Duden kreatives Schreiben: Schreiben auf Reisen: Wanderungen, kleine Fluchten und große Fahrten - Aufzeichnungen von unterwegs 3411903260, 9783411903269

Ein Schreibverführer neuen Typs: die literarische Schreibwerkstatt als Meisterkurs. Dieser Band verführt dazu, das Reise

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German Pages 160 Year 2012

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Table of Contents
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Vorwort
Inhalt
Einführung Reisen und Schreiben
Textprojekte und Schreibaufgaben I: Vorübungen – Schreiben im Revier
1. Der Spaziergang 1
2. Der Spaziergang 2
3. Der Spaziergang 3
4. Die Flanerie
5. Die Wanderung
6. Die Reise um mein Zimmer
Textprojekte und Schreibaufgaben II: Schreiben für sich selbst
7. Das Reisetagebuch
8. Das frei geführte Notizbuch
9. Das thematisch geführte Notizbuch
9.1 Themen auf Reisen
9.2 Dinge auf Reisen
9.3 Gastrosophisches Schreiben auf Reisen
9.4 Fragen auf Reisen
Textprojekte und Schreibaufgaben III: Schreiben für und an andere
10. Die Ansichtskarte
11. Der Reisebrief
12. Mediales Schreiben
12.1 Simsen, Mailen und Twittern
12.2 Schreiben in Facebook und Bloggen
Textprojekte und Schreibaufgaben IV: Reiseprojekte
13. Ethnologisches Schreiben
14. Reisen auf den Spuren eines anderen
15. Reisen zu zweit
16. Künstlerreisen als Reiseprojekte
Textprojekte und Schreibaufgaben V: Schreiben nach der Reise
17. Der Reisebericht
18. Die Reiseerzählung
19. Der Reiseroman
Nachbetrachtung:
Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen
Literaturverzeichnis
Zitierte Primärliteratur
Weitere Primärliteratur
Sekundärliteratur
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Duden kreatives Schreiben: Schreiben auf Reisen: Wanderungen, kleine Fluchten und große Fahrten - Aufzeichnungen von unterwegs
 3411903260, 9783411903269

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KREATIVES SCHREIBEN

Ein Schreibverführer neuen Typs: die literarische Schreibwerkstatt als Meisterkurs. Kein Lehrbuch mit Geboten und Regeln, sondern ein breites Spektrum kreativer Ansätze zum Ausprobieren! Dieser Band verführt dazu, das Reisen, die Sprache und das Schreiben zusammenzubringen. Es gilt, im Unterwegssein anzukommen.

Hanns-Josef Ortheil, Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim, ist Herausgeber der Reihe „Kreatives Schreiben“ und Autor der Bände „Schreiben dicht am Leben“ und „Schreiben auf Reisen“.

Schreiben auf Reisen.

Schreiben auf Reisen.

Schreiben auf Reisen. Wanderungen, kleine Fluchten und große Fahrten – Aufzeichnungen von unterwegs. von Hanns-Josef Ortheil

ISBN 978-3-411-75371-0 14,95 3 (D) • 15,40 3 (A)

Herausgeber der Reihe: Hanns-Josef Ortheil

Schreiben auf reisen_75371-0_5009513_00.indd 1

17.01.12 15:42

Duden Schreiben auf Reisen

Kreatives Schreiben

Duden Hanns-Josef Ortheil

Schreiben auf Reisen Wanderungen, kleine Fluchten und große Fahrten – Aufzeichnungen von unterwegs Herausgeber der Reihe Hanns-Josef Ortheil

Dudenverlag Mannheim • Zürich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Für die Inhalte der im Buch genannten Internetlinks, deren Verknüpfungen zu anderen Internetangeboten und Änderungen der Internetadressen kann der Verlag keine Verantwortung übernehmen und macht sich diese Inhalte nicht zu eigen. Ein Anspruch auf Nennung besteht nicht. Das Wort Duden ist für den Verlag Bibliographisches Institut GmbH als Marke geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, vorbehaltlich der Rechte, die sich aus den Schranken des UrhG ergeben, nicht gestattet.

© Duden 2012 D C B A Bibliographisches Institut GmbH, Dudenstraße 6, 68167 Mannheim Lektorat Imma Klemm Umschlaggestaltung Büroecco, Augsburg Umschlagillustration Lucia Götz Autorenfoto Umschlag © Peter von Felbert Satz Urban Satzkonzept, Düsseldorf Druck und Bindung CPI books GmbH, Birkstraße 10, 25917 Leck Printed in Germany ISBN 978-3-411-75371-0 Auch als E-Book erhältlich unter: ISBN 978-3-411-90326-9 www.duden.de

Vorwort

Georg erinnert sich noch genau an seine erste Reise. Damals war er fünf Jahre alt, und er befand sich zusammen mit seiner Mutter auf dem Wochenmarkt. Plötzlich aber war die Mutter verschwunden. Erschrocken hatte Georg den ganzen Markt abgesucht und war schließlich in eine Seitenstraße gelaufen, wo er jede Orientierung verloren hatte. Kurz darauf war er dann sogar in Gegenden geraten, in denen er noch nie gewesen war. Da wusste er, wohin es ihn verschlagen hatte: Er war in der Fremde und damit in einem Land, in dem es keine Menschen gab, die ihn kannten oder mit ihm reden wollten. Als er sechzehn war, ist Georg dann mit dem Fahrrad so richtig allein auf Reisen gegangen. Auch während dieser Tour durch Frankreich hatte er manchmal Angst gehabt, wie der kleine Bub, der auf dem Wochenmarkt die Orientierung verloren hatte. Diese Angst aber hatte einfach zum Abenteuer der Reise gehört. Das Abenteuerliche an der Reise war nämlich der anhaltende Ausnahmezustand, in den man mit dem Aufbruch geriet und der 1 so ganz anders war als der vertraute heimische Alltag. Auf Reisen war alles fremd und neu, ja, man kam sich vor wie ein Kind, das die einfachsten Gesten und Verhaltensformen erst wieder lernen musste. Während seiner Frankreichfahrt hatte Georg zum ersten Mal in seinem Leben Tagebuch geführt. Er hatte nichts Besonderes notiert, sondern einfach nur Tag für Tag aufgeschrieben, wohin 1 Vgl. Georg

Simmel: Das Abenteuer und andere Essays. Hrsg. von Christian Schärf. Frankfurt/M. 2010.

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Vorwort

er geradelt war und wo im Einzelnen er sich aufgehalten hatte. Nach seiner Reise hatte er das kleine Reisetagebuch zur Seite gelegt und nicht mehr hineingeschaut. Erst viele Jahre später war ihm das Büchlein wieder in die Finger geraten, und er hatte neugierig in ihm gelesen. Die Lektüre hatte ihn jedoch maßlos enttäuscht. Nichts fand sich nämlich darin vom Abenteuer der Reise, ja, rein gar nichts deutete hin auf einen Versuch, die Fremde als die sonderbare Welt, die sie gewesen war, genauer zu verstehen. Damals hatte Georg begonnen, darüber nachzudenken, wie man auf Reisen wohl schreiben müsste. Anders jedenfalls, als er es während der Frankreichreise getan hatte, genauer, detaillierter und so, dass man der Fremde auf den Grund ging. Anscheinend war »das Schreiben auf Reisen« ein ernst zu nehmendes literarisches Genre, dessen Handwerk wahrscheinlich vor allem von den großen Reiseschriftstellern zu erlernen war. Ein handwerkliches Buch dieser Art hat sich Georg immer gewünscht, aber er ist lange nicht fündig geworden. Ein solches Buch liegt nun hier vor, ein Buch, in dem die große Reiseliteratur daraufhin befragt wird, was sie Schreibanfängern in diesem Metier zeigen und beibringen kann. Dazu gehören zum einen bestimmte Methoden der Aufzeichnung, dazu gehört aber auch ein bestimmter Blick, der die Fremde nicht nur aus der Distanz betrachtet, sondern immer tiefer in sie eindringt. Gelingt das, verliert die Fremde ihren bedrohlichen, Angst erzeugenden Charakter und rückt immer näher an uns heran. Manchmal glückt es dann sogar, sich in ihr zu verlieren und ihr nach einem längeren Aufenthalt wieder zu entkommen: verwandelt, neu geboren, als ein anderer. Hanns-Josef Ortheil, im Frühjahr 2012

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Inhalt Vorwort 5 Inhalt 7 Einführung Reisen und Schreiben  9 Textprojekte und Schreibaufgaben I: Vorübungen – Schreiben im Revier   1. Der Spaziergang 1  12   2. Der Spaziergang 2  17   3. Der Spaziergang 3  21   4. Die Flanerie  26   5. Die Wanderung  33   6. Die Reise um mein Zimmer  39 Textprojekte und Schreibaufgaben II: Schreiben für sich selbst   7. Das Reisetagebuch  43   8. Das frei geführte Notizbuch  51   9. Das thematisch geführte Notizbuch  58 9.1 Themen auf Reisen  58 9.2 Dinge auf Reisen  63 9.3 Gastrosophisches Schreiben auf Reisen  68 9.4 Fragen auf Reisen  73 Textprojekte und Schreibaufgaben III: Schreiben für und an andere 10. Die Ansichtskarte  78 11. Der Reisebrief  83 12. Mediales Schreiben  89 7

Inhalt

12.1 Simsen, Mailen und Twittern  89 12.2 Schreiben in Facebook und Bloggen  98 Textprojekte und Schreibaufgaben IV: Reiseprojekte 13. Ethnologisches Schreiben  104 14. Reisen auf den Spuren eines anderen  110 15. Reisen zu zweit  116 16. Künstlerreisen als Reiseprojekte 123 Textprojekte und Schreibaufgaben V: Schreiben nach der Reise 17. Der Reisebericht  128 18. Die Reiseerzählung  132 19. Der Reiseroman  138 Nachbetrachtung: Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen  143 Literaturverzeichnis Zitierte Primärliteratur  148 Weitere Primärliteratur  151 Sekundärliteratur 155

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Einführung: Reisen und Schreiben Kaum eine andere kulturelle Praxis hat so viel zur Ausbildung des Schreibens beigetragen wie das Reisen. Wer unterwegs war, versicherte sich nämlich seines Standorts und seiner Bewegungen in der Fremde oft dadurch, dass er notierte: Von wo nach wo reise ich ? Wem begegne ich unterwegs ? Was fällt mir an Besonderem auf ? So war das Reisen von Anfang an mit einem fortlaufenden Schreiben verbunden, das die Orientierung in der Fremde fixierte. Schreiben auf Reisen war dadurch ein kontrolliertes Beobachten, Sammeln, Recherchieren und Dokumentieren. Zum einen wurde so die Distanz zur Fremde abgebaut, zum anderen aber auch dafür gesorgt, dass die Reise nicht nur ein beliebiges Abenteuer, sondern eben auch gestaltete Erfahrung wurde. Wer mit vielen Aufzeichnungen wieder nach Hause zurückkam, zeigte in diesem Sinne eine Ernte. Er war nicht wie ein bloßer Abenteurer oder Vagabund unterwegs gewesen, sondern hatte die Reise als eine Lebenslehre verstanden und sich selbst als einen wissbegierigen Schüler, dessen Forschungseifer ein reichhaltiges Material hervorgebracht hatte. Nach der Rückkehr konnte es den Freunden zu Hause vorgelegt werden. So konnten sie an der Reise teilnehmen und erhielten als Zuhörer oder Leser eines Berichts oder einer Erzählung die Möglichkeit, über die Begrenztheit des eigenen Horizonts hinausschauen zu können. Die ersten antiken Reisetexte hatten noch die Form von knappen Reisebeschreibungen, in denen oft kaum mehr festgehalten wurde als Ortsnamen, geografische Besonderheiten oder 9

Einführung

Entfernungen. Der nächste Schritt bestand dann darin, sich auf die Fremde derart einzulassen, dass der fremde Naturraum und der Kulturraum der Einheimischen erforscht, beschrieben und mit den Besonderheiten der eigenen Herkunftsräume verglichen wurden. Ein solches Schreiben führte zur Geburtsstunde des ethnologischen Blicks, der die Fremde als ein in sich geschlossenes System von kulturellen Ritualen verstand, das – durch engen Kontakt mit den Einheimischen – befragt und untersucht werden konnte. Die seit der Spätantike entstehende Pilgerliteratur veränderte das Schreiben auf Reisen dann fundamental. Zu pilgern bedeutete nämlich erheblich mehr, als mit forschender Neugierde in der Fremde unterwegs zu sein. Wer pilgerte, reiste vielmehr in spirituellem Auftrag auf ein bestimmtes Ziel ( Jerusalem, später Rom, noch später Santiago de Compostela) zu. Die einzelnen Orte auf diesem Weg waren bedeutende Stationen, an denen man betend und meditierend zur Ruhe kam und sich gleichzeitig intensiv auf das Ziel vorbereitete. Eine solche Bewegung von Station zu Station mit dem Blick auf ein großes Ziel führte zu einer völlig neuen Form von Aufzeichnungen. Die reisenden Pilger reagierten nämlich nicht mehr auf die pure Attraktion der Fremde, sondern beschrieben, wie und wodurch sie die Fremde als christlichen, spirituellen Raum erkannt und wie sie sich in ihm bewegt hatten. In den Vordergrund ihrer Berichte rückte so die Praxis des Pilgerns, konzentriert auf das Beten, Bekennen, Bereuen. So wurde die Selbstbefragung zu einem zentralen Thema. Zur Orientierungshilfe wurden dabei das Leben Jesu und das Leben der Apostel und Heiligen, deren Lebensbeispiele und Schriften den Pilgererfahrungen vorausgingen. Das Pilgern festzuhalten bedeutete in diesem Sinne: die eigene spirituelle Erfahrung in Verbindung zu den Erfahrungen dieser Vorbilder zu bringen. So entstand ein vergleichendes und auf kanonische Vorläufertexte 10

Reisen und Schreiben

Bezug nehmendes Schreiben, das schließlich zu einer Verinnerlichung des Reisens und zu seiner auch biografischen Dokumentation führte. Als Grundmodell blieben die Forschungs- und Pilgerreisen bis in unsere Gegenwart erhalten, auch wenn die meisten Pilger heutzutage weniger in streng christlichem Sinne, sondern eher als Bildungsreisende auf den Spuren anderer Bildungsreisender (wie zum Beispiel Goethe in Rom oder Rilke in Venedig) unterwegs sind. Das dritte zeitlose Modell des Reisens schließlich hat sich aus der Verinnerlichung der Reise durch das Pilgern entwickelt. Dabei handelt es sich um eine Reiseform, die seit dem achtzehnten Jahrhundert als »sentimental journey« kultiviert wurde. Auf einer solchen Reise betrachtete der Reisende die Fremde als einen großen Spiegel seiner Emotionen und Empfindungen. So interessierte der fremde Raum nicht an und für sich, sondern vor allem in dem Maße, in dem er starke Gefühle auslöste. Das Schreiben auf Reisen wurde dadurch zu einer Beschreibung und Darstellung intensiver Erlebnismomente, die im Kulissenraum der Fremde sorgfältig inszeniert wurden. Ein Reflex solcher Inszenierungen ist noch die Ansichtskarte, mit der die späteren Touristen ihrer Pflicht, den Zuhausegebliebenen zu berichten, nachzukommen versuchten. Die touristische Reise der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aber ist spracharm. Sie kommt mit wenigen standardisierten Aufzeichnungen zu Ort, Wetter und Wohlbefinden aus und hat mit wirklichen Projekten eines Schreibens auf Reisen nichts mehr zu tun. Solche Projekte nämlich verstehen das Reisen immer als eine kulturelle Praxis, die bis in die kleinsten Verästelungen untersucht, beschrieben und dokumentiert wird. So wird die Reise zu einer Schreibschule eigener Art, die Themen und Aufgaben vorgibt, um die Fremde und sich selbst besser zu verstehen. 11

Textprojekte und Schreibaufgaben I: Vorübungen – Schreiben im Revier 1. Der Spaziergang 1 Mitte Mai, und tagelange Regenfälle, unwirtliche Temperaturen und schwarzgraues Geschmier am Himmel – wohin also ? Zu einem der Regenwassersammler, zu einem Fluss.2 Beginnen wir mit einigen Vorübungen, mit deren Hilfe wir uns auf unsere Reisen vorbereiten. Solche Vorübungen haben den großen Vorteil, dass wir sie auch zu Hause, in einem vertrauten Terrain, angehen und dann später auf Reisen weiterentwickeln können. In allen Fällen handelt es sich dabei um überschaubare, eher kleine Projekte, die einen bestimmten Raumausschnitt in einer bestimmten Manier erkunden. Die auf den ersten Blick einfachste und geläufigste Form einer solchen Raumerkundung ist der Spaziergang. Spazieren gehen wir immer wieder, daher glauben wir wohl auch zu wissen, was ein Spaziergang ist und wie er verläuft. Anders stellt sich das Projekt aber dar, wenn es um die schriftliche Fixierung eines einfachen Spaziergangs geht. Haben wir überhaupt je einmal Texte gelesen, in denen Spaziergänge dokumentiert wurden oder in 2 Franz

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Hohler: Spaziergänge, S. 34.

Der Spaziergang 1

denen genauer von Spaziergängen erzählt wurde ?3 Und wenn nicht – wie könnten denn solche Texte aussehen ? Der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler hat vor Kurzem ein Buch veröffentlicht, in dem er genau so etwas versucht hat. In einer Vorbemerkung zu seinen Spaziergang-Texten schreibt er, dass er am 12. März 2010 beschlossen habe, ein Jahr lang jede Woche einen Spaziergang zu machen. Sein Spaziergang-Buch enthält also zweiundfünfzig Spaziergänge, und von jedem dieser Spaziergänge wird auf höchstens drei Seiten berichtet oder erzählt. Wie aber sehen solche Berichte oder Erzählungen im Einzelnen aus ? Und auf welche Weise versuchen sie, sich am Verlauf und der spezifischen Form eines Spaziergangs zu orientieren ? Hohlers Spaziergänge sind Gehwege von nicht allzu ausgedehnter Dauer. Zu Beginn eines jeden Gangs wird der Aufbruchsort markiert: Wo genau gehe ich los und wohin wende ich mich als Erstes ? Hohler widmet seine ganze Aufmerksamkeit dann den Personen, Dingen und Erscheinungen am Wegrand. Sie werden kurz fixiert und so aneinandergereiht, dass der gleichmäßige Modus des Gehens als Folge von einzelnen, durch das Gehen miteinander verbundenen Beobachtungen gut erkennbar bleibt. Etwa so: Ich befinde mich zunächst an diesem oder jenem Ort, ich wende mich dann dorthin, ich gehe diesen oder jenen Weg entlang, rechts erkenne ich dieses, links jenes, der Weg führt hin zu folgendem anderen Ort, den ich rechts (oder links) umrunde, überquere, durchlaufe, dann erreiche ich den nächsten Ort, dort stoße ich auf folgende Gegenstände oder Erscheinungen, ich lasse sie rechts liegen und begegne zwei Personen, die sich gerade über dieses oder jenes unterhalten … 3 Vgl.:

Auf buntbewegten Gassen. Literarische Spaziergänge von Schiller bis Kafka. Hrsg. von Stefan Geyer. Frankfurt/M. 2011.

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

Das Gehen verläuft also möglichst unangestrengt, locker und vor allem kontinuierlich. Hohler will dabei nicht zu tieferen Wahrheiten oder Einsichten vordringen, er will sich vielmehr allmählich, Schritt für Schritt, vom sonstigen Alltag lösen und sich für die Dauer des Spaziergangs im wörtlichen Sinn »entspannen«. Jedem Detail, das ihm in seiner Umgebung begegnet, wendet er sich mit derselben vorurteilslosen Aufmerksamkeit zu und registriert es dann mit freundlicher Zuwendung. Die Raumerkundung macht dadurch auf den Leser den Eindruck einer Wahrnehmungsschule: Was gibt es nicht alles zu sehen, und was würde ich nicht alles übersehen haben, wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, davon detailliert zu berichten oder zu erzählen ! Und genau das ist denn auch eine der wichtigsten Aufgaben solcher Texte: Dass ich als Spaziergänger aufmerksam werde auf das, was mich umgibt. Dass ich es für einen Moment eines genauen Blicks würdige und festhalte. Und dass ich mir so im Einzelnen bewusst mache, an welchen Orten und in welchen Räumen ich mich bewegt habe und in welche Raumatmosphären ich dadurch eingetaucht bin. Auf solche stark atmosphärischen Momente laufen die Raumbeschreibungen Hohlers sehr häufig zu: Das Aprikosenspalier am Nachbarhaus blüht verschwenderisch, eine Amsel ist zu hören, und aus jedem zweiten Garten senden Forsythien ihre gelben Lichtstrahlen aus. Die Zeichen stehen auf Frühling und auf Feiertag, schon leere Parkplätze haben etwas 4 Besinnliches. Der Spaziergänger Hohler bemerkt die üppigen Blüten am Nachbarhaus, er hört eine einzelne Amsel und erkennt die gel4 Franz

14

Hohler: Spaziergänge, S. 16.

