ausgedrückte verallgemeinerte Erfahrung sich nicht mit derjenigen Riobaldos deckt, wie er im Hinblick auf die folgende Maxime feststellt: «Alegria do jagunço é o movimento galopado Alegria! Eu disse? Ah, não, eu não. O senhor de repente rebata essa palavra, devolvida, de volta para os portos da minha boca …» (GS 809).86 Der Widerspruch zwischen Doxa und Praxis wird auch dann offensichtlich, wenn Riobaldo die geäußerten Maximen ungewollt durch sein Verhalten widerlegt: «[C]avalo são desdenha de dormir, o senhor sabe: bicho que só come, come, come. O sono me conseguiu. Ferrei em mais de umas duas horas» (GS 818).87 Vereinzelt geht der Erzähler sogar so weit, seine Sinnsprüche als Irrgedanken zu bezeichnen. «Tempo é a vida da morte: imperfeição. Bobices minhas – o senhor em mim não medite» (GS 844).88 Riobaldos Maximen wirken also häufig deshalb unbeholfen, weil sie entweder ins Unreine gesprochene, nicht verallgemeinerbare Gedanken sind oder weil sie abgegriffenen Redensarten entsprechen, die der Erzähler unreflektiert wiedergibt. In den Sinnsprüchen kondensiert sich somit eine Vielstimmigkeit
83 «Somit übt der Teufel also seine dunkle Herrschaft in den Geschöpfen aus, in Frauen und Männern. Sogar in Kindern, behaupte ich. Gibt’s denn nicht das Sprichwort: ‚Ein Kind – ein Teufelsbraten?›» (GSd S. 14). 84 «Der Tapir springt ins Wasser und schaudert. Aber nein. Das war es nicht.» (GSd S. 141). 85 «Die Gefängnisse sind tief verankert im vagen, in uns selbst.» (GSd S. 293). 86 «Die Freude des Jagunço ist der Galopp. Freude! Habe ich das gesagt? Ach nein, nicht für mich. Bitte Senhor, stecken Sie dieses Wort wieder in meinen Mund zurück.» (GSd S. 511). 87 «Ein gesundes Pferd, wie Sie wissen, braucht keinen Schlaf, es will nur fressen, fressen, fressen. Der Schlaf übermannte mich, etwa zwei Stunden lang schloss ich fest die Augen.» (GSd S. 517). 88 «Zeit ist das Leben des Todes: Unvollkommenheit. Wieder meine alten Irrgedanken – achten Sie nicht darauf.» (GSd S. 533).
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des Romans, in der sich unterschiedliche Ansichten behaupten, vermischen und widersprechen, wie Riobaldo an einer Stelle selbst eingesteht: «A opinião das outras pessoas vai se escorrendo delas, sorrateira, e se mescla aos tantos, mesmo sem a gente saber, com a maneira da idéia da gente!» (GS 660).89 Eine solche unbemerkte Vermischung fremder und eigener Ansichten artikuliert sich in der folgenden Maxime, die, entgegen der Aussage des Erzählers, als gedankenlos dahergesagte Floskel wohl kaum dessen eigenen Standpunkt wiedergibt: «Pessoa limpa, pensa limpo. Eu acho» (GS 199).90 Der allzu oberflächliche Rückschluss von der äußeren Erscheinung auf das Innenleben steht im Widerspruch zu Riobaldos Innerlichkeit wie sie sich in seinen unzähligen Reflexionen äußert. Anders als im vorliegenden Fall erprobt der Erzähler häufig überlieferte Vorstellungen, indem er sie an seine individuelle Erfahrung rückbindet. Dass dies eine Korrektur der Doxa bewirken muss, führt die folgende Passage, die mit einer Lebensweisheit aus dem Munde Diadorims einsetzt, vor Augen: Não sabe que quem é mesmo inteirado valente, no coração, esse também não pode deixar de ser bom?!» Isto ele falou. Guardei. Pensei. Repensei. Para mim, o indicado dito, não era sempre completa verdade. Minha vida. Não podia ser. Mais eu pensando nisso, uma hora, outra hora. Perguntei ao compadre meu Quelemém. – «Do que o valor dessas palavras tem dentro» – ele me respondeu – «não pode haver verdade maior…» Compadre meu Quelemém está certo sempre. Repenso. E o senhor no fim vai ver que a verdade referida serve para aumentar meu pejo de tribulação.91 (GS 205)
Riobaldo versucht vergeblich, das von Diadorim geäußerte Prinzip mit seiner Erfahrung abzugleichen, was ihm vorerst nicht gelingt. Er hinterfragt das Gehörte, akzeptiert die Maxime aber schließlich entgegen seiner Erfahrung, nachdem sein Patenonkel als höchste Wahrheitsinstanz sie bestätigt hat. Das Bestreben, dem Männlichkeitsideal Diadorims – paradoxerweise wird dieses Ideal von einer Frau formuliert, die sich als vermeintlicher Mann selbst mit einschließt – und seines Patenonkels zu entsprechen, bringt Riobaldo in zahlreiche Gewissenskonflikte,
89 «Allzu leicht, allzu unversehens vermengen sich die Meinungen anderer Menschen mit den unseren, ohne unser Zutun, ohne unser Wissen.» (GSd S. 421). 90 «Sauberes Äußeres, sauberes Denken. Das ist meine Meinung.» (GSd S. 137). 91 «‹Weißt du, dass einer, der wirklich und wahrhaftig ein ganzer Kerl ist, gar nicht anders kann als gut zu sein?› Das sagte er. Ich bewahrte es. Dachte darüber nach. Durchdachte es von neuem. Meiner Meinung nach traf das Gesagte nicht immer unbedingt und ausnahmslos zu. Wenn ich beispielsweise an mein Leben dachte, konnte es nicht zutreffen. Wieder und wieder dachte ich darüber nach. Ich befragte meinen Padrinho Quelemém. ‹Was steckt in diesen Worten?› Er erwiderte: ‹Es gibt keine größere Wahrheit.› Mein Gevatter Quelemém hat immer recht. Das geht mir durch den Kopf. Sie werden am Schluss sehen, dass die besagte Wahrheit nur die Last meines Kummers erhöhte» (GSd S. 141).
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die sich aus der Divergenz zwischen einer althergebrachten Weisheit und der Unmöglichkeit ihrer Umsetzung ergeben. Eine weitere Schwierigkeit bei der Befolgung der Maxime rührt daher, dass sie auf der überholten Unterscheidung zwischen Gut und Böse beruht, mit der sich Riobaldo vergeblich abmüht. Nicht nur die Gemeinplätze selbst, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden moralischen Werte werden in Grande Sertão stets auf ihre Anwendbarkeit hin überprüft.92 Demnach sind metaphysische Prinzipien nur dort sinnstiftend, wo sie auf das Gelebte übertragbar sind. Das Erzählen unterscheidet sich gerade darin von der moralischen Reflexion, dass es ethisch-moralische Werte in konkreten raum-zeitlichen Zusammenhängen auslotet. Eine Qualität des Benjamin’schen Erzählers, die Riobaldo vergeblich umzusetzen sucht, ist daher die «Ausrichtung auf das praktische Interesse»,93 die sich in Ratschlägen, Unterweisungen, Sprichwörtern oder Lebensregeln niederschlägt. Diese Fähigkeit des Erzählers, Rat zu geben, ist nach Benjamin in der Gegenwart zurückgegangen, da «die Mittelbarkeit der Erfahrung abnimmt»94. Wenn Riobaldos Rat auf der Ebene des erlebenden Ichs häufig ins Leere läuft, dann ist dies der Unmittelbarkeit seiner Erfahrung geschuldet. Ihm widerfährt in so kurzen Abständen immer wieder Neues, dass das unmittelbar Erlebte an die Stelle der Erfahrung tritt. Und auch aus der zeitlichen Distanz des Erzählens heraus kann Riobaldo das Erlebte aufgrund seiner Komplexität höchstens ansatzweise in Erfahrung, d. h. in Weisheitsregeln umwandeln. Der Versuch, aus dem Erlebten Ratschläge zu generieren, muss allein schon deshalb scheitern, weil Riobaldo gar nicht in der Lage ist zu erzählen, d. h. das Erlebte in eine chronologisch und kausal kohärente Ordnung zu bringen: «Erzählen ist sehr schwierig», gesteht er immer wieder. Die Ereignisse aus Riobaldos Vergangenheit werden nicht nur in unzusammenhängenden Episoden erzählt, sondern vermischen sich mit Geschehnissen aus der Erzählgegenwart sowie aus einer parallel verlaufenden Vergangenheit, die sich in Riobaldos Erzählung immer mithilfe von Anekdoten Durchbruch verschafft. «… devido que mesmo um contador habilidoso não ajeita de relatar as peripécias todas de uma vez» (GS 594)95– so entschuldigt Riobaldo beiläufig seine eklektische Erzählweise. Diese hat jedoch tiefer liegende Ursachen: «[N]ão acerto no contar, porque estou remexendo
92 Vgl. Alvaro M. Andrade: Filosofia e Literatura. O problema moral no Grande Sertão: Veredas. In: Trans/Form/Ação 1 (1974), S. 115–171, hier S. 166. 93 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, S. 412. 94 Ebda. 95 «[A]uch ein geschickter Geschichtenerzähler kann nicht alle Ereignisse auf einmal berichten.» (GSd S. 382).
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o vivido longe alto, com pouco caroço, querendo esquentar, demear, de feito, meu coração, naquelas lembranças. Ou quero enfiar a idéia, achar o rumozinho forte das coisas, caminho do que houve e do que não houve» (GS 242).96 Der inflationäre Gebrauch von Sprichwörtern und Maximen zeugt von Riobaldos (vergeblichem) Versuch, dem Erlebten einen Sinn abzugewinnen und, damit einhergehend, seiner Erzählung einen roten Faden zu verleihen. So gliedern zahlreiche Sinnsprüche die Erzählung in inhaltliche Koordinaten, indem sie den Blick auf diejenigen Themen lenken, mit denen sich der Erzähler auseinandersetzt.97 Eine der inhaltlichen Achsen bildet der Versuch, das Leben zu definieren. Maximen nach dem Muster «Viver é muito perigoso …» (GS 16, 28, 62, 113, 328, 376, 439)98, «Viver é negócio muito perigoso …» (GS 7)99 oder «Confusa é a vida da gente» (GS 262)100 wiederholen sich vor allem im ersten Teil des Romans. Riobaldo selbst bringt schließlich die Unsinnigkeit dieser Definitionen ans Licht, wenn er sein eigenes Maximenmuster als leere Floskel entlarvt: «Viver … O senhor já sabe: viver é etcétera …» (GS 125).101 Der Versuch, Sinnsprüche zur Strukturierung des Erzählten einzusetzen, wird vom Erzähler also schon bald verworfen. So wirken die eingestreuten Maximen häufig sinnentleert, ja störend, da sie nicht zum Verständnis der Erzählung beitragen, sondern sie unterbrechen, wie etwa die folgende: «Esta vida é de cabeça-para-baixo, ninguém pode medir suas perdas e colheitas. Mas conto» (GS 198).102 In anderen Fällen disqualifiziert Riobaldo seine Maximen sogleich wieder, indem er seine Unwissenheit eingesteht und indem er sie als Geschwätz abtut, um mit der Erzählung der Ereignisse fortzufahren. Dieser gescheiterte Versuch Riobaldos, dem Erlebten mithilfe von Sinnsprüchen einen exemplarischen Status zu verleihen, steht für die Unfähigkeit des modernen Erzählens, Kontingenz in eine narrative Ordnung zu überführen: «A vida é ingrata no macio de si; mas transtraz a esperança mesmo do meio do fel do desespero. Ao que, este
96 «Ich kann nichts der Reihenfolge nach erzählen, weil ich das längst Gelebte umdrehe, umwühle, aber wenig Gehalt finde und mein Herz an jenen Erinnerungen laben, wärmen will. Oder ich will den roten Faden finden, dem Unterstrom der Dinge nachspüren, der Richtung dessen, was geschah und nicht geschah.» (GSd S. 165). 97 Vgl. Thomas J. Braga: Maxims in Grande Sertão: Veredas, S. 76. 98 «Das Leben ist eine gefährliche Sache …» (GSd S. 20 u. a.) 99 «Das Leben ist eben ein gefährliches Geschäft …» (GSd S. 82). 100 «Das Leben ist voller Widersprüche» (GSd S. 59). 101 «Leben … Sie wissens ja: Leben ist … und so weiter und so fort …» (GSd S. 90). 102 «Dies unser Leben ist immer koppheister, kein Mensch kann Verlust und Ernte messen. Aber ich will fortfahren.» (GSd S. 137).
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mundo é muito misturado …» (GS 307).103 Doch gerade aus diesem Verfall des epischen Erzählens entsteht, so Benjamin, diejenige «neue Schönheit des Entschwindenden»104, die auch in Grande Sertão sichtbar wird und die Riobaldo im obigen Zitat als «Hoffnung» bezeichnet. Die Ruinen exemplarischen Erzählens verweisen auf den generellen Verfall kollektiver Erfahrung, kündigen jedoch zugleich die Möglichkeit einer neuen geteilten Erfahrung an,105 nämlich die Unmöglichkeit, subjektiv Erlebtes zu kollektivieren. Wenn es Riobaldo nicht gelingt, individuelles Erleben in allgemeine Ratschläge zu verwandeln, so entspricht diese Erfahrung den Widersprüchen und Erschütterungen, mit denen sich die Generation Rosas nach zahlreichen politisch-revolutionären Veränderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konfrontiert sah. Nun zeichnet sich die Erzählung Riobaldos im Gegensatz zu den von Walter Benjamin verwendeten Beispielen nicht durch das Fehlen sentenzenhafter Weisheit aus, sondern vielmehr durch eine inflationäre und damit parodische Verwendung von Lebensregeln und Weisheitssprüchen. Mithilfe der Parodie reflektiert Rosa in seinem Roman die Benjamin’sche Konzeption des Erzählers, aber auch die Bedeutung des Gemeinplatzes für das Erzählen. «Sein Stil, erklärt Rosa, entstehe aus seinem Horror vor Gemeinplätzen».106 Durch die Widersprüche, in die sich Riobaldos Versuche der Generierung von Weisheit verstricken, bestätigt der Autor einerseits den Befund Benjamins vom Verfall des Erzählens und verleiht andererseits seiner Abneigung gegenüber Gemeinplätzen Ausdruck. Zugleich zeigt er jedoch das Bestreben seiner Generation auf, kollektive Erfahrung kommunizierbar zu machen. So wird gerade die Unmöglichkeit, individuelle Erfahrung zu verallgemeinern, zu einer neuen kollektiven Erfahrung. Diese neue geteilte Erfahrung und deren Ausdrucksmittel artikulieren sich in Grande Sertão nicht zuletzt in der subjektiven Aneignung von Sinnsprüchen, wodurch sich individuelle Wahrnehmung und Kreativität mit einer kollektiven Dimension verbinden. Eine Form dieser kreativ-subversiven Aneignung ist die Veränderung bekannter Sprichwörter. So kehrt Riobaldo die biblische Maxime
103 «Wie soll ich mit dieser Welt zurechtkommen? Das Leben ist im Kern eine undankbare Sache; und trotzdem bringt es uns Hoffnung, mitten in gallenbitterer Verzweiflung. Die Welt ist eben ein wüster Wirrwarr …» (GSd S. 207). 104 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, S. 413. 105 Vgl. Renata C. Dias: Enveredando: Experiência e memória através do contar do Grande Sertão. In: Macabéa – Revista Eletrônica do Netlli 1 (2012), S. 121–132. Auch Renata Codeço Dias unternimmt in ihrem Artikel eine Lektüre von Rosas Roman unter den Vorzeichen von Benjamins «Der Erzähler», lässt jedoch die Funktion der Sinnsprüche in Grande Sertão außer Acht. 106 Curt Meyer-Clason: Der Sertão des Guimarães Rosa, S. 263.
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«Das Fleisch tötet, der Geist aber macht lebendig»107 um zu «sempre o espírito é que mata» (GS 170).108 Bei nicht allgemein bekannten Sinnsprüchen, die der Erzähler widerlegt, gibt er teilweise Aufschluss darüber, woher er sie kennt: « Na feira de São João Branco, um homem andava falando: – ‹A pátria não pode nada com a velhice …› Discordo. A pátria é dos velhos, mais» (GS 131).109 Ein weiterer Aspekt der neuen kollektiven Erfahrung, der in den Sinnsprüchen Riobaldos zum Ausdruck kommt, ist die Notwendigkeit einer beständigen Anpassung gefundener Weisheitsregeln. So entwickelt Riobaldo an manchen Stellen seine eigenen Maximen weiter. Die Aussage «O vau do mundo é a alegria!» (GS 429)110 wird so wenig später zu «Vau do mundo é a coragem …» (GS 430).111 Das komplexe Spiel, das Rosa in seinem Roman mit Sinnsprüchen treibt, steht für eine neue Form des Erzählens, in der die bereits seit Heraklit bekannte Dialektik des Widerspruchs an die Stelle zeitlicher und kausaler Kohärenz getreten ist. «Alles ist und ist nicht»; «Der Teufel existiert und existiert nicht»; «dies war und war nicht».112 Die Widersprüchlichkeiten der Welt äußern sich in der Antithetik der reiferen Maximen des Erzählers gegen Ende der Erzählung, wie «A gente sabe mais, de um homem, é o que ele esconde» (GS 477) oder «conforme homem tem nojo é do humano» (GS 707)113 sowie auch in der expliziten Infragestellung bekannter Maximen: «Ingratidão é o defeito que a gente menos reconhece em si?» (GS 782).114 Schließlich kommt der Erzähler zu dem Schluss: «A gente só sabe bem aquilo que não entende» (GS 537).115 Statt Gemeinplätze aufzurufen, die dem Erlebten ohnehin nicht standhalten können, schafft Riobaldo nun seine eigenen Weisheitssprüche, die die paradoxale Struktur des modernen Aphorismus aufweisen. Somit durchläuft Riobaldo mindestens zwei Lernprozesse, die beständig ineinandergreifen: Auf der Ebene des erlebenden Ichs sucht er nach Normen, an denen er sein Handeln ausrichten kann, auf derjenigen des erzählenden Ichs lernt er, diese Suche kommunizierbar zu machen – kurz: er lernt zu erzählen. Doch nicht Ratschläge vermag er zu
107 2. Korinther 3, 6. 108 «[Es] ist immer der Geist, der tötet.» (GSd S. 118). 109 «Auf dem Markt von São João Branco sagte ein Mann immer: ‹Das Vaterland kann mit alten Leuten nichts anfangen …› Ich bin anderer Ansicht. Das Vaterland gehört vor allem den Alten.» (GSd S. 94). 110 «Die Furt der Welt ist die Freude!» (GSd S. 283). 111 «Die Furt der Welt ist der Mut …» (GSd S. 284). 112 Zit. n. Curt Meyer-Clason: Der Sertão des Guimarães Rosa, S. 265. 113 «Der Mensch verrät sich am meisten durch das, was er verbirgt.» (GSd S. 312) oder «Der Mensch haßt, was menschlich ist.» (GSd S. 449). 114 «Ist Undank ein Fehler, den wir in uns am wenigsten erkennen?» (GSd S. 496). 115 «Wir wissen nur das genau, was wir nicht verstehen.» (GSd S. 348).
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vermitteln, sondern die Erkenntnis, dass der Mensch sein Leben nicht an Universalität beanspruchenden Wahrheiten orientieren kann. Wahrheit liegt nicht in einem abstrakten Raum jenseits gelebter Realität, sondern in den gewundenen, unberechenbaren und geheimnisvollen Pfaden durch den Sertão des Lebens. «O diabo não há! É o que eu digo, se for … Existe é homem humano. Travessia» (GS 875),116 so schließt Riobaldo seine Erzählung und stellt damit noch einmal die konkrete Erfahrung über Verallgemeinerungen und metaphysische Kategorien.
4.2 Sprichwort und Maxime im Theater Aimé Césaires 4.2.1 Das Theater Aimé Césaires zwischen Universalität und Kreolisierung Rosa schafft in Grande Sertão mithilfe von kleinen Formen wie Aphorismen, Sprichwörtern und Weisheitsregeln eine Universalität, die die im Roman geschilderten Erlebnisse innerhalb eines konkreten historischen und geographischen Raumes als allgemeinmenschliche Erfahrungen markiert. Diese Universalität ist insofern positiv konnotiert, als sie eine wirtschaftlich und politisch marginalisierte Region wie den Sertão nicht nur zum Dreh- und Angelpunkt Brasiliens, sondern zu demjenigen der ganzen Welt macht und so deren Rückständigkeit überspielt. Während eine solche Aufwertung Brasiliens und seiner ländlichen Regionen in der brasilianischen Literatur des 20. Jahrhunderts eine beliebte Strategie zur Affirmation nationaler Identität darstellt, ist dem aus Martinique stammenden Schriftsteller Aimé Césaire die universelle Dimension seines Werks gerade als Verrat an einer karibischen Identiät zum Vorwurf gemacht worden. Erkennt Marianne Whichmann Bailey in ihrer Studie zum Gebrauch des Ritus und des Mythos im Theater von Césaire an, dass es trotz dieser universalistischen Strukturen in der historischen und geographischen Partikularität von la Martinique verankert ist,117 so spricht Raphaël Confiant dem Werk Césaires diese historisch-geographische Fundierung vehement ab. Césaire habe die kreolische Identität zugunsten der Négritude verraten, indem er das ‹schwarze› Element in der Dritten Welt
116 «Es gibt den Teufel nicht. […] Es gibt den Menschen. Die Überfahrt.» (GSd S. 550). 117 Vgl. Marianne Wichmann Bailey: Des sources de l’universalité du théatre césairien: Spectacles rituels, récits mythiques. In: Wolfgang Leiner (Hg.): Aimé Césaire, du Singulier à l’Universel. Tübingen: Narr 1976, S. 301–311, hier S. 301. Ähnlich argumentiert Jaqueline Leiner, die den Mythos im Werk Césaires als universelle Sprache begreift, über die eine Symbiose verschiedener Kulturen stattfindet. Vgl. Jacqueline Leiner: Aimé Césaire. Le terreau primordial. Tübingen: Narr 1993, S. 40–41.
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übermäßig hervorgehoben, ein mythisches Afrika beschworen und dadurch Prozesse der Kreolisierung und Mestizierung vernachlässigt habe.118 Diese Überbetonung des Universellen äußert sich für Confiant unter anderem in einer starken Neigung zur griechisch-lateinischen Kultur119 und einer Abwesenheit der Karibik in Césaires Werk – selbst Haiti, Schauplatz von La Tragédie du Roi Christophe, sei für Césaire nicht die Karibik, sondern lediglich ein Substitut Afrikas.120 Die kreolische Partikularität sei einem allgemeinen Universellen zum Opfer gefallen: «La culture créole a été sacrifiée sur l’autel du marxisme, de la négritude, du surréalisme et surtout de l’Universel.»121 Eine eingehende Beschäftigung mit Césaires Werk, die man auch Confiant keinesfalls absprechen kann, zeigt jedoch, dass derartige Argumente dem komplexen Zusammenspiel des historisch-kulturellen Partikularen und des Universellen bei Césaire kaum gerecht werden. Vielmehr kann die Bedeutung Césaires für eine Poetik der Kreolisierung nicht hoch genug eingeschätzt werden, wie unter anderem der haitianische Intellektuelle und Schriftsteller René Depestre betont: «Dans les poèmes de Césaire, comme dans son théâtre et ses essais, la créolité martiniquaise emporte souverainement les sensations et les images choc loin des sèches postulations idéologiques de la négritude».122 Wie kaum ein anderer Schriftsteller vermittle Césaire auf poetische Art und Weise die Werte der Créolité: kulturelle Selbstbehauptung gegenüber dem ehemaligen Kolonisator («négritude debout»), antillischer Onirismus, Überschreitung der Grenzen zwischen dem Realen und dem amerikanischen Wunderbaren («réalisme merveilleux»), Ausbruch aus der kulturellen Fremdbestimmung («marronage culturel»), ‹schwarzer› Humor.123 Auch der ausschließliche Gebrauch des Französischen, den Confiant Césaire vorwirft, sei nicht automatisch ein Zeichen für
118 Raphaël Confiant: Aimé Césaire. Une traversée paradoxale du siècle, Paris: Stock 1996, S. 19. 119 Ebda., S. 37. 120 Ebda., S. 89–90. Confiant leitet dies von dem Ausruf «Pauvre Afrique! Je veux dire pauvre Haiti!» («Armes Afrika! Ich meine, armes Haiti!)» ab. Aimé Césaire: La tragédie du roi Christophe. Paris: Présence Africaine 2000 [1963], S. 49. 121 Raphaël Confiant: Aimé Césaire. Une traversée paradoxale du siècle, S. 121. «Die kreolische Kultur ist auf dem Altar des Marxismus, der négritude, des Surrealismus und vor allem des Universellen geopfert worden.» (Eigene Übersetzung). 122 René Depestre: Les aventures de la créolité. Lettre à Ralph Ludwig. In: Ralph Ludwig (Hg.): Écrire la ‹parole de nuit›. Paris: Gallimard 1994, S. 159–170, hier S. 165. [«In den Gedichten Césaires, wie auch in seinem Theater und seinen Essays, vermittelt die Kreolität von Martinique Gefühle und Schockbilder auf souveräne Art und Weise, jenseits der trockenen ideologischen Forderungen der négritude.» (Eigene Übersetzung)]. 123 Ebda., S. 166.
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kulturelle Assimilation, denn niemand würde lateinamerikanischen Schriftstellern wie Alejo Carpentier oder João Guimarães Rosa, die auf Spanisch bzw. Portugiesisch schreiben, ihren Beitrag zur Kreolisierung aufgrund der von ihnen gewählten Sprache absprechen.124 Auch wenn das afrikanische Element bei Césaire noch eine zentrale Komponente darstellt, so lässt sich sein Werk entgegen der oben zitierten Aussage von Confiant dennoch weder auf die Bewegung der Négritude noch auf den Marxismus und deren Synthese im Universellen reduzieren. So schreibt Wolfgang Bader: Césaires Kulturtheorie setzt weder auf kulturelle Einigelung in einer mythologisierten Tradition noch auf totale Öffnung zu einem (ge)haltlos-modernen Universalismus, der sich das je Andere als das Immer-Gleiche der westlichen Zivilisation einverleibt. Der Universalismusbegriff umfasst bei Césaire die Utopie eines kommunikativen Universums, das sich aus Reichtum und Vielfalt der tief verwurzelten, friedlich koexistierenden Besonderheiten nährt[.]125
Das Universelle und das Historisch-Partikulare bilden im Werk Césaires zwei Ebenen, die auf komplexe Art und Weise miteinander verwoben sind, ohne dabei ineinander aufzugehen. In seiner dramatischen Darstellung von Machtkonflikten geht Césaire stets von einer historischen, geographischen und ethnischen Aktualität aus,126 die in einem ersten Schritt der Verallgemeinerung als Beispiel für die post-kolonialen Staaten in ihrem Ringen um politische, wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit und, in einem weiteren Schritt, als menschliche Dramen generell betrachtet werden können. Die Ebene der historischen Aktualität spaltet sich also noch einmal auf in einen zeitlich und räumlich klar lokalisierbaren Zusammenhang (z. B. die Regierung Henri Christophes in Haiti, die Wirren im Kongo nach der Unabhängigkeit) und die allgemeineren historisch-kulturellen Problematiken der post-kolonialen afrikanischen Diaspora. Allerdings führt diese Bewegung vom Besonderen zum Universellen nicht wie bei Hegel zu einem geschlossenen System127, das alles Vergangene und in der Zukunft Mögliche bereits enthält und das nichts Neues mehr hervorbringen kann. Vielmehr ist Césaires Vorstellung vom Universellen durch die Synthese
124 René Depestre: Les aventures de la créolité. Lettre à Ralph Ludwig, S. 166–167. Depestre nennt als weitere lateinamerikanische Autoren Gabriel García Márquez, Miguel Ángel Asturias, Juan Rulfo, Carlos Fuentes, Mario Vargas Llosa, Jorge Amado. 125 Wolfgang Bader/Gernot Kamecke: Césaire, Aimé. In: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, www.munzinger.de/search/klfg/Edouard+Glissant/174.html (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020). 126 Vgl. Jacqueline Leiner: Aimé Césaire. Le terreau primordial, S. 93. 127 Vgl. Ebda., S. 97.
4.2 Sprichwort und Maxime im Theater Aimé Césaires
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einer Vielzahl von Partikularitäten charakterisiert, die jedoch in ihrer kulturellen Einzigartigkeit erhalten bleiben: «‹ma conception de l’universel est celle d’un universel riche de tout le particulier, riche de tous les particuliers›»128. Das Universelle Césaires nähert sich so eher dem Konzept der totalité-monde bzw. des tout-monde129 von Édouard Glissant und weniger einer Totalität im Sinne von Hegel oder Marx an. Der Denkfigur des tout-monde entspricht das Identitätsmodell einer identité-rhizome, die sich nicht auf einen einzigen Ursprung zurückführen lässt, sondern sich in unzählige Ursprünge verzweigt. Auch wenn Césaire durch die Hervorhebung der afrikanischen Herkunft der Antillen-Bevölkerung noch einer unilinearen identité racine-unique, dem Gegenstück einer rhizomischen Identität, verhaftet ist, so nimmt sein Werk doch Züge einer Ästhetik der Differenz vorweg130, die einen zentralen Aspekt von Kreolisierung und tout-monde bildet. Statt kulturelle Stereotypen zu schaffen, stellt Césaire Aspekte außereuropäischer Kulturen in ihrer Einzigartigkeit und Opazität dar – hierfür sprechen zahlreiche Elemente aus den afrokaribischen Religionen, z. B. die Darstellung des Mariä Himmelfahrtsfestes in La Tragédie du roi Christophe als Synkretismus aus katholischer Messe und Vaudou-Zeremonie. Auch Bantuund Kreolsprachen lassen sich entgegen den Argumenten Confiants in Césaires Werk nachweisen, etwa in Form eines Liedes auf Kreolisch, das Madame Christophe am Ende von La Tragédie du Roi Christophe singt, sowie in der Übersetzung afrikanischer und karibischer kultureller Konzepte ins Französische. Dabei dient die französische Sprache Césaire gerade als Instrument für die Behauptung einer afrikanischen bzw. kreolischen Identität. Er selbst äußert sich über die Verwendung des Französischen in seinem Werk folgendermaßen: De toute manière, si je suis un poète d’expression française, je ne me suis jamais considéré comme un poète français. Autrement dit, j’ai choisi de m’exprimer dans la langue française parce que c’est celle-là que je connais le mieux. […] Le français est pour moi un instrument, mais il est tout à fait évident que mon souci a été de ne pas me laisser dominer
128 Zit. n. Ebda. «Mein Konzept des Universellen ist die eines Universellen, das reich am ganzen Besonderen, an allen Besonderheiten ist.» (Eigene Übersetzung). 129 «J’appelle Tout-monde notre univers tel qu’il change et perdure en échangeant et, en même temps, la ‹vision› que nous en avons. La totalité-monde dans sa diversité physique et dans les représentations qu’elle nous inspire: que nous ne saurions plus chanter, dire ni travailler à souffrance à partir de notre seul lieu, sans plonger à l’imaginaire de cette totalité.» Edouard Glissant: Le discours antillais, S. 176. [«Weltganzes nenne ich unser Universum so wie es sich verändert und im Austausch fortbesteht und gleichzeitig auch die ‹Vision›, die wir von ihm haben. Die WeltTotalität in ihrer physischen Diversität und die Darstellungen, zu denen sie uns inspiriert; dass wir von unserem einzelnen Ort aus nicht mehr singen, sprechen und arbeiten können, ohne in das Imaginäre dieser Ganzheit einzutauchen.» (Eigene Übersetzung)]. 130 Vgl. Jacqueline Leiner: Aimé Césaire. Le terreau primordial, S. 99–108.
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par cet instrument, c’est-à-dire qu’il s’agissait moins de servir le français pour exprimer nos problèmes antillais ou africains et exprimer notre «moi» africain. Comme notre français ne peut pas être celui des autres, et n’ayant pas d’autre langue à ma disposition, j’ai essayé de donner la couleur ou antillaise ou africaine. C’est pourquoi aussi, dans Christophe, la langue que j’emploie, qu’on croit un français archaïque ou savant, n’est surtout qu’un français conforme au génie de la langue des Antilles, le créole. Et dans Une Saison au Congo j’ai voulu faire un français africain.131
Die hier postulierte Aneignung der französischen Sprache drückt sich unter anderem im Einflechten afrikanischer und kreolischer Sprichwörter aus, die Césaire ins Französische übersetzt und deren Semantiken die französische Sprache anreichern. Eine solche cross-cultural translation132 von Sprichwörtern und außereuropäischen Konzepten, wie z. B. dem insulteur de la nation in Une saison au Congo liefern Beispiele dafür, dass die neuartigen Sprachverwendungen bei Césaire nicht allein (wie von Confiant behauptet) auf surrealistische Experimente zurückgeführt werden können, sondern eine kulturelle Tiefe besitzen. Damit ist bereits eine Funktion des Sinnspruchs bei Césaire benannt, die noch genauer zu untersuchen sein wird. Ferner erfüllen die in Césaires Werk eingearbeiteten Sinnsprüche die Funktion der Charakterisierung von Figuren, eine rhetorische Funktion innerhalb eines argumentativen Zusammenhangs, eine in die Zukunft gerichtete, prophetische sowie eine didaktisch-ideologische Funktion. Bevor diese Funktionen anhand von Beispielen erläutert werden, soll ein Streifzug durch das dramatische Werk Césaires die einzelnen Sinnsprüche in ihrem dramatischen Kontext aufzeigen. Dabei kann Césaires erstes Drama Et les chiens se taisaient (1956) vernachlässigt werden, da es kaum Sinnsprüche enthält. Eine der wenigen Ausnahmen
131 Aimé Césaire: Mon théâtre, c’est le drame des nègres dans le monde moderne. Création d’Une Saison au Congo. In: Le Monde, 7. Oktober 1967 (Ausg. 7071), S. 13. «Jedenfalls, auch wenn ich ein französischsprachiger Dichter bin, so habe ich mich nie als französischen Dichter wahrgenommen. Anders gesagt habe ich mich dazu entschlossen, mich in der französischen Sprache auszudrücken, weil ich diese am besten kenne. […] Das Französische ist für mich ein Instrument, aber es ist vollkommen offensichtlich, dass es mein Anliegen war, mich nicht von diesem Instrument beherrschen zu lassen, das heißt, es ging weniger darum, dem Französischen zu dienen, um unsere antillischen oder afrikanischen Probleme auszudrücken und unser afrikanisches «Ich» zum Ausdruck zu bringen. Da unser Französisch nicht das der anderen sein kann und weil ich keine andere Sprache zur Verfügung habe, habe ich versucht, ihm entweder die antillische oder afrikanische Färbung zu geben. Aus diesem Grund ist die Sprache, die ich in Christophe verwende und die man für ein archaisches oder gelehrtes Französisch hält, vor allem nur ein Französisch, das dem Genie der Sprache der Antillen, dem Kreolischen, entspricht. Und in Im Kongo wollte ich ein afrikanisches Französisch verwenden.» (Eigene Übersetzung). 132 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Einleitung. In: dies. (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin: Schmidt 1997, S. 1–18.
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bildet das von der Hauptfigur, dem Rebellen, geäußerte Sprichwort, das die Aussage des Stücks zusammenfasst: «on a beau peindre blanc le pied de l’arbre la force de l’ecorce en dessous crie».133 Eine politische und kulturelle Unterwerfung der Farbigen, so postuliert das Sprichwort, ist höchstens äußerlich möglich, ihre wirkliche Identität lässt sich jedoch nicht unterdrücken und drängt früher oder später an die Oberfläche. Dieser ideologische Aspekt der politischen und kulturellen Selbstbehauptung durchzieht das gesamte (dramatische) Werk Césaires und artikuliert sich an unterschiedlichen historisch-geographischen Schauplätzen, die zeitlich in der Phase der Dekolonisierung situiert sind.
4.2.2 Orte des Sinnspruchs im Theater Césaires La Tragédie du Roi Christophe In La Tragédie du Roi Christophe (1963)134 spiegelt Césaire die afrikanischen Unabhängigkeiten in der Geschichte Haitis.135 Am Beispiel der Herrschaft des farbigen Generals Christophe, der sich 1811 unter dem Namen Henri Ier zum König krönen lässt, setzt er sich poetisch mit Modellen der Herrschaftsrepräsentation auseinander sowie mit den Schwierigkeiten, die die neu erworbenen Unabhängigkeiten der ehemaligen Kolonien mit sich bringen: der Aufbau von neuen Strukturen sowie der Umgang mit Konzepten wie Nation und Staatsbürgertum.136 Christophe steht für die Suche der Farbigen nach einer eigenen, politisch und kulturell unabhängigen Identität, versucht dieses Ideal aber mit unmenschlichen Mitteln umzusetzen. Dass solche Maßnahmen der Unterdrückung nicht zielführend sind, drückt der Kapitän Radayeur im Intermède zwischen dem ersten und zweiten Akt in einem Sinnspruch aus: «Le vrai du vrai n’est pas d’aller comme de savoir par où aller» (TRC 67).137 Damit wird das Regieren Christophes als blindes
133 Aimé Césaire: Et les chiens se taisaient. Paris/Dakar: Éditions Présence Africaine 1956, S. 38. «Auch wenn man einen Baumstamm weiß streicht, die Rinde darunter schreit.» (Eigene Übersetzung). In der deutschen Übersetzung von Janheinz Jahn heißt es: «Aber die Freiheit schrie […] im Herzen des Baumes», Aimé Césaire: Und die Hunde schwiegen. Hrsg. von Artur Müller/Hellmut Schlien, übertragen und für die Bühne bearbeitet von Janheinz Jahn, Emsdetten: Lechte 1956, S. 42. 134 Aimé Césaire: La tragédie du roi Christophe. Paris: Présence Africaine 2000 [1963]. Im Folgenden abgekürzt mit TRC. 135 Vgl. Clément Mbom: Le théâtre d’Aimé Césaire ou la primauté de l’universalité humaine. Paris: Fernand Nathan 1979, S. 51–57. 136 Vgl. Ebda., S. 69. 137 «Das Wahre am Wahren besteht nicht darin zu gehen als ob man wüsste, wohin man soll.» (Eigene Übersetzung).
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Handeln charakterisiert, das nicht zur Freiheit, sondern zu einer bloßen Fortsetzung, ja Verschärfung der Unterdrückung führt, die die farbige Bevölkerung der Antillen in den Sklavenhaltergesellschaften vor der Unabhängigkeit erfahren hat. Diesen unaufhaltsamen Kreislauf von Unterdrückung und Unterdrücktsein, der sich im südlichen Teil Haitis nun unter den neuen Vorzeichen einer Republik fortsetzt, fasst der Sekretär von Christophe mit folgender Maxime zusammen: «L’histoire pour passer n’a parfois qu’une voie. Et tous l’empruntent» (TRC 80).138 Diejenigen, die Geschichte gestalten, so die Aussage des Sinnspruchs, handeln allesamt nach denselben Prinzipien, und auch der farbige König Christophe zeigt sich nicht weniger tyrannisch als die weißen Kolonisatoren. Das Stück setzt historisch nach dem Tod Dessalines, des ersten Staatschefs der Republik Haiti im Jahr 1806 ein, als ein Konflikt zwischen dem General Christophe, dem Mulatten Alexandre Sabès Pétion und dem Senat zu einer Aufspaltung der jungen Republik in zwei Teile führt, von denen der südliche fortan von Pétion, der nördliche von Christophe regiert wird. Schon bald zeigt sich Christophes wahres Gesicht, als er auf dem Rücken seines Volkes die Zitadelle Laferrière als Monument der Freiheit errichten lässt. Indem er sein Volk, einschließlich Frauen und Kinder, zur Fronarbeit zwingt und Zwangsheiraten sowie willkürliche Hinrichtungen veranlasst, entwickelt er sich mehr und mehr zum Tyrannen. Als ihm während einer Zeremonie zu Mariä Himmelfahrt der Geist des von ihm ermordeten Erzbischofs Corneille Brelle erscheint, bricht er zusammen und ist fortan gelähmt. Christophe regiert sein Volk zwar weiterhin mit eiserner Hand, kann sich jedoch nicht mehr lange auf dem Thron halten. Nachrichten von Arbeitsverweigerungen, der Besatzung durch den politischen Gegner und Überläufen seiner Militärs zu den Aufständischen treiben ihn in den Selbstmord. Christophe wird oberhalb der Zitadelle aufrecht und mit dem Gesicht in Richtung Süden begraben. Im Stück befinden sich etwa 20 Sinnsprüche, die sich weder auf einzelne Figuren noch auf bestimmte Akte konzentrieren. Gleich in der ersten Szene des ersten Aktes dient der Sinnspruch einem verbalen Schlagabtausch zwischen Christophe und Pétion, der den im Prolog gezeigten Hahnenkampf zwischen den beiden gleichnamigen Hähnen fortsetzt. Christophe lehnt das von Pétion überbrachte Angebot der Präsidentschaft durch den Senat ab, da er darin
138 «Oh, die Geschichte kennt mannchmal nur einen Weg, und jeder paßt sich ihm an.» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph. Deutsch von Karlheinz Jahn, In: Frankfurter Allgemeine: Theater heute. Register des 5. Jahrgangs. 1964 (Heft 10), S. 55–68, hier S. 63.
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nichts anderes als die Schwächung seiner Macht unter dem Deckmantel einer Machtübertragung vermutet. Pétion beschuldigt ihn der Undankbarkeit und kleidet seinen Vorwurf in ein Sprichwort: «A vouloir scruter le lait de trop près, on finit par y découvrir des poils noirs» (TRC 19)139. Wer den Makel an einer Sache, in diesem Fall an einem attraktiven Angebot wie dem der Präsidentschaft suche, der werde auch fündig. Christophe wird Pétion wenig später seine Antwort an den Senat ebenfalls in Form eines Sprichwortes vortragen: «Lorsque vous enseignez à un macaque à jeter des pierres, il arrive à l’élève d’en ramasser une et de vous casser la tête» (TRC 22).140 Wer den anderen den Umgang mit einer Waffe lehrt, muss befürchten, dass dieser sie gegen ihn selbst richtet. Enthält das Sprichwort zugleich seine Absage und die Erklärung dafür, so wird der Senat beides erst in einem Deutungsakt entziffern müssen. Indem Christophe seine Antwort verschlüsselt, signalisiert er seinem vermeintlichen politischen Gegner Überlegenheit und identifiziert sich somit selbst als der im Sprichwort genannte Affe, der derjenigen politischen Institution den Kampf erklärt, die ihn zum General gemacht hat. Überzeugen die von Pétion und Christophe geäußerten Sprichwörter durch ihre Schlagkraft, so wirkt der folgende von Christophes Sekretär Vastey eingebrachte Sinnspruch aufgebläht und nichtssagend: «La forme, c’est ça, mon cher, la civilisation! la mise en forme de l’homme! Pensez-y, pensez-y! La forme, la matrice d’où montent l’être, la substance, l’homme même. Enfin tout. Le vide, mais le vide prodigieux, générateur et plasmateur …» (TRC 32).141 Der aufgeblasene Charakter des Spruchs, der unter anderem durch die übertrieben häufige Verwendung des Lexems «forme» hervorgerufen wird, steht im Einklang mit seinem burlesken Kontext142: Der Hofstaat Christophes macht sich über die höfischen Umgangsformen lustig, die nichts anderes als eine lächerliche Kopie
139 «Wer sich die frische Milch aus zu großer Nähe betrachtet, findet natürlich ein paar schwarze Haare darin.» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 56. 140 «Wenn ihr einem Affen beibringt, wie er mit Steinen schmeißt, dann kann es passieren, dass der gelehrige Schüler einen davon aufklaubt und euch den Schädel damit zerschmettert.» Ebda. 141 «Die Form, mein Lieber, das ist die Zivilisation. Die Formung des Menschen. Bedenken Sie das! Die Form, die Matrize, der Prägestock, woraus das Wesen hervorgeht, die Substanz, der eigentliche Mensch. Und schließlich alles. Die Form ist zwar leer, aber sie ist eine wunderträchtige Leere, eine gestaltende, prägende …» Ebda., S. 57. 142 Eine burleske Kontextualisierung des Sinnspruchs wird sich an späterer Stelle noch einmal wiederholen: Während einer von Christophe veranlassten Massen-Zwangsverheiratung teilt Hugonin Frauen und Männer willkürlich einander zu und kommentiert dies mit dem Sprichwort «A chaque pied sa pointure …» (TRC S. 90) [«Jedem Fuß seine Schuhnummer.» (Eigene Übersetzung)].
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des französischen Königshofes seien. Vastey klärt Magny darüber auf, dass es bei der Zivilisation generell lediglich um inhaltlich entleerte Schablonen gehe und dass niemand diese Formen so beherrsche wie Christophe. Es folgt eine lächerliche Generalprobe des Königsempfangs, die das zuvor Gesagte illustriert und in der Césaire Vastey die ideologischen Prämissen der Kolonisierung in den Mund legt. Indem er sie durch eine Figur ohne Rückgrat aussprechen lässt, desavouiert er die Gleichsetzung von Kolonisierung und Zivilisierung, die er bereits in Discours sur le colonialisme (1955)143 kritisiert hat. Weit mehr Gewicht als die Äußerung Vasteys hat der folgende Sinnspruch, der zum vorherigen im Widerspruch steht und mit dem William Wilberforce seinen Freund Christophe, ebenfalls unter Bezugnahme auf den Begriff der Zivilisation, vor einer erzwungenen Nationenbildung warnt. Die Bedeutung der Maxime wird dadurch verstärkt, dass sie sich durch Anführungszeichen und Kursivierung vom sie umgebenden Fließtext abhebt: «On n’invente pas un arbre, on le plante! On ne lui extrait pas les fruits, on le laisse porter. Une nation n’est pas création, mais un mûrissement, une lenteur, année par année, anneau par anneau. […] Semer […] les graines de la civilisation» (TRC 57, Hervorhebung im Original).144 Eine Zivilisation lässt sich demnach nicht durch überstürzte Maßnahmen, wie Christophe sie ergreift, herbeiführen, sondern muss langsam heranreifen. Einen ähnlichen Bedeutungsgehalt entfaltet auch das Sprichwort, mit dem Madame Christophe ihren Gatten davor warnt, fremde politische Systeme zu imitieren und auf das eigene Land zu übertragen: … à vouloir poser la toiture d’une case sur une autre case Elle tombe dedans ou se trouve grande.145
(TRC 58)
Madame Christophe wirft ihrem Gatten ferner vor, sein Volk in Arbeit zu ersticken statt ihm seiner Funktion als König gemäß Schutz zu bieten. In einem afrikanisierten Französisch vergleicht sie ihr Land, das von blutigen Aufständen und schnellen Regierungswechseln geschüttelt ist, mit einer verwüsteten Savanne, in der es Christophes Aufgabe sei, seinem Volk ein Zufluchtsort zu sein: «C’est au milieu de la savane ravagée d’une rancune de soleil, le feuilletage
143 Vgl. Aimé Césaire: Discours sur le colonialisme. Discours sur la Négritude. Paris: Présence Africaine 2004 [1955], S. 8. 144 «Einen Baum erfindet man nicht, man pflanzt ihn. Man zerrt keine Früchte aus ihm heraus, man läßt ihn sie treiben. Eine Nation ist kein Werkstück, sondern ein Reifungsprozeß, der langsam Jahr für Jahr Ring um Ring ansetzt. […] Säen Sie […] den Samen der Zivilisation.» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 62. 145 «Wenn man das Dach einer Hütte einer anderen Hütte aufsetzen will, dann fällt es hinein oder es ist zu groß.» Ebda., S. 60.
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dru et rond du gros mombin sous lequel se réfugie le bétail assoiffé d’ombre» (TRC 60).146 Auch wenn Christophe diese Warnungen in den Wind schlägt, genießt er zunächst weiterhin das Vertrauen einiger seiner Landsleute. Als sich ein Bauer im Gespräch mit einem anderen über die schlechten Zeiten unter der Herrschaft Christophes beklagt, versucht dieser, der gegenwärtigen Situation etwas Positives abzugewinnen: «Le temps n’a pas bonté ni mauvaiseté. Le goût, il est dans la bouche. C’est la manière de le prendre qui lui donne goût, bonté ou mauvaiseté» (TRC 74).147 Er betrachtet Christophes Vorgehen als wirksame Medizin, die man nicht verabscheuen sollte, was er in einen weiteren Sinnspruch kleidet: «On peut pas dire de mal d’une bonne médecine d’herbes conséquentes au renouveau» (ebda.).148 Noch während die beiden Bauern ins Gespräch vertieft sind, kündigt ein Botschafter des Königs eine Verschärfung der Arbeitspflicht gegenüber dem Königreich an, denn, so lautet die Maxime, «la liberté ne peut subsister sans le travail» (TRC 76).149 Die Dosis der von Christophe verabreichten bitteren Medizin, die bisher ein Teil seiner Landsleute noch in Kauf genommen hat, erhöht sich, was wenige Szenen später zum Protest der gesammelten Bauernschaft führt. Eine Delegation von Bauern und Staatsmännern sucht Christophe auf, um ihm mitzuteilen, dass er sein Volk überfordere («Ton peuple est las!», TRC 96150). Mit einem Sprichwort, das sich auf die Metaphorik der karibischen Fauna stützt, drückt der Sprecher der Bauern die Ergebenheit des Volkes aus, zugleich aber dessen Auflehnung gegen die Tyrannei Christophes: «… une pirogue tient la mer, mais n’est pas toujours sur une mer démontée. Un ceiba tient au vent, mais n’est pas toujours se colleter avec le vent» (ebda.).151 Nicht nur seine Landsleute, sondern auch die im Sprichwort bereits angeklungenen Naturgewalten stellen sich Christophe entgegen: Ein Unwetter erschwert den Bau der Zitadelle. Zugleich treten die Arbeiter als ein gewaltiger Chor auf,
146 «Inmitten der vom Groll der Sonne verheerten Savanne steht dick und rund der Schweinspflaumenbaum mit dem dicken Blattwerk, und das durstige Vieh sucht Zuflucht in seinem Schatten.» Ebda. 147 «Die Zeit ist weder gut noch schlecht. Es kommt auf den Geschmack an. Und wie man sie nimmt, so schmeckt sie, gut oder schlecht.» Ebda. 148 «Gegen eine gute Medizin aus Erfrischungskräutern läßt sich nichts einwenden.» Ebda., S. 60. 149 «Die Freiheit kann nicht bestehen ohne die Arbeit.» (Eigene Übersetzung). 150 «Dein Volk ist müde.» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 62. 151 «[…] ein Nachen schwimmt auf dem Meer, aber nicht immer auf hoher See. Ein Wollbaum trotz dem Wind, doch er hadert nicht immerzu mit dem Sturm.» Ebda.
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der, statt dem Vorarbeiter das Echo zu singen, seiner Revolte Ausdruck verleiht. Als ein heftiges Gewitter ausbricht, stürzt ein Teil der Zitadelle ein. Christophe zeigt sich mit der Äußerung des folgenden Sprichwortes fest entschlossen, seine Herrschaftsstrategie dennoch weiter zu verfolgen: Toutes les feuilles en dent de scie rassemblées autour du cœur l’ananas résiste.152
(TRC 106)
Christophes verbissenes Festhalten am Konzept einer schwarzen Monarchie drückt sich in zwei Sinnsprüchen aus, mit denen er sein Handeln zu legitimieren sucht. Auf den vom Narren Hugonin gesungenen Liedvers «Ah! la nation pas bon!» (TRC 132),153 antwortet Christophe mit der Maxime: «Les nations ne sont jamais bonnes. Et c’est pourquoi les rois non plus ne doivent pas être trop bons …» (ebda.)154 Im Einklang mit dieser ihm notwendig erscheinenden Härte, leitet er trotz unpassender Jahreszeit Maßnahmen zum Bau einer weiteren Zitadelle am Cap ein und begründet dies mit einer weiteren Maxime «Toutes les saisons sont bonnes quand le Roi l’a décidé» (ebda.).155 Nachdem sich Christophe seinem Volk und der Religion widersetzt hat – den ihm unbequem gewordenen Erzbischof Brelle hat er bei lebendigem Leib einmauern lassen –, überhebt er sich nun sogar über die Natur. Als er erfährt, dass einige seiner Generäle zu den Aufständischen übergelaufen sind, droht er mit dem Sprichwort «… celui qui tente d’avaler un gros noyau, faut-il du moins qu’il ait confiance dans la grosseur de son gosier» (TRC 134–135).156 In seiner Unnachgiebigkeit bezeichnet er sich selbst als den großen Knoten, an dem derjenige, der ihn zu verschlucken sucht, ersticken muss. Doch bereits in der darauffolgenden Szene, die zugleich die letzte Szene vor Christophes Tod bildet, kapituliert er, enttäuscht von dem Volk, dem er eine Zukunft in Würde verschaffen wollte. Mit einem Sprichwort, das er explizit als solches bezeichnet («c’est précisément un proverbe de chez toi, de chez nous», TRC 140157) kündigt er seinem afrikanischen Pagen nicht nur seinen physischen Tod, sondern auch denjenigen seiner Ideale und Träume an: «Toute flèche dont tu sais qu’elle
152 «Mit allen Blättern wie Sägenzacken / um das Herz herum versammelt / hält die Ananas stand.» (Eigene Übersetzung). 153 «Ach, Nation nicht gut!» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 66. 154 «Nationen sind nie gut. Und daher dürfen auch die Könige nicht allzu gut sein.» Ebda. 155 «Alle Jahreszeiten sind gut, wenn man will.» Ebda., S. 66. 156 «Und wer einen dicken Brocken verschlucken will, der muß sich drauf verlassen können, daß er einen dicken Schlund hat.» Ebda., S. 67. 157 «[…] sagt genau das Sprichwort bei euch drüben und bei uns hier […]» Ebda., S. 68.
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ne te manquera pas, bombe du moins la poitrine pour qu’elle y frappe en plein» (ebda., Hervorhebung im Original).158 Une saison au Congo Hat Césaire bereits in La Tragédie du roi Christophe die politischen Herausforderungen skizziert, vor denen die Dritte-Welt-Staaten kurz nach ihrer Dekolonisierung stehen, so greift er diese Problematik in Une saison au Congo159 am Beispiel des Kongos stellvertretend für die afrikanischen Staaten auf. In bemerkenswerter historischer Genauigkeit gibt er in dem Stück, das sich in drei Versionen160 mit den politischen Ereignissen weiter entwickelte, die Geschehnisse um die Unabhängigkeit des Kongos am 30. Juni 1960 wieder. In den Jahren nach der Unabhängigkeit gelang es weder den kongolesischen noch den belgischen Kräften, ein funktionierendes politisches System im Kongo zu etablieren. Die Regierung des charismatischen Patrice Lumumba, der Hauptfigur in Césaires Stück, wurde zerrieben zwischen den Interessen des belgischen Königshauses, der UNO und einer Vielzahl nationaler Interessengruppen. Lumumbas Bemühungen, die Macht zu zentralisieren sowie Posten in Verwaltung, Wirtschaft und Armee schnell mit Einheimischen zu besetzen, führten zu Auseinandersetzungen mit dem Oberst Mobutu (im Stück Mokutu),161 dem ihm nachfolgenden Machthaber, sowie dem westlichen Ausland und scheiterten schließlich. Césaires Stück zeigt die vielfältigen Konflikte auf, die sich aus dem Handeln einer Reihe von antagonistischen Kräften ergeben: den Machtgierigen, den Industriellen – im Stück verkörpert durch die lächerlichen Figuren der Banquiers –, den internationalen Organisationen sowie verschiedenen Ethnien und Landesteilen des Kongos. Die Präsenz der neokolonialen Kräfte, die weiterhin die Industrie und Privatwirtschaft des Landes bestimmen, verstärkt die Schwierigkeit, zu einer effektiven Unabhängigkeit zu gelangen. Der Kongo bildet eines der prominentesten Beispiele der Devise «Teilen um zu regieren»162: So bringen
158 «Dem Pfeil, dem du nicht ausweichen kannst, recke die Brust entgegen, daß er mit voller Kraft dich treffe!» Ebda. 159 Aimé Césaire: Une saison au Congo. Im Folgenden abgekürzt mit USAC. 160 1965, 1966, 1973, vgl. Karin Sekora: ‹Il y avait un tabou à lever›: Intertextualité dans Une Saison au Congo d’Aimé Césaire. In: Œuvres & Critiques: Revue Internationale d’Etude de la Reception Critique d’Etude des Œuvres Litteraires de Langue 19, 2 (1994), S. 243–265, hier S. 243–244. 161 Zu Césaires Veränderung der historischen Namen vgl. Karin Sekora: Die unersättlichen Hunde: Namen und Täter in Aimé Césaires Une Saison au Congo. In: Lendemains: Etudes Comparées sur la France/Vergleichende Frankreichforschung 17, 67 (1992), S. 44–57. 162 Clément Mbom: Le théâtre d’Aimé Césaire ou la primauté de l’universalité humaine, S. 72.
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die neokolonialen Kräfte die Bewohner der reicheren Provinz Katanga dazu, sich vom übrigen Kongo abzuspalten, ohne dass diese die politischen Hintergründe der Teilung nachvollziehen können. Mit Une Saison au Congo möchte Césaire einem rassistischen Vorurteil entgegenwirken, das sich aus den so genannten «Kongowirren» speist und die blutigen Auseinandersetzungen des kongolesischen Bürgerkrieges nach der Unabhängigkeit als Unfähigkeit der Afrikaner zur Demokratie deutet: J’ai voulu essentiellement faire comprendre, démonter les mécanismes, démystifier, chercher la vérité politique et la vérité humaine derrière tous les mensonges qui ont été écrits sur Lumumba […] Toute cette époque, tout cet épisode de la décolonisation du Congo, tous les troubles congolais servaient beaucoup à la propagande raciste. Alors, j’ai voulu montrer la vérité, faire comprendre ce drame congolais qui est en réalité un drame politique, un drame humain.163
Lumumba, um dessen Person die Handlung des Stücks zentriert ist, repräsentiert in seiner Funktion als Premierminister den Farbigen, der sich lediglich formell von der kolonialen Unterdrückung befreit hat, faktisch aber weiterhin neokolonialen Mächten unterworfen ist. Lumumba ist sich dessen bewusst und versucht, sich und sein Volk aus dieser neuen Form des Zwangs zu befreien,164 indem er die Spaltung des Katangas nicht akzeptiert und sich stattdessen für die Einheit des Landes einsetzt. Als der belgische König, im Stück Basilio genannt, dem kongolesischen Volk seine Freiheit gleich einem Geschenk überreicht und Lumumba zum Premierminister ernennt, stellt dieser in einer mitreißenden Rede dem Zivilisierungsgedanken, mit dem Basilio zuvor die Kolonisierung des Kongos gerechtfertigt hat, eine Neugeburt und die Einheit des Kongos entgegen. Einige Banquiers, die in dieser Kampfansage an die ehemalige Kolonialmacht das Ende ihrer Geschäfte sehen, fassen den Beschluss, eine Abspaltung der reichen Provinz Katanga vom Rest des Kongos herbeizuführen. Mokutu, der bisher mit Lumumba Hand in Hand arbeitete, hält die Ideen des Premierministers für gefährlich, woraufhin sich ein Streit zwischen den beiden Freunden entfacht. In der Folge gelingt es Lumumba,
163 David L. Dunn/Aimé Césaire: Interview with Aimé Césaire on a New Approach to La Tragédie du Roi Christophe and Une Saison au Congo. In: Cahiers Cesairiens 4 (1980), S. 1–10, hier S. 6. «Ich wollte im Wesentlichen verständlich machen, die Mechanismen zerlegen, entmystifizieren, die politische Wahrheit suchen und die menschliche Wahrheit hinter allen Lügen, die über Lumumba geschrieben worden sind. […] Diese ganze Epoche, diese ganze Episode der Dekolonialisierung des Kongo, alle Unruhen im Kongo dienten oft der rassistischen Propaganda. Also wollte ich die Wahrheit zeigen, dieses kongolesische Drama, das in Wirklichkeit ein politisches, ein menschliches Drama ist, verständlich machen.» (Eigene Übersetzung). 164 Clément Mbom: Le théâtre d’Aimé Césaire ou la primauté de l’universalité humaine, S. 74.
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die aufständischen Soldaten auf seine Seite zu ziehen, indem er ihren Wunsch erfüllt und ihnen Mokutu, dem er noch immer freundschaftlich verbunden ist, an die Spitze stellt. Als die kongolesische Armee ihre weißen Offiziere verhaftet, lässt General Massens die belgische Armee einmarschieren. Von da an scheint sich das Schicksal endgültig gegen Lumumba, der vergeblich auf die Hilfe der UNO hofft, zu wenden. Er schlägt sämtliche Warnungen in den Wind und befiehlt, jeden festzunehmen, der sich gegen seine Regierung stellt. Als er erfährt, dass die UNO mit der abtrünnigen Provinz Katanga verhandelt, kündigt er an, bei Russland den Beistand zu suchen, den die Vereinten Nationen ihm verwehren. Indessen ist im Land ein Bürgerkrieg ausgebrochen, der in einen Völkermord mündet, wofür Lumumba die Belgier verantwortlich macht. Gestärkt durch die Unabhängigkeit des Katanga, verhaften die Gegenspieler Lumumbas den Premier Ministre und ermorden ihn zusammen mit mehreren seiner Anhänger. Dem Volk gegenüber heuchelt Mokutu Trauer um Lumumba vor, den er scheinheilig als «martyr, athlète, héros» (USAC 132)165 bezeichnet. Als das Volk Lumumba daraufhin mit begeisterten Ausrufen ehrt, lässt Mokutu erbost in die Menge schießen. Das im Vergleich zu Césaires übrigen Dramen relativ lange Stück enthält über 35 Sinnsprüche, die in mehreren Fällen explizit als solche gekennzeichnet sind («proverbe», «maxime»). Eine erste und zugleich gebündelte Verwendung von Sinnsprüchen erfolgt in der vierten Szene, in der die Banquiers soeben erfahren haben, dass man auf das Gesuch Lumumbas hin die Unabhängigkeit des Kongos für den 30. Juni 1960 festgesetzt habe. Sie beschließen in einem lächerlichen sentenzenhaften Wortwechsel, sich die Situation zunutze zu machen, wie einer von ihnen in einer Maxime ausdrückt: «Il faut épouser son temps! Je ne dis pas l’aimer, il suffit d’épouser» (USAC 23).166 Fand der Auftakt der Unterhaltung in Prosaform statt, so beginnen einige der Banquiers nun, in Versen zu sprechen, die an den Stil der Komödie in der französischen Klassik erinnern: Quand dans un vaste empire se propage le mal, C’est mal choisir son temps pour faire le libéral.167
(USAC 23)
165 «Märtyrer, Athlet, Held» (Eigene Übersetzung). 166 «Abfinden muß man sich mit seiner Zeit! / Ich sage nicht, daß man sie lieben muß; / die Ehe mit ihr einzugehn genügt!» Aimé Césaire: Im Kongo. Ein Stück über Patrick Lumumba. Übertragen von Monika Kind, Berlin: Klaus Wagenbach 1966, S. 29. 167 «[…] scheinen mir Gedanken / von liberalem Zuschnitt, wenig angemessen / [w]enn ein Imperium auf dem Spiele steht». Aimé Césaire: Im Kongo, S. 29.
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Ein anderer Banquier antwortet mit einem Parallelismus auf diese Maxime: Quand dans un vaste empire se propage le mal les solutions hardies sont aussi les moins sages!168
(USAC 23)
Beide Maximen sind Handlungsanweisungen, die ein angepasstes und unauffälliges Verhalten in Krisenzeiten empfehlen, jedoch kaum konkrete Lösungen vorschlagen. Die in ihnen ausgedrückte Haltung steht im Gegensatz zur wagemutigen und undiplomatischen Vorgehensweise Lumumbas, der nicht bereit ist, sein Land, das sich offiziell soeben von kolonialen Zwängen befreit hat, einem fremden Diktat zu unterwerfen. Ein dritter Banquier kritisiert die Sprachspiele seiner Kollegen und mahnt zur Tat: Rien de plus irritant, monsieur que ces obscurités! Au fait! Pour sortir de nos difficultés, Si vous avez un plan, dites, parles, proposez Au lieu de finasser.169
(USAC 23)
Damit werden die beiden in Versform geäußerten Maximen, wie schon die leere Maxime Vasteys über die Zivilisation in La Tragédie du roi Christophe, als sinnloses Wortgeplänkel entlarvt, dem nachfolgend ein wesentlich mehr an der Praxis orientierter Sinnspruch in Form eines Axioms («Axiome») entgegengestellt wird: pour rendre traitable le Sauvage, il n’est que deux pratiques: La trique, mon cher, ou bien le matabich!170
(USAC 24)
Der Knüppel («la trique») verweist auf eine Praxis der Bestrafung von Sklaven und damit auf eine Haltung, die die farbige Bevölkerung weiterhin als unterworfene und zu zivilisierende ‹Wilde› ansieht. In einem weiteren Axiom, «qu’on les gave»171, das ebenfalls ausdrücklich als solches bezeichnet wird, findet der Sinnspruch seine maximale Vereinfachung und Banalität. Die obskuren sentenzenhaften Äußerungen, die die Banquiers im Hinblick auf die für sie ungünstige Lage im Kongo treffen, haben sich in der nüchternen Handlungsanweisung
168 «Wenn ein Imperium auf dem Spiele steht / hat nur die kühnste Lösung Aussicht auf Erfolg!» Ebda. 169 «Es scheint, Sie lassen uns zum Spaß hier warten! / Mein Herr, wir wären Ihnen sehr verbunden, / Sie sagten endlich unumwunden / was Sie im Schilde führn, statt Redensarten.» Ebda. 170 «Axiom: Zwei Mittel gibt’s, den Wilden zu regieren: die Peitsche – und das Bakschisch!» Ebda., S. 30. 171 «Axiom: Man muß sie wie die Gänse mästen!» Ebda.