Der Spaziergang 1

ben Strahlen der überall blühenden Forsythiensträucher. Diese drei Wahrnehmungen verdichten sich zu einem Vorfrühlingseindruck und einem Bild. Atmosphärisch wirkt dieses Ensemble wie ein trügerischer Stillstand und wie ein Moment des Übergangs, konkret aber erscheint es als eine gespannte Ruhe- und Erwartungshaltung von stillen Plätzen, die noch vor sich hindämmern, bald aber stark belebt und befahren sein werden. So verwandeln sich die genauen, langsamen Beobachtungen in knappe Andeutungen atmosphärischer Intensitäten, die durch Jahreszeit, Wetter, Farben oder Gerüche geprägt sein können. Auf diese Weise nimmt der Spaziergänger Hohler Witterung auf und durchstreift ein Revier: auf der Suche nach dessen unterschiedlichen Stimmungscharakteren und -gestalten.

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

Schreibaufgabe n Gehen Sie von Ihrer Wohnung aus eine oder zwei Stunden in der näheren Umgebung spazieren. Halten Sie zunächst den Aufbruchsort fest und notieren Sie während des Spaziergangs dann einige starke Wahrnehmungen oder Beobachtungen zu beiden Seiten des Weges in kontinuierlicher Folge. n Erkunden Sie so ein bestimmtes Revier Ihrer Umgebung mit dem besonderen Blick darauf, welche Raumelemente (Wege, Kreuzungen, Straßen, Plätze, Unterführungen etc.) dieses Revier strukturieren und wie genau Sie von diesen Raumelementen geführt und in Ihrer Wahrnehmung stimuliert werden. n Komponieren Sie Ihre Notate einige Stunden nach Ihrem Spaziergang zu einem Bericht oder einer Erzählung und versuchen Sie, einige der markanteren Eindrücke auch in Form von sprachlichen Bildern zu fixieren. Reihen Sie diese Bilder aneinander und machen Sie dann und wann deutlich, welche Raumatmosphären die Bilder in ihrer Folge hervorgebracht haben.

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2. Der Spaziergang 2 Geben wir uns also ganz der Freude hin, mit unserer Seele zu plaudern: sie ist das Einzige, was die Menschen uns nicht rauben können.5 Franz Hohler haben wir als einen Spaziergänger kennengelernt, der mit größter Aufmerksamkeit die Personen, Dinge und Erscheinungen am Wegrand wahrnimmt. Er notiert sie und fügt diese Wahrnehmungen so zu einer Folge zusammen, dass der Leser einen recht genauen Eindruck vom Verlauf seines Spaziergangs erhält. Der Bericht, der dann letztlich vorliegt, dokumentiert diesen Gang in seinen Einzelheiten, ohne dass irgendwo länger bei einer dieser Einzelheiten verweilt wird. Ganz anders als Franz Hohler hat der französische Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) das Spazierengehen verstanden. Mit den kurz vor seinem Tod entstandenen »Träumereien eines einsamen Spaziergängers« begründete er eine später von den Romantikern aufgegriffene und verfeinerte Methode der Raumerkundung. Sie widmet den Erscheinungen am Wegrand keineswegs die größte Aufmerksamkeit, sondern behandelt diese Erscheinungen lediglich als einen Anlass oder einen Impuls zu sich dann selbstständig fortsetzenden Träumereien und Überlegungen. Rousseaus Spaziergänger-Texte sind also interessant vor allem für jene Schreiber, die in ihren Aufzeichnungen nicht den Verlauf eines Ganges, sondern die Wirkungen, die er im Innern hinterlässt, darstellen wollen. Rousseau selbst war zwar durchaus auch ein leidenschaftlicher Spaziergänger und hat viel Zeit seines Lebens spazieren gehend verbracht. Solche Spaziergänge haben ihn aber vor allem 5 Jean-Jacques

Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 14.

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

dazu animiert, über sein eigenes Leben, besondere Eigentümlichkeiten seiner Biografie oder seines Erlebens nachzudenken.6 Als Leser solcher »Träumereien« bekommt man denn auch von den Umgebungen dieser Spaziergänge meist nur Schemenhaftes oder Angedeutetes mit. Rousseau studiert nicht, was sich ihm präsentiert, er widmet sich – als emphatischer Botaniker – höchstens der Untersuchung von Pflanzen. Aber auch solche botanischen Studien verbleiben nicht lange bei den Einzelheiten, sondern zielen immer wieder auf »das Ganze«. Was aber ist dieses Ganze und wie gerät es in den Blick ? Am 24. Oktober 1776 ist Rousseau in den Außenbezirken von Paris unterwegs. Er geht durch Weinberge und Wiesen, kleine Fußpfade entlang, und er erkennt am Wegrand einige seltene Pflanzen aus der Familie der Korbblütler. Er untersucht und bestimmt diese Pflanzen, wendet sich dann aber abrupt vom Studium dieser Einzelheiten ab und überlässt sich »dem Eindruck des Ganzen«. Dieser Eindruck wird dann skizziert: Seit einigen Tagen war die Weinlese beendet. Die Spaziergänger aus der Stadt kamen schon nicht mehr; selbst die Bauern verließen bis zur Winterarbeit die Felder. Die Fluren – zwar noch grün und einladend, aber zum Teil bereits entlaubt und fast menschenleer – zeigten überall das Bild der Einsamkeit und des nahen Winters. Der Anblick bot eine Mischung aus schönen und traurigen Eindrücken, die meinem Alter und meinem Schicksal so sehr entsprach, 7 dass ich ihn geradezu auf mich beziehen musste.

6 Claudia Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau,

Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. Tübingen 1999. Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 22.

7 Jean-Jacques

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Der Spaziergang 2

Nach der Betrachtung der pflanzlichen Details tritt der Spaziergänger Rousseau gleichsam einen Schritt zurück und richtet den Blick auf ein kleines Panorama der Natur: die leeren Wege, die Felder, die Fluren insgesamt – der Blick öffnet den Naturraum der Umgebung und betrachtet ihn als ein großes Bild. Dieses Bild des »Ganzen« wird dann als eine Art von Seelenlandschaft verstanden, als »Bild der Einsamkeit«. Und dieser psychische Eindruck wird im nächsten Schritt auf das eigene Leben und auf ein bestimmtes Moment der eigenen Biografie, das Alter, bezogen. Auf diese Weise werden Details am Wegrand langsam ausgeblendet zugunsten geschlossener, kleiner Naturpanoramen. Beinahe wie wenig später ein romantischer Künstler wie Caspar David Friedrich in der Malerei verwandelt auch Rousseau durch ein komprimierendes und auswählendes Schauen eine vorgegebene Landschaft in ein Seelengemälde, in dem die einzelnen Dinge den Charakter von psychischen Zeichen haben und beim Betrachter ein bestimmtes, dominantes Empfinden hervorrufen. Ein solches Empfinden gibt dann ein Leitmotiv für die weiteren Überlegungen und das frei fantasierende Nachdenken vor. Ein solches Nachdenken erkundet die eigenen Innenräume: Szenen der Vergangenheit oder zentrale Begriffe, die das eigene Erleben genauer zu fassen versuchen. Die »Träumereien« kultivieren in dieser Weise Rituale der Einsamkeit und des Rückzugs nach innen und betrachten diesen Rückzug als den Weg hin zum eigentlichen philosophischen 8 Glück. Vorformen dieses Glücks werden während der Spaziergänge in geradezu enthusiastischer Manier erfahren. Der Spaziergänger Rousseau fühlt sich dann frei, nur auf sich selbst be8 Heinrich

Meier: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries in zwei Büchern. München 2011.

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

zogen, und die meist landschaftliche Umgebung wirkt in solchen Momenten wie ein gewaltiger emotionaler Verstärker, der den Selbstbezug steigert und den ekstatisch erlebten Selbstgenuss einleitet: Die Quelle des wahren Glücks, so lernte ich durch eigene Erfahrung, liegt in uns selber; und keine Macht der Welt vermag es, jemanden elend zu machen, der glücklich sein will und weiß, wie er es wird … So erlebte ich auf manchen meiner einsamen Wanderungen Verzückungen, ja Ekstasen …9

Schreibaufgabe n Machen Sie einen Spaziergang durch ein eher weites, offenes Landschaftsgelände und suchen Sie einen Punkt, von dem aus das Gelände gut zu überblicken ist. n Beschreiben Sie, wie dieses Gelände auf Sie wirkt und welche Empfindungen es in Ihnen auslöst. n Erläutern Sie weiter, inwieweit Sie für diese Empfindungen empfänglich sind und zu welchen Zeitabschnitten sie in Ihrer Biografie besonders aktiv waren. n Fragen Sie sich zum Abschluss, welche Ihnen bekannte Musik zu jenen Emotionen passt, die Sie gerade gehabt haben. Vertiefen Sie auf diesem Weg die Beschreibung Ihrer Emotionen.

9 Jean-Jacques

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Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 20.

3. Der Spaziergang 3 Ganz Manhattan war früher so gewesen: ein magisches Land. Man nannte es die Stadt der Wunder, und so war es.10 Man könnte Franz Hohler als einen typisch extrovertierten und Jean-Jacques Rousseau als einen typisch introvertierten Spaziergänger bezeichnen. Die besonderen Formen ihrer Raumerkundung hinterlassen in ihren Texten deutliche Spuren. Im Falle Hohlers entsteht ein kurzer Film, der den Verlauf des Spaziergangs dokumentiert, im Falle Rousseaus entsteht ein Bild, das einen zentralen psychischen Eindruck des Spaziergangs in einer Seelenlandschaft spiegelt. Eine literaturwissenschaftliche Studie zur Figur des Spaziergängers hat noch viele weitere Typen entdeckt, so zum Beispiel den schweifenden, getriebenen, beschaulichen oder peripateti11 schen Spaziergänger. Von einer solchen Studie kann man sich als Schreiber anregen lassen, die unterschiedlichsten Formen des Spaziergangs zu erproben und dabei zu überlegen, wie man durch die jeweilige Form Außenwelt einfangen und sich aneignen kann. Eine besonders intensive Form der Raumaneignung könnte man »Feldforschung« nennen.12 Dabei geht es vor allem darum, sich auf die Außenwelt stärker als nur betrachtend einzulassen. Der Spaziergänger als Feldforscher mischt sich in die Umgebung ein, er geht offensiv auf Menschen und Dinge zu, er befragt sie, unterhält sich mit ihnen, er nimmt Anteil an ihrem Leben. Ein 10 Nik

Cohn: Das Herz der Welt, S. 37. von der Weppen: Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der die Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995. 12 Ferdinand Sutterlüty/Peter Imbusch (Hrsg.): Abenteuer Feldforschung. Soziologen erzählen. Frankfurt/M. 2008. 11 Wolfgang

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

solcher Spaziergänger ist der 1946 in London geborene Schriftsteller Nik Cohn, der ein ganzes Buch der Erforschung Manhattans gewidmet hat. Charakteristisch für seine Spaziergänge ist bereits, dass er häufig nicht allein, sondern in Begleitung unterwegs ist. Manchmal hat er eine Art Führer dabei, einen jungen Taxifahrer, der tagsüber Taxi fährt, nachts Schlagzeug spielt und, wie es heißt, in Straßen verliebt ist.13 Wie die beiden agieren, wird schon an den ersten Szenen des Buches sehr deutlich. Am Abend eines Tages, an dem sie die Straßen Manhattans im Taxi vorsondiert haben und rastlos durchfahren sind, sitzen sie in einer Bar namens Killarney Rose. An ihrem Thekenende sitzt ein bereits älterer, leicht betrunkener Mann, mit dem sie sofort Kontakt aufnehmen. Sie erfahren seinen Namen und seinen früheren Beruf, er hat als Bote in der Wall Street gearbeitet. Wie war das, als Bote zu arbeiten ? Und wie ging es früher in dieser Bar zu, die anscheinend die Stammkneipe des älteren Mannes ist ? Cohns Interesse gilt jedem Detail, es gilt aber vor allem den Lebensgeschichten der Menschen, die ihm begegnen und die er offen und neugierig begleitet. Kaum ist er mit ihnen für eine Weile zusammen, erzählen sie ausführlich von ihrem Leben und von sich selbst. Und jedes Mal schafft es Nik Cohn, diese Erzählungen durch seine Fragen so zu steuern, dass sie sich vor allem auf den umgebenden Raum beziehen: Was war hier einmal los ? Was ist heute hier los ? Welche Geschichten kreuzen sich genau an diesem einen, unverwechselbaren Ort ? Wichtig ist auch, dass Cohn keine bestimmten Wege für seine Spaziergänge vorsieht oder auswählt. Die Wege, die er geht, werden vielmehr von seinen Gesprächspartnern bestimmt. Indem er ihnen folgt, zeichnet Cohn gleichsam die Muster der 13 Nik

22

Cohn: Das Herz der Welt, S. 12.

Der Spaziergang 3

vielen Bewegungen nach, die sich in einem bestimmten Raum ereignen. An einem Morgen trifft er auf die »Freiheits-Diebe«, eine Gruppe von Jungs, die von Diebstählen und kleinen Betrügereien leben und in immer anderen Formationen durch die Straßen ziehen. Cohn folgt Stoney, ihrem Anführer. Er beschreibt sein Aussehen, entlockt ihm seine Lebensphilosophie und erfährt dann viel von seiner Vorgeschichte. Schließlich landen die beiden vor einer Bar, und siehe da – es ist das Killarney Rose, das Cohn ja bereits kennt und einen Abend vorher besucht hat. Jetzt aber ist Morgen, und die Szenerie sieht ganz anders aus: Bei Tageslicht war die Bar wie verwandelt: Es herrschte ein buntes Treiben, und an der Theke drängten sich Büroangestellte, junge, aufstrebende Broker und Finanzmakler, die gerade eine Pause einlegten. Stoney trank einen Grand Marnier und dazu ein 7-Up. Er sah mich ernst an. »Was meinst du ?« fragte er mich. »Soll ich Prediger werden ?«14 Stoney erzählt nun Teile seiner Familiengeschichte und landet bei seiner Tante Clara, die einen Block vom Broadway entfernt lebt. In ihrem Einzimmerappartment hat Stoney eine Weile gewohnt und ist dort den Bekannten und Freunden der Tante begegnet, deren Wege und Geschichten er als Nächstes nachzeichnet. Schließlich erzählt er von seinem Metier, dem Diebstahl, und davon, wer ihm seine Künste und eine Diebstahl-Philosophie beigebracht hat, es war Aaron, ein chassidischer Jude aus Mount Vernon. Aarons Geschichte und seine Wege durch Manhattan sind als Nächstes dran, und von ihnen kehrt man langsam wieder an die Theke des Killarney Rose zurück: 14 Nik

Cohn: Das Herz der Welt, S. 23.

23

Textprojekte und Schreibaufgaben I

Auf der Theke des Killarney Rose standen fünf leere Grand-Marnier-Gläser und daneben fünf 7-Ups, und Stoney bestellte seine sechste Runde. Er prostete mir zu, und sein Gesicht war so ausdruckslos wie die Rückseite des Mondes. Bevor er trank, gestattete er sich ein kleines, verkniffenes Lächeln. »Na und ?« fragte er. »Hab ich dir jetzt dein verdammtes Herz gebrochen ?«15 Der Aufbau einer solchen Szene zeigt, wie Cohn bei seiner Feldforschung vorgeht. Er schließt sich einer oder mehreren Personen an, lässt sich mit ihnen treiben, beobachtet, mit welchen Räumen und Umgebungen sie Kontakt aufnehmen, erkundet diese Kontakte, lässt sich mit seinen Begleitern irgendwo nieder, fragt weiter nach und erfährt Geschichten über Geschichten. Die Wege, die sich hierbei ergeben, werden durch einen Wechsel der Schreibweise lebendig. Cohn arbeitet mit kurzen Beschreibungen und mit knappen, rasch geführten Dialogen. Wenn eine Person länger zu Wort kommen soll, übernimmt er die Rolle des Erzählers und erzählt packend und zusammenfassend, was er von dieser Person erfahren hat. So übernimmt er die Rolle eines Moderators, der die verschiedensten Stimmen und Schicksale zusammenführt und durch sein Nachfragen und Zuhören Verbindungen zwischen ihren sehr unterschiedlichen Geschichten herstellt. Dabei verliert er aber nie das eigentliche Thema seiner Erkundungen, den Großraum Manhattan mit all den Orten, von denen die Menschen so magisch angezogen werden, aus dem Blick. Die Geschichte dieser Orte erscheint in Cohns Erzählung eingebunden in die Geschichten der Menschen, sodass man als Leser gut erkennt, welch unterschiedlichen Gebrauch die verschiedenen Menschen von ein und demselben Raum machen. 15 Nik

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Cohn: Das Herz der Welt, S. 30.

Der Spaziergang 3

Im Grunde zeigt Cohn, wie man eine Großgeschichte Manhattans schreiben müsste: als Geschichte jener Wohn- und Aufenthaltsorte, an denen sich die Menschen begegnen, und im Blick auf die unterschiedlichen Perspektiven, mit denen die Menschen ihre Räume betrachten und von ihnen erzählen.

Schreibaufgabe n Markieren Sie auf einer Karte ein bestimmtes städtisches oder dörfliches Revier, von dem Sie wissen, dass es durch seine Geschichten einen bestimmten Ruf und Namen hat. Machen Sie einige Spaziergänge durch dieses Revier und beobachten Sie, welche Menschen Ihnen an welchen Orten begegnen. n Versuchen Sie, mit diesen Menschen in Kontakt zu kommen, unterhalten Sie sich mit ihnen und erkundigen Sie sich nach bestimmten Eigenarten oder Besonderheiten des Reviers, in dem Sie sich befinden. Intensivieren Sie diese Gespräche durch Nachfragen nach Lebensumständen oder Details von Lebensgeschichten. n Machen Sie sich nach Ihren Wegen und Gesprächen kurze, prägnante und detailreiche Notizen. n Schreiben Sie aufgrund dieser Notizen eine fortlaufende Erzählung in der Manier von Nik Cohn. Die Lektüre seines Buches gibt Ihnen viele weitere Hinweise. 25

4. Die Flanerie Der Raum blinzelt den Flaneur an: Nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben ? 16 Auch die Flanerie ist ein Spaziergang, aber ein Spaziergang ganz besonderer Art. Entstanden ist sie im großstädtischen Paris des neunzehnten Jahrhunderts,17 und zwar im Paris jener glasüberdachten Passagen, die große Gebäudekomplexe durchbrachen und den Flaneur wettergeschützt von einem breiten Boulevard zum andern schlendern ließen. Anders als der normale Spaziergänger folgt der Flaneur dabei aber nicht einem bestimmten Weg oder Plan, den er im Auge behält, sondern lässt sich im Strom der Menge treiben. Dass diese sich meist ungeordnet, zufällig und spontan bewegt, ist ihm gerade recht. Auch ihn zieht es nämlich bald hierhin, bald dorthin, mal betrachtet er eine seltene oder besonders auffällige Ware im Schaufenster eines Ladens, mal verweilt er an einer Straßenecke, um in Ruhe die Bewegungen der Menge zu studieren. Manchmal aber bewegt auch er sich in dieser Menge mit, bleibt dabei jedoch immer der geheime Beobachter auf der Spurensuche nach interessanten oder merkwürdigen Details. In diesem Sinn ist der Flaneur ein stiller Sammler, süchtig nach dem besonderen, einzigartigen Bild, neugierig auf das seltene und von ihm zuerst oder gar allein bemerkte Ereignis. Durch genaue Beobachtung und inszenierte Distanz entzieht sich der Flaneur den Bewegungen der Masse. Auch nach außen hin macht er manchmal deutlich, dass er anders als die meisten, 16 Walter

Benjamin: Gesammelte Schriften. Band V.1. Das Passagen-Werk. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1982, S. 527. 17 Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin 1989.

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Die Flanerie

die an ihm vorbeieilen oder ihm entgegenströmen, kein eigentliches Ziel vor Augen und nichts Bestimmtes vorhat. Demonstrativ langsam bewegt er sich dann als Einzelgänger im Strom, bleibt stehen, beobachtet eine Straßenszene, schaut versonnen auf ein Plakat, geht wieder ein paar Schritte, mustert die Kleidung einer Passantin, blickt ihr lange hinterher und lässt sich wieder in der Menge treiben. Anders als dem Feldforscher Nik Cohn ist ihm nichts mehr zuwider, als in ein Gespräch oder eine Unterhaltung verwickelt zu werden. So gleitet er durch die Menschenströme und lässt sich von all ihrer Unruhe und ihrer Erregtheit zum Träumen, Fantasieren oder auch Nachdenken animieren. Sein Gehen folgt dabei ausschließlich plötzlich auftauchenden Reizen und Impulsen: Irgendein farbiges Detail lockt ihn, zieht ihn an – er lässt dieses Detail auf sich wirken, bleibt stehen, schaut, träumt, sinniert  – und geht wieder weiter. Auf diese Weise setzt sich die Flanerie aus kurzen, intensiven Blickkontakten zusammen, an die sich knappe Überlegungen anschließen  – wie hier in der Beschreibung einer Berlin-Flanerie des Schriftstellers David Wagner: Falckenstein-, Ecke Schlesische Straße In einem Ladenlokal, das lange leerstand, gibt es ein neues Geschäft. Es heißt Küchenstudio Tristesse. Keiner weiß, was da eigentlich verkauft wird. Traurigkeit in kleinen Tüten ? Manchmal stehen da Objekte aus Plüsch – nicht notwendig zu wissen, ob sie einen Zweck erfüllen, manchmal wird hier abends auch bloß getrunken. Oder ein Low18 Fi-Konzert veranstaltet. Solche intensiven Blickkontakte, die in ein stilles Träumen und ein frei schweifendes Nachdenken übergehen, sind die Grund18 David Wagner: Welche

Farbe hat Berlin, S. 12.

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

elemente der Flanerie. Sie ergeben sich zunächst vor allem als Reaktionen auf Interessantes oder Neues, dessen spezifischen Reizen nachgeschaut oder nachgeforscht wird. Ein derartiges Nachforschen kann aber auch umschlagen in Erinnerungen daran, wie sich der gerade betrachtete Raum früher einmal präsentierte. Flaneure durchstreifen ihre Reviere nämlich nicht nur einmal oder ab und zu, sondern sind immer wieder auch auf längst bekannten Wegen unterwegs. Charakteristisch für sie ist, dass sie eine starke Anhänglichkeit an die Stadt entwickeln, die sie immer genauer kennenlernen wollen, von ihren früheren Erscheinungen bis in die Gegenwart. Daher sind viele Namen großer Flaneure meist mit nur einem einzigen Städtenamen verbunden. In dieser Stadt haben sie sich jahre- oder jahrzehntelang aufgehalten, und sie wollen nicht aufhören, genau diese eine geliebte Stadt immer weiter zu erforschen. Erfahrene Flaneure sammeln dann nicht nur Bilder des gegenwärtigen Zustands einer Stadt, sondern verbinden Gegenwartseindrücke mit Erinnerungsbildern, die im Extremfall bis zur Kindheit des jeweiligen Flaneurs zurückreichen. Rückblenden dieser Art durchziehen etwa die Flanerien des Schriftstellers Franz Hessel (1880–1941), der in den 1920er-Jahren die Großstadt Berlin durchstreifte: Humboldthain: nur ein paar größere Buben jagen um den Spielplatz. Für die kleinen, die man hier im Sommer auf den Sandhaufen sah, ist es schon zu kalt. Auch von der berühmten Spielbank der Arbeitslosen ist heute nichts zu sehn, die im Herbst hier im Grünen auf den Bänken Karten auf rote und bunte Taschentücher als Spielteppich warf, Zahlen erschallen ließ und mit kleinen Münzen klapperte. Da gab es Spielergesichter über kragenlosen Hälsen so ernst und versunken wie die über den Frackhemden von Monte Carlo.19 19

28

Franz Hessel: Spazieren in Berlin, S. 178.

Die Flanerie

Mehrere Zeitbilder ein und desselben Raumes werden hier übereinandergeblendet. So sieht man den Spielplatz am Humboldthain in verschiedenen Jahreszeiten und erfährt, was sich auf diesem Platz in diesen unterschiedlichen Zeiten alles so getan hat. Der Schriftsteller Hermann Lenz (1913–1998) hat mithilfe solcher Rückblenden einen durchstreiften Raum nicht nur bis zu den eigenen Kindheitseindrücken, sondern sogar bis zu den Erzählungen seiner Vorfahren zurückverfolgt. Die Stadt, der all seine Liebe und Aufmerksamkeit galten, war seine Geburtsstadt Stuttgart, in der er viele Jahrzehnte seines Lebens verbrachte. Auf unnachahmlich leichte und dezente Weise, beinahe unmerklich, holt Lenz die Weite der Vergangenheit in seine Flanerien hinein: Zwischen den Fenstern des einstigen Hotels Marquardt sind Nischen eingefügt, die Sandsteinfiguren schmücken; sie schauen über Steinbalkone, als dächten sie an die glanzvolle Zeit dieses europäisch berühmten Gasthofs. Dort, wo es heute in ein Kino hineingeht, war der Hoteleingang mit Glastourniquet und Generalfeldmarschall Baldachin. Viele adlige Herrschaften haben hier gewohnt. Helmuth Graf von Moltke hat das Hotel in seinen Reiseerinnerungen rühmend erwähnt, und meine Urgroßmutter, die bei meinem Großvater Julius Krumm, dem Besitzer eines Weinwirtschäftles, in Gablenberg wohnte, hat die Küche des Hotels Marquardt mit den Lebern ihrer gestopften Gänse beliefert und manches Goldstück 20 dafür eingeheimst. Ein Gebäudekomplex wird hier genauer betrachtet. Die Betrachtung seiner Architektur führt zurück in die Vergangenheit, als das Gebäude noch ein nobles Hotel war, während es jetzt nur 20 Hermann

Lenz: Stuttgart. Portrait einer Stadt, S. 204.

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

noch ein eher unauffälliges Kino ist. Betrachtet man aber den Kinoeingang genauer, so erkennt man, dass dieser Eingang einmal ein prachtvoller Hoteleingang war. Eine kurze Leserreminiszenz erinnert an einen einzigen der früheren Gäste und gibt dem Leser eine Vorstellung davon, welche Gäste es waren, die gerade dieses Hotel besuchten. Mithilfe dieser Reminiszenz blendet Lenz in die Welt seiner Vorfahren zurück und erzählt anhand von wenigen, sehr markanten Details, was diese Vorfahren mit dem früheren Hotel verband. Solche meisterhaften Passagen gelingen nur, wenn der Flaneur nicht nur über die Gabe einer möglichst präzisen Beobachtung, sondern auch über viel Erinnerungsmaterial verfügt. Dieses Material kann aus Lektüren (am besten eignen sich dafür ältere Reiseliteratur, Memoiren und Autobiografien im weitesten Sinn), aus eigenen Erinnerungen, aber eben auch aus Erinnerungen von Familienmitgliedern bestehen. Ein Projekt der Rückerinnerung an Vergangenes mit dem Blick auf einen bestimmten und begrenzten städtischen Raum hat sich der Schriftsteller Peter Kurzeck (geb. 1943) in seinem Erinnerungsbuch »Mein Bahnhofsviertel« vorgenommen. Anfang der Achtzigerjahre durchstreifte er noch einmal die Gegend um den Frankfurter Hauptbahnhof, in der er sich als junger Mann an Wochenenden der späten Fünfzigerjahre sehr häufig aufgehalten hatte: Mit fünfzehn, da bist du und dort gegangen; nie müde geworden ! Es war schon berauschend, stundenlang nur von einem Eingang zum andren zu gehen, zu wandern, um zu sehen, was läuft, wo was los ist ! Gespräche, die Stimmen; niemand schlief. Du hast noch jeden beiläufigen Nuttenblick, jeden Augenblick, jede geflüsterte Anrede an dir vorbei als Verheißung auf Leben und Zukunft dir eingeprägt, mitgenommen; Montag ist weit. Sie sagten egalweg 30

Die Flanerie

Schätzchen und Darling. Du hast noch die Stimmen im Ohr, die Musik und das Klappern der Stöckelschuhe auf dem Nachtbürgersteig vor den Hauseingängen. Im roten Licht hin und her, mit Zuhältern und Filmgangstern freundliche Worte und eiskalte Blicke getauscht und dazugehört …21 Im Fall des Flaneurs Peter Kurzeck genügen sehr wenige Impulse des gegenwärtigen Raumes, um die Erinnerungen abzurufen und den Gegenwartsraum rund um den Frankfurter Hauptbahnhof in einen Vergangenheitsraum zu verwandeln. Die Erinnerungen setzen ein und beginnen dann schon bald so mächtig und detailliert zu fluten, dass der Gegenwartsraum immer mehr ausgeblendet wird. Schließlich glaubt man, dass sich der Flaneur Kurzeck mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart bewegt. Was dadurch entsteht, sind komprimierte Filmsequenzen aus den Fünfzigerjahren, als der jugendliche Peter Kurzeck noch nicht flanierte, sondern wie ein Getriebener zu den anderen Getriebenen eines kleinen Reviers gehörte. In seinen späteren Jahren wird Kurzeck angesichts solcher Erinnerungen zum Flaneur. Er durchläuft und durchstreift sie und lebt so ihren Frühimpressionismus noch einmal nach.

21 Peter

Kurzeck: Mein Bahnhofsviertel, S. 8 f.

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

Schreibaufgabe n Durchstreifen Sie einen möglichst belebten Straßenzug in einer möglichst großstädtischen Innenstadt. Notieren Sie kurz kleine Details, die Ihnen auffallen. n Überarbeiten Sie später diese Details, nummerieren Sie die korrigierten Texte und komponieren Sie so eine durchnummerierte Folge von flaneurartigen Momenteindrücken in einer bestimmten Straße. n Wollen Sie das Projekt erweitern, so flanieren Sie in einem Straßenterrain, das Sie schon aus der Kindheit kennen. n Beobachten Sie genau, wie sich dieses Terrain verändert hat: Welche Details Ihrer Kindheitseindrücke sind noch vorhanden, welche haben sich verändert ? n Erzählen Sie von Ihren Kindheitseindrücken, indem Sie diese Erinnerungen mit noch vorhandenen Gegenständen oder Personen in Beziehung bringen. n Wollen Sie Ihr Revier noch weitgehender erforschen, so fragen Sie andere Personen, die es aus der Vergangenheit kennen, nach ihren Eindrücken. n Notieren Sie diese Eindrücke und ergänzen Sie das Material eventuell durch Lektüren. n Schreiben Sie dann eine flaneurartige Schilderung des Terrains, indem Sie von ihm aus den unterschiedlichsten zeitlichen und personalen Erinnerungsperspektiven erzählen.

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5. Die Wanderung Glück als das lichterlohe Bewußtsein: Diesen Anblick wirst du niemals vergessen.22 Natürlich gibt es auch kurze Wanderungen, Wanderungen von knapp einem Tag, an dessen Ende man wieder zu Hause ist.23 Um genauer zu verstehen, was eigentlich eine Wanderung ist und welches Schreiben dieser Bewegung im Raum am besten entspricht, stellen wir uns aber besser eine längere Wanderung vor, eine Wanderung von einigen oder vielen Tagen. Begleiten wir also einen Wanderer, der Ernst gemacht hat mit dem Wandern und wahrhaftig Tausende von Kilometern zu Fuß unterwegs war. Dieser Wanderer heißt Matsuo Bashô (1644–1694), und er wanderte im Jahr 1689 150 Tage und über 2 400 Kilometer durch die nördlichen Provinzen Japans. Seine Wanderung hat er in einem Reisetagebuch festgehalten, dessen Lektüre einem viel 24 über die Besonderheiten des Wanderns verrät. Zu diesen Besonderheiten gehört schon der Aufbruch. Ein Kreis von Freunden begleitet Bashô bei diesem Aufbruch noch ein paar Schritte und nimmt dann von ihm Abschied. Einen langen und nicht ungefährlichen Weg vor Augen, muss sich der Wanderer von seinem Zuhause losreißen. Die Trennung von diesem Zuhause markiert einen Einschnitt und bildet die erste Station seiner Reise. Von nun an wird er viele solcher Stationen erreichen und 22 Max

Frisch: Hoch über dem Meer, S. 54. Hohler: 52 Wanderungen. München 2005. 24 Matsuo Bashô: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. 23 Franz

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

dann hinter sich lassen. Das Wandern ist durch eine solche Folge von Stationen bestimmt. Jede einzelne Station signalisiert, wie nahe der Wanderer dem großen Ziel, an dem er seine Wanderung als Ganzes ausrichtet, bereits gekommen ist. Die Station hat dadurch die Aufgabe, den Verlauf der Annäherung an das Ziel zu markieren und festzulegen. Gleichzeitig ist die Station aber auch selbst ein Ziel, sodass man sie als ein Ziel im Kleinen verstehen könnte. Der Wanderer bewegt sich also auf solche Ziele im Kleinen und letztlich auf ein großes Ziel zu. Genau diese Orientierungen hin auf Ziele machen denn auch vor allem die Besonderheiten der Wanderung aus. So spielen der Wanderweg und seine Umgebung zwar immer eine nicht unbedeutende Rolle, dominanter als die Aufmerksamkeit für den Weg ist aber das Empfinden des Wanderers, sich auf einem Weg hin zu einem Ziel zu bewegen. Den Weg kennt er meist noch nicht, aber das Ziel hat er zumindest schon vor seinem inneren Auge. So werden die einzelnen Details des Weges in der Beschreibung der Wanderung meist nur gestreift oder erwähnt, während das Ziel eine längere Beschreibung oder sogar eine besondere Würdigung erfährt. Oft ist es ein besonderer Raum, eine einsam gelegene Hütte, ein Bergplateau, ein Dorf, eine kleine Siedlung an einem Fluss oder auch eine Stadt. Der erste Anblick dieses Raums hat etwas Erlösendes, sodass seine spätere Schilderung nicht selten auch etwas von einer Würdigung oder einer Feier im Kleinen hat. Der Wanderer empfindet Genugtuung darüber, einen bestimmten Weg glücklich zurückgelegt zu haben. Was er an einer Station empfindet und dann schließlich feiert, ist das Glück der Ankunft. Matsuo Bashô ist ein Meister solcher Würdigungen. Viele Stationen und kleine Ziele würdigt er durch ein kleines Gedicht, ein Haiku. Ein solches Haiku hält in nur drei Zeilen einige Besonderheiten der Station fest. Indem es niedergeschrieben wird, 34

Die Wanderung

kommt die Wanderung erst zur Ruhe: Der Wanderer nimmt Platz, schaut sich endlich wieder längere Zeit ausatmend und entspannt um und richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf das kleine Tableau des Zielraumes, der ihn umgibt: Die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir in der Tempelherberge am Fuße des Berges um ein Nachtlager baten. Dann stiegen wir hinauf zu den oberen Tempelhallen. Fels auf Fels liegt da übereinandergeschichtet und bildet diesen Berg. Die Kiefern und Eichen sind hochbejahrt, die Erde und das Gestein uralt, das Moos ist von schlüpfriger Glätte. Die auf Steingrund gebauten Tempelgebäude hatten ihre Torflügel alle geschlossen. Kein Laut war zu vernehmen. Wir umstreiften die Klippen, krochen unter manch einem Felsspalt hindurch und verweilten andächtig vor der Buddha-Halle. Einzigartig verschwiegen war die ganze Landschaft um uns, ich hatte das untrügliche Gefühl, daß sie allein nur für uns da war, um unser Herz zu läutern. Shizukasa ya Iwa ni shimi-iru Semi no koe Stille … ! Tief bohrt sich in den Fels 25 das Sirren der Zikaden … Bashôs Haiku ist ein kleines Gedicht auf die glückliche Ankunft und die nun einkehrende abendliche Stille an einer bestimmten Station. All seine Wege laufen immerzu auf solche Stationen zu, 25 Matsuo

Bashô: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, S. 183–185.

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

die gleichsam die großen, manchmal durchaus auch feierlichen Momente der Wanderung darstellen. Um solcher Momente willen ist Bashô unterwegs, während die eigentlichen Wege oft eine fast untergeordnete Rolle spielen. Große Wanderer wie Bashô wissen also vor allem zwischen den unterschiedlichen Intensitäten während einer Wanderung zu unterscheiden. Sie konzentrieren sich in ihren Schilderungen vor allem auf die starken Momente, die den Charakter von Stationen haben. Was am Rande der Wege auftaucht, wird dagegen eher flüchtig erwähnt, gestreift oder knapp hervorgehoben. Stilistisch führt das zu kurzen Sätzen oder Satzteilen, bei denen das Verb oft fortgelassen wird. Knappheit und Kürze sollen der Darstellung der steten und rastlosen Fortbewegung dienen. Wie man so etwas macht, zeigt besonders deutlich eine Passage aus Werner Herzogs Buch »Vom Gehen im Eis«, in dem Herzog (geb. 1942) eine lange Fußwanderung von München nach Paris im Jahr 1974 beschrieben hat: Das Prechtal entlang, es geht steil bergauf, kaum Autos, es ist neblig verhangen und ein ständiges Nässen in der Luft. Immer höher hinauf. Braunes Farnkraut, geknickt, klebt am Boden. Hoher Wald und tiefe, dampfende Täler. Die Wolken und der Nebel, die ziehen über einen weg. Wasser vom Schmelzen rieselt überall, ganz oben gehe ich nur 26 noch in den Wolken, von allen Steinen tropft es. Eher summarisch nimmt der Wanderer Herzog hier von der Umgebung Notiz. Eingewoben in diese Wahrnehmungen der unmittelbaren Umgebung sind kurze, fortlaufende Hinweise auf die Fortbewegung: Es geht steil bergauf …, immer höher hinauf …, und ganz oben … – geht man in Wolken. So setzt sich ein derar26 Werner

36

Herzog: Vom Gehen im Eis, S. 95.

Die Wanderung

tiges Notat aus dichten, skizzierten Bildern und kleinen Fortbewegungspartikeln zusammen. Sollen daneben noch kleine, auffällige Besonderheiten am Wegrand erwähnt werden, so dienen solche Epiphanien dem Zweck, den Weg anhand von Details zu profilieren. Solche Profilierungen können der atmosphärischen Verdichtung dienen, oder sie sind einfach dazu da, die fortlaufende Bewegung hier und da zu verlangsamen, um ein ruhiges Innehalten des Wanderers und seine Freude über ein bestimmtes Detail hervorzuheben. Wie man nun wiederum so etwas macht, zeigt eine Passage in einem Wanderer-Text des Schriftstellers Joseph Roth (1894–1939): Was ich sehe, ist das unerwartete plötzliche, ganz grundlose Auf- und Abschwingen einer Mückenschar um einen Baumstamm. Der Schattenriß eines holzbeladenen Menschen auf dem Wiesenpfad. Die dünne Physiognomie eines Jasminzweiges, über den Gartenmauerrand 27 gelehnt. Das Verzittern einer fremden Kinderstimme in der Luft. Jedem dieser intensiven Blicke ist anzumerken, dass der Wanderer kurz stehen geblieben ist, um den Blick zu vertiefen. Die Vertiefung wird dadurch sichtbar, dass mehrere Details ein und derselben Sache genannt und aneinandergereiht werden. Die Mückenschar schwingt nicht nur auf und ab, sondern auch um einen Baumstamm. Und der Schattenriss auf dem Wiesenpfad ist nicht nur der Schattenriss eines Menschen, sondern der eines holzbeladenen Menschen. So lebt die Schilderung einer Wanderung davon, dass die verschiedenen Intensitätsgrade der Raumwahrnehmung in unterschiedlicher Manier erscheinen. Der Weg wird in knappen 27 Joseph

Roth: Wie gemalt, S. 159.

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

Notaten eingefangen. Besondere Wegmomente erscheinen, indem kleine Bildausschnitte vertieft werden. Und die Höhepunkte einer Wanderung, jene Orte also, die Stationencharakter haben, werden besonders ausführlich gewürdigt und in ihrer Einzigartigkeit als erlösende Zielpunkte beschrieben.

Schreibaufgabe n Machen Sie während einer Wanderung zunächst nur kurze Notate von der Umgebung, und zwar solche summarischer (vgl. Herzog) und solche vertiefender (vgl. Roth) Art. n Nehmen Sie sich an Ihrem Ziel ausführlich Zeit, die Besonderheit dieses Ziels zu erfassen und darzustellen, indem Sie sich fragen, worin das besondere Glück einer Ankunft besteht: In einem Ausblick ? Im Ankommen in einem geschützten Raum ? In einer bestimmten, beruhigenden Atmosphäre, nach der Sie sich die ganze Wanderung über gesehnt haben ? n Arbeiten Sie Ihre Weg-Notate und die Darstellung der Ankunft dann an einem freien Tag aus, indem Sie Ihre Texte zu einer Gesamtdarstellung dieser Wanderung zusammenfügen. n Versuchen Sie, dieser Darstellung auch dadurch einen dramaturgischen Akzent zu verleihen, dass Sie dann und wann Spannung aufkommen lassen. (Ist der eingeschlagene Weg richtig ? Werde ich es bis zum Abend wirklich schaffen, mein Ziel zu erreichen ? Etc.) 38

6. Die Reise um mein Zimmer Mein Zimmer liegt nach den Messungen von Padre Beccaria unter dem fünfundvierzigsten Breitengrad; seine Lage zeigt von Osten nach Westen; es bildet ein Rechteck, das ganz nah der Wand sechsunddreißig Schritt im Umfang hat.28 Kommen wir nun zur letzten unserer »Vorübungen«, die wir, wie schon angedeutet, auch vor einer Reise, gleichsam als Aufwärmtraining, durchführen können. Sie dienen, wie jetzt wohl gut zu erkennen ist, dem besseren Verständnis von prototypischen Bewegungen im Raum. So können diese Vorübungen dazu beitragen, derartige Bewegungen möglichst genau zu unterscheiden und darüber nachzudenken, wie sie in schriftlicher, literarischer Form möglichst adäquat darzustellen wären. Zuletzt geht es um eine auf den ersten Blick kurios erscheinende Bewegung: die Reise um das eigene Zimmer. Der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler hat das Genre dieser merkwürdigen Reisen neuerdings in einem Buch gründlich erforscht. Aus diesem Buch kann man sich für eigene Texte viele Anregungen holen, die an die29 ser Stelle leider nicht ausführlicher vorgestellt werden können. Stattdessen konzentrieren wir uns hier auf ein Buch des französischen Schriftstellers Xavier de Maistre (1763–1852), das unter den Texten dieses Genres das bekannteste ist, und zeigen anhand dieses Beispiels, wie man eine solche Reise inszenieren und beschreiben könnte. Xavier de Maistres »Die Reise um mein Zimmer« erschien 28 Xavier

de Maistre: Die Reise um mein Zimmer., S. 11. Stiegler: Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte des Reisens im und um das Zimmer herum. Frankfurt/M. 2010.