4.2 Sprichwort und Maxime im Theater Aimé Césaires
223
kondensiert, die Komplizenschaft der kongolesischen Bevölkerung durch Geschenke zu gewinnen. Indes feiert das Volk seine Unabhängigkeit, ohne jedoch zu wissen, was diese bedeutet. Das zynische «Vive l’Indépendance» (USAC 24)172 der Banquiers hallt im afrikanisierten Ausruf «Vive Dipenda» (USAC 25) nach, wobei das anwesende Volk «Dipenda» für eine Person hält. Die im Gespräch der Banquiers begonnene ironische Verwendung des Sinnspruchs setzt sich in dieser Szene fort, wenn ein kongolesischer Citoyen auf die Frage, was denn die Unabhängigkeit bedeute, die Antwort erhält: «c’est quand c’est les Noirs qui commandent et les Blancs qui obéissent!» (USAC 25),173 wobei sich die Machtvorstellungen, die sich in den Sinnsprüchen der Banquiers artikuliert hatten, nun umgekehrt haben. Die ironische Überspitzung der Unabhängigkeit zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse spiegelt sich im karnevalesken Charakter der Unabhängigkeitsfeier wider sowie im Kommentar des ersten Bürgers, der die Unabhängigkeit auf der Grundlage des geäußerten Sinnspruchs selbst als Karneval identifiziert («Un carnaval quoi!»). Auch die in der folgenden Szene geäußerte Maxime bezieht sich auf die Unabhängigkeit, die nun jedoch im Kontext politischer Diskurse und damit im klaren Gegensatz zu den burlesken Kontexten steht, in die die vorhergehenden Sinnsprüche eingebettet waren: «L’enfantement se fait dans la douleur, c’est la loi; mais quand l’enfant nait, on lui sourit» (USAC 28).174 Sie wird vom ehemaligen Seminaristen Kala Lubu in Bezug auf den schmerzhaften Prozess der Dekolonisierung des Kongos ausgesprochen. Dabei verweist «loi» auf die Doppeldeutigkeit zwischen dem natürlichen Gesetz der Geburt und der sprichwörtlich geäußerten Gesetzmäßigkeit. Es folgt die emphatische Rede des neuen Premierministers Lumumba, die bei ihren Hörern geteilte Reaktionen hervorruft. Ein Banquier drückt die Furcht um sein Geschäft in der Maxime aus: «Là où l’ordre défaille, le banquier s’en va» (USAC 32).175 Mokutu artikuliert seine Missbilligung darüber, dass Lumumba eine endgültige Loslösung von der ehemaligen Kolonialmacht anstrebt, in einem Sprichwort, das zugleich die Moral eines conte bildet: «on ne doit pas
172 «[…] es lebe die Unabhängigkeit!» Aimé Césaire: Im Kongo, S. 30. 173 «Das ist, wenn die Schwarzen befehlen und die Weißen gehorchen.» (Eigene Übersetzung). 174 «Eine Geburt vollzieht sich unter Schmerzen, das ist ein Gesetz; aber wenn das Kind erscheint, lächelt man ihm zu.» Aimé Césaire: Im Kongo, S. 32. 175 «Wo die Ordnung versagt, geht der Bankier!» Ebda., S. 35.
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4 Kleine Formen zwischen Lokalismus und Universalität
attaquer une bête, si on n’est pas sûr de la tuer» (USAC 33).176 Er betrachtet den ehemaligen Kolonisator weiterhin als Übermacht, der der Kongo nicht gewachsen ist. Später wird er dieses Sprichwort selbst umsetzen, indem er, frisch an der Macht, Lumumba umbringen lässt. Einen ähnlich prophetischen Charakter hat auch der Sinnspruch, den Kala einige Szenen später äußert. Kala und Lumumba befinden sich im Flugzeug. Es gewittert. Auf die Feststellung Lumumbas, dass die Regenzeit etwas früh beginne, antwortet Kala mit diesem Sprichwort, das die Wetterverhältnisse auf eine metaphysische Ebene hebt: «quand Dieu est perplexe, notre ignorance dit que c’est le brouillard» (USAC 44).177 Was für Lumumba ein verfrühter Beginn der Regenzeit ist, bedeutet für Kala einen Ausdruck des Zornes Gottes. Mit der «ignorance», die sichtbare Manifestationen nicht zu deuten weiß, spielt er zudem auf Lumumbas Unfähigkeit an, die politischen Ereignisse richtig einzuordnen und die ihm drohende Gefahr zu erkennen. In der nachfolgenden Szene bezieht sich ein Sprichwort auf die gemeinsamen Reisen des Premierministers und seines Präsidenten innerhalb des Landes, in deren Kontext das vorherige Sprichwort geäußert wurde. Diese Reisen sind dem Senat ein Dorn im Auge: «dans un pays civilisé, quand le mari sort, il faut que la femme reste à la maison» (USAC 47).178 Lumumba erklärt daraufhin, dass er am liebsten an möglichst vielen Orten zugleich wäre, um die Komplotte zerstreuen zu können, die sich allerorts gegen ihn bilden. Die nachfolgenden beiden Sinnsprüche nehmen Bezug zum Bürgerkrieg, der im Katanga ausgebrochen ist. In einer Versammlung der kongolesischen Minister begrüßt M’Polo den Vorschlag eines Ministers, die Stadt Bakwanga einzunehmen, um von dort aus den übrigen Katanga zurückzuerobern und begründet dies mit dem Sprichwort: «Qui tient le diamant, tient la couronne» (USAC 61).179 So wie der Wert einer Krone im Diamanten liege, so konzentriere sich der Reichtum des Kongos in der Provinz Katanga. Wer diese erobert, besitzt die Schätze des Kongos. Lumumba kann diesem schlagkräftigen Argument nichts entgegensetzen und willigt ein, indem er Truppen und Geld zur Verfügung stellt. Als er später von dem Massaker an 6000 Balubas im Katanga erfährt,
176 «Man soll ein wildes Tier nicht angreifen, wenn man sich nicht sicher ist, es zu töten.» (Eigene Übersetzung). 177 «Aber wenn Gott ratlos ist, meint unsere Unwissenheit, es sei Nebel.» Aimé Césaire: Im Kongo, S. 41. 178 «[…] in einem zivilisierten Land ist es Sitte, daß die Frau zu Hause bleibt, wenn der Mann ausgeht.» Ebda., S. 43. 179 «Wer den Diamanten hat, hat die Krone!» Ebda., S. 49.
4.2 Sprichwort und Maxime im Theater Aimé Césaires
225
rechtfertigt er den Schaden flapsig mit der Maxime «une campagne militaire n’est nulle part une bataille de confetti» (USAC 73).180 Zwei weitere Sinnsprüche sind in einen inneren Monolog Kalas eingebettet, in dem der Seminarist seine Mitschuld am Bürgerkrieg und sein Verhältnis zu Lumumba reflektiert. Indem er diesem Unrast vorwirft, versucht er seine neidvolle Abneigung dem Präsidenten gegenüber vor sich selbst zu rechtfertigen: «[Nos ancêtres avaient raison,] le vrai chef ne s’agite pas. [Il est. Il demeure. Il se concentre. C’est un concentré d’être. Le concentré du pays. Et se concentrant, doucement il rayonne …]» (USAC 77).181 Kala stützt sich auf ein Axiom seiner Vorfahren, mit dessen Hilfe sich jegliche Vorteile von Lumumbas aktiver Unabhängigkeitspolitik ausblenden lassen. Er beschließt, sich nicht länger von Lumumba an der Nase herumführen zu lassen, wie über ihn gemunkelt wird, sondern sich mit dessen Gegnern zu verbünden. Dies begründet er nicht zuletzt damit, dass er nicht dem internationalen Kommunismus, dem sich Lumumba verschrieben habe, zuarbeiten wolle. Der antikommunistischen Haltung Kalas stehen in der darauffolgenden Szene drei Sinnsprüche von Lumumba gegenüber, mit denen er sich, ganz im Sinne des Kommunismus, auf die Masse des Volkes stützt. Als Pauline Lumumba ihren Ehemann vor den Komplotten, die gegen ihn geschmiedet werden, warnt, beruhigt er sie damit, dass er das Volk auf seiner Seite habe und auf dessen revolutionäre Kraft zählen könne: «En révolution, c’est le peuple qui compte!» (USAC 80).182 Als Pauline dagegen einwendet, dass das Volk schwach sei im Gegensatz zu seinen machtvollen Feinden, verweist Lumumba mithilfe eines Sprichwortes auf seine Freunde und den gegenseitigen Zusammenhalt mit ihnen: «Comme dit le proverbe: ‹Nous sommes les poils du chien, tous couchés sur la même couchette›» (ebda.).183 Ihren Höhepunkt findet die Naivität Lumumbas jedoch darin, dass er fest mit der Unterstützung Kalas rechnet, der zudem den Volksstamm der Bakongos hinter sich habe. «C’est pour eux [les Bakongos, Anm. M.L.B.] qu’est faite la maxime: ‹Que lorsqu’on voit le bec du coq, on voit le coq tout entier!›» (USAC 81).184 Als er sich wenig später in seiner Funktion als Premierminister übers Radio an sein Volk wenden möchte, verbietet ihm
180 «Aber ein Feldzug ist nirgendwo eine Konfettischlacht!» Ebda., S. 55. 181 «Unsere Vorfahren hatten recht; der wahre Häuptling erregt sich nicht. Er ist. Er dauert. Er sammelt sich. Ist Sammelpunkt des Landes. Gesammelt strahlt er Milde aus …». Aimé Césaire: Im Kongo, S. 58. 182 «[…] und in der Revolution zählt nur das Volk.» Ebda., S. 60. 183 «Hundehaare, nach dem Sprichwort, alle auf demselben Fell.» Ebda. 184 «Für sie gilt das Sprichwort: Sieht man den Schnabel vom Hahn, sieht man den ganzen Hahn!» Ebda., S. 61.
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der Soldat Ghana aufgrund eines Befehls der UNO, im Radio zu sprechen und macht ihm deutlich, dass der kongolesische Staat aufgelöst wurde. Dass er die Schuld hierfür Lumumba zuschiebt, zeigt das folgende Sprichwort («Il y a chez nous un proverbe»): «‹L’État est un œuf. Trop serré, il se casse; pas assez, il tombe et se brise.› Je ne sais si vous avez trop serré ou pas assez, mais c’est un fait, il n’y a plus d’État congolais» (USAC 86). Eine weitere Reihe von Sinnsprüchen findet sich in der ersten Szene des dritten Aktes, die Lumumba und einige seiner Anhänger in einer Gefängniszelle zeigen. Lumumba erwacht aus einem Alptraum, in dem er sich von Raubvögeln angegriffen sah. Während sein Mitgefangener Okito Träumen keine Bedeutung abgewinnen kann, sieht Lumumba in ihnen die Weisheit der Ahnen. Ein Sprichwort dient Okito zur Legitimierung dafür, dem unheilvollen Traum Lumumbas keine weitere Beachtung schenken zu müssen: «Le proverbe dit: ‹Nous mangeons avec le soleil, nous ne mangeons pas avec la lune!› Je n’aime pas les rêves!» (USAC 96).185 Der ebenfalls inhaftierte M’Polo glaubt, dass ihre Gegner sie vollständig auslöschen würden und begründet dies mit dem Axiom «au Congo, on ne se s’arrête jamais à mi-chemin» (USAC 97).186 Okito hingegen wendet ein, dass nicht der Kongo für ihr Schicksal verantwortlich sei, sondern das internationale Kapital. Dem pflichtet M’Polo in Form eines Sprichworts bei, das sich ebenfalls auf die Wirkung des Geldes bezieht: «Quand le buffle défèque, ça merdoie loin» (ebd.)187. Lumumba, der den Mut nicht sinken lässt, versucht, sich der Sympathie der Soldaten zu vergewissern, indem er ihnen Bier spendiert und ihnen deutlich macht, dass die farbigen Militärs, die er an ihrer Spitze eingesetzt hat, sich auf ihre Kosten selbst bereichern. Als er sich beim Gefängniswärter nach dem Stand der Dinge im Land erkundigt, antwortet dieser mit der Redensart: «Le pays! le pays! c’est le cas de dire, plus ça change, plus c’est la même chose!» (USAC 99).188 Damit greift Césaire einen Gedanken auf, den er bereits in La Tragédie im Sinnspruch «L’histoire pour passer n’a parfois qu’une voie. Et tous l’empruntent» (TRC 80)189 formuliert hatte. Die Unabhängigkeit bringt auch dem Kongo keine Freiheit, sondern lässt ihn zum Spielball unterschiedlicher politischer Kräfte werden, die ihn zu zerschmettern drohen, oder, wie es der Gefängniswärter
185 «Das Sprichwort sagt: Wir essen mit der Sonne, wir essen nicht mit dem Mond. Ich mag Träume nicht.» Ebda., S. 65. 186 «Im Kongo bleibt man nie auf halbem Weg stehen.» Ebda. 187 «Wo der Büffel scheißt, da stinkt’s!» Ebda., S. 66. 188 «Das Land! Das Land! Immer das gleiche Elend, und wenn sich noch soviel ändert.» Ebda., S. 67. 189 «Oh, die Geschichte kennt mannchmal nur einen Weg, und jeder paßt sich ihm an.» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 63.
4.2 Sprichwort und Maxime im Theater Aimé Césaires
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formuliert: «Les gens commencent à se demander si Dipenda [die personifizierte Unabhängigkeit, Anm. M.L.B.] n’est pas venu ici, comme un vol de sauterelles, pour gâter le pays» (USAC 99).190 Auch Lumumbas Auseinandersetzungen mit seinen Gegenspielern einerseits und seinen Anhängern andererseits sind durch Sinnsprüche gestützt. Als ihre Gegner Kala und Mokutu, begleitet von einigen Paramilitärs, in der Bar erscheinen, in der sich Lumumba und seine Anhänger nach ihrer kurzfristigen Befreiung aufhalten, beruhigt M’Polo Lumumba mit dem Versprechen, dass die Soldaten für sie zu kämpfen bereit seien. Lumumba möchte eine bewaffnete Auseinandersetzung jedoch um jeden Preis vermeiden, was er mit einem religiösen Sprichwort begründet: «Je ne suis pas un homme religieux, mais j’ai fait mienne la parole: ‹Tel l’eunuque qui voudrait déflorer une jeune fille, tel celui qui prétend rendre la justice par la violence!›» (USAC 110).191 Die Tatsache, dass Lumumba sich eines Sprichwortes aus einem religiösen Kontext bedient, den er explizit ablehnt, verleiht diesem eine noch größere Wirkung. Auch Kala setzt geschickt ein Sprichwort ein, um Lumumba in seiner Wut darüber zu besänftigen, dass eine Übergangsregierung an seiner Statt die Staatsgeschäfte führt: «C’est doucement que la banane mûrit. Et doucement qu’il va au marigot, le verre de terre» (USAC 112).192 Lumumba lässt sich jedoch selbst durch die Weisheit der Ahnen nicht überzeugen und lehnt Kalas Angebot, der neuen Regierung beizutreten, wutentbrannt ab. Die in der darauffolgenden Szene geäußerten Sinnsprüche sind Bibelzitate, die im Einklang mit der heuchlerisch frömmelnden Atmosphäre stehen, die im Regierungsgebäude des Katangas herrscht, «l’hypocrisie et une certaine onction ecclésiastique» (USAC 114, Hervorhebung im Original),193 wie es in der Bühnenanweisung heißt. Daher verwundert es nicht, dass in den Diskussionen zwischen Mokutu und seinen Gefolgsmännern einerseits und der Regierung des Katangas andererseits nicht afrikanische Sprichwörter, sondern Zitate aus der Bibel fallen. Mokutu wirft den führenden Politikern des Katanga vor, die Unabhängigkeit der Provinz ausgerufen und damit ein Abkommen («accord») gebrochen zu haben. Es entfacht sich eine Diskussion um das Wort accord, das die Vertreter des Katanga relativieren. Zimbwé, der die Begriffsspalterei als Ablenkung vom eigentlichen Sachverhalt sieht, verweist auf die tödliche Wirkung
190 «Man fragt sich allmählich, ob Dipenda nicht ein Heuschreckenschwarm ist, der über unser Land hergefallen ist, um es zu verwüsten.» Aimé Césaire: Im Kongo, S. 67. 191 Kind kürzt hier das Sprichwort heraus: «Ich bin nicht religiös, aber es ist meine Überzeugung, daß Recht nicht durch Gewalt zu erzwingen ist.» Aimé Césaire: Im Kongo, S. 73. 192 «Langsam reift die Banane; langsam kriecht der Regenwurm zur Pfütze.» Ebda., S. 74. 193 «[…] Scheinheiligkeit und ein gewisser pfäffisch-salbungsvoller Ton;» Ebda., S. 75.
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des Buchstabens: «c’est la lettre qui tue» (USAC 115).194 Das Bibelzitat wird aus seinem ursprünglichen Kontext, in dem es sich auf das alttestamentlich-jüdische Gesetz bezog, herausgelöst und als Ausrede dafür verwendet, dass die führenden Politiker des Katangas das ihren Verhandlungspartnern gegebene Wort gebrochen haben. Zimbwés Mit-Abgeordneter Travélé ergänzt das Zitat albern lachend mit «c’est l’esprit qui sauve» (ebda.),195 wobei mit «esprit» die Einigkeit darüber gemeint ist, Lumumba auszulöschen. Lediglich über die Art und Weise, wie dies geschehen solle, ist man sich uneinig. Nach Lumumbas Tod entschuldigt Mokutu seinen Beitrag damit, dass er ihn nicht töten, sondern lediglich habe neutralisieren wollen, um dies zum gegebenen Zeitpunkt wieder rückgängig zu machen. Wie Lumumba in der Verteidigung seiner Politik greift auch Mokutu auf die Autorität eines Sprichwortes zurück, um ein Handeln zu rechtfertigen, für das es keine Entschuldigung gibt. Die Angst eines seiner Minister, der die internationalen Reaktionen auf die Ereignisse im Kongo fürchtet, versucht Mokutu ebenfalls mithilfe zweier Maximen zu zerstreuen: «L’opinion mondiale, mon cher, est une vieille gâteuse, maniaque de lettres anonymes» (USAC 130).196 Er selbst legt weniger Wert auf das Wohlwollen der internationalen Öffentlichkeit als auf die Sympathie des kongolesischen Volkes, ist aber optimistisch, dass das von Lumumba eingenommene Volk ihm folgen werde, denn «tous les révolutionnaires sont des naïfs: ils ont confiance en l’homme» (USAC 130).197 Diese Maxime erklärt einerseits das Scheitern Lumumbas, dessen Vertrauen in das kongolesische Volk und die Vereinten Nationen ihn unfähig machten, die politische Situation seines Landes richtig einzuschätzen. Andererseits äußert Mokutu eine ideologische Auffassung, die derjenigen Lumumbas – und Césaires – diametral gegenübersteht. Wertet Mokutu den Kommunismus als eine Gutgläubigkeit ab, mit deren Hilfe er sich das kongolesische Volk meint gefügig machen zu können, so sieht Césaire, wie er in seinem Discours sur le colonialisme darlegt, im kommunistischen Widerstand die Möglichkeit zur Befreiung, nicht nur der Drittweltländer von kolonialer und neokolonialer Unterdrückung, sondern auch des westlichen Bürgertums von dem Leid, das es sich durch die Unterwerfung anderer Kulturen und Völker selbst zugefügt hat.198
194 «[…] denn der Buchstabe tötet …» Ebda., S. 75. 195 «[…] und der Geist erlöst!» Ebda. 196 Sehr frei nach Kind: «[…] und die Weltmeinung auch, mit ihrem Fetischkult für demokratische Spielregeln […]» Aimé Césaire: Im Kongo, S. 76. 197 «Alle Revolutionäre sind naiv: sie vertrauen auf den Menschen.» (Eigene Übersetzung). 198 Vgl. Aimé Césaire: Discours sur le colonialisme. Discours sur la Négritude.
4.2 Sprichwort und Maxime im Theater Aimé Césaires
229
Une tempête In Une tempête199 führt Césaire die im Discours sur le colonialisme formulierte und in seinen vorherigen Theaterstücken dramatisch umgesetzte postkoloniale Kritik fort, wobei er verhältnismäßig wenige Bezüge zum afrikanischen Ursprung der kolonisierten Bevölkerung herstellt und das Stück stattdessen mit der Bürgerrechtsbewegung in Nordamerika in Verbindung bringt.200 Der bereits im Titel markierte intertextuelle Bezug zu Shakespeares Drama The Tempest deutet an, dass es sich um die produktive Rezeption eines kanonischen westlichen Textes handelt,201 der in einem außereuropäischen Kontext adaptiert wird und dadurch eine neue ideologische Komponente erhält. Bei Shakespeare wird Prospero, der Herzog von Mailand, von seinem Bruder Antonio hintergangen und aus seinem Herzogtum verbannt. Er gelangt mit seiner Tochter Miranda zu einer tropischen Insel, auf der er sich den Erdgeist Caliban, Sohn der Hexe Sycorax, sowie den Luftgeist Ariel untertan macht. Eines Tages erhält Prospéro die Gelegenheit, seine Widersacher zu stellen, als das Schiff seines Bruders mit Alonso, dem König von Neapel, und dessen Sohn Ferdinand an seinem tropischen Exil vorbeisegelt. Mit der Hilfe Ariels löst er einen Sturm aus, der das Schiff Antonios an die Küste der Insel treibt, auf der sich Prospéro ein übernatürliches Reich aufgebaut hat. Es kommt zu einem Schiedsgericht zwischen den beiden Brüdern, das zu einem versöhnlichen Ende führt und das Prospero dazu veranlasst, die Insel mit seiner Tochter zu verlassen, um in seine ehemalige Heimat zurückzukehren. Auch wenn Aimé Césaire die Strukturen des shakespeareschen Plots sowie die Personenkonstellation weitgehend beibehält, situiert er die Handlung im historischen und kulturellen Kontext der afrikanischen Diaspora und gibt damit die allegorische Ferne, in der sich Shakespeares Stück abspielt, auf.202 Dies wird vor
199 Aimé Césaire: Une tempête. Paris: Éditions de Seuil 1969. Im Folgenden abgekürzt mit UT. 200 Clément Mbom: Le théâtre d’Aimé Césaire ou la primauté de l’universalité humaine, S. 85. Dennoch finden sich Bezüge zur afrokaribischen und afrikanischen Kultur: in der Einführung des Gottes Eshu, dem Lied, in dem Caliban die Gottheit Shango besingt und in Calibans Ausruf «Uhuru», der in der Sprache Kisuaheli ‹Freiheit› bedeutet. 201 Vgl. Wolfgang Bader: Die produktive Lektüre im Prozeß der Dekolonisation, am Beispiel Aimé Césaire. In: Lendemains 27 (1982), S. 53–63, Wolfgang Bader: Von der Allegorie zum Kolonialstück. Zur produktiven Rezeption von Shespeares Tempest in Europa, Amerika und Afrika. In: Poetica 15, 3–4 (1983), S. 247–288 sowie Hans-Jürgen Lüsebrink: Une ‹Weltliteratur› métissée? Réceptions productives et relectures postcoloniales croisées chez Aimé Césaire et Hans Christoph Buch. In: Pascale Rabault-Feuerhahn (Hg.): Théories intercontinentales. Voyages du comparatisme postcolonial. Paris: Demopolis 2014c, S. 227–242, hier S. 231–237. 202 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. Stuttgart; Weimar: Metzler 2012, S. 164.
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allem in den Figuren Ariel und Caliban sichtbar, die nicht als Geister, sondern als Sklaven konzipiert sind. Darüber hinaus wird das Personenarsenal Shakespeares um die afrokaribische Gottheit Eshu ergänzt. Der bereits mehr oder weniger erfolgreich zivilisierte Mulatte Ariel, der Züge von Martin Luther King trägt, steht für die gewaltlose Haltung derjenigen, die sich erhoffen, die Mentalität der Weißen durch eine friedliche Auseinandersetzung ändern zu können.203 Demgegenüber repräsentiert der Schwarze Caliban diejenigen Farbigen, die die Freiheit durch Gewalt zu erlangen suchen und damit auch die radikalen und gewalttätigen Bewegungen US-amerikanischer Farbiger, vertreten durch Malcolm X, die Black Power und die Black Panthers.204 Repräsentativ für den europäischen Kolonisator und eine rassistische weiße US-Bevölkerung steht Prospéro als Magier, dem im Stück auch unsichtbare Mächte unterstehen. Weitere Veränderungen, die Césaire in seiner produktiven Rezeption des wohl größten Dramatikers der Frühen Neuzeit vornimmt, sind die Kürzung des Stücks und das anders gestaltete Ende. Bei Césaire nämlich entscheidet sich Prospéro in letzter Minute, doch auf der Insel zu bleiben und Caliban weiterhin als Sklaven zu halten, während Ariel aufgrund seiner guten Dienste in die Freiheit entlassen wird. Als Prospéro jedoch alt und gebrechlich wird und Caliban ihm schließlich überlegen ist, verlässt dieser seinen Unterdrücker. Une tempête enthält mit etwa siebzehn Sinnsprüchen weniger als die beiden vorhergehenden Stücke, jedoch ist ihre Dichte angesichts der Kürze des Stücks mit derjenigen in La Tragédie und Une saison vergleichbar. Gleich im kurzen Prolog, in dem ein Meneur du jeu die Figuren zusammenstellt, werden zwei Sinnsprüche genannt, die die Auswahl der Charaktere kommentieren. Mit der Maxime «Il y a des volontés de puissance qui s’ignorent» (UT 9)205 charakterisiert Césaire Prospéro, das Konzept vom Willen zur Macht Nietzsches aufgreifend, in seiner Machtgier. Als der Meneur du jeu weitere Figuren auswählt, unter denen sich sowohl diejenigen von Shakespeare als auch die von Césaire hinzugefügten Sklaven Ariel und Caliban befinden, begründet er diese Konstellation mit der Maxime «Il faut de tout pour faire un monde» (UT 9).206 Dieser scheinbar banale Satz birgt in seinem Handlungszusammenhang eine ideologische Aussage: Eine Welt ohne Farbige, repräsentiert durch Ariel und Caliban, ist genauso wenig denkbar wie eine Welt ohne Weiße, wobei hier nicht nur Prospéro genannt wird, sondern auch Trinculo und Stéphano, die sich im Stück
203 Clément Mbom: Le théâtre d’Aimé Césaire ou la primauté de l’universalité humaine, S. 85. 204 Ebda. 205 «Es gibt Machtgelüste, die sich selbst nicht kennen.» Aimé Césaire: Ein Sturm. Aus dem Französischen von Monika Kind, Berlin: Klaus Wagenbach 1970, S. 6. 206 «Um eine Welt zu machen, braucht man alles.» Ebda.
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mit Caliban verbünden und damit für diejenigen unterdrückten Weißen stehen, die in ihrem Streben nach Freiheit eine solidarische Gemeinschaft mit den Farbigen bilden.207 Der einzige Sinnspruch in der ersten Szene formuliert eine Maxime mit universellem Anspruch: «le propre d’un homme est de savoir se dominer dans toutes les situations, même les plus énervantes» (UT 15).208 Das Schiff Alonsos, des Königs von Neapel, ist auf See in einen gefährlichen Sturm geraten. Laut dem Stabsbootsmann ist dieser Naturgewalt selbst der König unterworfen, was ersterer ausnutzt, um sich Gonzalo, dem Bruder und Antonio, dem Berater des Königs, gegenüber respektlos zu verhalten. Diese sind empört und Gonzalo weist den aufsässigen Bootsmann mit der zitierten Maxime zurecht. Nimmt diese auf eine allgemeine condition humaine Bezug, auch wenn sie in einer Auseinandersetzung zwischen Personen unterschiedlichen Ranges geäußert wird, so thematisiert der Sinnspruch in der darauffolgenden Szene das Verhältnis zwischen Sklaven und Herren. In einer Diskussion mit seinem zweiten Sklaven Caliban wirft Prospéro diesem Undankbarkeit vor, wo er ihn doch von seiner Mutter, der Zauberin Sycorax, befreit und ihm die Zivilisation gebracht habe. Caliban hingegen macht seinen Herrn dafür verantwortlich, dass er ihn zum Sklaven gemacht habe und erinnert ihn daran, dass Prospéro ohne ihn nicht hätte überleben können. Er schließt die Reihe seiner Vorwürfe mit dem Sprichwort: «l’orange pressée, on en rejette l’écorce!» (UT 26)209 Bereits an den beiden in den ersten Szenen artikulierten Sinnsprüchen zeigt sich exemplarisch, dass sich Personen unterschiedlicher sozialer Gruppen unterschiedlicher Sprachregister bedienen. Ist die vom weißen Europäer Gonzalo geäußerte Handlungsanweisung einem transparent-rationalen Sprachverständnis zuzuordnen, so rekurriert der Farbige Caliban auf die Bildhaftigkeit und Opazität des Sprichwortes. Allerdings stellt Caliban in den folgenden beiden Maximen unter Beweis, dass er auch die Sprachregister der Weißen beherrscht. In einer Diskussion zwischen den beiden Sklaven darüber, welcher Weg zur Freiheit der richtige sei, versucht er, mit dem nüchternen Satz «l’homme devient chaque jour plus exigeant et plus despotique» (UT 36),210 Ariels Hoffnungen auf eine Freilassung zunichte zu machen. Gegen Calibans Forderung nach sofortiger Freiheit
207 Es liegt nahe, dass Trinculo und Stéphano das marxistische Proletariat verkörpern. Dieses beschreibt Césaire in Discours sur le colonialisme als diejenige Kraft, die der weltweiten Unterdrückung ein Ende setzen kann. 208 «[…] doch es ist des Menschen Eigenart zu wissen, wie man sich in allen Lebenslagen zu beherrschen hat, auch in den allerschwierigsten.» Aimé Césaire: Ein Sturm, S. 8. 209 «Ist die Zitrone einmal ausgepreßt, wirft man die Schale weg!» Ebda., S. 17. 210 «[…] der Bursche wird mit jedem Tag anspruchsvoller und despotischer.» Ebda., S. 24.
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(«Freedom now!», ebda.) wendet Ariel wiederum ein, dass Prospéro der Stärkere sei. Caliban jedoch sieht dessen Machtinstrumente lediglich als Mittel, um Schwäche zu verbergen: «La faiblesse a toujours mille moyens que seule la couardise nous empêche d’inventorier» (UT 37).211 Mit dieser Maxime ahmt Césaire den Sprachstil der französischen Moralisten nach, insbesondere den desillusionierenden Gestus eines La Rochefoucauld. Mit Hilfe einer identité négative nach dem Muster «A n’est que B» (angebliche Stärke ist im Falle Prospéros und der Kolonisatoren nichts anderes als verborgene Schwäche) setzt Caliban das Argument Ariels außer Kraft, Prospéro sei ihnen überlegen. Indem Césaire ausgerechnet dem aufständischen Sklaven Prospéro eine komplexe Sprachform der französischen Klassik in den Mund legt, entreißt er dem Kolonisator das Machtinstrument der Sprache und übergibt es dem Unterdrückten, der ebenso geschickt damit umzugehen weiß wie sein Unterdrücker. Während Ariel bei Prospéro eine Bewusstseinsveränderung erwirken möchte, sieht Caliban in einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit Prospéro den einzigen Weg zur Freiheit. Mit der Maxime «Mieux vaut la mort que l’humiliation et l’injustice» (UT 38)212 stellt Césaire eine Verbindung zum Märtyrertod des Rebellen in Et les chiens se taisaient her, der lieber stirbt als sich den Unterdrückern der Farbigen zu unterwerfen und damit zur Christusfigur der schwarzen Befreiungsbewegung wird. Inzwischen sind Antonio und sein Gefolge auf Prospéros Insel gestrandet. Nachdem sie bereits mit den übernatürlichen Mächten Prospéros konfrontiert worden sind, finden Antonio und Sébastien ihn schlafend vor, und Sébastien vermutet, ohne ihn zu erkennen, dass er der König der Insel sei. Dies schließt Antonio mithilfe der Maxime aus, die zugleich eine implizite Kritik am Versagen weißer Despoten beinhaltet: «Le Roi est celui qui veille quand dort le troupeau» (UT 45)213. Als jedoch auch er zu der Überzeugung kommt, dass es sich bei dem Schlafenden um den König der Insel handeln muss, fasst er den Plan, ihn zu töten, wie er einst seinen älteren Bruder Prospéro ausgeschaltet habe, um sich die Nachfolge auf den Thron von Milan zu sichern. Es findet ein Spiel mit den Metaphern ‹Blut› und ‹Wasser› statt, wobei das Blut für den Willen zur Macht steht, der Antonio zum unwissentlichen Brudermord befähigen würde. Das Wasser hingegen versinnbildlicht äußere Umstände, die zu Macht und Größe führen und zu denen Antonio die Gelegenheit zählt, einen schlafenden König hinterrücks ermorden zu können: «L’eau ne stagne jamais. Elle travaille,
211 «Der Schwäche stehen immer tausend Mittel zur Verfügung, und nur die Feigheit hindert uns, sie anzuwenden.» Ebda. 212 «Besser der Tod als Demütigung und Ungerechtigkeit …» Ebda., S. 26. 213 «König ist der, der wacht, wenn die Herde schläft.» Aimé Césaire: Ein Sturm, S. 31.
4.2 Sprichwort und Maxime im Theater Aimé Césaires
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elle nous travaille. C’est elle qui donne à l’homme sa dimension, la vraie» (UT 46).214 Auch die Verbannung Prospéros führt er auf eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit zurück und wäscht so seine Hände in Unschuld: «Quand on secoue un arbre, il faut bien que quelqu’un tombe» (UT 46).215 Wie bereits Mokutu in Une saison, bedient er sich der Autorität eines Sprichwortes, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Wenig später wird Ariel Antonio mit seinen eigenen Waffen schlagen, indem er Alonso, der den Mord am König ausführen soll, in einen tiefen Schlaf fallen lässt, um seinen Herrn zu schützen. Analog zu dieser Handlungsparallele knüpft er an die von Antonio geäußerte Maxime zum Schlaf an: «qui trop s’endort risque de s’endormir pour longtemps» (UT 47).216 Parallel zum Machtspiel zwischen Antonio und Prospéro findet also ein Sprachspiel statt, bei dem thematisch ähnliche Sinnsprüche hin- und zurückgespielt werden. Auch die Maxime, mit der Gonzalo den Kapitän während des Schiffbruchs zur Selbstbeherrschung mahnte, greift Prospéro auf, um sie gegen seine Feinde zu richten. Er erlegt seinem Neffen Ferdinand, der sich in seine Tochter Miranda verliebt hat, eine Bewährungsprobe auf, indem er ihn hart für sich arbeiten lässt. Dies begründet er mit der Maxime «Travail, Patience, Continence, et le monde est à vous …» (UT 55)217 und prüft so, ob seine Gegner zu der Selbstdisziplin imstande sind, die sie von ihren Untertanen fordern. Die folgenden und letzten drei Sinnsprüche stammen aus dem Munde Stéphanos, der sich mit der Hilfe Calibans, der die Gelegenheit zur Rache an seinem Herrn wittert, zum König zu machen versucht. Stéphano betrachtet Caliban stellvertretend für ein Volk von Eingeborenen, dessen Loyalität sein Königtum legitimiert. Dabei ist die lateinische Sentenz «Vox populi, vox Dei …» (UT 63), nicht nur deshalb fehlgedeutet, weil Caliban als einzelner wohl kaum eine öffentliche Meinung repräsentieren kann, sondern auch, weil Caliban den göttlichen Kräften Prospéros untersteht, von denen sich schließlich auch Stéphano einschüchtern lässt. Seine Feigheit rechtfertigt er mit der Maxime: «Ne jamais sous-estimer l’ennemi» (UT 78).218 Eine solche Verzerrung von Sinnsprüchen hatte Stéphano bereits vollführt, als er sich, kurz nachdem er auf der unbekannten Insel gestrandet war, Mut antrank mit den Worten «Tant qu’il y a de la vie, il y a de la soif … Et réciproquement!» (UT 58).219 Der Umkehrschluss, den er zieht, bezeugt seinen
214 «Das Wasser stagniert niemals. Es arbeitet, es bearbeitet uns. Es gibt dem Menschen seine Dimension, seine wirkliche.» Ebda., S. 32. 215 «Wenn man einen Baum schüttelt, muß schließlich jemand herunterfallen.» Ebda., S. 33. 216 «[…] wer zu fest schläft, leicht [sic!] Gefahr, für immer einzuschlafen», Ebda. 217 «Arbeit, Geduld, Enthaltsamkeit, und die Welt ist Euer …» Ebda., S. 37. 218 «Niemals den Feind unterschätzen.» Aimé Césaire: Ein Sturm, S. 55. 219 «Solange es ein Leben gibt, gibt es auch einen Durst … und umgekehrt!» Ebda., S. 40.
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ungeschickten Umgang mit Redewendungen, die er nicht an die konkrete Situation anzupassen weiß. Daher erstaunt es auch nicht, dass Stéphano auf die List Prospéros hereinfällt, der Lumpen auf den Weg hat legen lassen, um die Aufständischen aufzuhalten. Als Trinculo sich bückt, um die vermeintlich schönen Kleider aufzuheben, hindert ihn Stéphano daran, unter Berufung auf die Maxime «Dans tous les pays du monde, le roi se sert le premier» (UT 78).220 In diesem Moment erscheint Prospéro und setzt dem Putschversuch ein Ende. Stéphanos unbeholfener Umgang mit Sinnsprüchen steht im Einklang mit seiner Unfähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen und lässt ihn genauso scheitern wie Lumumba, der sich selbst mit universell anerkannten, auf die gegebenen Umstände aber nicht zutreffenden Wahrheiten blendete. Mit Stéphano scheitert vorläufig auch Caliban, der, nachdem er Prospéro mit einer Waffe verletzt hat, zusammen mit den beiden weißen Aufständischen festgenommen wird. Der gewalttätige Widerstand muss scheitern, während die angepasste Haltung Ariels und – im Falle Calibans die Zeit – zur Freiheit führt.
4.2.3 Funktionen des Sinnspruchs bei Césaire Die in Césaires Werk eingeflochtenen Sinnsprüche entfalten ihre Wirkung sowohl im inneren als auch im äußeren dramatischen Kommunikationssystem. Auf der inneren Ebene dienen sie zum einen den Figuren, die sie verwenden, häufig als rhetorische Mittel, um ihr Gegenüber zu überzeugen, sich zu rechtfertigen oder um ihre Nachricht zu verschlüsseln. Zum anderen tragen sie zur Charakterisierung von Figuren bei, die sich durch die Verwendung von Sinnsprüchen implizit selbst beschreiben. In einigen Fällen deuten sie auf ein künftiges Geschehen hin – sowohl innerhalb des Plots als auch innerhalb der Kommunikation zwischen einem im Dramentext implizierten, idealen Autor und einem ebenso impliziten idealen Rezipienten.221 Hierbei erfüllen sie zugleich eine pädagogische Funktion, indem sie die ideologische Haltung des Autors erahnen lassen. Der in diesem Spektrum bereits angedeutete Facettenreichtum der Sinnsprüche, der sich auch in ihrer wechselnden Stellung in einem Kontinuum zwischen hexagonalem Französisch und kreolischer Mündlichkeit zeigt, birgt eine kulturelle Funktion, die den Sinnspruch in Césaires Werk weit über den belehrenden Gestus ideologischer Behauptungen hinauswachsen lässt.
220 «In allen Ländern der Erde bedient sich der König als erster.» Ebda., S. 55. 221 Zu den verschiedenen Kommunikationsbenen im Drama vgl. Manfred Pfister: Das Drama, S. 20–22.
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Rhetorische Funktion Die häufige Verwendung von Sinnsprüchen als rhetorische Mittel in einem verbalen Schlagabtausch unterstreicht die kämpferische postkoloniale Haltung, die dem dramatischen Werk Césaires innewohnt. Sämtliche Hauptfiguren der Dramen Césaires (Le Rebelle, Christophe, Lumumba, Prospéro) müssen sich in einem ihnen feindlich gesinnten Umfeld behaupten, dem sie schließlich unterliegen: Der Rebell wird hingerichtet, weil er nicht bereit ist, sich dem kolonialen System zu unterwerfen; Lumumba fällt verschiedenen politischen, ökonomischen und ethnischen Kräften zum Opfer; Christophe wählt den Freitod, weil die falsche Durchsetzung seiner Ideale ihn in eine ausweglose Lage gedrängt hat und Prospéro wird von seinem Sklaven verlassen, den er zunächst unterworfen und viele Jahre unterdrückt hat, auf den er jedoch im Alter angewiesen ist. Césaires Dramen zeigen die zahlreichen Konflikte auf, die sich aus der kolonialen Unterdrückung ergeben und die auch noch nach der Unabhängigkeit zu blutigen Auseinandersetzungen führen. Dieser kämpferische Aspekt wird vor allem im Prolog von La Tragédie du roi Christophe deutlich, wenn Pétion und Christophe als streitende Hähne auftreten. Im Einklang mit diesem kampflustigen Geist lassen sich die rhetorischen Funktionen der verwendeten Sinnsprüche meist entweder einer angreifenden oder einer verteidigenden Haltung zuordnen. Wenn Christophe das Angebot der Präsidentschaft durch den Senat in der ersten Szene von La Tragédie du roi Christophe mithilfe eines Sprichwortes ablehnt, das nicht nur in seinem Inhalt, sondern auch in seiner opaken Form bewusst provokativ ist, so erklärt er dem Senat damit den politischen Kampf. Eine weniger aggressive, aber dennoch initiative Haltung transportiert das Sprichwort, mit dem die Bauern ihre Forderung nach einer Lockerung der Arbeitsbedingung begründen («… une pirogue tient la mer, mais n’est pas toujours sur une mer démontée. Un ceiba tient au vent, mais n’est pas toujours se colleter avec le vent.» TRC 96222) Auch Madame Christophe wagt einen Angriff auf die Politik ihres Gatten, wenn sie ihn zurechtzuweisen versucht und ihrer Warnung mithilfe der Autorität von Sprichwörtern Gewicht verleiht (TRC 58, 60). In Une saison au Congo greifen die Senatoren, denen die häufigen Reisen Lumumbas missfallen, auf eine Maxime ihrer Ahnen zurück, um Lumumba unter Druck zu setzen und ihn vom unerwünschten Verhalten, das ihn für den
222 «[…] ein Nachen schwimmt auf dem Meer, aber nicht immer auf hoher See. Ein Wollbaum trotzt dem Wind, doch er hadert nicht immerzu mit dem Sturm.» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 62.
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Senat unkontrollierbar macht, abzubringen («dans un pays civilisé, quand le mari sort, il faut que la femme reste à la maison.» USAC 47223). In anderen Fällen zeigt sich der Sinnspruch als Mittel der Verteidigung. Kleidete Madame Christophe ihre Warnungen in Sprichwörter, so bedient sich Lumumba Sinnsprüchen, um die Warnungen seiner Frau zu entkräften. Darin, dass er den Bedenken Paulines jeweils mit einer Maxime oder einem Sprichwort begegnet, zeigt sich, dass seine Argumente nicht auf Fakten, sondern auf rhetorischer Überzeugungskraft beruhen. Mangels realer Gegebenheiten, mit denen er sein Handeln begründen könnte, ist er auf die Schlagkraft des Sprichwortes und der Maxime angewiesen. Der Sinnspruch wird zum Instrument einer Verdrängung von Fehleinschätzung und Selbstüberschätzung, die Lumumba ins Verderben führen werden. Aber auch zur nachträglichen Rechtfertigung von Handeln wird der Sinnspruch eingesetzt. Mithilfe einer Maxime entschuldigt Lumumba das Massaker an 6000 Balubas im Katanga. Und als Mokutu seine Mitschuld am Tod Lumumbas nicht auf rationale Weise leugnen kann, beruft er sich ebenfalls auf die Autorität eines Sprichwortes. Die rhetorische Funktion der Sprichwörter im Theater Césaires weist Gemeinsamkeiten mit der afrikanischen Praxis der palabre auf. Dabei handelt es sich um öffentliche rituelle Reden, die bei Ereignissen wie Hochzeiten, Beerdigungen, Geburten, Gerichtsprozessen oder Kriegen, häufig im Wettstreit, abgehalten werden, die aber auch den Chefs und Ältesten in afrikanischen Dörfern dazu dienen, soziale Probleme und zwischenmenschliche Konflikte zu lösen, Gesetze zu erarbeiten und politische Entscheidungen zu treffen.224 In diesen Reden spielen Sprichwörter, Maximen und Aphorismen eine tragende Rolle, indem sie zur Illustration einer Aussage herangezogen werden. Wurde die palabre seit den Ethnographien des beginnenden 20. Jahrhunderts immer wieder negativ konnotiert,225 nicht zuletzt wegen ihres digressiven Stils, der sich in Anekdoten und Sinnsprüchen ergießt, so liegt gerade dieser
223 «[…] in einem zivilisierten Land ist es Sitte, daß die Frau zu Hause bleibt, wenn der Mann ausgeht.» Aimé Césaire: Im Kongo, S. 43. 224 Vgl. Willy A. Umezinwa: La palabre comme création superposée dans le roman africain. In: Neohelicon 5, 2 (1977), S. 105–119, hier S. 107. 225 So verbindet etwa der Missionar Henri Trilles in seiner Sammlung Proverbes, légendes et contes fang, die Praxis der palabre mit Faulheit. Vgl. Henri Trilles: Proverbes, légendes et contes fang, S. 86. Siehe auch Miriam Lay Brander: Transferts de ‹sagesse noire›, S. 92–96. In jüngerer Zeit wird die palabre in manchen afrikanischen Kreisen mit Schikane und Rauferei in Verbindung gebracht, ganz zu schweigen von der pejorativen Verwendung des Begriffs im zeitgenössischen Französisch. Vgl. Willy A. Umezinwa: La palabre comme création superposée dans le roman africain, S. 105–107.
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Stil bedeutenden afrikanischen Romanen zugrunde. Ähnlich wie in Things fall apart (1958) von Chinua Achebe oder Les soleils des Indépendences (1968) von Ahmadou Kourouma dienen die Maximen und Sprichwörter bei Césaire zunächst als Quellen einer «sagesse ancestrale»226. Darüber hinaus nehmen sie in den Wortgefechten seiner Figuren die Stellung von Argumenten ein, die ihrerseits keiner weiteren Erklärung bedürfen. Césaire greift also mit seinen Anleihen aus der Praxis der palabre auf spezifisch afrikanische Strategien des Umgangs mit Konflikten zurück, die im Gegensatz zu europäischen Verfahren der Konfliktlösung stehen. Auf diese Weise kann er zeigen, dass die Spannungen im Kräftefeld zwischen dem Unabhängigkeitsstreben und neokolonialen Interessen nicht nur politischer, sondern auch diskursiver Art sind, dass das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Rhetoriken zu Missverständnissen zwischen ihren Vertretern führen kann. Allerdings ist es Césaire nicht daran gelegen, diese Spannung nur abzubilden. Vielmehr zeigt er, dass sich aus ihr ein kreatives Potenzial entfaltet, das auf der ästhetischen Ebene in kreolische Vielfalt mündet. Dramatische Funktion In seiner einschlägigen Studie zur Gattung des Dramas weist Manfred Pfister dem Sinnspruch eine episierende Funktion, d. h. die Funktion der Vermittlung zwischen dem inneren und äußeren dramatischen Kommunikationssystem zu. Demnach befinden sich Sinnsprüche zwar rein formal innerhalb des inneren Kommunikationssystems, weisen aber zugleich über die Figurenebene hinaus, indem sie auf die Welt des Publikums Bezug nehmen.227 In diesem Sinne lassen sie sich zur Charakterisierung von Figuren einsetzen: Der Sinnspruch hebt die Eigenschaften einer Figur auf eine abstrakte Ebene, von der aus der Zuschauer diese Charakteristika bei sich selbst überprüfen und sich so bis zu einem gewissen Grad mit der entsprechenden Figur identifizieren oder sich von ihr distanzieren kann. Auf einer allgemeineren Ebene tragen die von einer bestimmten Figur geäußerten Sinnsprüche dazu bei, das anthropologische Modell,228 das ihrer Konzeption zugrunde liegt, offenzulegen. So unterstreichen einige von Christophe geäußerten Sprichwörter in La tragédie seinen despotischen Charakter, wie etwa «Les nations ne sont jamais bonnes. Et c’est pourquoi les rois non plus ne
226 Ebda., S. 114. 227 Vgl. Manfred Pfister: Das Drama, S. 121. 228 Vgl. Manfred Pfister: Das Drama, S. 240–241.
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doivent pas être trop bons …» oder «Toutes les saisons sont bonnes quand le Roi l’a décidé» (TRC 132).229 In Une saison zeigt ein Aphorismus, in dem die Hauptfigur Lumumba ihr eigenes Schicksal mit demjenigen Afrikas gleichsetzt, die große Solidarität, die Lumumba mit seinem Heimatkontinent verbindet: «L’Afrique est comme un homme qui, dans le demi-jour se lève, et se découvre assailli des quatre points de l’horizon» (USAC 104).230 Aber auch ganze Gruppen von Figuren werden in Une saison mithilfe von Sinnsprüchen charakterisiert. Die Banquiers etwa erscheinen durch ihre übertrieben preziöse Sentenzenhaftigkeit nicht nur lächerlich, sondern entlarven sich durch den Inhalt ihrer Aphorismen als opportunistisch. Und die biblischen Sprichwörter, die die politischen Führer des Katangas äußern und die sie jeweils verdrehen, verweisen auf deren Scheinheiligkeit. Eine weitere, ebenfalls epische Funktion des Sinnspruchs besteht in Césaires Dramen im Spannungsaufbau. So deuten einige Sprichwörter auf Ereignisse hin, die zu einem späteren Zeitpunkt eintreten werden, und sind dadurch Teil einer partiellen Informationsvergabe, die das künftige fiktive Geschehen weder vollständig offenbart noch vollständig unvorhersehbar macht. Indem sie als implizite Vorzeichen die fiktive Zukunft andeuten, generieren sie ein Spannungsfeld von «Nichtwissen und antizipierender Hypothese»231, wobei diese Spannung durch die Opazität des Sprichwortes noch verstärkt wird. Wenn Mokutu in Une saison Lumumba mit dem Sprichwort «on ne doit pas attaquer une bête, si on n’est pas sûr de la tuer» (USAC 33)232 warnt, dann ist dieser Sinnspruch nicht nur eine innerhalb des inneren Kommunikationssystems ausgesprochene Warnung vor einer übereilten Emanzipation von der ehemaligen Kolonialmacht, sondern weckt darüber hinaus im Zuschauer die Ahnung einer fiktiven Zukunft, in der Mokutu selbst zum sprichwörtlichen Raubtier werden wird, mit dessen Überlegenheit Lumumba nicht gerechnet hat. Auch das Sprichwort, das Christophe in Une tragédie in der letzten Szene äußert, deutet auf ein unheilvolles Ende hin, ohne dieses vollständig vorwegzunehmen: «Toute flèche dont tu sais qu’elle ne te manquera pas, bombe du moins la poitrine pour qu’elle y frappe en plein» (TRC 140).233
229 «Und daher dürfen auch die Könige nicht allzu gut sein […] Alle Jahreszeiten sind gut, wenn man will.» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 66. 230 «Afrika: Ein Mann, der am hellen Tag von allen vier Enden überfallen wird.» Aimé Césaire: Im Kongo, S. 69. 231 Manfred Pfister: Das Drama, S. 143. 232 Zur deutschen Umwandlung des Sprichwortes siehe Anm. 177. 233 «Dem Pfeil, dem du nicht ausweichen kannst, recke die Brust entgegen, daß er mit voller Kraft dich treffe!» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 68.
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Ideologische Funktion Eine weitere Funktion von Sinnsprüchen in Césaires Dramen besteht darin, den ideologischen Standpunkt des Autors zu untermauern. Der Sinnspruch bietet sich nicht zuletzt deshalb zur Formulierung von Positionen der Négritude an, weil er zentrale Aspekte mit Césaires Variante der Bewegung teilt. Césaire beschreibt die Négritude als «une somme d’expériences vécues qui ont fini par définir et caractériser une des formes de l’humaine destinée telle que l’histoire l’a faite: c’est une des formes historiques de la condition faite à l’homme.»234 Als Abstraktion einer Summe von Beobachtungen oder Erfahrungen erscheint der Sinnspruch in besonderem Maße zur Darstellung eines Menschenbildes geeignet, das geographisch und historisch partikulare Einzelerfahrungen zu einem anthropologischen Konzept zusammenfasst. Allerdings geht es Césaire nicht um eine umfassende condition humaine, wie sie La Rochefoucauld in Maximen und anderen Kurzgattungen ausdrückte,235 sondern um eine «condition faite à l’homme», d. h. eine Bedingung – gemeint ist diejenige der kolonialen Unterdrückung –, der ein großer Teil der Menschheit ausgeliefert war. Césaires Definition der Négritude steht im Einklang mit der für seine Dramen typischen Verknüpfung des Universellen («l’humaine destinée», «la condition faite à l’homme») mit dem Historisch-Partikularen («telle que l’histoire l’a faite», «une des formes historiques»). Der Sinnspruch macht in Césaires Werk diese Bewegung vom Universellen zum Partikular-Historischen mit, indem er zunächst eine Wahrheit mit universellem Anspruch formuliert, diese jedoch in ihrem jeweiligen Kontext einen ganz spezifischen Sinn entfalten lässt, wie die obige Betrachtung von Sinnsprüchen in ihrem jeweiligen Äußerungszusammenhang zeigte. Schon allein deshalb wäre es nicht richtig, die Maximen und Sprichwörter Césaires aus ihrem Kontext zu lösen, um sie als Bausteine von Césaires Ideologie zu lesen. Dennoch formulieren die von ihm verwendeten Sinnsprüche in einigen Fällen ideologische Positionen des Autors. Am auffälligsten sind hierbei diejenigen Maximen und Sprichwörter, in denen Césaire an Aussagen aus seinem Discours sur le colonialisme anknüpft. Das wohl prominenteste Beispiel
234 Aimé Césaire: Discours sur le colonialisme. Discours sur la Négritude, S. 81. Aus dem Französischen von Heribert Becker: «Ganz eindeutig verweist sie [Négritude] […] auf eine Summe gelebter Erfahrungen, die schließlich eine der Formen des menschlichen Schicksals bestimmt und gekennzeichnet haben, wie die Geschichte es geschaffen hat: Sie ist eine der historischen Formen des Menschseins in der Welt.» Aimé Césaire: Über den Kolonialismus. Aus dem Französischen, mit einer Vorbem. u. Anm. von Heribert Becker, Berlin: Alexander 2017, S. 104. 235 Dass es sich bei diesem Menschsein nur scheinbar um ein umfassendes Modell handelt, das de facto aber auf den konkreten gesellschaftlichen Kontext des Hofes bezogen bleibt, wurde in dieser Studie bereits mehrfach betont.
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bildet die bereits erwähnte Warnung von Christophes Freund William Wilberforce aus London, deren zentrale Bedeutung durch Kursivierung betont wird: On n’invente pas un arbre, on le plante! On ne lui extrait pas les fruits, on le laisse porter. Une nation n’est pas création, mais un mûrissement, une lenteur, année par année, anneau par anneau. […] Semer […] les graines de la civilisation.236 (TRC 57, Hervorhebung im Original)
Der Begriff der Zivilisation bildet einen zentralen Aspekt der postkolonialen Kritik Césaires. Er steht insofern im Zusammenhang mit der Kolonisierung, als sich unter dem Deckmantel einer gut gemeinten Zivilisierung und Missionierung ein auf Habgier beruhender Kapitalismus versteckt, der in der Gleichung «christianisme = civilisation; paganisme = sauvagerie»237 wurzle. Dem Argument, die Kolonisierung habe den betroffenen Völkern die Zivilisation gebracht, stellt Césaire mit der zitierten Maxime den Gedanken gegenüber, dass die westliche Zivilisation, die Césaire im Bürgertum verkörpert sieht, kein Konzept sei, das sich von einer Kultur auf eine andere übertragen lasse. Diese Haltung unterstreicht das bereits zitierte Sprichwort von Madame Christophe einige Zeilen später: … à vouloir poser la toiture d’une case sur une autre case Elle tombe dedans ou se trouve grande.238
(TRC 58)
Weiter verweist Césaire im Discours sur le colonialisme darauf, dass die koloniale Politik, indem sie kulturelle Differenzen unter den Vorzeichen der Zivilisierung einebnete – Césaire greift diesen Gedanken im Discours sur la Négritude unter dem Stichwort des «réductionnisme européen»239 noch einmal auf –, ihre eigene «racine de diversité» zerstört und um sich herum eine Leere geschaffen habe, in der statt kultureller Vielstimmigkeit höchstens das Echo des eigenen Monologs240 widerhalle. Einige Sprichwörter und Maximen bilden ein Gegengewicht zu dieser Uniformisierung von Kulturen, die Césaire dem Westen vorwirft.
236 «Einen Baum erfindet man nicht, man pflanzt ihn. Man zerrt keine Früchte aus ihm heraus, man läßt ihn sie treiben. Eine Nation ist kein Werkstück, sondern ein Reifungsprozeß, der langsam Jahr für Jahr Ring um Ring ansetzt. […] Säen Sie […] den Samen der Zivilisation.» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 62. 237 Aimé Césaire: Discours sur le colonialisme. Discours sur la Négritude, S. 10. 238 «Wenn man das Dach einer Hütte einer anderen Hütte aufsetzen will, dann fällt es hinein oder es ist zu groß.» Aimé Césaire: Die Tragödie von König Christoph, S. 60. 239 Aimé Césaire: Discours sur le colonialisme. Discours sur la Négritude, S. 84. 240 Vgl. Robert Jouanny: L’Argumentation de Césaire dans son Discours sur le colonialisme. In: Annali Istituto Universitario Orientale, Napoli, Sezione Romanza 40, 1 (1998), S. 35–48, hier S. 40.
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In ihnen vollzieht Césaire eine Symbiose mehrerer Kulturen und stellt so künstlerisch diejenige Vielstimmigkeit wieder her, die die Kolonisatoren zu unterdrücken gesucht hatten. Linguistische und kulturelle Funktion Mit der künstlerischen Darstellung kultureller Pluralität trägt Césaire der Tatsache Rechnung, dass sich in der gegenwärtigen schwarzen Diaspora das traditionelle Afrika, die kreolisierte Karibik und das alte wie das moderne Europa verbinden. In seinem Drama wird das Zusammentreffen dieser kulturellen Elemente vor allem in der Figur des Sanzaspielers in Une saison verkörpert. Dieser steht mit seinen Liedern und Sprichwörtern zum einen für einen afrikanischen Weisheitsdiskurs, mit dem er die Ereignisse aus einer distanzierten Perspektive kommentiert241. Dabei bildet er einerseits einen Teil des kongolesischen Volkes, von dem er sich aber andererseits durch sein Mehrwissen abgrenzt. Als Kommentator, Ratgeber und Warner erfüllt er die Funktion des Chors aus der antiken Tragödie, tritt aber in verschiedenen Erscheinungen auf – von der Figur des griot und des «insulteur de la nation» (wörtl. «Beleidiger der Nation») über diejenige des Narren und des kongolesischen Zauberers bis hin zum «coq divinatoire» («weissagenden Hahnes») des afrikanischen Gottesurteils und der Bibel.242 In der ersten Szene des zweiten Aktes macht er sich als «insulteur de la nation», dessen Aufgabe in manchen afrikanischen Stämmen darin besteht, Staatschefs zu beleidigen, über Lumumba und Kala lustig, die mit ihrer «chemise blanche, mais le cul noir» (USAC 56, «weißes Hemd, aber schwarzer Hintern») wie exotische Vögel wirkten. Er schließt seinen Auftritt, in dem er den beiden Regierungsvertretern deutlich zu machen sucht, dass es sinnlos sei, als farbige Politiker die weißen nachahmen zu wollen, mit einer Reihe von Sprichwörtern ab, die sich durch eine steigende Bildlichkeit auszeichnen: «On montre certaines choses à qui a de bons yeux. Le reste, il le voit de lui-même. D’ailleurs, ce qu’il y a à voir saute aux yeux. Pas besoin d’un grand vent pour dénuder le cul de la poule.» (SaC 59)243
241 Vgl. Ulrich Fleischmann: Une saison au Congo. In: Heinz L. Arnold (Hg.): Kindlers Literatur-Lexikon, Bd. 3. Stuttgart: Metzler 2009, elektronische Ressource, o. S. 242 Ernstpeter Ruhe: Mokutu et le coq divinatoire. In: Jacqueline Leiner (Hg.): Soleil éclaté. Mélanges offerts à Aimé Césaire à l’occasion de son soixante-dixième anniversaire par une équipe internationale d’artistes et de chercheurs. Tübingen: Narr 1984, S. 355–373, hier S. 367–368. 243 «Man zeigt dem, der gute Augen hat, gewisse Dinge. Die übrigen sieht er selbst. Außerdem springt das, was es zu sehen gibt, ins Auge. Man braucht keinen starken Wind, um den Hintern des Huhns zu entblößen.» (Eigene Übersetzung). Die deutsche Übersetzung streicht in der 1.Szene des 2.Aktes diese Sprichwörter.
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Als Verrückter getarnt hat der Sanzaspieler Lumumba vor Augen geführt, wie lächerlich er in seiner europäischen Kleidung wirkt und dass sich die Situation im Kongo seit der Dekolonisierung verschlechtert hat. Nun überlässt er es Lumumba, daraus zu lernen. Ausgerechnet als er die Maske des Verrückten abgelegt hat, beginnt er in Sprichwörtern und damit in einer maskierten Sprache zu sprechen, während er zuvor die Dinge schonungslos beim Namen genannt hat. Die physische Maske wird durch eine linguistische ersetzt. Diese sprachliche Maske spricht für sich selbst: Die verwendeten Sprichwörter bedürfen keiner Erklärung, da der aufmerksame und aufgeschlossene Theaterbesucher bzw. Leser sie selbst zu deuten weiß. Zugleich ersetzen sie die Nüchternheit klarer ideologischer Aussagen durch eine ihnen eigene Opazität, die sich gegen die Eindeutigkeit universeller Modelle richtet. Vor diesem Hintergrund wäre es, so sei noch einmal betont, verkürzt, das Werk Césaires allein mit der Bewegung der Négritude zu verrechnen einschließlich deren Bestreben, die Kultur der farbigen Diaspora unilinear im traditionellen Afrika zu verankern. Eine Analyse des Sinnspruchs im Werk Césaires trägt somit dazu bei, die Argumente Confiants, der die kulturelle Vielfalt der Karibik von Césaire verraten sieht, zu widerlegen. Insbesondere der Vorwurf, Césaire bediene sich ausschließlich der französischen Sprache und setze sich dabei über deren subversive Aneignung durch die Sklaven in den Plantagengesellschaften hinweg244, erweist sich als nicht haltbar. Davon abgesehen, dass Césaire zahlreiche Ausdrücke aus afrikanischen und teilweise auch kreolischen Sprachen245 in sein Theater einfließen lässt, sind die verwendeten Sprichwörter durchweg aus dem Afrikanischen ins Französische übersetzt, wodurch die französische Sprache durch afrikanische und kreolische Semantiken unterwandert wird. Wie Déwé Gorodé bedient sich auch Aimé Césaire einer interlangue, die sich die dominierende Sprache kreativ-subversiv zu eigen macht. Césaires Verwendung von Sprichwörtern trägt in hohem Maße zur Antillanisierung bzw. Afrikanisierung der französischen Sprache bei, indem ihre der kreolischen und der Bantou-Kultur entstammende Bildlichkeit die kulturellen Implikationen des hexagonalen Französisch unterminiert. Diese Haltung des kulturellen Widerstandes drückt sich auch in der Opazität aus, die die Sprichwörter und Maximen Césaires teilweise umgibt. So kommt etwa Christophes Unwille, sich einem neokolonial beeinflussten politischen Diktat zu beugen, in der Wahl des diskursiven Mittels zum Ausdruck: Statt dem Senat eine
244 Raphaël Confiant: Aimé Césaire. Une traversée paradoxale du siècle, S. 37, S. 44. 245 Als Beispiel lassen sich die kreolischen Lieder nennen, die Madame Christophe und Hugonin im letzten Akt der Tragédie singen.
4.2 Sprichwort und Maxime im Theater Aimé Césaires
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deutliche Antwort zu geben, verschleiert er seine Aussage mithilfe der Bildlichkeit eines kreolischen Sprichwortes und grenzt sich so von seinem politischen (und kulturellen) Gegenüber ab. Die dadurch vermittelte Überlegenheit gegenüber dem Anderen wird in Une saison noch auf einer anderen Ebene deutlich: Sprichwörter werden nur von Afrikanern (Lumumba, Mokutu, Kala, M’Polo, Ghana, Okito, Joueur de Sanza) geäußert, die weißen Figuren (les banquiers, Hammarskjöld) verwenden Maximen und Axiome, wobei sich auch Farbige dieses Diskurses bedienen. Darin macht Césaire deutlich, dass die Farbigen in den kolonisierten Ländern europäische, schriftbasierte Ausdrucksweisen beherrschen, während ihre eigenen, mündlich überlieferten Diskurspraktiken von den Weißen lediglich inhaltlich interpretiert, nicht aber angewandt werden können. Ein Beispiel für eine Verwendung des Aphorismus im Zeichen der Opazität liefert in Une saison eine weiße, wenn auch pro-afrikanische Figur. Nach der Ermordung Lumumbas beklagt der UNO-Vorsitzende Dag Hammarskjöld die Ungerechtigkeit, die zum Tod des kongolesischen Staatsoberhauptes geführt hat. Er sieht sich als Opfer, das von Gott dazu bestimmt worden sei, einer solchen «dämonischen Alchimie» (USAC 127) vorzusitzen. Zugleich wird er jedoch zum Sprachrohr Césaires, wenn er folgendes Maximenpaar äußert: «Il n’y a que le premier pas qui coute.» Und nach einer kurzen Pause, in der er einen Schritt nach vorne macht: «Il n’y a que le dernier pas qui compte.» (USAC 127)246 Der Zusammenhang zwischen den beiden Maximen wird erst durch die körperliche Geste von Hammarskjölds Vorwärtsschritts deutlich: In dem Moment, in dem man sich zu einem ersten Schritt überwindet, wird dieser zum zuletzt gemachten, und damit zum entscheidenden Schritt. Die etwas rätselhafte Aussage kann sich darauf beziehen, dass Lumumbas Einsatz für die effektive Unabhängigkeit des Kongos im Zeichen der Einheit ihn zwar das Leben gekostet hat, zugleich aber einen ersten Schritt in Richtung der Unabhängigkeit bedeutet, der sich nicht mehr rückgängig machen lässt und seine Wirkung zeitigen wird. Hammarskjöld fungiert hier als Äußerungsinstanz einer zentralen Idee von Césaire, dass nämlich die Märtyrer der schwarzen Unabhängigkeit, in seinem Theater verkörpert durch die Figur des Rebellen sowie durch Lumumba und Christophe, diese durch ihren Opfertod voranbringen. Insofern ist auch nicht auszuschließen, dass die Verbindung von sprachlicher Äußerung und körperlicher Geste, die zwar für das Theater konstitutiv, an dieser Stelle jedoch besonders ausgeprägt ist, auf
246 «Nur der erste Schritt ist schwer. […] Nur der letzte Schritt zählt.» Aimé Césaire: Im Kongo, S. 80.