29 Bernd

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Textprojekte und Schreibaufgaben I

anonym im Jahr 1795. Der auf den ersten Blick merkwürdige Titel ist ganz wörtlich zu verstehen: De Maistre bewegt sich in diesem Buch ausschließlich in seinem eigenen Zimmer. Er schaut nicht nach draußen, und er macht sich auch sonst nicht die geringsten Gedanken um die weite Welt. Stattdessen geht es darum, den eigenen Kontinent des privaten, intimen Lebens zu erforschen. Wie ein typischer Forschungs- oder Entdeckungsreisender begibt sich de Maistre also auf große Fahrt. Von einem Tisch geht er auf ein Bild in einer Ecke des Zimmers zu und gelangt weitergehend zu seinem Lehnstuhl. Vom Lehnstuhl aus geht es dann wieder weiter zum Bett: Es steht äußerst günstig: Die ersten Strahlen der Sonne treiben ihr Spiel auf meinen Vorhängen. – An schönen Sommertagen sehe ich sie in dem Maße, wie die Sonne steigt, die weiße Wand entlang vorrücken: Die Ulmen vor meinem Fenster brechen sie auf tausenderlei Art und lassen sie auf meinem Bett schaukeln, dessen Rosenrot und Weiß durch ihren Widerschein nach allen Seiten eine bezaubernde Färbung verbreiten. – Ich höre das kunterbunte Gezwitscher der Schwalben, die das Dach des Hauses beschlagnahmt haben, und der anderen Vögel, die in den Ulmen nisten: Dann kommen mir unzählige heitere Gedanken in den Sinn; und im ganzen Universum hat niemand ein so angenehmes, so friedliches 30 Erwachen wie ich. Eine solche Passage lässt einen verstehen, wie de Maistre vorgeht. Er inspiziert sein Zimmer, indem er sich den Details zuwendet: Möbel, Bilder, Gegenstände, selbst die sonst unauffälligsten Dinge werden betrachtet oder in die Hand genommen. Die Betrach30 Xavier

40

de Maistre: Die Reise um mein Zimmer, S. 13 f.

Die Reise um mein Zimmer

tung erweckt sie gleichsam zum Leben, und indem sie lebendig werden, zeigen sie dem Betrachter, was sie genau mit seinem eigenen Leben verbindet. So erscheint das Bett eben nicht nur als einfaches Nachtlager, sondern als eine Liege, die es dem Liegenden erlaubt, einen kleinen Film zu verfolgen. Dieser Film besteht aus dem Spiel der Sonnenstrahlen auf den Vorhängen, ihrem Vorrücken und ihren durch die Ulmen gebrochenen Reflexen auf dem Bett. Zur Optik dieser bewegten Bilder tritt eine besondere Akustik: das Gezwitscher der Vögel. Bild und Ton zusammen versetzen den Betrachter in eine gewisse Stimmung, es ist eine typische Morgenstimmung, eine Stimmung angenehmster Empfindungen. De Maistre untersucht seinen privaten Raum also mit dem Blick darauf, wie die Einzelheiten dieses Raums sein eigenes Leben prägen und bestimmen. An den räumlichen Gegebenheiten und den aufgestöberten Dingen entlang wird so eine biografische Geschichte individueller Passionen und Lebensformen erzählt. Der kleine Raum und seine Dinge entlocken de Maistre intime Szenen und kleine, sonst nicht weiter bemerkte »Sensationen«, die das alltägliche Leben ausmachen. Dass de Maistre sie jetzt genauer bemerkt und ganz nebenbei auch besser versteht, lässt ihn sein eigenes Leben und Erleben insgesamt genauer durchschauen. Zugleich führen derartige Beschreibungen und Schilderungen aber auch dazu, dass der sonst »gewöhnlich« gescholtene Alltag eine besondere Würdigung erfährt. Plötzlich erhalten viele seiner Momente eine eigene Schönheit, die auch diese Momente zu etwas Besonderem machen. 42 Tage dauert diese seltsame Reise, die man natürlich nicht nur zu Hause, sondern auch auf weiten Reisen unternehmen kann. Dann begibt man sich in einem Hotelzimmer oder sonst einem kleinen geschlossenen, bewohnten Raum auf weite Fahrt … 41

Textprojekte und Schreibaufgaben I

Schreibaufgabe n Durchstreifen Sie den geschlossenen Raum, den Sie erforschen wollen, zunächst ohne einen bestimmten Plan und notieren Sie jene Raumdetails oder Gegenstände, denen Sie sich dann länger widmen werden. n Machen Sie zu jedem dieser Details und Gegenstände kurze Notizen und fragen Sie sich dabei, wann und wie sie in Ihrem alltäglichen Leben erscheinen und eine Rolle spielen. n Denken Sie dabei auch an die unterschiedlichsten Zeiten, also etwa an bestimmte Wochentage, an die Jahreszeiten, an Kindheitstage oder an Zeiten, als Sie krank waren. n Nach Abschluss Ihrer Notizen überlegen Sie sich einen Weg durch Ihr Zimmer, mit dessen Hilfe Sie die einzelnen Geschichten miteinander verbinden können. n Nehmen Sie sich dann ausreichend Zeit, von diesem Weg und seinen einzelnen Stationen ausführlich zu erzählen, und widmen Sie jedem Raumdetail ein eigenes Kapitel. n Lassen Sie sich zusätzlich von Bill Brysons Buch »Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge« inspirieren, das von den verschiedenen Räumlichkeiten eines Hauses (Küche, Flur, Treppe, Badezimmer etc.) auf sehr verblüffende Weise berichtet.31

31 Bill Bryson: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge. Ins Deutsche übertragen

von Sigrid Ruschmeier. München 2011.

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Textprojekte und Schreibaufgaben II: Schreiben für sich selbst 7. Das Reisetagebuch Schon wieder mit jener Dame beisammen, die übrigens auch eine Schreibnärrin ist. Sie trägt eine Schreibmappe bei sich mit viel Briefpapier, Karten, Federn und Bleistiften, was im Ganzen sehr anfeuernd ist.32 So, jetzt sind wir nach einigen Vorübungen wirklich auf Reisen und sollten uns fragen, wie wir unsere Reiseeindrücke einfangen und aufschreiben. Als Erstes fällt uns natürlich das klassische Reisetagebuch ein, in das wir täglich unsere Aufzeichnungen eintragen könnten. Wann und wo aber sollten wir solche Aufzeichnungen machen und wie genau könnten sie aussehen ? Ein Reisetagebuch ist vor allem dazu da, den zeitlichen Verlauf einer Reise möglichst genau zu protokollieren. Dafür gibt es mehrere unterschiedliche Methoden, für eine von ihnen sollte man sich entscheiden, auf keinen Fall aber sollte man ohne ausreichende Vorüberlegungen einfach drauflosschreiben. Beginnen wir also mit diesen Vorüberlegungen und fragen wir uns genauer, welche Gründe im Einzelnen für welche Form des Tagebuchs sprechen. Täglich Aufzeichnungen in ein Reisetagebuch zu notieren, das könnte in der Praxis bedeuten: solche Aufzeichnungen 32 Franz

Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 167.

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Textprojekte und Schreibaufgaben II

immer wieder in ruhigen Momenten (nach den Mahlzeiten, bei einem Kaffee oder Tee etc.) während eines ganzes Tages – möglichst vom frühen Morgen bis in die Nacht  – zu notieren. Sie sollten mit Stunden- und Minutenangabe datiert sein, und sie sollten eine kurze Angabe über den Ort enthalten, an dem wir gerade sitzen und schreiben. Etwa so: »München, Marienplatz, 13.23 Uhr.« Ohne solche Orts- und Zeitangaben hat Franz Kafka (1883 bis 1924) den Verlauf der Tage während einer Reise von Lugano nach Mailand und Paris festgehalten. Seine Aufzeichnungen bestehen ausschließlich aus kurzen Notaten über das, was er in seiner Umgebung beobachtet hat, von sich selbst und seinen eigenen Eindrücken (oder gar Empfindungen) spricht er nur äußerst selten. Die Notate stehen isoliert und erscheinen durch Leerzeilen voneinander abgesetzt. Sie sind nie allzu lang und konzentrieren sich meist auf ein einziges kleines Motiv: Schützen in Zürich auf dem Bahnhof. Unsere Furcht vor dem Losgehn der Gewehre wenn sie laufen. Plan von Zürich wird gekauft. Auf einer Brücke hin und zurück wegen Unentschlossenheit über die zeitliche Aufeinanderfolge von kaltem, warmem Baden und Frühstücken. Limmatrichtung, Uraniasternwarte.

33

Man merkt diesen Notaten an, dass Kafka sie in einem fast regelmäßigen Rhythmus gemacht und immer wieder neu zu ihnen 33 Franz

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Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 146.

Das Reisetagebuch

angesetzt hat. Sie haben die Aufgabe, einzelne Eindrücke und Impressionen festzuhalten und die Wege in Erinnerung zu halten, die man während des Tages gegangen ist. So entsteht eine an den Objekten orientierte Dokumentation der Reise, die der Frage nachgeht: Was an Besonderem fällt mir auf ? Statt den Tagesverlauf mithilfe solcher kurzer Notate zu protokollieren, könnte man sich aber auch für jede Aufzeichnung etwas mehr Zeit nehmen. Dann könnten die Aufzeichnungen weniger knappen Protokollcharakter haben als der Aufgabe dienen, mir selbst gleichsam vor Ort meine eigenen Beobachtungen zu erzählen und mich nach den Eindrücken zu befragen, die sich an diese Beobachtungen anschließen. Cees Nooteboom (geb. 1933), einer der besten Reiseschriftsteller der Gegenwart, geht bei seinen Tagebuchaufzeichnungen genau so vor. Diese hier berichten von einer Schifffahrt: Wir nähern uns Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens und damit auch der südlichsten Stadt der Welt. Ich sehe Kriegsschiffe an einem Kai und ein ankerndes Schiff namens Antarctic. Dies ist der Ausgangshafen für Fahrten zum Südpol, und das spürt man. Wir befinden uns im argentinischen Sommer, aber kalte Windböen mit Regen fegen über den Kai. Warum ist das so aufregend, in der 34 südlichsten Stadt der Welt zu sein ?   Nooteboom spricht in einem ruhigen, unaufgeregten Ton mit sich selbst. Er macht sich auf das, was er sieht, aufmerksam, und er ergänzt das Gesehene durch das, was er über den jeweiligen Ort weiß oder gerade gelesen hat. Die Beobachtungen springen, mal ist von der geografischen Lage des Ortes, mal von den Schif34 Cees

Nooteboom: Schiffstagebuch. Ein Buch von fernen Reisen, S. 36.

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Textprojekte und Schreibaufgaben II

fen, mal vom Wetter die Rede. Solche Sprünge spiegeln wider, dass diese Aufzeichnungen dem Rhythmus der plötzlich auftauchenden Gedanken und Ideen folgen, wie sie im Gehirn des Reisenden entstehen. Daher dokumentieren sie nicht – wie Kafkas Aufzeichnungen  – Motive und Momente draußen, in der Umgebung, sondern sie erzählen den Fluss der Gedanken, die im Kopf während der Reise entstehen. Angenommen, wir haben für solche regelmäßigen Aufzeichnungen während des Tages keine Zeit, könnte man sich aber auch eine Methode ausdenken, durch die man mithilfe eines einzigen längeren Eintrags den vergangenen Tag rekapituliert und zusammenfasst. Ein solch längerer Tagebucheintrag könnte am späten Abend oder in der Nacht eines Tages erfolgen, ja, er könnte sogar am Morgen des nächsten Tages entstehen, als Rückblick auf den gerade vergangenen Tag. Ein noch größerer Abstand zwischen einem solchen Eintrag und dem beschriebenen Tag sollte allerdings nicht entstehen, sonst werden die Eintragungen zu ungenau. Der französische Schriftsteller Albert Camus (1913–1960) hat durch solche Aufzeichnungen eine Schifffahrt von Marseille nach Südamerika im Jahr 1949 festgehalten. Am 2. Juli fasst er den gerade vergangenen Tag in der Einsamkeit seiner Schiffskabine so zusammen: Die Monotonie hat sich eingerichtet. Am Vormittag ein wenig Arbeit. Sonne auf dem oberen Deck. Vor dem Mittagessen werde ich noch den letzten Passagieren vorgestellt. Wir sind nicht gerade mit hübschen Frauen verwöhnt, aber ich sage das ohne Bitterkeit. Den ganzen Nachmittag vor Gibraltar. Das Meer plötzlich still geworden unter diesem riesigen Felsen mit den Zementflanken, dem abstrakten, feindseligen Maul. Das ist das Gehabe der Macht. Dann Tanger mit seinen sanften weißen Häusern. Um 6 Uhr, 46

Das Reisetagebuch

während der Tag zu Ende geht, belebt sich das Meer ein wenig, und während die Lautsprecher an Bord die Eroica schmettern, entfernen wir uns von den stolzen Küsten Spaniens und lassen Europa endgültig hinter uns. Ich blicke unaufhörlich auf dieses Land, das Herz beklommen. Nach dem Abendessen Kino. Ein amerikanischer Kitschfilm von starkem Kaliber, von dem ich nur die ersten Bilder schlucken kann. Ich kehre zum Meer zurück.35 Man erkennt, dass Camus nicht allzu viel Zeit und Anstrengungen für die tägliche Tagebucheintragung verwenden will. Sie dient denn auch nicht dem Zweck, detaillierte Beobachtungen (wie Kafka) festzuhalten oder sich selbst die Reise berichtend und nachfragend (wie Nooteboom) zu erzählen. Camus möchte stattdessen nur den Verlauf eines Tages dokumentieren und sich knapp Rechenschaft darüber ablegen, was zu den verschiedenen Tageszeiten passiert ist. Deshalb ist seine Eintragung auch durch die betonte Hervorhebung der Tageszeiten gegliedert. Der Morgen, der Mittag, der Nachmittag, der Abend, die Nacht – Camus ordnet jeder Tageszeit ein bestimmtes Ereignis zu, um die kleinen Veränderungen während des Tages festzuhalten. Sein Eintrag ist der Tagebucheintrag eines Melancholikers, dem auch eine außergewöhnliche Reise nichts außerordentlich Neues oder gar Sensationelles beschert. Erst dieses, dann jenes, dann wieder dieses, dann wieder jenes  – so lässt er den Tag Revue passieren, als fänden im Grunde gar keine eigentlichen Veränderungen statt und als wäre die Zeit der Reise kaum unterschieden von der Zeit zu Hause. So spiegelt sich im Charakter dieser Aufzeichnungen auch der Charakter Camus’, der gegenüber den Reiseeindrücken sto35 Albert

Camus: Reisetagebücher, S. 50.

47

Textprojekte und Schreibaufgaben II

isch, ja beinahe ausdruckslos bleibt. Obwohl er »auf großer Reise« ist und Welten zu Gesicht bekommt, die er noch nie gesehen hat, betont er die Gleichförmigkeit der Zeit und des Gesehenen. Dem Leser wird dadurch deutlich, dass Camus sich von der Reise nicht mitreißen lassen will. Immer wieder kehrt er stattdessen in seiner Schiffskabine zu den Projekten und Arbeiten zurück, an denen er auch zu Hause bereits gearbeitet hat. Für sie interessiert er sich mehr als für all das, was die Reise an scheinbar Neuem präsentiert. Reisen hat für Camus etwas bloß Beiläufiges, Ephemeres, während die Projekte und die schriftstellerische Arbeit etwas Bleibendes, Überdauerndes haben. So zeigt sich Camus in seinen Tagebuchaufzeichnungen als ein Reisender wider Willen. Er resümiert den Tag, aber er tut das ohne Begeisterung und ohne jedes Pathos. Anhand der drei vorgestellten Beispiele wird nun deutlicher, welche Vorüberlegungen wir im Einzelnen anstellen sollten, um unserem Reisetagebuch eine klare Ausrichtung zu geben. Wir sollten zunächst überlegen, worauf es uns vor allem ankommt: darauf, pointierte Beobachtungen und Eindrücke im Tagesverlauf zu sammeln (Kafka), darauf, uns selbst die Reise chronologisch zu erzählen (Nooteboom), oder aber darauf, den Verlauf der Tage knapp und ohne größeren Aufwand festzuhalten (Camus) ? Auf den ersten Blick sind die Antworten auf solche Fragen formale Entscheidungen. Hinter diesen formalen Entscheidungen verbergen sich aber oft, wie wir im Fall von Camus erkannt haben, auch psychologische Dispositionen. Daher sollten wir uns auch fragen, was für ein »Reisetypus« wir eigentlich sind: Fasziniert uns vor allem die Fülle des Neuen und damit die ganze Welt der Details, die uns die Umgebung während einer Reise offeriert ? Oder beschäftigen uns die eigenen Beobachtungen 48

Das Reisetagebuch

und Innenwelten und damit die Beschreibungen unserer Reflexionen und Empfindungen mehr ? Ein möglicher dritter Typus wäre der passiv oder abwesend Reisende, der sich später zwar an den Verlauf einer Reise erinnern möchte, während der gesamten Reise jedoch eigentlich in einem Paralleluniversum anderer Tätigkeiten und Vorstellungen lebt, dem er mehr Aufmerksamkeit widmet als der eigentlichen Reise. Der Essayist und Literaturwissenschaftler Christian Schärf hat (ebenfalls in dieser DUDEN-Reihe) ein Buch über den Zusam36 menhang von Tagebuchtypus und Tagebuchtext geschrieben. Darin präsentiert er uns detailliert viele weitere Schriftsteller mit ihren Tagebuchprojekten und zeigt uns, wie diese Projekte organisiert sind, was ihre Organisation für den Inhalt, die Sprache oder den Stil eines Tagebuchs bedeutet und worauf genau wir uns einlassen, wenn wir eines (oder gleich mehrere) dieser Projekte für unser eigenes Tagebuchschreiben übernehmen. Die Lektüre dieses Buches verschafft uns also nicht nur viele Anregungen und Inspirationen, sondern sie schärft vor allem auch unseren Blick auf das große Spektrum möglichen Tagebuchschreibens. Indem wir dieses Spektrum kennenlernen, schärfen wir zugleich aber auch den Blick auf das eigene Schreiben und erkennen im Idealfall allmählich genauer, welcher Tagebuchtypus wir eigentlich sind und welche Art des Tagebuchschreibens die uns gemäße wäre. Genau das herauszubekommen – darauf kommt es zunächst an, und deshalb sind die Vorüberlegungen besonders wichtig.

36 Christian

Schärf: Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch. Mannheim 2012.

49

Textprojekte und Schreibaufgaben II

Schreibaufgabe n Testen Sie Ihre Tagebuchkapazitäten, indem Sie während eines einzigen Tages jeweils nur Aufzeichnungen in der Manier Kafkas, Nootebooms oder Camus’ machen. n Lassen Sie diese unterschiedlichen Tagebucheintragungen eine Weile liegen, nehmen Sie die Texte nach einiger Zeit wieder zur Lektüre vor und überlegen Sie, welche Form der Aufzeichnungen Ihnen nun (trotz eines vielleicht erheblichen Arbeitsaufwandes) am besten gefällt oder entspricht. n Orientieren Sie sich anhand des Buches von Christian Schärf über weitere mögliche Tagebuchprojekte und überlegen Sie, welche Konsequenzen die Übernahme eines bestimmten Projektes für Ihr eigenes Schreiben haben könnte. n Erweitern Sie Ihr Reisetagebuch durch kleine Skizzen oder durch eingeklebtes sonstiges Material (Zeitungsausschnitte, Details von Flyern, Eintrittskarten etc.) und überlegen Sie, welches Format für Ihr Tagebuch das richtige wäre. n Schreiben Sie Ihre Aufzeichnungen nicht in linierte oder (noch schlimmer) karierte Tagebücher, sondern auf absolut leere Seiten und verwenden Sie dafür die unterschiedlichsten Fineliner oder (feine, dünne) Bleistifte, keineswegs aber Kugelschreiber.

50

8. Das frei geführte Notizbuch Straßen, die einen verführen, einem zurufen, einen mit Schaufenstern, Reklamen, Neuigkeiten, Ideen, Wundern, Flitter umzingeln; die kochen, Funken sprühen, dröhnen, hupen, fliegen, explodieren …37 Das Reisetagebuch verpflichtet uns zu einer bestimmten Form unserer Aufzeichnungen. Wollen wir es gründlich und seiner Form entsprechend führen, müssen wir täglich Aufzeichnungen machen. Diese freilich können wir, wie wir gesehen haben, in unterschiedlicher Manier gestalten und dabei auch die Zeit berücksichtigen, die wir einem Tagebuch widmen wollen. Vielleicht erscheint uns die Praxis solcher Aufzeichnungen aber auch als ein allzu strenges Korsett, ja, vielleicht sind wir überhaupt nicht daran interessiert, unsere Beobachtungen in ihrem täglichen Verlauf festzuhalten, sondern bevorzugen eine eher freie, ungebundene Praxis des Aufschreibens. In einem solchen Fall könnten wir statt eines Reisetagebuchs ein einfaches Notizbuch führen. In dieses Notizbuch könnten wir in loser Folge, dann und wann, hineinschreiben, was uns durch den Kopf geht. Der polnische Reiseschriftsteller Ryszard Kapuściński hat diese Form des freien Notierens mit einem Lapidarium verglichen: Lapidarium ist ein Ort (ein Platz in einer Stadt, Hof in einem Schloß, Patio in einem Museum), wo man gefundene Steine zusammenträgt, Stücke von Figuren und Fragmente von Bauwer37 Ryszard

Kapuściński: Lapidarium, S. 100.