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die kreolische bzw. afrikanische Mündlichkeit verweist, in der Sinn stets durch Bewegungen, die eine sprachliche Äußerung begleiten, mit generiert wird.247 Dass ausgerechnet Hammarskjöld als Weißer eine positive Bilanz aus Lumumbas Märtyrertod zieht, trägt zur Universalisierung der Angelegenheit der Farbigen bei und bestätigt Césaires Aussage, dass das Drama des Kongos kein afrikanisches, sondern ein menschliches Drama sei. Auch wenn Césaire mit Une saison eine historische Absicht verfolgt, indem er die «vérité politique»248 («politische Wahrheit»), die hinter den so genannten Kongowirren steht, zu enthüllen sucht, erweitert er die historische Dimension spätestens mit der Maxime von Hammarskjöld um die Dimension einer «vérité humaine»249 («menschlichen Wahrheit»). Der Sinnspruch steht bei Césaire also für eine Universalität, die das Historisch-Partikulare nicht im Allgemeinen aufgehen lässt, sondern gerade die Einzigartigkeit der Erfahrungen eines farbigen Kollektivs im Zuge von Kolonisierung und Entkolonisierung hervorhebt: La Négritude n’est pas une prétentieuse conception de l’univers. C’est une manière de vivre l’histoire dans l’histoire: l’histoire d’une communauté dont l’expérience apparaît, à vrai dire, singulière avec ses déportations de populations, ses transferts d’hommes d’un continent à l’autre, les souvenirs de croyances lointaines, ses débris de cultures assassinées.250
Und auch die relative Verallgemeinerung der kolonialen Erfahrung erfährt noch einmal eine Ausdifferenzierung, indem, wie in Tragédie und Une saison, konkrete geographische und historische Kontexte aufgezeigt werden. Der Einsatz des Sinnspruchs trägt dazu bei, mit seiner verallgemeinernden Tendenz das «drame humain», das hinter diesen historischen Ereignissen steht, ins Bewusstsein zu rufen. Er macht aber zugleich durch seine Situationsgebundenheit die notwendige lokale Rückbindung an einen konkreten Erfahrungszusammenhang deutlich und verhindert so, dass Diversität in Universalität aufgelöst wird. Ein universalistischer Monolog ist für Césaire genauso wenig denkbar wie eine Polarisierung der Welt in Farbige und Weiße, denn «il faut de tout pour faire un monde».
247 Vgl. Raphaël Confiant: Aimé Césaire. Une traversée paradoxale du siècle, S. 97. 248 David L. Dunn/Aimé Césaire: Interview with Aimé Césaire, S. 6. 249 Ebda. 250 Aimé Césaire: Discours sur le colonialisme. Discours sur la Négritude, S. 82. «Die Négritude ist keine prätentiöse Weltanschauung. Sie ist eine Art und Weise, Geschichte in der Geschichte zu leben: die Geschichte einer Gemeinschaft, deren Erfahrung mit ihren Deportierungen ganzer Bevölkerungen, ihren Menschentransfers von einem Kontinent auf den anderen, den Erinnerungen an ferne Glaubensvorstellungen, ihren Überresten ausgelöschter Kulturen eigentlich als einzigartig erscheint.» Aimé Césaire: Über den Kolonialismus, S. 106.
5 Kleine Formen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit 5.1 Alejo Carpentier: Viaje a la semilla Verwendet Aimé Césaire in seinem Werk, unter anderem mithilfe von Sinnsprüchen, eine interlangue, die afrikanisch-kreolische Mündlichkeit und französische Schriftsprache miteinander verschmelzen lässt, so stellt Alejo Carpentier in seiner Kurzgeschichte Viaje a la semilla (1958)1 (afroamerikanische) Mündlichkeit und (okzidentale) Schriftlichkeit einander gegenüber, indem er an die beiden Sprachmodi zwei widerstreitende Epistemologien knüpft, von denen am Ende die eine über die andere siegt. In 13 Episoden erzählt der kubanisch-französische Schriftsteller die Geschichte des wohlhabenden Don Marcial Marqués de Capellanías, der chronologisch rückwärts von seinem Tod ausgehend unterschiedliche Lebensstadien – Erwachsenenalter, Jugend und Kindheit – bis zu seiner Geburt durchläuft und schließlich wieder in den Mutterleib zurückkehrt. Den Stationen von Marcials Leben entsprechen, so wird zu zeigen sein, unterschiedliche Stadien der menschlichen Sprache. Diese lässt sich entlang der rückwärts ablaufenden Lebensgeschichte Marcials ausgehend von juristischen Texten über die Naturgeschichtsschreibung in Mittelalter und Früher Neuzeit, der Unterhaltungsliteratur, dem für den westlichen Diskurs typischen Logozentrismus, dem mündlich überlieferten Mythos bis hin zum Brabbeln des Kleinkindes und schließlich der Abwesenheit von Sprache zurückverfolgen. Dass Carpentier in seiner Kurzgeschichte die Entwicklung von Sprache und Schrift und die damit verbundenen epistemologischen Implikationen abhandelt, legt ein komplexer Aphorismus nahe, in dem die unterschiedlichen thematischen Stränge seiner Kurzgeschichte am Ende zusammenlaufen und kulminieren: «[L]as horas que crecen a la derecha de los relojes deben alargarse por la pereza, ya que son las que más seguramente llevan a la muerte» (VS 26)2.
1 Alejo Carpentier: Viaje a la semilla. In: ders.: Guerra del tiempo. Madrid: Alianza 1993 [1958], S. 5–26. Im Folgenden abgekürzt mit VS. Referenzen auf die deutsche Übersetzung von Anneliese Botond werden jeweils mit VSd abgekürzt (Alejo Carpentier: Reise zum Ursprung. In: ders.: Krieg der Zeit. Ins Deutsche übersetzt von Anneliese Botond, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984 [1958], S. 44–58). 2 «[D]ie Stunden, die rechts der Uhr wachsen, [müssen] durch Trägheit verlängert werden, denn sie sind es, die am sichersten in den Tod führen.» (VSd 58). https://doi.org/10.1515/9783110639483-007
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5 Kleine Formen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Für sich allein gelesen adressiert der Aphorismus lediglich ein zeitliches Thema: Es gelte, die unentwegt fortschreitende Zeit zu nutzen, und zwar nicht etwa durch Fleiß, sondern vielmehr durch Trägheit. Kehrt der Aphorismus auf den ersten Blick also das westliche Postulat ‹Zeit ist Geld› um, so wird seine volle Bedeutung jedoch erst in seinem Äußerungskontext sichtbar. Sein Ort ist das XIII. Kapitel, das zusammen mit dem ersten Kapitel eine Rahmenerzählung für die in Kuba spielende Lebensgeschichte Marcials bildet. Erzählt wird in diesen Kapiteln der Abriss seines (kolonialen) Hauses, unter der Beobachtung eines «alten Schwarzen» («negro viejo»), der über wundersame Kräfte verfügt. Als die Bauarbeiter am Abend die Baustelle mit dem halb abgerissenen Haus verlassen, beginnt sich die Zeit umzukehren: Entonces el negro viejo, que no se había movido, hizo gestos extraños, volteando su cayado, sobre un cementerio de baldosas. […] La casa creció, traída nuevamente a sus proporciones habituales, pudorosa y vestida. […] El viejo introdujo una llave en la cerradura de la puerta principal, y comenzó a abrir ventanas.3 (VS 7)
Der alte Schwarze stellt also durch einen Zauber nicht nur das Haus Marcials wieder her, sondern löst außerdem ein Rückwärtslaufen der Zeit aus. Bei dem negro viejo handelt es sich um die Yoruba-Gottheit Elegua, in Kuba und Haiti unter dem Namen Eshu bekannt, die bereits in Césaires Une Tempête auftrat und die in ihren Transformationen häufig die Figur eines alten Schwarzen mit einem Hirtenstab annimmt. Eine ihrer Funktionen ist es, Schlösser, Türen und Häuser zu bewachen.4 Im afrokubanischen Santería-Kult wird Eshu manchmal als der Teufel und damit als derjenige dargestellt, der ‹verkehrt herum spricht›, weshalb er als geeignete Instanz erscheint, um die erzählte Zeit umzukehren. Am Ende des XII. Kapitel lässt der negro viejo durch einen weiteren Zauber das gesamte Haus wieder verschwinden; als die Bauarbeiter am folgenden Tag zurückkehren, um ihr Werk zu vollenden, finden sie nicht einmal mehr Reste des Gebäudes vor. Nachdem sie sich bei der Gewerkschaft beschwert haben, setzen sie sich in einen nahegelegenen Park. Einer der Arbeiter erinnert sich an die Geschichte der angeblich ertrunkenen Marquesa und
3 «Da vollführte der alte Neger, der nicht von der Stelle gewichen war, seltsame Bewegungen und ließ seinen Stock über einem Friedhof aus Fliesen kreisen. […] Das Haus wuchs, erhielt seine gewohnten Ausmaße zurück, wurde wieder schamhaft, bekleidet. […] Der Alte steckte einen Schlüssel in das Schloß des Hauptportals und begann die Fenster zu öffnen.» (VSd S. 45). 4 Antonio Benítez Rojo: La isla que se repite. El Caribe y la perspectiva posmoderna. Hanover (U.S.A): Ediciones del Norte 1989, S. 256–257.
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früheren Gattin Don Marcials und beginnt sie zu erzählen. Doch niemand schenkt ihm Gehör: Pero nadie prestaba atención al relato, porque (1) el sol viajaba de oriente a occidente, y (2) las horas que crecen a la derecha de los relojes deben alargarse por la pereza, ya que son las que más seguramente llevan a la muerte.5 (VS 26, eigene Nummerierung)
Dass die Geschichte vom Tod der Gräfin nicht auf Interesse stößt, wird in zwei Schritten begründet: zunächst durch eine noch in der erzählten Zeit liegende Feststellung, dass die Sonne von Osten nach Westen wandere und dann, aus der erzählten Zeit austretend, mit einer universellen Aussage, die an die Moral einer Fabel erinnert. Der erste Teil der Begründung mit dem Verweis auf die Bewegungsrichtung der Sonne (1) deutet auf mehrerlei hin. Erstens scheinen auf einer inhaltlichen Ebene die Arbeiter lieber den gegenwärtigen Moment des Nichtstuns zu genießen als sich mit Vergangenem zu beschäftigen. Die westliche moderne Zeitkonzeption scheint einer Trägheit Vorschub zu leisten, die sich jeglicher geistigen Anstrengung widersetzt. Zweitens scheint das Verschwinden des Hauses für sie keine Verbindung mit dem Übernatürlichen zu haben, ganz im Gegensatz zu dem erzählenden Arbeiter, der einen Zusammenhang zwischen dem geheimnisvollen Tod der Marquesa und dem unerwarteten Verschwinden des halb abgerissenen Hauses sieht. Mit der westlich-linearen Zeitkonzeption scheint ein rationales Verständnis einherzugehen, das übernatürliche Komponenten der Wirklichkeit ausblendet. Drittens macht die Erwähnung der scheinbar selbstverständlichen Tatsache, dass die Sonne von Osten nach Westen wandert auf den strukturellen Aspekt aufmerksam, dass die erzählte Zeit nun wieder in die gewohnte Richtung verläuft und somit die sich rückwärts abspielende Lebensgeschichte Marcials und seiner Gattin an dieser Stelle fehl am Platz ist. Hätte keine Umkehrung der erzählten Zeit stattgefunden, so wäre der Hinweis auf die Bewegung der Sonne überflüssig. Indem jedoch eine scheinbar natürliche Tatsache aufgerufen wird, wird deren Selbstverständlichkeit gerade in Frage gestellt. Da die Erdrotation und die Umkreisung der Erde durch die Sonne eine unveränderliche Naturgegebenheit darstellen, muss ihre Infragestellung auf etwas anderes hindeuten: nicht auf einen naturgegebenen Ablauf, sondern auf die ideologischen Implikationen, die mit ihm zusammenhängen. Die Bewegungsrichtung der Sonne verweist hier auf das progressive Zeitverständnis und damit den Rationalismus des Westens im Gegensatz zu einem «wunderbar
5 «Aber niemand schenkte der Erzählung Beachtung, weil (1) die Sonne von Osten nach Westen zog und (2) die Stunden, die rechts der Uhr wachsen, durch Trägheit verlängert werden müssen, denn sie sind es, die am sichersten in den Tod führen.» (VSd S. 58, meine Nummerierung).
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Wirklichen»6, wie es nach Carpentiers Auffassung im afrokubanischen Kult alltäglich ist. Im Einklang mit diesen widerstreitenden Zeitkonzeptionen dominiert in diesem Schlusssatz viertens der schriftliche über den mündlichen Diskurs, was die zweite Begründung im sich anschließenden Aphorismus (2) verdeutlicht. Die mündliche Erzählung auf der Ebene der histoire wird durch einen auktorialen Eingriff von der Ebene der narration aus unterbrochen, und zwar ausgerechnet durch einen Aphorismus und damit durch ein genuin schriftliches Diskurselement. Allerdings geschieht dieser Übergang von der mündlichen Erzählung des Arbeiters zum abschließenden Aphorismus nicht vollkommen abrupt. Die erste Stufe der Begründung dafür, dass niemand jener Erzählung Gehör schenkt, erfolgt noch im imperfecto und damit in der erzählten Zeit. Erst in einem zweiten Schritt wechselt die Vergangenheit der erzählten Zeit ins Präsens. Dennoch muss der Leser den Schlusssatz von Viaje allein schon deshalb mehrmals lesen, weil in ihm drei verschiedene Erzählebenen vereint sind: Die angedeutete Binnenerzählung des Arbeiters, die erzählte Zeit der histoire und die Zeit des discours, von dem aus der Erzähler das Erzählte zu einem Merksatz abstrahiert. Der Erzähler agiert hier von einer außerhalb der histoire liegenden Position aus, die auf das transzendente Zentrum des westlichen Logozentrismus hindeutet. Dadurch wird der Leser darauf aufmerksam gemacht, dass hier nicht mehr die Kräfte des Wunderbaren am Werk sind, sondern dass er es mit einer Erzählung zu tun hat, in der die Kompositionsprinzipien einer rationalen, linear ablaufenden Zeit gelten. Diese Gegenüberstellung einer westlichen, logozentrischen Sprachkonzeption und einer Auffassung, in der das Mündliche und der Mythos dominieren, wird nun im Gesamtzusammenhang von Viaje a la semilla genauer zu untersuchen sein. Die Binnenerzählung setzt sich aus unterschiedlichen Etappen von Marcials Leben zusammen, beginnend mit seinem Tod und endend mit seiner Rückkehr in den Leib seiner Mutter. Kapitel II schildert, wie der alte Schwarze durch einen Zauber das halb abgerissene Haus wiederherstellt, es betritt und Marcial in seinem Totenbett liegend vorfindet. Während sich in Kapitel III der Tod Marcials rückwärts 6 Das von Alejo Carpentier in Anlehnung an den europäischen Surrealismus geprägte Konzept eines weltimmanenten real maravilloso ist seit Mitte der 1990er Jahre zusammen mit den übrigen Diskursen des magischen Realismus der 1960er und -70er Jahre immer wieder als exotistische Vorstellung abgetan worden, z. B. durch die Mitglieder der Crack-Gruppe. Bereits kurz darauf jedoch erfahren solche magisch-realistischen Diskurse wieder einen Aufschwung, etwa in den Werken des Kubaners Abilio Estévez Tuyo es el reino (1997) oder Los palacios distantes (2002). Vgl. Michael Rössner: An der Schwelle zum 21. Jahrhundert (1989–2002). In: Michael Rössner (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 499–529, hier S. 525. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Carpentiers real maravilloso siehe auch Vittoria Borsò: México jenseits der Einsamkeit.
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abspielt, setzt sich der wundersame Wiederaufbau seines Hauses fort. Nach einer Arztvisite und dem Besuch eines Geistlichen steht Marcial von seinem Krankenbett auf und begibt sich in sein Büro, um widerwillig den Verkauf seines Hauses in die Wege zu leiten: Don Marcial no se sentía bien. […] Bajó al despacho donde lo esperaban hombres de justicia, abogados y escribientes, para disponer la venta pública de la casa. […] Pensaba en los misterios de la letra escrita, en esas hebras negras que se enlazan y desenlazan sobre anchas hojas afiligranadas de balanzas, enlazando y desenlazando compromisos, juramentos, alianzas, testimonios, declaraciones, apellidos, títulos, fechas, tierras, árboles y piedras; marañas de hilos, sacada del tintero de la Ley; cordón al cuello, que apretaban su sordina al percibir el sonido temible de las palabras en libertad. Su firma lo había traicionado, yendo a complicarse en nudo y enredo de legajos. Atado por ella, el hombre de carne se hacía hombre de papel.7 (VS 9)
Carpentier verbindet die Krankheit Marcials, die zu seinem Tod führen wird, mit einer Schriftkritik, die die «letra escrita» mit den Artikulationen des Gesetzes gleichsetzt. Es war Marcials Unterschrift, die ihn den Gesetzesvertretern in die Hände gespielt und die zur Versteigerung seines Hauses geführt hat. Die Fäden der Schrift, in denen sich das Gesetz präsentiert, schwellen an zu einem Strick, der sich Marcial um den Hals legt und den Klang des gesprochenen Wortes erstickt. Das geschriebene Wort bedeutet hier Verlust und Tod, das gesprochene Wort Freiheit. Diese Identifikation von mündlichem Diskurs mit Freiheit kommt in Kapitel XI noch einmal zur Sprache, als Marcial im Kleinkindalter die Erwachsenensprache verlernt hat: «Hablaba su propio idioma. Había logrado la suprema libertad» (VS 24).8 Die Sprache, die Marcial in diesem Lebensabschnitt spricht, kommt den tierischen Lauten des Hundes Canelo gleich, mit dem Marcial eine innige Freundschaft verbindet.
7 «Don Marcial fühlte sich nicht gut. […] Er ging ins Arbeitszimmer hinunter, wo ihn Männer vom Gericht erwarteten, Rechtsanwälte und Schreiber, um den öffentlichen Verkauf des Hauses anzuordnen. […] Er dachte an die geheimnisvolle Macht des Geschriebenen, an diese schwarzen Fasern, die, sich verflechtend und entflechtend auf den großen Blättern mit den eingravierten Waagen, Verbindlichkeiten, eidlich Beschworenes, Bündnisse, urkundlich Bezeugtes, Erklärungen, Familiennamen, Titel, Daten, Ländereien, Bäume und Steine verflochten und wieder entflochten; ein Gewirr aus dem Tintenfaß gezogener Fäden, in denen sich des Menschen Fuß verfing und die ihm alle vom Gesetz verworfenen Wege verwehrten; Strick um den Hals, dessen dämpfende Wirkung sich verstärkte, sobald der gefährliche Klang in Freiheit gesprochener Worte vernehmbar wurde. Seine Unterschrift hatte ihn verraten und sich allmählich im Wirrwarr der Aktenbündel zum Knoten geschürzt. Weil er an sie gebunden war, wurde der Mensch aus Fleisch und Blut ein Mensch aus Papier.» (VSd S. 46–47). 8 «Er sprach seine eigene Sprache. Schon griff er mit der Hand nach Dingen, die außerhalb seiner Reichweite lagen.» (VSd S. 57).
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Demnach liegt die größte Freiheit des Menschen in der Vorstufe zur Sprache, im Lallen der Kleinkinder und den Lauten der Tierwelt. In Kapitel IV werden die Ereignisse um den Tod der Marquesa berichtet. Der Leser erfährt an dieser Stelle lediglich, dass die Marquesa am Ufer des Flusses Almendares gestorben ist, wohin sie sich in einer Kutsche begeben hatte. Erst im letzten Kapitel stellt sich in der Erzählung des Arbeiters heraus, dass sie ertrunken ist. Im vorliegenden Kapitel finden sich lediglich Anspielungen auf die Todesursache: «Los caballos de la calesa no traían en las crines más humedad que la del propio sudor» (VS 10).9 Der Hinweis darauf, dass die Pferde, die die Kutsche der Marquesa gezogen hatten, nur von ihrem eigenen Schweiß feucht sind, schließt aus, dass die Marquesa mitsamt der Kutsche ertrunken ist. Zudem weckt die Tatsache, dass Marcial nach dem Tod seiner Frau von immer größer werdenden Gewissensbissen («remordimientos», VS 10) geplagt wird, den Verdacht, dass es sich möglicherweise um ein Verbrechen handelt, an dem er selbst eine Mitschuld trägt. Neben den Anspielungen auf die mögliche Todesursache deuten in diesem Kapitel mehrere Vorzeichen auf den Tod der Marquesa hin: tief hängende Wolken, die Nervosität der Pferde, ein zerbrochener Wasserkrug, vor allem aber der rätselhafte Rat, den die alte farbige Sklavin der Marquesa gibt: «¡Desconfía de los ríos, niña, desconfía de lo verde que corre!» (VS 10).10 Mit «lo verde que corre» spielt die Sklavin wahrscheinlich auf eine schlangenartige Flussgottheit aus den afrikanischen und karibischen Mythen an.11 Bemerkenswerterweise handelt es sich hier um die einzige wörtliche Rede in der gesamten Kurzgeschichte,12 abgesehen von den sprachlichen Fragmenten «¡Pum! … ¡Pum! … ¡Pum! …» (VS 18), mit denen Marcial, ins kindliche Rollenspiel vertieft, die Schüsse einer Schlacht nachahmt oder die «Sí, Padre» und «No, Padre» (VS 20),13 mit denen Marcial gehorsam die Fragen seines Vaters beantwortet. Zwischen dem mündlichen Diskurs und dem geheimnisvollen Tod der Marquesa scheint ein enger Bezug zu bestehen, denn Letzterer gibt nicht nur Anlass zur wörtlichen Rede der Sklavin, sondern bildet darüber hinaus den Inhalt der mündlichen Erzählung des Arbeiters im letzten Kapitel. Dabei gehen das Wunderbar Wirkliche und die Mündlichkeit eine enge Verbindung ein. Die
9 «Die Kutschpferde hatten keine andere Feuchtigkeit als ihren Schweiß in den Mähnen.» (VSd S. 47). 10 «Hüte dich vor den Flüssen, Herrin; hüte dich vor dem fließenden Grünen.» (VSd S. 47). 11 Vgl. Antonio Benítez Rojo: La isla que se repite, S. 260. Benítez Rojo zieht mehrere Mythen in Erwägung, die im Synkretismus der serpiente-río zusammanfließen und von denen jeder der Aussage der Sklavin eine andere Bedeutung verleihen würde. 12 Vgl. Ebda., S. 257. 13 «Ja, Vater» und «Nein, Vater» (VSd S. 54).
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hellseherischen Fähigkeiten der Sklavin, ihre Anspielung auf die mythische Figur der Schlangengottheit sowie die rätselhaft bleibende Verbindung, die der mündlich erzählende Arbeiter zwischen dem Verschwinden der häuslichen Überreste und dem Tod der Marquesa zu sehen scheint, identifizieren den mündlichen Diskurs als Ausdrucksmittel der afrokubanischen Mythen. Im V. Kapitel dominiert wieder der Gesetzestext, wenn die vermählten Marqueses zur Kirche gehen «para recobrar su libertad» (VS 12).14 Die zeitlich verkehrte Eheschließung bringt für das nun nicht mehr verheiratete, sondern lediglich befreundete Paar die Freiheit vom irdischen und göttlichen Gesetz des Ehebundes mit sich. Kapitel VI kann als das zentrale Kapitel von Viaje a la semilla betrachtet werden,15 da es in mehrerlei Hinsicht einen Wendepunkt darstellt. Dies wird unterstrichen durch den von Marcial und seinen Freunden begangenen Karneval, der seit Bachtin bekanntlich als Sinnbild der Umkehrung schlechthin gilt.16 Kurz bevor Marcial seine «minoría de edad»17 (VS 13) erreicht, stellt er fest, dass die Zeit rückwärts läuft: «Una noche […] Marcial tuvo la sensación extraña de que los relojes de la casa daban las cinco, luego las cuatro y media, luego las cuatro, luego las tres y media …» (VS 12).18 Die frisch erworbene Minderjährigkeit und der Eindruck einer rückwärts ablaufenden Zeit auf der Ebene der histoire fallen auf der Ebene des discours mit einem strukturellen Wechsel zusammen, der jedoch erst im darauffolgenden Kapitel stattfindet. Dominierte in der Phase vom Tod bis zum Erreichen der Minderjährigkeit ein diachroner, narrativer Diskurs, der sich vor allem in der Verwendung des indefinido manifestierte, so setzt sich im Jugend- und Kindesalter Marcials ein synchroner, deskriptiver Diskurs durch, der sich durch eine auffällig dominante Verwendung des imperfecto auszeichnet.19 Letzterer zeigt sich dort besonders markant, wo eine unübliche Verwendung des imperfecto zu beobachten ist, wie im Satz «Ahora vivía su crisis mística […]. Tropezaba con la cama y Marcial
14 «[…] um ihre Freiheit wiederzuerlangen.» (VSd S. 48). 15 Vgl. Flora Ovares Ramírez/M. Rojas González: ‹Viaje a la semilla› de Alejo Carpentier. In: La Colmena 39 (2003), www.uaemex.mx/plin/colmena/Colmena 39/Aguijon/Flora.html (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020), o. S. 16 Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt am Main: Fischer 1990. 17 «Minderjährigkeit» (VSd S. 49). 18 «Eines Nachts hatte Marcial […] die merkwürdige Empfindung, daß die Uhren im Haus erst fünf, dann halb fünf, dann vier, dann halb vier Uhr schlugen …» (VSd S. 49). 19 Zur Unterscheidung der beiden zeitlichen Diskurse vgl. Antonio Benítez Rojo: La isla que se repite, S. 249–250.
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despertaba sobresaltado» (VS 17),20 in dem Carpentier das imperfecto anstelle der zu erwartenden indefinido-Formen «vivió», «tropezó» und «despertó» verwendet. Im VII. Kapitel findet sich wieder eine explizite Referenz auf die Schrift: Marcial tritt in das Real Seminario de San Carlos ein, wo er eine unter anderem philosophisch-naturwissenschaftliche Ausbildung erhalten soll. Allerdings interessieren ihn die Werke zur «Historia natural» von Autoren wie Aristoteles, Thomas von Aquin, Bacon und Descartes nicht, vielmehr bevorzugt er ein «concepto instintivo de las cosas» (VS 16).21 Er verlässt das Seminar und vergisst die Bücher. Dies mag erklären, warum er in den vorhergehenden Kapiteln, denen die nachfolgenden Phasen seines Lebens entsprechen, die Schrift nicht mehr mit Literatur und Philosophie, sondern lediglich mit dem Gesetz in Verbindung bringt. In Kapitel VIII, in dem der Übergang vom Jugend- zum Kindesalter geschildert ist, finden wir Marcial, wie er ein «unanständiges Buch» (VSd 53) liest, das er dann aber zugunsten des Spiels mit Bleisoldaten zur Seite legt. Die vermutlich bereits triviale Sprache seiner Lektüre vereinfacht sich noch in den spielerischen Lauten «¡Pum! … ¡Pum! … ¡Pum! …» (VS 18). Das darauffolgende Kapitel XI beginnt mit dem Tod des Vaters. Bemerkenswerterweise kehrt Carpentier in diesem Kapitel, wie auch im nachfolgenden, in dem Marcials Mutter bei dessen Geburt stirbt bzw. ins Leben zurückgleitet, noch einmal zum diachronen Diskurs zurück. Der Tod und die diachron-narrative Schreibweise scheinen untrennbar miteinander verbunden zu sein. Die Referenzen auf die menschliche Sprache in diesem Kapitel identifizieren sie einerseits als Ausdrucksmittel der väterlichen Autorität und andererseits als Gehorsam ihr gegenüber: «El Marqués […] habló a su hijo con el empaque y los ejemplos usuales. Los ‹Sí, padre› y los ‹No, padre›, se encajaban entre cuenta y cuenta del rosario de preguntas, como las respuestas del ayudante en una misa» (VS 20).22 Der Vergleich der Kommunikation zwischen Vater und Sohn mit derjenigen zwischen einem Geistlichen und dessen Messdiener ist nicht zufällig. Sowohl der Vater als auch der Geistliche verkörpern in der westlichen Geistesgeschichte transzendente Instanzen, deren sprachliche Artikulationen unbestrittene Wahrheiten vermitteln. Der Vater wird hier zum Symbol des Logozentrismus, der seit Platon das
20 «Jetzt durchlebte er seine mystische Krise […]. Da stieß er an sein Bett, und Marcial erwachte erschrocken» (VSd S. 52). 21 «[…] da er die Dinge nur noch instinktiv begriff.» (VSd S. 51). 22 «Der Marqués […] sprach mit dem üblichen Ernst und den gewohnten Beispielen zu seinem Sohn. Das ‹Ja, Vater› und das ‹Nein, Vater› schoben sich wie die Antworten des Meßdieners zwischen einen Rosenkranz von Fragen.» (VSd S. 54).
5.1 Alejo Carpentier: Viaje a la semilla
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westliche Denken bestimmt und der einen metaphysischen Zusammenhang zwischen Wort und Sinn herstellt. Dem logozentrischen Sinnbild des Vaters wird in Kapitel X mit dem farbigen Kutscher Melchor eine andere Metapher entgegengestellt: «la vida no tenía encanto fuera de la presencia del calesero Melchor. Ni Dios, ni su padre, ni el obispo dorado de las procesiones del Corpus, eran tan importantes como Melchor» (VS 21).23 Wird der Respekt, den Marcial seinem Vater zollt, durch dessen eindrückliche Statur, seine Militärorden, die ungeheuren Mengen an Essen, die er zu verschlingen vermag und seinen Umgang mit den Sklavinnen hervorgerufen, so beeindruckt Melchor das Kind durch etwas anderes: «Melchor venía de muy lejos. Era nieto de príncipes vencidos. En su reino había elefantes, hipopótamos, tigres y jirafas. […]» – Tiere, die es in Kuba nicht gibt. «Ahí los hombres […] [v]ivían de ser más astutos que los animales» (VS 21).24 Daran schließt sich die Episode von einem wundersamen Krokodilfang an, die Melchor dem kleinen Marcial erzählt haben muss. Und weiter heißt es: «Melchor sabía canciones fáciles de aprender, porque las palabras no tenían significado y se repetían mucho» (VS 21).25 Melchor gewinnt die kindliche Zuneigung Marcials also durch die Geschichten, die er aus seiner Heimat erzählt, und durch Lieder, in denen lediglich der Klang und Rhythmus, nicht aber die Bedeutung der Wörter eine Rolle spielen. Dem patriarchalen Logozentrismus tritt ein mythisches Verständnis gegenüber, das sich in einfachen, mündlichen Erzählstrukturen und in genauso schlichten klanglichen und rhythmischen Mustern ausdrückt. Darüber, ob Carpentier mit der hier als kindlich dargestellten Auffassung einer fernen, idealisierten Heimat des Farbigen auf die Nostalgie der Négritude anspielt, lässt sich nur spekulieren. Als relativ sicher kann man jedoch annehmen, dass Melchor für eine afrokubanische orale Literatur steht, die noch deutliche Spuren Afrikas enthält und die in die Debatte um Transkulturation und Afrokubanismus, wie sie zur Zeit der Entstehung von Viaje a la semilla in Kuba geführt wurde, einfloss.26
23 «[D]as Leben hatte keinen Reiz, außer in Anwesenheit des Kutschers Melchior. Weder Gott noch sein Vater noch der goldene Bischof in der Fronleichnamsprozession waren so wichtig wie Melchior.» (VSd S. 55). 24 «Melchior kam von weither. Er war der Enkel besiegter Fürsten. In seinem Königreich gab es Elefanten, Flußpferde, Tiger und Giraffen. […] Die Menschen […] dort […] lebten davon, daß sie schlauer waren als die Tiere.» (VSd S. 55). 25 «Melchior kannte Lieder, die leicht zu lernen waren, weil die Wörter keine Bedeutung hatten und sich oft wiederholten.» (VSd S. 55). 26 Vgl. Kurt Grötsch: Der Kampf um die Integration, S. 23–29. Carpentier selbst lehnt den Begriff des afrocubano ab, da er die kubanische Gesellschaft in aufgrund von ethnischen Merkmalen abgrenzbare Bevölkerungsgruppen teile und so gegen die Gleichheit von Farbigen und
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Nachdem Marcial im XI. Kapitel mit dem Stadium einer tierähnlichen Kleinkindsprache die «suprema libertad» erreicht hat, verliert er in Kapitel XII jegliches sprachliche Bewusstsein, indem er nicht einmal mehr seinen eigenen Namen kennt («Ignoraba su nombre.» VS 24). Nachdem er in den Mutterleib zurückgekehrt ist, setzt eine Metamorphose seines Hauses und der ihn umgebenden Flora und Fauna ein, bis hin zu einer «condición primaria» (VS 25),27 die nichts als Schlamm und Einöde ist. Vor dem Hintergrund der in den Kapiteln III bis XII aufgezeichneten Rückwärtsentwicklung der menschlichen Sprache gewinnt die Lebensgeschichte Marcials eine neue Dimension. Wird das Erwachsenenalter mit dem Gesetzestext identifiziert, die den freien «hombre de carne» zum fremdbestimmten «hombre de papel» (VS 9)28 werden lässt, so dominieren im Jugendalter philosophische Schriften und Unterhaltungsliteratur, bis im Kindesalter das mündlich gesprochene Wort in den Vordergrund tritt. Ist dieses im Falle des Logozentrismus noch an eine Autorität (den Vater) und in dem des Mythos zumindest noch an eine Erzählerfigur (Melchor) gebunden, so löst es sich in dem Maße, wie es von Sinn entleert wird, von jeglichen Bindungen, bis der Sprecher mit der Äußerung von tierähnlichen Lauten die maximale Freiheit erreicht hat. Die Schrift steht im Zusammenhang mit dem Jugend- und Erwachsenenalter, der Unfreiheit und führt schließlich zum Tod, während das Mündliche mit Kindheit und Freiheit verbunden ist. Im abschließenden Aphorismus laufen die beiden zentralen Themen von Viaje, das dominante Thema der Zeit und das untergeordnete Thema der Sprache, gleich der Coda eines concerto grosso zusammen.29 Auf der strukturellen Ebene triumphiert der schriftliche Diskurs des Aphorismus, der zudem auf den didaktischen Ton der neoklassischen Fabel zurückgreift,30 über den mündlichen Diskurs des Arbeiters, dem niemand Gehör schenken will. Auf der inhaltlichen Ebene scheint die Sonnenuhr des cartesianischen Rationalismus («Las horas que crecen a la derecha de los relojes», VS 26)31 die Oberhand zum einen über eine mythische Zeitkonzeption (der änigmatische Zusammenhang zwischen dem Verschwinden Weißen «en todos aspectos de la vida nacional» («in allen Belangen des nationalen Lebens», eigene Übersetzung) verstoße. A. Carpentier in L’Unitá am 10. Juni 1974, zit. n. Kurt Grötsch: Der Kampf um die Integration, S. 23. 27 «[E]rsten Zustand» (VSd S. 57–58). 28 «Mensch aus Fleisch und Blut»; «Mensch aus Papier» (VSd 47). 29 Auf den Zuammenhang von Viaje und musikalischer Komposition wurde mehrfach hingewiesen, insbesondere bei Antonio Benítez Rojo: La isla que se repite und Flora Ovares Ramírez/M. Rojas González: ‹Viaje a la semilla› de Alejo Carpentier. 30 Vgl. Antonio Benítez Rojo: La isla que se repite, S. 263. 31 «[D]ie Stunden, die rechts der Uhr wachsen» (VSd 58). Vgl. ebda.
5.1 Alejo Carpentier: Viaje a la semilla
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des Hauses und dem ebenso geheimnisvollen Tod der Marquesa) sowie die Kräfte des Eshu zu gewinnen. Auf den ersten Blick scheint der Aphorismus, so Antonio Benítez Rojo, den Leser davon überzeugen zu wollen, dass «die Nacht von Eshu-Elegua, die Nacht, die in umgekehrter Richtung von der Geschichte Don Marcials und dem Verschwinden des Hauses und der Marquesa gekreuzt wird, als Saldo nichts anderes übrig lässt als die vage Erinnerung an einen unwahrscheinlichen Traum»32. Dem widerspricht Benítez Rojo jedoch selbst, wenn er zu dem Schluss kommt, dass sich am Ende zwar ein westliches Zeitverständnis durchsetzt, das den Einsatz von mythischen Elementen als eine reine intellektuelle, exotistische Bedürfnisse befriedigende Übung entlarvt, dass aber der Text in seinem vergeblichen Versuch, den Gesetzen einer westlich-linearen Zeit zu entkommen, gerade einen zentralen Aspekt karibischen Bewusstseins ausdrückt. Gegen die eindimensionale Interpretation des aphoristischen Schlusssatzes, die diesen für sich allein genommen als Artikulation des westlichen Rationalismus versteht, ist einzuwenden, dass er die beiden gegenläufigen Richtungen der Zeit beinhaltet. Mit den «horas que crecen a la derecha de los relojes» als diejenigen, die zum Tod führen, ist zweifellos ein westliches Zeitverständnis mit seinen logozentrischen Implikationen angesprochen, die vor allem im Gesetzeskanon verkörpert sind. Allerdings enthält der Schlusssatz auch die Gegenbewegung: Die westlich-lineare, zum Tod führende Zeit, gilt es durch eine positiv konnotierte Trägheit («pereza») aufzuhalten. Einen prominenten lateinamerikanischen Vorläufer findet dieses Faulheitskonzept bei Mário de Andrade, durch dessen Roman Macunaíma. O herói sem nenhum caráter33 sich leitmotivisch der Satz «Ai! que preguiça! …» («Oh! diese Faulheit! …») zieht, mit dem der indianische Antiheld Macunaíma als Prototyp des brasilianischen Volkes seine Trägheit zu entschuldigen pflegt. Sucht man in Viaje nach der Bedeutung dieser pereza, so stößt man zunächst auf die Untätigkeit der Arbeiter, die sich, nachdem sie ihr Werk vollendet vorfinden, auf einer Parkbank niederlassen, statt sich eine neue Arbeit zu suchen. Auf struktureller Ebene ist die Gegenbewegung von fortschreitender Zeit und deren Ausdehnung in den gegenläufigen zeitlichen Diskursen, dem diachron-narrativen und dem synchron-deskriptiven Diskurs realisiert, wobei Letzterer deutlich positiver konnotiert ist, indem er sich erst mit der Minderjährigkeit Marcials durchsetzt und daher mit einer zunehmenden sprachlichen Freiheit einhergeht.
32 Antonio Benítez Rojo: La isla que se repite, S. 263 (eigene Übersetzung). 33 Mário de Andrade: Macunaíma – O heroi sem nenhum caráter. Sao Paulo: Martins 1969 [1928].
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Somit verweist die pereza nicht zuletzt auf die Mündlichkeit als eine Möglichkeit, der tickenden Zeitbombe des Rationalismus zu entkommen. Der aphoristische Schlusssatz fasst also noch einmal die beiden widerstreitenden Weltbilder zusammen und unterstreicht ihre Gegenläufigkeit durch die rhetorische Figur der Antithese von fortschreitender Zeit und Stillstand: Logozentrismus und Rationalismus, Gesetz und Schrift auf der einen Seite und Mythos und Oralität auf der anderen Seite. Abstrahiert Carpentier aus dem Inhalt von Viaje bereits einen konzisen Satz, so kondensiert er ihn am Ende in einem einzigen Begriff: «la muerte». Der Tod bildet nicht nur das letzte Wort, sondern er behält es auch. Die Bewegung der westlich-linearen Zeit hin zum Tod der sprachlichen Freiheit lässt sich nicht stoppen. Allerdings lässt sie sich entschleunigen und diese Verzögerung hat Carpentier in Viaje selbst vorgeführt: Die Erzählung des unwiderruflichen Abrisses von Marcials Haus wird durch einen wundersamen erzählerischen Eingriff vorübergehend aufgehalten und in die Gegenrichtung gelenkt. Auch wenn sie im letzten Kapitel wieder weitergeführt wird, hinterlässt der Zauber von Eshu-Elegua doch seine Spuren: Dieser hat Marcials Haus nicht nur wiederhergestellt, sondern lässt es am Ende auch wieder verschwinden, inklusive seiner Überreste. Die Arbeiter erweisen sich, abgesehen von dem einen, der sich an den Tod der Marquesa erinnert, als unfähig, das Wunderbare zu erkennen. Handelt es sich bei dem für das maravilloso empfänglichen Arbeiter wohl um Carpentier selbst? Demnach wäre es Aufgabe des lateinamerikanischen Schriftstellers, dem westlichen Logozentrismus und seiner an eine unaufhaltsam fortschreitende Zeit gebundenen Erzählweise durch eine Versprachlichung des Wunderbar Wirklichen entgegen zu wirken. Dies tut Carpentier in Viaje auf zweierlei Weise: erstens, indem er die afrokubanische Gottheit Eshu-Elegua den Ablauf der linearen Erzählzeit umkehren lässt, und zweitens, indem er punktuell auf eine mündlich kodierte Wirklichkeit verweist, die dem westlichen Leser verschlossen bleibt. Dieser wird weder die Bedeutung der rätselhaften Aussage der Hausangestellten («¡Desconfía de los ríos, niña, desconfía de lo verde que corre!») noch den Inhalt des relato des Bauarbeiters erfahren und damit auch nicht die Gründe für den Tod der Marquesa. Dabei bewirken diese punktuellen Ausgriffe auf eine übernatürliche Dimension lediglich eine Verzögerung des Fortschreitens der Zeit, die sie aber, wie der abschließende Aphorismus zeigt, nicht anhalten können. Das Wunderbar Wirkliche bleibt einem westlichen Rationalismus unterworfen – eine Schlussfolgerung, die Carpentier zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Viaje wohl noch nicht gezogen hätte. Damit nimmt die aphoristische Moral seiner Kurzgeschichte ein Eingeständnis des Autors vorweg, das er erst kurz vor seinem Tod machen wird, dass nämlich seine Theorie des Wunderbar Wirklichen nichts
5.2 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle
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als eine Inszenierung des Lateinamerikanischen für den westlichen intellektuellen Leser gewesen sei.34 Die pereza erscheint im Schlusssatz von Viaje wie auch in Mário de Andrades Macunaíma nicht als Rückstand im Hinblick auf die westliche Modernisierung, sondern als positiv konnotiertes Innehalten durch eine Besinnung auf das Wunderbare. Damit bedient die Faulheit hier eine okzidentale Nostalgie, die mithilfe eines exotischen Anderen einen im Zuge der Industrialisierung verloren gegangenen Sinn zu kompensieren sucht.35 Dies gilt nicht nur für Carpentiers Konzept des real maravilloso, sondern auch für die übrigen Diskurse des magischen Realismus, was dazu geführt hat, dass zahlreiche Kritiker der lateinamerikanischen Literatur in den 1990er Jahren diese Diskurse zu Grabe getragen haben. Allerdings gewinnt der magische Realismus gegenwärtig wieder an Bedeutung, wenn auch überwiegend außerhalb von Lateinamerika.36 Damit ragt Carpentiers real maravilloso, ähnlich wie der Zauber von Elegua-Eshu in Viaje, bis in die Gegenwart hinein und leistet damit einen Beitrag zur Infragestellung einer Allgemeingültigkeit westlicher Episteme und ihrer narrativen Ausdrucksweisen.
5.2 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle Carpentier reflektiert die Spannung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Viaje a la semilla implizit auf einer inhaltlichen Ebene, wählt aber für die Darstellung dieses Inhalts die Ausdrucksweise eines rein schriftlichen Diskurses, der seinen Höhepunkt in einem komplexen Aphorismus findet. In der 1972 erschienenen autobiographischen Erzählung Pluie et vent sur Télumée Miracle 37
34 Vgl. Antonio Benítez Rojo: La isla que se repite, S. 264. 35 Vgl. Alicia Llarena: De nuevo El Realismo Mágico: Del Mito a La Posmodernidad. Canadian Review of Comparative Literature/Revue Canadienne De Littérature Comparée 30.2 (2011), S. 313–333, hier S. 326. 36 Namhafte Autoren wie Salman Rushdie oder der afrikanische Schriftsteller holländischen Ursprungs Moses Isegawa etwa schreiben den magischen Realismus außerhalb von Lateinamerika fort und machen ihn damit zu einem universellen Phänomen. In Lateinamerika selbst sind es nach Alicia Llarena vor allem weibliche Schriftstellerinnen, die die Linie fortführen. Obwohl Autorinnen wie die Chilenin Isabel Allende oder die Mexikanerin Laura Esquivel sich dem Vorwurf stellen mussten, ihre Werke seien lediglich Nachahmungen García Márquez’, dem kolumbianischen Begründer des magischen Realismus, so haben sie doch eine große und weltweite Leserschaft gewonnen. Vgl. Ebda., S. 327–328. 37 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle. Paris: Seuil 1972. Im Folgenden abgekürzt mit TM.
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der aus Guadeloupe stammenden Schriftstellerin Simone Schwarz-Bart hingegen äußert sich das Verhältnis von schriftlichem und mündlichem Ausdruck, wie bei Césaire, auf der Darstellungsebene selbst, indem die französische Schriftsprache durch Inhalte und Rhythmen des Kreolischen angereichert wird. Aber auch die Ursprünge der Mündlichkeit unterscheiden sich bei beiden karibischen Autoren voneinander. Während der mündliche Ausdruck bei Carpentier Teil eines Wunderbar Wirklichen ist, das seine Wurzeln in einem frühen Entwicklungsstadium des Menschen hat, ist Schwarz-Barts Erzählung von einer kreolischen Mündlichkeit geprägt, die auf die Sklavenhaltergesellschaften der französischen Antillen zurückgeht. Die kinderlose Erzählerin und Hauptperson Télumée bildet das letzte Glied in der Linie der Lugandor-Frauen.38 Bei ihrer Urgroßmutter Minerve Lugandor, die als Sklavin nach Guadeloupe gebracht wurde, setzt die Erzählung ein. Von der Geschichte ihrer Vorfahrinnen ausgehend erzählt Télumée ihr eigenes Leben, das von Entbehrungen und schmerzlichen Verlusten geprägt ist. Simone Schwarz-Bart selbst sagt über ihr Werk in einem Interview: Télumée Miracle est un hommage à une femme de Goyave. Ce n’est pas seulement sa vie, mais aussi le symbole de toute une génération de femmes connues, ici, à qui je dois d’être antillaise, de me sentir comme je me sens. Télumée c’est, pour moi, une espèce de permanence de l’être antillais, de certaines valeurs …39
Die Analyse der Einbettung kleiner Formen in Pluie et vent wird zeigen, dass der Roman mithilfe der Darstellung eines individuellen Schicksals nicht nur eine condition antillaise, sondern darüber hinaus eine universelle condition humaine artikuliert, wobei der Sinnspruch als Scharnier zwischen der individuellen, karibischen und der universellen Ebene fungiert. Die Bedeutung von Sinnsprüchen in Pluie et vent ist bereits in mehreren Arbeiten hervorgehoben und untersucht worden. Mark Bell etwa geht in seiner
38 An dieser Genealogie fällt auf, dass sie nicht nur matrilinear ist, sondern dass keine der Lougandor-Frauen einen Sohn zur Welt bringt, mit der Ausnahme von Victoire, deren Kind jedoch bei der Geburt stirbt. Dies wird dahingehend interpretiert, dass Schwarz-Bart ein Gegengewicht schaffen wollte zu den Strukturen der patriarchalen Sklavenhaltergesellschaft. Vgl. Roger Toumson: TED (textes et documents) No. 2: ‹Pluie et vent sur Télumée Miracle› de Simone Schwarz-Bart. Fort de France: Editions Caribéennes/GEREC 1979, S. 48. 39 Simone Schwarz-BartAndré Schwarz-Bart: Sur les pas de Fanotte (interview). In: Roger Toumson (Hg.): «Pluie et vent sur Télumée Miracle» de Simone Schwarz-Bart. Fort de France: Editions Caribéennes/Gerec 1979, S. 13–23, hier S. 14. «Télumée Miracle ist eine Hommage an eine Frau aus Goyave. Es ist nicht nur ihr Leben, sondern auch das Symbol einer ganzen Generation von bekannten Frauen hier, denen ich es zu verdanken habe, antillisch zu sein, mich zu fühlen wie ich mich fühle. Télumée, das ist für mich eine Art des fortbestehenden AntillischSeins, gewisser Werte …» (Eigene Übersetzung).
5.2 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle
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Studie Aphorism in the Francophone Novel of the Twentieth Century auf deren strukturierende Funktion ein sowie auf ihre Rolle als Träger von Lebensweisheiten, die durch reife Romanfiguren vermittelt werden. Maryse Condé verweist darauf, dass die Sprichwörter in Pluie et vent Teil eines Diskurses seien, der die feindseligen Lebensbedingungen der Farbigen in Guadeloupe beschreibe, zugleich aber vom Glauben an die Möglichkeiten zeuge, sie zu überwinden.40 Den wohl überzeugendsten und ausführlichsten Zugang eröffnet Kathleen Gyssels, wenn sie die Sprichwörter in Schwarz-Barts Roman als Ausdruck einer lebendigen Mündlichkeit begreift, die sich zwischen kollektivem Diskurs und individueller Ermächtigung bewegt und die den schriftlichen Diskurs unterwandert. In eine ähnliche Richtung, wenn auch eher von einem linguistischen Standpunkt her, argumentiert Jean Bernabé, wenn er die Sprichwörter in Pluie et vent als kreolisches Substrat identifiziert, das kreativ-subversiv in die französische Sprache und die Strategie des Romans einfließe.41 Nach Bernabé dekonstruiert Schwarz-Bart die kreolischen Sprichwörter, indem sie sie bestimmter sprichwörtlicher Eigenschaften beraubt und sie in den schriftlichen Kontext des Romans einbettet. So wird etwa aus dem schlichten kreolischen Sprichwort Tété pa janmen two lou pou lèstomak («Die Brüste sind nie zu schwer für die Brust») der stilistisch wohlgeformte Aphorismus «si lourds que soient les seins d’une femme, sa poitrine est toujours assez forte pour les supporter» (TM 26).42 Bei den genannten Ansätzen fällt auf, dass sie den Sinnspruch in Pluie et vent entweder in der Tradition des europäischen Aphorismus (Bell) oder in der mündlichen kreolischen Tradition lesen (Condé, Gyssels, Bernabé).43 Auch wenn Bell darauf aufmerksam macht, dass Schwarz-Barts Schreibweise wohl
40 Vgl. Maryse Condé: La parole des femmes. Essai sur des romancières des Antilles de langue française. Paris: L’Harmattan 1993, S. 75–76. 41 Jean Bernabé: Le travail de l’écriture chez Simone Schwarz-Bart. In: Présence Africaine: Revue Culturelle du Monde Noir/Cultural Review of the Negro World 121–122 (1982b), S. 166–179, hier S. 175–176. 42 «[…] so schwer die Brüste einer Frau sein mögen, sie ist immer stark genug, sie zu tragen.» Simone Schwarz-Bart: Télumée. Frauenroman aus Guadeloupe. Aus dem Französischen übersetzt von Udo Schlögl, Wuppertal: Peter Hammer 1987, S. 24. Eine ironische Andeutung dieses Sprichwortes findet sich auch in Chamoiseaus Roman Solibo Magnifique: «Ses gros seins tressautaient comme des sacs de sel sur un dos de mulet, mais la grosse ne s’en occupait pas (jamais trop lourds pour une poitrine, ces choses-là ne tombent pas, non).» Patrick Chamoiseau: Solibo Magnifique. Paris: Gallimard 1988, meine Hervorhebung. [«Ihre großen Brüste sprangen hin und her wie Salzsäcke auf dem Rücken eines Maulesels, aber die Dicke kümmerte es überhaupt nicht (Brüste können nicht zu schwer sein, die Dinger fallen nicht herunter, nein).» (Eigene Übersetzung)]. 43 Auch Nathalie Buchet Rogers (Nathalie Buchet Rogers: Oralité et écriture dans Pluie et vent sur Télumée Miracle. In: The French Review 63, 3 (1992), S. 435–449) liest die Sinnsprüche in
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5 Kleine Formen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
kaum auf die europäische Aphorismen-Tradition zurückgreift, so subsumiert er die Sinnsprüche in ihrem Roman doch unter einer spezifisch europäischen, insbesondere deutschen Auffassung vom Aphorismus im Anschluss an Autoren wie Harald Fricke und Franz H. Mautner.44 Vor diesem Hintergrund betrachtet er den Sinnspruch in Pluie et vent als Kennzeichen des schriftlichen Diskurses, der im Gegensatz stehe zum gleichzeitigen mündlichen Anspruch des Textes. Auch wenn die Sinnsprüche mit dem Roman in einen schriftlichen Diskurs eingebettet sind, ist diese Perspektive insofern nicht ganz überzeugend, als sie den mündlichen Ursprung vieler Sinnsprüche in Schwarz-Barts Roman ausblendet, wie ihn etwa Bernabé nachgewiesen hat. Demgegenüber gilt Kathleen Gyssels Augenmerk ausschließlich dem Sprichwort und dessen mündlichem Potenzial, auch wenn sie an der ein oder anderen Stelle alternativ von Maximen und Aphorismen spricht. Dieser Fokussierung lässt sich entgegenhalten, dass einige Sinnsprüche in Pluie et vent aus einer schriftlichen Tradition stammen, wie etwa das sprichwörtlich gewordene Bibelwort «qui se sert de l’épée périra par l’épée» (TM 20)45 oder wie die zahlreichen Erzählerkommentare, die das erzählte oder noch zu erzählende Geschehen zu aphoristischen Merksätzen zusammenfassen. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es zu zeigen, was in den oben genannten Studien höchstens anklingt, aber nicht formuliert wird: Dass Schwarz-Bart in Pluie et vent eine fruchtbare Spannung zwischen kreolischer Mündlichkeit und okzidentaler Schriftlichkeit schafft, die zum einen in der Weiterverarbeitung von (ursprünglich mündlichen) Sprichwörtern zu (elaborierten, schriftlichen) Aphorismen sichtbar wird, zum anderen in aphoristischen Kommentaren, die zwar aus der Feder der Autorin stammen, die aber genauso von Elementen kreolischer Mündlichkeit durchdrungen sind wie die eingearbeiteten Sprichwörter. Kathleen Gyssels weist darauf hin, dass Sprichwörter die Ausdrucksform par excellence dessen sind, was Édouard Glissant als poétique forcée bezeichnet:46 «La poétique forcée naît de la conscience de cette opposition entre une langue dont on se sert et un langage dont on a besoin.»47 Dieser Gegensatz
Pluie et vent als Elemente einer oralen Kultur, die es vor einer bedrohlichen Schriftkultur zu schützen gelte. 44 Vgl. Mark Bell: Aphorism in the Francophone Novel of the Twenthieth Century, S. 10–18. 45 «Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.» Die Bibel, Matthäus 26,52. 46 Vgl. Kathleen Gyssels: Proverbialité dans Pluie et vent sur Télumée Miracle. In: dies. (Hg.): Le guide de l’oraliture. Matoury: Ibis rouge Editions (in Vorbereitung), o. S. 47 Edouard Glissant: Le discours antillais, S. 402–403. «Die gezwungene Poetik wird aus dem Bewußtsein geboren, daß zwischen der Sprache (langue), deren man sich bedient, und der Ausdrucksweise (langage), die man braucht, ein Widerspruch besteht.» Edouard Glissant: Zer-
5.2 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle
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zwischen Sprachgebrauch und intendiertem Sinn manifestiert sich vor allem in Sprachgemeinschaften, die sich im Übergang von der mündlichen zur Buchkultur befinden: Die eingeführte okzidentale Schriftsprache ist nicht in der Lage, das zu artikulieren, was die ursprünglich mündliche Sprache auszudrücken vermochte. Wenn eine forcierte Poetik, oder contre-poétique, sich nicht zu einer poétique naturelle weiter entwickelt, das heißt zu einer Ausdruckweise, in der der intendierte Sinn und die dafür verwendete Sprache übereinstimmen, dann stirbt sie aus.48 Für das Kreolische bedeutet dies, dass es sich der französischen Sprache gegenüber öffnen muss, ohne sich dabei selbst zu verlieren.49 Simone Schwarz-Bart hat in ihrem Werk eine natürlich wirkende Form der interlangue gefunden, in der die konfliktreiche Spannung zwischen kreolischer Mündlichkeit und französischer Schriftlichkeit in einer produktiven Symbiose aufgehoben ist. Zu dieser Kreolisierung des Französischen tragen die Aphorismen in Pluie et vent wesentlich bei. Indem die Autorin kreolische Sprichwörter aphoristisch umspielt, integriert sie deren mündlichen Charakter elegant in die Schrift. Aphorismus und Sprichwort eignen sich aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit in besonderer Weise als Bindeglieder zwischen okzidentaler Schriftlichkeit und kreolischer Mündlichkeit: Als einfache Form50 kann der Sinnspruch sowohl eine mündliche als auch schriftliche Gestalt annehmen, oder aber eine Zwischenform, bei der sich Mündlichkeit und Schriftlichkeit gegenseitig bereichern. Das Verarbeiten kreolischer Sprichwörter in Pluie et vent verleiht dem Text diejenige Opazität, die nach Glissant aus dem Zusammenspiel zweier Sprachen hervorgeht: Die Konfrontation zwischen dem Kreolischen und dem Französischen macht die eine Sprache für die andere undurchsichtig.51 Ein französischsprachiger Leser, der des Kreolischen nicht mächtig ist, kann höchstens erahnen, dass es sich bei dem Aphorismus «si lourds que soient les seins d’une femme, sa poitrine est toujours assez forte pour les supporter.» (TM 26)52 um die Variation eines kreolischen Sprichwortes handelt. Von einem rein kreolisch-sprachigen Leser zu sprechen wäre insofern widersprüchlich, als dieser den französischen Text gar nicht lesen könnte. Daher vermag nur ein Leser, der beide Sprachen
splitterte Welten. Der Diskurs der Antillen. Aus dem Französischen von Beate Thill, Berlin: Wunderhorn 1986, S. 163–164. 48 Edouard Glissant: Le discours antillais, S. 401. 49 Ebda., S. 417–418. 50 Vgl. André Jolles: Einfache Formen. 51 Vgl. Edouard Glissant: Le discours antillais, S. 408–410. 52 «[…] so schwer die Brüste einer Frau sein mögen, ihre Brust ist immer stark genug, sie zu tragen.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 24.
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beherrscht, den vollständigen Sinn solcher Passagen zu erfassen. Über die rein metaphorische Ebene hinaus spielen sowohl das kreolische Sprichwort als auch der aus ihm abgeleitete Aphorismus mit der Akzentuierung der weiblichen Brust auf mindestens zweierlei an: zum einen auf die Verletzlichkeit des weiblichen Körpers, der im Zuge des Sklavenhandels Opfer von Vergewaltigungen und Zwangsprostitution als einer extremen Form kolonialer Unterdrückung wurde,53 und zum anderen auf Geschlecht als eine nicht wählbare identitäre Komponente. Die negative Konnotation beider Aspekte wird im zitierten Sinnspruch positiv gewendet, indem er die ausgesprochene Widerstandsfähigkeit der farbigen Frau betont. Die Opazität, die aus dem konfliktiven Verhältnis zwischen dem Kreolischen und dem Französischen hervorgeht, wird in Pluie et vent auf einer narrativen Ebene reflektiert. Als Télumées weißer Dienstherr sie zwingen will, mit ihm zu schlafen, droht sie nicht nur damit, ihn mithilfe eines kleinen Messers zu kastrieren, sondern entgegnet ihm mit einem gnomischen Satz: «Les canards et les poules se ressemblent, mais les deux espèces ne vont pas ensemble sur l’eau» (TM 114).54 Dass ausgerechnet eine schwarze Dienstangestellte ihrem weißen Herrn damit droht, ihn seiner Potenz zu berauben, hat im Hinblick auf das Verhältnis von Schwarzen und Weißen weitreichende symbolische Folgen, die Gyssels ausführlich beschreibt.55 An dieser Stelle soll das Augenmerk jedoch vielmehr der sprachlichen Waffe gelten, die Télumée einsetzt: Mithilfe der Wirkmacht eines Aphorismus gelingt es ihr, ihren Angreifer zurückzudrängen. Was aber ist es, das Monsieur Desaragne von seinem sexuellen Vorhaben und auch von weiteren Annäherungsversuchen abhält? Zwei Aspekte mögen hierbei eine Rolle spielen: Erstens konfrontiert Télumée ihren Dienstherrn mit den Segregationsregeln, die er selbst aufgestellt hat.56 Die zoologische Metaphorik, die Schwarz-Bart wählt, einschließlich deren sexueller Konnotation, spielt auf das Tabu an, nach dem Ehen zwischen Farbigen und Weißen untersagt waren und nach dem es einem farbigen Mann streng verboten war, sich einer weißen Frau anzunähern.57 Dies galt nicht in umgekehrter Richtung, denn kein Gesetz verbot
53 Vgl. Stéphanie Mulot: Le mythe du viol fondateur aux Antilles françaises. In: Ethnologie française 37, 3 (2007), S. 517–524, sowie Patricia Donatien-Yssa: Femmes d’Afrique: Terre Caraïbe. In: Africultures (2007), http://www.africultures.com/php/index.php?nav=article&no= 7193 (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020). 54 «Enten und Hühner sind einander ähnlich, und doch gehen beide Arten nie gemeinsam ins Wasser.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 115. 55 Kathleen Gyssels: Proverbialité dans Pluie et vent sur Télumée Miracle. 56 Kathleen Gyssels: Proverbialité dans Pluie et vent sur Télumée Miracle. 57 Ebda.
5.2 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle
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es einem weißen Mann, Geschlechtsverkehr mit einer farbigen Frau zu haben. Télumée entlarvt mit ihrem Sprichwort also die Widersprüchlichkeit der herrschenden Segregationsregeln. Zweitens ist es die Mischung aus Klarheit und Opazität, die auf weniger rationale Weise zur Schlagkraft von Télumées Aussage beiträgt. Diese ist einerseits so deutlich, dass sie kein Missverständnis zulässt: Eine körperliche Vereinigung zwischen einer Farbigen und einem Weißen, im konkreten Fall zwischen Télumée und M. Desaragne ist angesichts der herrschenden Segregationsverhältnisse für Télumée undenkbar. Zugleich ist die Aussage so opak, dass M. Desaragne ihr nichts zu entgegnen weiß. Télumée rekurriert auf einen Code, den ihr Dienstherr zwar entziffern, mit dem er sich selbst jedoch selbst nicht ausdrücken kann. Der Satz bezieht seine Autorität aus einer Quelle, die demjenigen verborgen ist, an den er sich richtet. Die Feststellung, dass das Sprichwort seine Autorität gerade seiner Undurchsichtigkeit («obscurité») verdankt, hat bereits Jean Paulhan getroffen (vgl. Kap. 3.1.5). Während er unter den Madagassen regelrechte Wortgefechte beobachtete, in denen ein geäußertes Sprichwort eine Replik in Form eines weiteren Sprichwortes hervorrief, musste er selbst erst Wege finden, um mit dieser Intransparenz des Sprichwortes umzugehen, dessen Bedeutung dem kulturell Außenstehenden verborgen bleibt. Diese Fähigkeit besitzt M. Desaragne durch seinen fehlenden Umgang mit der kreolischen Sprache und Kultur nicht, weshalb er Télumées diskursivem Verteidigungsschlag gegenüber machtlos ist und sich zurückzieht. Das im Kreolischen verwurzelte Sprichwort signalisiert nicht nur eine Abgrenzung und Emanzipation von der weißen Übermacht, sondern vermittelt eine Opazität, welche die farbige Kultur schützend umhüllt. Dass der Aphorismus, den Schwarz-Bart ihrer Protagonistin in den Mund legt, nicht nur innerhalb der erzählten Welt opak wirkt, sondern auch eine Seite besitzt, die für den rein französischsprachigen Leser im Dunkeln liegt, zeigt das kreolische Sprichwort, aus dem die Autorin den Satz wahrscheinlich hergeleitet hat: Poul ka couvé zé ba kanan, mé yo pa ka alé an dlo ansamn.58 Während der Aphorismus, wie er in Pluie et vent erscheint, lediglich auf die visuelle Ähnlichkeit zwischen Enten und Hühnern anspielt, birgt das kreolische Sprichwort einen funktionalen Zusammenhang zwischen den beiden Arten. Schwarz-Bart nimmt hier eine produktive Neulektüre des kreolischen Sprichwortes vor, indem sie zum einen die Dummheit des Huhns, die es gewissermaßen zum Sklaven der Ente macht, durch die biologische Ähnlichkeit zwischen Huhn und Ente ersetzt und dadurch, bezogen auf das
58 Bellemartinique: Lexique créole., https://www.bellemartinique.com/la-martinique/culture/ lexique-creole/ (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020). «Das Huhn brütet die Eier der Ente aus, aber sie gehen nicht zusammen ins Wasser» (eigene Übersetzung).
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Verhältnis von Farbigen und Weißen, rassistische Asymmetrien nivelliert. Zum anderen führt sie den Ausdruck «espèces» (Art, Spezies) ein und spielt so auf die Rassenpolitik in Guadeloupe an, die Télumée ihrem Aggressor vorhält. Schwarz-Bart beschränkt sich in ihrem Roman also nicht darauf, kreolische Sprichwörter wortwörtlich zu übersetzen, sondern passt sie inhaltlich und stilistisch an ihren narrativen und sprachlichen Kontext an. In den Worten von Bernabé: «on note chez la romancière un refus d’opérer un simple collage, à partir de la tradition orale créole. On assiste au contraire à la volonté de procéder à un véritable montage dont la langue française constitue l’opérateur».59 Schwarz-Bart nutzt die Spielräume der französischen Sprache aus, um sie mit denjenigen Bedeutungen zu füllen, die die kreolische Sprache transportiert.60 Mit dieser Taktik gelingt es ihr, sich einer langue zu bedienen, ohne den langage zu verraten. Vielmehr dringt die kreolische Mündlichkeit mithilfe traditioneller kreolischer Erzählformen, Lieder und vor allem Sprichwörter, die Schwarz-Bart mithilfe der Schrift verändert, durch die Poren des schriftlichen Textes. Dadurch nähert sich Schwarz-Bart der gesprochenen Sprache und dem weniger gebildeten Leser – auf den Antillen und darüber hinaus –,61 an, ohne jedoch dem zu verfallen, was Glissant im Anschluss an Aimé Césaire als «piège folklorique»62 bezeichnet hat. Glissant fordert die antillischen Schriftsteller und Künstler dazu auf, von der Darstellung regionalistischer und folkloristischer Elemente wie der kreolischen Küche und Musik, contes und Sprichwörtern Abstand zu nehmen, da eine authentische Literatur von den Antillen mehr sei als eine Zusammenstellung von Besonderheiten eines Lokalkolorits, das die exotistische Neugier des westlichen Lesers stillt. Simone Schwarz-Bart trägt in ihrem Werk zur Wiederherstellung und Erhaltung kreolischer Folklore bei, ohne in diese folkloristische Falle zu treten. Während Glissant eher ein intellektuelles Publikum anspricht, was sich nicht zuletzt darin äußert, dass sich in seinem Werk kaum Sprichwörter, dafür umso mehr elaborierte Aphorismen finden, spricht Simone Schwarz-Bart nicht nur über das ‹Volk›, sondern auch wie und damit für das Volk. Ist Glissants Werk auf der Ebene des discours von einer bisweilen undurchdringlichen Opazität umgeben, beschränkt sich die Intransparenz bei Schwarz-Bart auf rhetorische Stra-
59 Jean Bernabé: Le travail de l’écriture chez Simone Schwarz-Bart, S. 176, Hervorhebung im Original. «Man spürt bei der Romancière die Weigerung, eine einfache Collage auf der Grundlage der kreolischen oralen Tradition zusammenzustellen. Im Gegenteil lässt sich bei ihr der Wille beobachten, zu einer echten Montage zu gelangen, bei der die Französische Sprache als treibende Kraft fungiert.» (Eigene Übersetzung). 60 Vgl. Ebda. S. 179. 61 Nicht umsonst ist Pluie et vent sur Télumée Miracle 1973 mit dem Grand Prix der Leserinnen der französischen Zeitschrift Elle ausgezeichnet worden. 62 Edouard Glissant: Le discours antillais, S. 473.
5.2 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle
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tegien der Figuren auf der Ebene der histoire. Dennoch sind ihre Romane weit mehr als ein Katalog volkstümlicher kreolischer Elemente.63 Gerade ihr Umgang mit Sinnsprüchen zeugt von einem komplexen Einsatz der Sprache, die sich weder auf kreolische Mündlichkeit noch okzidentale Schriftlichkeit reduzieren lässt.
5.2.1 Der Sinnspruch in der erzählten Welt Die in Pluie et vent vorkommenden Sinnsprüche sind auf zwei unterschiedlichen narrativen Ebenen angesiedelt: zum einen auf der Ebene eines retrospektiven Erzählens durch die gealterte Télumée, die in ihrem Garten Rückschau auf ihr Leben hält und das Erlebte regelmäßig in aphoristischen Reflexionen zusammenfasst. Zum anderen sind zahlreiche Sinnsprüche den Figuren der erzählten Welt in den Mund gelegt. Auch wenn Télumées Großmutter Toussine, abgesehen von der Erzählerin, zweifellos den größten Anteil an Sinnsprüchen äußert, so ist doch grundsätzlich keine Figur von dieser Ausdrucksweise ausgeschlossen. Sowohl positiv als auch negativ besetzte Figuren bedienen sich des sprichwörtlichen Diskurses, wenngleich mit unterschiedlicher Absicht. Während Toussines Sinnsprüchen meist eine didaktische Funktion bei der Erziehung Télumées zukommt, setzen andere Figuren den Sinnspruch als rhetorisches oder prophetisches Instrument ein oder, um ihr Handeln sich selbst oder anderen gegenüber zu rechtfertigen. Diese legitimierende Funktion des Sinnspruchs, die bereits im Theater Aimé Césaires sichtbar wurde, lässt sich etwa beobachten, als Télumées Mutter Victoire sich dem Neid der Bewohner ihres Dorfes Fond Zombi ausgesetzt sieht, die sie für ihren ständigen Gesang rügen. So hören Télumée und ihre Schwester Regina ihre Mutter zu sich selbst sagen: «les peines sont les mépris et mieux vaut faire envie que pitié …» (TM 31).64 Auch nachdem Victoire ihre Tochter Télumée der Großmutter überlässt, um mit ihrem Liebhaber allein zu sein, trotzt sie den Vorwürfen, die man ihr im Dorf macht: «[et elle savait qu’] il faut le plus souvent arracher ses entrailles et remplir son ventre de paille si l’on veut
63 Vgl. auch Nathalie Buchet Rogers: Oralité et écriture dans Pluie et vent sur Télumée Miracle, S. 446: «Loin d’être la marque d’un exotisme facile, les proverbes et contes introduits dans la trame du roman, font partie d’une stratégie d’intégration du lecteur à l’intérieur à la tradition orale.» [«Ohne das Kennzeichen eines einfachen Exotismus zu sein sind die Sprichwörter und Märchen, die in das Gerüst des Romans eingebettet sind, Teil einer Strategie, um den Leser in die orale Tradition zu integrieren.» (Eigene Übersetzung)]. 64 «[…] das Leid trägt Verachtung ein, besser man erregt Neid als Mitleid …» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 30.
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aller, un peu, sous le soleil» (TM 46).65 Das Sprichwort spielt auf eine Verweigerung von Mutterschaft an, die zahlreiche schwarze Protagonistinnen im karibischen Roman verbindet und die auf die Sklaverei zurückgeht. Die prekären Lebensbedingungen auf den Plantagen trieben Sklavinnen häufig dazu, ihre Schwangerschaften, die meist aus gewaltsamen Verhältnissen hervorgegangen waren, abzubrechen.66 Auch wenn Victoire einem bereits geborenen Kind die Mutterschaft verweigert und dies nicht unter lebensbedrohlichen Bedingungen geschieht, spielt ihr egoistischer Befreiungsakt auf das Martyrium an, das dem Muttersein auf den Antillen seit dem Sklavenhandel anhaftet. Dies macht auch plausibel, warum Toussine ihre Tochter denjenigen gegenüber verteidigt, die deren Lebenswandel kritisieren, was ebenfalls mithilfe eines Sinnspruchs geschieht: «[mes amis,] la vie n’est pas une soupe grasse et pour bien longtemps encore, les hommes connaîtront même lune et même soleil, mêmes tourments d’amour …» (TM 46–47).67 Eine rhetorische Funktion erfüllt der Sinnspruch innerhalb der erzählten Welt auch dort, wo er einer Figur zu Hilfe kommt, die ihrem Gegenüber eine bewusst vage Antwort geben möchte. Als Madame Desaragne sich Télumée gegenüber negativ über die Schwarzen äußert, schweigt diese. Madame Desaragne tadelt ihr Schweigen, woraufhin Télumée mit dem folgenden Sinnspruch antwortet: «[Madame, on dit que] certains aiment la lumière, d’autres la fange, c’est ainsi que le monde tourne …» (TM 97–98).68 Da Télumée auf die Aussage ihrer Dienstherrin nichts antworten möchte, aber zu einer Antwort genötigt wird, wählt sie einen bewusst zweideutigen Sinnspruch. Nach einer möglichen Lesart bestätigt der Spruch die Vorurteile von Madame Desaragne: Während die Weißen das Licht lieben, bevorzugen die Schwarzen den Schlamm. Aber auch die umgekehrte Deutung ist denkbar, nach der sich die Schwarzen nach dem Licht, das heißt nach Lebensfreude, Solidarität und Selbstbestimmung ausstrecken, während die Weißen im Schmutz ihrer eigenen Herrschsucht leben. Indem der Sinnspruch beide Lesarten offenlässt, umhüllt er Télumées Antwort, ähnlich wie diejenige, mit der sie den Gatten von Madame Desaragne
65 «[und sie wußte, daß] man sich meist die Eingeweide herausreißen und den Bauch mit Stroh füllen muß, wenn man ein bißchen in der Sonne wandeln will.» Ebda., S. 46. 66 Vgl. Patricia Donatien-Yssa: Femmes d’Afrique: Terre Caraïbe. 67 «[meine Freunde,] das Leben ist keine fette Suppe, und noch lange werden die Menschen denselben Mond, dieselbe Sonne sehen und dieselben Qualen der Liebe erfahren.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 46–47. 68 «[Madame, man sagt,] manche lieben das Licht, andere den Schmutz, so ist die Welt nun einmal …» Ebda., S. 98.
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abwehrt, mit einer schützenden Opazität. Aber nicht nur den Weißen gegenüber, sondern auch untereinander bedienen sich die Schwarzen dieser Verdunkelungsstrategie, etwa um ihr Gegenüber nicht zu verletzen. So erwidert Toussine der merkwürdigen Alten Adriana, die behauptet, dass man sie völlig verkannt habe und dass sie in ihrer schäbigen Hütte einen großen Besitz wahre: «on voit des gens en robe déchirée, ils dorment et se lèvent dans des cases branlantes mais qui sait ce que ces gens-là possèdent dans leur armoire, qui le sait … ?» (TM 107).69 Dabei fällt der Widerspruch zwischen dem neutralen Pronomen «Ils» und der «robe» als, zumindest auf den Antillen, weiblichem Kleidungsstück auf. Dies deutet auf einen möglicherweise jüdischen Ursprung des Sprichwortes hin, wofür auch sprechen würde, dass der polnisch-stämmige Jude André Schwarz-Bart zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans bereits Lebenspartner der Autorin war.70 Im orthodoxen Judentum ist es nicht nur üblich, dass Männer Röcke tragen, sondern auch, dass man in der Trauer sein Gewand zerreißt. Darüber hinaus scheint die Erwähnung eines versteckten Reichtums auf das Klischee des wohlhabenden Juden anzuspielen. Während sich Reichtum laut Toussines Satz durchaus verbergen lässt, verneint ein ebenfalls jüdisches Sprichwort, das auffällige Ähnlichkeiten mit demjenigen Schwarz-Barts aufweist, dies im Hinblick auf die Armut: «Den Dalles und das Stroh in zerrissenen Stiefeln kann man nicht verbergen.»71 Zum anderen weist Toussines Satz eine Verbindung zum französischen Sprichwort «Les vêtements font les gens» hin, das auf den römischen Rhetoriker Quintilian zurückgeht und das, wie auch Toussines Sprichwort, den Gegensatz zwischen Sein und Schein ausstellt, wenn auch in umgekehrter Richtung: Während stattliche Kleidung in Quintilians Spruch Mittelmäßigkeit verbirgt, täuscht zerrissene Kleidung bei Toussine über Reichtum hinweg. Unabhängig von diesen möglichen Deutungen des Sprichwortes lässt Toussine den nicht überprüfbaren Wahrheitsgehalt der Aussage Adrianas in einer allgemeingültigen Wahrheit aufgehen und vermeidet so ein Urteil, das ihre Nachbarin vor den Kopf stoßen könnte. Diente die Opazität des Sinnspruchs im vorhergehenden Beispiel der Abgrenzung vom weißen Unterdrücker, so steht sie hier im Zeichen der Solidarität innerhalb der Dorfgemeinschaft.
69 «man sieht Leute in zerrissenen Kleidern, sie schlafen und erheben sich in wackligen Hütten, wer aber weiß, was diese Leute in ihrem Schrank haben, wer weiß das?» Simone SchwarzBart: Télumée, S. 108. 70 Ich danke Kathleen Gyssels für diesen Hinweis. 71 Artur Landsberger: Jüdische Sprichwörter, Leipzig: Rowohlt 1912, S. 86.
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An anderer Stelle setzen Sprecher die rhetorische Schlagkraft des Sinnspruchs ein, um sich von sozialen Verpflichtungen zu lösen. Die Männer von Fond-Zombi versuchen, Élie zu überreden, mit ihnen trinken zu gehen, statt seine Abende zu Hause bei Télumée zu verbringen. Sie warnen ihn davor, sich zu sehr von seiner Frau bestimmen zu lassen, woraufhin sich Élie mit den folgenden Sinnsprüchen aus der Affäre zieht: «[Ne savez-vous pas encore, mes nègres, dit-il, qu’] il se trouve toujours dans une race des traîtres pour faire le jeu du camp ennemi? …» (TM 133).72 Die Allgemeingültigkeit des Sinnspruchs ermöglicht es Élie, sich über gesellschaftliche Normen hinwegzusetzen und entkräftet den impliziten machistischen Vorwurf, Élie könne sich seiner Frau gegenüber nicht behaupten. Allerdings wird Élie diese Wertschätzung Télumée gegenüber nicht aufrechterhalten und dem in seiner Gesellschaft so verbreiteten Männlichkeitswahn verfallen. Die im obigen Sprichwort artikulierte Angst Élies, ein anderer Mann könnte ihm seine Frau streitig machen, täuscht die übrigen Dorfbewohner (und den Leser) an dieser Stelle darüber hinweg, dass Élie später selbst zum Verräter werden und Télumée betrügen und verlassen wird. Lediglich Amboise, der Élies Platz an Télumées Seite einnehmen wird, äußert Zweifel an dessen Ehrlichkeit, woraufhin Élie erneut mit einem Sinnspruch reagiert: «[Vous le savez, mes nègres,] il n’est pas bon de planter n’importe quelle graine dans n’importe quel terrain, et il n’est pas sage de dire n’importe quoi à n’importe quelles oreilles. En vérité, il est beaucoup de choses dont l’homme ne devrait pas parler» (TM 134–135).73 Auch hier dient der Sinnspruch Élie der Verweigerung einer eindeutigen Antwort. Tatsächlich werden sich die von Amboise geäußerten Zweifel bestätigen und Elie wird Télumée gemeinsam mit seiner weißen Geliebten Laetitia des Hauses verweisen. Diesmal wird Laetitia die Waffe des Sinnspruchs einsetzen, um den Platz an Élies Seite an sich zu reißen: «[tu n’es pas plus ici chez toi qu’ailleurs, et ne le savais-tu pas, déjà, que] la seule place d’une négresse sur la terre est au cimetière? …» (TM 170).74 Eine Reihe von Sinnsprüchen bei Simone-Schwarz-Bart betrifft die Identität der Schwarzen auf Guadeloupe, andere sind explizit an die Frau und die condition féminine geknüpft. Der von Laetitia geäußerte Sinnspruch ist der einzige in Pluie et vent, in dem beide identitären Merkmale zusammenkommen. Diese Über-
72 «[‹Wißt ihr denn noch nicht, ihr Neger›, sagte er, ‹daß] es in einer Rasse immer Verräter gibt, die dem feindlichen Lager dienen?‘» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 135. 73 «[Ihr wißt wohl, ihr Neger,] es ist nicht gut, einen beliebigen Samen in einen beliebigen Boden zu tun, und es ist auch nicht klug, irgend etwas vor irgendwelchen Ohren zu äußern. Es gibt wahrlich viele Dinge, über die der Mensch nicht sprechen sollte.» Ebda., S. 136. 74 «[Du bist hier nicht mehr zu Haus als anderswo, hast du denn immer noch nicht begriffen, daß] der einzige Platz einer Negerin auf Erden der Friedhof ist?» Ebda., S. 174.
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schneidung in Verbindung mit der fatalistischen Aussage Laetitias macht deutlich, dass die farbige Frau am meisten unter dem Plantagensystem leidet, weil sie einer sowohl rassistischen als auch geschlechterbedingten Unterdrückung zum Opfer fällt. Demgegenüber charakterisiert sich Laetitia durch ihren Ausspruch als femme fatale, die den farbigen Mann ins Verderben führen wird. Auf diese Weise gelesen erfüllt der Sinnspruch in der erzählten Welt schließlich auch eine prophetische Funktion, indem er, meist in Momenten des Glücks und Erfolgs, den Fall einer Figur voraussagt. Auf der Erzählebene dienen diese vorausschauenden Sinnsprüche, ähnlich wie in Césaires Theater, dem Spannungsaufbau. Sie lassen den Leser eine tragische Wendung erahnen, ohne Aussagen über deren Wesen und Ausmaß zu machen. Dies wird anhand der folgenden Beispiele deutlich: Toussines künftiger Ehemann Jérémie und seine Freunde verschenken nach einem außergewöhnlich erfolgreichen Fang den Fisch im Dorf L’Abandonnée, statt ihn zu verkaufen. Während sich die Männer stolz auf die Brust klopfen, schütteln die Frauen zweifelnd den Kopf: «la race des hommes n’est pas morte … […] ce que l’un fait, mille le défont …» (TM 17).75 Die bald darauf stattfindende Hochzeit der schönen Toussine mit Jérémie ruft den Neid der übrigen Dorfbewohnerinnen hervor. In der Erwartung, dass das Glück von Toussine bald ein Ende haben würde, sagen sie untereinander: «après rire c’est pleurer» (TM 19).76 Tatsächlich wird das Paar vom Unglück heimgesucht, als eine ihrer zehnjährigen Zwillingstöchter bei einem Hausbrand ums Leben kommt. Auch das Ende von Télumées Glück wird durch einen Sinnspruch aus Élies Mund vorausgesagt: «L’homme a la force, la femme la ruse, mais elle a beau ruser, son ventre est là pour la trahir et c’est son précipice» (TM 74).77 Auch hier wird wieder auf die sexuelle Unterdrückung der Sklavinnen angespielt, die sich auf deren Nachkommen überträgt. Laut Glissant hatten die sexuellen Nötigungen auf dem Sklavenschiff zur Folge, dass die Sklavinnen bei ihrer Ankunft auf den Antillen bereits über ein Wissen über ihre Herren verfügten, das sie sich geschickt zunutze machen konnten.78 Dieser Wissensvorsprung wird in der Passage symbolisch sichtbar, in der Télumée auf die Annäherungsversuche von M. Desaragne vorbereitet zu sein scheint und sie dadurch abwehren kann. Allerdings hilft der Frau dem soeben zitierten Sinnspruch zufolge eine solche List nicht mehr, wenn sie schwanger ist. Sexuelle Gewalt war
75 «die Rasse der Menschen ist wahrlich nicht ausgestorben … […] was einer tut, zerstören tausend andere …» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 15. 76 «nach dem Lachen kommt das Weinen». Ebda., S. 17. 77 «Der Mann hat die Kraft, die Frau die List, aber was hilft ihr die List, wenn ihr Bauch sie unweigerlich verrät, und das ist ihr Verderben.» Ebda., S. 73. 78 Vgl. Stéphanie Mulot: Le mythe du viol fondateur aux Antilles françaises, S. 518.
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in den Plantagengesellschaften nicht zuletzt deshalb so verbreitet, weil sie für den Mann im Gegensatz zur Frau keine Folgen hatte. Auch wenn es nicht, wie der Sinnspruch von Élie glauben machen könnte, Télumée, sondern Élie selbst sein wird, der durch seine Untreue die Ehe zerstören wird, lassen Élies Worte Télumée Unheilvolles erahnen: «Ces paroles me troublaient, serraient mon cœur dans une eau et il me semblait voir une fumée perpétuelle qui se formait toute seule au fond de lui, et qui monterait un jour pour le perdre, et moi avec» (TM 74).79 Noch weitere Sinnsprüche deuten darauf hin, dass sich Télumées Schicksal bald zum Schlechten wenden wird. Als sich Télumée auf dem Höhepunkt ihres Glücks befindet, gratulieren die Dorfbewohner ihrer Großmutter mit den Worten «bienheureux celui qui navigue dans l’incertitude, qui ne sait ni ce qu’il a semé, ni ce qu’il va récolter …» (TM 136)80 und verweisen damit zugleich auf die Instabilität des Glücks. Auch die eifersüchtige Laetitia, die es auf Élie abgesehen hat, warnt Télumée vor zu viel Übermut: «danser trop tôt n’est pas danser … [alors un conseil, ne te réjouis pas encore]» (TM 141).81 Aber nicht nur Unglück, sondern auch positive Wendungen des Schicksals werden mithilfe von Sinnsprüchen prophezeit. Mit den Worten «[tu vois,] parfois le dos meurt pour l’épaule, et l’épaule n’en sait rien» (TM 161)82 spielt Toussine nach dem Verlust Élies auf Amboise an, der Télumée liebt, ohne dass sie es weiß und der für sie eine neue Phase des Glücks verkörpern wird. Die prophetischen Sinnsprüche in Pluie et vent erfüllen eine doppelte Funktion: zum einen bereiten sie den Leser narrativ auf künftige Wendungen in der Erzählung vor. Zum anderen geben sie Aufschluss über mentale Einstellungen der Figuren innerhalb der erzählten Welt und bergen damit eine anthropologische Dimension, die weniger, wie bei Césaire, über die Konzeption einzelner Figuren Aufschluss gibt, als vielmehr über kollektive Auffassungen. Aus den oben genannten Beispielen spricht eine zyklische Weltanschauung, die an die
79 «Diese Worte verwirrten mich, spannten mein Herz in einen Schraubstock und ich glaubte eine immerwährende Rauchsäule zu sehen, die von allein aus sich heraus entstand und eines Tages aufsteigen würde, ihn und mich zu verderben.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 73. 80 «[…] glücklich derjenige, der sein Schiff im Ungewissen steuert, der weder weiß, was er gesät hat, noch was er ernten wird …» Ebda., S. 137. 81 «wer zuletzt lacht, lacht am besten … [deshalb rate ich dir, freu dich nicht zu früh.]» Ebda., S. 143. 82 «[du siehst,] bisweilen stirbt der Rücken für die Schulter, und die Schulter weiß nichts davon;» Ebda., S. 164.
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mittelalterliche Vorstellung vom Rad der Fortuna83 erinnert: Der Mensch befindet sich in einem unaufhaltsamen Kreislauf von Auf- und Abstieg, von Glück und Unglück, von Leben und Tod. Sinnsprüche wie «après rire c’est pleurer» (TM 19) oder «danser trop tôt n’est pas danser» (TM 141) zeugen von einem magisch-religiösen Weltverständnis, das Schwarz-Bart mit dem Glauben an eine göttliche Vorsehung vergleicht.84 Natur und Prädestination, Fatalität und Wissen bedingen sich gegenseitig und hängen von einer transzendenten Autorität ab.85 Als mal métaphysique manifestiert sich diese Vorsehung jedoch in der Regel in negativer Weise, weshalb Prophezeiungen von Glück in Pluie et vent die Ausnahme bilden. Der Ursprung dieses Pessimismus liegt nach Monique Bouchard in der geteilten Erfahrung der Sklaverei und der damit verbundenen physischen und moralischen Unterwerfung der Farbigen, die sich nach Abschaffung der Sklaverei in ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen fortsetzt.86 Allerdings verweist der universelle Anspruch des Sinnspruchs ähnlich wie bei Césaire darauf, dass die Fatalität des Lebens nicht nur die Antillen und vergleichbare post-koloniale Kontexte beherrscht, wie Schwarz-Bart in einem Interview erklärt: «Ce n’est pas uniquement la folie antillaise. Dans les villages français, il y a aussi des gens qui ont un destin qui ne s’arrange pas».87 Durch seine Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen ist der Sinnspruch in der Lage, die Geschichte Télumées auf ein abstrakteres Niveau zu heben. Aber nicht nur zwischen einem historisch-geographisch spezifischen und einem universellen Kontext vermittelt der Sinnspruch, sondern auch zwischen individueller und kollektiv geteilter Erfahrung innerhalb einer Gemeinschaft. Dieser Funktion des Sinnspruchs in Pluie et vent als «médiation entre l’individu et le groupe»88 einerseits und als Vermittler zwischen historisch-geographischer und universeller Erfahrung andererseits soll im folgenden Unterkapitel nachgegangen werden.
83 Zum Fortuna-Topos in Mittelalter und Früher Neuzeit siehe Gottfried Kirchner: Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs. Stuttgart: Metzler 1970. 84 Simone Schwarz-Bart/André Schwarz-Bart: Sur les pas de Fanotte, S. 63. 85 Ebda., S. 49. 86 Vgl. Monique Bouchard: Une lecture de Pluie et vent sur Télumée Miracle de Simone Schwarz-Bart. Paris: L’Harmattan 1990, S. 15. 87 Zit. n. ebda., S. 21. 88 Jean Bernabé: Inscription et déconstuction de la proverbialité créole. In: Présence Africaine: Revue Culturelle du Monde Noir/Cultural Review of the Negro World 121–122 (1982a), S. 125–127, hier S. 126.
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5.2.2 Der Sinnspruch zwischen autobiographischem, kollektivem und universellem Diskurs Eine zentrale Funktion des Sinnspruchs in Pluie et vent besteht darin, einen kollektiven Diskurs in eine individuelle, autobiographische Erzählung einzufügen.89 Einige in Pluie et vent geäußerten Sinnsprüche sind insofern Ausdruck eines Kollektivs, als sie nicht einer einzelnen Aussageinstanz, sondern einer Gruppe (Männer/Frauen/Leute) zugeschrieben werden. So grüßen sich einige Dorfbewohner («certains») in Fond-Zombi, wenn sie sich in der Adventzeit auf der Straße begegnen, selbstironisch mit dem Sinnspruch: «La queue du cochon sauvage, ne s’empanache-t-elle pas quand on le chasse?» (TM 165).90 Auch die feierliche Zeit gegen Ende des Jahres, wenn in den Hütten der farbigen Bevölkerung Adventslieder erklingen, können die Bewohner von Fond-Zombi nicht über das Gefühl hinwegtäuschen, ‹Beute› der Weißen zu sein und von diesen gering geschätzt zu werden. Andere Sinnsprüche werden zwar von einem einzelnen Aussagesubjekt geäußert, das jedoch stellvertretend für eine Gruppe spricht. Während der Totenwache von Télumées Großmutter findet ein Dialog zwischen der Dorfbewohnerin Madame Brindosier und der Zauberin Man Cia statt, in dem erstere die Vergänglichkeit des Lebens beklagt: «[Je dis que] le blâme de Dieu est sur toute créature et en fin de compte pour lui, bonté ou méchanceté c’est tout comme … il te tue» (TM 185).91 Man Cia verurteilt diese pessimistische Sichtweise und lenkt den Blick stattdessen auf positive Aspekte des Zusammenlebens in ihrer Gemeinschaft: «[ – Que sont ces histoires de blâme? dit man Cia d’une voix mécontente … ] si Dieu blâme et s’il tue qu’il tue … mais ce qu’il ne peut empêcher, c’est qu’un nègre lui montre de quel poids pèse sur la terre, à ses yeux, l’âme d’un autre nègre …» (TM 185).92 Und «si beaux que soient les sons, seuls les nègres sont musiciens» (TM 185).93 Auch wenn Man Cia aufgrund ihrer übernatürlichen Kräfte eine Randfigur in der Gemeinschaft der Farbigen von Fond-Zombi darstellt, fungiert sie hier als Sprachrohr dieser Gemeinschaft, indem sie sich selbst in diese einschließt und
89 Vgl. Kathleen Gyssels: Le folklore et la littérature orale créole dans l’oeuvre de Simone Schwarz-Bart (Guadeloupe). Brüssel: Académie Royale des Sciences d’Outre-Mer 1997, S. 20. 90 «Schmückt sich der Schwanz des Wildschweins nicht mit einem Federbusch, wenn man es jagt?» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 168. 91 «[Ich sage,] der Tadel Gottes trifft eine jede Kreatur … schließlich und endlich sind Güte und Bosheit für ihn eins … er tötet dich doch.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 190. 92 «[‹Was sollen diese Geschichten vom Tadel?› sagte Man Cia mit nörgelnder Stimme.] ‹Wenn Gott tadelt und wenn er tötet, so mag er töten … er kann aber nicht verhindern, daß ein Neger ihm zeigt, wie schwer in seinen Augen die Seele eines anderen Negers auf Erden wiegt …» Ebda. 93 «mögen die Töne auch noch so schön sein, so sind doch allein die Neger Musiker …» Ebda.
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deren positive Werte – ein starker Zusammenhalt und eine ausgesprochene musikalische Begabung – hervorhebt. Zwischen bewertender Distanz und solidarischer Inklusion ist auch der folgende Sinnspruch von Amboise zu situieren: «[Ami,] rien ne poursuit le nègre que son propre cœur …» (TM 152).94 Mit ihm antwortet Amboise auf die Frage des betrunkenen Élie, der zwei in eine Schlägerei verwickelte Männer anspornt und in die Zuschauermenge ruft: «Qui de vous peut me répondre, me dire exactement par quoi nous sommes poursuivis, car nous sommes poursuivis, n’est-ce pas?» (TM 152).95 Für Amboise sind es nicht die äußeren Umstände – ökonomische Abhängigkeit, Naturkatastrophen, Krankheit und Tod –, die den Farbigen verfolgen, sondern die Art und Weise, über das Leben zu denken und es zu führen. Der von Amboise geäußerte Sinnspruch enthält eine indirekte Kritik an Élies Lebensführung, der zum Alkoholiker wird, statt sein Leben aktiv zu gestalten. Dieser beschimpft Amboise auf seine Antwort hin dafür, dass er seine persönliche Situation mit einer allgemeinen Wahrheit verrechnet: – Que me parles-tu de cœur du nègre, lorsqu’il s’agit de mes deux bras et de ma vocation de scieur de long sur la terre … en vérité, Amboise, tu crois avoir emmagasiné toute la sagesse de la terre, et tu n’es qu’un acomat tombé parmi le bois pourri! … Amboise considéra longuement la face de son ami, son frère des bois: – Hélas, dit-il enfin, le cœur du nègre est une terre aride que nulle eau n’amendra, un cimetière jamais rassasié de cadavres … 96 (TM 152, eigene Hervorhebung)
Amboise reagiert auf Elies Vorwurf der Pedanterie mit einem weiteren Sinnspruch, der den Unwillen seines Freundes als generelle Eigenschaft der Farbigen erscheinen lässt. Die Tatsache aber, dass Eigenschaften wie Unersättlichkeit und Unzufriedenheit nicht auf alle farbigen Figuren im Roman und am allerwenigsten auf Amboise zutreffen, zeigt, dass der allgemein formulierte Satz diesmal auf Élie und diejenigen Farbigen gemünzt ist, die ihr Schicksal anklagen und sich ihrer Verzweiflung hingeben.
94 «[Freund,] nichts anderes verfolgt den Neger als sein eigenes Herz …» Ebda., S. 154. 95 «Wer von euch kann mir antworten und mir genau sagen, was uns verfolgt, denn verfolgt werden wir doch, nicht wahr?» Ebda. 96 «‹Was redest du mir da vom Herzen des Negers, wo es doch um meine beiden Arme, um meinen Beruf als Brettschneider auf dieser Erde geht … wahrhaftig, Amboise, du glaubst, alle Weisheit der Erde gehortet zu haben, und dabei bist du nur ein Orleanbaum, der zwischen verfaultes Holz geraten ist!› Amboise betrachtete lange das Antlitz seines Freundes, seines Bruders aus den Wäldern. ‹Leider›, sagte er schließlich, ‹ist das Herz des Negers ein unfruchtbarer Boden, den kein Wasser verbessern kann, ein Friedhof, der nie genug Leichen beherbergt …‚» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 154–155.
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Die genannten Beispiele von Sinnsprüchen bündeln die Antworten, die eine Gemeinschaft auf die Fragen, die sich ihr täglich in einer Welt des Schmerzes, des Todes und der Kontingenz stellen, zu geben versucht.97 Sie sind Teil einer «sagesse populaire antillaise»98, die von einer Generation an die andere weitergegeben wird und die soziale, affektive und mythologische Dimensionen des Lebens auf den Antillen symbolisiert. Hervorgegangen sind sie aus einer spezifischen expérience antillaise, deren Einzelerfahrungen sich zu einem verallgemeinernden Satz verdichten. «L’œuvre traite des contradictions de la situation historique antillaise. A sa manière, elle pose et tâche de résoudre le problème du rapport conflictuel qu’entretient la conscience collective de référence avec son passé historique.»99 Zugleich eröffnen zahlreiche Sinnsprüche, ähnlich wie bei Rosa und Césaire, eine universelle Perspektive, die über die spezifisch historische Situation auf den Antillen hinausgeht und eine ahistorische condition humaine beschreibt. Diese Sinnsprüche werden teilweise von einer mit «une voix» bezeichneten Instanz geäußert, die an den Chor in der griechischen Tragödie erinnert: Nachdem der verrückt gewordene Germain in einer Zeit der Nahrungsmittelknappheit die Reusen eines Landsmanns gestohlen und diesen ermordet hat, hört man in der Dunkelheit, als die Leiche davongetragen wird, eine Stimme («voix») sagen: «le mal des humains est grand et peut faire d’un homme n’importe quoi, même un assassin, messieurs, c’est pas une blague, un assassin …» (TM 40).100 Auch wenn umgangssprachliche Elemente wie «quoi» oder «c’est pas une blague» sowie die direkte Anrede «messieurs» die Universalität der Aussage abschwächen, so setzt sich diese doch mithilfe der Verallgemeinerung «le mal des humains» und der anonymen Aussageinstanz, die an den Chor in der griechischen Tragödie erinnert, durch. Allerdings werden auch solche scheinbar universell gültigen Sinnsprüche an die Frage nach der Identität der Farbigen geknüpft. Auf die Aussage der einen Stimme, «C’est que la vie est si surprenante» (TM 134),101 antwortet eine weitere, ebenfalls anonyme Stimme: «[Ouais, c’est pas de la blague,] un nègre est quandmême quelque chose, sur la terre» (TM 134).102 Während der erste Satz als universell gültig betrachtet werden kann, verengt der zweite die Perspektive hin zur
97 Vgl. Simone Schwarz-Bart/André Schwarz-Bart: Sur les pas de Fanotte, S. 63. 98 Kathleen Gyssels: Proverbialité dans pluie et vent sur télumée miracle. 99 Simone Schwarz-Bart/AndréSchwarz-Bart: Sur les pas de Fanotte, S. 46. 100 «das Leid der Menschen ist so groß, daß es aus einem Mann alles machen kann, sogar einen Mörder, ja, Messieurs, das ist kein Scherz, sogar einen Mörder …» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 41. 101 «Das Leben ist voller Überraschungen» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 135. 102 «[Ja, es ist kein Scherz,] ein Neger bedeutet trotzdem etwas auf Erden.» Ebda.
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schwarzen Diaspora. Somit situiert sich der Sinnspruch auch hier zwischen lokalhistorischer Erfahrung und universeller Allgemeingültigkeit. Im Spannungsfeld von Lokalismus und Universalität bewegen sich auch die in Spruchform artikulierten Feststellungen von der Kontingenz und Fatalität des Lebens wie etwa «la vie n’est pas une soupe grasse et pour bien longtemps encore, les hommes connaîtront même lune et même soleil, mêmes tourments d’amour» (TM 46/47)103 oder «derrière une peine, il y a une autre peine» (TM 82, 95).104 Das Schicksal lässt sich nicht beeinflussen, wie diese Sinnsprüche nahelegen, wohl aber der individuelle Umgang mit ihm. Der Roman führt anhand des Verhaltens einzelner Protagonisten vor, wie sich die einen vom Schicksal leiten lassen, während andere die Freiräume, die das Schicksal offenlässt, aktiv gestalten. Die letztgenannte Haltung drückt sich in einem Sprichwort aus, mit dem Amboise, der Télumées Liebe gewinnen möchte, diese nach dem Tod ihrer Großmutter ermutigt: «La bécasse blessée ne reste pas au bord du chemin» (TM 189).105 Auch nach einem erneuten Schicksalsschlag rät Amboise Télumée, ihr Leben erneut in die Hand zu nehmen und spielt damit auf eine Heirat mit ihm an. Abgesehen von Amboises Aussagen, der als einzige männliche Figur im Roman dem Leben gegenüber positiv eingestellt ist,106 sind die meisten Sinnsprüche über die Fatalität und Kontingenz des Lebens an die autobiographischen Reflexionen Télumées geknüpft, die die Weisheiten ihrer Großmutter erinnernd auf ihre eigenen Lebensumstände anwendet. Wie sämtliche Sprichwörter und Aphorismen in Pluie et vent sind auch die durch die Ich-Erzählerin geäußerten Sinnsprüche auf zwei verschiedenen Ebenen anzusiedeln: auf einer narrativen Ebene, von der aus Télumée ihr Leben retrospektiv kommentiert und einer Ebene innerhalb der erzählten Welt, in der Télumée die Sinnsprüche ihrer Großmutter Toussine umsetzt. Auf die spruchartigen Äußerungen aus der Perspektive des nachträglich erzählenden Ichs wird im nächsten Unterkapitel einzugehen sein. An dieser Stelle interessiert zunächst, welchen Einfluss die Sinnsprüche der Großmutter auf Télumées Leben haben und wie die Protagonistin, die diese Weisheiten verinnerlicht, selbst zu einer tragenden Säule der farbigen community wird, indem sie diejenigen Werte verkörpert, die das Überleben dieser Gemeinschaft sichern. An der Perspektive des erlebenden Ichs fällt auf, dass Télumée erst nach dem Ende ihrer Schulzeit und damit nach Abschluss der Kindheit beginnt, die Weisheitssprüche ihrer Großmutter zu
103 «das Leben ist keine fette Suppe, und noch lange werden die Menschen denselben Mond, dieselbe Sonne sehen und dieselben Qualen der Liebe erfahren.» Ebda., S. 47. 104 «nach einem Leid kommt ein anderes Leid» Ebda., S. 82. 105 «Die verwundete Schnepfe bleibt nicht am Wegrand liegen» Ebda., S. 194. 106 Vgl. Mark Bell: Aphorism in the Francophone Novel of the Twenthieth Century, S. 73.
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reflektieren und umzusetzen. Bis dahin wendet Télumée die gehörten Lebensregeln nicht an. Dennoch üben sie auf Télumée bereits im Jugendalter eine bestimmte Wirkung aus: «Elle [Toussine, Anm. M.L.B.] savait parler, elle aimait parler pour ses deux enfants, Élie et moi … avec une parole, on empêche un homme de se briser, ainsi s’exprimait-elle.» (TM 79, eigene Hervorhebung).107 Télumée identifiziert solche Sinnsprüche bereits als sie sie noch nicht einzuordnen weiß als eine spezifische Art, die das Sprechen ihrer Großmutter auszeichnet («ainsi s’exprimait-elle»). Erst im vierten Kapitel ruft sich Télumée erstmals einen Sinnspruch von Toussine ins Gedächtnis und überträgt ihn auf ihre eigene Situation: «[Me l’avait-elle assez répété, Reine sans Nom, que] toutes les rivières descendent et se noient dans la mer, [me l’avait-elle assez répété? …]» (TM 84).108 Das «me l’avait-elle assez répété», das Télumée ihrerseits wiederholt, macht deutlich, dass sie diesen Spruch von ihrer Großmutter bereits viele Male gehört hat, seinen Sinn aber erst jetzt begreift. Erst als Télumée aus dem geschützten Raum des großmütterlichen Hauses heraustritt, gewinnen die Weisheiten Toussines für sie an Aktualität. Und erst als Télumée selbst die Kontingenzen des Lebens erfährt, kann sie die zu Sinnsprüchen verallgemeinerten Erfahrungen auf sich selbst beziehen und von ihnen lernen. Als Dienstmädchen der Desaragne sieht sie sich mit der Verachtung und Ausnutzung der Farbigen durch die Weißen und schließlich mit den sexuellen Übergriffsversuchen ihres Dienstherrn konfrontiert. Die Tatsache, dass Télumée mit den Annäherungen von Monsieur Desaragne nicht gerechnet hat, kommt in der folgenden Passage, die zwei Sinnsprüche enthält, zum Ausdruck: «La misère est surprenante, c’est une tique qui vous saute dessus et vous suce jusqu’au dernier sang. [A mon âge, avertie de bien de choses, je me croyais à l’abri de pareilles attaques mais] on a beau vivre, on ne sait pas plus de la vie que de la mort» (TM 113).109 Zum ersten Mal wird Télumée vom Leben überrascht, was sie dazu befähigt, die in ihrer Kindheit lediglich rezipierten Maximen über die Unvorhersehbarkeit des Lebens auf ihre eigene Situation zu übertragen. Auch die
107 «Sie konnte erzählen und erzählte gerne für ihre beiden Kinder, Elie und mich … mit einem Wort hindert man einen Menschen daran, zu zerbrechen, so sagte sie.» Simone SchwarzBart: Télumée, S. 79. 108 «[Hatte mir Reine Sans Nom auch oft nur gesagt, daß] alle Flüsse bergab fließen und sich ins Meer ergießen, [hatte sie es mir oft genug gesagt? …]» Ebda., S. 83. 109 «Das Unglück ist etwas Seltsames, eine Zecke, die euch anspringt und bis zum letzten Blutstropfen aussaugt. [Gewarnt vor sehr vielem, glaubte ich mich in meinem Alter vor solchen Angriffen sicher,] aber man kann wohl noch so lange leben, man weiß vom Leben nicht mehr als vom Tod.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 114.
5.2 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle
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Sinnsprüche, die Télumée über die Liebe gehört hat, werden für sie lebendig, als sie mit Élie ihre erste große Liebe erfährt: Je riais en moi-même, songeant que si une femme aime un homme, elle voit une savane et t’affirme: voici un mulet. Il y a l’air, l’eau, le ciel et la terre sur laquelle on marche, et l’amour. Et si un homme ne te donne pas un ventre plein de manger, s’il te donne un cœur plein d’amour, cela suffit pour vivre. C’est ce que j’avais toujours entendu autour de moi et c’est ce que je croyais.110 (TM 117–118, eigene Hervorhebung)
Dass diese Sinnsprüche, die unter den Farbigen von Fond-Zombi zirkulieren, nur sehr eingeschränkt und kurzfristig gültig sind, wird Télumées Schicksal zeigen. Als Élie sie verlässt, sind es nicht diese kollektiv anerkannten Weisheiten, die ihr Trost spenden, sondern die Worte ihrer Großmutter: La femme qui rit est celle-là même qui va pleurer, et c’est pourquoi on sait déjà, à la façon dont une femme est heureuse, quel maintien elle aura devant l’adversité. J’avais aimé ce dicton de Reine Sans Nom, autrefois, mais il m’effrayait aujourd’hui […] Pourtant je le savais bien, seule est à plaindre qui n’a pas rempli la jarre de sa vie à la saison des pluies, et n’était-elle pas pleine de toutes ces années avec Élie, ma jarre? … 111 (TM 157, eigene Hervorhebungen)
In all dem Leid, das Télumée durchlebt, vermitteln die Redensarten Toussines eine lebensbejahende Sicht: Die Fatalität des Lebens soll nicht zu Angst und Resignation führen, vielmehr gibt die Freude in und das Auskosten von glücklichen Momenten Kraft, um Schicksalsschläge zu ertragen. So ruft sich Télumée an den Tagen, an denen ihr die Arbeit auf der Zuckerrohrplantage schwerfällt, die Worte ihrer Großmutter ins Gedächtnis: Et ces jours-là je me mettais à chanter, tout en faisant mon travail, et mon cœur se desserrait, car derrière une peine, il y a une autre peine, c’étaient là les paroles de grandmère. Et je voyais se dessiner dans l’ombre le sourire de Reine Sans Nom, le cheval ne doit
110 «Ich lachte innerlich und dachte, wenn eine Frau, die einen Mann liebt, eine Savanne sieht, sagt sie dir glatt: das ist ein Maultier. Es gibt die Luft, das Wasser, den Himmel, die Erde, auf der man umhergeht, und die Liebe. Und durch sie leben wir. Und wenn dir ein Mann zwar nicht den Bauch voller Essen, aber ein Herz voller Liebe schenkt, so reicht das zum Leben. Das hatte ich immer um mich herum gehört, und daran glaubte ich.» Ebda., S. 119. 111 «Die Frau, die gelacht hat, ist dieselbe, die weinen wird, und deshalb erkennt man schon an der Art, wie eine Frau glücklich ist, wie sie sich im Unglück verhalten wird. Ich hatte diese Redensart der Reine Sans Nom einst geliebt, heute aber, unter meinem Chinapflaumenbaum, erschreckte sie mich, sie zerriß mir das Herz, denn ich sah deutlich, daß ich nicht zu leiden verstand. Zur Zeit meines Aufstiegs hatte ich zwar zeigen können, wie man glücklich ist, aber schon bei meiner ersten Prüfung unterlag ich. Dabei wußte ich doch sehr gut, zu beklagen ist nur, wer den Krug seines Lebens nicht in der Regenzeit gefüllt; und war mein Krug nicht voll von den Jahren mit Elie?» Ebda., S. 160.
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pas te conduire, ma fille, c’est toi qui dois conduire le cheval, et ce sourire me donnait du cœur au ventre et je faisais mon ouvrage en chantant, et lorsque je chantais je coupais ma peine, je hachais ma peine, et ma peine tombait dans la chanson, et je conduisais mon cheval.112 (TM 95, eigene Hervorhebungen)
Mit den Sätzen «derrière une peine, il y a une autre peine» und «le cheval ne doit pas te conduire, […] c’est toi qui dois conduire le cheval», die sich leitmotivisch durch den Roman ziehen, fasst Toussine die Legende von Wvabor Hautes Jambes zusammen, die sie Télumée und Élie in ihrer Jugend erzählt. Die Erzählung bildet eine mise en abyme innerhalb des Romans, indem sie vorausdeutet, wie Élie angesichts persönlicher ökonomischer Schwierigkeiten alkoholkrank und sich wegen einer anderen Frau von Télumée trennen wird, so wie der hochmütige Wvabor Hautes Jambes die Kontrolle über seine Stute verliert, die ihn schließlich für immer davontragen wird. Während Élie, durch die Erzählung beunruhigt, das Haus verlässt, lauscht Télumée aufmerksam der Moral der Geschichte: si grand que soit le mal, l’homme doit se faire encore plus grand, dût-il s’ajuster des échasses. J’écoutais sans comprendre, venais sur ses genoux où elle me berçait comme une enfant, en ces anciens jeudis finissant … ma petite braise, chuchotait-elle, si tu enfourches un cheval, garde ses brides bien en main, afin qu’il ne te conduise pas. Et, tandis que je me serrais contre elle, respirant son odeur de muscade, Reine Sans Nom soupirait, me caressait et reprenait lentement, en détachant ses mots comme pour les graver au fond de mon esprit … derrière une peine, il y a une autre peine, la misère est une vague sans fin, mais le cheval ne doit pas te conduire, c’est toi qui dois conduire le cheval.113 (TM 82, eigene Hervorhebungen)
Der Nachdruck, mit dem Toussine den Sinnspruch von ihren übrigen Worten abhebt, erinnert an die gestischen und prosodischen Zeichen, die Jean Paulhan
112 «An solchen Tagen fing ich bei der Arbeit zu singen an, und das Herz wurde mir leicht, denn nach einem Leid kommt ein anderes Leid, so lauteten Großmutters Worte. Im Dunkeln sah ich ihr Lächeln sich abzeichnen: … nicht das Pferd darf dich leiten, meine Tochter, du mußt das Pferd leiten. Dieses Lächeln gab mir Mut, und ich tat singend meine Arbeit, und wenn ich sang, zerschnitt ich mein Leid, zerhackte ich es, es ging ein in das Lied, und ich lenkte mein Pferd.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 96. 113 «so groß das Übel auch immer sein mag, der Mensch muß größer sein, und sollte er auf Stelzen gehen. Ich hörte zu, ohne zu verstehen, kletterte auf ihre Knie, und sie wiegte mich wie ein Kind, wenn jene Donnerstage zu Ende gingen … mein kleiner Hitzkopf, flüsterte sie, wenn du ein Pferd besteigst, mußt du die Zügel immer fest in der Hand behalten, damit nicht das Tier dich leitet. Und wenn ich mich an sie schmiegte, ihren Muskatgeruch einatmete, seufzte Reine Sans Nom, streichelte mich und sagte langsam, jedes einzelne Wort betonend, als wollte sie es auf den Grund meiner Seele ritzen … nach einem Leid kommt ein anderes Leid, das Elend ist eine nicht endende Welle, aber das Pferd darf dich nicht leiten, du mußt es leiten, du.» Ebda., S. 82.
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in Madagaskar beobachtete, wenn Mitglieder seiner Gastfamilie die Artikulation eines Sprichwortes einleiteten. Die Worte der Großmutter werden ihre Wirkung nicht verfehlen, denn im Gegensatz zu Elie, der bereits als Jugendlicher für die sprichwörtlichen Wahrheiten Toussines offenbar nicht empfänglich ist, wird Télumée trotz mehrfacher harter Schicksalsschläge ihr Leben selbst bestimmen. Dies äußert sich etwa darin, dass sie den Landstreicher Ange Médard, der ihr ihre Adoptivtochter geraubt und versucht hat, Télumée zu töten, in den letzten Minuten vor seinem Tod liebevoll begleitet. Indem Télumée die Sprichwörter und Maximen ihrer Großmutter hört, reflektiert, sich merkt und in ihrem eigenen Leben umsetzt,114 führt sie einen idealen Rezeptionsprozess von Sinnsprüchen vor: Es gelingt ihr, die aus Einzelerfahrungen abgeleiteten Lebensweisheiten mit ihrer eigenen Erfahrung in Einklang zu bringen und so die Spannung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen, die den Sinnspruch ausmacht,115 aufzulösen. Auf diese Weise wird deutlich, dass der Sinnspruch in Pluie et vent als Gefäß für die Weitergabe von Wissen von einer Generation zur nächsten fungiert und auch, auf welche Art und Weise diese Weitergabe erfolgt. Die relative Universalität des Sinnspruchs erlaubt die Verbindung verschiedener Gegenwarten und macht ihn so zum bevorzugten Träger sozialer und kultureller Werte. Damit situiert die Rezeption und Verinnerlichung eines durch die vorhergehende Generation in Spruchform weitergegebenen Wissens Télumées autobiographisches Erzählen auf der Ebene eines antillischen kulturellen Gedächtnisses. Dies bestätigt auch die Aussage Schwarz-Barts im Hinblick auf den exemplarischen Status ihrer Protagonistin: «Télumée c’est, pour moi, une espèce de permanence de l’être antillais, de certaines valeurs …»116 Zur Vermittlung dieser Dauer bestimmter Werte, die in Pluie et vent im Verhältnis zwischen Großmutter und Enkelin ruhen,117 trägt der Sinnspruch entscheidend bei, indem er die in ihnen enthaltenen Wahrheiten in Zeit und Raum der Erzählung und zugleich jenseits von ihnen situiert. Diese Werte haben aber zugleich universellen Charakter, da sie auf andere Minderheiten übertragbar sind. Wie Kathleen Gyssels anhand einer vergleichenden Untersuchung der Werke von André und Simone SchwarzBart gezeigt hat, sind aus der Unterdrückung von Farbigen und Juden in ihren
114 Vgl. Gloria N. Onyeoziri: Black Women’s Discourse and the Semiology of Cultural Identitiy: Simone Schwarz-Bart’s Pluie et vent sur Télumée Miracle and Patrick Chamoiseau’s Texaco. In: Journal of Caribbean Literatures 4, 2 (2006), S. 31–40, hier S. 32. 115 Vgl. im Hinblick auf den Aphorismus Dieter Steland: Moralistik und Erzählkunst von La Rochefoucauld und Mme de Lafayette bis Marivaux. München: Fink 1984, S. 15. 116 Simone Schwarz-Bart/André Schwarz-Bart: Sur les pas de Fanotte, S. 14. 117 Vgl. Beverley Ormerod: L’aïeul: Figure dominante chez Simone Schwarz-Bart. In: Présence Francophone: Revue Littéraire 20 (1980), S. 95–106, hier S. 96.
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jeweiligen Kontexten ähnliche Ausdrucksformen hervorgegangen, die sich in den Werken der Schwarz-Barts zu einer einzigartigen Kultursynthese verbinden.118 Dies wird auch durch das Repertoire der in Pluie et vent eingeflochtenen Sprichwörter deutlich, die, wie anhand von ausgewählten Beispielen deutlich wurde, nicht nur inhaltlich jüdische Einflüsse erkennen lassen, sondern darüber hinaus durch ihre Fähigkeit, das Einzelne mit dem Allgemeinen zu verbinden, in der Lage sind, die Werte unterschiedlicher kultureller Gemeinschaften zusammenzuführen.
5.2.3 Sinnspruch und Erzählstruktur Die Geschichte Télumées vereint verschiedene Stränge einer expérience antillaise sowie einer universellen Erfahrung, die sich in den eingeflochtenen Sinnsprüchen zu Knotenpunkten verbinden. In seiner Fähigkeit, sich in narrative Kontexte einzufügen und zugleich den Text transzendierende Aussagen zu treffen, fungiert der Sinnspruch somit als strukturelles Scharnier zwischen der Diachronie der Erzählung und der Synchronität geteilter Erfahrung. Um dem Leser diese Ebene, auf der die Geschichte Télumées zum einen auf eine ganze Gemeinschaft und zum anderen auf seine eigene Lebenswelt übertragbar wird, zugänglich zu machen, bedarf es einer Vermittlung zwischen der erzählten Welt und der Welt des Lesers.119 Zu dieser Vermittlung trägt die gealterte, erzählende Télumée wesentlich bei, indem sie die Erfahrungen der erlebenden Télumée zu Sinnsprüchen verallgemeinert, die der Leser wiederum in seine eigene Lebenserfahrung integrieren kann.
118 Vgl. Kathleen Gyssels: ‹Adieu foulards, adieu madras›: Doublures de Soi/e dans l’œuvre réversible schwarz-bartienne. In: Nouvelles Études Francophones 26, 1 (2011), S. 111–131. 119 Simone Schwarz-Bart formuliert es als ein ausdrückliches Anliegen, die Situation der Farbigen auf den französischen Antillen einer globalen Leserschaft zu vermitteln: «J’ai essayé de mettre, dans une espèce de forme, – le roman –, tout un univers antillais que je voyais dilapider, une partie de notre capital, de notre somme. Par exemple, j’ai retranscrit des passages du créole au français. J’ai voulu qu’au niveau de l’esprit cela soit communicable. Je n’ai pas voulu faire un roman régionaliste, mais que cela soit communicable, que cela serve aussi». Simone SchwarzBart/André Schwarz-Bart: Sur les pas de Fanotte, S. 18. [«Ich habe versucht, ein ganzes antillisches Universum, das ich im Auflösen begriffen sah, in eine Art Form – den Roman – zu bringen, einen Teil unseres Kapitals, unserer Gesamtheit. Beispielsweise habe ich Passagen aus dem Kreolischen ins Französische rückübersetzt. Ich wollte, dass dies geistig kommunizierbar wird. Ich wollte keinen regionalistischen Roman machen, sondern dass es mitteilbar wird, dass es auch nützlich ist.» (Eigene Übersetzung)].
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Die Sinnsprüche in Pluie et vent bilden also einen Code, der dem Leser die erzählte Welt aufschlüsselt. Daher stehen sie jeweils prominent am Beginn einer Episode, von wo aus die Erzählerin das Nachfolgende zusammenfasst. Dies geschieht einerseits rückblickend aus der Perspektive des erzählenden discours und deutet andererseits, auf der Ebene der erlebten histoire, auf das erzählte Geschehen voraus. Die Sinnsprüche des erzählenden Ichs erfüllen somit, anders als die vorausdeutenden Sinnsprüche von Figuren innerhalb der erzählten Welt, keine prophetische Funktion, da sie die Erfahrungen der Erzählerin nachträglich zusammenfassen und nicht aus einem magisch-religiösen Verständnis der ewigen Wiederkehr heraus geäußert werden. Damit nähern sie sich dem Aphorismus europäischer Herkunft an, bereichern diesen aber zugleich mit Elementen kreolischer Sprichwörter, aus denen sich das Wissen der Erzählerin genauso speist wie aus ihrer Erfahrung. In den Aphorismen auf der Erzählebene verbinden sich somit mündlich überliefertes Wissen, individuell durchlebte Erfahrung und erzählerische Abstraktion. Die Erzählung wird durch einen Sinnspruch eröffnet, der als eine der zentralen Aussagen von Pluie et vent gelten kann: «Le pays dépend bien souvent du cœur de l’homme: il est minuscule si le cœur est petit, et immense si le cœur est grand» (TM 11).120 Der Spruch eröffnet gleich mehrere Dimensionen: zunächst eine räumliche, die vom geographischen Raum («le pays») in den inneren Raum des Herzens («le cœur») führt. In den nachfolgenden Zeilen wird deutlich, dass der gemeinte geographische Raum, der zugleich ein kollektiv geteilter ist, von der Erfahrung der Sklaverei, von Naturkatastrophen, einer schlechten Mentalität und von Leid geprägt ist. Demgegenüber steht ein imaginärer Raum im Innern der Erzählerin, der mit Traum, Zuflucht und Freiheit verknüpft ist.121 Dieser inwendige Raum ermöglicht es, eine positive Sichtweise auf die Realität des äußeren Raumes einzunehmen, was im einleitenden Aphorismus in der Abhängigkeit des Landes vom menschlichen Herzen ausgedrückt ist. Die Phantasie befähigt den Menschen, immer wieder aus seiner Fremdbeherrschung durch die Natur und durch eine ökonomische und kulturelle Übermacht auszubrechen. Dies bestätigt ein weiterer Aphorismus, mit dem die Erzählerin die Episode einleitet, in der Toussine und Jérémie, nachdem ihr Haus abgebrannt ist, dank der Phantasie eines Weißen («grace à la fantaisie d’un blanc») wieder ein Dach über dem Kopf bekommen: «Face au mensonge des choses, à la tristesse, il y a et il y aura
120 «Häufig hängt das Land vom Herzen des Menschen ab: es ist winzig, wenn er engherzig, und unermeßlich, wenn er großherzig ist.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 9. 121 Zur Raumgestaltung in Pluie et vent siehe generell Mildred Mortimer: Writing from the Hearth: Public, Domestic, and Imaginative Space in Francophone Women’s Fiction of Africa and the Caribbean. Lanham, MD: Lexington 2007.
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toujours la fantaisie de l’homme» (TM 26).122 Die Aussage kann zugleich metadiegetisch als Verweis auf die therapeutische Funktion des Erzählens gelesen werden, mit dessen Hilfe die Erzählerin ihre Schicksalsschläge kreativ verarbeitet. Auch ihre eigene Lebensgeschichte, die auf die Zusammenfassung der Biographien ihrer Großmutter und Mutter folgt, leitet die Erzählerin mit einem Aphorismus ein: «La vérité n’est qu’un rien, une idée, une lubie, un grain de poussière suffisent à changer le cours d’une vie. Si Haut-Colbie n’avait pas fait halte au village, ma petite histoire aurait été bien différente de ce qu’elle fut» (TM 46, eigene Hervorhebung).123 Die Tatsache, dass sie bei ihrer Großmutter und nicht bei ihrer Mutter aufgewachsen ist, schreibt die Erzählerin dem Zufall zu, der äußere Umstände (der Aufenthalt des künftigen Liebhabers ihrer Mutter in ihrem Dorf) mit den ebenso unberechenbaren Launen und Einfällen des Menschen paart. Dem Zufall als Einflussfaktor auf ihr Leben stellt die Erzählerin im übernächsten Kapitel das Prinzip der Vorsehung zur Seite. Toutes les rivières, même les plus éclatantes, celles qui prennent le soleil dans leur courant, toutes les rivières descendent dans la mer et se noient. Et la vie attend l’homme comme la mer attend la rivière. On peut prendre méandre sur méandre, tourner, contourner, s’insinuer dans la terre, vos méandres vous appartiennent mais la vie est là, patiente, sans commencement et sans fin, à vous attendre, pareille à l’océan.124 (TM 83)
Auch wenn der Mensch die Möglichkeit besitzt, einzelne Abschnitte seines Lebens zu gestalten, so ist er doch nicht in der Lage, sein Schicksal zu beeinflussen, unabhängig davon, welche Entscheidungen er in seinem Leben trifft. Die Aphorismen auf der Erzählebene sind als Elemente der Philosophie zu lesen, die hinter dem Roman steht und die Schwarz-Bart die Erzählerin Stück um Stück formulieren lässt. Die zyklische Bewegung von Auf- und Abstieg, Glück und Unglück, Leben und Tod, die einen wesentlichen Bestandteil dieser Philosophie bildet, spiegelt sich in Pluie et vent im strukturellen Prinzip der
122 «Wo Mißhelligkeiten und Traurigkeit sind, gibt es und wird es immer auch die Launen des Menschen geben.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 25. 123 «Es reichen wahrlich ein Nichts, eine Idee, eine Grille, ein Staubkorn, um den Strom eines Lebens zu verändern. Hätte Haut-Colbi nicht im Dorf Station gemacht, wäre meine kleine Geschichte ganz anders verlaufen.» Ebda., S. 46. 124 «Alle Flüsse, selbst die am hellsten schimmernden, die die Sonne bei ihrem Lauf auffangen, alle Flüsse fließen zum Meer, in das sie sich ergießen. Und das Leben erwartet den Menschen wie das Meer den Fluß. Man kann eine Windung nach der anderen nehmen, man kann sich drehen und wenden, sich bei der Erde einschmeicheln und dennoch: eure Windungen sind eure Sache, aber das Leben ist da, geduldig, ohne Anfang und Ende, es erwartet euch wie der Ozean.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 82–83.
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Wiederholung von Sprichwörtern wider. So arbeitet die Erzählerin im oben zitierten Sinnspruch ein Sprichwort ein, das sie von ihrer Großmutter gehört und an das sie sich als junge Frau erinnert hat. Erst einige Abschnitte später enthüllt sich dieser Satz, der ebenfalls der jüdischen Tradition, näherhin dem alttestamentlichen Buch Kohelet, entstammt125 als Sinnspruch Toussines: «[Me l’avaitelle assez répété, Reine sans Nom, que] toutes les rivières descendent et se noient dans la mer, [me l’avait-elle assez répété? …]» (TM 84).126 An späterer Stelle wird Télumée denselben Spruch noch einmal aufgreifen: «la rivière a beau chanter et faire ses méandres, il faut qu’elle descende à la mer et se noie» (TM 118).127 In beiden Fällen zitiert Télumée ihre Großmutter nicht wörtlich, sondern variiert das kreolische Sprichwort «tout larivyè ka désann an lanmè»128 (wörtlich: «Alle Flüsse fließen ins Meer») in ihren eigenen Worten. In der Art und Weise, wie Télumée die Sinnsprüche Toussines verarbeitet, spiegelt sich die Montagetechnik der Autorin wider, die kreolische Sprichwörter in ihrem Roman aphoristisch adaptiert. Damit schreibt sich Schwarz-Bart nicht nur selbst in die weibliche Kette einer Weitergabe kreolischen Wissens ein, sondern lässt Télumée zugleich als Sinnbild einer Generation fungieren, die ein überliefertes kreolisches Wissen in die Gegenwart zu integrieren weiß, indem sie kreolische Mündlichkeit und okzidentale Schriftlichkeit kombiniert. Dass die Lougandor-Dynastie mit dem Tod der kinderlosen Télumée ausstirbt, kann dahingehend gedeutet werden, dass mit ihrer Generation, zu der sich auch Schwarz-Bart zählt, die Kette einer mündlichen Weitergabe von Wissen abreißt; stattdessen leben die bisher mündlich überlieferten Inhalte in der Schrift fort. Das mehrfache Variieren von Sprichwörtern durch die Erzählerin schafft einen Wiederholungseffekt, der keiner Chronologie gehorcht, sondern gleich den Wellen des Meeres, von dem die Erzählerin im oben angeführten Aphorismus spricht, in einer unendlichen Bewegung bestimmte Motive wiederkehren lässt. So wird sich auch der Aphorismus, der den Roman einleitet («le pays dépend
125 «Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller; an den Ort, dahin sie fließen, fließen sie immer wieder.» Die Bibel, Kohelet 1,7. 126 «[Hatte mir Reine Sans Nom auch oft genug gesagt, daß] alle Flüsse bergab fließen und sich ins Meer ergießen, [hatte sie es mir oft genug gesagt? …]» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 83. 127 «[…] der Fluß könne ruhig singen und seinen Windungen folgen, er müsse doch zum Meer hinabfließen und sich darein ergießen.» Ebda., S. 120. 128 David Gagner-Albert: Lucide sapiens Martinique. 2015, http://lucidesapiens.over-blog. com/2015/03/tout-larivye-ka-desann-an-lanme-proverbe-creole-de-la-martinique.html (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020).