51

Textprojekte und Schreibaufgaben II

ken – hier das Bruchstück eines Torsos oder einer Hand, dort der Brocken eines Gesimses oder einer Säule, mit einem Wort, Dinge, die Teil eines nicht (bereits, noch, mehr) existierenden Ganzen sind und von denen man nicht weiß, was man mit ihnen anfangen soll.38 Stücke, Fragmente – so nennt Kapuściński seine Notizen. Es handelt sich also um kurze Aufzeichnungen, die eine Beobachtung nur skizzieren oder einen Gedankengang nur andeuten. Sie sind zwar meist Teil eines möglichen Ganzen, dieses Ganze aber wird nicht weiter ausgeführt oder berücksichtigt. Vielmehr werden die Notizen einfach so lange ins Freie (oder Leere) gestellt, bis sie vielleicht in einem neuen, anderen Ganzen Verwendung finden. Aufzeichnungen in Form eines Lapidariums zu machen – das bedeutet also zunächst: für diese Aufzeichnungen eine Art Zwischenlager zu finden, in dem man sie bis zur weiteren Verwendung abstellt. Wie man sich eine solche Zwischenlagerung im Fall von Kapuścińskis Notizen vorstellen muss, soll an einigen Beispielen gezeigt werden. Im Jahr 1984 ist er in Köln unterwegs und trifft auf den Dom. Die Notizen über diese Begegnung beginnen so: Der Kölner Dom: ergreifend. Eine Unmenge von Steinen, eingesperrt, gepeinigt, in ein monströses Korsett der Formen, Linien, Säulen gezwängt. Ein Stalagmit, der durch seine dichte Kraft und Größe in Erstaunen versetzt. Ein aufgetürmter Dschungel von Gesimsen, Bögen, Ornamenten. Eine Masse, die uns lähmt, niederdrückt, auf die Knie zwingt. 39 Das Innere: völlig leer; eisige, kühle Wüste. 38 Ryszard 39 Ryszard

52

Kapuściński: Lapidarium, S. 6. Kapuściński: Lapidarium, S. 96.

Das frei geführte Notizbuch

Kapuściński hält sich nicht lange mit der Beschreibung des Domes auf, er hält nicht einmal fest, von wo genau er das Gebäude betrachtet. Umrundet er es ? Oder steht er vor der großen Fassade und blickt an ihr hinauf ? Die Notizen lassen solche Details aus und beginnen gleich mit einer Fixierung von Eindrücken: Der Dom ist ergreifend, so das erste summarische Urteil. Warum und wodurch er ergreifend ist, wird dann genauer entwickelt: Der Dom besteht aus einer Unmenge von Steinen, er ist ein Stalagmit, ein Dschungel, eine lähmende Masse etc. – solche Metaphern machen deutlich, worin genau Kapuścińskis Ergriffenheit besteht, in einer bestimmten Form von Überwältigung nämlich, die durchaus etwas Gewaltsames, Bedrohliches, aber eben auch etwas Faszinierendes, hoch Ästhetisches hat. Genau solche Zusammenhänge oder auch Schlussfolgerungen führt Kapuściński aber nicht aus, sondern deutet sie nur an und überlässt ihr Erspüren dem Leser. Im Kopf des Lesers fügen sie sich zu einem Ganzen zusammen, zu einem bestimmten vorherrschenden Gesamteindruck, den der Betrachter des Doms in diesem Fall zwar skizziert, aber nicht weiter ausgeführt oder vertieft hat. Eine solche Vertiefung wäre jederzeit möglich, dafür aber fehlt dem Betrachter im Augenblick der ersten Niederschrift seiner Notizen vielleicht die Zeit. Zu einem späteren Zeitpunkt jedoch wäre es durchaus möglich, dem Gesamteindruck des Domes noch intensiver und genauer nachzuspüren. Bis es so weit ist, lagert Kapuściński deshalb seine Notizen in einem Notizbuch. Ebenfalls im Jahr 1984 geht er dann im Londoner Kensington Park spazieren und notiert dort: Sonntag, Nachmittag, Kensington Park. Sonne, Teich, Enten. Pausenlos ist das Starten von Düsenflugzeugen zu hören. ____ 53

Textprojekte und Schreibaufgaben II

Bäume spenden Frieden, sie retten uns, sie sind die letzten Freunde, die letzten Verteidiger. ____ Alte Leute gehen so langsam und vorsichtig, als hätten sie Angst, jeden Moment auf eine Mine zu treten. ____ Es gibt hier viele Hunde. Es sind irgendwie verkindlichte Hunde.40 In London notiert Kapuściński ganz anders als in Köln. Er beginnt seine Notizen nämlich nicht gleich mit der Skizze eines Gesamteindrucks, sondern nähert sich dem beobachteten Gelände vorsichtig und tastend: Es ist Sonntag, es ist Nachmittag, dies und das ist zu sehen, dies und das ist zu hören. Auf ein solches Entree folgen nun weitere knapp festgehaltene Beobachtungen vor Ort in loser Folge, Beobachtungen über Bäume, alte Leute, Hunde. Auch diese Beobachtungen werden nicht vertieft oder durch weitere Gedankengänge oder Schlussfolgerungen miteinander verbunden, auch sie werden im Notizbuch »zwischengelagert«. Vielleicht dienen sie einmal als Material für einen längeren Text über den Londoner Kensington Park im Besonderen, vielleicht aber auch als Material für einen Essay über britische Parks im Allgemeinen. Wohin diese Notizen eigentlich »gehören« und wozu sie später verarbeitet werden, ist aber noch längst nicht klar. Vielleicht ist das »Zwischenlager« ja sogar ihr eigentlicher Platz, und sie bleiben dann für alle Zeit ausschließlich Teil eines Notizbuchs, in dem ihr Autor einige erlebte Augenblicke des Jahres 1984 im Londoner Kensington Park festgehalten hat. 40 Ryszard

54

Kapuściński: Lapidarium, S. 106.

Das frei geführte Notizbuch

All das bleibt noch offen, denn diese Notizen eines frei (und das meint: vorläufig, ohne bestimmte Absichten und Zwecke) geführten Notizbuchs befinden sich in einem Übergangsstadium. Sie tendieren zu einem längeren Text, aber die Gestalt dieses Textes ist noch nicht klar. Diese Offenheit und Unbestimmtheit kann man auch an einer dritten Kategorie von Kapuścińkis Notizen beobachten. Solche Notizen macht er im Jahr 1982 in Warschau: Grundlegendes Ziel autoritärer Systeme ist es, die Zeit anzuhalten (weil das Fortschreiten der Zeit Veränderungen mit sich bringt). ____ Wenn du unter vielen Wahrheiten nur eine auswählst und mit blindem Eifer nach dieser einen strebst, wird sie zur Falschheit und du selber wirst zum Fanatiker. ____ Der Fanatismus setzt im Menschen mehr Energie frei als Sanftheit und Güte. Daher ist der Fanatiker leichter imstande, jemandem 41 seinen Willen aufzuzwingen, seine Herrschaft zu festigen. In diesem Fall handelt es sich nicht um Notizen zu Eindrücken oder Beobachtungen, sondern um Reflexionen. Es ist nicht zu erkennen, wie genau der Warschauer Aufenthalt Kapuściński zu diesen Reflexionen animiert hat, und man erkennt zwischen ihnen auch nur höchstens ganz schwach einige Verbindungen. Darauf aber kommt es nicht an. Wichtig ist vielmehr, dass der Warschau-Aufenthalt des Jahres 1982 den Autor anregt, sich über bestimmte abstrakte oder eher theoretische Themen genau41 Ryszard

Kapuściński: Lapidarium, S. 54.

55

Textprojekte und Schreibaufgaben II

ere Gedanken zu machen. Dabei geht es um die generellen Strukturen von autoritären Systemen oder um eine Theorie des Fanatismus und die Gestalt des Fanatikers. Auch diese Reflexionen werden im Notizbuch »zwischengelagert«. Man könnte sich gut vorstellen, dass sie in einem längeren politischen Essay Verwendung finden könnten, denn auch sie lassen etwas »Ganzes« anklingen und erscheinen bereits wie Bruchstücke zu diesem Ganzen. Das frei geführte Notizbuch tut all diesen Aufzeichnungen aber noch keinen Zwang an. Es erlaubt ihnen vielmehr, ganz für sich selbst, ohne Beigaben und Zutaten und längere Einordnungen, zu bestehen. Daher setzt sich ein solches Notizbuch aus allen nur erdenklichen Formen von Aufzeichnungen zusammen. In einem anderen Buch dieser DUDEN-Reihe mit dem Titel »Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren« habe ich viele solcher Formen vorgestellt und genauer gezeigt, wie die großen freien Notierer unter den Schriftstellern sie gestaltet und literarisch 42 verfeinert haben. Von diesem Buch kann man sich weiter dazu inspirieren lassen, aus dem eigenen Notizbuch einen großen Fundus von Aufzeichnungen der verschiedensten Art zu machen.

42 Hanns-Josef

heim 2012.

56

Ortheil: Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren. Mann-

Das frei geführte Notizbuch

Schreibaufgabe n Schreiben Sie auf die erste Seite Ihres freien Notizbuchs eine knappe Notiz dazu, wo und an welchem Tag Sie mit diesen Notizen begonnen haben. n Nehmen Sie sich immer wieder ein bestimmtes Terrain einer Stadt, eines Dorfes oder einer Landschaft vor und machen Sie in diesem Terrain kurze Aufzeichnungen der verschiedensten Art. n Setzen Sie Ihre Aufzeichnungen gut sichtbar, z. B. durch Leerzeilen oder kleine Striche zwischen den Zeilen, voneinander ab. n Sind Sie auf den letzten Seiten des Notizbuchs angekommen, so lassen Sie einige Seiten frei. n Lesen Sie dann längere Zeit in Ihren Notizen und überlegen Sie, mit welchen Details des Raumes oder mit welchen Themen generell Sie sich besonders häufig beschäftigt haben. n Schreiben Sie auf die letzten noch leeren Seiten Ihres Notizbuchs untereinander einige zentrale Begriffe, die solche Details oder Themen fixieren und unterscheiden. n Beenden Sie Ihr freies Notizbuch mit einer knappen Notiz dazu, wo und an welchem Tag Sie dieses Notizbuch beendet haben.

57

9. Das thematisch geführte Notizbuch

9.1 Themen auf Reisen Wenn man in Venedig durch die feuchten Spalten läuft, fühlt man, wie man eine Kellerassel wird. 43 Ein frei geführtes Notizbuch können wir mit einem relativ geringen Aufwand aber auch in ein thematisch geführtes Notizbuch verwandeln. Im Netz finden sich dazu in einem auch sonst sehr lesenswerten und informativen Notizbuchblog44 einige Notizbuchregeln45 von Christian Mähler, die man sich einmal genauer anschauen sollte. Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass der Autor darüber nachdenkt, wie man die losen und noch ungeordneten Einträge in einem freien Notizbuch ordnen und miteinander verbinden könnte. Dazu schlägt er bestimmte zusätzliche Einträge auf jeder Notizbuchseite vor: In der linken oberen Ecke sollten immer ein oder zwei Stichworte als Schlüsselworte stehen, die durch einen Kasten eingerahmt sind. Das hilft beim späteren Durchblättern und schnellen Auffinden von Einträgen. Es mag manchem etwas zu formal und eintönig anmuten, ist es aber ganz und gar nicht. Das Buch bekommt dadurch eine schöne Durchgängigkeit und ist wesentlich produktiver 43 Jean-Paul

Sartre: Königin Albemarle oder Der letzte Tourist. Fragmente, S. 205.

44 http://www.notizbuchblog.de/about/

45 http://www.notizbuchblog.de/ebook/25_Notizbuchregeln.pdf

58

Themen auf reisen

nutzbar, da die Stichworte immer an der gleichen Stelle und in der gleichen Form stehen. Der Themenkasten enthält das Thema der Seite in einem prägnanten Begriff oder in wenigen Stichworten …46 Themenkästen dieser Art auf jeder Seite eines Notizbuchs ordnen die bisher nur lose dastehenden Notizen nach Themen oder Kategorien.47 Nummeriert man dann noch die Seiten des Notizbuchs durch, so könnte man mühelos eine Liste mit den unterschiedlichen Themen oder Kategorien zusammenstellen und sich zu jedem Thema oder jeder Kategorie notieren, auf welcher Seite des Notizbuchs man Material dazu findet. Auf diese Weise hätte man einen ersten Schritt getan, die Fragmente im sogenannten »Lapidarium« Ryszard Kapuścińskis neu zu ordnen und sie jeweils zu einem neuen Ganzen zusammenzustellen. Aus einem bisher nur frei geführten Notizbuch würde dadurch ein frei geführtes Notizbuch mit bestimmten erkennbaren Themen und Kategorien. Man könnte sich natürlich aber auch von vornherein vornehmen, kein freies, sondern ein thematisch ausgerichtetes Notizbuch zu führen. Ein gutes Beispiel für ein solches Notieren sind die Notizen, die sich der französische Schriftsteller und Philosoph JeanPaul Sartre im Jahr 1951 während eines Venedigaufenthaltes gemacht hat. Sartre hat für diesen Aufenthalt einen kleinen Plan mit jenen Orten (einem Palazzo, dem Lagunenort Torcello, einem Tanzlokal etc.) entworfen, die er in Venedig unbedingt aufsuchen möchte. Daneben hat er aber auch eine erste kleine Liste mit 46 http://www.notizbuchblog.de/ebook/25_Notizbuchregeln.pdf, S. 5. 47 Zu

den Kategorien findet man Genaueres auf Seite 10 der Notizbuchregeln.

59

Textprojekte und Schreibaufgaben II

Themen fixiert, über die er in Venedig nachdenken und zu denen er Material sammeln möchte: Themenliste zu Venedig 1.  Keine Aggressivität. 2.  Glatte Fassaden. 3.  Das Auge verliert sich. 4.  Die Geschwindigkeit des Boliden. 5.  Keine Reflexivität. 6. Narzißmus. 7.  Denken des Wassers. 8.  Die Tiefe. 9.  Die Erinnerung an meinen Wahnsinn.48 Solche Themen strukturieren den Venedigaufenthalt Sartres, indem sie ihn während seines Aufenthaltes darüber nachdenken lassen, wo, wann und wie er besonders ergiebiges Anschauungsmaterial für diese Themen erhalten könnte. Um sich zum Beispiel dem Thema »Denken des Wassers« zu nähern, unternimmt er gleich mehrere Gondelfahrten, deren Verlauf er akribisch notiert. Oder er fährt hinaus in die Lagune, um einen Fernblick auf das venezianische Wasser zu erhalten. Oder er steigt auf den Campanile neben der Basilika San Marco, um von ganz oben die besondere Qualität und Ausbreitung des venezianischen Wassers besser erkennen zu können. Jede dieser Unternehmungen verbindet das Thema »Denken des Wassers« dann mit anderen Themen. So setzt sich Sartre nach diesen Unternehmungen jeweils hin und beginnt, das »Denken des Wassers« genauer auszuführen und es im Blick auf 48 Jean-Paul

60

Sartre: Königin Albemarle oder Der letzte Tourist, S. 253.

Themen auf reisen

den »Narzissmus«, die »Tiefe« oder die »Irreflexivität« Venedigs zu untersuchen. Auf diese Weise setzt sich sein thematisch geführtes Notizbuch aus sehr unterschiedlichen Textsorten zusammen. Zunächst besteht es aus akribischen Kurznotaten mit möglichst exakten Detailbeobachtungen. Daneben besteht es aber auch aus längeren Reflexionen, die über diese Beobachtungen in allgemeinerer Form nachdenken, um dadurch zu zentralen Begriffen vorzudringen, mit deren Hilfe die Besonderheit Venedigs begriffen und beschrieben werden könnte. Ursprünglich hatte Sartre dann wohl auch daran gedacht, aus seinen Notaten und Reflexionen ein Buch über Venedig zu machen. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen (die vorliegenden Fragmente gehören aber dennoch zum Besten, was je über Venedig geschrieben worden ist, ja, sie gehören zum Besten der Reiseliteratur überhaupt und sind unbedingt lesenswert). Immerhin hat Sartre nach seiner Rückkehr aus Venedig dann aber einen (besonders schönen) Essay geschrieben, in dem er viele Notizen aus seinen Notizbüchern ausgewertet hat. Um diesem Essay eine Gestalt zu geben, hat er sich eines Kunstgriffs bedient. Sartre tut nämlich so, als betrachte er Venedig von einem Fenster seines Quartiers aus, und er benennt seinen Essay auch so: »Venedig von meinem Fenster aus«. Diese besondere Perspektive erlaubt es ihm, nicht über alles und jedes schreiben zu müssen, sondern zentral über das Thema »Wasser«. Von diesem Thema aus lassen sich dann immer wieder Seitenwege zu Nebenthemen finden, die dann aber letztlich immer wieder zum Hauptthema zurückführen. So erhalten die im Notizbuch gemachten Eintragungen zu den unterschiedlichsten Themen ein Gerüst oder einen Überbau und lassen sich innerhalb dieses Baus abrufen, erweitern, zuspitzen oder zusammenführen. Sartres Essay, dessen Kunstfertigkeit man aufmerksam studieren sollte, beginnt dann so: 61

Textprojekte und Schreibaufgaben II

Das Wasser ist zu brav; man hört es nicht. Von einem Verdacht ergriffen, beuge ich mich hinaus: der Himmel ist hineingefallen. Es wagt sich kaum zu rühren, und seine Millionen Falten wiegen verwirrt die unstet aufblitzende, mürrische Reliquie. Da hinten, gen Osten, hört der Kanal auf, dort beginnt die große, milchige Lache, die sich bis nach Chioggia hinzieht; aber auf dieser Seite ist das Wasser weg: mein Blick rutscht von einer Glasfläche ab, gleitet aus und verliert sich zum Lido hin in trübem Glast. Es ist kalt, ein unscheinbarer Tag kündet seine Kreide an …49

Schreibaufgabe n Machen Sie sich vor einem Aufenthalt in einer Stadt, einem Dorf oder einer Landschaft kleine Listen mit den Orten, an denen Sie sich aufhalten wollen, und mit den Themen, die Sie an den jeweiligen Orten verfolgen wollen. n Ordnen Sie bestimmte Orte den Themen zu und überlegen Sie, wie Sie an Material zu Ihren Themen kommen. n Notieren Sie später in einem thematisch geführten Notizbuch, dessen Seiten Sie durchnummerieren und oben links jeweils mit einem Themenkasten versehen, Notate, die an den Themen ausgerichtet sind. n Überlegen Sie, wie sich diese Themen miteinander verbinden ließen, und entwerfen Sie einen Übersichtsplan, auf dem die Themen durch Linien miteinander verbunden sind.

49 Jean-Paul

62

Sartre: Königin Albemarle oder Der letzte Tourist, S. 234.

9.2 Dinge auf Reisen Ich packe meinen Koffer und nehme mit: die Taucherbrille, das Badezeug, den Regenschirm, das Medikament gegen Reisekrankheit usw.50 Ein thematisch geführtes Notizbuch könnte sich aber auch auf Aspekte, Motive oder Erscheinungen konzentrieren, die während einer Reise eine große Rolle spielen, meist aber übersehen oder gar nicht bemerkt werden. Solche durchaus wichtigen »Erscheinungen« sind zum Beispiel die Objekte oder Dinge, mit denen wir unsere Reisen verbringen. Wir könnten also ein Reisenotizbuch führen, das sich ausschließlich auf solche Objekte oder Dinge konzentriert. Unsere schriftlichen Notate könnten wir durch Fotografien oder Zeichnungen dieser Gegenstände ergänzen. So würden wir unsere Reise anhand von nahen, uns begleitenden oder uns begegnenden Dingen des Alltags beschreiben und dokumentieren. Statt der üblicherweise meist im Vordergrund von Reiseaufzeichnungen stehenden großen touristischen Attraktionen, die bereits in vielen Reiseführern behandelt und ausgestellt werden, würden wir den intimen, von Gegenständen strukturierten Raum um uns herum erfassen und porträtieren. Keine Frage, dass ein solches Notizbuch sehr reizvoll und vielleicht aussagekräftiger, persönlicher oder sogar »wahrhaftiger« wäre als so mancher Bericht über die touristischen Vorzeigeobjekte um uns herum. 50 Daniella

Seidl/Johannes Moser: Dinge auf Reisen. In: Dinge auf Reisen. Materielle Kultur und Tourismus. Hrsg. von Johannes Moser und Daniella Seidl. Münster 2009, S. 11.

63

Textprojekte und Schreibaufgaben II

Wir könnten mit jenen Gegenständen beginnen, die uns auf unserer Reihe begleiten und sich zumeist in unseren Koffern, Taschen oder Rucksäcken befinden. Mehrere von ihnen könnten wir zu einer Gruppe zusammenstellen, fotografieren oder zeichnen und kurz beschreiben. Während unserer Reise könnten wir sie dann an den verschiedensten Orten porträtieren, an denen wir sie aufstellen, ausbreiten oder benutzen. Die Schriftstellerin Eva Corino (geb. 1972) hat ein Projekt dieser Art einmal nicht mit sich selbst, sondern mit Passanten durchgeführt, die ihr auf Berliner Straßen begegneten. Sie hat diese Passanten nach ihren Namen gefragt und sie dann gebeten, von den Dingen zu erzählen, die sie in ihren Taschen mit sich herumtragen: Lisa Bock heiße ich und in meiner Handtasche habe ich ein selbst gehäkeltes Spitzentaschentuch. Ich bin Gastwirtin und habe zwei Jahre die Landwirtschaftsschule besucht. Da habe ich auch häkeln gelernt, nähen und weben. Das ist jetzt ein eher einfaches Muster, ich habe schon viel schönere Sachen gemacht. Was habe ich denn noch hier ? Ein Odol-Mundspray, das ist ganz wichtig. Ein Reinigungstuch für meine Brille: Alles klar ! Und ein Lippenstift von Jade, ich mach die rosarote Farbe. Mein Sohn Käthe meint, ich mach da ein bisschen viel drauf, aber ich mach das 51 leiden. Anhand der vor Eva Corino ausgebreiteten Gegenstände beginnen die befragten Passanten, Fragmente ihres Lebens zu erzählen. So erweisen sich die Dinge als Erzählstimuli, und es wird deutlich, in welche biografischen Erzählzusammenhänge sie 51 Eva

64

Corino: Das TASCHENbuch, S. 20.