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souvent du cœur de l’homme», TM 11),129 im Laufe der Erzählung als Variation einer Weisheitslehre herausstellen, die Télumée in ihrer Kindheit von der Großmutter vermittelt bekam und die sie nun, bereichert um die eigene Erfahrung, reformuliert: … Enfants, commençait-elle, savez-vous une chose, une toute petite chose?… la façon dont le cœur de l’homme est monté dans sa poitrine, c’est la façon dont il regarde la vie. Si votre cœur est bien monté, vous voyez la vie comme on doit la voir, avec la même humeur qu’un brave en équilibre sur une boule et qui va tomber, mais il durera le plus longtemps possible, voilà. Maintenant écoutez autre chose: les biens de la terre restent à la terre, et l’homme ne possède même pas la peau qui l’enveloppe. Tout ce qu’il possède: les sentiments de son cœur …130 (TM 79–80, eigene Hervorhebungen)
Bei allen Zufällen und Wendungen des Schicksals, denen der Mensch hilflos ausgeliefert ist, ist er dennoch Herr darüber, welche Haltung er dem Leben gegenüber einnimmt – so könnte man die übergeordnete Aussage des Romans auf der Grundlage dieser Reflexion zusammenfassen. Das immer wieder auftauchende Substrat der großmütterlichen Sinnsprüche lässt das zyklische Lebensprinzip über die Diachronie der Erzählung dominieren. Wie schon mehrfach angeklungen ist, durchbricht der Sinnspruch die lineare Zeitordnung westlicher Genealogien,131 indem er nicht den zeitlichen Parametern der Erzählung folgt. Tatsächlich ist die Lougandor-Genealogie keine Fortschrittsgeschichte, vielmehr wiederholen sich in den einzelnen Generationen ähnliche Schicksalsschläge, die in der Regel im Verlust eines Familienmitgliedes bestehen: Toussine (zweite Generation) verliert eine Tochter, Victoire (dritte Generation) ihren Ehemann Angebert. Télumées Leben vereint all diese und noch weitere Schicksalsschläge: Ihre Mutter verlässt sie genauso wie ihr erster Ehemann Élie, ihr zweiter Ehemann Amboise stirbt während eines Brandes (wie Toussines Tochter), ihre Adoptivtochter Sonore
129 «Häufig hängt das Land vom Herzen des Menschen ab;» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 9. 130 «‹Kinder›, begann sie, ‹wißt ihr über eine Sache Bescheid, eine ganz kleine Sache? So wie das Herz eines Menschen in seiner Brust schlägt, so betrachtet er das Leben. Wenn ihr das Herz auf dem rechten Fleck habt, seht ihr das Leben so, wie man es sehen muß, mit dem Gemüt eines tapferen Kerls, der auf einer Kugel balanciert und herunterfallen wird, sich aber so lange wie möglich hält. Hört nun noch etwas anderes: Die irdischen Güter verbleiben auf Erden, und der Mensch besitzt nicht einmal die Haut, die ihn umhüllt. Er besitzt nichts als die Regungen seines Herzens …›» Ebda., S. 79. 131 Vgl. auch Miriam Lay Brander/Khal Torabully: Dire la vie de façon kaléidoscopique, S. 303. Zugleich ist das genealogische Prinzip essentiell für den Roman, wie Schwarz-Bart in einem Interview erläutert. Es entspringt einer «volonté généalogique» (Simone Schwarz-Bart/ André Schwarz-Bart: Sur les pas de Fanotte, S. 20), die dem mündlichen Erzählen der afrikanischen und kreolischen griots eigen ist.
5.2 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle
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wird auf immer entführt. Hervorzuheben ist, dass die Genealogie nicht bei Télumées afrikanischen Vorfahren ansetzt – hier erteilt Schwarz-Bart wie auch Glissant der Négritude ihres Landsmanns Césaire eine klare Absage – sondern bei ihrer Urgroßmutter Minerve Lougandor, von der der Leser lediglich erfährt, dass sie als Sklavin nach Guadeloupe gebracht worden war. Anders als Césaire, der die meisten verwendeten Sprichwörter aus den afrikanischen Sprachen übersetzt, finden sich bei Schwarz-Bart fast ausschließlich kreolische Sprichwörter und deren aphoristische Variationen. Mindestens ein Sprichwort jedoch bezeugt die Vitalität des afrikanischen Erbes auf den Antillen. Beim folgenden Sinnspruch etwa, den Toussine an Télumée weitergibt, handelt es sich laut SchwarzBart selbst um eine senegalesische Weisheit:132 trois sentiers sont mauvais pour l’homme: voir la beauté du monde, et dire qu’il est laid, se lever de grand matin pour faire ce dont on est incapable, et donner libre cours à ses songes, sans se surveiller, car qui songe devient victime de son propre songe …133 (TM 51)
Mit dem Traum sei ein letzter zentraler Aspekt der Erzählstruktur des Romans angesprochen. Zunächst sind mit songe oder rêve Phantasie und Vorstellungskraft als positive Kehrseite der folie antillaise134 gemeint, die Télumée einsetzt, um die Widerwärtigkeiten des Lebens auszuhalten. Es handelt sich um ein positives Innenleben, das den negativen äußeren Umständen trotzt. Damit geht es, wie in der obigen Maxime deutlich wird, um ein gesteuertes Träumen. So gibt sich Télumée in ihren Tagträumen nicht beliebigen Phantasien hin, vielmehr reflektiert sie die Weisheiten ihrer Großmutter. Hatte die Erinnerung an deren Worte Télumée bereits in zahlreichen schwierigen Situationen Kraft gegeben, so lassen sie sie selbst angesichts der letzten Unsicherheit eine positivee Haltung einnehmen: Als Télumée sich, den Leichenzug Élies beobachtend, mit ihrem eigenen Tod konfrontiert sieht, löst die Erinnerung an einen Sinnspruch Toussines eine rational nicht begründbare Freude in ihr aus: sans trop savoir pourquoi, une certaine allégresse me vient et ma propre mort me paraît de manière inusitée, sans confusion ni tristesse. Je songe à la Reine qui aimait dire, autre-
132 Vgl. Jack Corzani/L. Hoffmann/M. Piccione: Littératures francophones: II. Les Amériques – Haïti, Antilles-Guyanes, Québec. Paris: Belin 1989, S. 146. 133 «[…] drei Pfade sind schlecht für den Menschen: die Schönheit der Welt zu sehen und zu sagen, sie sei häßlich; am frühen Morgen aufzustehen, um etwas zu tun, was man nicht bewältigt; und seinen Träumen freien Lauf zu lassen, ohne sich zu beobachten, denn wer träumt, wird das Opfer seines eigenen Traumes.» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 51. 134 Vgl. Monique Bouchard: Une lecture de Pluie et vent sur Télumée Miracle de Simone Schwarz-Bart, S. 23.
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fois, sur un certain sourire… la vie est une mer sans escale, sans phare aucun… et les hommes sont des navires sans destination …135 (TM 254, eigene Hervorhebungen)
Das Verb «songer» transportiert an dieser Stelle einen fruchtbaren Doppelsinn: Zum einen besteht seine wörtliche Bedeutung darin, dass Télumée an die Worte ihrer Großmutter denkt, wobei sie sich nicht nur an deren sprachliche, sondern auch an deren gestische Äußerungen erinnert, was bereits einer gewissen Vorstellungskraft bedarf. Zum anderen lässt die vorangegangene Beschreibung des irrationalen Glücksgefühls, das Télumée angesichts ihres eigenen Todes empfindet, die Konnotation des Traumes hervortreten. Traum und Sinnspruch, Phantasie und Abstraktion von Erfahrungen, sind also in Pluie et vent in enger Weise miteinander verknüpft. In der erzählten Welt strukturiert der Sinnspruch die Tagträume Télumées sowohl in Momenten des Glücks als auch des Unglücks – zu denken ist an die Sinnsprüche, mit denen sie in der Phase größter Verliebtheit ihre Sehnsucht nach Elie ausdrückt, aber auch an diejenigen, die Télumée die harte Arbeit zunächst bei den Desaragne und später auf der Zuckerrohrplantage erträglich werden lassen. Lediglich in der Zeit einer tiefen Depression, in die sie nach Élies Trennung fällt, äußert Télumée keine Sinnsprüche. Erst aus der retrospektiven Erzählperspektive kann sie diese dunkle Zeit, an die sie sich nur bruchstückhaft erinnert, in einem Spruch reflektieren: «Le soleil n’est jamais fatigué de se lever, mais il arrive que l’homme soit las de se retrouver sous le soleil» (TM 171).136 Begreift man die Depression als Gegenstück des Traums, nämlich als eine Überwältigung durch das Schicksal, die zum Träumen unfähig macht, so wird noch einmal deutlich, dass Sinnspruch und Traum als ein strukturiertes, von der Vorstellungskraft bestimmtes Innenleben in Pluie et vent nicht voneinander zu trennen sind.
135 «Ohne recht zu wissen warum, bin ich fast freudig gestimmt, und mein eigener Tod erscheint mir in ungewohnter Weise frei von Wirrnis und Traurigkeit. Ich denke an Reine, die mit einem ganz bestimmten Lächeln damals gern zu sagen pflegte … das Leben ist ein Meer ohne Hafen, ohne einen Leuchtturm… und die Menschen sind Schiffe ohne Bestimmungsort…» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 263. 136 «Die Sonne ist es nie müde aufzugehen, aber es kommt vor, daß der Mensch es müde ist, sich unter der Sonne wiederzufinden.» Ebda., S. 175.
5.2 Simone Schwarz-Bart: Pluie et vent sur Télumée Miracle
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Auf der Erzählebene geht die Lebensgeschichte der Protagonistin in einem einzigen Traum auf, in dem die gealterte Télumée ihr Leben reflektiert: je ne suis pas venue sur terre pour soupeser toute la tristesse du monde. A cela, je préfère rêver, encore et encore, debout au milieu de mon jardin, comme le font toutes les vieilles de mon âge, jusqu’à ce que la mort me prenne dans mon rêve, avec toute ma joie …137 (TM 11)
Der Traum bildet den Ort der Freiheit, von dem aus Télumée ihr Leben erzählen kann, ohne es als reine Geschichte von Leid und Schmerz anzusehen. Die auf den Sinnsprüchen ihrer Großmutter beruhenden Kommentare durchbrechen nicht nur die Linearität westlicher Erzählmuster, sondern auch die Kette erlebten Schicksals. Die von Toussine geerbten Weisheiten, die Télumée in ihrem Leben immer wieder haben aufstehen lassen, verhindern auch eine Abwärtsbewegung der erzählten Geschichte, obwohl ein schmerzlicher Verlust den anderen ablöst. Vielmehr kann die in ihnen vermittelte lebensbejahende Sicht erklären, warum Télumée allen Leides zum Trotz zu einer tragenden Säule ihrer Dorfgemeinschaft wird, die ihre Bewunderung schließlich im Beinamen Télumée Miracle ausdrückt. Die von der Erzählerin zu Beginn eingenommene aufrechte Haltung («debout»), die noch einmal deutlich macht, dass Traum in diesem Fall nichts mit Schlaf zu tun hat, sondern im Gegenteil von geistiger Wachsamkeit zeugt, behält Télumée während des gesamten Erzählaktes bei. «[J]e mourrai lá, comme je suis, debout, dans mon petit jardin, quelle joie! … (TM 255)138 Nicht einmal der Tod wird Télumée zu Fall bringen können, denn «le nègre n’est pas une statue de sel139 que dissolvent les pluies» (TM 254–255).140 Auch wenn Télumée als Verkörperung kreolischer Mündlichkeit stirbt, behält sie im Roman das letzte Wort. Zwar kann sie ihre in Form von Sinnsprüchen gesammelte Lebenserfahrung nicht an leibliche Nachkommen weitergeben, wohl
137 «Ich bin aber nicht auf die Erde gekommen, um alle Traurigkeit der Welt abzuwägen. Lieber träume ich, immer und immer wieder, in meinem Garten stehend, so wie es alle alten Frauen in meinen Jahren tun, bis der Tod mich in meinem Traum ereilt, mit all meiner Freude …» Simone Schwarz-Bart: Télumée, S. 9. 138 «[…] ich werde hier sterben, wie ich bin, aufrecht in meinem kleinen Garten stehend, welche Freude!» Ebda., S. 264. 139 Die Anspielung auf den 1956 veröffentlichten ebenfalls autobiographischen Roman des tunesischen Autors Albert Memmi (Albert Memmi: La statue de sel. Paris: Gallimard 1966) ist nicht zu überlesen. Während es dem Protagonisten dieses Romans weder gelingt, sich in seine eigene, ursprüngliche Gemeinschaft, noch in die westlich-französische Gesellschaft zu integrieren, füllt Schwarz-Barts Protagonistin denjenigen Platz aus, den das Schicksal ihr zuweist und wird so zur tragenden Säule ihrer Gemeinschaft. 140 «[…] daß der Neger keine Salzfigur ist, die der Regen auflöst.» Simone Schwarz-Bart: Télumée. Frauenroman aus Guadeloupe, S. 263.
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aber an die Leser ihrer Lebensgeschichte. Das geschriebene Wort macht hier nicht wie bei Carpentier die kreolische Mündlichkeit zunichte, sondern sichert gerade ihr Fortbestehen. Damit geht ein Verschmelzen mündlicher und schriftlicher Ausdrucksformen einher. Während Carpentier Inhalt und Struktur seiner Kurzgeschichte in einem aphoristischen Schlusssatz kondensiert, dessen elaborierte Schriftlichkeit und Komplexität im Kontrast zur fingierten Mündlichkeit seines Erzählzusammenhangs stehen, adaptiert Schwarz-Bart Sprichwörter aus einer überwiegend oralen Tradition und schafft so eine neue Form des Sinnspruchs, in der der Gegensatz zwischen kreolischer Mündlichkeit und europäischer Schrifttradition, den Carpentier noch herausstellt, in einer sprachlichen Symbiose aufgehoben ist. Kreolische Identität behauptet sich bei Schwarz-Bart demnach nicht, wie in Confiants Sprichwörtersammlung, in einer musealen Ausstellung mündlicher kreolischer Formen, sondern in deren dynamischer Vereinigung mit der französischen Sprache, die nicht mehr die Sprache des Anderen ist, sondern zu einem Teil des Eigenen wird.
6 Post-koloniale Autodidakten: Kleine Formen als Anleitung zur Selbstbildung 6.1 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé 6.1.1 Der Sinnspruch im Spannungsfeld von widerstreitenden Traditionen und Autodidaxie Wie auf den Antillen nimmt das Sprichwort auch im subsaharischen Afrika bei der Suche nach einer eigenen, von Europa losgelösten Identität eine zentrale Stellung ein. Im Zuge der antikolonialen Widerstandsbewegungen zwischen 1945 und 1960 bildet sich in den französischen und belgischen Kolonien Afrikas ein neues politisches Selbstbewusstsein heraus, das sich nicht nur in der Entstehung einer militanten antikolonialistischen Literatur, sondern auch in der Aufwertung traditioneller afrikanischer Gattungen äußert. Errichtet etwa der malische Schriftsteller und Politiker Fily Dabo Sissoko mit seiner ethnographischen Sprichwörtersammlung Sagesse noire. Sentences et proverbes malinké (1955) einen Schutzwall gegen die Assimilation seiner Kultur durch die französische Kolonialpolitk,1 so nimmt der aus der Elfenbeinküste stammende Ahmadou Kourouma in seinen allesamt nach der Unabhängigkeit erschienenen Romanen, Theaterstücken und Kinderbüchern eine literarische Verarbeitung mündlicher Erzähl- und Gesangsformen vor. In seinem letzten vollendeten2 Roman Allah n’est pas obligé3 (2001) greift Kourouma wie schon in En attendant le vote des bêtes sauvages (1998) das Erzählprinzip des donsomana auf, einer Berichtsgattung, mit der in der Kultur der Malinké ein Griot4 den Lebenslauf einer Person panegyrisch erzählt mit dem Ziel, deren Persönlichkeitsentwicklung nachvollziehbar zu machen.5 In diesen Berichten spielen Sinnsprüche eine zentrale Rolle, wie Kourouma in En attendant 1 Vgl. Miriam Lay Brander: Transferts de ‹sagesse noire›, S. 96–100. 2 Kouroumas unvollendeter Roman Quand on refuse, on dit non erscheint posthum 2004. 3 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé. Paris: Seuil 2000. Im Folgenden abgekürzt mit AO. 4 Es handelt sich um einen berufsmäßigen Sänger, Musiker, Geschichtenerzähler der in traditionellen Zeremonien Westafrikas zum Lob einer Person, zur Belehrung oder zur Unterhaltung epische Texte mit historischen, mythologischen oder satirischen Inhalten vorträgt. Vgl. Hauke Dorsch: Globale Griots. Performanz in der afrikanischen Diaspora. Münster: Lit. 2006. 5 Vgl. Manfred Loimeier: Ahmadou Kourouma. In: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur/Munzinger Online. 2004, https://www.munzinger.de/search/klfg/Ahma dou+Kourouma/250.html (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020). Ein verwandtes Erzählprinzip bestimmt auch den frühneuzeitlichen spanischen Schelmenroman Lazarillo de Tormes, in dem https://doi.org/10.1515/9783110639483-008
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eindrücklich vorführt: Die Überschrift eines jeden Unterkapitels besteht aus einem Sprichwort, das mit der ihm zugehörigen Episode in einem losen Zusammenhang steht. Gemeinsam mit zwei weiteren Sprichwörtern bildet es eine Gruppe, die, in der erzählten Welt begleitet durch Musik, den Erzählfluss des Griot unterbricht und zur Reflexion zu einem bestimmten Thema einlädt. Dieser Reflexionsgegenstand variiert von Kapitel zu Kapitel: Tradition, Tod, Schicksal, Macht, Verrat und Vergänglichkeit. Die sechs Kapitel sind mit «Veillées» überschrieben, d. h. mit Abenden, an denen ein griot musicien gemeinsam mit seinem Assistenten, dem répondeur, die Geschichte des Jägers Koyaga erzählt. Ein zentraler Unterschied zwischen der Erzählsituation in En attendant und Allah besteht darin, dass in Kouroumas jüngerem Roman nicht ein professioneller Erzähler die Lebensgeschichte eines anderen vorträgt, sondern, ähnlich wie in der Tradition des Schelmenromans,6 ein Kind sein eigenes, bislang erst kurzes Leben darstellt. Der Bericht des acht- oder zehnjährigen Birahima – sein genaues Alter kennt er selbst nicht – spaltet sich auf in zwei Teile: die Zeit bevor und die Zeit nachdem er sein Heimatdorf im Norden der Elfenbeinküste verlässt und Kindersoldat in Liberia und Sierra Leone wird. Die ersten Kindheitsjahre Birahimas sind vom Leiden seiner Mutter überschattet, deren Bein von einem sich ausbreitenden Geschwür befallen ist. Da sie sich nur auf ihrem Hintern fortbewegen kann, kommt sie eines Tages zu spät, um zu verhindern, dass sich der kleine Birahima am offenen Herd eine Brandverletzung zuzieht. Davon abgesehen, dass Birahima somit schon früh mit den Widerwärtigkeiten des Lebens konfrontiert wird, wächst er in einem behüteten Umfeld auf. Nachdem sowohl seine Eltern als auch seine Großmutter gestorben sind, soll der ehemalige Koranlehrer Yacouba, der sich unter dem Pseudonym Tiécura als Geldfälscher und Verkäufer von selbstgemachten Amuletten verdingt, ihn zu seiner Tante nach Liberia begleiten. Wie der pícaro im Schelmenroman legen die beiden Weggefährten unterschiedliche Stationen als ‹Diener vieler Herren› zurück: Yacouba als stets willkommener Hersteller von Talismanen und Birahima als Soldat in den Truppen wechselnder Kriegsherren. Als sie in die Stadt gelangen, in der die Tante angeblich lebt, ist diese bereits nach Sierra Leone geflüchtet, wo Birahima sie schließlich tot in einem Massengrab wiederfindet.
ein jugendlicher pícaro einem geistlichen Würdenträger seine Lebensgeschichte vorträgt, um seine aktuelle, zweifelhafte Lebensführung zu rechtfertigen. 6 Zur Adaptation des Schelmenromans in Allah n’est pas obligé vgl. ausführlich Miriam Lay Brander: Ruses subsahariennes: La narration picaresque dans Allah n’est pas obligé. In: Susanne Goumegou/Agnieszka Komorowska u. a. (Hg.): Transkulturationen des Pikaresken. Heidelberg: Winter, in Vorbereitung b.
6.1 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé
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Die narrativen Episoden, in denen Birahima von seinen Erlebnissen als Kindersoldat berichtet, wechseln sich ab mit dokumentarischen Passagen, in denen politische Zusammenhänge der Bürgerkriege in Liberia und Sierra Leone mit bemerkenswerter Genauigkeit dargestellt werden. Waren die Hauptfiguren in Kouroumas erstem Roman Les soleils des Indépendances (1968) und in En attendant an den absolutistischen Staatspräsidenten der Elfenbeinküste Félix HouphouëtBoigny und den togolesischen Alleinherrscher Gnassingbé Eyadéma angelehnt,7 so erweitert Kourouma das Panorama afrikanischer Gewaltherrscher in Allah um die Bürgerkriegskommandanten Samuel Doe mit seinem United Liberation Movement of Liberia for Democracy (ULIMO), Charles Taylor mit der Nationalen Patriotischen Front (NPFL), Prince Johnson und El Hadjy Johnny Koroma in Liberia sowie Joseph Momoh, Valentine Strasser und Foday Sankoh mit seiner Truppe vereinigter Revolutionäre (RUF) in Sierra Leone. Was Kourouma in Allah von En attendant nebst der Fiktionalisierung westafrikanischer Geschichte übernimmt, ist die Einteilung des Romans in sechs Kapitel. Allerdings stehen an der Stelle der Bezeichnung «veillée» in Allah römische Ziffern. Diese Veränderung kann als erster Hinweis darauf gelesen werden, dass der Erzählduktus des Griot in Allah nur noch als Spur vorhanden ist.8 Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, dass traditionelle afrikanische Sprichwörter in Allah keine strukturierende Funktion mehr erfüllen. Zwar tauchen sie in Birahimas Erzählung immer wieder auf, doch dienen sie eher der Erklärung von Details denn als Strukturprinzip. Stattdessen wiederholt der Erzähler beständig die beiden Devisen9 «Allah n’est pas obligé d’être juste dans toutes ses choses ici-bas»10 und «Allah dans son immense bonté ne laisse jamais vide
7 Vgl. Manfred Loimeier: Ahmadou Kourouma. 8 Diese Spur zeigt sich auch an einer Stelle, an der der Erzähler die Formel «Cric-crac» (AO S. 103) verwendet, mithilfe derer sich ein Griot der Aufmerksamkeit seines Publikums vergewissert. Die Zuhörer antworten auf das «Cric» des Griot mit dem Ausruf «Crac» und tun so ihre Zustimmung kund. 9 Die Devise lässt sich nach dem Grand Larousse de la langue française definieren als eine konkrete Lebensregel, an der eine Person ihr Verhalten ausrichtet («Toute formule indiquant, de façon concrète et caractéristique, la règle de vie, de conduite à laquelle une personne prétend obéir», Louis Guilbert/René Lagane u. a.: Grand Larousse de la langue française en sept volumes. Paris: Larousse 1989 (B. 2), S. 1267). Es handelt sich nicht um eine literarische, sondern im Alltagsgebrauch verbreitete Gattung, die aber als Diskurselement in die Literatur einfließen kann. Auch wenn die Devise nicht Teil des traditionellen europäischen Gattungssystems ist, steht sie ihrem literarischen Verwandten, dem Aphorismus, laut Tzvetan Todorov näher als andere literarische Diskurstypen. Tzvetan Todorov: Les genres du discours. Paris: Seuil 1978, S. 25. 10 «Allah muss nicht gerecht sein in allen Dingen auf Erden.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein. Aus dem afrikanischen Französisch von Sabine Herting, München: Albrecht Knaus 2002, S. 9.
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une bouche qu’il a créée»11. Diese beiden Sinnsprüche erscheinen meist am Ende einer Episode und gleichen darin dem einer Fabel nachgestellten Lehrsatz. Zugleich stellt der Erzähler den ersten der beiden Leitsprüche seiner Erzählung auf der extradiegetischen Ebene voran und markiert ihn so als übergeordnete Lehre, die er durch seine Erzählung vermitteln möchte. Die beiden Leitsätze können also im Sinne von Pro- und Epimythia einer Fabel gelesen werden. Dies legt eine Stelle nahe, an der Birahima selbst eine Fabel von La Fontaine aufruft, von der er während seiner sehr kurzen Schulzeit gehört hat und die er auf das skrupellose Vorgehen der Kriegsherren im liberianischen Bürgerkrieg bezieht: «Ce n’était pas juste. C’était la raison du plus fort comme dans la fable de La Fontaine ‹Le Loup et l’Agneau› que nous avons apprise à l’école» (AO 147).12 Über ihre Funktion als Moral hinaus dienen die beiden Devisen Birahima in seiner Erzählung als Leitmotive, um die herum sich die gesamte Erzählung strukturiert. Birahima selbst erklärt in einem späteren Zusammenhang Begriff und Funktion eines Leitmotivs mit Hilfe eines der Wörterbücher, die er immer wieder heranzieht: «Leitmotiv signifie parole, formule, qu’on répète sans cesse» (AO 156).13 Nicht nur dieser metareflexive Passus, sondern auch die aus der Rückschau getroffene Entscheidung des Erzählers, den Satz «Allah n’est pas obligé d’être juste dans toutes ses choses ici-bas» in verkürzter Form zum Titel seiner Erzählung zu machen, heben dessen leitmotivische Funktion hervor: «Je décide le tire définitif de mon blablabla est Allah n’est pas obligé d’être juste dans toutes ses choses ici-bas» (AO 7, 22, Hervorhebung im Original).14 Birahima stützt seine Erzählung nach dem Vorbild des Griot durch Sinnsprüche, verwendet aber hierfür im Gegensatz zum Griot keine traditionellen afrikanischen Sprichwörter, sondern zwei Lehrsätze aus dem afrikanischen Volksislam. Birahimas ständiges Wiederholen dieser Sätze könnte daher als parodische Imitation eines Rezitierens
11 «Allah lässt in seiner außerordentlichen Güte niemals einen Mund leer, den er geschaffen hat.» (Eigene Übersetzung). 12 «Das war nicht gerecht, sondern das Argument des Stärkeren, wie wir es in der Fabel ‹Der Wolf und das Schaf› von La Fontaine in der Schule gelernt haben.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 148. 13 «Ein Leitmotiv ist eine häufig wiederkehrende, einprägsame Aussage oder Formulierung, die mit einer bestimmten Person, Sache oder Situation verbunden ist.» Ebda., S. 158; Die Worterklärung Birahimas bezieht sich hier auf die Formel «djogo-djogo», die so viel bedeutet wie «koste es, was es wolle» und mit der Johnson nach Mitteln sucht, um die amerikanischen Kader der größten afrikanischen Kautschuk-Plantage, von der er Abgaben erhält, vor Geiselnahmen zu schützen. 14 «Ich weiß jetzt, wie der endgültige und vollständige Titel meines Blablas lauten wird: Allah muss nicht gerecht sein in allen Dingen auf Erden.» Ebda., S. 9.
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und Auswendiglernens von Passagen aus dem Koran gelesen werden, wie es in den (westafrikanischen) Koranschulen häufig von den Schülern verlangt wird.15 Indem Birahima seine Erzählung zudem als «blablabla» bezeichnet, disqualifiziert er sich selbst als kompetenter Erzähler und damit als Griot. Birahimas Verwendung von Sinnsprüchen verweist also auf einen Erzählduktus, der die traditionelle afrikanische Erzählweise zugleich aufruft und transzendiert. An die Stelle des traditionellen afrikanischen Erzählens tritt eine Synthese aus afrikanischer oraler Literatur, islamischer Volksreligion und europäischer literarischer Traditionen, wobei jedes dieser Elemente dekonstruiert wird:16 Der weise Griot wird durch einen Kindersoldaten ersetzt, der Glaube an die Souveränität Allahs erhält, wie noch zu erläutern sein wird, eine zynische Komponente, und auch die Gattung der Fabel erweist sich als unfähig, eine praktische, moralische oder religiöse Lehre17 zu vermitteln. Keine dieser Traditionen scheint auszureichen, um die kontingente Realität der Bürgerkriege in Westafrika diskursiv zu bewältigen. Selbst in ihrer Kombination ermöglichen sie höchstens einen ironisch gebrochenen Zugang zu einer aus den Fugen geratenen Wirklichkeit. Die europäischen und afrikanischen diskursiven Traditionen, die in Allah zusammenfließen, liegen im Wettstreit miteinander.18 Als Bestandteil dessen, was Birahima während seiner nicht einmal zweijährigen Schulzeit gelernt hat, steht die Fabel in Allah für das französische Bildungssystem, das mit einem traditionellen afrikanischen Wissen konkurriert. Dieses konfliktive Verhältnis bringt Birahima gleich zu Beginn seiner Erzählung zum Ausdruck, indem er dem Gesetz der (schriftlichen) französischen Sprache das Gesetz eines mündlich tradierten Wissens gegenüberstellt. Dem Erzähler wird zunächst erklärt, dass nach den Richtlinien der französischen Bildungspolitik die im subsaharischen Afrika gesprochene, vom hexagonalen Französisch abweichende Variante des
15 Vgl. Rudolph T. Ware: The Walking Qur’an. Islamic Education, Embodied Knowledge, and History in West Africa, Chapel Hill. North Carolina: The University of North Carolina Press 2014, S. 2. 16 Auch Lajri Nadra sieht in Allah einen Bruch mit Elementen sowohl der französischen als auch der Malinké-Kultur, im Gegensatz zu Interpretationsansätzen, die die Kulturmischung in Kouroumas Werk hervorheben. Lajri Nadra: Construction(s), déconstruction(s) dans l’œuvre d’Ahmadou Kourouma. In: Jean Ouédrago (Hg.): L’imaginaire d’Ahmadou Kourouma. Contours et enjeux d’une esthétique. Paris: Karthala 2010, S. 87–109, hier S. 92–93. 17 Vgl. Rüdiger Zymner: Fabel. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart: Kröner 2009, S. 234–239), hier S. 234. 18 Robert Stockhammer interpretiert diesen Wettstreit als sprachliches Pendant zu den westafrikanischen Bürgerkriegen, wenn er den «Zusammenhang von Sprachgestalt und Thema des Romans» hervorhebt. «Dieser agiert den Krieg der Idiome inmitten des Krieges der Kindersoldaten aus.» Robert Stockhammer: Afrikanische Philologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016, S. 235.
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Französischen, als «p’tit nègre» bezeichnet wird: «si on parle mal le français, on dit on parle p’tit nègre, on est p’tit nègre quand même. Ça, c’est la loi du français de tous les jours qui veut ça» (AO 7).19 Dieser französischen Regel setzt Birahima ein inoffizielles Gesetz entgegen, das er in Form einer Maxime formuliert: l’école ne vaut plus rien, même pas le pet d’une vieille grand-mère. (C’est comme ça on dit en nègre noir africain indigène quand une chose ne vaut rien. On dit que ça vaut pas le pet d’une vieille grand-mère parce que le pet de la grand-mère foutue et malingre ne fait pas de bruit et ne sent pas très, très mauvais.).20 (AO 7)
Die von Birahima geäußerte Maxime, die eine in seinem Umfeld verbreitete Auffassung wiedergibt («tout le monde a dit que»), setzt sich aus zwei Teilen zusammen: einer Behauptung («l’école ne vaut […] même pas le pet d’une vieille grandmère»), die eine sprichwörtliche Redensart enthält, und einer Erklärung dieser sprichwörtlichen Redensart für einen Leser, der mit dem afrikanisierten Französisch nicht vertraut ist. Hier kehrt sich das Verhältnis von Bildung und Ungebildet-Sein um: Nicht mehr der Afrikaner wird darüber belehrt, dass sein Französisch ungenügend sei, sondern der okzidentale Leser wird darauf aufmerksam gemacht, dass er mit der afrikanischen Bildsprache nicht vertraut ist. Der vom Erzähler geäußerte Sinnspruch konfrontiert das französische Sprachgesetz mit afrikanischen diskursiven Normen und setzt der Abwertung des afrikanisierten Französisch eine Geringschätzung des französischen Bildungssystems entgegen.21 Offenbar ist in der Schulreform der 1930er Jahre der Versuch gescheitert, den kulturellen und geographischen Erfahrungshorizont afrikanischer Schüler mit einzubeziehen, etwa durch ins Französische übersetzte Texte aus der mündlichen afrikanischen Literatur.22 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Birahima die Schule bereits im zweiten Jahr verlässt und sich das
19 «So ist das nun einmal mit dem Französischen.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 9. 20 «[…] dass die Schule keinen Wert mehr habe, nicht einmal den eines Furzes einer alten Großmutter. (So sagt man als schwarzafrikanischer Eingeborener, wenn etwas nichts taugt. Denn der Furz der elenden, schwächlichen Großmutter macht kein Geräusch und riecht nicht einmal besonders schlecht.)» Ebda. 21 Mit der Konfrontation zwischen afrikanischer Mündlichkeit und französischer Schriftlichkeit nimmt Kourouma Bezug auf einen Umbruch von der mündlichen zur Schrift- und Buchkultur, wie sie sich in West- und Zentralafrika seit Beginn der Kolonisierung in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts und damit wesentlich später und schneller als etwa in Lateinamerika vollzogen hat. Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Schrift, Buch und Lektüre in der französischsprachigen Literatur Afrikas: zur Wahrnehmung und Funktion von Schriftlichkeit und Buchlektüre in einem kulturellen Epochenumbruch der Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 1990. 22 Vgl. ebda., S. 237.
6.1 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé
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Wissen, das es ihm ermöglicht, seine Geschichte zu erzählen, autodidaktisch aneignet. Hierbei helfen ihm vier Wörterbücher (Larousse, Petit Robert, Inventaire des particularités lexicales du français d’Afrique noire und Harrap’s), die Birahima in seiner Erzählung wechselweise heranzieht, um dem Leser entweder französische Ausdrücke aus einem gehobenen Wortschatz oder Redewendungen eines afrikanisierten Französisch zu erklären. Es ist bezeichnend, dass Birahima die Wörterbücher von einem verstorbenen Griot geerbt hat und damit nicht nur symbolisch, sondern auch materiell das Erbe des traditionellen afrikanischen Erzählers antritt. Allerdings steht das autodidaktische Lernen Birahimas der Weisheitsvermittlung durch den Griot diametral gegenüber. Kourouma übt in Allah n’est pas obligé nicht nur Kritik am tradierten Wissen, sondern auch an der lehrerzentrierten Wissensvermittlung, eine Kritik, die sich seit dem 18. Jahrhundert mit der Figur des Autodidakten verband.23 Weder die traditionellen afrikanischen Bildungsinstanzen noch die jüngeren Bildungseinrichtungen – das französische Schulsystem und die Koranschulen – sind es, die den jungen Birahima in seinem Lernen anleiten, sondern die unmittelbare Erfahrung, ergänzt durch einige wenige Bücher. Die von Birahima verwendeten Wörterbücher sind jedoch nicht mit Bedacht ausgewählt, sondern gelangen eher durch Zufall in seinen Besitz. Generell bestimmt der Zufall die sinnliche Erfahrung von Birahima, der zwar im Einklang mit der autodidaktischen Idee des 18. Jahrhunderts aus der unmittelbaren Anschauung heraus lernt, dabei jedoch von dem, was er sinnlich wahrnimmt, überfordert ist. Eine ähnliche Verbindung von autodidaktischem Lernen und Überforderung durch eine kontingente, von Zufällen geprägte Realität ließ sich bereits in Rosas Roman Grande Sertão beobachten. Versucht dort das erlebende und erzählende Ich, ganz in der Tradition der aufklärerischen Autodidaxie, das Erlebte mithilfe von Sinnsprüchen zu strukturieren, so dient auch Birahima die Verwendung von Sinnsprüchen als Leitfaden. Im Gegensatz zu Riobaldo, der nicht nur ihm bekannte Sprichwörter und Gemeinplätze zitiert, sondern auch eigene aphoristische Reflexionen einbringt, stützt sich Birahima im Wesentlichen auf zwei Maximen, die er in seiner frühen Kindheit erlernt hat und die er sich im Laufe seiner Entwicklung aneignet. Die Figur des afrikanischen Autodidakten ist nicht neu. Sie geht auf das Werk De la littérature des nègres (1808) von Henri Grégoire zurück, einem der führenden Kulturanthropologen im Umfeld der Französischen Revolution, der sich bereits vor der Revolution für die Abschaffung des Gesetzes der ‹Negersklaverei› und später für die Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis von Frankreich
23 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Autodidaxie, S. 21.
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eingesetzt hatte.24 Kernstück seiner Abhandlung bilden ca. 50 biographische Skizzen von Afrikanern, die sich autodidaktisch unterschiedliche berufliche, wissenschaftliche, vor allem literarische Fertigkeiten angeeignet hätten, wovon die von ihnen verfassten Schriften zeugten.25 Grégoires Auseinandersetzung mit dem Autodidaktentum liegt die spätaufklärerische Überzeugung von der grundlegenden Gleichheit aller Menschen und von der Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit unabhängig von kulturell-ethnischen Zugehörigkeiten zugrunde. Ohne eine direkte Rezeptionslinie nachweisen zu können, lässt sich sagen, dass Kourouma mit Birahima die Reihe afrikanischer Autodidakten und damit Grégoires Kritik an einer sich hartnäckig haltenden rassistischen Vorstellung von der intellektuellen Überlegenheit der Weißen fortsetzt. Im Gegensatz zu Grégoire stellt Kourouma aber auch die Unzulänglichkeit des französischen Schulsystems heraus, für dessen Ausbau sich der französische Bildungspolitiker nachdrücklich eingesetzt hatte.26 Da es dem hexagonalen Bildungssystem offenbar nicht gelingt, ein spezifisch afrikanisches Wissen zu integrieren, liefert es Birahima nicht die technischen und intellektuellen Grundlagen für das Erzählen einer Geschichte, die sich jenseits des politischen und kulturellen Rahmens von Frankreich abspielt, wenngleich sie von diesem mit bedingt wurde. Aufgrund des Einflusses von Frankreich auf die afrikanischen Kulturen sowie auf die Fakten und Hintergründe der afrikanischen Bürgerkriege ist allerdings auch die traditionelle afrikanische Mündlichkeit nicht in der Lage, eine chaotische Realität, wie sie Birahima darstellt, sprachlich zu fassen. Dies bestätigt die oben bereits angedeutete Beobachtung, dass Kourouma in seinem Spätwerk mehr und mehr Abstand von traditionellen afrikanischen Modellen nimmt. Ist die Erzählweise des Griot in Les soleils des Indépendances, der mit traditionellen mündlichen Formen wie Sprichwörtern gespickt ist,27 sowie in En attendant
24 Vgl. zur Rolle von Henri Grégoire Hans-Jürgen Lüsebrink: Autodidakten im kulturanthropologischen Diskurs in Frankreich um 1800. Zur Sicht der Autodidaxie im Werk des französischen Kulturpolitikers und Kulturanthropologen Henri Grégoire. In: Holger Böning/IwanMichelangelo D’Aprile u. a. (Hg.): Selbstlesen – Selbstdenken – Selbstschreiben. Prozesse der Selbstbildung von «Autodidakten» unter dem Einfluß von Aufklärung und Volksaufklärung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Bremen: Edition Lumière 2015, S. 359–374. 25 Henri Grégoire: De la littérature des nègres, ou recherches sur leurs facultés intellectuelles, leurs qualités morales et leur littérature suivies de notices sur la vie et les ouvrages des nègres qui se sont distingués dans les sciences, les lettres et les arts. Paris: Maradan 1808. 26 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Autodidakten im kulturanthropologischen Diskurs in Frankreich um 1800, S. 368. 27 Siehe hierzu Jean Derive: L’utilisation de la parole orale traditionelle dans Les soleils des indépendances d’Ahmadou Kourouma. In: L’Afrique littéraire et artistique 54 (1977), S. 103.
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insgesamt noch positiv konnotiert, so lässt er Birahima sie nun als ein unzeitgemäßes Wissen verwerfen: Un enfant poli écoute, ne garde pas la palabre … Il ne cause pas comme un oiseau gendarme dans les branches de figuier. Ça, c’est pour les vieux aux barbes abondantes et blanches, c’est ce que dit le proverbe: le genou ne porte jamais le chapeau quand la tête est sur le cou. C’est ça les coutumes au village. Mais moi depuis longtemps je m’en fous des coutumes du village, entendu que j’ai été au Libéria, que j’ai tué beaucoup de gens avec kalachnikov (ou kalach) et me suis bien camé avec kanif et les autres drogues dures.28 (AO 9, eigene Hervorhebungen)
Birahima ahmt hier den Duktus der afrikanischen Weisheitsrede nach, wenn er zunächst eine Regel, die er möglicherweise aus dem Mund seiner Großmutter gehört hat, samt ihrer Begründung durch ein Sprichwort zitiert. Allerdings dient ihm das Sprichwort nicht als Bekräftigung der Regel, sondern gerade dazu, sie außer Kraft zu setzen. Die Tatsache, dass die Alten die Verhaltensvorschrift vom höflichen Kind, das zuhört, statt zu sprechen, durch ein Sprichwort abstützen, bestärkt ihn in seiner Ansicht, diese Vorschrift sei überholt. Der Erzähler lehnt die Lehren seiner einstigen Dorfgemeinschaft genauso ab wie den französischen Bildungsplan, da sie mit seinen Erfahrungen als Kindersoldat in den Wirren des Bürgerkrieges nicht in Einklang zu bringen sind. Eine erste Annäherung an die Verwendung von Sinnsprüchen in Allah zeigt also, dass Kourouma in seinem Spätwerk eine neue Form des Erzählens praktiziert, die afrikanische und europäische diskursive Traditionen zugleich voraussetzt und verwirft. Dies wird durch einen Prozess der produktiven Rezeption möglich, in dem ein naiver Erzähler diese traditionellen Elemente erprobt und am Maßstab seiner Erlebnisse misst. Hat eine kreative Transformation afrikanischer oraler Traditionen bereits in Les soleils und En attendant stattgefunden, so treten sie in Allah nun in einen Dialog mit dem islamischen Volksglauben und der europäischen didaktischen Literatur (Fabel, Erziehungsroman). Birahima lehnt im Einklang mit der spätaufklärerischen Denkfigur des Selbstgelehrten ein unpersönliches traditionelles Wissen, wie es in Sprichwörtern gespeichert ist, grundsätzlich ab. Allerdings öffnet er sich der doxa dort, wo sie ihm hilft, Erlebtes zu kontextualisieren und zu erklären. Unter den Personen, die 28 «Ein höfliches Kind aber hört zu und palavert nicht selbst … Es plappert nicht drauflos wie ein Gendarmenvogel in den Ästen des Feigenbaums. Das bleibt den Alten mit den langen, weißen Bärten vorbehalten, oder wie es das Sprichwort sagt: Das Knie trägt niemals den Hut, wenn der Kopf auf dem Hals sitzt. So sind die Sitten im Dorf, auf die ich allerdings schon seit langem pfeife. Denn ich war in Liberia und habe viele Menschen mit der Kalaschnikow getötet und habe Hasch geraucht und auch harte Drogen genommen.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 11.
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Birahima Lehren in Form von Sinnsprüchen vermittelt haben, findet sich der Heiler Balla, der seine Mutter behandelte und sie schließlich heiratete. Als Angehöriger der Ethnie Bambara, der im Dorf nicht nur wegen seiner Herkunft, sondern auch wegen seiner traditionellen magischen Praktiken ein Außenseiter ist, akzeptiert Birahima ihn als Lehrer, der ihn jenseits von gesellschaftlichen Institutionen in seinem individuellen Lernprozess fördert. Tout ce que je parle et déconne (déconner, c’est faire ou dire les bêtises) et que je bafouillerai, c’est lui qui me l’a enseigné. Il faut toujours remercier l’arbre à karité sous lequel on a ramassé beaucoup de bons fruits pendant la bonne saison. Moi je ne serais jamais ingrat envers Balla. Faforo (sexe de son père)! Gnamokodé (bâtard)!29 (AO 14, eigene Hervorhebung)
Das zitierte Sprichwort scheint aus einer Phase überdauert zu haben, in der Birahima die grausame Welt der Bürgerkriege noch nicht bekannt und in der er für die traditionellen Weisheitslehren noch empfänglich war. Es handelt sich um eines der wenigen Sprichwörter, das seinen traumatischen Erlebnissen standhalten kann. Auch das folgende von Balla übernommene Sprichwort kann Birahima für seine Erzählung fruchtbar machen: «Balla disait qu’un enfant n’abandonne pas la case de sa maman à cause des odeurs d’un pet. Je n’ai jamais craint les odeurs de ma maman» (AO 16, eigene Hervorhebung).30 Wendet Birahima Sprichwörter im ersten Teil auf sich selbst an, um seine Wertschätzung gegenüber seiner Mutter und seinem Stiefvater auszudrücken, so erscheinen sie im zweiten Teil als Hilfsmittel, um einen politischen Sachverhalt zu erklären. Beispielsweise verwendet er das folgende Sprichwort, um die Tatsache zu begründen, dass die Ethnie der Mende, der der Premierminister von Sierra Leone Milton Margaï angehört, von diesem bevorzugt behandelt wird: «on suit l’éléphant dans la brousse pour ne pas être mouillé par la rosée (ce qui signifie qu’on est protégé lorsque’on est proche d’un grand)» (AO 163),31. An anderer Stelle erklärt nicht ein Sprichwort einen politischen Tatbestand, sondern die
29 «Alles, was ich so daherquatsche und was ich noch von mir geben werde, hat er mir beigebracht. Man soll immer dem Karitébaum danken, unter dem man in der guten Jahreszeit viele gute Früchte gesammelt hat. Ich werde Balla gegenüber niemals undankbar sein. Faforo (Schwanz seines Vaters)! Gnamokodé (Bastard)!» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 16. 30 «Balla hat einmal gesagt, ein Kind würde nicht weglaufen und nicht die Hütte seiner Mama wegen der Gerüche eines Furzes verlassen. Ich habe Mamas Gerüche nie gefürchtet.» Ebda., S. 18. 31 «schließlich folgt man im Busch dem Elefanten, um nicht vom Tau nass zu werden. (Diese Redewendung bedeutet […]: Man sucht Schutz, indem man sich in der Nähe eines Großen aufhält.)» Ebda., S. 165.
6.1 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé
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Entstehung eines Sprichwortes wird aus einer politischen Begebenheit heraus begründet: «Comme dit un proverbe des noirs nègres indigènes, c’est Saint Abacha qui était sous la pluie et c’était Houphouët-Boigny qui tirait les poissons de la rivière. Ou, comme on le dit en français, c’était Houphouët qui tirait les marrons du feu» (AO 173).32 Das Sprichwort bezieht sich auf die Überlegenheit des Staatspräsidenten der Elfenbeinküste Houphouët-Boigny gegenüber dem nigerianischen Militärdikatator Sani Abacha, der im Gegensatz zu ersterem die Gunst Frankreichs und der internationalen Medien genoss. Es handelt sich also um eine relativ junge Redensart, die deutlich macht, dass dort, wo die alten afrikanischen Weisheiten aktuelles Geschehen nur noch begrenzt deuten können, neue Weisheitssprüche erdacht werden, die auf die aktuellen Gegebenheiten zugeschnitten sind. Der Wert des mündlich überlieferten Wissens, wie es in Sinnsprüchen gespeichert ist, bemisst sich für Birahima somit allein an seiner Anwendbarkeit. Dort wo die doxa in Widerspruch zum Erlebten tritt, lehnt er sie ab und ersetzt sie durch Lehren, die er aus der unmittelbaren Anschauung ableitet. Dies erklärt auch, warum die meisten von Balla und Birahimas Großmutter zitierten Sprichwörter im weiteren Verlauf der Erzählung nicht mehr auftauchen. Birahima kann sie nur auf die Erlebnisse seiner frühen Kindheit anwenden, nicht mehr jedoch auf seine Erfahrungen als Kindersoldat. Eine Ausnahme bildet der bereits erwähnte Leitspruch «Allah n’est pas obligé …», den Birahima immer wieder als eine aus der eigenen Erfahrung gewonnene Lehre hochhält, zusammen mit dem Satz «Allah dans son immense bonté ne laisse jamais vide une bouche qu’il a créée». Letzteren erwähnt er erst nach dem Verlust seiner engsten Familienmitglieder. Es handelt sich um eine Lektion, die der Ganove Yacouba alias Tiécora, der sich während des ganzen Romans an Birahimas Seite befindet, aus einem Unfall zieht, der beinahe tödlich für ihn geendet hätte und den er angeblich nur aufgrund zahlreicher Gebete und Tieropfer überlebt hat. «De son accident, de son hospitalisation, il tira deux choses. Primo il devint boiteux, on l’appela le bandit boiteux. Secundo il tira la pensée que Allah dans sa bonté ne laisse jamais vide une bouche qu’il a créée» (AO 39).33 Beide Leitsprüche folgen einem Muster,
32 «Nach einem Sprichwort der schwarzen Eingeborenen war es Sani Abacha, der im Regen stand, und Houphouët-Boigny, der die Fische aus dem Fluss zog. Oder wie es bei den Weißen heißt, Houphouët holte die Kastanien aus dem Feuer.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 175. 33 «Aus seinem Unfall und aus seinem Krankenhausaufenthalt ergaben sich für Yacouba zwei Veränderungen. Erstens, er humpelte fortan, man nannte ihn den humpelnden Banditen. Zweitens glaubte er jetzt, dass Allah in seiner Güte einen Mund, den er geschaffen hat, niemals leer lässt.» Ebda., S. 42.
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das in den westafrikanischen islamischen Gesellschaften verbreitet ist: Sowohl in alltäglichen als auch in gelehrten Kontexten des Islams dienen Sinnsprüche häufig als Quelle von Erkenntnis oder der Zusammenfassung zentraler Lehren.34 Die beiden von Birahima beständig wiederholten Sinnsprüche stehen also nicht nur in der Tradition mündlichen afrikanischen Erzählens, sondern auch in derjenigen eines afrikanisierten Islam.
6.1.2 Aneignung volksislamischer Maximen: Gelegenheitshandeln und sprachliche Willkür «Allah ne laisse jamais vide une bouche qu’il a créée» Dem ehemaligen Koranlehrer Yacouba, von dem Birahima diese Lehre übernommen hat, kommt auf der Reise durch die westafrikanischen Kriegsgebiete die Aufgabe zu, Birahima sowohl physisch als auch in seinem Prozess des Selbstlernens zu begleiten. In Yacouba vereinen sich islamisches und mündliches afrikanisches Wissen: Als überzeugter Muslim und zugleich Hersteller von Amuletten verkörpert er zum einen das Klischee eines Islam Noir, d. h. die im französischsprachigen Diskurs verbreitete verzerrte Vorstellung einer im Wesentlichen synkretistischen und abergläubischen Version des Islam.35 Zum anderen zeigt der Deckname Tiécoura einen weiteren intertextuellen Bezug zu En attendant an: Dort verbirgt sich hinter diesem Namen der Assistent des Griot Bingo, der so genannte répondeur, dem die Aufgabe zufällt, den Griot bei den musikalischen Zwischenspielen nach Abschluss einer Episode zu unterstützen. So wie Griot und répondeur ein Paar bilden, so sind Birahima und Yacouba nicht nur räumlich unzertrennlich, sondern teilen sich auch die leitmotivischen Interventionen in Birahimas autobiographischem Bericht. Innerhalb der erzählten Welt ist es zunächst stets Yacouba, der spricht, was sich in einleitenden Phrasen wie «Yacouba continuait à penser, et il le disait, que» (AO 41) und «Yacouba […] a dit avant le départ» (AO 42)36 äußert. In einem zweiten Schritt führt Birahima die Devise aus der Perspektive eines kollektiven «nous» an: «Nous étions optimistes parce que» (AO 58) oder «Nous prenions tout ce qui était bon à grignoler. Allah dans son
34 Vgl. Rudolph T. Ware: The Walking Qur’an, S. 12. 35 Vgl. Ebda., S. 22. 36 «Yacouba dachte immer noch und er sagte es auch, dass […].» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 44; «Vor unserer Abreise versicherte er mir […].» Ebda., S. 45. 37 «Wir waren optimistisch, weil […].» Ebda., S. 60–61; «Wir nahmen alles, was es zu futtern gab. Allah lässt niemals einen Mund leer, den er geschaffen hat.» Ebda., S. 94.
6.1 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé
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immense bonté ne laisse jamais vide une bouche qu’il a créée» (AO 92).37 Das «nous» markiert einen Übergang von der Äußerung der Maxime durch Yacouba zu deren Übernahme durch Birahima. Im Verlauf des Romans werden die Verweise auf Yacouba immer weniger, was darauf hindeutet, dass Birahima sich dessen Leitspruch angeeignet hat, da sich die Devise vor dem Hintergrund seiner Erfahrung als belastbar erwiesen hat. Die Möglichkeit, ein Dorf zu plündern («Nous prenions tout ce qui était bon à grignoler») bestätigt aus der Sicht Birahimas die religiöse Maxime, nach der Allah seine Geschöpfe stets mit dem Notwendigen versorgt. Auf einer impliziten Ebene stehen die Plünderung des Dorfes durch Birahimas Truppe und die Devise von der göttlichen Vorsehung jedoch im Gegensatz zueinander. Birahima und Yacouba warten nicht demütig darauf, von Allah ernährt zu werden, sondern rauben die benötigten Nahrungsmittel ohne jegliche Rücksicht auf ethisch-moralische Richtlinien. Die Vorstellung von Allah als Versorger war ursprünglich von demjenigen Wertesystem umgeben, das der Leser durch die Erzählung von Birahimas früher Kindheit kennengelernt hatte und das in der Welt von skrupellosen Kriegsherren und Kindersoldaten in Trümmern liegt.38 Das Wertesystem der Bürgerkriege organisiert sich um zwei Achsen: «la raison du plus fort» und ein taktisches, auf Gelegenheiten ausgerichtetes Handeln, wie es Birahima und Yacouba praktizieren. Ein solches Gelegenheitshandeln ist in der fiktionalen Literatur aus dem frühneuzeitlichen Schelmenroman bekannt, der damit den durch Machiavelli revidierten Fortuna-Topos aufgriff:39 Entwickelte sich die antike Göttin Fortuna im Mittelalter zum Sinnbild der göttlichen Vorsehung, das dem Menschen die Vergänglichkeit seiner Existenz vor Augen führte, so erfuhr der Topos durch Machiavelli eine neue Wendung, indem Fortuna nicht mehr als Werkzeug der göttlichen Allmacht begriffen, sondern teilweise menschlicher Verfügung unterworfen wurde.40 Das damit einhergehende Wahrnehmen von Gelegenheiten zum Zwecke einer Überlistung des Schicksals war nicht an moralische Maßstäbe gebunden,
38 Vgl. Xavier Garnier: Allah, fétiches et dictionnaires: une équation politique au second degré. In: Notre Librairie. Revue des littératures du Sud, 155–156 (2004), o. S. 39 Vgl. Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin/New York: De Gruyter 2001, S. 129–130, sowie Miriam Lay Brander: Mit List und Tücke: Praktiken der Aufmerksamkeit im frühneuzeitlichen Schelmenroman am Beispiel des Lazarillo de Tormes. In: Stephanie Kleiner/Miriam Lay Brander u. a.: Geteilte Gegenwarten. Kulturelle Praktiken von Aufmerksamkeit. München: Fink 2016. 40 Vgl. Robert Orr: The Time Motif in Machiavelli. In: Martin Fleisher (Hg.): Machiavelli and the nature of political thought. New York: Atheneum 1972, S. 185–208, hier S. 198–201.
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sondern stand unter dem Gesetz eines zufälligen Eintretens von bestimmten Bedingungen, die es geschickt auszunutzen galt. Analog zu diesem Gelegenheitsprinzip, das in der europäischen Philosophie und Literatur der Frühen Neuzeit die Lehre von der göttlichen Prädestination in Frage stellte, wird in Allah das islamische Verständnis der göttlichen Vorsehung einem eigenmächtigen und dazu moralisch zweifelhaften Handeln unterworfen. Zeugen einige Sinnsprüche in Simone Schwarz-Barts Roman von einem Weltbild, in dem der Mensch dem Schicksal ausgeliefert ist, so ist eine Beeinflussung des Schicksals in der Welt der westafrikanischen Bürgerkriege nicht nur möglich, sondern wird durch eine volksislamische Maxime legitimiert, die sich Birahima zurechtlegt. Die Plünderung des Dorfes durch letzteren und seine Truppe ist nur ein Beispiel für diese Verzerrung der islamischen Auffassung, dass Allah bereits bei der Erschaffung der Welt für jeden den ihm zur Verfügung stehenden Vorrat an Lebensmitteln festgelegt habe.41 Auch nachdem Birahima in die Truppe von Johnsons Kindersoldaten aufgenommen wird und dort schnell Freunde findet, mit denen er gemeinsam Nahrungsmittel stehlen kann, deutet er dies als Manifestation der göttlichen Bestimmung: «Allah, dans son excessive bonté, Allah n’a jamais voulu laisser vide pendant deux jours une bouche qu’il a créee» (AO 133).42 Die Verfälschung einer religiösen Lehre wirkt umso provokativer, als das von Birahima und Yacouba praktizierte moralisch zweifelhafte Gelegenheitshandeln in den afrikanischen Bürgerkriegen auch unter Geistlichen verbreitet ist. Ein Beispiel liefert die Ordensvorsteherin Marie-Béatrice, die letzte religiöse Institution, die in der liberischen Hauptstadt Monrovia dem Bürgerkrieg noch nicht zum Opfer gefallen ist, monatelang erfolgreich gegen Plünderer verteidigt und dort an die fünfzig Bedürftige versorgt. Der Erzähler bezeichnet dies als Wunder, gibt dem Leser jedoch einen impliziten Hinweis darauf, dass die Ordensvorsteherin möglicherweise an Nahrungsmittel gelangt, indem sie potenziellen Gönnern ihre Liebesdienste erweist: «La sainte, la mère supérieure Marie-Béatrice, faisait l’amour comme toutes les femmes de l’univers» (AO 138).43 Auch wenn Birahima also die Gerüchte um die angebliche Heilige bekannt sind, ja er sie sogar als Fakten akzeptiert, schiebt er sie entschieden beiseite.
41 Sure 41:10. Vgl. Tilman Nagel: Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart. München: Beck 1994, S. 45. 42 «[…] denn Allah in seiner unendlichen Güte hat niemals gewollt, dass ein Mund, den er geschaffen hat, zwei Tage lang leer bleibt.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 135. 43 «Die Heilige, die Mutter Oberin Marie-Béatrice, machte Liebe wie alle anderen Frauen auf der Welt.» Ebda., S. 140.
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Malgré ce qu’on sait et dit: Allah ne laisse jamais vide une bouche qu’il a créée, tout le monde s’est étonné et tout le monde a soutenu que Marie-Béatrice était une véritable sainte d’avoir nourri tant de gens pendant quatre mois. Allons, entrons pas dans les polémiques, disons comme tout le monde la sainte Marie-Béatrice. Une vraie sainte! Une sainte avec cornette et kalach!44 (AO 141, eigene Hervorhebung)
Wie die kriminelle Nahrungsmittelbeschaffung durch Birahima und Yacouba steht auch das ambivalente Bild, das der Erzähler von Marie-Béatrice zeichnet, im Widerspruch zur göttlichen Vorsehung: Nicht eine göttliche Instanz beschützt und versorgt die Bedürftigen um Marie-Béatrice, sondern diese nimmt ihr Schicksal und das ihrer Anvertrauten mit Mitteln, die jeglicher religiösen Legitimation zuwiderlaufen, selbst in die Hand. Diese jeweils eigenmächtige Befriedigung von Bedürfnissen wird deshalb notwendig, weil Allah sich offenbar selbst untreu geworden ist. Würde Allah tatsächlich alle von ihm erschaffenen Münder ernähren, so wären die zweifelhaften Taktiken, mit deren Hilfe Yacouba, Birahima und Marie-Béatrice an Nahrung gelangen, nicht notwendig, aber da Allah nun einmal nicht verpflichtet ist …45 «Allah n’est pas obligé d’être juste dans toutes ses choses» Auf der Ebene des erzählenden Ichs finden sich Elemente dieses Leitspruchs zum ersten Mal, als Balla dem kleinen Birahima erklärt, dass seine Mutter deshalb so leiden müsse, weil die Opfer, die man für ihre Heilung dargebracht habe, nicht ausreichend gewesen seien. «Allah fait ce qu’il veut; il n’est pas obligé d’accéder (accéder signifie donner son accord) a toutes les prières des pauvres humains. Les mânes font ce qu’ils veulent; ils ne sont pas obligés d’accéder à toutes les chiaderies des prieurs» (AO 19).46 Vollständig dringt der Leitspruch aus der erlebenden Perspektive erst beim Tod von Birahimas Mutter aus dem Mund der Großmutter: «Grand-mère a expliqué que maman avait été tuée par Allah seul avec l’ulcère et les larmes qu’elle a trop versées.
44 «Obwohl es heißt, Allah lasse niemals einen Mund hungern, den er geschaffen hat, waren doch alle erstaunt, dass Marie-Béatrice es geschafft hatte, so viele Menschen vier Monate lang zu ernähren, und sie behaupteten daher, diese Frau müsse eine wahre Heilige sein. Gut, streiten wir uns nicht, sagen wir einfach wie alle anderen: die heilige Marie-Béatrice. Eine wahre Heilige! Eine Heilige mit Flügelhaube und Kalaschnikow!» Ebda., S. 143. 45 Vgl. Xavier Garnier: Allah, fétiches et dictionnaires, o. S. 46 «Allah macht, was er will; er muss nicht unbedingt den armen Menschen alle Bitten gewähren. Auch die Manen machen, was sie wollen; sie müssen nicht unbedingt den Betenden alle dringenden Wünsche erfüllen.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 21.
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Parce que lui, Allah, du ciel fait ce qu’il veut; il n’est pas obligé de faire juste toutes ses choses ici bas» (AO 26).47 Bei Birahimas Leitspruch handelt es sich also, wie auch bei der Devise «Allah ne laisse jamais vide une bouche qu’il a créée» um eine volksreligiöse Lehre, die er von Balla und seiner Großmutter und damit von denjenigen Menschen, die ihm am meisten bedeuteten, übernommen hat – wie bei Simone Schwarz-Bart fungiert auch hier die Großmutter als Lehrerin, die ihr Erfahrungswissen in Form von Sinnsprüchen an die übernächste Generation weitergibt. Wurde die Hauptdevise von Allah bisher aus der naiven Sicht Klein-Birahimas wiedergegeben, so lässt sich im weiteren Verlauf der Erzählung beobachten, wie sich das erzählende Ich, also der bereits acht- oder zehnjährige Birahima, den Sinnspruch aneignet. Diese individuelle Adaptation zeigt sich zum ersten Mal kurz nach dem Tod des Vaters: Grand-mère a dit que mon père est mort malgré tout le bien qu’il faisait sur terre parce que personne ne connaîtra jamais les lois d’Allah et que le Tout-Puissant du ciel s’en fout, il fait ce qu’il veut, il n’est pas obligé de faire toujours juste tout ce qu’il décide de réaliser sur terre ici-bas.48 (AO 29)
Je mehr Schicksalsschläge Birahima erleiden muss, umso weiter schreitet ein Reifungsprozess voran, der ihn die gehörten Lehren nicht mehr einfach wiedergeben, sondern sie entweder verwerfen oder zu seinen eigenen werden lässt. Der umgangssprachliche Ausdruck «s’en fout», der im soeben zitierten Abschnitt in einen starken Kontrast zur erhabenen Bezeichnung Allahs als Allmächtiger («Tout-Puissant») tritt, dürfte wohl kaum aus dem Mund der Großmutter stammen, sondern deutet darauf hin, dass Birahima den Ausspruch in seinen eigenen Worten wiedergibt. Der an dieser Stelle begonnene Aneignungsprozess der Devise findet seinen Abschluss mit dem Tod der Großmutter, bei dem Birahima den Spruch zum ersten Mal selbst, also nicht in Form von indirekter Rede äußert: «Je n’allais jamais plus la revoir. Ça, c’est Allah qui a voulu ça. Et Allah n’est pas juste dans tout ce qu’il fait ici bas» (AO 42).49 Erscheint die Devise an
47 Denn er, Allah im Himmel, mache, was er wolle; er sei keineswegs verpflichtet, hier auf Erden in allen Dingen gerecht zu sein.» Ebda., S. 28. 48 «Großmutter hat gesagt, Mory sei trotz all der guten Dinge, die er auf Erden getan habe, gestorben, weil niemand die Gesetze Allahs kenne und weil der Allmächtige des Himmels doch so handle, wie er wolle, er sei nicht verpflichtet, immer gerecht zu sein bei allem, was er sich entschließe, hier unten auf Erden zu vollbringen.» Ebda., S. 31. 49 «Ich sollte sie nie wiedersehen. Allah hat es so gewollt. Und Allah ist nicht gerecht in allem, was er hier unten tut.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 45.
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dieser Stelle noch als naive Wiederholung der großmütterlichen Formel, so erhält sie im weiteren Verlauf der Erzählung einen zunehmend zynischen Unterton. Die Aneignung des Sinnspruchs «Allah n’est pas obligé …» geht also Hand in Hand mit einem sukzessiven Verlust der engsten Familienangehörigen von Birahima, der mit dem Tod der Großmutter abgeschlossen ist und der Birahima weitgehend auf sich selbst zurückwirft. Analog zu diesem unfreiwilligen und verfrühten Ablösungsprozess vom Elternhaus erlangt Birahima eine narrative Autonomie, die sich in der eigenständigen Äußerung des von der Großmutter übernommenen Weisheitsspruchs manifestiert. An dessen Aneignung durch Birahima lässt sich also ein Übergang von der erlebenden zur retrospektiv erzählenden Perspektive ablesen, der darin kulminiert, dass der Leitspruch kursiv gedruckt erscheint. Dies geschieht stets auf einer extradiegetischen Ebene, zunächst zu Beginn des Romans, wo Birahima die nachträglich aus dem Erlebten gewonnene Moral seiner Erzählung voranstellt: «Je décide le titre définitif et complet de mon blablabla est Allah n’est pas obligé d’être juste dans toutes ses choses ici bas. Voilà. Je commence à conter mes salades.» (AO 7);50 dann, nachdem Birahima die Einführung seiner selbst beendet hat: «Asseyez-vous et écoutez-moi. Et écrivez tout et tout. Allah n’est pas obligé d’être juste dans toutes ses choses. Faforo (sexe de mon papa).» (AO 10–11);51 und schließlich am Ende des Romans, das zugleich den Anfang wieder aufnimmt: «Je me suis bien calé, bien assis, et j’ai commencé: J’ai décidé. Le titre définitif et complet de mon blablabla est Allah n’est pas obligé d’être juste dans toutes ses choses ici bas. J’ai continué à conter mes salades pendant plusieurs jours» (AO 222, Hervorhebungen jeweils im Original).52 An dieser Stelle erfährt der Leser, dass Birahima seine Geschichte, ganz nach dem Vorbild des Griot, sitzend erzählt. Allerdings sitzt er nicht auf festem Untergrund, sondern in einem Geländewagen, der ihn zusammen mit Yacouba und dessen Gaunerkollegen Sekou in die Hauptstadt der Elfenbeinküste bringt. Die Heterotopie des zugleich lokalisierbaren und doch ortlosen fahrenden Geländewagens spiegelt die Spannung wider, die sich durch den gesamten Roman
50 «Ich weiss jetzt, wie der endgültige und vollständige Titel meines Blablas lauten wird: Allah muss nicht gerecht sein in allen Dingen auf Erden. So. Nun kann ich anfangen, meine chaotische Geschichte zu erzählen.» Ebda., S. 9. 51 «Setzt euch hin und hört mir zu. Und schreibt bloß alles auf. Allah muss nicht gerecht sein in allen Dingen auf Erden. Faforo (Schwanz meines Vaters)!» Ebda., S. 12. 52 «Ich habe mich gemütlich hingefläzt und habe angefangen: Ich weiß jetzt, wie der endgültige und vollständige Titel meines Blablas lauten wird: Allah muss nicht gerecht sein in allen Dingen hier auf Erden. Mehrere Tage lang habe ich Mamadou […] mein verdammtes Leben erzählt.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 223.
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zieht: Birahima befindet sich stets an einem bestimmten Ort, ist jedoch nirgends zu Hause.53 Diese fehlende Anbindung an einen Ort kennzeichnet auch die Devise Allah n’est pas obligé …54, wenn sie im zweiten Teil der Erzählung aus dem familiären Umfeld von Birahimas Elternhaus isoliert zitiert wird. Zwar deutet sie stets eine Rückverankerung des Erzählers an dem Ort an, wo er seine frühe Kindheit verbracht hat, doch wirkt sie im Kontext der westafrikanischen Bürgerkriege im wahrsten Sinne des Wortes deplatziert. Dort zieht Birahima die Devise Ballas und seiner Großmutter heran, um eine (wenn auch unbefriedigende) Erklärung für die Gräuel der Bürgerkriege abzugeben, etwa als er die Lebensgeschichte seines Kameraden Kik rekapituliert, der, nachdem er infolge eines Überfalls auf sein Heimatdorf seine gesamte Familie ermordet vorgefunden hatte, zum Kindersoldat wurde. Als er kurz vor dem Dorf, das Birahima und sein Trupp ausrauben werden, durch die Explosion einer Mine schwer am Bein verletzt wird, amputieren seine Begleiter ihm das Bein und lehnen ihn auf einer Trage an eine Mauer, wo sie ihn den erbosten Dorfbewohnern und seinem sicheren Tod überlassen. Birahima beschließt die Episode mit einer erneuten Variation seines Leitspruchs, der nun angesichts des an Grausamkeit kaum zu übertreffenden Schicksals von Kik zynisch wirkt, von Birahima jedoch nicht ohne eine gewisse Naivität geäußert wird. Kaum weniger ironisch und naiv erscheint der Spruch, als nach einem Eingriff der multilateralen UN-Schutztruppe ECOMOG, die sich unter der Leitung des damaligen nigerianischen Militärdiktators Sani Abacha scheinbar für Frieden einsetzt, in einer liberianischen Gold- und Diamantenstadt zahlreiche Zivilisten und Kindersoldaten ums Leben kommen. Der Kriegskommandant Johnson hatte die von der gegnerischen Gruppe ULIMO besetzte Stadt angegriffen, um Nahrungsmittel für sich und seine Anhänger zu beschaffen, woraufhin ihm die ECOMOG zu Hilfe geeilt war. Als er vom Tod der Kindersoldaten erfährt, tröstet er die Überlebenden, in eine Mönchskutte gekleidet. «Il a dit […] que les enfants-soldats étaient les enfants du bon Dieu. Dieu les avait donnés, Dieu les avait repris. Dieu n’est pas obligé d’être toujours juste. Merci bon Dieu» (AO 145).55 Der Wechsel von der Vergangenheit der indirekten Rede zum Präsens zeigt an, dass
53 Vgl. Christina Lux: Fluid Attachment: Reframing Peacebuilding through Ahmadou Kourouma’s Allah n’est pas obligé. In: International Journal of Francophone Studies 13, 1 (2010), S. 57– 74, hier S. 65. 54 Christina Lux weist darauf hin, dass im Titel, in dem die Devise verkürzt erscheint, der örtliche Verweis «ici bas» wegfällt und Birahimas Erzählung so von Anfang an unter dem Vorzeichen von Ortlosigkeit stehe. Vgl. Ebda. 55 «Er […] sagte […], die Kindersoldaten seien Kinder Gottes. Gott habe sie geschaffen, Gott habe sie zurückgeholt. Gott sei nicht verpflichtet, immer gerecht zu sein. Danke, lieber Gott.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 147.
6.1 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé
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Birahima der Erklärung Johnsons nun seine eigene Sicht hinzufügt. Während Johnson als Katholik einen Vers aus dem Buch Hiob56 heranzieht, um den Tod der Kindersoldaten zu entschuldigen, greift Birahima auf die Lehre zurück, die er aus dem volksislamischen Umfeld seiner Kindheit übernommen hat. Der Name ‹Dieu› wird seines Gehalts entleert und wird zum floating signifier57, der sich bald auf den christlichen, bald auf den muslimischen Gott bezieht. Die Loslösung der Devise aus ihrem ursprünglichen Umfeld in Birahimas Elternhaus macht deren Anwendbarkeit beliebig. Zudem drückt das Fehlen eines festen Referenten für den Namen ‹Dieu› Zweifel an der Existenz eines Gottes aus, dessen Gerechtigkeit längst unglaubwürdig geworden ist. Birahima eignet sich die Devise Ballas und der Großmutter zunächst also an, um ein Geschehen zu kommentieren, für dessen Erklärung er selbst keine Worte findet. Einen Schritt weiter in der Dekontextualisierung und Aneignung des Spruchs geht Birahima, wenn er sich dafür rechtfertigt, dass er nicht gewillt ist, die Grabrede für mehrere gefallene Kameraden zu halten, so etwa nach einem Überfall der Kamajor, einer Gruppe von traditionellen Jägern des Stammes der Mende auf das Lager der Revolutionary United Front (RUF) in Sierra Leone, bei dem sechs Kindersoldaten ums Leben kommen. L’assaut des chasseurs traditionnels et professionnels a coûté la vie à six enfants-soldats. Je m’impose le devoir de dire l’oraison funèbre d’un parmi les six; parce que c’est celui qui était mon ami. […] Je dis son oraison funèbre à lui seul parce que je ne suis pas obligé de dire les oraisons funèbres des autres. Je ne suis pas obligé comme Allah n’est pas obligé d’être toujours juste dans toutes ses choses.58 (AO 181)
Situiert sich die Devise sonst in ihrer Funktion als Kommentar zwischen Ironie und Naivität, so wird sie hier zum Instrument egoistischer Eigennützigkeit, die sich sowohl auf der erlebenden als auch auf der Erzählebene artikuliert. Der Leitspruch dient nicht nur dem erlebenden Ich, das sich vor einer Grabrede drückt, als Ausrede, sondern auch dem erzählenden Ich, wenn es sich weigert, eine bestimmte Episode wiederzugeben: «Mais ce n’est pas obligé ou indispensable d’en parler quand je n’ai pas envie.» (AO 26) oder «Moi non plus, je
56 «Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.» Hiob 1, 21. 57 Claude Lévi-Strauss: Introduction to Marcel Mauss. London: Routledge 1987, S. 63–64. 58 «Der Angriff der traditionellen und professionellen Jäger hat sechs Kindersoldaten das Leben gekostet. Ich halte es für meine Pflicht, für einen von ihnen die Trauerrede zu halten, denn dieser eine war mein Freund. […] Nur für ihn halte ich eine Trauerrede, denn ich muss nicht für alle toten Kindersoldaten eine Grabrede halten. Dazu bin ich nicht verpflichtet, so wie auch Allah nicht verpflichtet ist, in allen Dingen gerecht zu sein.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 183–184.
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ne suis pas obligé de parler, de raconter ma chienne de vie, de fouiller dictionnaire sur dictionnaire. J’en ai marre; je m’arrête ici pour aujourd’hui. Qu’on aille se faire foutre!» (AO 95).59 Die Willkür Allahs wird Birahima zum Modell eines eigenwilligen Erzählens, in dem die Entscheidung darüber, welche Inhalte verschwiegen und welche preisgegeben werden und in welcher Reihenfolge dies geschieht,60 allein dem Erzähler, der keine übergeordnete Pflicht zu erfüllen hat, obliegt. Eine solche erzählerische Selbstermächtigung unterliegt auch keinerlei Sprachgesetz, wie das bunte Konglomerat aus unterschiedlichen Sprachen (Französisch, Malinké) und Stilen (gehobene Schriftsprache, p’tit nègre, Fluchwörter …) zeigt. Die Devise «Allah n’est pas obligé …» erfüllt also auf drei Ebenen die Funktion einer Entledigung von Normen und damit, positiv gewendet, einer Selbstermächtigung: Der erlebende Birahima entbindet sich mit ihrer Hilfe von der Pflicht, die Grabrede für andere Kindersoldaten zu halten; dem erzählenden Birahima dient sie als Freibrief für ein willkürliches Erzählen; und im Hinblick auf den realen Autor Kourouma kann sie als Postulat einer Freiheit gelesen werden, die literarische und sprachliche Normen nach Belieben überschreitet. 6.1.1 Revidierung der traditionellen afrikanischen Verwendung von Sprichwörtern Mit der Aufhebung von Normen ist eine zentrale Funktion des Sinnspruchs in Kouroumas Roman genannt. Ausgerechnet die Gattung der Maxime, die von Jean de la La Bruyère mit moralischen Gesetzen («lois de la morale»)61 gleichgesetzt wurde, wird in Allah zum dominierenden Mittel eines Bruchs mit religiösen, moralischen und sprachlichen Gesetzen. Damit löst der Sinnspruch auch hier sein widerständi-
59 «Doch wenn ich keine Lust dazu haben [sic!], kann ich es auch sein lassen.» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 29; «Auch ich bin nicht verpflichtet zu reden, mein Hundeleben zu erzählen, ein Wörterbuch nach dem anderen durchzublättern. Ich habe keine Lust mehr; für heute höre ich auf. Die können mich alle mal!» Ebda., S. 97. 60 Birahima behält sich ein anachronistisches Erzählen vor, wobei er Abweichungen von der Chronologie der Ereignisse jeweils anzeigt. Vgl. Nathalie Roy: Chaos temporel et chaos romanesque dans Allah n’est pas obligé d’Ahmadou Kourouma. In: Présence Francophone: Revue Internationale de Langue et de Littérature 63 (2004), S. 117–129. 61 «Ce ne sont point au reste des maximes que j’aie voulu écrire: elles sont comme des lois dans la morale, et j’avoue que j’ai ni assez d’autorité ni assez de génie pour faire le législateur.» Jean de La Bruyère: Les caractères de Théophraste traduits du grec avec les caractères ou les mœurs de ce siècle. Hg. von Robert Garapon, Paris: Garnier 1962 [1687], S. 64. [«Es sind im Übrigen keine Maximen, was ich schreiben wollte: sie sind wie Gesetze der Moral und ich gestehe, dass ich weder ausreichend Autorität noch ausreichend Genie besitze, um den Gesetzgeber zu spielen.» (Eigene Übersetzung)].
6.1 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé
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sches Potenzial als gegen tradierte Wert- und Denkvorstellungen gerichteter Satz ein. Vor diesem Hintergrund revidiert Kourouma in seinem letzten vollendeten Roman auch die traditionelle Verwendung von Sprichwörtern im subsaharischen Afrika, wie er sie im Vorwort zu der von Mwamba Cabakulu herausgegebenen Sprichwörtersammlung Le grand livre des proverbes africains (2003)62 beschreibt: La tradition et la littérature africaines reposent en grande partie sur l’oralité, aussi les proverbes jouent-ils une fonction bien particulière. Ils y occupent même une place centrale, essentielle, et les Africains en font un grand usage au cours de leurs palabres, qui se placent au sommet de l’oralité.63
Die Tatsache, dass besagtes Vorwort erst nach Allah erscheint, spricht dafür, dass Kourouma in seinem Roman traditionelle Verwendungsweisen des Sprichwortes nicht abwerten möchte, sondern sich spielerisch mit ihnen auseinandersetzt. Eine erste Funktion, die das Sprichwort in den afrikanischen rituellen Reden erfüllt und mit der Kourouma in Allah spielt, ist diejenige der Unterbrechung. Sowohl der Griot als auch seine Zuhörer benötigen eine Pause, um sich bei Musik zu entspannen oder das Gehörte zu verarbeiten, wie Kourouma im Vorwort zum Grand livre des proverbes africains erklärt: Le proverbe donne aussi le temps de la réflexion et permet d’observer une pause dans une longue palabre. Si, dans une discussion, on aboutit à une impasse, l’ancien avance un proverbe et l’assemblée alors se tait et prend le temps de réfléchir à sa signification.64 (GLPA 8)
Setzt Kourouma einen solchen reflexiven Zwischenakt in En attendant noch offensichtlich um,65 so ist er in Allah nur noch rudimentär vorhanden. Wie die
62 Ahmadou Kourouma: Avant-propos. In: Mwamba Cabakulu (Hg.): Le grand livre des proverbes africains. Montréal, Quebec: Presses du Châtelet 2003, S. 7–9. Im Folgenden abgekürzt mit GLPA. 63 Mwamba Cabakulu: Le grand livre des proverbes africains. Montréal, Quebec: Presses du Châtelet 2003, S. 7. «Die afrikanische Tradition und Literatur beruhen zu einem großen Teil auf Mündlichkeit, auch Sprichwörter spielen eine ganz bestimmte Rolle. Sie nehmen sogar einen zentralen und essentiellen Platz ein und die Afrikaner machen in ihren Palavern, die den Gipfel der Mündlichkeit bilden, häufig Gebrauch von ihnen.» (Eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 64 «Das Sprichwort lässt auch Zeit zum Nachdenken und erlaubt es, in langen Palavern eine Pause einzuhalten. Wenn man in einer Diskussion in eine Sackgasse gerät, bringt der Betagte ein Sprichwort ein, woraufhin die Versammlung schweigt und sich Zeit nimmt, um über seine Bedeutung nachzudenken.» 65 «Il n’y pas d’oiseau qui chante toute une journée sans s’arrêter; marquons nous aussi une autre pause. Annonce Bingo. Le sora et son répondeur se livrent à un intermède musical endiablé que le maître clôt par les réflexions sur la vénération de la tradition: / Le vieil œil finit, la vieille oreille ne finit pas. / Le singe n’abandonne pas sa queue, qu’il tient soit de son père soit de
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Sprichwörter in En attendant erscheint der Leitspruch von Birahima jeweils am Ende einer Episode und bietet so die Gelegenheit zu einem zumindest kurzen Innehalten. Dies erscheint umso notwendiger, als Birahima mit seinen Berichten immer wieder in eine Sackgasse gerät – nicht etwa, weil ihm die Worte fehlen, sondern aufgrund der Abscheulichkeit des Erzählten, die ihn häufig dazu bringt, dem Leser weitere Episoden vorzuenthalten. Eine Reflexion ist allerdings nur im Ansatz möglich, zum einen, weil Birahima einen potenziellen Gedankengang des Lesers durch die Flüche, die seiner Devise jeweils folgen, im Keim erstickt, und zum anderen, weil der monoton wiederholte Leitspruch den Inhalt der Erzählung kaum bereichern kann. Statt eine Auseinandersetzung mit dem Gehörten bzw. Gelesenen anzuregen, verwendet Birahima ihn, um sich jeglicher Verantwortung für das Erzählte zu entziehen. Im Zuge dieser Strategie des Ausweichens, die den Leser mit der Deutung des Gelesenen allein lässt, erfüllt die Devise jedoch zugleich eine entschärfende Funktion, die Kourouma dem Sprichwort in den afrikanischen palabres ebenfalls zuerkennt: «Mais il faut reconnaître que maints proverbes ne sont ni plus ni moins que des formules humoristiques qui cherchent à distraire et à amuser. Dans certaines sociétés africaines, où les tensions sont fréquentes, les proverbes permettent de les contourner» (GLPA 8).66 Im Einklang mit dem abmildernden Einsatz von Sprichwörtern bilden die Sinnsprüche in Allah Teil eines humoristischen Spiels, mit dessen Hilfe der Autor eine Distanz zur Grausamkeit der afrikanischen Bürgerkriege schafft, um den Leser zu entlasten. In den traditionellen rituellen Reden des subsaharischen Afrikas dienen Sprichwörter ferner dazu, dem ältesten Sprecher eine Autorität zu verleihen, mit der er die Meinung seiner jüngeren Vorredner und der Mehrheit mit einem «proverbe puissant et original» (GLPA 7)67 überbieten kann. Diese autoritative Funktion erscheint in Allah dort ironisch gebrochen, wo ein Kindersoldat an
sa mère. / Le léopard est tacheté, sa queue l’est aussi.» Ahmadou Kourouma: En attendant le vote des bêtes sauvages. Paris: Seuil 1998, S. 47, Hervorhebung im Original. «Es gibt keinen Vogel, der den ganzen Tag lang ununterbrochen singt; legen auch wir eine weitere Pause ein. Kündigt Bingo an. Der Sora und sein répondeur liefern sich ein rasendes musikalisches Zwischenspiel, das der Meister durch Gedanken über die Verehrung der Tradition beendet: / Der alte Blick geht zu Ende, das alte Gehör nicht. / Der Affe lässt seinen Schwanz, den er entweder von seinem Vater oder seiner Mutter hat, nicht zurück. / Der Leopard ist gefleckt, genau wie sein Schwanz.» 66 «Aber man muss auch bedenken, dass manche Sprichwörter nicht mehr und nicht weniger sind als humoristische Formulierungen, die zu unterhalten und zu amüsieren suchen. In bestimmten afrikanischen Gesellschaften, in denen es oft Spannungen gibt, erlauben die Sprichwörter, sie zu umgehen.» 67 «kraftvollen und originellen Sprichwort»
6.1 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé
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die Stelle des weisen Greises tritt. Indem Kourouma Birahima seine Erzählung mit einem Sinnspruch beginnen lässt, parodiert er den Duktus des Griot, der seine Autorität mithilfe von Sprichwörtern ausweist. Birahima gibt sich als Erbe des traditionellen afrikanischen Erzählers aus, zum einen dadurch, dass er seine vier Wörterbücher von einem Griot geerbt hat, zum anderen, indem er seine Erzählung um zwei Sinnsprüche herum anordnet und dadurch den strukturierenden Einsatz von Sprichwörtern in den afrikanischen palabres imitiert: «Car le proverbe est à la fois le cheval de la parole et le tam-tam du sage. Lorsque la parole se perd, c’est grace à un proverbe qu’on la retrouve, raison pour laquelle la palabre se structure autour de lui» (GLPA 7).68 Dass Birahima jedoch immer auf dieselben Devisen zurückgreift, zeugt von einem ungeschickten Umgang mit dem afrikanischen Sprichwörterschatz, der nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass Birahima aufgrund seines jungen Alters erst über ein relativ kleines Repertoire an Sinnsprüchen verfügt. Wie bei Riobaldo in Rosas Grande Sertão scheitert auch Birahimas Versuch, aus dem Erlebten Ratschläge zu generieren. Das häufige Zitieren von Sinnsprüchen der beiden jungen Helden kann den Zuhörer bzw. Leser nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Erwerb von Weisheit, den Kourouma als Hauptfunktion von Sprichwörtern betrachtet, noch im Anfangsstadium befindet. Artikuliert sich bei Riobaldo eine neue brasilianische Erfahrung der Orientierungslosigkeit, so steht die Art und Weise der Verwendung von Sinnsprüchen durch Birahima für eine «nouvelle vie africaine» (GLPA 9),69 die Kourouma dafür verantwortlich macht, dass afrikanische Sprichwörter als Träger eines traditionellen Wissens dekontextualisiert und für beliebige Zwecke eingesetzt werden. Il convient de signaler ici le modernisme des proverbes africains, c’est-à-dire la façon dont ils s’adaptent encore à la nouvelle vie africaine, influencée essentiellement par les apports occidentaux. Ce modernisme vise aussi tous les proverbes qui sont déviés de leur fonction première (acquisition de la sagesse), et sont au contraire vulgarisés, utilisés dans les discours, les romans, les journaux, dans des buts complexes et indéterminés.70 (GLPA 9)
68 «Denn das Sprichwort ist zugleich das Pferd, auf dem das Wort reitet, und das Tamtam des Gelehrten. Wenn man das Wort verliert, hat man es einem Sprichwort zu verdanken, wenn man es wiederfindet. Das ist der Grund, warum sich die Rede um das Sprichwort herum strukturiert.» 69 «neues afrikanisches Leben». 70 «Es ist angebracht, hier auf die Modernität der afrikanischen Sprichwörter hinzuweisen, das heißt die Art und Weise, mit der sie sich immer noch an das neue afrikanische Leben anpassen, welches grundlegend von den okzidentalen Beiträgen beeinflusst ist. Diese Modernität betrifft auch alle Sprichwörter, die von ihrer ursprünglichen Funktion abgedriftet sind (Erwerb
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Die hier beschriebene Abnutzung von Sprichwörtern führt Kourouma in Allah auf mehreren Ebenen selbst vor. Sie erfolgt zunächst dadurch, dass Sprichwörter, die einst von reifen Figuren (der Großmutter, Balla) mit der Absicht der Weisheitsvermittlung geäußert wurden, in den Mund eines Kindes und eines Scharlatans geraten und dort ihres ursprünglichen Sinns beraubt und verdreht werden. Allein schon das exzessive Zitieren der beiden immer gleichen Sinnsprüche führt zu deren Verschleiß und lässt sie zu leeren Floskeln verkümmern. Darüber hinaus verwendet Birahima den Weisheitsspruch «Allah n’est pas obligé …» nicht, um dem irdischen Geschehen einen übernatürlichen Sinn zu verleihen, sondern um eine metaphysische Deutung des irdischen Leids, wie sie im islamischen Volksglauben verbreitet ist, gerade zu kritisieren. Auch der zweite Leitspruch «Allah ne laisse pas vide …» ist seines ursprünglichen Sinns beraubt, wenn er, statt den Gedanken einer göttlichen Prädestination zu illustrieren, für ein moralisch zweifelhaftes Gelegenheitshandeln steht. Die beiden Sinnsprüche verlieren ihre religiöse Bedeutung und werden zu Instrumenten eines eigennützigen Handelns. Diese selbstbezogene Aneignung von Sinnsprüchen geht mit dem Verlust einer kollektiven Rezeption von Sprichwörtern einher, wie sie Kourouma in En attendant noch nachahmt. Das Sprichwort verliert die traditionelle soziale Funktion, die Kourouma im Vorwort zum Grand livre des proverbes africains folgendermaßen beschreibt: «Le proverbe cherche donc à former l’esprit de l’individu social» (GLPA 8).71 Birahima kann den Sinnspruch «Allah n’est pas obligé …» vor allem deshalb für seine individuellen Bedürfnisse funktionalisieren, weil er ihn, auf sich alleine gestellt, aus dem sozialen Kontext seiner Dorfgemeinschaft herausgelöst verwendet. In dem Maße wie Sinnsprüche individuell und abgetrennt von ihrem ursprünglich kollektiven Rahmen produziert werden, lassen sie sich für eigennützige Zwecke einsetzen. Als subjektiv angeeignete Lehren, die weder durch ein gemeinschaftliches Kollektiv noch durch Erfahrung gestützt sind, verlieren die Sinnsprüche in Allah auch diejenige transzendierende Funktion, die Kourouma den afrikanischen Sprichwörtern zuschreibt: «Par leur réalisme et leurs images, les proverbes africains constituent un moyen efficace d’exprimer le réel, en le transcendant. Par les jeux de mots et les symboles, ils sont les tissus ontologiques qui relient l’esprit au corps, l’homme à la tradition» (GLPA 9).72 Die beiden Leitsprüche in Allah vermögen den grausamen Ereignissen, von denen Birahima berichtet, keinen
von Weisheit), und die im Gegenteil vulgarisiert und in den Diskursen, Romanen, Zeitungen, in komplexen und unbestimmten Absichten verwendet werden.» 71 «Das Sprichwort sucht also den Geist des sozialen Individuums zu formen.» 72 «Aufgrund ihres Realismus und ihrer Bildhaftigkeit stellen die afrikanischen Sprichwörter ein effizientes Mittel dar, um die Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen, indem sie diese über-
6.1 Ahmadou Kourouma: Allah n’est pas obligé
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Sinn zu verleihen und können das Erlebte daher nicht in Erfahrung verwandeln. Demgegenüber zieht Birahima von Zeit zu Zeit afrikanische Sprichwörter heran, um im Einklang mit einer ihrer traditionellen Funktionen – «de donner un contenu concret à une notion abstraite» (GLPA 8)73 – einen politischen Sachverhalt zu illustrieren. In diesem Fall dient ihm das Sprichwort dazu, aktuelle politische Handlungen an eine überzeitliche condition humaine rückzubinden und aus dieser heraus zu verstehen. Auch diese anthropologische Funktion zählt zu den traditionellen Verwendungsweisen, die Kourouma auflistet: «Mais beaucoup d’autres [proverbes, Anm. M.L.B.] ont été inventés pour stigmatiser les comportements humains, décrire les qualités de l’homme autant que ses défauts» (GLPA 8–9).74 Vor dem Hintergrund eines modernen und literarischen Ummünzens von Sprichwörtern, wie sie Kourouma in seinem Vorwort zum Grand livre des proverbes africains beschreibt, kann die Aneignung von Weisheitssprüchen durch Birahima als Metareflexion Kouroumas zu seinem eigenen Werk gelesen werden. So wie Birahima ein traditionelles Wissen an seine Lebensumstände anpasst und damit verzerrt, so adaptiert Kourouma westliche und afrikanische literarische Konventionen, indem er Wissensordnungen, Sprachen, Stilregister und Gattungsmerkmale nach Belieben mischt und transformiert. Es handelt sich hierbei um einen Lösungsansatz für ein postkoloniales Problem, das Kourouma mit Simone Schwarz-Bart, Déwé Gorodé und Patrick Chamoiseau verbindet und das Kourouma in seinem Essay «Écrire en français, penser dans sa langue maternelle» (1997) auf den Punkt gebracht hat: Je suis d’ethnie malinké, de nationalité ivoirienne, donc négro-africain. La littérature de ma langue maternelle est orale. Ma culture de base est l’animisme. J’écris en français. La langue française est la seconde langue de mon pays, elle est officiellement ma langue nationale. Le français est une langue disciplinée, policée par l’écriture, la logique, dont le substrat est la chrétienté. Ma langue maternelle, la langue dans laquelle je conçois, n’a connu que la liberté de l’oralité; elle est assise sur une culture de base animiste. Voilà en quels termes se pose pour moi la question de la langue.75
steigen. Wegen ihrer Wortspiele und Symbole sind sie die ontologischen Gewebe, welche den Geist mit dem Körper verbinden, den Menschen mit der Tradition.» 73 «einem abstrakten Konzept einen konkreten Inhalt zu geben.» 74 «Aber viele andere [Sprichwörter, Anm. M.L.B.] wurden erfunden, um die menschlichen Verhaltensweisen zu stigmatisieren, um die Qualitäten des Menschen wie auch seine Fehler zu beschreiben.» 75 Ahmadou Kourouma: Écrire en français, penser dans sa langue maternelle. In: Études Françaises 33, 1 (1997), S. 115–118, hier S. 115. «Ich bin von der Ethnie der Malinké, von ivorischer Nationalität, also Schwarzafrikaner. Die Literatur meiner Muttersprache ist mündlich. Meine grundlegende Kultur ist der Animismus. Ich schreibe auf Französisch. Das Französische ist die
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In seinem Roman En attendant, der ein Jahr nach der Publikation des Essays erscheint, löst Kourouma das Problem dahingehend, dass er den Rhythmus der afrikanischen Sprachen vor allem durch den Einsatz von Sprichwörtern nachahmt. Die Analyse der Funktionsweise von Sinnsprüchen in Allah hingegen hat deutlich gemacht, dass Kourouma in seinem letzten vollendeten Roman Abstand von der traditionellen afrikanischen Oralität nimmt und stattdessen eine neue Mündlichkeit inszeniert, die weniger angesehene Register wie die afrikanisierte französische Verkehrssprache petit nègre oder Schimpfwörter in Malinké beinhaltet, aber auch Devisen eines Volksislams, die in ihrer Aneignung durch einen Kindersoldaten verzerrt werden. Allerdings bleibt das Substrat der afrikanischen Oralliteratur deutlich erkennbar. In diesem Sinne erfüllt auch der folgende Sinnspruch, mit dem in Allah das unverändert skrupellose Vorgehen Johnsons kritisiert wird, eine metareflexive Funktion: «Le chien n’abandonne jamais sa façon déhontée de s’asseoir» (AO 144).76 Der Satz erinnert nicht nur wegen seiner Struktur und Metaphorik an ein afrikanisches Sprichwort, sondern bildet auch durch den Neologismus «déhonté» (abgeleitet von frz. «éhonté»: «schamlos») einen Bruch mit den Normen der französischen Sprache.77 Kourouma hatte denselben Spruch in leicht geänderter und verkürzter Form bereits als Leitmotiv für sein erstes Kapitel in Les soleils des Indépendances verwendet, um damit seinen Helden Fama, der bei Malinké-Zeremonien stets für Unruhe sorgt, als Störenfried zu charakterisieren.78 Der somit in Kouroumas Werk programmatische Sinnspruch kann als Bezugnahme des Autors auf
zweite Sprache meines Landes, es ist offiziell meine Nationalsprache. Das Französische ist eine disziplinierte Sprache, genormt durch die Schriftform und die Logik, deren Grundlage die Christenheit ist. Meine Muttersprache, die Sprache, in der ich begreife, hat nur die Freiheit der Oralität erfahren; sie beruht auf einer Kultur, deren Basis der Animismus ist. Das sind die Begriffe, unter denen sich mir die Frage nach der Sprache stellt.» (Eigene Übersetzung). 76 «ein Hund setzt sich immer auf dieselbe unanständige Art hin» Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein, S. 146. 77 Vgl. Madeleine Borgomano: Ahmadou Kourouma. Le guerrier griot. Paris: L’Harmattan 1998, S. 19. 78 Das Kapitel trägt den Titel «Le molosse et sa déhontée façon de s’asseoir» [«Der Wachhund und seine unanständige Art sich zu setzen» (eigene Übersetzung)] und endet mit der Passage: «Fama allait se trouver aux prochaines comme à toutes les cérémonies malinké de la capitale; on le savait; […] On savait aussi que Fama allait encore méfaire et scandaliser. Car dans quelle réunion le molosse s’est-il séparé de sa déhontée façon de s’asseoir?» Ahmadou Kourouma: Les soleils des Indépendances, Paris: Seuil 1970, S. 19. [«Fama würde sich bei den nächsten wie bei allen Malinké-Zeremonien der Hauptstadt einfinden; das wusste man; […] Man wusste auch, dass Fama weiterhin Untaten begehen und schockieren würde. Denn in welcher Versammlung hatte sich der Wachhund schon von seiner unanständigen Art sich zu setzen verabschiedet?» (Eigene Übersetzung)].
6.2 Patrick Chamoiseau: Ecrire en pays dominé und L’empreinte à Crusoé
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sein eigenes Schreiben gelesen werden: So wie der Hofhund seine schamlose Art sich zu setzen, nicht ändern wird, und so wie die afrikanischen Kriegsherren ihr brutales Vorgehen nicht einstellen werden, so wird Kourouma auch nicht damit aufhören, sich die französische Sprache individuell anzueignen, wie er es in seinem Werk durchgängig praktiziert hat. Zu guter Letzt könnte Birahimas ständige Wiederholung zweier Sinnsprüche als Umsetzung des Ratschlags gelesen werden, den Kourouma im Vorwort zu seinem Grand livre des proverbes africains erteilt: «‹Quiconque ne connaît aucun proverbe ne connaît rien de tout, c’est un homme perdu, un homme mort.› Gardons-nous de passer pour des hommes morts: fréquentons les proverbes» (GLPA 8).79 Birahimas exzessives Zitieren der immer gleichen Sinnsprüche ist Teil einer Überlebensstrategie, die ihm dabei hilft, als Kindersoldat auch in höchst prekären Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Somit gewinnt der Sinnspruch in den Wirren der afrikanischen Bürgerkriege gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Funktion eines «Überlebenswissens»80 oder, mit Glissant gesprochen, eines «acte de survie»81 zurück: nicht im Sinne eines Geheimcodes, mit dessen Hilfe die Sklaven auf den Plantagen der Karibik um ihr Überleben kämpften, sondern als Orientierungspunkt in der chaotischen Wirklichkeit westafrikanischer Despoten und Kriegskommandanten und, über die erzählte Welt hinaus, als Anhaltspunkt im erzählerischen Wirrwarr postmoderner Auflösungstendenzen.
6.2 Patrick Chamoiseau: Ecrire en pays dominé und L’empreinte à Crusoé Mit L’empreinte à Crusoé82 erweitert Patrick Chamoiseau das Arsenal afrikanischer Autodidakten, das Henri Grégoire in seinen biographischen Skizzen um 1800 aus einem kulturanthropologischen Interesse heraus begonnen und das Kourouma
79 «Jeder, der nicht irgendein Sprichwort kennt, kennt überhaupt nichts, ist ein verlorener Mensch, ein toter Mensch: Hüten wir uns davor, als tote Menschen zu gelten: benützen wir häufig Sprichwörter.» (Eigene Übersetzung). 80 Ottmar Ette hat die Funktion (auto)biographischen Erzählens als Artikulation eines Überlebenswissens am Beispiel von Hannah Arendts Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik herausgearbeitet. Auch dort entsteht das Wissen über das Leben, wie es bei Kourouma in Form von Sprichwörtern ausgedrückt wird, aus der Grenzerfahrung an der Schwelle zwischen Leben und Tod heraus, «in der das Lebenswissen zum Überlebenswissen werden muß» (Ottmar Ette: ÜberLebenswissen, S. 180). 81 Edouard Glissant: Poétique de la Relation. Poétique III, S. 82. 82 Patrick Chamoiseau: L’empreinte à Crusoé. Paris: Gallimard 2012. Im Folgenden abgekürzt mit EC.
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unter anderen mit der autobiographischen Erzählung eines Kindersoldaten fiktional fortgeführt hat. Der aus Martinique stammende Autor nimmt in seinem 2012 erschienenen Roman eine ré-écriture des Klassikers von Daniel Defoe aus dem Jahre 1719 The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner 83 und der 1867 erschienenen Robinsonade von Michel Tournier vor.84 Mit Robinson Crusoe greift Chamoiseau die fiktive Figur eines Autodidakten auf, der sich unter der Anleitung eines einzigen Buches, der Bibel, selbständig ein Wissen aneignete, mit dessen Hilfe er auf einer abgelegenen Insel überleben konnte. Bei Chamoiseaus Robinson hingegen sind es Aphorismen und Fragmente der frühen Philosophen Heraklit und Parmenides, die ihm beim Erwerb eines überlebensnotwendigen Wissens als Leitfaden dienen. Wie auf den karibischen Plantagen und wie bei Kourouma erfüllt der Sinnspruch somit auch hier die Funktion eines «acte de survie». Chamoiseaus Erzählung setzt in dem Moment ein, als sich sein Protagonist zu einem ihm unbekannten Zeitpunkt auf einer einsamen Insel wiederfindet, ohne jegliche Erinnerung an seine Herkunft und an die Umstände, unter denen er an diesen Ort gelangt ist. Obwohl Chamoiseaus Insel im Gegensatz zu derjenigen von Defoe unbewohnt ist, ‹kolonisiert› sein Robinson sie, indem er Bewässerungsanlagen baut, Tiere züchtet, Reis kultiviert, eine Infrastruktur errichtet sowie Gesetze und moralische Regeln für das ‹Zusammenleben› auf der Insel verfasst. Das von ihm aufgebaute imaginäre Reich bricht schlagartig zusammen, als er eine Fußspur im Sand entdeckt, die darauf hinzudeuten scheint, dass noch weitere Menschen die Insel bewohnen. Die Suche nach dem Anderen, die zunächst von Angst, dann von Sehnsucht nach einem Gegenüber geprägt ist, lehrt ihn das genaue Beobachten der Natur, der er sich immer mehr annähert, bis er sich von seiner selbst errichteten Zivilisation abkehrt. Eine erneute Wendung tritt ein, als sich die Fußspur als seine eigene herausstellt. Der dadurch nicht in Erfüllung gegangene Wunsch nach einem Gegenüber lässt Chamoiseaus Robinson in einen Dialog mit seinem Alter Ego Dimanche treten (und nicht wie bei Crusoe
83 Der überaus lange deutsche Titel fasst zugleich grob die Handlung zusammen: Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe, eines Seemanns aus York. Welcher achtundzwanzig Jahre ganz allein auf einer unbewohnten Insel vor der amerikanischen Küste, nahe der Mündung des grossen Orinoko lebte, wohin er nach einem Schiffbruch, bei dem die ganze Besatzung ausser ihm selbst ums Leben kam, verschlagen wurde. Nebst dem Bericht, wie er auf wundersame Weise durch Piraten gerettet wurde. Geschrieben von ihm selbst. 84 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Postkoloniale Perspektivierungen. Zur Neu-Lektüre europäischer Klassiker bei Autoren aus Afrika. In: Ralf Bogner/Manfred Leber (Hg.): Klassiker. NeuLektüren. Saarbrücken: Saarland University Press (2014b), S. 229–242, hier S. 235–239.
6.2 Patrick Chamoiseau: Ecrire en pays dominé und L’empreinte à Crusoé
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mit dem versklavten Eingeborenen Freitag), da er glaubt, die Fußspur an einem Sonntag entdeckt zu haben. Der Monolog von Chamoiseaus Protagonist, in dem dessen Reflexionen mehr Raum einnehmen als im engeren Sinne erzählerische Passagen, ist in drei Teile gegliedert, überschrieben mit «L’idiot» («Der Idiot»), «La petite personne» («Die kleine Person»), und «L’artiste» («Der Künstler). Im Einklang mit der pikaresken Tradition richtet sich die Erzählung an eine höherstehende Person, die der Erzähler zu Beginn einmalig mit «seigneur» anspricht, ohne sie im weiteren Verlauf noch zu beachten. Den drei Teilen der Erzählung sind Abschnitte aus einem so genannten Journal du Capitaine (Tagebuch des Kapitäns) vorangestellt, deren narrative Nüchternheit im Gegensatz zum teilweise schwer nachvollziehbaren Bewusstseinsstrom Robinsons stehen. Im letzten der auf 1659 datierten Tagebucheinträge erfährt der Leser die wahre Geschichte des Protagonisten, die dieser vergeblich zu rekonstruieren versucht hatte. Robinson ist in Wahrheit Ogomtemmêli [sic!], ein gebildeter Afrikaner aus der im heutigen Mali angesiedelten Ethnie Dogon, der den Kapitän Crusoé, Verfasser des Bordbuchs, als Schiffsgehilfe auf seinen Sklaventransporten begleitete. Mit Ogotemmêli greift Chamoiseau auf eine kulturgeschichtlich prominente Figur zurück. Marcel Griaule schildert in seinem programmatischen Werk Dieu d’eau. Conversations avec Ogotemmêli (1948), wie sich seine ethnographische Perspektive auf das Volk der Dogon im Laufe seiner Gespräche mit einem blinden Weisen und dessen Gehilfen Koguem mehr und mehr verschiebt. Die etablierte Vorstellung von der «mentalité noire» als einer primitiven Mentalität weicht der Überzeugung, dass die Dogon über ein Wissen verfügen, das sie auf eine Stufe mit der Hochkultur der Antike stelle und ihnen damit modellhaften Charakter verleihe.85 Die Niederschrift der Gespräche mit Ogotemmêli markiert einen Wendepunkt in der Schule Griaules von einer dokumentarischen, von den Techniken des Sammelns, Beobachtens und Erfragens geleiteten hin zu einer initiatorischen Ethnographie, bei der dialogische Deutungspraktiken im Vordergrund stehen und die den zentralen Stellenwert des Informanten explizit anerkennt.86 Indem Chamoiseau den Dogon-Weisen mit Defoes Robinson Crusoe kreuzt, erschafft er eine hybride Figur, die sich weder Afrika noch Europa zuordnen
85 Marcel Griaule: Dieu d’eau. Conversations avec Ogotemmêli. Chicoutimi, Québec: Digitale Kollektion Les classiques des sciences sociales der Bibliothèque Paul-Émile-Boulet de l’Université du Québec 1948. http://classiques.uqac.ca/classiques/griaule_marcel/ogotemmeli_dieu deau/ogotemmeli_dieudeau.html (zuletzt aufgerufen am 26.03.2020), S. 7. 86 James Clifford: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art. Cambridge u. a.: Harvard University Press 1988, S. 55–91, hier S. 65 u. S. 83.
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lässt. Diese Dekonstruktion kultureller Identitäten spiegelt sich auch in den wechselnden Identitätszuschreibungen Ogomtemmêlis wider. Nachdem er aufgrund eines Unfalls an Deck den Verstand verloren hatte, setzte ihn der Kapitän auf einer einsamen Insel aus und hinterließ ihm lediglich seinen Degen mit dem eingravierten Namen «Robinson Crusoe». Aus dieser Inschrift, die für Ogomtemmêli den einzigen Verweis auf seine Vergangenheit darstellt, leitet er seinen Namen und seine Identität ab. Von schlechtem Gewissen geplagt, sucht der Kapitän seinen ehemaligen Begleiter nach 12 Jahren wieder auf der Insel auf und holt ihn auf sein Schiff. Dort erzählt ihm Ogomtemmêli die dem Leser vorliegende Geschichte: une tempête mentale ininterrompue, proche du délire, une aventure immobile, tortueuse comme un labyrinthe où il avait erré. Il disait avoir su le vaincre, ce qui faisait de lui l’homme qui était devant nous: un homme de connaissance. Je suis, répétait-il, un homme de connaissance, Il parlait sans reprendre souffle, enchaînait les phrases et les épisodes, avançait en spirales, comme on en trouve dans la rhétorique coutumière des griots dans les villages de la Négritie. D’ailleurs, il ne racontait pas, disait-il, il essayait plûtot devant nous, avec nous, de ‹saisir› ce qu’il avait vécu et qu’il était devenu.87 (EC 226)
Mit diesen Worten, die Chamoiseau dem Kapitän in den Mund legt, charakterisiert er den Stil seiner Erzählung, deren spiralförmiger Charakter nicht nur an Glissants Entwurf einer neuen Mündlichkeit,88 sondern auch an den mäandernden und elliptischen Stil von Griaules Ogotemmêli erinnert.89 Allerdings will Chamoiseau den Monolog Ogomtemmêlis gar nicht als Erzählung verstanden wissen, sondern vielmehr als Versuch, das Unmögliche zu denken, «penser
87 «Ein ununterbrochener geistiger Sturm, nahe am Irrereden, ein stillstehendes Abenteuer, verschlungen wie ein Labyrinth, durch das er geirrt war. Er behauptete, er habe das Labyrinth zu überwinden gelernt, das habe den Mann aus ihm gemacht, den wir vor uns hatten: ein Mann des Wissens. Ich bin, wiederholte er, ein Mann des Wissens. Er redete pausenlos, reihte Sprüche und Ereignisse aneinander, seine Rede bewegte sich in einer Spirale, wie man es von der traditionellen Erzählkunst der Griots in den Dörfern des Negerlands kennt. Im übrigen, wie er sagte, erzählte er nicht, er versuchte eher, vor uns und mit uns zu ‹begreifen›, was er erlebt hatte und wer er geworden war.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen. Roman nach Robinson Crusoe. Aus dem Französischen von Beate Thill, Heidelberg: Wunderhorn 2014, S. 239. Hervorhebung im (deutschen) Original. 88 In Traité du Tout-monde erklärt Glissant den linearen Diskurs der westlichen Kulturen als überholt und setzt ihm eine zirkuläre Erzählweise entgegen. Vgl. Edouard Glissant: Traité du Tout-Monde, S. 111. Glissants selbst setzt diese «Rhetorik der Mündlichkeit» um, wenn er seinem Werk eine zunehmend fragmentarische und zirkuläre Struktur verleiht, in der sich seine Aussagen spiralförmig weiterentwickeln. 89 Vgl. James Clifford: The Predicament of Culture, S. 85.
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notre existence face à l’Impensable».90 Sein Robinson ist zu einem Grad der Erkenntnis avanciert, der es ihm ermöglicht, in einem Raum voller Widerstände zu leben, ohne diesen dominieren oder grundlegend verstehen zu wollen, der ihn zu sich selbst hat finden lassen, ohne dass er seinen historischen Ursprung kennt. Dieser zivilisations- und kolonialismuskritische Gestus kulminiert in Ogomtemmêlis Versuch, die Sklaven auf dem Schiff des Kapitäns zu befreien, was zum tragischen Ende der Erzählung führt: Ogomtemmêli wird vom Kapitän und seinen Männern erschossen. Indem Chamoiseau zulässt, dass ein Afrikaner von einem europäischen Kapitän und Sklavenhändler ermordet wird, stellt er die Dichtomie zwischen weißen Unterdrückern und farbigen Unterdrückten, die er zuvor dekonstruiert hatte, wieder her. Davon abgesehen, dass Ogomtemmêli für eine gewisse Zeit die Identität einer europäischen literarischen Figur annimmt, ist er ein Farbiger, der als Gehilfe auf dem Sklavenschiff vorübergehend die Fronten wechselt, um nach einer Phase der notgedrungenen Einsamkeit wieder zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Er solidarisiert sich mit den gefangenen Sklaven, wofür er mit seinem Leben bezahlt. Auch wenn die herkömmlichen Identitätszuschreibungen am Ende des Romans die Überhand behalten, verwendet Chamoiseau die zweideutige Gestalt Ogomtemmêlis als Sprachrohr einer neuen Poetik, die sich jenseits postkolonialer Antagonismen situiert, und die gerade im Gegensatz die Einheit sucht. Um diese Harmonie der Gegensätze philosophisch zu untermauern, greift er auf die gnomische Prosa Heraklits zurück, in der sich die Opazität des Sprichwortes mit einer paradoxalen sprachlichen Struktur verbindet. L’empreinte à Crusoé enthält zwei Arten von Aphorismen: erstens die soeben erwähnten, in den Monolog des Erzählers eingebauten Fragmente von Heraklit, die dem Schiffbrüchigen als Anleitung zum autodidaktischen Erlernen einer Überlebensstrategie dienen; zweitens die aphoristischen «Chutes et notes» («Fetzen und Notizen»), die Chamoiseau als Atelier de l’Empreinte (Atelier des Abdrucks) an die Erzählung anhängt und die Aufschluss über den Entstehungsprozess des Werks und die ihm zugrunde liegende Poetik geben.
90 Patrick Chamoiseau/A. Robert: A travers Robinson, je veux raconter l’histoire des peuples d’aujourd’hui, leur origine confuse.› Rencontre avec le grand écrivain martiniquais Patrick Chamoiseau. In: Le Temps (30.03.2012), S. 2. Wie Juliane Tauchnitz zu Recht bemerkt hat, steht die Behauptung der Unerzählbarkeit im Gegensatz zur Erzählung von Ogomtemmêli. Juliane Tauchnitz: Tendances escapistes et les limites de la Créolité dans L’empreinte à Crusoé de Patrick Chamoiseau. In: Anja Bandau; Anne Brüske; Natascha Ueckmann (Hg.): Reshaping Glocal Dynamics of the Caribbean. Relaciones y Desconexiones, Relations et Déconnexions, Relations and Disconnections. Heidelberg: HeiUP 201, S. 443–456.
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Ogomtemmêli liest, nachdem er seine zivilisatorischen Ansprüche aufgegeben hat, in einem Büchlein (und nicht wie Defoes Robinson in der Bibel), das er auf einem Schiffswrack in einer Bucht der Insel gefunden hat und das neben einem anderen, nicht näher bestimmten Buch als einziges Schriftstück noch lesbar ist, im Gegensatz zu den Handels- und Vorratsregistern, die Ogomtemmêli ebenfalls aus dem Wrack holt. Das in altgriechischen Lettern gedruckte und in eine moderne Sprache übersetzte petit livre, mit dem sich Ogomtemmêli in der Folge intensiv auseinandersetzt, enthält ein Gedicht von Parmenides und Fragmente von Heraklit. Für Ogomtemmêli stellen diese Texte zunächst diffuse Bruchstücke dar, «des phrases solitaires, vers obscures, mots bizarres, formules énigmatiques, courts paragraphes opaques, qui ne racontaient rien» (EC 170).91 Der Befund von der Opazität der Fragmente ist nicht lediglich ein subjektiver Lektüreeindruck Ogomtemmêlis, sondern wird, zumindest im Hinblick auf Heraklit, auch von der Philosophiekritik geteilt. Das Buch Heraklits, das dem heutigen Leser vorliegt und von dem auch die antiken Quellen sprechen, ist lediglich in Form von Zitaten späterer Autoren überliefert, die mithilfe einer morphologischen Rekonstruktion aufgrund von Familienähnlichkeiten als HeraklitWorte identifiziert wurden.92 Abgesehen von der Unverfügbarkeit des Gesamttextes emfand man Heraklits Ausdrucksweise bereits in der Antike als unklar und rätselhaft. Selbst denjenigen, die das ganze Buch in seinem Originalzustand gekannt haben dürften, galt Heraklit als ‹Dunkler› (Aristoteles) und als ‹Rätseler› (Diogenes Laertius).93 Es wird vermutet, dass Heraklit in Anlehnung an die prophetische Redeweise der delphischen Orakelsprüche bewusst eine opake Sprache wählte. Kommentatoren wie Heidegger und seine Schüler sind der Auffassung gefolgt, die Rätselhaftigkeit der Philosophie Heraklits sei in ihrer Kommentierung zu imitieren94 – eine Empfehlung, die auch Chamoiseau zu befolgen scheint. Zwar beabsichtigt er mit L’empreinte nicht, einen weiteren Heraklit-Kommentar zu liefern. Vielmehr nimmt er eine produktive Neulektüre seiner Philosophie vor, wobei sich der kryptische Charakter der Fragmente Heraklits in der rätselhaften Redeweise seines Protagonisten widerspiegelt. Obgleich der Umfang und der Detail91 «[…] einzelne Sätze, dunkle Verse, wunderliche Worte, rätselhafte Sprüche oder kurze unverständliche Abschnitte, die nichts erzählten …» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 181. 92 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens. Stuttgart: Reclam 1999, S. 34 und S. 50. Hans-Georg Gadamer beschreibt das verbindende Glied in seiner Studie zu Heraklit mit einem Leitsatz, der auf einen großen Teil des aphoristischen Schreibens bezogen werden könnte: «Wo es knapp, konzentriert, paradox zugeht, da sind wir bei Heraklit.» Ebda., S. 51. 93 Vgl. Marcel Van Ackeren: Heraklit. Vielfalt und Einheit seiner Philosophie, Bern u. a.: Peter Lang 2006, S. 15. 94 Vgl. ebda., S. 16–17.
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reichtum seiner Rede im Gegensatz zur knappen Form der Fragmente des frühen Philosophen stehen, besteht die Gemeinsamkeit von Heraklits und Ogomtemmêlis Ausdrucksweise in der Intransparenz, der Heraklit laut Gadamer gerade seinen Ruhm verdankt.95 Als autodidaktischer Leser führt Ogomtemmêli einen möglichen Rezeptionsprozess der Fragmente Heraklits vor. Zunächst ist er, der weder mit dem philosophischen Hintergrund der ihm vorliegenden Fragmente vertraut ist noch Zugang zum Gesamttext hat, nicht in der Lage, die einzelnen Fragmente Parmenides oder Heraklit zuzuordnen. … il est tout entier le même … … le soleil est nouveau tous les jours … … tout entier il est empli d’être …96
(EC 171, Hervorhebungen im Original)
Das erste Fragment ist an dieser Stelle im doppelten Sinne zu verstehen: Zum einen steht es für Parmenides’ metaphysischen Seinsbegriff, zum anderen verweist es auf die anfängliche Unfähigkeit Ogomtemmêlis, die Unterschiede in den Aussagen der beiden Philosophen zu erkennen. Zwar hebt sich das mittlere der drei Fragmente bereits durch das Adjektiv «nouveau» vom statischen Charakter der beiden es flankierenden Bruchstücke ab, doch steht aufgrund des allen drei Fragmenten gemeinsamen Verbes «être» und des ihnen ebenfalls gemeinsamen Adjektivs «tout»/«tous» zunächst ihre Ähnlichkeit im Vordergrund. Vermischen sich die Aussagen der beiden Philosophen zu Beginn also noch, so differenzieren sie sich nach einiger Zeit zu zwei Stimmen aus (VOIX UNE und VOIX DEUX), die der Erzähler zu unterscheiden gelernt hat. je m’étais mis en le lisant à entendre deux voix, deux murmures, deux soupirs, deux intonations distinctes; ces fragments conservaient la vibration de deux personnes que je finis par distinguer sans nulle hésitation; c’étaient des consciences sans corps et sans visage, d’une infinie sensibilité, à la fois torturées et empreintes de quiétude; venues des temps anciens, elles continuaient de vivre dans une tranquille autorité, amie de la sagesse97 (EC 173)
95 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, S. 38. 96 «… da es als ganzes gleichmäßig ist … / … die Sonne ist jeden Tag eine neue … / im Ganzen voll … von Seiendem …» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 182. 97 «allmählich begann ich zwei Stimmen zu hören, wenn ich die Fragmente las, zweimal Murmeln, zweimal Seufzen, zwei unterschiedliche Betonungen; diese Fragmente erfassten die Schwingungen von zwei Personen, am Ende konnte ich sie ohne zu zögern unterscheiden; es waren zwei Sinnesarten, ohne Körper und ohne Gesicht; von einer grenzenlosen Empfindsamkeit, zugleich gepeinigt und vollkommen ruhig; aus alten Zeiten herkommend, lebten sie weiter in gelassener Autorität, der Weisheit Freundin;» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 184.
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Wie Sprichwörter beziehen die Fragmente der frühen Philosophen ihre Autorität für Ogomtemmêli aus ihrem Alter und ihrer Anonymität. Ogomtemmêli kennt die Autoren der Fragmente in seinem Büchlein nicht und kann daher lediglich vermuten, dass sie aus einer weit zurückliegenden Zeit stammen. Aus dem von Chamoiseau geschriebenen Text stechen die Fragmente von Heraklit und Parmenides dadurch hervor, dass sie sich graphisch vom Fließtext abheben. Von dem Zeitpunkt an, zu dem Ogomtemmêli in der Lage ist, die Fragmente zu unterscheiden, stehen sie in der Regel, gleich einem Dramentext, jeweils in der dialogischen Konstellation einer Äußerung der ersten Stimme, auf die eine Antwort der zweiten Stimme folgt. VOIX UNE
… le même lui est à la fois penser et être … VOIX DEUX
… éveillés, ils dorment …98
(EC 173, Hervorhebungen im Original)
Es ist leicht auszumachen, dass in der ersten Stimme (VOIX UNE) Parmenides und in der zweiten (VOIX DEUX) Heraklit zu Wort kommt. Während sich im ersten Fragment die Philosophie des Seins von Parmenides artikuliert, enthält das zweite die für Heraklits Philosophie charakteristische Gegenüberstellung von Schlaf- und Wachzustand. Allein schon formal unterscheiden sich die Fragmente: Während diejenigen von Parmenides eine strukturelle Offenheit aufweisen, ist denjenigen von Heraklit eine antithetische Geschlossenheit eigen, die sie mit der dualen Struktur der klassischen Maxime teilen.
6.2.1 Heraklits Fragmente: philosophie du devenir Heraklit und Parmenides, die beide im 5./6. Jahrhundert vor Christus lebten, stehen für zwei unterschiedliche philosophische Strömungen, eine philosophie de l’être (Philosophie des Seins) und eine philosophie du devenir (Philosophie des Werdens).99 Die beiden Ansätze werden einander in L’Empreinte bereits gegenübergestellt, als die Fragmente der beiden Philosophen zum ersten Mal auftauchen.
98 «ERSTE STIMME / … denn dasselbe kann gedacht werden und sein / ZWEITE STIMME / … unbewusst, was sie im Wachen tun» Ebda. 99 Vgl. Patrick Chamoiseau/A.Robert: A travers Robinson, je veux raconter l’histoire des peuples d’aujourd’hui, leur origine confuse, S. 2.
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… je me suis cherché moi-même … … il faut dire et penser: il y a être …100
(EC 170, Hervorhebungen im Original)
Der Weg der Selbsterforschung, der Teil der Philosophie des Werdens ist und der im ersten von Heraklit stammenden Fragment beschrieben wird, verbindet den griechischen Philosophen mit Ogomtemmêli. Im Hinblick auf dessen Selbstsuche kann das Fragment zum einen als autodidaktisches Postulat gedeutet werden: Die antike Biographik hat den Satz dahingehend interpretiert, dass Heraklit ohne jeglichen Lehrer zu seiner Erkenntnis gelangt sei.101 Obwohl diese Aussage auch auf Ogomtemmêli zutrifft, kann sie vor dem Hintergrund der Romanhandlung außerdem gelesen werden als: «Ich habe nach einem anderen gesucht ohne zu wissen, dass ich dabei mich selbst suchte». Voraussetzung für beide Varianten ist die Einsamkeit des Aussagesubjekts. Mied Heraklit laut seinem Zeitgenossen Diogenes Laertius den gesellschaftlichen Umgang und lebte einsam im Gebirge,102 so ist es auch Ogomtemmêlis Einsamkeit, die ihn wie besessen nach dem Urheber seiner eigenen Spur suchen und schließlich zu sich selbst finden lässt. Und sowohl Heraklit als auch Ogomtemmêli finden in der Einsamkeit anstelle von gelehrter Vielwisserei das eine Prinzip, das die Welt zusammenhält: Die Einheit der Welt ergibt sich gerade aus dem Auseinandertreten der Gegensätze und zugleich aus deren wechselseitiger Durchdringung. Demnach werde die Welt nicht wie in der pythagoreischen Vorstellung durch eine Verschmelzung der Gegenstände in der Mitte zusammengehalten, sondern gerade durch Spannung und Zwiespalt.103 Hieraus gehen zahlreiche antithetische Fragmente von Heraklit hervor, wie … vivre de mort, mourir de vie …104 105
… Bien et mal sont tout un …
(EC 176, Hervorhebung im Original) (EC 205, Hervorhebung im Original)
Ein weiterer Aspekt der Philosophie Heraklits, auf den Ogomtemmêli stößt, und der mit der Einheit der Gegensätze eng zusammenhängt, ist das Prinzip des beständigen Wandels: … rien n’est permanent, sauf le changement …106
(EC 178, Hervorhebung im Original)
100 «Ich habe mich selbst zu deuten gesucht / … Richtig ist, zu sagen und zu denken, dass etwas ist …» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 181. 101 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, S. 53. 102 Vgl. Marcel Van Ackeren: Heraklit. Vielfalt und Einheit seiner Philosophie, S. 72. 103 Vgl. Georg Thomson: Die ersten Philosophen. Berlin: Akademie Verlag 1968, S. 228. 104 «… lebend einander ihren Tod, ihr Leben einander sterbend …» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 188. 105 «Gut und Übel ist eins» Ebda., S. 219. 106 «Fest ist nichts» Ebda., S. 190.
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Demnach befindet sich alles beständig im Werden, sodass sich folgerichtig jedes Sprechen und Denken jeglicher Sicherheit entzieht.107 Bekannt geworden ist dieses Prinzip durch die von Platon aufgenommene Flussmetapher, die sich auch in L’Empreinte wiederfindet: … on ne peut pas descendre deux fois dans le même fleuve …108 (EC 181, Hervorhebung im Original)
Die These von der Einheit der Gegensätze ist im Flussfragment insofern enthalten, als Heraklit hier eine Antithese zwischen der «Einheit des Flußlaufes» und der «Ruhelosigkeit des Fließens»109 schafft. Heraklits dialektischem Prinzip der Gegensätze steht der metaphysische Seinsbegriff von Parmenides gegenüber: Die Welt wird für ihn von einem absoluten, unteilbaren Einen getragen, das nur über die reine Vernunft zugänglich ist und in dem sich Gegensätze, etwa zwischen Sein und Nicht-Sein, wechselseitig ausschließen. VOIX UNE
… nécessaire est ceci; dire et penser de l’étant l’être; il est en effet être, le non-être au contraire n’est pas: voilà ce que je t’enjoins de considérer …110 (EC 174, Hervorhebung im Original)
Die Priorität eines absoluten, transzendenten Seins (l’être) über ein relatives, dynamisches Werden (l’étant), das in diesem Fragment zum Ausdruck kommt, hat im karibischen Kontext bereits Glissant umgekehrt: «À l’Être qui se pose, montrons l’étant qui s’appose».111 Während der metaphysische Seinsbegriff vertikale Beziehungen, etwa in Form von Hierarchien rechtfertigen kann, öffnet sich der Begriff des Werdens hin zu einer horizontalen Relation, in der die einzelnen Elemente in einem beweglichen Verhältnis zueinander stehen. Dass Parmenides’ statische Wirklichkeitskonzeption auch für Chamoiseaus Vorstellung einer kreolischen Realität kaum tragfähig ist, äußert sich in L’empreinte darin,
107 Vgl. Marcel Van Ackeren: Heraklit. Vielfalt und Einheit seiner Philosophie, S. 14. 108 «In dieselben Fluten steigen wir und steigen wir nicht;» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 193. 109 Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, S. 42. 110 «ERSTE STIMME / … Richtig ist, das zu sagen und zu denken, dass Seiendes ist, denn das kann sein; Nichts ist nicht: das, sage ich dir, sollst du dir klarmachen …» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 185. 111 Edouard Glissant: Traité du Tout-Monde, S. 21. «Dem Sein, das sich behauptet, zeigen wir das Seiende, das sich beifügt.» Edouard Glissant: Traktat über die Welt, S. 17.
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dass die Stimme des Parmenides gegen Ende der Erzählung verstummt und Heraklit das letzte Wort behält: … l’harmonie invisible vaut mieux que celle qui est visible …112 (EC 219, Hervorhebung im Original)
Die Welt wird für Heraklit durch eine unsichtbare Einheit zusammengehalten, die sich vordergründig gerade in Spannungen und Brüchen artikuliert. Chamoiseau scheint die Philosophie Heraklits allerdings unabhängig von ihrer Anwendung zu betrachten, denn Heraklit rechtfertigte mit seiner Idee von der Notwendigkeit der Gegensätze nicht nur solche zwischen Krieg und Frieden, Hunger und Sättigung, Göttern und Menschen,113 sondern auch zwischen Freien und Sklaven, was der antikolonialistischen Haltung Chamoiseaus offensichtlich diametral gegenübersteht. Was Chamoiseau von Heraklit vielmehr übernimmt, ist die Idee des produktiven Potenzials von Spannungen und Widersprüchen und damit einhergehend die Absage an den Versuch, diese auflösen und die Welt verstehen zu wollen, wie Chamoiseau in seinen Chutes et notes schreibt: «Renoncer à toute certitude qui ne soit en présence de l’incertitude, de manière féconde et fidèle» (EC 252).114 Diese Adaptation von Heraklits Philosophie macht L’Empreinte nicht nur zu einer NeuInterpretation von Defoes Klassiker, sondern auch der Fragmente Heraklits. Heraklits Philosophie der Gegensätze kommt in L’Empreinte auf mehreren Ebenen zum Ausdruck. Zunächst charakterisiert sie Inhalt und Form der heraklitischen Aphorismen selbst. So macht die Gegenüberstellung von Wörtern und Satzteilen die Gegensätze in den Ideen, die sie vermitteln, sichtbar.115 Die Antithese von Schlaf- und Wachzustand im oben zitierten Fragment … éveillés, ils dorment … (EC 173)116 liefert dafür ein erstes Beispiel. Heraklit, dessen Werk aufgrund seines Status als Königspriester117 liturgische Einflüsse erkennen lässt, teilt die Hörer einer mystischen Rede in drei Gruppen ein: diejenigen, die das Wort hören und verstehen (er selbst), diejenigen, die es zwar vernehmen, aber nicht begreifen und diejenigen, die es gar nicht wahrnehmen. Der Schlaf
112 «Mehr als sichtbare gilt unsichtbare Harmonie» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 234. 113 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, S. 42. 114 «Auf jede Gewissheit verzichten, die nicht ausführlich und ehrlich auf die Ungewissheit eingeht.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 265. 115 Vgl. Georg Thomson: Die ersten Philosophen, S. 103–104. 116 «… unbewusst, was sie im Wachen tun» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 184. 117 Als Mitglied der Königsfamilie besaß Heraklit die Priviliegien des Priesteramts der Demeter Eleusinia. Vgl. Georg Thomson: Die ersten Philosophen, S. 106.