Dinge auf Reisen

gehören. Jedes Ding erhält dadurch seine eigene Geschichte, es ist die Geschichte seiner Nutzung oder des Gebrauchs, den seine Besitzerin oder sein Besitzer von ihm gemacht hat.52 Während einer Reise erweist sich eine solche Verbindung zwischen Gegenstand und Besitzer meist als besonders bedeutsam. Die Gegenstände in Koffer, Tasche oder Rucksack markieren nämlich oft einen intimen Rahmen des eigenen Zuhauses, das einen in die Fremde begleitet. Sie haben dann die Bedeutung, einen Teil dieses Zuhauses weiter vor Augen zu führen und gleichsam gegenwärtig und nahe erscheinen zu lassen. Andererseits beginnen wir auf Reisen aber auch, Gegenstände der Fremde auszuwählen oder sogar zu sammeln, um sie mit auf den Weg zurück, nach Hause, zu nehmen. Eine am Strand gefundene Muschel, ein während einer Bergwanderung mitge53 nommener Stein  – sie sind sowohl Erinnerungsobjekte als auch Erzählstimuli, mit deren Hilfe wir nach unserer Rückkehr unseren Freunden und Bekannten von unserer Reise erzählen. In einem Tagungsband mit Untersuchungen zur materiellen Kultur des Reisens haben einige Wissenschaftler der Universität München über die vielen Bedeutungen solcher Ding-Szenarien 54 auf Reisen nachgedacht. Neben den von zu Hause mitgebrachten und den wieder nach Hause mitgenommenen Dingen interessieren diese Forscher dabei auch jene Dinge auf Reisen, die wir dann beinahe täglich berühren oder aufsuchen und die so etwas wie unser zweites, kurzfristiges Zuhause bilden. So benutzen wir etwa am Strand immer wieder denselben Strandkorb oder den52 Der

englische Anthropologe Daniel Miller hat in diesem Sinn mit Bewohnern einer Londoner Straße über die Dinge in ihren Wohnungen gesprochen. Vgl. Daniel Miller: Der Trost der Dinge. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Berlin 2010. 53 Vgl. Roger Caillois: Steine. Aus dem Französischen von Gerd Henniger. München u. Wien 1983. 54 Dinge auf Reisen. Materielle Kultur und Tourismus. Hrsg. von Johannes Moser und Daniella Seidl. Münster 2009.

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Textprojekte und Schreibaufgaben II

selben Liegestuhl, wir öffnen immer wieder denselben Sonnenschirm und bauen um unseren Strandplatz herum unsere eigene kleine Zone des Wohnens. Aus welchen Gegenständen besteht sie ? Und welche Erzählungen und Funktionen verknüpfen sich mit diesen Gegenständen ? In vielen Fällen haben bestimmte Gegenstände eine geheime Beziehung zu unseren Emotionen. Indem wir sie immer wieder berühren, beruhigen wir uns oder wir nehmen eine Verbindung zu früheren Geschichten oder Menschen auf, die diese Gegenstände vor und nach uns berühren. Wir öffnen eine Flasche mit Hautcreme einer bestimmten Marke, die wir auch zu Hause immer benutzen – und wir atmen ihren Duft ein. Plötzlich haben wir einen bestimmten Raum unseres Zuhauses vor Augen, ja, wir hören vielleicht sogar andere Stimmen, die in der Umgebung dieses Raumes oft zu hören sind. Auf diese Weise verbinden die Gegenstände uns mit bestimmten Raum- und Zeiterfahrungen. Sie versetzen uns in bestimmte Räume und andere Zeiten zurück, und sie aktivieren unsere Sinne, die an der Gestaltung unserer Emotionen zentral beteiligt sind. So erleben wir Abneigung, Distanz, Furcht, Angst, Ekel, aber auch Behagen, Nähe, Freude oder Lust. Genau diesen geheimen Beziehungen sollten wir nachspüren und sie zu beschreiben versuchen: indem wir uns immer wieder den verschiedensten, unsere Reisen begleitenden Dingen zuwen55 den und sie befragen.

55 Gottfried

Korff: Sieben Fragen zu den Alltagsdingen. In: Alltagsdinge. Erkundungen zur materiellen Kultur. Hrsg. von Gudrun König. Tübingen 2002.

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Dinge auf Reisen

Schreibaufgabe n Legen Sie eine kleine Liste all der Gegenstände an, die Sie während eines Reisetags unbedingt in einer Tasche etc. mit sich führen, und notieren Sie Erinnerungen oder Geschichten, die mit diesen Gegenständen verbunden sind. n Führen Sie auf Ihrer Reise immer wieder »Raumerkundungen« durch, indem Sie jene Gegenstände auflisten und beschreiben, die Sie an bestimmten, häufig von Ihnen aufgesuchten Räumlichkeiten immer wieder vorfinden oder sogar in die Hand nehmen. n Fragen Sie sich, welche Sinne die einzelnen Gegenstände in Ihrer Tasche oder in einem Raum besonders ansprechen, und beschreiben Sie diese Sinneseindrücke. n Notieren Sie dann, zu welchen Emotionen diese Sinneseindrücke im Einzelnen beitragen, und beschreiben Sie nur anhand der Beschreibung von Gegenständen jene häufiger aufgesuchten Räume, in denen Sie sich während Ihrer Reise besonders wohl, und im Gegensatz dazu auch jene Räume, an denen Sie sich unwohl oder »fehl am Platz« fühlen.

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9.3 Gastrosophisches Schreiben auf Reisen Wenn man in Frankreich nach Süden reist und kurz hinter Valence nach Mornas kommt, dann erlebt man, daß ein neuer Geschmack beim Essen hinzukommt, der Geschmack des Knoblauchs.56 Ein besonderes Vergnügen könnte es machen, während einer Reise ein Notizbuch zu führen, das sich ausschließlich mit dem Thema »Gastrosophie der Reise« beschäftigt. Gastrosophie – das wäre: ein Studium der Mahlzeiten, des Essens und Trinkens, der Speisen und Zutaten, der jeweiligen Küche vor Ort. Ein solches Studium könnten wir ganz nebenher betreiben, indem wir in einem Notizbuch jeweils notieren, was wir täglich essen und trinken und wie uns diese Mahlzeiten schmecken. »Gastrosophisch« zu schreiben bedeutet dabei, sich bewusst zu machen, wie etwas schmeckt, diesen Geschmack dann aber auch möglichst genau zu untersuchen und in seine Bestandteile zu 57 zerlegen. Natürlich sollten wir uns dabei vornehmen, in der jeweiligen Region vor allem das zu essen und zu trinken, was wir noch nicht kennen und was gerade für diese Region charakteristisch ist. Selbst die einfachsten Gerichte haben oft solche charakteristischen regionalen Prägungen, ihnen sollten wir nachgehen und zu verstehen versuchen, wie sie entstanden sind. Um das herauszubekommen, sollten wir uns längere Zeit auf den offenen Märkten oder in den Markthallen unserer Reiseregion herumtreiben. Wir sollten das Angebot von Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst und allen anderen Produkten untersuchen und 56 Alexandre

Dumas: Aus dem Wörterbuch der Kochkünste, S. 57.

57 Vgl. Harald Lemke: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie. Berlin

2007.

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Gastrosophisches Schreiben auf Reisen

uns vor Ort erkundigen, woher diese Produkte kommen und wie sie gerade in dieser Region verarbeitet werden. Während solcher Streif- und Erkundungsgänge sollten wir ein kleines Wörterbuch anlegen, das die Begriffe für die jeweiligen Speisen in der Originalsprache festhält. Wir sollten also zunächst den fremdsprachigen Namen, dann eine mögliche Übersetzung und schließlich die Eindrücke notieren, die wir von der jeweiligen Speise durch erste Betrachtungen gewonnen haben: Wie sieht sie aus ? Wie breit ? Wie groß ? Welche Farben ? Welcher Geruch ? Sieht sie anziehend aus ? Wie sollte man weiter mit dieser Speise umgehen ? Zerlegen ? Zerschneiden ? Als Ganzes zubereiten ? Usw. Anregungen für solche Notate könnten wir aus einem wegen seiner originellen Beschreibungen berühmt gewordenen »Appetitlexikon« des späten neunzehnten Jahrhunderts gewinnen, in dem Speisen etwa so beschrieben werden: Anchovis (engl. anchovy, franz. anchois, ital. sardella), ein silberglänzender, 15 cm langer Seefisch, der die Küsten des Schwarzen Meeres, des Mittelmeeres, des Atlantischen Ozeans und der Nordsee unsicher macht, bisweilen auch in geschlossener Masse in die Flüsse eindringt und zu Millionen gefangen wird, um, geköpft und ausgeweidet, entweder gesalzen als Sardelle oder mit Gewürzen eingemacht als Anchovis in den Handel zu kommen. In Öl gesotten, spielt er sich bisweilen als Pilchard auf und wird als Öl-Sardine 58 (Sardine à l’huile) verbraucht … Der französische Schriftsteller Alexandre Dumas (1802–1870), Autor so bekannter Werke wie »Die drei Musketiere« oder »Der 58 Rudolf

Habs und L. Rosner: Appetitlexikon. Ein alphabetisches Hand- und Nachschlagebuch über Speisen und Getränke. Frankfurt/M. 1982 (Neuauflage), S. 20.

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Textprojekte und Schreibaufgaben II

Graf von Monte Christo«, war ein bekannter Feinschmecker und Gastrosoph. Auch er arbeitete an einem Wörterbuch der Kochkünste, dessen oft launig geschriebene Artikel inspirieren könnten: Sauerkraut ist ein typisches Gericht der Deutschen, die ganz verrückt danach sind. Auch ist es sprichwörtlich geworden, nämlich als sicheres Mittel, sich totschlagen zu lassen; so wie in Italien, wenn man dort die Frauen nicht hübsch findet, oder in England, wenn man über die Freiheiten disputiert, die das Volk dort erreicht hat, so schwebt man in Deutschland in höchster Lebensgefahr, wenn man nicht verkündet, daß Sauerkraut eine göttliche Speise sei … Vorzugsweise wird Sauerkraut in Fässern konserviert, und zwar unter einer Schicht von Essig, Wein oder einer anderen säurehaltigen Flüssigkeit. Meist verwendet man Weißkohl. Man entfernt die hängenden Blätter am Stiel, schneidet das Herzstück in Scheiben und hobelt es mit einer Art Küferhobel. So entstehen winzig schmale Streifen, die sich wie Bänder entfalten. Der Boden des Fasses wird mit Meersalz bedeckt, und darauf kommt eine Schicht 59 des gehobelten Kohls. Alexandre Dumas hat sich umgehört, um zu erfahren, was man über die jeweiligen Speisen erzählt, und er hat sich mit Köchinnen und Köchen unterhalten, um mit ihnen die unterschiedlichsten Zubereitungsarten zu diskutieren. Recherchen solcher Art könnten sich auch in unserem thematisch geführten, gastrosophischen Notizbuch niederschlagen. Daneben könnten wir aber auch viel über all jene Schauplätze notieren, an denen wir unsere Mahlzeiten zu uns genommen haben (Restaurants, kleine Gaststätten, Küchen von Freunden und 59 Alexandre

70

Dumas: Aus dem Wörterbuch der Kochkünste, S. 116

Gastrosophisches Schreiben auf Reisen

Bekannten etc.). Auch das Interieur dieser Gaststätten ist ein wichtiger Bestandteil der Mahlzeit, ganz zu schweigen von den Tischgesprächen, die wir während dieser Mahlzeiten geführt haben.60 Sollte es uns aber sogar gelingen, in die Küchen der jeweiligen Gasthäuser vorzudringen und vor Ort erklärt zu bekommen, wie genau bestimmte Mahlzeiten zubereitet wurden, so würden Notate zu solchen Küchenbesuchen sicher ein besonders wertvolles Material für das gastrosophische Schreiben hergeben. Zum Schluss daher noch einige Empfehlungen von Büchern, deren Autoren mit einem dezidiert gastrosophischen Blick unterwegs waren und oft die halbe Welt bereist haben, um Details über die Küchen, Restaurants und Essgeschichten der verschiedensten Länder zu erfahren. Der Wiener Gastrosoph Christoph Wagner beschreibt in einem »kulinarischen Reisetagebuch« mit dem Titel »Le Tour Gourmand« Mahlzeiten und Schauplätze 61 der Mahlzeit von Bad Ischl bis Peking. Und der Schriftsteller Kurt Bracharz gewährt in seinem Buch »Esaus Sehnsucht« Ein62 blicke in sein »gastrosophisches Tagebuch«, während der amerikanische Koch und Schriftsteller Anthony Bourdain davon erzählt, wie er um die ganze Welt gereist ist: auf der Suche nach dem vollkommenen Genuss.63

60 Iris

Därmann/Harald Lemke (Hrsg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Bielefeld 2008. 61 Christoph Wagner: Le Tour Gourmand. Ein kulinarisches Reisetagebuch von Bad Ischl bis Peking. St. Pölten, Wien, Linz 2002. 62 Kurt Bracharz: Esaus Sehnsucht. Ein gastrosophisches Tagebuch. Wien, Berlin 1984. 63 Anthony Bourdain: Ein Küchenchef reist um die Welt. Auf der Suche nach dem vollkommenen Genuss. Aus dem Amerikanischen von Dinka Mrkowatschki. München 2004.

71

Textprojekte und Schreibaufgaben II

Schreibaufgabe n Fotografieren Sie auf Märkten, in Markthallen, in Metzgereien, Gemüse-, Obst-, Käse- und Brotläden etc. das Angebot und nehmen Sie dabei immer nur ein einzelnes Produkt auf. Notieren Sie den fremdsprachigen Namen des Produkts und beschreiben Sie es genauer, wie oben angegeben. n Fotografieren Sie die kleinen und großen Mahlzeiten, die Sie während eines Tages zu sich nehmen (vergessen Sie die Getränke nicht). Notieren Sie die einzelnen Bestandteile dieser Mahlzeiten in der jeweiligen Landessprache und beschreiben Sie den Geschmack der einzelnen Speisen und Getränke. n Legen Sie ein Wörterbuch der verschiedenen Produkte sowie der Mahlzeiten an, und erzählen Sie in den Artikeln dieses Wörterbuchs, was Sie über diese Produkte und die Mahlzeiten alles erfahren haben. n Notieren Sie Rezepte der jeweiligen Reiseregion und versuchen Sie nach Ihrer Rückkehr nach Hause, einige dieser Rezepte nachzukochen. Erzählen Sie von Ihren Erfahrungen während des Kochens und schließlich auch vom Genuss der selbst zubereiteten Speisen. n Laden Sie zu diesem Genuss eine Tischgesellschaft ein und protokollieren Sie die Gespräche während des Essens, indem Sie diese Gespräche aufnehmen und auf einer CD festhalten.

72

9.4 Fragen auf Reisen Möchten Sie Ihre Frau sein ? 64 Als letztes thematisch geführtes Notizbuchprojekt nehmen wir uns ein Projekt vor, das auf den ersten Blick vielleicht etwas kurios erscheinen mag. Bei diesem Projekt geht es nämlich darum, dass wir uns während einer Reise immer wieder selbst befragen, ja, genau, es geht darum, dass wir versuchen, ein gelenktes und von uns selbst strukturiertes Interview oder Gespräch mit uns selbst zu führen. Was für einen Sinn ein so kurioses Projekt für unser Schreiben haben könnte, wollen wir klären, wenn wir das Projekt besser kennengelernt haben. Vorerst einmal schauen wir uns aber etwas genauer das »Fragebuch« der beiden Autoren Mikael Krogerius 65 und Roman Tschäppeler an. In der »Gebrauchsanweisung« (dem Vorwort) ihres Buches erwähnen sie, dass ihre Arbeit mit einer Beobachtung und damit natürlich auch mit einer Frage begonnen habe. Sie hätten sich nämlich gefragt, warum niemand einem einmal eine richtig gute Frage stelle. Und dann hätten sie sich an die Arbeit gemacht. Herausgekommen seien dabei »565 provozierende, erheiternde, einleuchtende, entlarvende, unerhörte Fragen«. Die Fragen werden dann verschiedenen Kategorien zugeordnet. Es gibt Fragen zu Ritualen und Routinen, zum Körpergefühl, zu Geld und Besitz, zur Familie, zum Kinderkriegen oder zum Sterben. Natürlich sollen diese Fragen nicht die üblichen sein, die uns immer wieder im Alltag zu diesen oder jenen Themen gestellt werden. Stattdessen sollen es Fragen sein, die uns aufrüt64 Max

Frisch: Fragebogen, S. 23. Krogerius/Roman Tschäppeler: Fragebuch. Zürich 2009.

65 Mikael

73

Textprojekte und Schreibaufgaben II

teln, verblüffen und uns Antworten und Reaktionen auf Themen entlocken, die uns plötzlich eine noch unentdeckte Seite unseres Selbst zeigen oder sogar offenbaren. Für die Beantwortung der Fragen geben die beiden Autoren vier Spielregeln vor: 1. Überlegen Sie nicht zu lange, nehmen Sie die Antwort, die Ihnen spontan einfällt. 2. Es gibt keine richtigen Antworten. Nur ehrliche. 3. Jede Antwort gilt nur so lange, bis sie revidiert wird. 4. Wir alle bewundern Menschen, die gute Antworten haben. Noch mehr bewundern wir Menschen, die gute Fragen stellen. Am meisten aber berühren uns jene, die wirklich zuhören.66 Das »Fragebuch« von Krogerius und Tschäppeler könnte uns eine gute Vorlage dafür liefern, wie wir uns selbst während einer Reise immer wieder befragen könnten. Solche Fragen wären dann auf einzelne Augenblicke des Reisens konzentriert. Irgendwo am Mittelmeer in einem Strandcafé sitzend, könnten wir zum Beispiel beginnen, uns einige Fragen zu diesem Raum zu notieren: Mit wem in unserer momentanen Umgebung würden wir gerne oder auf keinen Fall Kontakt aufnehmen (und warum) ? Wen würden wir gerne zu welchem Getränk oder welcher Speise auf der ausliegenden Getränke- oder Speisekarte einladen ? Welcher Gegenstand in unserer Umgebung findet gerade unser besonderes Interesse und warum ? Welche Menschen oder Dinge haben etwas leicht Bedrohliches und warum ? Etc. Solche Fragen lassen sich, wie übrigens auch die meisten Fragen in dem »Fragebuch« von Krogerius/Tschäppeler, wirklich relativ rasch und spontan beantworten. 66 Mikael

74

Krogerius/Roman Tschäppeler: Fragebuch. Zürich 2009, S. 5.

Fragen auf Reisen

Der Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) dagegen hat immer wieder »Fragebögen« entworfen, die besonders pointierte und dem Befragten stärker zu nahe tretende Fragen enthalten, Fragen etwa in dieser Art: Kennen Sie Freundschaft mit Frauen: a.  vor Geschlechtsverkehr ? b.  nach Geschlechtsverkehr ? c.  ohne Geschlechtsverkehr ? 67 Die besondere Meisterschaft dieser Fragen besteht darin, dass die Antworten ins Grundsätzliche führen. Hier nämlich ist es nicht einfach damit getan, »Ja« oder »Nein« zu sagen oder die Fragen mit wenigen Sätzen oder kurzen Erzählungen zu beantworten. Vielmehr muss der Befragte sehr grundsätzlich darüber nachdenken, wohin seine Antwort ihn führt und was er mit ihr an Ungesagtem alles noch zu erkennen gibt. Rasches, spontanes Antworten, wie es die beiden Autoren Krogerius und Tschäppeler in ihrem »Fragebuch« vom Befragten fordern, kann im Fall der Fragebögen Max Frischs also leicht aufs Glatteis führen. Frisch stellt seine Fragen vielmehr so, dass die Antworten eigentlich ein langes Nachdenken erfordern. Ein solches Nachdenken richtet sich nicht nur auf punktuelle Vorlieben oder Passionen, Zuoder Abneigung, sondern auf ein größeres Erlebnisfeld in der Biografie jedes Einzelnen. Die Antwort erfordert dann ein fundamentales Stück autobiografischen Erzählens, wie etwa bei dieser Frage: Ist es Ihnen schon gelungen, die eignen Kinder kennenzulernen, d. h. 68 sie nicht als Söhne oder Töchter zu sehen ?   67 Max 68 Max

Frisch: Fragebogen, S. 56. Frisch: Fragebogen, S. 69.

75

Textprojekte und Schreibaufgaben II

Von Frageprojekten wie dem (umgänglichen) »Fragebuch« von Krogerius/Tschäppeler oder den (sezierenden) »Fragebögen« von Max Frisch können wir für unsere Selbstbefragungen auf Reisen viele Anregungen gewinnen. Und nachdem wir jetzt besser verstanden haben, wie sie vorgehen, verstehen wir auch, wozu solche Selbstbefragungen führen könnten: Sie könnten uns zu Notaten und Überlegungen veranlassen, die uns sonst nie in den Sinn gekommen wären, und sie könnten uns dabei etwas von jenen Gedanken und Empfindungen entlocken, die wir zwar die ganze Zeit mit uns herumgetragen haben, denen wir aber nie genauer nachgegangen sind. In diesem Sinne tragen die Selbstbefragungen dazu bei, dass wir während einer Reise an Fragmenten einer autobiografischen Sicht der Reise arbeiten. Milde oder scharf befragt, werden wir gedrängt oder sogar genötigt, uns auch auf manchmal indiskrete, ja vielleicht sogar peinliche Weise die Wahrheit über die Reise (und damit über uns selbst) zu erzählen. Dabei verführen uns gut gestellte Fragen zu kleinen Bekenntnissen oder sogar zu einer 69 Art Beichte. Plötzlich sprechen wir mit uns über Gefühle und Empfindungen, die wir gegenüber unserer Umgebung verbergen oder abschotten. Durch das Fragen und Nachfragen dringen wir zu sonst verborgenen psychischen Terrains einer Reise vor. Indem wir sie aufschreiben und vielleicht sogar noch weiter an ihnen arbeiten, arbeiten wir an einer »Autobiografie der Reise«.

69 Vgl. Peter

76

Zimmerling: Studienbuch Beichte. Göttingen 2009.

Fragen auf Reisen

Schreibaufgabe n Nehmen Sie an einem bestimmten Ort (in einem Café, auf einer Parkbank, am Strand) Platz und notieren Sie sich eine Liste von Fragen, die sich auf diesen Ort beziehen. n Beantworten Sie diese Fragen dann schriftlich, indem Sie den Gefühlen und Empfindungen nachgehen, die Ihre Fragen berühren. n Sammeln Sie während Ihrer Reise immer wieder Fragen zum Verlauf der Reise und zu einzelnen Ereignissen, die Sie besonders irritiert haben. n Beantworten Sie diese Fragen zum Verlauf Ihrer Reise als Ganzes dann am Ende Ihrer Reise und versuchen Sie, mit diesen Antworten zu einem Resümee der Reise zu gelangen. (In der umgänglichen Version könnten die Fragen etwa so lauten: Welche Momente der Reise bleiben Ihnen besonders in Erinnerung ? Waren Sie insgesamt gerne unterwegs oder nicht ? Was hat Sie während Ihrer Reise besonders enttäuscht ? Würden Sie diese Reise in dieser Form noch einmal machen ? In der sezierenden Version aber wären Fragen wie etwa die folgenden denkbar: Wenn Sie Ihr eigener Begleiter auf dieser Reise gewesen wären, hätten Sie während der Reise dann manchmal auf die Idee kommen können, diesen Begleiter zu erschießen, weil Sie ihn einfach nicht mehr ertragen oder ausgestanden, ja, weil Sie ihn gehasst hätten ? Was im Einzelnen hätte diesen Hass hervorgerufen und was hätte Sie davon abgehalten, wirklich so rigoros zu verfahren ?)

77

Textprojekte und Schreibaufgaben III: Schreiben für und an andere 10. Die Ansichtskarte Meine liebe Telefonklingel, stell Dir vor, ich bin in einer Stadt, da lachen die Autos.70 Machen wir uns nun einige Gedanken zu Texten, die wir nicht für uns selbst, sondern vor allem für andere schreiben. Seit jeher nämlich hat das Reisen auch dazu animiert, die eigenen Beobachtungen und Gedanken nicht für sich zu behalten, sondern sie den Zuhausegebliebenen bereits während der Reise mitzuteilen. Für Texte solcher Art ist wichtig, dass wir den Empfänger immer im Auge behalten. Wenn wir für andere schreiben, sollten wir unsere Mitteilungen selektieren und uns fragen: Was interessiert den Empfänger wirklich ? Und wie unterhalten wir ihn gut, anstatt ihn mit Allerweltsmitteilungen über das Wetter, kleine Leiden oder zu hohe Preise zu nerven ? Eine der beliebtesten Formen solcher Mitteilungen war im 71 letzten Jahrhundert die Ansichtskarte. Sie erlaubte es, einen kurzen schriftlichen Gruß mit einer Fotografie des Reiseortes 70 Lieber

Johnny. Jurek Beckers Postkarten an seinen Sohn Jonathan, S. 64. Holzheid: Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie. Berlin 2011.

71 Anett

78

Die Ansichtskarte

auf der Rückseite zu verbinden. Oft nahm der Text auf das Foto Bezug, hob ein Detail hervor oder skizzierte eher summarisch einen Eindruck des jeweiligen Ortes. Ansichtskarten in dieser Form waren »Lebenszeichen«, die den Empfängern signalisieren sollten, dass die Reisenden sich wirklich »vor Ort« befanden, dass es ihnen auch in der Fremde gut ging und dass sie an die Empfänger der Grußbotschaften dachten.72 Insofern waren solche Karten die direkten Vorläufer der heutigen erheblich rascheren elektronischen Grußformen. Seit es SMS, MMS oder Mails gibt, sind Ansichtskarten daher auch immer seltener geworden. Was aber nicht heißt, dass man mit ihnen nicht experimentieren und sie nicht als literarische Textformen verstehen und nutzen könnte. Wie man so etwas macht, zeigen auf besonders brillante Weise die Ansichtskarten, die der Schriftsteller Jurek Becker (1937 bis 1997) an seine Freunde und an seinen Sohn Jonathan geschrieben hat. Während seiner Reisen ist Becker dafür oft auf Suche nach besonders komischen oder abgefahrenen Bildmotiven gegangen, zu denen er dann kleine Kommentare geschrieben hat. Im Januar 1988 reist er zum Beispiel nach Hawaii, die Ansichtskarte, die er seinen Berliner Freunden schickt, zeigt eine Gruppe von Hawaiianern mit entblößten Oberkörpern, buntem Lendenschurz und Schmuck: drei Männer, drei Frauen, alle übertrieben lachend, alle auf einem Boot. Dazu schreibt Becker: Ihr unsere Liebsten, auf Hawaii lauert hinter jeder Ecke ein Gangster, der Dir eine Blumenkette um den Hals werfen will und dabei den Eindruck erweckt, es handele sich um die ortsübliche Gastfreundschaft. Die zehn Dollar, die das mindestens kostet, werden nahezu verschämt 72 Horst

Hille: Postkarte genügt. Ein kulturhistorisch-philatelistischer Streifzug. Heidelberg 1988.

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Textprojekte und Schreibaufgaben III

angenommen. Heute habe ich einen diesbezüglichen Versuch mit den Worten »Piss off« abgewehrt. Das ist hawaiianisch und heißt soviel wie: »Danke, ich habe schon einen Kranz«. Es hat gewirkt.73 Beckers Text spielt mit dem Ansichtskartenmotiv, er geht darauf ein und behandelt es frei, aber nicht so frei, dass er nicht zumindest einige Informationen über seinen Reiseort unterbringen würde. Vor allem aber erzählt er eine kleine Geschichte: dass den Touristen überall Blumenketten angeboten werden, dass so etwas nervt und wie man souverän damit umgeht. Der übliche Postkarten-Ernst (»hier werden einem überall Blumenketten angeboten, die viel zu teuer sind, man muss sich richtig dagegen wehren«) wird dabei so unterlaufen, dass die Aufdringlichkeit der Verkäufer nicht wie ein ernst zu nehmendes Weltübel erscheint, sondern als ein komisches Weltdetail am Rande. Bildmotiv und Text beziehen sich so eng aufeinander und bringen die Empfänger zum Lachen. Noch enger ist die Verbindung zwischen Foto und Text auf den Ansichtskarten, die Becker seinem kleinen Sohn Jonathan geschrieben hat. Da gibt es Texte, die ein Bildmotiv (ein Bild von Mirò, ein Bild von Kandinsky) fragend auseinandernehmen und den Empfänger mit der Betrachtung des Bildes beschäftigen: Du alte Leseratte, hast Du schon je auf einer einzigen Postkarte ein solches Durcheinander gesehen ? Ein Telefon, Sterne, ein flatterndes Segel, eine Sonne, ein abgenagter Fisch, eine Sanduhr und was nicht alles ! Ich glaube, der Maler hatte ein bißchen viel Phantasie. Einen Regenwurm sehe ich auch noch. Und Du ( ?) 74 Dein Paps  73 Jurek

Beckers Neuigkeiten an Manfred Krug & Otti, S. 118 f. Lieber Johnny, S. 166.

74 [Becker, Jurek:]

80

Die Ansichtskarte

Oder es gibt Karten, deren Bildmotiv (hier: Batman und Robin in einem Boot) so pointiert auserzählt wird, dass der Empfänger Lust bekommt, diesem Erzählvorschlag seine eigene Erzählversion entgegenzusetzen: Du alter Seeräuber, interessiert es Dich, wohin Batman und Robin so schnell mit ihrem Boot fahren ? Batman hat fürchterlichen Hunger (er hat nämlich nicht gefrühstückt) und will im Restaurant fünf doppelte Hamburger essen. Und Robin muß ganz nötig pinkeln, das kann er auch in dem Restaurant machen. Und danach wollen die beiden sich noch ein bißchen zum Mittagsschlaf aufs Ohr legen, denn heute ist nicht viel los mit den Verbrechern. 75 Dein Paps  Anhand solcher Texte kann man gut erkennen, wie lebendig und unterhaltsam man auch auf kleinstem Raum schreiben kann. Voraussetzung ist, dass sich die Texte eng auf das Bildmotiv beziehen und dabei kleine Erzählungen entwerfen, die zur genaueren Betrachtung des Bildmotivs anleiten. Diese »Anleitung« muss jedoch unmerklich und locker geschehen, sodass der Betrachter die Freiheit behält, auf eine solche Erzählung mit einer eigenen Erzählung zu reagieren. Gelungene Ansichtskarten-Texte beschäftigen den Empfänger daher sowohl mit dem Bild als auch mit offenen Stellen im Text. Sie sorgen dafür, dass der Empfänger eine solche Karte nicht gähnend oder sonstwie gelangweilt beiseitelegt, sondern hin und her wendet auf der Suche nach genau jenem Text, den er selbst zu diesem Motiv geschrieben hätte. So gesehen, sind gelungene Ansichtskarten-Texte Animateure: Sie machen Lust, 75 [Becker, Jurek:]

Lieber Johnny, S. 140.

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Textprojekte und Schreibaufgaben III

selbst nach abgefahrenen Bildmotiven Ausschau zu halten und zu diesen skurrilen Motiven fragende, erzählende und auf jeden Fall heitere Texte zu verfassen.

Schreibaufgabe n Suchen Sie während einer Reise nach Ansichtskarten, die statt der üblichen Ferienmotive ein merkwürdiges Detail Ihres Urlaubsortes aus ungewohnter Perspektive zeigen. n Schreiben Sie zu diesem Detail eine kleine Erzählung: Wie Sie darauf gestoßen sind, was danach so alles passiert ist und wie Sie mit der Sache fertig geworden sind. n Erzählen Sie so, als wollten Sie bloß einen Erzählvorschlag machen und als könnte es auch noch andere Erzählversionen zu demselben Bildmotiv geben. n Verstehen Sie Ihre Karte als einen Versuch, auf freundschaftliche und heitere Art eine enge Verbindung nach Hause herzustellen, vermeiden Sie deshalb jede solipsistische Reiselarmoyanz. n Schreiben Sie nicht nur eine Ansichtskarte, sondern schreiben Sie an ein und denselben Empfänger viele Ansichtskarten, am besten Tag für Tag eine. So arbeiten Sie ganz nebenbei an einem neuen literarischen Genre: der Fortsetzungserzählung auf Ansichtskarten.

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11. Der Reisebrief Das Monstrum nimmt einen monumentalen Brief in Angriff. 76 Auch der Brief von unterwegs ist auf den ersten Blick eine Mitteilungsform, die nicht mehr zeitgemäß erscheint. Und doch hat gerade dieses Genre noch immer seine eigene Schönheit und Würde. Einen Brief zu schreiben setzt nämlich voraus, dass man sich auch wegen seiner Herstellung einige Gedanken macht. Man tippt nicht einfach nur eine Botschaft auf einer Tastatur, sondern macht sich zunächst einmal auf die Suche nach angemessenen Materialien, nach Briefbögen und Briefumschlägen, nach Briefmarken und Tinte. (In manchen Hotelzimmern findet man auf dem obligatorischen kleinen Schreibtisch noch immer eine ledergebundene Schreibmappe, in der sich hoteleigenes Briefpapier und hoteleigene Briefumschläge mit dem Aufdruck der Hoteladresse befinden. Einen wahren Schreiber verleiten sie sofort zum Schreiben.) Briefe wollen mit Füllfederhalter und Tinte auf bestem Papier geschrieben und in Briefumschläge gesteckt werden, die auf der vorderen Seite oben rechts eine leuchtende Briefmarke schmückt. Das beweist, dass Briefe eben nicht einfache Mitteilungen oder Botschaften, sondern im Grunde kleine Geschenke sind. Sie werden mit der Hand geschrieben und sind mit einem gewissen zeitlichen Aufwand verbunden. Später werden sie sogar verpackt und frankiert, sodass sie beinahe wie minimalistische Schatzkästchen erscheinen. Denn ähnlich wie in Schatzkätzchen verbergen sich auch in Briefen 76 Giuseppe

Tomasi di Lampedusa: Ein Literat auf Reisen. Unterwegs in den Metropolen Europas, S. 53.

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Textprojekte und Schreibaufgaben III

versteckte intime Kostbarkeiten: die klopfenden Herztöne des Schreibers, kaum hörbare Signale, die der Empfänger nur gewahr wird, wenn er Auge und Ohr dicht an den Brief hält. Der Empfänger entziffert und lauscht – er lässt den Brief sinken und auf sich wirken, er überfliegt ihn und denkt nach, dann konzentriert er sich wieder auf seine Lektüre. Brieflektüren haben so ihre eigenen Rhythmen, denn Brieftexte werden nicht hastig geschluckt oder sonstwie nur kurz zur Kenntnis genommen. Sie fließen oder sickern vielmehr langsam in den Blutkreislauf des Lesenden ein und werden immer wieder von vorn und dann mehrmals und zu den verschiedensten Zeiten gelesen. Und was bekommen die Leserin oder der Leser dann im idealen Fall zu hören ? Die Musik der Reisestimmungen und Reiseatmosphären, intoniert von einer einzigartigen, sehr nahen Stimme. Reisebriefe gehören daher zu den schönsten und persönlichsten Dokumenten des Schreibens auf Reisen. Weder die Information über den Reiseort noch der Einblick in die seelische Verfassung des Reisenden sollten hier im Vordergrund stehen. Stattdessen geht es um bunte Bilder und farbige Klänge – und damit um das Leben in der nächsten Umgebung, frisch erzählt von einer leicht erregten und nervösen Reisestimme, deren Vibrationen nichts anderes sind als ein Nachhall des gerade Erlebten: Heute Abend wird in der französischen Botschaft getanzt. Zuoberst auf der Treppe heißt die Botschafterin die Gäste willkommen. Jahrhunderte zu Dutzenden sind über ihren in eine enge Tunika in der Farbe von risotto alla milanese gehüllten Körper gegangen, von denen jedes seine Spuren auf ihr hinterlassen hat; das XVIII. ihr Gesichtspuder, das XIX. ihre Blutlosigkeit, das XX. die Deformationen der späten und falsch verstandenen »sports«. Am Fuß der Treppe trommelt der Haushofmeister Namen: »His Highness the Prince von Bismarck« ein schmächtiges bebrilltes Männchen, weit 84

Der Reisebrief

entfernt von der Stiernackigkeit seines grässlichen Großvaters; »the Count and the Countess von Blücher«; »His Grace the Duke of Wellington«; feierliches Terzett von Namen, die das ironische Schicksal, einen nach dem anderen, unter dem französischen Dach zusammenführt. Hager und die nationalen Katastrophen Frankreichs überwindend, küssen sie das knochige Gepränge. Seine Exzellenz lächelt hinter dem Bart; sucht verzweifelt nach etwas Geistreichem, das gleichzeitig leutselig, tiefsinnig und würdevoll ist; erfleht den Beistand von Meister Talleyrand; wird nicht erhört; hüstelt.77 Das ist ein Ausschnitt aus einem Brief des begnadeten Briefschreibers Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896–1957), der als Literat durch seinen Roman »Il gattopardo« weltberühmt geworden ist. Lampedusas Brief stammt aus dem Jahre 1928, sein aus Sizilien stammender Verfasser ist auf Tour durch Europa. Gerade ist er in London eingetroffen und erzählt nun von einem Empfang in der dortigen französischen Botschaft. Das Zeremoniell steht ihm dabei noch so nah und direkt vor Augen, dass er es unbedingt im Präsens mitteilen muss. Schaut mit mir hin, will er den Empfängern des Briefes (zwei seiner Lieblingscousins in Sizilien) sagen, schaut, wie die Botschafterin dasteht, schaut, was für eine Erscheinung ! Werft mit mir einen kurzen Blick auf ihre Gestalt, auf ihr Gesichtspuder, auf ihre blutlosen Wangen ! Und nun hört, wie der Haushofmeister die klangvollen, aber urkomischen Namen der Gäste aufruft ! Und nun seht, wie sich die drei lautstark angekündigten Herrschaften dem Botschafter nähern ! Und nun erkennt, wie er um Worte ringt und wie er dabei dramatisch scheitert, urkomisch auch das ! Als Empfänger eines solchen Briefes nimmt man genau wahr, 77 Giuseppe Tomasi

di Lampedusa: Ein Literat auf Reisen, S. 114.

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Textprojekte und Schreibaufgaben III

wie hingerissen der Verfasser von der geschilderten Szene ist. Ganz dicht dran ist er an dem, was er schildert, und ganz nahe dran bleibt er auch an dem weiteren Geschehen, so nahe, dass er Semikolon an Semikolon reiht und keinen Punkt setzen möchte. Moment, scheint er zu rufen, Moment, noch dieses und jenes kleine Detail, Moment, noch dieses letzte Seufzen und Hüsteln – dann erst mache ich einen Punkt. Eine solche Briefsequenz beinhaltet beinahe alle Momente eines guten Briefes. Sie stellt dem Empfänger das Visuelle und Akustische von Szenen vor Augen, und sie behandelt das Gesehene, als wäre es Teil eines Dramas. Die Personen erscheinen dadurch als Charaktere und Typen, und das Ambiente ist vor allem Kulisse. Das Leben hat dadurch etwas von der Art eines Spiels, dessen aufmerksamster Beobachter der Briefschreiber selbst ist. Als beobachtendes »Monstrum« ironisiert er nicht nur die anderen, sondern durchaus auch sich selbst. Ja, auch er selbst, der seiner Heimat Sizilien für einige Zeit entlaufene Adlige, erkennt an seinem eigenen Tun und Handeln die Komik und Verdrehtheit des Reisens: Gestern Morgen (Sonntag) ruhte das träge Monstrum, um 9, noch in seinem breiten Lager, damit beschäftigt circa einen Liter Milch, 6 Brötchen, 4 »Toasts«, 4 Scheiben »cake« und ein paar Marmeladetöpfchen zu konsumieren, unentbehrlicher Ballast für sein tägliches Navigieren. Als das, auf seinem Nachttisch thronende, Telefon klingelte. Es wurde gefragt, ob es der »Diuca« di Palma sei, was es bejahte, und am anderen Ende sagte man, die Wallace Collection 78 sei am Apparat … Auch diese Stelle zeigt Lampedusas enorme Konkretheit: kein Schreiben über sich selbst, kein Ausmalen von Stimmungen, 78 Giuseppe Tomasi

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di Lampedusa: Ein Literat auf Reisen, S. 67.

Der Reisebrief

sondern eine Szene und Bilder. Wo liege ich, was umgibt mich, was passiert, wer spricht mit mir, was antworte ich ? Lampedusa zeigt sich von allem Fremden, was ihm auf Reisen begegnet, so beschäftigt und so animiert, dass er gar keine Zeit für längere Selbstbetrachtungen findet. Stattdessen stellt er das Fremde in seinem Gären, Kreisen und Sichproduzieren aus, während er selbst von der Überfülle des Geschehenden und Gesehenen beinahe verschlungen zu werden droht: »Das Monstrum fühlt sich durch so viele Ortswechsel langsam wie ein Kreisel.«79 Genau so aber sollte es sein. Ein guter Brief zeigt den Reisenden inmitten eines sehr bunten Geschehens, mit großen Augen alles Neue und Sonderbare aufschnappend und mit hastiger, fliegender Feder alles notierend, immer mit dem Blick auf den einen Empfänger, dem man seine Mitteilungen zum besonderen Geschenk macht. Vor allem aber lässt ein solcher Brief eine einzigartige, unverwechselbare Stimme hören, beinahe so, als handelte es sich um eine gesungene Arie. Eine solche Stimme hat unterschiedliche Tempi, sie bewegt sich sehr individuell in Höhe und Tiefe, sie setzt ab, holt Luft, nimmt einen neuen Anlauf. Eng ist sie mit dem Nervensystem und daher mit dem Körper des Schreibenden verbunden. Reisebriefe im besten Sinne sind also Nerven- und Körperbotschaften, sie übersetzen das Atmen, Schwitzen, Rumoren oder Abtauchen auf Reisen in kleinste sprachliche Partikel, in Gestalt eines momentanen sprachlichen Dramas.

79 Giuseppe Tomasi

di Lampedusa: Ein Literat auf Reisen, S. 70.