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steht im obigen Fragment für die Verblendung der zweiten Gruppe, die nicht in der Lage ist, hinter all dem scheinbar Widersprüchlichen, das ihnen begegnet, ein einziges Wesen zu erkennen.118 Heraklit wirft den Menschen damit nicht etwa einzelne falsche Urteile vor, sondern eine defizitäre Sichtweise der Wirklichkeit, die sich darin äußere, dass die Menschen unwissend wie Schlafende denkten und handelten.119 Der physische Wachzustand garantiert keine Erkenntnis der Wirklichkeit. In einem weiteren von Chamoiseau zitierten Fragment setzt Heraklit den Schlaf mit kognitiver Isolation gleich:120 … les hommes éveillées n’ont qu’un monde, mais les hommes endormis ont chacun leur monde …121 (EC 175), Hervorhebung im Original
Während die (geistig) wachen Menschen eine sinnlich wahrnehmbare Welt teilen, erschaffen die (geistig) Schlafenden in ihren Träumen und Hirngespinsten Parallelwelten, die nur für sie selbst existieren. Diese Art von Schlafzustand charakterisiert Ogomtemmêli, nachdem sich die Fußspur im Sand als seine eigene herausgestellt hat und er sich auf sich selbst zurückgeworfen findet. Er schafft sich daraufhin sein Alter Ego Dimanche, den er jedoch bald darauf wieder aus seinem Denken verbannt, zugunsten einer «foule de présences» (EC 156),122 einem anderen Selbst («autre-moi-même»), das sich aus sämtlichen Bestandteilen der Insel zusammensetzt und zu dem sich auch die Stimmen von Parmenides und Heraklit gesellen werden. Erst als er zum höchsten Grad der Erkenntnis gelangt ist und sein Denken in den Stimmen der beiden Philosophen aufgeht, löst er sich vom Phantasma des Anderen, um mit sämtlichen mentalen und physischen Elementen in seiner Umgebung zu einer Einheit zu verschmelzen. Der Dialog zwischen den Stimmen der beiden Philosophen, die sowohl inhaltlich als auch strukturell eine Antithese darstellen, bildet eine weitere Ebene, auf der sich die Philosophie der Gegensätze artikuliert. Der Erzähler zeigt sich erstaunt über die Spannkraft seines Büchleins, «fasciné que dans si peu d’espace aient pu se tenir deux grandes voix différentes, tant de mots et de sources d’images» (EC 175).123 Allerdings erscheint hier die Tatsache widersprüchlich, dass in Ogomtemmêlis Bericht eine der beiden Stimmen am Ende verschwindet und der
118 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, S. 61–62. 119 Vgl. Marcel Van Ackeren: Heraklit. Vielfalt und Einheit seiner Philosophie, S. 21. 120 Vgl. Ebda., S. 37. 121 «Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt, im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen. (2014), S. 187. 122 «eine Menge von Präsenzen» Ebda., S. 166. 123 «mich faszinierte, dass sich auf so kleinem Raum zwei unterschiedliche, große Stimmen halten konnten, dazu die vielen Worte und Quellen von Bildern;» Ebda., S. 187.
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Erzähler schließlich nur noch die Stimme Heraklits hört. Hätte Chamoiseau Heraklits Prinzip, nach dem die Welt gerade durch Spannung zusammengehalten wird, ernst genommen, so hätte er die Dialektik zwischen den beiden Stimmen aufrechterhalten müssen. Stattdessen macht er Heraklit zur alleinigen Grundlage seiner eigenen Philosophie, die er in L’Atelier de l’Empreinte formuliert. Eine ähnliche Bewegung von der Dialektik hin zur Aufhebung der Gegensätze durch – diesmal gewaltsamer – Eliminierung eines der widerstreitenden Elemente ist auf der Makroebene des Romans zu beobachten. Die klar strukturierte, auf Fakten ausgerichtete Erzählweise im Journal du Capitaine bildet einen Kontrast zum delirierenden, auf inneren Eindrücken beruhenden Redeschwall Ogomtemmêlis. Analog zum Bericht des Kapitäns und demjenigen Ogomtemmêlis bestehen auch zwischen den Referenztexten von Parmenides und Heraklit bedeutende formale Unterschiede: Während Parmenides ein zusammenhängendes Gedicht in Hexametern schrieb, liegt uns Heraklits Denken in einer gnomischen Prosa vor.124 Der formale Gegensatz zwischen beiden Erzählern in L’Empreinte wird dadurch noch verstärkt, dass der Diskurs des Kapitäns ein genuin schriftlicher, derjenige Ogomtemmêlis ein mündlicher ist, der den Kapitän an die traditionelle Erzählweise afrikanischen Ursprungs erinnert («la rhétorique coutumière des griots dans les villages de la Négritie», EC 226, vgl. obiges Zitat125). Letztendlich siegt die lineare Schreibweise über die in spiralförmigen Bewegungen fortschreitende, mündliche Ausdrucksweise126 nicht nur, weil der Kapitän Ogomtemmêli erschießen lässt, sondern auch insofern, als sein Tagebucheintrag das letzte Wort des Romans bildet und darüber hinaus zum Ausgangspunkt einer neuen, schriftlichen Robinsonade wird, wie im Epilog zu lesen ist: «Ce journal a été trouvé dans les coffres du capitaine naufragé, marchand de Guinée, qui fut récupéré plus de trente ans plus tard, et qui allait raconter son incroyable aventure sur cette île perdue des Amériques» (EC 233,
124 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, S. 11. 125 «[die] traditionelle[] Erzählkunst der Griots in den Dörfern des Negerlands» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 239. 126 Édouard Glissant stellt solche Formen der Zirkularität, der Wiederholung und der Anhäufung in Traité du tout-monde einer chronologisch-linearen, westlichen Schreibweise gegenüber. Beide Modi verschmelzen für ihn zu einem akkumulativen, nicht-linearen Schreiben, das einen intuitiven, unwissenschaftlichen Zugang zur Welt ermöglicht und so zum Ausdruck eines Tout-Monde wird (vgl. Edouard Glissant: Traité du Tout-Monde, S. 105–115 sowie Kap. 3.3). Der Erzählduktus von Ogomtemmêli, der abgesehen von der spiralförmig fortschreitenden Denkbewegung keinerlei Gemeinsamkeiten mit den traditionellen Formen afrikanischen mündlichen Erzählens erkennen lässt, scheint eine Umsetzung dieses von Glissant entworfenen Konzepts einer neuen Mündlichkeit zu sein.
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Hervorhebung im Original).127 Damit postuliert Chamoiseau erneut den Tod der Mündlichkeit, den er bereits in seinem 1988 erschienenen Roman Solibo Magnifique verkündet hatte. Der Gegensatz zwischen dem gesprochenen und geschriebenen Wort scheint sich zugunsten des letzteren aufzulösen. Würde man den Roman auf diese Weise lesen, so stünde der Tod Ogomtemmêlis im Widerspruch zur Auffassung Chamoiseaus, dass eine fruchtbare Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit notwendig für die Herausbildung eigenständiger kreolischer Literaturen sei. So schreibt Chamoiseau in seinem Essay Que faire de la parole?: il s’agit d’envisager une création artistique capable de mobiliser la totalité qui nous est offerte, tant du point de vue de l’oralité que de celui de l’écriture. Il s’agit de mobiliser à tout moment le génie de la parole, le génie de l’écriture, mobiliser leurs lieux de convergence, mais aussi leurs lieux de divergence, leurs oppositions et leurs paradoxes, conserver à tout moment cette amplitude totale qui traverse toutes les formes de la parole, mais qui traverse aussi tous les genres de l’écriture, du roman à la poésie, de l’essai au théâtre.128
Wie bereits in Solibo Magnifique präsentiert sich Chamoiseau in L’Empreinte als Bewahrer der parole. Dort, wo der mündliche Erzähler gestorben ist, d. h. wo der schriftliche Diskurs den mündlichen bruchartig abgelöst hat,129 ist es Aufgabe des Schriftstellers, das mündliche Wort im geschriebenen Text auf Dauer zu stellen. Ogomtemmêlis mündlicher Diskurs vergeht also nicht mit seinem Sprecher, sondern wird mithilfe der Schrift einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Darüber hinaus erhält Ogomtemmêlis Erzählung dadurch noch mehr Gewicht, dass er als Märtyrer stirbt: Gegenüber dem rebellischen Versuch des Afrikaners, die Sklaven aus dem Schiffsbauch zu befreien, wirkt der Mord an ihm als feige Tat, die den Kapitän diskreditiert und die Sympathie des Lesers
127 «Dieses Tagebuch wurde in den Koffern des schiffbrüchigen Kapitäns, eines Sklavenhändlers an der Guineaküste, gefunden. Er wurde erst nach dreißig Jahren gerettet und sollte sein unglaubliches Abenteuer auf dieser verlassenen Insel Amerikas erzählen.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 245. 128 Patrick Chamoiseau: Que faire de la parole? Dans la tracée mystérieuse de l’oral à l’écrit. In: Ralph Ludwig (Hg.): Écrire la ‹parole de nuit›. La nouvelle littérature antillaise. Paris: Gallimard 1994, S. 151–158, hier S. 158. «es gilt, eine künstlerische Kreation ins Auge zu fassen, die fähig ist, die Totalität, die sich uns bietet, zu mobilisieren, sowohl aus der Sicht der Mündlichkeit als auch der Schriftlichkeit. Es gilt, zu jeder Zeit das Genie des Wortes zu mobilisieren, das Genie der Schrift, ihre Orte der Konvergenz zu mobilisieren, aber auch die Orte Ihrer Divergenzen, ihre Gegensätzlichkeiten und ihre Paradoxe, es gilt zu jedem Zeitpunkt, diese totale Breite zu bewahren, welche alle Formen des Wortes durchdringt, die aber auch alle schriftlichen Gattungen durchdringt, vom Roman zur Dichtung, vom Essay zum Theater.» (Eigene Übersetzung). 129 Vgl. Patrick Chamoiseau: Que faire de la parole? Dans la tracée mystérieuse de l’oral à l’écrit, S. 151.
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auf Ogomtemmêlis Seite lenkt. Der Märtyrertod Ogomtemmêlis stellt diesen auf eine Stufe mit dem Rebellen in Aimé Césaires Et les chiens se taisaient und stiftet damit diejenige Verbindung zur Négritude, die auf den ersten Blick in L’Empreinte zu fehlen scheint.130 Abgesehen davon, dass Ogomtemmêlis Tod also nicht mit der Degradierung einer oralité afrikanischen Ursprungs einhergeht, verfolgt Chamoiseau mit L’Empreinte nicht die Absicht, die Geschichte der kreolischen Völker zu erzählen. Im Zentrum steht nicht der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit auf Martinique und in vergleichbaren kreolischen Kontexten. Chamoiseau geht es um eine breitere Perspektive: «Je veux raconter l’histoire des peuples d’aujourd’hui, leur origine confuse».131 So wie der zu Erkenntnis gelangte Ogomtemmêli in der Lage ist, sich mit einem Ökosystem zu arrangieren, das von Rätseln und Unvorhersehbarkeiten geprägt ist, so muss der gegenwärtige Mensch angesichts einer unüberschaubar und unberechenbar gewordenen Welt ein Imaginäres finden, das das Undenkbare mit einschließt.132 «C’est dans ses rapports à l’impensable et l’impossible que toute pensée trouve sa vibration et sa justesse la plus profonde. Idem de toute création, et de toute expression» (EC 254).133 Auch hierin stimmt Chamoiseaus Denken mit der Philosophie Heraklits überein: … si tu n’espères pas, tu ne trouveras pas l’Inespéré, lui qui sans cela est introuvable, et sans issue …134 (EC 172, Hervorhebung im Original)
Derjenige, der die Wahrheit sucht, muss nach Heraklit eine unendliche Sorgfalt aufbringen, denn «la nature aime à se dérober à nos yeux» (EC 210),135 genauso wie das Delphische Orakel seine Botschaften in Form von Rätseln vermittelt.
130 Kathleen Gyssels etwa weist darauf hin, dass Chamoiseaus jüngster Roman eine Auseinandersetzung zwischen karibischen und afrikanischen Schriftstellern verschärfen könnte, die darin besteht, dass letztere den ersteren vorwerfen, sich zunehmend vom afrikanischen Kontinent zu distanzieren. Vgl. Gyssels, Kathleen: The Département Writes Back: On Chamioseau’s Rewrite of Robinson Crusoe. In: Sabine Broeck/Carsten Junker (Hg.): Postcoloniality – Decolonialty – Black Critique. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2014, S. 287–309, hier S. 296. 131 Patrick Chamoiseau/A. Robert: A travers Robinson, je veux raconter l’histoire des peuples d’aujourd’hui, leur origine confuse, S. 3. «Ich will die Geschichte der Völker von heute erzählen, ihres verwischten Ursprungs.» (Eigene Übersetzung). 132 Vgl. Ebda., S. 2–3. 133 «Nur in seinem Verhältnis zum Undenkbaren und Unmöglichen findet jedes Denken seine Schwingung und seine tiefe Wahrheit. Das gleiche gilt für jedes schöpferische Werk und jeden Ausdruck» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 267. 134 «… wer Unverhofftes nicht erhofft, kann es nicht finden, unauffindbar ist es und unzugänglich» Ebda., S. 183. 135 «das Wesen entzieht sich gern unserem Blick;» Ebda., S. 224.
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… le prince dont l’oracle est à Delphes n’expose ni ne cache, mais donne signe …136 (EC 213, Hervorhebung im Original)
Nur wer sich das Vernommene zu Herzen nimmt und intensiv darüber nachdenkt, wird beginnen, es zu verstehen, so wie sich die Fragmente von Heraklit und Parmenides Ogomtemmêli erst nach und nach erschließen. Ogomtemmêli liest vor dem Einschlafen und nach dem Erwachen in dem Büchlein, rezitiert die Fragmente laut, graviert sie in Höhlenwände, Kautschukbäume und schreibt sie auf Spruchbänder. Obwohl sie für ihn auch dann noch opak bleiben, als er sie vollständig auswendig gelernt hat, verhelfen sie ihm doch zu einem höheren Grad der Erkenntnis. Das beständige Rezitieren und Eingravieren der Fragmente führt dazu, dass er die ihn umgebende Welt zwar immer noch als fragmentarisch wahrnimmt, sich jedoch von nun an in jedem ihrer Bestandteile das Ganze metonymisch widerspiegelt. je percevais l’île dans une nouvelle et très mouvante totalité; chacune des présences contenait la quintessence d’une totalité qui lui était plus vaste; elle ne commençait nulle part, ne s’étirait dans aucune perspective, paraissait tout entière dans chacune de ses présences, et tout autant bien au-delà d’elles; l’île m’était donnée dans une flamboyance inouïe que les mots du petit livre semblaient heureux de révéler.137 (EC 179)
So wie sich hinter den Fragmenten von Heraklit und Parmenides eine umfassende Wirklichkeitssicht verbirgt, so bildet jedes Element der Umgebung Ogomtemmêlis ein Pars pro toto der ganzen Insel, bis er schließlich selbst zu einem ihrer Bestandeile wird, «une perle dans la chair de cette île» (EC 180).138 Die Verbindung, die die Fragmente von Parmenides und Heraklit zwischen Ogomtemmêli und seiner insularen Umgebung hergestellt haben, wird unverhofft zerstört, als ein schweres Erdbeben die Insel verwüstet und Ogomtemmêli in einen Zustand der Bewusstlosigkeit fallen lässt. Während mehrerer Tage, die von Schock, Angst und Leere geprägt sind, schweigen nach Ogomtemmêlis Erwachen die Stimmen der beiden Philosophen. Als sich der Protagonist seinem Büchlein von Neuem zuwendet, hat es sich nicht nur rein äußerlich verändert – seine
136 «Der Herr, dessen Orakel zu Delphi ist, spricht nichts aus und verbirgt nicht, sondern gibt ein Zeichen» Ebda., S. 227. 137 «Ich nahm die Insel in einer neuen und stark bewegten Totalität wahr; jede Präsenz enthielt in ihrem Kern eine Totalität, die ausgedehnter war als sie selbst; sie begann nirgendwo, erstreckte sich zu keiner Perspektive, erschien als Ganzes in jeder ihrer Präsenzen und ebenfalls über sie hinaus; die Insel bot sich mir dar als ein unbeschreibliches Flammenlodern, und dies zeigten die Worte des Büchleins offenbar mit Freude auf;» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 191, Hervorhebung im (deutschen) Original. 138 «eine Perle im Fleisch der Insel» Ebda., S. 192.
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Seiten sind vergilbt – sondern auch sein Inhalt übt nun eine veränderte Wirkung auf Ogomtemmêli aus. Die Worte der Philosophen bilden keine Zeichen mehr, die in ihrer Laut- oder Schriftform vom Geist ihres Rezipienten/Rezitanten losgelöst sind, sondern fallen unmittelbar in dessen Inneres, ohne kognitiv erfasst werden zu müssen. Der Versuch, die Fragmente zu verstehen, wird abgelöst durch l’incompréhension (das Unverständnis) und l’inconnaissable (das Unergründliche) als neue Modi der Erkenntnis. Mit dem Zusammenfallen von Subjekt und Objekt geht ein Verschmelzen der beiden Stimmen einher. Abgesehen von einer Ausnahme ist nur noch die Stimme Heraklits zu hören, was Ogomtemmêli folgendermaßen begründet: je ne suis pas versé en la science des poèmes, mais il me semble, seigneur, que le vieux Parménide avait compris que l’inconnaissable grandiose supprimait tout espoir, immobilisait tout possible, et précipitait l’existence dans une telle angoisse que l’on se jetait à corps et tête perdu dans les émois, les illusions et les chimères, forçant ainsi tous les possibles à fourmiller sans fin dans ce qui devenait le labyrinthe du vivre; l’Autre, son homologue [Heraklit, Anm. M.L.B.], sillonnait alors le labyrinthe, et le creusait des complexités qui permettaient qu’on y avance en découvrant à chaque détour de troublantes perspectives et de beaux horizons; c’était là que se situait mon articulation ;139 (EC 209, Hervorhebung im Original)
Während Parmenides das Problem menschlicher Orientierungslosigkeit angesichts des Unbekannten und Ungewissen für Ogomtemmêli bloß beim Namen nennt, bietet Heraklit Lösungen an, um mit dieser Kontingenz umzugehen. Parmenides beschreibt in seinem Gedicht lediglich die Schwierigkeit, mit der sich Ogomtemmêli nach seiner Ankunft auf der Insel konfrontiert sah: die Suche nach einem Ausweg aus dem Fremden und Undurchdringbaren, die in Träumereien und Hirngespinste mündete. Heraklit geht hingegen einen Schritt weiter, wenn er gerade in der Komplexität und Undurchschaubarkeit die Schönheit der Welt erblickt. … le plus bel arrangement est semblable aussi à un tas d’ordures rassemblés au hasard …140 (EC 206, Hervorhebung im Original)
139 «ich bin nicht versiert in der Kunst der Gedichte, aber mir kommt es vor, Herr, als ob der alte Parmenides begriffen hätte, dass das erhabene Unerkennbare jede Hoffnung ausschloss, jede Möglichkeit lähmte und das Dasein in so große Angst versetzte, dass man sich Hals über Kopf in Wallungen, Illusionen und Trugbilder stürzte und damit alle Möglichkeiten zwang, Ameisen gleich für immer durch das Labyrinth zu irren, zu dem das Leben wurde; der andere, sein Kollege, begab sich dann in dieses Labyrinth und schürfte in ihm Komplexitäten, so dass man an jeder Biegung verwirrende Perspektiven und schöne Horizonte entdecken konnte; hier entstand meine Äußerung;» Ebda., S. 223–224. 140 «Wie ein wüst hingeschütteter Misthaufen ist die schönste, vollkommenste Welt» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 220.
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Im Einklang mit dieser Einsicht Heraklits, die sich Ogomtemmêli zu eigen macht, lernt er, die Zeichen der Natur zu deuten – vom blühenden Kaktus in einer Felsspalte bis zu den Nuancen eines rosafarbenen Quarzes in einer Bucht aus schwarzem Sand: «mon regard était devenu tellement aigu que je pouvais m’attacher à des choses qui en d’autres temps m’auraient paru insignifiantes» (EC 212).141 Die Verinnerlichung der Fragmente Heraklits durch den Erzähler wird formal dadurch unterstrichen, dass nicht mehr alle von ihnen durch einen Absatz vom Fließtext abgehoben und mit der Sprecherstimme VOIX DEUX versehen sind. Heraklits Sinnsprüche sind für Ogomtemmêli keine Zitate mehr, sondern sind Teil seines eigenen Denkens und Sprechens geworden. Ogomtemmêli ist zu der überlegenen Wirklichkeitssicht gelangt, die Heraklit für sich beanspruchte142 und die dem Kapitän und seiner Schiffsmannschaft verwehrt bleibt. Als diese sich darüber wundert, dass so obskure Texte wie diejenigen, die sie als Fragmente von Heraklit und Parmenides zu erkennen glauben, zum Überleben eines Menschen haben beitragen können, antwortet Ogomtemmêli mit dem für sie mysteriösen Aphorismus: «c’est au cœur du plus obscur que se tient la lumière, qu’ombre et lumière forment une sphère totale» (EC 230).143 Im Gedanken von der wechselseitigen Durchdringung von Licht und Schatten liegt auch die Frage nach dem Ursprung verborgen, die Ogomtemmêli umtrieb, bevor er zu einem homme de connaissance wurde. Versuchte er zunächst noch, das Problem des unverfügbaren Ursprungs durch Namensgebung zu lösen (nicht nur sich selbst gibt er einen Namen, sondern allen ihm unbekannten Dingen auf der Insel) und seinen Ursprung aus der Spur im Sand herzuleiten, so kommt er zu dem Schluss, dass die immer noch unversehrte Spur, genauso wie die Insel,144 außerhalb der Zeit liege und damit ohne Ursprung sei: je ne regardais plus l’empreinte pour tenter de la comprendre, ou de lui deviner une quelconque origine; elle était posée-là, inscrite dans la masse argileuse que le sable habillait; elle n’avait pas d’âge, ni commencement ni fin; sans doute avait-elle été là avant même que je n’existe sur terre;145 (EC 217)
141 «mein Blick war so scharf geworden, dass er manchmal an Dingen hängen blieb, die mir zu anderen Zeiten unbedeutend erschienen wären» Ebda., S. 227. 142 Vgl. Marcel Van Ackeren: Heraklit. Vielfalt und Einheit seiner Philosophie, S. 62. 143 «im Inneren des tiefsten Dunkels befinde sich das Licht, Schatten und Licht bildeten eine vollkommene Sphäre.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 243. 144 «cette île […] était hors du temps, sans événement, hors du mouvement du monde, hors devenir possible» (EC S. 215). 145 «ich beobachtete die Fußspur nicht mehr, um sie zu verstehen oder ihre Herkunft zu erraten; sie war da, in den Sand von umkleideten Ton eingeschrieben; sie hatte kein Alter, keinen Anfang und kein Ende; sie war zweifellos schon da, bevor ich überhaupt auf der Welt war;» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 232.
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Auch für Heraklit hat die Welt keinen Ursprung und steht jenseits der Zeit, womit er sich von der Auffassung seiner Vorläufer abgrenzt, die Welt sei in der Zeit entstanden.146 Heraklit vergleicht die Zeit stattdessen mit einem spielenden Kind; die Regel seines Spiels ist das Gesetz vom unaufhörlichen Wandel und vom Widerstreit der Gegensätze: … le temps est un enfant qui joue …147
(EC 216 Hervorhebung im Original)
Indem Chamoiseau die Zeitkonzeption Heraklits aufgreift, positioniert er sich im Hinblick auf die Frage nach dem Ursprung, die spätestens seit Césaire die kulturelle Debatte in den französischsprachigen Antillen prägt (vgl. Kap. 4.2). Sah Césaire den Ursprung der farbigen Antillen-Bevölkerung – vereinfacht ausgedrückt – in einem idealisierten Afrika und verankerte Glissant ihn im geographischen Kontext der Karibik selbst, so verstanden die Autoren von Eloge de la Créolité, zu denen auch Chamoiseau zählt, Kreolität in Anlehnung an Glissant als ein Geflecht unterschiedlichster Ursprünge. Von derartigen kollektiven Identitätsentwürfen, die er einst selbst vertrat, distanziert sich Chamoiseau in L’Empreinte, indem er das Individuum losgelöst von kulturellen Kollektiven darstellt. Robinson me permettait de retrouver ce moment particulier où l’individu, brusquement débarassé du corset culturel ou identitaire, se raccrochant à quelques traces anciennes, est obligé tout seul de se recomposer une architecture de principes et de valeurs.148
In diesem Zurückgeworfensein auf sich selbst liegt für Chamoiseau die Faszination des Robinson-Narrativs: «La ‹situation Robinson› est un archétype de l’individuation, c’est en cela qu’elle est toujours fascinante pour nous, toujours inépuisable» (EC 238).149 Dass allerdings das Schaffen einer Architektur von Prinzipien und Werken auch in der Einsamkeit ohne Referenzen auf eine (kollektive) Vergangenheit nicht möglich ist, zeigt die Rolle, die die Fragmente von Heraklit und Parmenides für die Selbstfindung Ogomtemmêlis spielen. So wie Chamoiseaus Robinsonade auf der Grundlage bereits bestehender Texte entstanden ist, so gelangt Ogomtemmêli
146 Vgl. Georg Thomson: Die ersten Philosophen, S. 233. 147 «die Weltzeit ist ein Kind beim Spiel» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 232. 148 Patrick Chamoiseau/A. Robert: A travers Robinson, je veux raconter l’histoire des peuples d’aujourd’hui, leur origine confuse, S. 1–2. «Robinson erlaubte mir, diesen bestimmten Moment wiederzufinden, in dem das Individuum, dem kulturellen oder identitären Korsett plötzlich entrissen und sich an irgendwelche alte Spuren klammernd, ganz alleine gezwungen ist, sich eine Architektur von Prinzipien und Werten neu zusammenzusetzen.» (Eigene Übersetzung). 149 «Die ‹Robinson-Situation› ist ein Archetyp der Individuation, deshalb wird sie für uns immer faszinierend und unerschöpflich bleiben.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 250.
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nur mithilfe eines Archivs zu dem Erkenntnisgrad, der ihn in einer feindseligen Umgebung überleben lässt.
6.2.2 Écrire en pays dominé: Kreolische Anthropophagie Die Fragmente von Parmenides und Heraklit stellen für den Protagonisten von L’Empreinte eine Bibliothek dar, «une petite bibliothèque ambulante» (EC 204),150 die in seinem Prozess der Selbstfindung eine ähnliche Funktion erfüllt wie die sentimenthèque in Chamoiseaus Suche nach der eigenen Ausdrucksweise, wie er sie in Ecrire en pays dominé151 dokumentiert hat. Während Ogomtemmêlis jedoch eine kleine Textauswahl sehr intensiv liest, praktiziert der Protagonist von Chamoiseaus autobiographischem Essay ein extensives Lesen mit dem Ziel einer persönlichen Kanonbildung. Der Fließtext von Ecrire en pays dominé wird unterbrochen durch typographisch abgesetzte Zitate, die Chamoiseau fragmentarisiert und verfremdet. Es handelt sich um Äußerungen von Autoren aus über 40 Ländern aller Weltregionen, die sich mit Zitaten aus der Bibel, dem Koran, mythischen Epen, der kreolischen Volkserzählung und den madagassischen hain-teny vermengen.152 Auch ein Zitat des Religionsführers des südafrikanischen Dogon-Stamms Ogotemmêli, der zum Modell von Chamoiseaus Robinson wird, fehlt nicht. Chamoiseau gibt zwar jeweils den Autor bzw. die ungefähre Herkunft des Zitats an, nicht aber die exakte Quelle, die aufgrund der subjektiven Verfremdung der Zitate kaum noch rekonstruierbar ist. Ein häufig angewandtes Verfahren der Verfremdung besteht darin, dem jeweiligen Zitat das Lexem contre voranzustellen, um zu zeigen, wogegen sich das jeweilige Zitat richtet: «Contre l’Immense Vérité» (EPD 33),153 «Contre les murailles du Vrai» (EPD 61),154 «Contre silence colonial et néantisation» (EPD 65),155 «Contre la prison des systèmes et des identités» (EPD 73),156 «Contre la
150 «kleine[] tragbare[] Bibliothek» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 218. 151 Patrick Chamoiseau: Écrire en pays dominé, Paris: Gallimard 1997. Im Folgenden abgekürzt mit EPD. 152 Für eine Kategorisierung der Zitatveränderungen nach Bekanntheitsgrad und geographischer Herkunft der Autoren siehe Kathleen Gyssels: Du paratexte pictural dans Un Plat de porc aux bananes vertes (André et Simone Schwarz-Bart) au paratexte sériel dans Ecrire en pays dominé (Patrick Chamoiseau). In: Freeman G., Henry (Hg.): Beginnings in French literature. Amsterdam u. a.: Rodopi 2002, S. 197–213, hier S. 208–209. 153 «Gegen die immense Wahrheit» (eigene Übersetzung, wie auch die folgenden). 154 «Gegen die Mauern des Wahren». 155 «Gegen koloniale Stille und néantisation». 156 «Gegen das Gefängnis der Systeme und Identitäten».
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tradition» (EPD 74),157 «Contre l’immortelle ‹monolangue›» (EPD 89),158 «Contre les fabriques de livres» (EPD 135),159 «Contre les identités closes» (EPD 174),160 etc. Damit greift Chamoiseau den Duktus der anthropophagischen Bewegung auf, die im Brasilien der 1920er Jahre das Ziel einer kulturellen Neudefinition verbunden mit einer Distanzierung von europäischen Modellen verfolgte (vgl. Kap. 2.4.1). Chamoiseaus Aneignung des europäischen Literaturkanons kann als kreolische Variante eines anthrophagischen Aktes gelesen werden, mit dessen Hilfe Chamoiseau sich diesen Kanon subversiv-kreativ einverleibt, ähnlich wie es Andrade tut, wenn er sich beispielsweise in seinem wohl berühmtesten Aphorismus ein Hamlet-Zitat verfremdend auf eine der ehemals größten brasilianischen Ethnien bezieht: Tupi, or not tupi, that is the question.161 Im Unterschied zu Andrade ‹verzehrt› Chamoiseau nicht nur europäische Traditionen, sondern Texte aus der ganzen Welt, aus sowohl mündlichen als auch schriftlichen Traditionen, von sowohl unbekannten als auch bekannten Autoren. Auch Ahmadou Kourouma wird einer subjektiven Aneignung unterzogen, die die im vorherigen Kapitel formulierte These unterstreicht, dass Kourouma in Allah n’est pas obligé sämtliche sprachliche Normen, einschließlich diejenigen seine Muttersprache Malinké, ironisch umkehrt: De Ahmadou Kourouma: La langue dominante tracassé par des voix malinké – et lucidité, lucidité et ironie contre tous les pouvoirs (même contre ceux qui libèrent) … — sentimenthèque .162 (EPD 204)
Mehr noch als ein anthropophagischer Akt erscheint Chamoiseaus Vorgehen hier als ein Wiederkäuen, das sich das von anderen bereits Einverleibte abermals produktiv aneignet und dessen wiederholendes Moment sich formal in der Serialität der bearbeiteten Paratexte163 widerspiegelt. Die Zitatsammlung der sentimenthèque bildet einen affektiv gefärbten, auf persönlichen Erinnerungen und Leseeindrücken des Autors beruhenden Kanon, der einerseits Aufschluss gibt über die literarische Tradition, in der der Autor ausgebildet worden ist, und andererseits deren subjektive Rezeption und Erweiterung durch Chamoiseau. 157 «Gegen die Tradition». 158 «Gegen die unsterbliche ‹monolangue›». 159 «Gegen die Buchfabriken». 160 «Gegen die geschlossenen Identitäten». 161 Oswald de Andrade: Manifesto antropofago, S. 3. 162 «Von Ahmadou Kourouma: Die dominante Sprache, schikaniert von malinkischen Stimmen – und Scharfsinn, Scharfsinn und Ironie gegen alle Mächte (sogar gegen diejenigen, die befreien) … — sentimenthèque.» 163 Vgl. Kathleen Gyssels: Du paratexte pictural.
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Comme toujours, quand je me lance à l’abordage de moi-même, les livres-aimés, les auteurs-aimés, me font des signes. Ils sont là. Ils m’habitent en désordre. Ils me comblent d’un fouillis. Tant de lectures depuis l’enfance m’ont laissé mieux que des souvenirs: des sentiments. Mieux qu’une bibliothèque: une sentimenthèque.164 (EPD 24, Hervorhebung im Original)
Mit der sentimenthèque reagiert Chamoiseau auf die scheinbar ausweglose Lage eines Schriftstellers, der sich einer «domination devenue silencieuse» (EPD 18)165 unterworfen sieht, und überwindet diese zugleich. Ein radikaler Bruch mit den literarischen Traditionen, die auch eine post-koloniale Elite geprägt haben, ist nicht möglich, stattdessen eignet sich das ehemals kolonisierte Subjekt diese Traditionen an, indem es sie individuell anordnet, interpretiert und um (mündliche) Texte aus der eigenen Kultur ergänzt.166 Bereits die Gewichtung der zitierten Autoren transformiert den westlichen Kanon. Obwohl die französischen Autoren gegenüber Vertretern anderer Nationen deutlich in der Mehrzahl sind, schafft Chamoiseau durch die Häufigkeit, mit der er bestimmte Autoren zitiert, ein starkes Gegengewicht zur westlichen Literaturgeschichtsschreibung. An erster Stelle steht mit 10 Zitaten Édouard Glissant, dicht gefolgt von Victor Segalen, an den sich Aimé Césaire, William Faulkner und François Rabelais anschließen. Auch wenn es sich bei Rabelais und Segalen um französische Dichter handelt, würdigt Chamoiseau sie für ihren Verdienst, bedeutende Grundlagen der kulturellen Hybridisierung geschaffen zu haben.167 Diese bestehen bei Rabelais bekanntlich in der Auflösung des Gegensatzes von gehobener Kultur und Volkskultur, die beide im Dienste des Schreibens stehen: De Rabelais: Contre les poignes sorbonicoles, aveuglements et beaux mirages, porter en tout,
164 «Wie jedes Mal, wenn ich mich in das Entern meiner selbst stürze, geben mir die Lieblingsbücher, Lieblingsautoren Zeichen. Sie sind da. Sie bewohnen die Unordnung in mir. Sie erfüllen mich mit Durcheinander. So viele Lektüren seit der Kindheit haben mir Besseres hinterlassen als Erinnerungen: Gefühle. Besser als eine Bibliothek: eine sentimenthèque.» 165 «Still gewordenen Überlegenheit». 166 Diese kreative Aneignung und Transformation des westlichen Kanons in Chamoiseaus sentimenthèque kann auch als horizontale Verknüpfung von Texten im Sinne von Glissants Poetik der Relation gelesen werden (vgl. Bastienne Schulz: Die Karibik zwischen enracinement und errance. Neobarocke Identitätsentwürfe bei Édouard Glissant und Patrick Chamoiseau. Berlin: Edition Tranvía 2014, S. 184–186), wobei dann der postkoloniale Aspekt einer inneren Befreiung aus den Zwängen kultureller Vorherrschaft, um die es Chamoiseau geht, in den Hintergrund rückt. 167 Weitere Autoren, die Chamoiseau mehr als zweimal zitiert, sind Saint-John Perse, James Joyce und Gabriel García Márquez.
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et en soi-même, le déroute du rire salutaire et des ‹esprits animaux›; mobiliser science populaire et science savante et affecter toute science au service de l’Écrire, sans faire science … — sentimenthèque.168
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(EPD 204)
Eine ausdrückliche Würdigung erhalten zu Beginn auch die amerindischen Völker, der Nègre marron169 und die Sklaven auf dem Sklavenschiff, die nicht über Möglichkeiten der schriftlichen Äußerung verfügen. Stattdessen besitzen sie laut Chamoiseau diejenige intuitive Wahrnehmung der Natur, die auch Ogomtemmêli in L’Empreinte erlernen wird. Des Amérindiens: Le chant perdu des pierres perdues … — sentimenthèque.170
(EPD 25)
Du Nègre marron: Le bruit de l’eau dans les arrière-ravines, et le vent qui se tait dans les hauts. — sentimenthèque.171
(Ebd.)
De la cale négrière: Ce cri, ho! … Visiteur familier. — sentimenthèque.172
(EPD 26)
Die akustischen Signale der Natur, welche die ‘Amerindianer’ und der entflohene Sklave zu deuten wissen, bilden zusammen mit dem cri, der für die heimliche Kommunikation zwischen den Sklaven auf der Plantage steht,173 die Grundlage, auf der Chamoiseau eine Revidierung des europäischen Kanons vornimmt: Ho Amérindiens, pourtant sans écriture, c’est vous? … Je vous ressens, amis, chaque fois que je me penche au-dessus de ces feuilles. Vous êtes là, présences sensibles en moi. Auteurs-aimés, nimbés de signes et de rumeurs, soulevés par mes célébrations. Rien de savant, nulle citations: juste des couleurs accolées à mon âme. Des limons-mots. Des pailletes-verbes étincelantes. Quelque chose d’arbitraire, d’un injuste délicieux. Lectures
168 «Von Rabelais: Gegen die Sorbonne-geschulten Kräfte, Verblendungen und schönen Trugbilder, in allem und in sich selbst, die Flucht ins heilsame Lachen und ‹tierische Geister› tragen; Wissenschaft mobilisieren eine populäre und gelehrte, und jede Wissenschaft im Dienst der Schrift zu heucheln, ohne Wissenschaft zu betreiben … / – sentimenthèque». 169 Es handelt sich um entflohene Sklaven, die in den Wäldern der karibischen Inseln versteckt lebten. 170 «Von den Amerindianern: Der verlorene Gesang der verlorenen Steine … – sentimenthèque.» 171 «Vom aufständischen Schwarzen: Das Geräusch des Wassers in den / hinteren Schluchten, und der Wind, der verstummt in den Wipfeln. – sentimenthèque.» 172 «Aus dem Frachtraum eines Sklavenschiffes: Dieser Schrei, oh! … vertrauter Besucher – sentimenthèque.» 173 Vgl. Edouard Glissant: Le discours antillais, S. 406.
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terribles. Rencontres imaginées. Plaisirs ramenés de leurs propres mots et de mes notes somnambules. Ces auteurs deviennent les paysages de cette route que j’emprunte à présent.174 (EPD 25)
Die magische Präsenz der ‚Amerindianer‘, deren parole der Autor in der Natur wahrnimmt, veranlasst ihn zu Neologismen («limons-mots», «pailletes-verbes»), die die verlorene Einheit von Natur und Kultur wiederherstellen sollen. Ein weiterer Leitgedanke der autobiographischen Reise bildet Glissants oben bereits skizzierte Poetik der Archipelisierung, die Chamoiseau auf eine neue Art und Weise interpretiert. De Glissant: Contre la prison des systèmes et des identités, sois fragile, ambigu, incertain, intuitif: archipélique; germe en toi et verse dans l’Autre, campe en toi, consens à l’Autre; porte l’Autre, sans renoncer à toi: cela élève l’Écrire aux tensions bienheureuses vers le tout-monde. Gibier, hèle donc toutes les langues pour deviner cet impossible. — sentimenthèque.175 (EPD 73–74, Hervorhebung im Original)
Chamoiseau sieht das archipelagische Denken in der intuitiven Verarbeitung mündlicher und schriftlicher Traditionen umgesetzt. Der angemessene Umgang mit der westlichen kulturellen Vorherrschaft besteht für ihn weder im Leugnen des Eigenen, noch in der Ablehnung des Anderen, vielmehr liegt das kreative Potenzial der kulturellen Globalisierung in der Spannung, die durch die Verbindung des Eigenen mit dem Fremden entsteht. Diese Diskrepanz führt Chamoiseau in den Zitaten der sentimenthèque vor: Sie bilden textuelle Archipele, in denen sich ein Moi das Autre ganz im Sinne der brasilianischen Anthropophagismus-Bewegung ‹einverleibt›. Das Zitieren anderer Autoren bedeutet keine Unterwerfung unter deren kulturelle und ästhetische Werte, sondern vielmehr deren Vereinnahmung für die Entwicklung eigener Werte und Konzepte im Zeichen einer kreolischen Identität, die Chamoiseau in folgendem Axiom zusammenfasst:
174 «Ho, Amerindianer, doch ohne Schrift, seid ihr das? … Ich spüre euch, Freunde, jedes Mal wenn ich mich über diese Blätter beuge. Ihr seid da, sensible Präsenzen in mir. Lieblingsautoren, umgeben von Zeichen und Gerüchten, aufgwirbelt durch meine Feste. Nichts Gelehrtes, keine Zitate: nur an meine Seele angeheftete Farben. Schluff-Wörter. Glitzernde Pailleten-Verben. Etwas Arbiträres, köstlich Ungerechtfertigtes. Schreckliche Lektüren. Imaginierte Treffen. Von ihren eigenen Wörtern und meinen schlafwandlerischen Notizen erweckte Freuden. Diese Autoren werden zu den Landschaften auf dieser Straße, die ich jetzt nehme.» 175 «Von Glissant: Gegen das Gefängnis der Systeme und Identitäten, sei zerbrechlich, zweideutig, ungewiss, intuitiv: archipelisch; keime in dir und schütte aus ins Andere; lagere in dir, stimme dem Anderen zu; trage das Andere, ohne auf dich selbst zu verzichten: dies erhebt das Schreiben in die glückseligen Spannungen in Richtung des Weltganzen. Du Opfer, so rufe alle Sprachen herbei, um dieses Unmögliche zu erahnen. – sentimenthèque.»
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«Dans la Créolité martiniquaise chaque Moi contient une part ouverte des Autres, et au bordage de chaque Moi se maintient frissonnante la part impénétrable des Autres.» (EPD 223, Hervorhebung im Original).176 Dieser Affirmation einer neuen Identität geht eine Haltung des Widerstands in Form einer Abgrenzung des Eigenen vom Fremden voraus, die Chamoiseau jedoch für wenig gewinnbringend hält. In dieser Art von kultureller Resistenz spielte das kreolische Sprichwort eine zentrale Rolle. Les proverbes aussi ne sont sources bienfaisantes. Je les ai longtemps notés sur mes cahiers. La résistance s’y profile sous des formes peu décelables, mais précieuses. Inaltérables. Ce sont des concentrés de langue créole taillés dans de terribles éclats. […] Je me retrouvai fasciné par cette masse proverbiale qui tout à la foi témoigne (mieux encore que les contes) d’une philosophie, d’une esthétique, d’une pratique littéraire, d’un débrouillard oblique, d’une décision mentale qui hèle ses équilibres. Cela claque. Cela résonne. Cela brille. Cela déroute. Cela étonne. Cela ravit. Cela règle nos passions, éclaire nos tragédies, arpente notre drame en droite lucidité. On en retrouve les principes dans ces devinettes que sont les titimes, avec lesquels le Conteur et les Das profilaient leurs histoires. Contes, proverbes, titimes, comptines, chansons créoles: l’entité collective nouvelle est là, puisant à chacune de ses sources, et les actionnant sous déveine intégrale. C’est la parole des dominés, mais aussi la parole des dominants. Ce que secrète la résistance, ce qui renomme l’humain dans l’entreprise mortuaire, qui définit cet ensemble neuf dans un miroir insaisissable, palpite dans cette oraliture. J’utilise les proverbes pour leur force tranchante, leur distillation imputrescible d’une couleur collective. […] Mais tout cela me laissait un peu désenchanté. Où se situa la résistance majeure après celle du Conteur?177 (EPD 202–204, Hervorhebung im Original)
176 «In der martinikanischen Kreolität beinhaltet jedes Ich einen offenen Teil der Anderen, und an der Bordwand jedes Ichs hält sich der undurchschaubare Teil der Anderen bebend fest.» 177 «Die Sprichwörter sind auch keine wohltuenden Quellen. Ich habe sie lange Zeit auf meinen Heften notiert. Der Widerstand zeichnet sich in ihnen unter wenig erkennbaren, aber kostbaren Formen ab. Unveränderlich. Es sind Konzentrate kreolischer Sprache, in schreckliche Splitter geschnitten. […] Ich war neu fasziniert von dieser Masse an Sprichwörtern, die zugleich (besser noch als Erzählungen) von einer Philosophie, von einer Ästhetik, von einer literarischen Praktik, von einer schrägen Gewitztheit, von einer Entscheidung des Verstandes, die nach Gleichgewicht ruft. Das knallt. Das hallt wider. Das glänzt. Das verwirrt. Das erstaunt. Das begeistert. Das regelt unsere Leidenschaften, erhellt unsere Tragödien, durchmisst unser Drama in rechter Klarheit. Man findet ihre Prinzipien in diesen Rätseln wieder, die diese titimes sind, mit denen der Geschichtenerzähler und die Das ihre Erzählungen profilierten. Erzählungen, Sprichwörter, titimes, Abzählreime, kreolische Lieder: die neue kollektive Einheit ist da, und sie schöpft aus jeder einzelnen ihrer Quellen und sie setzt sie in Gang im vollen Unglück. Es ist das Wort der Beherrschten, aber auch das der Herrschenden. Was der Widerstand hervorbringt, was das Menschliche im Unternehmen des Todes umbenennt, was dieses neue Ensemble in einem unfassbaren Spiegel definiert, pulsiert in dieser oraliture. Ich verwende die Sprichwörter aufgrund ihrer Durchschlagskraft, ihrer unverweslichen Destillation einer kollektiven Färbung. […] Aber all dies ließ
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Das Sprichwort verkörpert zwar die Werte einer kreolischen Kultur178 und eignet sich wegen seiner Schlagkraft wie bereits mehrfach betont in besonderer Weise als Ausdrucksmittel eines kulturellen Widerstands. Allerdings verliert es für Chamoiseau dort seine Kraft, wo es aus seinem ursprünglichen sprachlichen Kontext herausgelöst wird. Dies geschehe vor allem in französischen Anthologien kreolischer Sprichwörter, die deren Sinn durch Isolierung und Übersetzung bis ins Unkenntliche verschleierten (EPD 202). Das Sprichwort kann als Mittel kultureller Resistenz seine Wirkung also nur in einem konkreten Kommunikationszusammenhang entfalten. Einige kreolische Autoren wie Simone Schwarz-Bart – und ansatzweise auch Chamoiseau selbst179 – rekontextualisieren kreolische Sprichwörter, indem sie sie in ihren Romanen in einen Erzählzusammenhang einbetten. Für Chamoiseau stellen das Sammeln und die ré-écriture kreolischer Sprichwörter insofern keine befriedigende Lösung dar, als diese Verfahren zu sehr dem Eigenen verhaftet sind und daher für das Andere kaum Anschluss bietet. Stattdessen optiert er für eine Schreibweise, die den aktiven Austausch zwischen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen ermöglicht. Die Erkenntnis, dass die gegenseitige Aneignung kultureller Güter zu nie gekannten Synergien führt, markiert einen Durchbruch in der intellektuellen Autobiographie Chamoiseaus: Cette tension vers ma totalité dans la loi du Divers me basculait vers le Total du monde; j’étais soudain riche (même sans les connaître) de l’ensemble des oralitures, de tous les Maîtres de la Parole, de toutes les littératures, et de chaque langue apparue dans l’industrie de l’homme.180 (EPD 282)
Die punktuelle Vereinigung des Eigenen mit dem Fremden löst gleichsam eine Explosion aus, in der sich sämtliche Stadien der Mündlichkeit181 mit allen Literaturen
mich ein bisschen desillusioniert zurück. Wo ordnete sich der höchste Widerstand nach dem des Geschichtenerzählers ein?» 178 Siehe hierzu unter anderem Raphaël Confiant: Le grand livre des proverbes créoles. Ti-Pawol sowie Hector Poullet/Sylviane Telchid: ‹Mi bèl pawòl mi!› Ou éléments d’une poétique de la langue créole. In: Ralph Ludwig (Hg.): Écrire la parole de nuit. La nouvelle littérature antillaise. Paris: Gallimard 1994, S. 181–190, hier S. 186–188. 179 In Solibo magnifique oder Une Enfance créole etwa legt Chamoiseau einigen seiner Figuren Sprichwörter in den Mund. 180 «Diese Spannung in Richtung meines Ganzen unter den Vorzeichen des Diversen ließ mich in Richtung der Ganzheit der Welt kippen; ich war plötzlich reich (auch ohne sie zu kennen) am Ensemble der oralitures, an allen Meistern des Wortes, an allen Literaturen, und an jeder Sprache, die in der menschlichen Industrie aufgetaucht ist.» 181 Chamoiseau unterscheidet zwischen einer oralité primordiale, die jeglicher Sprache vorgängig ist, einer oralité créole, die menschliche Laute mit der Schrift verbindet und der oralité nouvelle in den neuen Medien (EPD S. 284).
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und allen Sprachen zu einem «langage total» (EPD 284, «einer totalen Sprache») verbinden. Diese allumfassende Sprache artikuliert sich in der komplexen Struktur einer dynamischen «écriture ouverte» (EPD 288, «offenen Schreibweise»), wie sie Chamoiseau in Écrire en pays dominé selbst praktiziert und die er in L’empreinte à Crusoé noch weiter entwickeln wird. In einer Mischung aus Autobiographie und Essay, durchsetzt von den Stimmen der sentimentèque und derjenigen des «Vieux Guerrier» («Alten Kriegers»), der als Dialogpartner des autobiographischen Ichs dessen Gedanken kommentiert und in aktuelle Debatten der Kreolisierung einordnet, artikuliert sich in Écrire en pays dominé eine Öffnung hin zur sprachlichen und kulturellen Vielfalt, in der Heraklits Prinzip von der Einheit der Gegensätze widerhallt: «une harmonie née des disharmonies, une mesure hors mesures, un flux d’éclats diffus» (EPD 314).182 In diesem Magma des Diversen verschmelzen sämtliche mündliche und schriftliche Äußerungsformen – das Sprichwort eingeschlossen – («Les langues, les littératures, les oralitures, les chants poétiques, ballades, romances, proverbes, complaintes, comptines et devinettes, mes contes de fées, mes mythes intimes et mes histoires obscures …» EPD 314)183 zu einer Einheit, die für Chamoiseau jeneits kultureller Differenzen und Hierarchien liegt. Chamoiseau schlägt also bereits in seinem 1997 erschienenen autobiographischen Essay den Weg eines kosmopolitischen Schreibens ein, das sich von karibischen MasterNarrativen und ihren Dichotomien wie ‹mündlich – schriftlich›, ‹farbig – weiß› oder ‹Sklave – Herr› zu lösen beginnt.
6.2.3 Chutes et notes: Poetik des Undenkbaren In den Aufzeichnungen, die sich in L’empreinte à Crusoé unter dem Titel L’atelier de l’Empreinte an die Robinsonade anschließen, greift Chamoiseau sein Konzept der sentimenthèque wieder auf: «À chaque maturité de conscience, les sentimenthèques servent à commencer» (EC 245).184 Allerdings, so lässt die Aussage schließen, genügt die sentimenthèque im Sinne einer subjektiven Neulektüre eines bestehenden Textkorpus nicht, um zu voller geistiger Reife zu gelangen. Den Weg dorthin lässt Chamoiseau offen. So legt das folgende Fragment aus
182 «eine aus der Disharmonie geborene Harmonie, ein Maß jenseits der Maße, eine Flut unklarer Splitter.» 183 «Sprachen, Literaturen, oralitures, poetische Gesänge, Balladen, Romanzen, Sprichwörter, Klagelieder, Abzählreime und Rätsel, meine Märchen, meine persönlichen Mythen und meine dunklen Geschichten …» 184 «Jedem heranreifenden Bewusstsein helfen zu Beginn die Sentimentheken.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 258.
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L’atelier nahe, dass Chamoiseau die ausschlaggebenden Impulse aus seiner Kindheit und Jugend, die er in seinen autobiographischen Schriften, der Trilogie Une enfance créole (1993–2005) und dem Essay Ecrire en pays dominé beschreibt, erst an seinem Lebensende wird vollständig einordnen können: J’aurai passé ma vie à écrire des intuitions qui viennent de mon enfance. Il faut parfois une vie pour comprendre son enfance.185 (EC 238)
L’empreinte à Crusoé reiht sich ein in Chamoiseaus kreative und heterodoxe Aneignungen von Lektüreerfahrungen, die konstitutiv für seine Suche nach einer eigenen Ausdrucksweise frei von kultureller und kollektiver Fremdbestimmung sind. Ausgehend von den Referenzen auf Defoe, Parmenides und Heraklit, die sich in der Erzählung Ogomtemmêlis wiederfinden, spinnt Chamoiseau das entstandene intertextuelle Netz in Chutes et notes noch weiter. Neben Reflexionen über Defoes und Tourniers Robinsonaden bezieht er sich auf Pascal und Nietzsche sowie auf weitere, insbesondere karibische Autoren. Im Gegensatz zur sentimenthèque in Ecrire en pays dominé, die auch weniger bekannte Autoren enthält, bezieht sich Chamoiseau in L’empreinte ausschließlich auf Schriftsteller, deren Werke in den Kanon der Weltliteratur eingegangen sind. Dies deutet darauf hin, dass es ihm in L’empreinte, anders als in Écrire en pays dominé, weniger um das Finden einer eigenen, kreolisierten Ausdrucksweise geht, als vielmehr um die Beschreibung universeller menschlicher Erfahrungen. Der Rückgriff auf die griechische Antike verstärkt diesen Eindruck noch. Auch hierin entfernt sich Chamoiseau von Confiant, mit dem er gemeinsam das Manifest Eloge de la Créolité verfasste, denn dieser versteht die Neigung zur griechisch-lateinischen Kultur als Verrat an der kreolischen Kultur, wie in seiner Kritik an Aimé Césaire deutlich wurde.186 Allerdings stellt Chamoiseau seine Universalität – die sich hierin vom Hegel’schen oder marxistischen Universalismus unterscheidet – unter das Vorzeichen der Opazität, wie dies Césaire bereits teilweise getan hat. Denn was die im vorigen Zitat genannten Autoren mit Heraklit und Parmenides verbindet, ist die Undurchsichtigkeit ihres Werks: Parménide, Héraclite, Perse, Glissant, Césaire, Walcott, Faulkner … tous ombreux et obscurs. La transparence n’ouvre qu’à l’idée d’une vérité de totale lumière … vite invalidée par les concassages ténébreux du réel.187 (EC 249)
185 «Am Ende werde ich mein Leben damit verbracht haben, Einfälle aus meiner Kindheit niederzuschreiben. Man braucht manchmal das ganze Leben, um seine Kindheit zu verstehen.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 251. 186 Vgl. Raphaël Confiant: Aimé Césaire. Une traversée paradoxale du siècle, S. 37 sowie Kap. 4.2. 187 «Parmenides, Heraklit, Perse, Glissant, Césaire, Walcott, Faulkner … alle sind sie schattig und dunkel. Die Transparenz eröffnet nur den Gedanken einer Wahrheit des totalen Lichts … rasch
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Chamoiseau stellt also einen neuen Kanon der Weltliteratur zusammen, der die Selektion von Texten aus unterschiedlichen Epochen und Weltregionen über das Kriterium der Opazität rechtfertigt. Dass er jedoch diesmal nicht-kanonische Werke wie etwa die Legenden der ‹Amerindianer› oder kreolische Sprichwörter außen vor lässt, markiert im Hinblick auf eine postkoloniale Haltung, wie sie in seinen bisherigen Schriften zum Ausdruck kam, einen Rückschritt. Denn Chamoiseau führt das Kriterium der Opazität, auf dem er seine Poetik aufbaut, diesmal nicht auf die amerindischen Völker, sondern ausgerechnet auf die frühen europäischen Philosophen zurück.188 So greift er auch in seinen Notizen die bereits von Ogomtemmêli verwendete Licht-Schatten-Metaphorik Heraklits noch einmal auf. Ist dieses bildliche Muster bereits im vorigen Zitat nicht zu übersehen, so wird es im folgenden Fragment, in dem Chamoiseau die duale Struktur der Aphorismen des griechischen Philosophen übernimmt, noch expliziter: C’est dans l’ombre initiale, irrémédiable, que l’on construit le mieux qu’on peut la lueur que nous est propre.189 (EC 254)
Mit dem Gegensatzpaar von Licht und Schatten geht die Gegenüberstellung von Wahrheit («vérité de totale lumière», EC 249)190 und Wirklichkeit («concassages ténébreux du réel», EC 249)191 einher. Wahrheit liegt für Chamoiseau nicht in einer metaphysischen Sphäre, die Parmenides als être bezeichnen würde und sie sich jenseits einer widersprüchlichen Wirklichkeit situiert, sondern in der Bruchhaftigkeit des Erfahrbaren, das Chamoiseau in Anlehnung an Heraklit vorsichtig mit nature umschreibt. Ce que Parménide appelle l’être, Héraklite le nomme peut-être nature.192 (EC 254, Hervorhebung im Original)
widerlegt von den finsteren Scherben der Realität.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 262. 188 Kathleen Gyssels kritisiert Chamoiseaus Rückgriff auf griechische Klassiker scharf, wenn sie Romane wie L’Empreinte als neue Form einer blinden Nachahmung europäischer Modelle wertet: «Martinican fiction has fallen prey to a new doudouism and bellettrie, by rewriting classical themes and classics, while eliding the potential postcolonial frictions in it» (Kathleen Gyssels: The Département Writes Back, S. 303, Hervorhebung im Original). 189 «Im ursprünglichen, unverrückbaren Schatten stellt man auf bestmögliche Weise den Dämmer her, der uns eignet.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 268. 190 «Wahrheit des totalen Lichts» Ebda., S. 262. 191 «finstere[] Scherben der Realität» Ebda. 192 «Was Parmenides Sein nennt, nennt Heraklit vielleicht Natur.» Ebda., S. 268.
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Dazu zählen sowohl die materielle Wirklichkeit als auch die menschliche Natur. Beide können nicht mit dem Verstand erfasst, sondern nur mithilfe des künstlerischen Aktes begriffen werden, wie der folgende Aphorismus noch einmal deutlich macht. Trouver de grands espaces dans les insignifiances et dans les immobiles. Aller vers ce que seule l’écriture peut savoir du réel et de l’humaine condition. C’est là que le récit éclate en cette «saisie» dont parle Glissant. 193 (EC 239)
Im folgenden Fragment beschreibt Chamoiseau dieses ‹ergreifende› Schreiben als eine Gratwanderung bzw. als Zwischenraum («interstice») zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen. Eine leichte Abweichung vom real Erfahrbaren reiche schon aus, um eine Transformation des Realen zu bewirken, während eine zu starke Umformung – wohl im Sinne des Wahrscheinlichen – paradoxerweise zu einer Deckungsgleichheit mit der Wirklichkeit führe. C’est amusant, j’introduis de légères distorsions dans la situation, le plaisir est de les voir fonctionner comme des ondes de transformations imperceptibles. L’irréel doit être léger, le fantastique ressembler à un souffle. En la matière, trop d’irréel ne ferait que paradoxalement ramener le réel. J’aime bien cette idée d’interstices ….194 (EC 239)
Dieser Zwischenraum eröffnet sich auch dort, wo Chamoiseau seine Robinsonade zwischen denjenigen von Defoe und Tournier situiert. Auch hier genügt eine leichte Abweichung vom Modell, um ein völlig neues Werk zu erschaffen. Aller entre Defoe et Tournier, entre deux masses de lumière. Trouver l’interstice.195 (EC 240)
Damit löst Chamoiseau die Genealogie der Robinsonaden, die er zuvor etabliert hatte, auf.
193 «Große Räume in den unbedeutenden und unbewegten Dingen eröffnen. Nach dem trachten, was nur das Schreiben von der Realität und dem Menschsein wissen kann. Dann bricht das Erzählen aus in das begreifende Ergriffensein, von dem Glissant spricht.» Ebda., S. 251, Hervorhebung im (deutschen) Original. 194 «Es macht Spaß, der Situation kleinste Verzerrungen zuzufügen, die Freude besteht darin, dass sie Wellen winziger Veränderungen auslösen. Das Irreale darf kaum spürbar, das Fantastische nicht mehr als ein Hauch sein. Hier würde zu viel Irrealität paradoxerweise nur die Realität zurückbringen. Mir gefällt die Idee der Zwischenräume …» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 251. 195 «Defoe und Tournier: sich hineindrängen, zwischen diese zwei Massen des Lichts. Den Zwischenraum finden.» Ebda., S. 253.
6.2 Patrick Chamoiseau: Ecrire en pays dominé und L’empreinte à Crusoé
Le Robinson de Defoe se civilise, et civilise. Le Robinson de Michel Tournier s’humanise, et humanise. On ne peut que poursuivre l’humanisation. Creuser là.196
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(EC 237)
Während es Defoes Robinson gelingt, die Insel, auf der er gestrandet ist, zivilisatorisch umzugestalten und die ‹Eingeborenen› zu unterwerfen, scheitert dieser Versuch in Michel Tourniers Neu-Lektüre Vendredi ou les limbes du Pacifique (1967). Stattdessen wird Tourniers Robinson zum Diener von Freitag, den er zu erziehen versucht hatte, und passt sein Leben demjenigen der Ureinwohner an. Chamoiseaus Robinson bildet nicht das dritte Glied in einer Kette, wie die Struktur des zitierten Fragments nahelegen könnte, sondern situiert sich zwischen den beiden Robinsons von Defoe und Tournier. Was Ogomtemmêli grundlegend von seinen Vorgängermodellen unterscheidet, ist seine Einsamkeit. Er unterwirft sich weder einen Anderen noch passt er sich ihm an, vielmehr lässt ihn die Abwesenheit dieses Anderen eine Vorstellung von ihm konstruieren, die sich ins Unvorstellbare steigert. L’absence d’un autrui porte atteinte aux états de conscience, elle les réduit ou les précipite dans d’infinies chimères. Une part de la conscience structure avec autrui, ou avec son absence. L’Autre en revanche c’est comme un cyclone qui surgit, une panique, qui ébranle les belles structures mises en place avec l’autrui ou l’idée qu’on s’en fait. L’Autre, en son extrême, c’est l’impensable.197 (EC 248)
Und gerade diese Abwesenheit des Anderen schafft eine horizontale Verbindung zwischen Mensch und Natur, aus der ein hierarchiefreier Raum des Zusammenlebens hervorgehen soll. Héraclite aurait aimé cela: cette immense solitude qui ouvre à la Relation horizontale avec toute une île, un continent et la terre tout entière, ce retrait des hommes qui ouvre à tous les hommes et à la nécessité d’une relation la plus merveilleuse possible avec eux. Le lien est dans la solitude. La solitude est dans la haute proximité. 198 (EC 249)
196 «Defoes Robinson zivilisiert sich, indem er die Insel zivilisiert. Michel Tourniers Robinson humanisiert sich, indem er die Insel humanisiert. Nur die Harmonisierung wäre fortzusetzen. An dieser Stelle schürfen.» Ebda., S. 249. 197 «Das Fehlen der anderen beeinträchtigt die Bewusstseinszustände, es verflacht sie oder stürzt sie in unendliche Trugbilder. Ein Teil des Bewusstseins baut sich mit den anderen auf oder gerade durch ihre Abwesenheit. Hingegen ist der Andere wie ein hereinbrechender Zyklon, eine Panik, welche die glücklich vereinbarten Strukturen oder die Idee, die man sich von den anderen macht, ins Wanken bringt. Der Andere im Extrem ist das Undenkbare.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 261. 198 «Heraklit hätte das gefallen: die grenzenlose Einsamkeit, die eine unhierarchische Beziehung zu einer ganzen Insel eröffnet, zu einem Kontinent und zur gesamten Welt, dieser Rückzug von den Menschen, der für alle Menschen offen sein lässt, und damit für die Notwendigkeit
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6 Post-koloniale Autodidakten: Kleine Formen als Anleitung zur Selbstbildung
Davon abgesehen, dass Chamoiseau auch in diesem Zitat Heraklits Befürwortung der Sklaverei und damit keiner relationalen, sondern einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft außer Acht lässt, liegt der Schlüssel zu einem friedlichen Zusammenleben für Chamoiseau nicht in der Abgeschiedenheit, sondern in der paradoxalen Verbindung von Einsamkeit und Nähe, d. h. in einer Abwesenheit von Hierarchien, die aus der Isolation hervorgeht. Le pire dans l’isolement c’est quand il n’ouvre à aucune solitude.199
(EC 249)
Dass ein solcher paradiesischer Zustand eines menschlichen Zusammenlebens frei von Machtasymmetrien Teil des Undenkbaren bildet, wird dadurch mehr als deutlich, dass Ogomtemmêli erschossen wird, als er die im Schiff des Kapitäns gefangenen Sklaven befreien und auf seine Insel holen möchte. Indem Chamoiseau das Konzept der Relation aufgreift, zollt er noch einmal seinem Vorgänger Édouard Glissant Tribut. Dieser versteht unter Relation ein Verwerfen des Absoluten,200 das das okzidentale Denken seit den Präsokratikern geprägt hat, zugunsten eines Sich-in-Beziehung-Setzen zum Anderen und zur Welt.201 Diese Beziehung ist von einem Oszillieren des Individuums zwischen Gemeinschaft und Einzelgängertum geprägt, das sich in der graphischphonetischen Ähnlichkeit von «solidaire et solitaire»202 widerspiegelt. Mit dem Verzicht auf die Vorstellung von einem absoluten Être geht auch die Dekonstruktion des traditionellen westlichen Geschichtsmodells einher, nach dem sich Geschichte linear bis zu einem bestimmten Ursprung zurückverfolgen oder aus diesem herleiten lässt, vielmehr verästeln sich einzelne Geschichten zu einem Rhizom mit multiplen Ursprüngen.203 Diesen Gedanken greift Chamoiseau in L’Atelier de l’empreinte – und generell in seiner Robinsonade – auf, stellt ihn jedoch, wie oben bereits angesprochen, in einen neuen Kontext. Chamoiseau löst die Frage nach dem Ursprung von identitären und kulturellen Debatten und verlagert ihn in die Literatur, um ihn dort gewissermaßen umzukehren. Öffnet sich für Glissant die Gegenwart hin zu unzähligen möglichen Ursprüngen, so enthält Chamoiseaus Ursprung unzählige mögliche Zukünfte, die es lediglich zu aktualisieren gilt.
einer Beziehung zu ihnen, die so schön wie möglich sein soll. Die Bindung liegt in der Einsamkeit. In der Einsamkeit liegt höchste Nähe.» Ebda., S. 262. 199 «Das Schlimmste an der Isolierung ist, wenn keine Einsamkeit möglich ist.» Ebda., S. 262. 200 Vgl. Edouard Glissant: Poétique de la Relation. Poétique III, S. 145. 201 Vgl. Edouard Glissant: Introduction à une poétique du divers, S. 30. 202 Edouard Glissant: Poétique de la Relation. Poétique III, S. 145, Hervorhebung im Original. 203 Vgl. Edouard Glissant: Introduction à une poétique du divers, S. 30–31.
6.2 Patrick Chamoiseau: Ecrire en pays dominé und L’empreinte à Crusoé
Le lieu du futur est intact dans l’origine.204
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(EC 246)
Für das literarische Schreiben bedeutet dies, dass jede Neuschöpfung bereits in früheren Texten enthalten ist, dass jeder literarische Text sich aus bereits vorhandenen Texten speist. Die Literatur besteht aus einem intertextuellen Geflecht, in dem einander ähnliche Texte nicht eine Kette bilden, in der ein Glied aus dem anderen hervorgeht, sondern in dem die einzelnen Texte bereits die Elemente künftiger Texte in sich tragen und zugleich auf vorhergehende Texte verweisen. Mon Robinson me ramène à Derek Walkott et à Saint-John Perse. C’est toujours étonnant comment une écriture appelle, réveille des livres, anime des bibliothèques, se retrouve dans des strates déjà présentes, déjà explorées, que la nouvelle conscience met au jour dans un éclairage vif, un recommencement qui s’émerveille. sentimenthèque! En fait toute avancée de conscience nous ramène aux fastes de l’origine, c’est assuré …205 (EC 245, Hervorhebung im Original)
Im letzten Drittel von L’atelier de l’empreinte verlässt Chamoiseau mit wenigen Ausnahmen seine sentimenthèque – davon ausgenommen sind seine drei unabdingbaren Begleiter Glissant, Heraklit und Parmenides, um seine Philosophie des im-/in- zu formulieren. L’indicible, l’inénarrable, l’impossible, l’impensable, l’incertitude, l’inextrincable sind die Begriffe, um die die folgenden, kaum die Länge eines Satzes überschreitenden kleinen Formen kreisen. Die Poetik Chamoiseaus, die er in L’empreinte entwickelt, kondensiert sich an dieser Stelle zu ihrer abstraktesten Form. Tout dire doit désigner l’indicible au lieu d’essayer de le nier. Toute narration doit se faire en présence de l’inénarrable.
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(EC 250) (Ebda.)
Il n’y a de dit signifiant qu’à l’endroit de cette déflagration de conscience que provoque l’impossible à dire. (EC 252)
204 «Der Ort des Künftigen liegt unberührt im Ursprung.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 258. 205 «Mein Robinson führt mich wieder zu Derek Walcott und Saint-John Perse. Es ist immer erstaunlich, wie das Schreiben nach Büchern ruft, Bücher weckt, ganze Bibliotheken aufleben lässt, sich in bereits bestehenden Schichten wiederfindet, die von dem neuen Bewusstsein mit einem Schlaglich erhellt werden zu einem erstaunten Neuanfang. Die Sentimenthek! Tatsächlich führt uns jeder Vorstoß des Bewusstseins zurück in die glücklichen Tage des Beginns, das ist gewiss …» Ebda., S. 258. 206 «Alles Sagen sollte auf das Unsagbare hinweisen, statt es zu leugnen suchen. / Jedes Erzählen sollte angesichts des Nicht-Erzählbaren stattfinden.» Ebda., S. 263.
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Toute pensée doit nommer l’impensable et de déployer avec.207
(Ebda.)
Chamoiseau plädiert hier für einen Modus des Sagens und Denkens, der das Unsagbare und Undenkbare nicht nur mit einrechnet, sondern sprachlich zu fassen sucht. Dies bedeutet, ganz im Sinne von Heraklits Philosophie des Werdens, dass jede Aussage nur vorläufig sein kann und beständig in einem Akt der ré-écriture aktualisiert werden muss. Renoncer à toute certitude qui ne soit en présence de l’incertitude, de manière féconde et fidèle.208 (EC 252)
Der antithetische Stil, der Heraklits Fragmente kennzeichnet und der charakteristisch für die Gattung des Aphorismus schlechthin geworden ist, macht sich auch in Chamoiseaus Aphorismen bemerkbar. Wie bei Heraklit ist sie nicht reines Stilmittel, sondern vermittelt eine Sicht der Welt, in der der Widerspruch das tragende Element bildet. Chamoiseau konkretisiert den Gedanken von der Notwendigkeit des Widerspruchs hin zum Paradox, das Unsagbare zu sagen, das Undenkbare zu denken, das Unerzählbare zu erzählen etc. Dies bedeutet, die Welt in ihrer Komplexität zu erfassen, statt sie narrativ zu vereinfachen. Toujours happer l’inextricable et expédier ce qui est simple au trouble de la complexité.209 (EC 252)
Hierin liegt für Chamoiseau die Legitimation des künstlerischen Aktes: C’est dans des rapports à l’impensable et l’impossible que toute pensée trouve sa vibration et sa justesse la plus profonde. Idem de toute création, et de toute expression.210 (EC 254)
207 «Eine Aussage von Bedeutung entsteht nur an dem Ort, wo das Bewusstsein auflodert, da es auf das Unaussprechliche stößt. / Jedes Denken sollte das Undenkbare benennen und sich mit ihm entfalten.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 265, Hervorhebung im (deutschen) Original. 208 «Auf jede Gewissheit verzichten, die nicht ausführlich und ehrlich auf die Ungewissheit eingeht.» Ebda. 209 «Stets das Unentwirrbare zu fassen kriegen und das Einfache in die Unruhe der Komplexität versetzen.» Ebda., S. 266. 210 «Nur in seinem Verhältnis zum Undenkbaren und Unmöglichen findet jedes Denken seine Schwingung und seine tiefe Wahrheit. Das gleiche gilt für jedes schöpferische Werk und jeden Ausdruck.» Ebda., S. 267.
6.2 Patrick Chamoiseau: Ecrire en pays dominé und L’empreinte à Crusoé
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In seinem vorletzten Fragment kommt Chamoiseau wieder auf die sentimenthèque zurück, indem er seine Poetik des Unsagbaren in sie einschreibt: Ce qui désigne la fiction imbécile, c’est sa désertion du domaine de l’irracontable ou de l’indicible. Ce qui fait l’éclat d’une saisie narrative, c’est son inscription dans cette génésique angoisse, comme chez Joyce, Faulkner, Perse, Glissant, Césaire ou García Márquez.211 (EC 255–256)
Der Aphorismus als Satz, der von einer Reihe von, in diesem Fall Lektüre- und Schreiberfahrungen abstrahiert, diente Chamoiseau als Zwischenstadium: Er ermöglichte es ihm, aus seiner Lese- und Schreiberfahrung Regeln für das literarische Schreiben abzuleiten und diese wieder auf seinen subjektiven Kanon rückzubeziehen. Somit erfüllt der Aphorismus im Hinblick auf das Verhältnis von vorhandenen Texten und individueller Textproduktion eine ähnliche Funktion wie die vorübergehende Abgeschiedenheit in Bezug auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Glissant und Chamoiseau begreifen Einsamkeit als Voraussetzung dafür, dass das Individuum eins mit seiner Umwelt werden kann, um sich dann im menschlichen Zusammenleben solidarisch verhalten zu können. Genauso dient der einzelne, unverbundene Satz einer temporären Distanznahme von einem Kollektiv von vorhandenen und noch zu verfassenden Texten, in die sein Inhalt dann als neuer Impuls wieder einfließen kann. Im letzten Fragment versucht Chamoiseau, sein in den vorhergehenden Aphorismen bereits stark komprimiertes Denken in einem einzigen Wort zusammenzufassen. Je découvre le dernier mot de mon Robinson: rencontre. Toute individuation pleine mène à ce lieu fondateur. La rencontre.212 (EC 256, Hervorhebung im Original)
Auch wenn Chamoiseau die starke Wirkung dieser letzten Abstraktion dadurch abschwächt, dass er das Wort rencontre erklärt, so enthält es doch noch einmal die entscheidende Antithese, auf der das in L’empreinte entwickelte Denken basiert. Sie verweist auf die Begegnung mit sich selbst, die das Individuum erst zu solidarischem Handeln befähigt. Chamoiseau entwickelt also in L’empreinte à Crusoé eine Literaturtheorie, die ihrerseits durch fiktionale Literatur vermittelt ist. Dies geschieht von einer
211 «Das Kennzeichen der schlechten Fiktion ist, dass sie feige den Bereich des Nicht-Erzählbaren oder des Unaussprechlichen umgeht. Der Glanz des narrativen Begreifens liegt darin, dass es sich in Flammenschrift einschreibt in jene uranfängliche Angst, wie bei Joyce, Faulkner, Perse, Glissant, Césaire oder Garcia Márquez.» Ebda., S. 269. 212 «Ich finde das letzte Wort meines Robinson: Begegnung. Jede entwickelte Individualität führt zu dem Ort, in dem alles begründet ist. Die Begegnung.» Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen, S. 269.
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6 Post-koloniale Autodidakten: Kleine Formen als Anleitung zur Selbstbildung
Position aus, die zugleich innerhalb und außerhalb des fiktionalen Textes liegt. Die Fragmente von Heraklit und Parmenides, aber auch Chamoiseaus Aphorismen im Atelier de l’empreinte sind Bestandteile eines Romans, den sie zugleich interpretieren. Mit der Rezeption der beiden ersten Philosophen durch den fiktiven Leser Ogomtemmêli wird dem impliziten Leser ein Lektüreprozess vorgeführt, der ihm als Anleitung für die eigene Interpretation des Textes dienen soll.213 Diese beiden ineinander verschachtelten Lektüren – die Interpretation von Heraklit und Parmenides durch eine fiktive Figur und deren erwünschte Interpretation durch den Leser – führt Chamoiseau in L’atelier zusammen. L’empreinte à Crusoé ist also die literarische Inszenierung eines Lesers kleiner Formen, der seine Lektüreerfahrung auf seine existenzielle Erfahrung anwendet und damit den impliziten Leser in dessen Lektüre anleitet. Heraklits Fragmente werden somit auf drei Ebenen zum Schlüssel eines neuen Weltverständnisses: Auf der intradiegetischen Ebene bilden sie ein zentrales Element der von Ogomtemmêli entwickelten Überlebensstrategie, auf der extradiegetischen Ebene eröffnen sie dem Leser einen interpretatorischen Zugang zum Roman, und auf einer literaturkritischen Metaebene bilden sie die Basis einer theoretischen Reflexion über das Erzählen. Indem Chamoiseau die in L’empreinte entwickelte Literatur- und Kulturtheorie inhaltlich und formal an Heraklit anlehnt, macht er einen der frühesten Vorläufer aphoristischen Schreibens zu ihrer Grundlage – Hippokrates verfasst seine medizinischen Lehrsätze erst nach Heraklits Tod. Allerdings entwickelt Chamoiseau Heraklits Philosophie sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formalen Ebene weiter und nimmt so eine produktive Neu-Lektüre seiner Fragmente vor. Inhaltlich dient Heraklits Konzept von der Einheit der Gegensätze Chamoiseau als Ausgangspunkt für seine Konzeption des Undenkbaren und Unsagbaren. Während Heraklit mit seiner Philosophie gesellschaftliche Gegensätze – wie etwa zwischen Sklaven und Herren – zu rechtfertigen sucht, verfolgt Chamoiseau weniger einen politischen (erst recht nicht im Sinne von
213 Vgl. zum Phänomen der literaturkritischen Funktion des Werks im Werk allgemein und in Bezug auf die Literatur im Québec im Besonderen Robert Dion: Le moment critique de la fiction. Les interprétations de la littérature que proposent les fictions québécoises contemporaines. Québec: Éditions Nota bene 1997., S. 6: «Ce qui est en cause ici, c’est la constitution d’une interprétation au sein du texte littéraire et l’intégration de cette interprétation à la fiction – à l’expérience existentielle des personnages, à leur ‹vécu› mimétique – comme élément et moteur de celle-ci, c’est-àdire en tant que ‹performant diégétique› […] qui dépasse la simple référence». [«Was hier in Frage steht, ist die Entwicklung einer Interpretation innerhalb des literarischen Textes und die Integration dieser Interpretation in die Fiktion – in die existenzielle Erfahrung der Figuren, ihr mimetisches ‹Erlebtes› – als Element und Motor derselben, das heißt als ‹diegetisches Performans› […], das über die einfache Referenz hinausgeht.» (Eigene Übersetzung)].
6.2 Patrick Chamoiseau: Ecrire en pays dominé und L’empreinte à Crusoé
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Heraklits politischer Auffassung) als vielmehr einen poetischen Anspruch. Es geht ihm darum, das Unerzählbare beschreibbar, nicht aber verstehbar zu machen. Die Leistung des Schreibens besteht demnach, im Gegensatz zu derjenigen des mündlichen Erzählens, weder in der Bewältigung noch in der Ausstellung von Kontingenz,214 sondern darin, eine Verschmelzung des wahrnehmenden Individuums mit seiner Umwelt zu bewirken. Die so entstandene Einheit, für die Spannungen und Brüche (Isolation, Naturkatastrophen etc.) nach wie vor konstitutiv sind, bereitet den Boden für eine Begegnung mit sich selbst, die wiederum solidarisches Handeln ermöglicht. Um die Spannung zwischen scheinbar widersprüchlichen Begriffen wie Einsamkeit und Solidarität oder Opazität und Erkenntnis zu artikulieren, scheint die antithetische Form des Aphorismus in höchstem Maße geeignet. Allerdings geht Chamoiseau über die Form der Fragmente Heraklits hinaus, indem er sie in einen zusammenhängenden verbalen Strom einbettet und so auf der makrostrukturellen Ebene eine weitere Antithese entstehen lässt. Damit findet schließlich auch dort eine rencontre statt: Der einzelne, unverbundene Satz erklärt und erhellt nicht den ihn umgebenden Text, sondern tritt vielmehr in einen horizontalen Dialog mit ihm, analog zum Zwiegespräch zwischen Ogomtemmêli und seinem petit livre. Dennoch bilden die Aphorismen in L’empreinte einen Schlüssel zum Verständnis des Romans, indem sie dessen Aussagen in ihrer abstraktesten Form präsentieren, ohne ihre gewollte Opazität zu zerstören.
214 Vgl. in Bezug auf die frühneuzeitliche Literatur Miriam Lay Brander: Raum-Zeiten im Umbruch, S. 47–50 in Anlehnung an Rainer Warning: Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176–209.
Funktionsweisen kleiner Formen in kolonialen und post-kolonialen Kontexten Ziel dieser Studie war es, anthropologische, ideologische, rhetorische und strukturelle Funktionsweisen kleiner Formen in den (ehemaligen) Kolonien Frankreichs, Spaniens und Portugals aufzuzeigen. Die strukturelle Funktion betrifft vor allem diejenigen Texte, die keine reinen Sammlungen kleiner Formen sind, sondern umfangreicheren Textgattungen angehören, jedoch kleine Formen enthalten. So haben die im zweiten Teil der Studie durchgeführten Analysen narrativer, dramatischer und essayistischer Texte gezeigt, dass darin enthaltene Aphorismen, Sprichwörter, Fragmente, etc. weit mehr sind als eingeschobene Genres und damit Teile einer Polyphonie, wie sie Bachtin für den Roman theoretisiert hat. Dennoch bilden diese Formen einen Teil der Redevielfalt, indem sie den Diskurs des Autors brechen, differenzieren oder vervielfältigen.1 Vor allem aber sind sie in den untersuchten Texten Kristallisationspunkte, die einen Schlüssel zu deren Verständnis bilden. Dies wird teilweise dadurch betont, dass sie sich, so etwa bei Aimé Césaire oder Ahmadou Kourouma, in kursiver Schrift vom Fließtext abheben, im Falle von narrativen Texten aber zumindest insofern eine Differenz zum Kotext markieren, als sie losgelöst von dessen zeitlichen und räumlichen Parametern erscheinen. Diese formale kotextuelle Isolierbarkeit bedeutet nicht, dass sie in in keiner semantischen Verbindung mit ihrem Kontext stehen. Im Gegenteil, gerade indem sie sich formal von ihm abheben, können sie Zusammenhänge und Gedanken schlaglichtartig erhellen, ganz wie die «íntimos arquipélagos», die Aníbal Machado im Vorwort zu seiner Aphorismensammlung beschreibt. Kleine Formen erfüllen Funktionen sowohl innerhalb der erzählten Welt bzw. innerhalb des inneren Kommunikationssystems als auch auf der Vermittlungsebene. In der erzählten Welt kommt ihnen meist eine rhetorische Funktion zu. Vor allem Sprichwörter werden von literarischen Figuren häufig zur Rechtfertigung und Verteidigung herangezogen, da sie als Instrumente der doxa demjenigen, der sie äußert, Autorität verleihen. Vereinzelt werden sie auch dazu eingesetzt, ein Gegenüber anzugreifen oder eine Botschaft bewusst zu verschlüsseln. Die letztgenannte, opake Wirkung, die für Édouard Glissant ein zentrales Element des kreolischen Sprechens und Denkens und damit ein beabsichtigtes Gegengewicht zur Transparenz westlicher Epistemologien darstellt, kann der Sinnspruch sowohl im inneren Kommunikationssystem als auch im Dialog zwischen Text und Leser entfalten.
1 Michail M. Bachtin: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans, S. 141–147. https://doi.org/10.1515/9783110639483-009
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Funktionsweisen kleiner Formen
Über diese Funktion der Verschleierung hinaus dienen Sinnsprüche auf der Vermittlungsebene häufig der Charakterisierung von Figuren. Eine Figur, die Sinnsprüche gekonnt anwendet, charakterisiert sich unabhängig von ihrem Alter als weise (Télumée in Pluie et vent) oder spitzfindig (Yacouba in Allah n’est pas obligé), während ein unbeholfener Umgang mit Sinnsprüchen von Unverstand zeugt.2 Aber auch zum Spannungsaufbau können Sinnsprüche eingesetzt werden, wenn sie in prophetischem Gestus eine unheilvolle Wendung andeuten. Eine vor allem im Hinblick auf koloniale und post-koloniale Kontexte bedeutende Funktion kleiner Formen auf der Vermittlungsebene ist die ideologische. Kondensieren einige Sinnsprüche im Theater Césaires beispielsweise zentrale Aussagen der Négritude-Bewegung, so bezweckt Raphaël Confiant mit seinem Grand livre des proverbes créoles die Affirmation einer kreolischen Identität, und Déwé Gorodé formuliert mit ihren graphischen Aphorismen eine politisch-separatistische Haltung. Eine anthropologische Funktion erfüllen kleine Formen schließlich dort, wo sie einer Analyse der menschlichen Natur dienen. Zielte das Kultivieren von Aphorismen im Kontext der höfischen Gesellschaften im Europa des 17. Jahrhunderts darauf ab, die Motivationen tugendhaften Verhaltens zu verstehen, so dient die Auseinandersetzung mit Sinnsprüchen in den ethnographischen Sprichwörtersammlungen dazu, den Charakter bestimmter ethnischer Gruppen zu durchdringen. In die Erzählliteratur oder das Drama eingebettet besteht eine mögliche Funktion des Sinnspruchs zudem häufig darin, Aufschluss zu geben über das anthropologische Modell, das der Charakterisierung einer Figur zugrunde liegt. Über diese hier nur knapp zusammengefassten Funktionsweisen des Sinnspruchs hinaus haben sich im Hinblick auf die untersuchten kolonialen und post-kolonialen Kontexte drei weitere Funktionen herauskristallisiert, die zwar ebenfalls anthropologische und ideologische Aspekte beinhalten, sich darin jedoch nicht erschöpfen. Es handelt sich um die Verbindung von Kunst und Lebenspraxis, den Einsatz des Sinnspruchs als Mittel verschiedener Formen des Widerstandes und die Verbindung von Lokalismus und Universalität.
2 Über fiktionale Texte hinaus bedeutet der gekonnte Einsatz von Sinnsprüchen, wie Jean Paulhan in seiner Studie zu madagassischen Sprichwörtern gezeigt hat, dass man eine Sprache beherrscht.
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Lebenspraxis Eine zentrale These dieser Studie lautet, dass kleine Formen, deren Produktion und Rezeption bis ins 17. Jahrhundert eng an lebenspraktische Kontexte gebunden waren, im Laufe des 20. Jahrhunderts in post-kolonialen Kontexten eine neue, ebenfalls lebenspraktische Ausrichtung erfahren. Diese bewirkt zwar keine Rückkehr zu Produktions- und Rezeptionsformen, die wie etwa die Aphorismenproduktion im Umfeld des Hofes in Frankreich die körperliche Anwesenheit von Produzenten und Rezipienten voraussetzten, greift aber Komponenten solcher anwesenheitsbasierten Verwendungsweisen kleiner Formen in veränderter Form auf. Eine Ausnahme bildet das Theater Césaires, in dem Produktion und Rezeption des Sinnspruchs zum einen in Situationen fingierter Anwesenheit stattfinden und zum anderen im Falle einer Aufführung von einem Publikum kollektiv rezipiert werden. Da dieser anwesenheitsbasierte Rahmen medial bedingt ist und sämtliche Äußerungen innerhalb eines Theaterstücks betrifft, kann er kaum als spezifisch für den Sinnspruch und schon gar nicht als typisch für eine post-koloniale Phase betrachtet werden. Demgegenüber treten im untersuchten Korpus lebenspraktische Bezüge hervor, die auf je unterschiedliche Aspekte sozialer Integration verweisen. So entstehen in Lateinamerika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts intellektuelle Zirkel, die sich wie die literarischen Salons der französischen Klassik durch eine relative Geschlossenheit auszeichnen und in denen Aphorismen entstehen. Hierzu gehört das Ateneo de la Juventud Mexicano, dessen Mitglieder zum Teil eine bewusst konzise und nüchterne Textproduktion als Gegenstück zur barocken Detailfülle lateinamerikanischer Erzählliteratur pflegen. Neben der gemeinsamen Neigung zur stilistischen Perfektion, die sich in Gattungen wie dem Aphorismus, dem Kurzessay oder dem Prosagedicht artikuliert, ist es der intellektuelle Austausch unter den Mitgliedern des Athenäums, der der kleinen Form ein neues soziales Umfeld beschert. Auch lateinamerikanische Avantgarde-Zeitschriften wie Martín Fierro bilden ein Forum, in dem kleine Formen in einem begrenzten, ideologisch relativ homogenen Kreis zirkulieren können und die so den ehemals sozialen Charakter des Aphorismus neu beleben. Eine weitere lebenspraktische Eigenschaft kleiner Formen, die zunächst nur das Sprichwort betrifft, ist seine Nähe zur gesprochenen Sprache und, damit verbunden, seine Fähigkeit, in den unterschiedlichsten Alltagssituationen zum Einsatz zu kommen. Zwar erfüllt der Aphorismus bei den französischen Moralisten eine gesellige Funktion, doch ist diese zugleich an eine aristokratische Gesellschaft gebunden, die sich, wie auch Gracián in seinem Oráculo manual, bewusst vom gemeinen Volk absetzt. Diese Abgrenzung geht sowohl in Frankreich als auch in Spanien mit einer Ablehnung der Volkssprache und der
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mit ihr verbundenen Gattungen einher. Daher laufen Sprichwort und Aphorismus, die im Mittelalter noch nicht unterschieden wurden, im 17. Jahrhundert auseinander: Der Aphorismus setzt sich als gelehrte und genuin schriftliche Gattung in der Tradition von La Rochefoucauld fort, das Sprichwort trägt fortan die Signatur von Mündlichkeit und Volkssprache. Damit situiert sich das Sprichwort weiterhin im Bereich der Lebenspraxis, während der Aphorismus im Zuge einer zunehmenden sozialen Isolation von Produktion und Rezeption seine lebenspraktischen Bezüge weitgehend verliert. Wird diese Trennung zwischen mündlichen und schriftlichen Ausprägungen kleiner Formen in der Kolonialzeit durch den Great Divide zwischen ‹primitiver› Mündlichkeit und ‹zivilisierter› Schriftlichkeit noch verstärkt, so lässt sich im Laufe des 20. Jahrhunderts beobachten, wie sich Sprichwort und Aphorismus einander annähern. Sowohl Emilio Pacheco mit seinem Prosa-Epigramm als auch Mariana Frenk-Westheim schreiben den Aphorismus in die Strömung einer konversationellen Poesie ein, die nicht mehr die subjektive Perspektive eines lyrischen Ichs in den Vordergrund stellt, sondern in einer kollektiven Geste den alltäglichen Diskurs in die Dichtung integriert. Dadurch rücken sie den Aphorismus in die Nähe einer gesungenen, einst kollektiv rezipierten Dichtkunst, erhalten aber den autoaffirmativen und emanzipatorischen Charakter einer monologischen und intimistischen Lyrik weitgehend aufrecht. Handelt es sich hier um eine stark individualisierte Mündlichkeit, so greifen unterschiedliche Autoren auf den Antillen und in Subsahara-Afrika mit der Verwendung von Sinnsprüchen auf ein kollektiv geteiltes, mündlich überliefertes Kulturgut zurück, das sie in einen schriftlichen Diskurs integrieren. Dies wurde beispielsweise bei Simone Schwarz-Bart deutlich, die in ihrem Roman Pluie et vent sur Télumée Miracle durch die Verarbeitung kreolischer Sprichwörter eine volksnahe Sprache schafft, mit der sie die universellen Werte der Kulturen auf den Antillen hervorhebt. Im Einklang mit diesem Anliegen steht, anders als in der musealen Sammlung kreolischer Sprichwörter von Raphaël Confiant, nicht das ursprüngliche kreolische Sprichwort im Zentrum, sondern dessen kreativ transformierte Variante. Mithilfe einer Synthese von kreolischer Mündlichkeit und französischer Schriftsprache gelingt es Schwarz-Bart, eine neue Kunstsprache mit ihren eigenen Rhythmen und Bildern zu entwerfen, die der Vermischung der Kulturen auf den Antillen und darüber hinaus Rechnung trägt. Auch Ahmadou Kourouma thematisiert mit beiden Leitsprüchen, um die herum sich sein Roman Allah n’est pas obligé strukturiert, das Spannungsverhältnis, das sich aus dem Zusammenspiel von französischer Schriftsprache und afrikanischer Mündlichkeit ergibt. Anders als bei Simone Schwarz-Bart beschränken sich mündliche Formen des Sinnspruchs bei Kourouma jedoch nicht auf traditionelle afrikanische Sprichwörter, sondern bedienen sich, wie die Aphorismen von Gorodé, unterschiedlicher Stilregister, wodurch Kourouma noch stärker
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als Schwarz-Bart alltagsnahe Elemente in seinen Text mit einbezieht. Allerdings dienen die beständig wiederholten Devisen Birahima nicht dazu – und dies führt zu einer weiteren lebenspraktischen Ausrichtung des post-kolonialen Sinnspruchs –, ein alltagspragmatisches Wissen zu verinnerlichen oder zu vermitteln, sondern vielmehr dazu, eigennütziges Handeln und willkürliches Erzählen zu rechtfertigen. Seine Unfähigkeit, aus seinen Erlebnissen als Kindersoldat ein praktisches Wissen abzuleiten, rückt ihn in die Nähe von João Guimarães Rosas Hauptfigur Riobaldo in Grande Sertão, wo ebenfalls eine Annäherung von mündlich und schriftlich geprägten Spruchformen stattfindet. Während diese bei Schwarz-Bart und Kourouma darin besteht, dass der französische Text das mündliche Substrat von afrikanischen und Kreolsprachen durchscheinen lässt, gehen bei Guimarães Rosa Sprichwörter, die im Dienste einer fingierten Mündlichkeit stehen, und Aphorismen, die Teil der philosophischen Reflexion des Erzählers bilden, sowie Verhaltensregeln fließend ineinander über. Die ubiquitäre Verwendung von Sinnsprüchen unterschiedlichster Art geht hier mit dem erzählerischen Versuch einher, aus dem Erlebten Ratschläge zu generieren. Diese Absicht der Vermittlung eines praktischen Wissens zeichnet den Aphorismus von den medizinischen Lehrsätzen des Hippokrates über die Lebenslehren Graciáns und Maximilians bis hin zu den Alltagsratschlägen Mariana Frenk-Westheims aus. Hat der Sinnspruch seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts seine Funktion als Träger eines Erfahrungswissens tendenziell verloren, so leiten Rosa und Frenk-Westheim auf je unterschiedliche Art und Weise einen Rücklauf dieser Tendenz ein. Frenk-Westheim gelingt es, eine Brücke vom individuellen Erleben zur geteilten Erfahrung zu schaffen, indem sie nicht einen anonymen Leser bzw. eine anonyme Leserin mit intimistischen Gedanken konfrontiert, sondern sich selbst anspricht und damit innerhalb des Textes ein konkretes Gegenüber platziert, mit dem sich die Leserin oder der Leser identifizieren kann. Rosa schafft mithilfe von Sinnsprüchen eine neue Epik, in der der gescheiterte Versuch, Erlebtes in Erfahrung zu verwandeln, zu einer neuen geteilten Erfahrung wird. Der Sinnspruch wird im Roman so als Relikt eines mündlich überlieferten, epischen Erzählens begreifbar, dessen lebenspraktische Funktion mit der Entstehung des Romans verschüttet wurde, und damit als Versuch einer Rückbindung modernen Erzählens an die Lebenspraxis. Ein vierter lebenspraktischer Aspekt, der vor allem auf die Aphorismen der Avantgarden und diejenigen von Gorodé zutrifft, besteht in einer politischen Funktion. Die Loslösung des Aphorismus aus kollektiven gesellschaftlichen Kontexten vollzieht sich im Zuge einer generellen Trennung von Kunst und Lebenspraxis. Dies bedeutet nicht, dass die Inhalte des Sinnspruchs nicht mehr gesellschaftlich relevant sind – im Gegenteil: Je weiter sich der Aphorismus im 17. und 18. Jahrhundert vom sozialen Umfeld des Hofes entfernt, desto mehr
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thematisiert er politische und soziale Themen. Allerdings erfüllen die gelehrten Spruchsammlungen spätestens seit dem 19. Jahrhundert keinerlei gesellschaftliche oder politische Funktion mehr. Dies ändert sich teilweise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Autoren wie Oswald de Andrade, Antonio Porchia oder Malcolm de Chazal, die ihre Aphorismen in politischen Zeitschriften publizieren oder wie Miguel Barnet, der einen Aphorismus von Ortiz in der zeitung der kubanischen Revolutionsregierung zitiert. Im Gegensatz zu Barnet und Gorodé sind bei den avantgardistischen Autoren nicht die Inhalte kleiner Formen politisch bedeutsam – die kunstkritischen Aphorismen eines Girondo sind inhaltlich genauso wenig politisch wie die Leidensanthropologie Porchias oder das magische Analogiedenken Chazals. Ausschlaggebend sind vielmehr der Kontext, in dem die Aphorismen stehen, und die damit verbundene Tatsache, dass sie für politische Zwecke funktionalisiert werden. Die Neukaledonierin Déwé Gorodé hingegen trifft mit ihren Aphorismen, die den Graffiti der (Post-) 68er-Proteste in Frankreich nachempfunden sind, selbst politische Aussagen. Ihr aphoristisches Werk erscheint zwar in einer gesonderten Sammlung und damit nicht im direkten Zusammenhang mit dem politischen Aktivismus der Autorin, gibt aber ihre ideologische Position unmissverständlich wieder.
Widerstand Die politische Ausrichtung des aphoristischen Zitats von Barnet und der Aphorismen Gorodés geht Hand in Hand mit einem Widerstand gegen eine neokoloniale Fremdbestimmung des Herkunftslandes der beiden Autoren, bei Barnet durch die USA, bei Gorodé durch Frankreich. Beide liefern eindrückliche Beispiele für das widerständische Potenzial des Sinnspruchs, dessen Variante des Aphorismus Gerhard Neumann als «gegen die herrschende Denkordnung gerichtete[r] Satz»3 definiert hat. Dieses kritische Potenzial, das somit in der Gattung des Sinnspruchs selbst angelegt ist, manifestiert sich in den untersuchten post-kolonialen Zusammenhängen in unterschiedlichen Formen der Resistenz. An dieser Stelle sei noch einmal an die Unterscheidung von post-kolonial als zeitlichem Rahmen und postkolonial als kritischer Aufarbeitung einer kolonialen Vergangenheit erinnert.4 In diesem Sinne sind Formen des Widerstandes, die häufig in Kombination auftreten, teilweise an postkoloniale Anliegen gekoppelt.
3 Gerhard Neumann: Einleitung, S. 8. 4 Bill Ashcroft: On the hyphen in ‹post-colonial›, vgl. Einleitung, Anm. 11.
Widerstand
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Eine erste Form der Resistenz, die keinerlei postkoloniale Bezüge aufweist, besteht in einem gesellschaftlichen Widerstand im Sinne eines bewussten sozialen Rückzuges des Aphoristikers, der sich auch in gesellschaftskritischen Inhalten des Aphorismus widerspiegelt. Der in Mauritius beheimatete Malcolm de Chazal und der Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila distanzieren sich nicht nur kritisch von den Gesellschaften, in denen sie leben, sondern verzichten auch weitgehend auf Verbindungen zum zeitgenössischen Literaturbetrieb und, im Falle von Chazal, auf einen Austausch mit anderen Intellektuellen. Der Aphorismus scheint aufgrund seiner formalen Eigenschaften ein privilegiertes Ausdrucksmittel eines gesellschaftlichen und inhaltlichen Einzelgängertums zu sein, das der französische Moralist Nicolás Chamfort bereits im 18. Jahrhundert gepflegt hatte. Wurde Chazal gegen seinen Willen von den französischen Surrealisten als ihresgleichen betrachtet, so liegt dies nicht zuletzt daran, dass sein aphoristisches Werk mit dem Surrealismus die Geste eines ästhetischen Widerstandes gemein hat. Dies verbindet Chazal überdies stilistisch mit einigen Aphoristikern im Umfeld der lateinamerikanischen Avantgarden wie Julio Torri oder Aníbal Machado. Vor einem je unterschiedlichen nationalen Hintergrund teilen diese Autoren das Anliegen einer Erneuerung von Sprache: Suchen mexikanische Autoren wie Torri mit einem konzisen und lakonischen Stil ein Gegengewicht zur Detailfülle des indigenistischen und Revolutionsromans zu schaffen, so setzt sich Machado in Cadernos de João für eine Befreiung der Vorstellungskraft von poetischen Konventionen und deren mimetischem Charakter ein. Während sich der ästhetische Widerstand bei den genannten Autoren frei von ideologischen Implikationen präsentiert, erhält er bei Schriftstellerinnen wie Gorodé, Schwarz-Bart und Kourouma eine postkoloniale Dimension. Bei Gorodé verbindet sich der Einsatz von unkonventionellen Schreibformen, unterstützt durch die Schlagkraft des Sinnspruchs, mit einer politischen Stellungnahme gegen die französische Assimilationspolitik; Schwarz-Bart unterwandert mit ihren Collagen aus kreolischem Sprichwort und französischer Schriftsprache die Dominanz einer sprachlichen und kulturellen Übermacht; und Kourouma setzt sich mit der subversiv-kreativen Aneignung einer volksislamischen Devise über Normen der französischen Schriftsprache hinweg. Während Schwarz-Bart und Kourouma ihre Werke von ihrem persönlichen politischen Engagement trennen, sind Gorodés postkoloniale Aphorismen stark durch ihren Einsatz gegen die französische Assimilationspolitik motiviert. Wurde diese politische Ausrichtung von Aphorismen oben als Bezug zur Lebenspraxis gedeutet, so kann sie hier als Manifestation des widerständischen Potenzials des Sinnspruchs betrachtet werden. Dieses Potenzial entfaltet der Sinnspruch auch dann, wenn Autoren wie Girondo, Porchia oder Chazal ihre Aphorismen
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in Zeitschriften von Arbeiterbewegungen publizieren, aber auch, wie im Falle von Gorodé und Barnet, im Kampf gegen neokoloniale Fremdbestimmung. Über seine Funktionalisierung für einen gesellschaftlichen, ästhetischen und politischen Widerstand hinaus wird der Sinnspruch in post-kolonialen Kontexten zum Vehikel alternativer Epistemologien. Bereits La Rochefoucauld rüttelte an den anthropologischen Grundlagen der höfischen Gesellschaft, indem er die Tugendhaftigkeit des Adels als Illusion entlarvte. Einen erkenntnistheoretischen Widerstand leistet auch Chazal, wenn er der Trennung unterschiedlicher Seinsund Wissensbereiche das Konzept einer kosmologischen Einheit entgegensetzt und diese in seinem aphoristischen Werk poetisch realisiert. Bei Édouard Glissant wird das fragmentarische Schreiben schließlich zum Ausdrucksmittel einer Alternative zum Logozentrismus, der Transparenz und der Linearität westlicher Episteme. Patrick Chamoiseau knüpft mit seiner Poetik des Unsagbaren an die Vorlage Glissants an, zieht als Grundlage seiner alternativen Erkenntnistheorie jedoch gerade nicht wie Glissant eine kreolische Mündlichkeit heran, sondern das fragmentarische Werk des frühen europäischen Philosophen Heraklit. Damit wird die kleine Form, die in den Fragmenten aus Ecrire en pays dominé noch für eine postkoloniale Aneignung eines europäischen Literaturkanons stand, in Chamoiseaus Roman L’empreinte à Crusoé zum Bindeglied zwischen dem Eigenen und dem Anderen, das einen postkolonialen Widerstand in den Hintergrund treten lässt. Die postkoloniale Resistenz des Sinnspruchs ist also in den meisten Fällen an mindestens eine weitere Form des Widerstandes (gesellschaftlich, ästhetisch, politisch, epistemologisch) gekoppelt. Dies gilt allerdings nicht für die Sprichwörtersammlung von Raphaël Confiant, der das kreolische Sprichwort ganz in den Dienst der Bewahrung eines mündlich tradierten kulturellen Erbes stellt. Auch in Zentralamerika und Brasilien greifen einige Sprichwörtersammlungen auf den Sinnspruch zurück, um das Eigene, Lateinamerikanische gegenüber der sprachlichen und kulturellen Übermacht der iberischen Halbinsel hervorzuheben oder aber, um wie Henríquez Ureña, das Lateinamerikanische zum Schutz gegen eine nordamerikanische kulturelle Domination in die Nähe des Iberischen zu rücken. Vermitteln solche Sammlungen eine essenzialistische Perspektive auf das Sprichwort als Garant für eine wie auch immer definierte Identität, so wird in Césaires Dramen die Situationsbezogenheit des Sinnspruchs deutlich. Sieht man von dramatischen und somit gattungsbedingten Funktionen kleiner Formen ab, so stehen dort sowohl das afrikanische Sprichwort als auch die genuin schriftliche Maxime im Dienste einer dekolonialen Haltung, die den Sinnspruch dafür einsetzt, diejenigen Probleme zu erörtern, die sich für die haitianische und die afrikanischen Unabhängigkeiten aus den Folgen der Kolonisierung ergeben. Indem er für den postkolonialen Widerstand
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verwendet wird, steht der Sinnspruch in Ausnahmefällen aber auch im Zeichen einer postkolonialen Nostalgie. Dies ist der Fall in der Kurzgeschichte Viaje a la semilla, in der Alejo Carpentier die Affirmation eines spezifisch Lateinamerikanischen als aussichtslos entlarvt. Afrokubanische Mündlichkeit und das Wunderbar Wirkliche gehen in einem komplexen abschließenden Aphorismus auf, in dem westlicher Logozentrismus und Rationalismus dominieren und in dem das Substrat des real maravilloso nur noch schwach zu erkennen ist.
Zwischen lokaler Einbindung, universellem Anspruch und Kosmopolitismus Ein weiteres zentrales Ergebnis der vorliegenden Studie besteht in der Beobachtung, dass kleine Formen in den untersuchten kolonialen und post-kolonialen Kontexten häufig in einem Spannungsfeld zwischen dem Globalen und dem Lokalen stehen. Als Gattung, die eine Summe von Einzelerfahrungen zu einer allgemeineren Aussage abstrahiert, ohne dass das Einzelne im Allgemeinen aufgeht, werden Sinnsprüche in literarischen, ethnographischen und journalistischen Texten dazu verwendet, die Werte der eigenen Kultur als universelle Werte zu identifizieren, dabei zugleich aber die Besonderheiten der jeweiligen Kultur hervorzuheben. Gerade diese Spannung macht den Sinnspruch für postkoloniale Autoren, aber auch für Kolonisatoren so reizvoll. So versprachen sich die Kompilatoren kolonialer Sammlungen kleiner Formen von den Sprichwörtern einer Ethnie einerseits Einblick in die Besonderheiten ihrer Kultur, glaubten in ihnen aber zugleich universelle Züge zu erkennen, die eine Brücke zur eigenen Kultur schlagen und so die Kommunikation mit dem Anderen erleichtern konnten. Dies wurde beispielsweise bei Sahagún deutlich, der den spanischen Leser mithilfe von Sprichwörtern in seiner Historia General auf Besonderheiten der NahuaKultur aufmerksam macht, dabei aber Sprichwörter aus dem Nahuatl in spanische Sprichwörter übersetzt und sie so als dem Leser bereits bekanntes, universelles Gedankengut ausgibt. Nach den Unabhängigkeiten steht bei denjenigen lateinamerikanischen und karibischen Sammlungen des 20. Jahrhunderts, die mit dem Sprichwort eine kulturelle, nationale oder kontinentale Identität zu behaupten suchen, das lokale Element im Vordergrund, wobei auch hier universalistische Züge zutage treten, etwa wenn Kompilatoren wie Pedro Henríquez Ureña oder Emilio Rodríguez Demorizi das spanischsprachige Sprichwort als Bindeglied einer iberischlateinamerikanischen Einheit ausweisen oder es wie der brasilianische Anthropologe Arthur Ramos als Band einer transatlantischen schwarzen Diaspora deuten. Die kubanische Ethnologin Lydia Cabrera geht noch einen Schritt weiter,
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wenn sie einen Teil der afrokubanischen Sprichwörter in ihrer Sammlung Refranes de Negros Viejos einem universellen Gedankengut zuschreibt, eine Geste, die Raphaël Confiant auch in seiner Sammlung kreolischer Sprichwörter vollführt. Dennoch sind beide vorwiegend an der lokalen Verankerung afrokubanischer bzw. kreolischer Sprichwörter als Bestandteile eines vom Verschwinden bedrohten Kulturgutes interessiert. Auch Simone Schwarz-Bart macht diese Doppelbewegung von lokaler Verankerung und universellem Geltungsanspruch mit, wenn sie mithilfe einer Übertragung kreolischer Sprichwörter ins Französische die Universalität einer expérience antillaise nachweist. Bei Guimarães Rosa schreibt sich die Verknüpfung universeller und lokaler Werte im Sinnspruch in die generelle Tendenz der brasilianischen Literatur ein, die Realität Brasiliens zur Projektionsfläche universeller Problematiken zu machen. Auf dieser Grundlage können Sinnsprüche mit Elementen aus den indianischen Sprachen genauso universelle Aussagen treffen, wie Riobaldos aphoristische Reflexionen über universelle philosophische Themen, die jedoch stets eng an seine Erfahrungen in einem konkreten geographischen Raum geknüpft sind. Weder lokal noch universell, sondern vielmehr kosmopolitisch präsentiert sich das aphoristische Werk des Brasilianers Aníbal Machado, der nicht der Vorstellung vom Sinnspruch als Ausdrucksform eines universellen Gedankengutes folgt, seine Aphorismen aber in die europäische Strömung des Surrealismus einschreibt und damit einen für einige Avantgarde-Strömungen typischen Internationalismus praktiziert. Ebenfalls kosmopolitische Eigenschaften weist Glissants Werk auf, insofern er seine Poetik des Tout-monde zwar auf der Grundlage kreolischer Mündlichkeit entwickelt, diese jedoch bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und in den Dienst einer generellen epistemologischen Erneuerung stellt, die weit über den Kontext der Antillen hinausgeht. Abgesehen von ihrer diskontinuierlichen Form haben die Aphorismen Glissants nichts mit dem kreolischen Sprichwort gemein. Chamoiseau verstärkt diese lokale Entwurzelung in L’Empreinte à Crusoé noch, indem er bei seiner Verarbeitung von Sinnsprüchen nicht kreolischen, sondern europäischen Modellen folgt. Glissant wie Chamoiseau entwickeln in ihrem Werk also einen zunehmend kosmopolitischen Diskurs, der eine Synthese aus partikularistischen und universellen Motivationen anstrebt, in der das lokale Element als solches nicht mehr oder kaum noch zu erkennen ist. * Mit den genannten drei Funktionen – Verbindung von Kunst und Lebenspraxis, Akt des Widerstandes und lokal-globale Verknüpfung – sind drei weitere Gemeinsamkeiten von Aphorismus und Sprichwort genannt, die gerade in den untersuchten kolonialen und postkolonialen Kontexten hervortreten. Dass die beiden Spruchformen sich in diesen Aspekten überschneiden, konnte nur mithilfe einer
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erweiterten Vergleichsmethode gezeigt werden: Indem ich Texte, die in keinerlei historischem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, vergleichend aufeinander bezogen habe, wurde das dynamische Verhältnis sichtbar, in dem sich unterschiedliche Spruchformen zueinander verhalten. Mit dem Sinnspruch habe ich einen bewusst weit gefassten Gattungsbegriff gewählt, der es ermöglicht hat, kleine Formen aus unterschiedlichen Gattungssystemen aufeinander zu beziehen und so eine zunehmende Hybridisierung von Gattungen im Zuge der kulturellen Globalisierung sichtbar zu machen. Der Verzicht auf eine trennscharfe Abgrenzung bestimmter Varianten des Sinnspruchs und deren Einzelbetrachtung ermöglichte es, hybride Formen wie die Collagen aus Sprichwort und Aphorismus bei Schwarz-Bart genauso in den Blick zu nehmen wie fließende Übergänge zwischen unterschiedlichen kleinen Formen, wie bei Guimarães Rosa und Césaire zwischen der Maxime im Sinne einer Verhaltensregel und der aphoristischen Reflexion oder bei Kourouma zwischen dem Sprichwort, der religiösen Maxime und der Moral einer Fabel. Solche Hybridisierungsprozesse, nicht nur zwischen unterschiedlichen Spruchgattungen, sondern auch zwischen dem Sinnspruch und anderen schriftlichen und künstlerischen Ausdrucksformen, finden im Zeitalter der Digitalisierung in verstärktem Ausmaß statt. Entsprechend bilden Spruchformen im Internet ein relativ neues Forschungsfeld, das erst in Ansätzen bearbeitet worden ist.5 Darüber hinaus gilt es noch eine Reihe weiterer Gattungsarchipele zu entdecken bzw. zu generieren und damit Dynamiken der globalen Verbreitung und Zirkulation symbolischer Formen offen zu legen.
5 Z. B. Paulo Antonio Gatica Cote: Cuando Twitter encontró al aforismo: nuevas inquisiciones en el debate de los géneros literarios. In: Francisca Noguerol/María Ángeles Pérez López u. a.: Letras y bytes: Escrtituras y nuevas tecnologías. Kassel: Reichenberger 2015, S. 149–164; Miriam Lay Brander: ¿Gracias a Twitter, reviven los aforismos?.
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Personenindex Ángeles Pérez López, María 363 Adéèkó, Adélékè 27 Agbéko Amegbleame, Simon 9 Aguilar Paz, Jesús 135, 136 Aguilera, Luisita 122, 123, 124 Alemany Bay, Carmen 113 Ali, Saoudé 9 Alzola, Concepción T. 45, 48, 134, 136, 137 Andrade, Alvaro M. 204 Andrade, Mário de 187, 255, 257 Andrade, Oswald de 10, 90, 92, 113, 147, 358 Arnold, Heinz L. 241 Arora, Shirley L. 9, 122 Ashcroft, Bill 5, 106 Asholt, Wolfgang 152 Assmann, Aleida 64, 65 Assmann, Jan 64, 65 Asturias, Miguel Ángel 80, 210 A’Bodjedi, Enenge 45 Bachelard, Gaston 155–158, 165, 173 Bachmann-Medick, Doris 212 Bachtin, Michail M. 251 Baciu, Stefan 153 Bader, Wolfgang 210, 229 Balderas García, Ana 116 Balzac, Honoré de 32, 63 Barbéris, Pierre 32 Barnet, Miguel 6, 132, 146, 147, 179, 358 Barros, Daniel 67 Barthes, Roland 26, 61 Baumann, Kunibert 85 Baumgart, Ursula 9 Bell, Mark 23, 258 Bell, Steven 84 Bello, Andrés 118 Ben Jelloun, Tahar 7 Benítez Rojo, Antonio 246, 250, 254, 255 Benjamin, Walter 99, 200, 201, 206 Bennington, Geoffrey 195
https://doi.org/10.1515/9783110639483-011
Bergamín, José 85, 89 Bernabé, Jean 4, 148, 259, 264, 271 Besa Camprubí, Carles 12, 183 Bhatti, Anil 6, 10, 12 Birle, Peter 200 Bogner, Ralf 316 Böning, Holger 296 Borges, Jorge Luis 84 Borgomano, Madeleine 314 Borsò, Vittoria 81, 248 Bosi, Alfredo 153 Bouchard, Monique 271, 285 Bounfour, Abdellah 9 Brackert, Helmut 21 Braga, Thomas J. 186, 195 Braun, Michael 190 Brentano, Clemens 65 Breton, André 68, 71, 152, 160 Briggs, Charles L. 23 Bronfen, Elisabeth 10 Bruyère, Jean de la 61, 308 Buchet Rogers, Nathalie 259, 265 Bunzel, Wolfgang 36 Burckardt, Jacob 65 Bürger, Peter 41, 85 Cabakulu, Mwamba 309 Cabal Antillón, Dionisio 46, 139 Caballero, Amaranta 101 Cabrera, Lydia 30, 127, 128, 129, 130, 131, 147, 149, 361 Caillois, Roger 68 Camacho, Fernando 201 Cândido, Antônio 153, 170, 200 Carnes, Pack 18, 33 Carpentier, Alejo 5, 14, 80, 81, 210, 245, 247, 251, 254, 361 Cascardi, Anthony J. 56 Caso, Antonio 79, 80, 121 Certeau, Michel de 42, 51, 141 Cervantes, Miguel de 67
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Personenindex
Césaire, Aimé 5, 14, 33, 34, 141, 152, 182, 208, 213, 229, 242, 244, 245, 264, 265, 329, 336, 342, 353 Chabbert, Christophe 72 Chamoiseau, Patrick 4, 5, 6, 14, 68, 148, 313, 315, 319, 324, 329, 345, 360 Char, René 2, 152, 159, 177 Chariatte, Isabelle 54 Chevrier, Jaques 27, 155, 160 Christophe, Henri 210 Clark de Lara, Belem 52 Clark, Henry C. 60 Clifford, James 317, 318 Colón Domènech, Germán 47 Condé, Maryse 259 Confiant, Raphaël 4, 5, 6, 148, 149, 208, 244, 342, 354, 356, 360, 361 Cordie, Ansgar M. 301 Correas, Gonzalo 120 Corzani, Jack 285 Coutinho, Eduardo 200 Crowley, Patrick 155, 178 Cruz, Sor Juana Inés de la 50, 118 Cunha, Euclides da 200 Darío, Rubén 94, 95 Dash, Michael 160 Defoe, Daniel 316 Delafosse, Maurice 124 Depestre, René 209, 210 Derive, Jean 9, 296 Desponds, Liliane 53 Devés Valdés, Eduardo 121, 124, 127 Dias, Renata C. 206 Díaz Dufoo, Carlos 78, 83 Díaz, Porfirio 79 Diehl, Adán 85, 89 Dion, Robert 350 Doe, Samuel 291 Domínguez Barajas, Elías 23, 142 Donatien-Yssa, Patricia 262, 266 Dorsch, Hauke 289 Dunn, David L. 220, 244 Dutronc, Jacques 110 D’Aprile, Iwan-Michelangelo 195, 296
Elias, Norbert 55, 57, 62 Elizondo, Salvador 83 Emeto-Agbasière, Julie 9 Erasmus von Rotterdam 47 Espagne, Michel 9, 145 Ette, Ottmar 1, 43 Exner, Isabel 5, 90 Eyadéma, Gnassingbé 291 Fabian, Bernhard 24 Fall, Tanor Latsoukabé 45 Faulkner, William 336 Fedler, Stephan 21, 22 Fernández de Lizardi, José Joaquín 52 Fernández Martínez, Mirta 130 Fernández Valledor, Roberto 139 Ferrer, Javier 2 Figueroas, Pedro de 49 Fleischmann, Ulrich 241 Fleisher, Martin 301 Fowler, Alastair 24 Franco, José L. 127 Frenk, Ernst 97 Frenk-Westheim, Mariana 63, 69, 97, 98, 113, 356, 357 Frey, Daniel 36 Fricke, Harald 18, 21, 25 Funk, Gabriela 35 Funk, Matthias 35 Gadamer, Hans-Georg 320, 326 Gagner-Albert, David 283 Gamboa, Fernando 97 Garcia Bonilla, Roberto 98 García Salas, José J. 134 Garibay, Ángel M. 115 Garnier, Xavier 301, 303 Garrido Gallardo, Miguel Á. 36 Gasquet, Vasco 103, 104 Gatica Cote, Paulo A. 363 Geary, James 18 Gelado, Viviana 92 Girondo, Oliverio 68, 84, 85, 88, 89 Glinga, Werner 45
Personenindex
Glissant, Edouard 5, 27, 148, 151, 174, 175, 176, 327 Gómez Dávila, Nicolás 2, 3, 4, 8, 73, 74, 75, 76, 77 Gómez de la Serna, Ramón 86, 87, 177 Gómez, Raquel G. 135 Gonzalvo, Silvia 85, 88 Gordón, Samuel 94 Gorodé, Déwé 5, 44, 101, 102, 114, 133, 147, 179, 242, 313, 354, 358 Goumegou, Susanne 290 Gourmont, Rémy de 85, 88 Gracián, Baltasar 8, 49, 57, 67 Graille, Caroline 102, 104, 107 Grégoire, Henri 295 Greilich, Susanne 52, 53 Griaule, Marcel 317 Grötsch, Kurt 127, 253 Grünberg, Carlos 85 Guilbert, Louis 291 Guillén, Claudio 183 Guillén, Nicolás 127 Gumbrecht, Hans U. 17, 48, 105 Gyssels, Kathleen 259, 260, 279, 334, 343 Hahn, Kurt 71 Hallet, Wolfgang 13 Hammarskjöld, Dag 243 Haug, Walter 64 Helmich, Werner 8, 69, 105, 175, 177 Hempfer, Klaus W. 24 Henríquez Ureña, Pedro 78, 83, 120, 121 Heraklit 19, 22, 25, 175, 207, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 330, 333, 334, 342, 343, 350 Herschberg Pierrot, Anne 27 Hippokrates 49, 350, 357 Hiriart, Rosario 128, 131 Hoffman-Jeep, Lynda 130 Hoffmann, Léon-François 285 Hölz, Karl 52 Houphouët-Boigny, Félix 291 Hummel, Martin 35 Hundt, Christine 35 Huxley Aldous 183
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Imbroscio, Carmelina 175 Ingenschay, Dieter 1 Jäger, Matthias 97 Jauß, Hans Robert 17 Jeanneret, Michel 48 Jeanson, Francis 62 Jiménez, Juan Ramón 8 Johnson, Prince 291 Jolles, André 11 Joseph, Kaiser Franz 65 Jouanny, Robert 240 Joubert, Jean-Louis 155 Jouve, Dominique 104 Juárez, Benito 65 Juarroz, Roberto 68, 70 Kamburg, Petra 18 Kamecke, Gernot 210 Kaufmann, Hans 34 Kimmich, Dorothee 6, 7, 10, 12 Kinzel, Till 75, 76 Kirchner, Gottfried 271 Kirschner, Martin 59 Kleiner, Stephanie 301 Knörrich, Otto 15 Kocc Barma Fall 45 Komorowska, Agnieszka 290 Koroma, El Hadjy J. 291 Koschorke, Albrecht 6 Kourouma, Ahmadou 5, 14, 33, 237, 289, 297, 302, 306, 307, 308, 309, 310, 313, 314, 335, 353, 356 Krauss, Werner 45, 48, 49, 57, 115, 143 Krieger, Peter 97, 98 Kuhn, Barbara 71 La Rochefoucauld, François de 55, 59 Laensberg, Mathieu 53 Lafayette, Madame de 21, 32 Lagane, René 291 Laget, Laurie A. 86 Lamping, Dieter 22, 36, 190 Landsberger, Artur 267 Lang, Bernhard 65
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Personenindex
Langenohl, Andreas 7 Lanzmann, Jacques 111 Lara Órdenes, Eliseo 85 Lasinger, Wolfgang 49, 57, 58 Lastanosa, Vincensio J. de 56 Laurie, Xavier 112 Lay Brander, Miriam 9, 54, 59, 73, 74, 145, 301, 351 Leber, Manfred 316 Leiner, Jacqueline 208, 241 Leiner, Wolfgang 208 Lestringant, Franc 48 Lévi-Strauss, Claude 307 Levrault, Léon 62 Lewino, Walter 103 Lierena, Romelia 128 Llarena, Alicia 257 Loimeier, Manfred 289 Lopes Dean, Maria A. 158, 159, 168 Ludwig, Ralph 148, 151, 209, 210, 328, 340 Ludwig XIV 110, 111 Lumumba, Patrice 219 Lüsebrink, Hans-Jürgen 7, 9, 52, 104, 195, 229, 296, 316 Luther, Martin 230 Lutz, Helga 9, 10, 12 Lux, Christina 306 Machado, Aníbal 2, 14, 146, 147, 151, 152, 153, 155, 159, 164, 179, 182, 353, 359, 362 Maihold, Rosa María S. de 1 Mal Lara, Juan de 47 Malcolm X 230 Marley, Bob 35 Martínez Cabrera, Erika 53 Mastick, Patricia. A. 103 Mautner, Franz H. 12, 17, 19, 260 Maximilian I. 63, 64, 67, 99 Mbom, Clément 27, 176, 229 Memmi, Albert 287 Mendes, Murilo 71, 90 Mervin, W. S. 68 Mettmann, Walter 48, 50 Meyer-Clason, Curt 185, 198, 207 Meyer-Minnemann, Maralde 90
Mieder, Wolfgang 23, 177 Miller, Henry 68 Minerva, Nadia 175 Mißfelder, Jan F. 9, 10, 12 Mix, York-Gothard 52 Mokaddem, Hamid 106, 109 Molière 49 Momoh, Joseph 291 Montandon, Alain 86 Montenegro, Jorge 128, 135 Monterroso, Augusto 80, 100, 101 Mortimer, Mildred 281 Moser, Christian 11 Moura, Jean-Marc 106 Müller, Gesine 73, 152 Mulot, Stéphanie 262, 269 Musner, Lutz 10 Nadra, Lajri 293 Nagel, Tilman 302 Neiva, Saulo 86 Nemer, Monique 20, 61, 62 Neumann, Birgit 13, 20 Neumann, Gerhard 12, 19, 49, 114, 358 Niedermayer, Franz 75, 76 Nitschack, Horst 187, 200 Noguerol, Francisca 363 Ntoumos, Veronika 102, 103 Núñez de Guzmán, Hernán 120 Nünning, Ansgar 20 Ogotemmêli 317 Olea Franco, Rafael 81 Onyeoziri, Gloria N. 279 Ormerod, Beverley 279 Orr, Robert 301 Ortemann, Marie-Jeanne 69 Ortiz, Fernando 125, 130, 131, 132, 133 Ossenkop, Christina 35 Ouédrago, Jean 293 Ovares Ramírez, Flora 251, 254 Pacheco, José E. 64, 93, 94, 95, 96, 152 Palazón Mayoral, María R. 52 Pangop Kameni, Alain C. 34 Pannewick, Friederike 24
Personenindex
Parmenides 316, 320, 321, 322, 324, 327, 330, 331, 332, 333, 342, 343, 347, 350 Pascal, Blaise 3 Paulhan, Jacqueline F. 142, 143, 145 Paulhan, Jean 10, 71, 142, 143, 144, 146, 263, 278, 354 Paz, Octavio 90, 94 Pereira, Armando 79 Pérez, Antonio 49 Pérez, José 119, 120 Pérez Martínez, Herón 50, 116, 119, 140 Perucho, Javier 29 Pétion, Alexandre S. 214 Pfister, Manfred 35, 237 Philipp II. 49 Picasso, Pablo 89, 152 Piccione, M. 285 Piñero, Sergio 85 Pittrof, Thomas 59 Pontes, Mario 159 Poole, Ralph 7 Porchia, Antonio 64, 67, 68, 69, 71, 99, 358 Poullet, Hector 340 Quiroga, Walter 119 Rabault-Feuerhahn, Pascale 229 Rabelais, François 336 Raji-Oyelade, Aderemi 9 Rama, Ángel 80 Ramos, Arthur 124, 361 Ramsay, Raylene 103 Rath, Gudrun 5, 90 Regazzoni, Susanna 130 Renz, Tilo 9, 10, 12 Reuvekamp, Silvia 33 Reyes, Alfonso 79, 83, 97, 121 Rivera, Luis M. 119 Robert, A. 319, 322, 333 Rodó, José Enrique 121 Rodríguez Demorizi, Emilio 118, 121 Röhrich, Lutz 25, 26, 27, 45, 47 Rojas González, M. 251, 254 Rosa, João Guimarães 5, 14, 33, 102, 185, 201, 210, 357 Rössner, Michael 52, 248 Roux, P. 52
391
Roy, Nathalie 308 Rubio, Darío 119 Ruffinelli, Jorge 100 Ruhe, Ernstpeter 241 Rulfo, Juan 97, 210 Sablé, Madame de 55 Sahagún, Bernardino de 7, 115, 116 Salazar Quintana, Luis C. 156, 158 Salomo 66 Sánchez, Francisco J. 57 Sánchez-Boudy, José 29, 129 Sanders, Hans 43, 55 Sankoh, Foday 291 Schalk, Fritz 17, 19 Schenda, Rudolf 50, 51, 52 Scherer, Jacques 34 Schlaffer, Heinz 56 Schmarje, Susanne 46, 47, 48, 49, 50 Schmeling, Manfred 9, 10 Schmidt-Welle, Friedhelm 200 Schneider, Ulrike 20 Schulz, Bastienne 336 Schüttpelz, Erhard 11 Schwartz, Jorge 84, 85, 89, 91, 92 Schwarz-Bart, André 258, 267, 271, 274, 279, 280, 284 Schwarz-Bart, Simone 5, 14, 23, 33, 35, 141, 257, 258, 259, 261, 264, 271, 274, 279, 280, 284, 302, 304, 313, 340, 356, 362 Schwieger Hiepko, Andrea 173, 174 Segalen, Victor 336 Seiler, Friedrich 46 Sekora, Karin 219 Shakespeare, William 121 Sicks, Kai M. 13 Sierra, Justo 78 Siles, Guillermo 2 Simonis, Ferdinand 152, 159 Simonis, Linda 11 Sissoko, Fily Dabo 150, 289 Snell, Bruno 296 Soares, Claudia C. 186, 200 Solar, Xul 85 Solte-Gresser, Christiane 9, 10 Sowinski, Bernhard 15 Spang, Kurt 35, 36, 93
392
Personenindex
Speckman Guerra, Elisa 52 Spicker, Friedemann 18 Stackelberg, Jürgen von 49 Steland, Dieter 279 Stenger, Jan 34 Stockhammer, Robert 293 Stockhorst, Stephanie 195 Strasser, Valentin 291 Strausfeld, Mechtild 153, 185 Strube, Werner 24 Stückrath, Jörn 21 Suerbaum, Ulrich 24 Szyska, Christian 24 Tacitus Publius Cornelius 57 Tauchnitz, Juliane 319 Taylor, Archer 22 Taylor, Charles 291 Teixeira, Marcos V. 153 Telchid, Sylviane 340 Terzaga, Andrés 85 Thomson, Georg 323, 325, 333 Tjibaou, Jean-Marie 109 Todorov, Tzvetan 291 Toledo, Alejandro 68, 70 Tomba, Serenah 9, 12, 16 Torabully, Khal 73, 74 Torri, Julio 5, 63, 78, 81, 82, 83, 191, 359 Totorov, Tzvetan 183 Toulet, Paul-Jean 85 Toumson, Roger 258 Tournier, Michel 316, 345 Trilles, Henri 125, 236 Trinidad Laris, José 119
Truchet, Jacques 59 Umezinwa, Willy A. 236 Unseld, Siegfried 201 Ueckmann, Natascha 73 Valdés, Juan de 120 Van Ackeren, Marcel 320, 323, 324, 326, 332 Vasconcelos, José 121 Vauvenargues, Luc de Clapiers de 61 Velasco Valdés, Miguel 126 Villegas Revueltas, Silvestre 52 Vinci, Leonardo da 88 Violet, Bernard 72, 73 Volpi, Franco 3, 8, 75, 77, 78 Voßkamp, Wilhelm 21 Vossler, Karl 60 Ware, Rudolph T. 293, 300 Warning, Rainer 351 Weinberg, Manfred 7 Westheim, Paul 97 Wichmann Bailey, Marianne 208 Wilberforce, William 240 Wilpert, Gero von 36, 164 Wolfson, Gabriel 83 Worringer, Wilhelm 97 Wunberg, Gotthard 10 Zaid, Gabriel 18, 19 Zaitzeff, Serge I. 79, 81, 83 Zarco, Francisco 52 Zilly, Berthold 90 Zymner, Rüdiger 23, 24, 293