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Textprojekte und Schreibaufgaben III

Schreibaufgabe n Schreiben Sie an einem (oder an mehreren Tagen, also stückweise) einen Brief an eine Person, die Sie schätzen, mögen oder lieben. n Erzählen Sie darin, möglichst nahe an dem, was Sie erlebt haben, von bestimmten Momenten oder Szenen, die den besonderen Charakter der fremden Umgebung auf lebendige Weise vermitteln. n Schweifen Sie nicht ab und verstehen Sie Ihre Rolle als die eines präzise beobachtenden Auges. n Erzählen Sie vom fremden Leben auf heitere und das heißt souveräne Art: belustigt, amüsiert. n Behalten Sie aber immer den Empfänger des Briefes im Auge, beziehen Sie sich auf seine besonderen Interessen und Vorlieben, sprechen Sie ihn diskret an, fragen Sie ihn etwas, erwecken Sie den Eindruck, dass Sie sich mit ihm austauschen wollen und dass es Ihnen darauf ankommt, seine Meinung zu einer Sache zu hören. (Auch wenn Ihr Brief kein Liebesbrief ist [die besten Briefe sind Liebesbriefe]), so sollte Ihr Brief doch ein Liebesmoment enthalten: das der Verliebtheit in all das, was Sie gerade gesehen haben und was Sie erregt.)

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12. Mediales Schreiben 12.1 Simsen, Mailen und Twittern 1:55 Wir sind jetzt da, wo wir angekommen sind !  80 Die Ansichtskarten des Schriftstellers Jurek Becker an seine besten Freunde sowie an seinen Sohn Jonathan und die Reisebriefe des Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa an seine beiden Lieblingscousins stammen nicht aus dem digitalen Zeitalter, vielleicht besitzen sie gerade deshalb noch eine ganz eigene Schönheit und eine besondere Magie, die etwas geradezu Zeitloses hat. Dass sie einen noch immer berühren oder sogar begeistern, verdanken sie einem langsam aussterbenden Gestus: dem Gestus der Herzenssprache. In der deutschen Literatur wurde dieser Gestus etwa seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts (im Zeitalter der sogenannten »Empfindsamkeit« und später in der »Romantik«) entwickelt. Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers« zählt zu den ersten großen Dokumenten dieser Sprache, und in der Reiseliteratur ist Joseph von Eichendorffs Novelle »Aus dem Leben eines Taugenichts« eine ihrer »Gründungsurkunden«. Für unser Thema »Schreiben auf Reisen« ist wichtig, dass Reise-Texte in der Herzenssprache sich nur an wenige ausgewählte Empfänger wenden. Solche während des Schreibens dauernd im Blick behaltenen Empfänger haben für den Schreiber 80 Anna

Koch/Axel Lilienblum (Hrsg.): Ist meine Hose noch bei euch ? Neues aus SMSvonGesternNacht.de., S. 114.

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Textprojekte und Schreibaufgaben III

eine große Bedeutung, sie werden in besonderem Maße geschätzt, gemocht oder sogar geliebt. Die Karten oder Briefe, die an sie geschickt werden, haben deshalb auch einen besonderen Sinn und Auftrag: Sie wollen die Verbindung zu den Zuhausegebliebenen auf möglichst enge Weise wiederherstellen. Das versuchen sie, indem sie die Sprache von zu Hause sprechen und so tun, als befände sich der Schreiber gar nicht in allzu weiter Entfernung. Indem er die Sprache von zu Hause spricht, gibt er vielmehr zu erkennen, dass er trotz aller Entfernung noch immer derselbe geblieben ist. Seht Ihr mich ? Hört Ihr mich ? – fragt ein solcher Schreiber und schreibt so, als plauderte er mit seinen Liebsten, in deren Kreis (und Leben) er sich insgeheim zurückversetzt. Dazu gehört, dass er bestimmte sprachliche Eigenheiten pflegt, wie sie im Laufe der Jahre in diesem gewohnten Lebensraum entstanden sind. Jurek Becker redet seinen kleinen Sohn mit immer neuen Koseworten an, und Giuseppe Tomasi di Lampedusa erzählt von sich als einem »Monstrum«, dessen Eigenheiten seine beiden Lieblingscousins sehr wohl kennen. So entwerfen die Herzenssprachen ein sehr intimes Geflecht von Bezügen, die Außenstehenden nicht immer alle verständlich sind. Sie klopfen den Körper des Reisenden daraufhin ab, welche vertrauten, nur den Eingeweihten bekannten Signale er der Reise abgewinnt. In diesem Sinn sind Herzenssprachen den »Zaubersprachen« verwandt: Sie unternehmen die Anstrengung, den Körper des Reisenden für Momente nach Hause zurückzuzaubern, und sie tun das in einer mit magischem, beschwörendem Vokabular gesättigten Sprache. All das sollte man sich in Erinnerung rufen, wenn nun in Kurzform vom Gebrauch des medialen Schreibens auf Reisen die Rede ist. Wie ein solches mediales Schreiben in seinen neuen Formaten funktioniert und wie man es literarisieren kann, hat 90

Simsen, mailen und twittern

der Literaturwissenschaftler Stephan Porombka in einem eigenen Band (ebenfalls in dieser DUDEN-Reihe) bereits detailliert erläutert.81 Aus Porombkas Buch kann man daher viele wegweisende und generelle Anregungen für ein solches Schreiben gewinnen. Im Zusammenhang mit unserem Reisethema interessiert uns aber vor allem die Frage, welche Funktion und welche Formen das mediale Schreiben gerade auf Reisen haben könnte. Zunächst verständigen wir uns darauf, dass sich ein solches Schreiben fundamental vom romantisch geprägten Gestus der Herzenssprachen absetzt. Mediales Schreiben insgesamt zielt nicht auf die große Gebärde, auf Gefühl, Nähe und Intimität, sondern ganz im Gegenteil auf den kurzen, möglichst präzisen, sich dann aber wieder verflüchtigenden Kontakt. Der Empfänger einer SMS oder Mail wird diese Signale deshalb auch nicht lange studieren, und erst recht wird er sie nicht immer aufs Neue abrufen, um sich diese Worte vor Augen zu führen oder ihrem spezifischen Klang nachzuhorchen. Vielmehr wird er sie rasch lesen – und (im idealen Fall) möglichst rasch beantworten. Durch die kurze Botschaft und ihre Beantwortung baut sich ein knappes Zusammenfinden oder ein kurzer Zusammenprall zweier Texte auf, so wie eine Kugel beim Billard auf elegantem und glattem Weg eine andere Kugel leicht berührt oder zur Seite stößt. Dann aber herrscht wieder Stille, und eine neue Aktion muss die Fortsetzung des Spiels einleiten. Eine SMS oder eine Mail zielt denn auch ganz und gar nicht darauf, dem Empfänger die Illusion zu vermitteln, der ferne Reisende befände sich noch in seiner Nähe und spräche mit ihm in der vertrauten Sprache, die beide aus langer Erfahrung kennen. 81 Stephan

Porombka: Schreiben unter Strom. Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co. Mannheim 2012.

91

Textprojekte und Schreibaufgaben III

Stattdessen geht es darum, ein kurzes Spiel des Agierens und Reagierens zu spielen. Dieses Spiel kann durchaus auf ein momentanes Wiedererkennen (zum Beispiel von Gemeinsamkeiten) zielen, es verankert dieses Wiedererkennen aber nicht in einer starken, beiden Schreibern gemeinsamen Emotion. Ist der geheime Untergrund der Herzenssprache (im idealen Fall) Zuneigung oder sogar Liebe, so ist der geheime Untergrund des medialen Schreibens (nehmen wir das Beste an) die mehr oder minder intensiv erlebte Bekanntschaft oder sogar Freundschaft. Mit Geliebten lebt man (ununterbrochen, von morgens bis abends, zumindest in Gedanken), mit Bekannten oder Freunden (dieser Art) verkehrt man (ab und zu, in guten Momenten). Nachdem wir uns auf diese Unterschiede verständigt haben, betrachten wir nun genauer einige Formen medialen Schreibens auf Reisen. Die SMS kommt, wie wir schon gesagt haben, der alten Ansichtskarte am nächsten. Sie richtet sich meist an einen einzigen Empfänger, und sie teilt mit, was gerade, in diesem Augenblick, mit dem Verfasser der kurzen Nachricht passiert. Darüber hinaus zielt die SMS aber auch auf sofortigen Empfang und fordert eine Antwort. Ich bin hier und mache dies und das – wo bist du und was machst du gerade ? (So gesehen ist die SMS die kleine, minimalistische Form des Schreibens in Facebook, das sich – im Unterschied zur SMS – eben nicht nur an einen einzigen Empfänger richtet.) Im idealen Fall ergeben Nachricht und Antwort dabei ein pointiertes, kurzes Textverhältnis, etwa so: 3:10 92

Hi Spatz, wann kommst du nach Hause ?

Simsen, mailen und twittern

3:21 3:22

Gleich, zieh dich schon mal aus und leg dich ins Bett ! ;-) Ich glaube nicht, dass du das wirklich willst. LG Mama82

SMS-Kontakte dieser Art verlaufen als kurze Dialoge und wirken improvisiert. Als Kurzdialoge verweisen sie auf ein längeres Stück, dessen Themen sie jedoch nicht ausspielen. Sie berühren vielmehr diese (zu erahnenden) Themen nur und halten das weitere Spiel in der Schwebe: Geht es noch weiter ? Aber wie ? Und wohin ? Eine SMS auf Reisen könnte in diesem Sinn dazu dienen, eine kleine Szene zu inszenieren. Sie sollte sich auf den Raum, in dem sich der Schreiber befindet, beziehen, und sie sollte eine Antwort herausfordern, die sich ebenfalls auf diesen Raum bezieht. Frage und Antwort könnten den jeweiligen Raum also zu einer Art Spielball zweier Schreiber machen. Der eine wirft dem anderen Informationen und Beobachtungen zu, und diese Mitteilungen werden nun munter durchgespielt: 12:38 Und, gute Fahrt gehabt ? 13:02 Fängt zumindest gut an, sitze verkatert und übernächtigt ohne Reiseplan in einem Regio ins Blaue und werde nur noch von 83 Spucke und Optimismus zusammengehalten. Im Gegensatz zu diesem dialogischen, szenischen Aufbau des SMS-Kontakts führen Mails zwei (oder auch mehrere) Sprecher 82 Anna 83 Anna

Koch/Axel Lilienblum (Hrsg.): Ist meine Hose noch bei euch ?, S. 138. Koch/Axel Lilienblum (Hrsg.): Ist meine Hose noch bei euch ?, S. 237.

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Textprojekte und Schreibaufgaben III

zusammen, die Ausschnitte ihres Lebens weniger beschreiben, schildern oder darstellen als selbst kommentieren. Der Gestus des Selbstkommentars bestimmt das Schreiben dabei derart, dass alle gleichsam autobiografischen Äußerungen eines Schreibers nicht nur mitgeteilt, sondern meist auch gleich wieder aus der Distanz beobachtet und reflektiert werden. Mails auf Reisen fangen in diesem Sinne Details der Umgebung auf, schildern das Verhältnis des Schreibers zu diesen Details und kommentieren dieses Verhältnis sofort. Anders als der Reisebrief (der ihnen historisch vorausgeht) versetzen sie sich nicht in Situationen und lassen solche Situationen nicht aus ihren eigenen Farben und Klängen entstehen, sondern sie geben von vornherein zu erkennen, dass die Situation distanziert betrachtet, durchleuchtet und in ihrer Wirkung auf den Schreiber behandelt wird. Gut kann man das etwa anhand der Mails beobachten, die der Schriftsteller Matthias Zschokke im Laufe einiger Jahre an seinen Freund Niels Höpfner geschickt hat. Hier eine Szene aus Budapest: 21. 01. 03 Eben komme ich aus einem zweiten Türkischen Bad, das ich ausprobieren wollte. Es gibt insgesamt drei von diesen alten, originalen Dampfstuben. Die dritte ist zur Zeit geschlossen. Ich wollte die beiden anderen gesehen haben, um dann auch wirklich fundiert Auskunft geben zu können über diese Art Badekultur. Offenbar habe ich den falschen Nachmittag erwischt. Eine geschlossene Veranstaltung des lokalen Wichsvereins. Unappetitlich. Lauter ältere Männer unseres Semesters. Mindestens vierzig. Ich wusste kaum, wo hingucken. In den Becken lagen sie beinahe geschichtet im kollektiven Samen. In der Dampfstube Leib an Leib. Ich zog mich also in die Sauna zurück, dort war es den meisten zu heiß und zu 94

Simsen, mailen und twittern

trocken. Da saß ich dann auf einer Pritsche und tropfte vor mich hin. Zu allem Überfluss hatte ich auch noch eine Massage gebucht. Nach kurzem holte mich ein fetter, unsympathischer Kerl aus der Sauna, sagte Massage, Massage, und ging vor mir her.84 Die Szene (ein Nachmittag in einem türkischen Dampfbad) steht hier von vornherein »unter Beobachtung«: Was passt ? Was gefällt ? Was kommt dem Beobachter entgegen ? Was stößt ab ? Wie ist das Geschehen einzuordnen ? Der Mail-Text führt so eine Art Orientierungsgespräch mit sich selbst, das dem Empfänger zu erneutem Kommentar vorgelegt wird. Aufgabe der Mail sind daher die Klärung, Erörterung, bestmögliche Durchdringung eines Sachverhaltes. Und die Antwort des Empfängers wiederum sollte diese reflexiven Linien aufgreifen und so darauf erwidern, dass aus einem Selbstgespräch ein gemeinsames Gespräch wird. Noch einmal anders funktioniert schließlich das Twittern.85 Der Twitter-Text nämlich richtet sich eben nicht an einen oder mehrere im Blick behaltene Empfänger, sondern an einen (im Idealfall) möglichst breiten Kreis von Empfängern (im Fachjargon: »Followers«), die der Schreiber einer solchen Nachricht meist gar nicht persönlich kennt. Solche »Followers« folgen den kurzen Texten und Spuren, die der Schreiber meist täglich in der Form von 140 Zeichen verschickt. Gibt man einer solchen Mitteilungsform eine literarische Note, könnte ein in sich geschlossener, anspielungsreicher und durchaus 84 Matthias

Zschokke: Lieber Niels, S. 19. gute Anleitung findet man bei Tim O’Reilly und Sarah Milstein: Das TwitterBuch. Deutsche Übersetzung von Jørgen W. Lang. Köln 2009.

85 Eine

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Textprojekte und Schreibaufgaben III

raffinierter Text entstehen. Sein Empfänger soll dann dazu gebracht werden, aufzumerken, zu stutzen und für einen kurzen Moment in einen fremden, leicht geheimnisvollen Kosmos zu schlüpfen, in dem er sich nach einer möglichen Lösung der Rätsel umschauen muss. Hier einige Beispiele aus einem Buch des Twitter-Autors Florian Meimberg mit lauter sehr kurzen Geschichten in Twitter-Format: Eines Morgens stand ein Schneemann in ihrem Vorgarten. Außerdem war ihr Mann weg. Ein Zusammenhang, der ihr erst im März klarwerden sollte. Sam atmete schwer. Er starrte auf den Zettel. »Du darfst morgen auf keinen Fall in den Flieger steigen !«, stand dort. In seiner Handschrift. Die Übelkeit. Der Heißhunger. Die ausbleibende Periode. Es gab keinen Zweifel. Maria räusperte sich: »Josef ? Wir müssen reden.«86 Auf Reisen zu twittern könnte nach dem Vorbild solcher Texte bedeuten: Kleine Beobachtungen am Wegrand in Minigeschichten zu verwandeln, die den Empfänger darüber nachdenken lassen, in welchen Gegenden und in der Nähe welcher Objekte man sich gerade aufhält. Würde man täglich mehrere solcher Meldungen verschicken, ergäbe sich eine geheime Spur, die von den kulturellen Zeichen am Wegrand handeln würde. Ein Stadtspaziergang irgendwo in der Fremde zum Beispiel wäre für die Daheimgebliebenen zu entschlüsseln – und wäre dadurch allemal interessanter als jeder fade Bericht, in dem bekannte Sehenswürdigkeiten nur benannt oder gar aufgezählt würden. 86 Florian Meimberg: Auf die Länge kommt es an. Tiny Tales. Sehr kurze Geschichten,

S. 76 und 78.

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Simsen, mailen und twittern

Schreibaufgaben n Bevor Sie sich auf ein intensives mediales Schreiben auf Reisen einlassen, überlegen Sie genau, ob ein solches Schreiben Ihre Reisezeit nicht zu sehr beansprucht oder Ihnen viel von der Aufmerksamkeit für die Fremde entzieht. n Wollen Sie nicht allzu viel Zeit investieren, senden Sie dann und wann eine SMS und inszenieren Sie – wie gezeigt – einen kurzen Dialog. n Wollen Sie etwas mehr Zeit investieren, twittern Sie mehrmals am Tag und konstruieren Sie dabei kleine Geschichten, die den Lesern die Aufgabe stellen, Ihre geheimen Wege durch einen unbekannten Kosmos anhand kleiner Hinweise zu erraten und zu verfolgen. n Wollen Sie aber einen intensiveren Austausch über das, was Sie auf einer Reise so alles sehen, schreiben Sie Mails, in denen Sie das Gesehene erzählen und kommentieren, und zwar immer mit dem Blick darauf, dass Sie vom Empfänger ebenfalls einen Kommentar zu Ihrem Text erwarten.

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12.2 Schreiben in Facebook und Bloggen Heiner Müller-Pfohschneider ist nun im besitz einer profi-haarschneidemaschine und eröffnet einen friseursalon für intellektuelle: statt gala und bild der frau liegen literaturen und das gesamtwerk prousts aus, die frisierumhänge sind für rollkragenpullover optimiert und ich unterhalte mich vorzugsweise über unikarriere und veröffentlichungen (nicht über haare und männer, obwohl auch das in verschiedenen philosophischen richtungen angeboten wird) 14. März 2010 um 11:06 87 In einem von den Kulturwissenschaftlern Stephan Porombka und Mathias Mertens herausgegebenen Band mit dem Titel »Statusmeldungen. Schreiben in Facebook« schreiben fünfzehn Facebook-Autorinnen und -Autoren darüber, wie sie ein solches Schreiben entwickelt, konzipiert und immer wieder erweitert oder verändert haben. Jeder, der sich mit diesen Facebook-Poetiken vertraut macht, erkennt, dass das Schreiben in Facebook nicht nebenbei oder eben mal so funktioniert. Die Autorinnen und Autoren führen vielmehr vor, dass man vom Schreiben in Facebook vor allem dann etwas hat, wenn man es intensiv oder radikal betreibt. Tut man das, verschwindet man als Schreiber in einem dauernden Rauschen von Meldungen und Kommentaren, das darauf drängt, den nächsten freien Moment ebenfalls mit einer Mitteilung, einem Kommentar oder auch nur einer einfachen Notiz zu besetzen. Im Extremfall ist ein solches Schreiben wie ein nicht endender Dauerlauf mit dem Blick auf den nächsten Präsenzmoment, an dem nicht nur ein einziger Autor, sondern gleich 87 Alexandra

98

Müller: Leben und Wirken von Kloni Korleone, S. 80.

schreiben in facebook und bloggen

mehrere Autoren mitschreiben. Allmählich konstruiert man als Schreiber, der an diesem Rauschen partizipiert, eine Art Facebook-Figur seiner selbst, deren Konturen sich aus allen von mir abgegebenen Meldungen, Recherchen, Verweisen, Kommentaren und Bildern ergeben. Natürlich ließe sich eine solche multiple Produktion von Texten, bei der es sich durchaus um harte Arbeit handelt, auch während einer Reise fortsetzen, denn gerade eine Reise würde dem jeweiligen Facebook-Projekt eine Unmenge von interessantem Material zuführen, das im Moment seiner Mitteilung auch gleich wieder von anderen Schreibern aufgegriffen und verwandelt werden könnte. Man sollte sich aber fragen, ob man so etwas auf Reisen überhaupt will: ob es nicht zu viel Zeit kostet, ob es nicht zu sehr ablenkt und ob es die Dauerkontakte von zu Hause nicht in eine viel interessantere Fremde verlängert, in der man ihnen doch endlich einmal entkommen wollte. Vielleicht ist »Schreiben in Facebook« für das Schreiben auf Reisen nämlich ein zu heimisches, an den eigenen Dunstkreis gebundenes Projekt. Dort verlebendigt es zwar, wie viele der Autorinnen und Autoren der Facebook-Anthologie immer wieder betonen, einen sonst eher monotonen Alltag, und dort mag es auch ein wenig von der anscheinend allgegenwärtigen Langeweile ablenken. Gerade deshalb aber ist es wohl ein Projekt, das eher zu Hause funktioniert und dort aus der Stille kleiner Räume in behelfsweise herbeigesehnte Salongesprächsatmosphären führen soll: Kevin Kuhn hey, lass mich doch hier nicht allein !!!! 09. März 2010 um 12:24  88 88 Kevin

Kuhn: Facebook, S. 178.

99

Textprojekte und Schreibaufgaben III

Brauchen wir auf Reisen aber imaginierte Salongesprächsatmosphären ? Oder: Ist eine Reise nicht selbst schon genug Salonatmosphäre, und zwar eine mit dem großen Vorzug, aus realen Personen anstatt aus Facebook-Nutzern zu bestehen ? Die Beantwortung solcher Fragen hängt mit dem jeweiligen Verständnis von Fremde zusammen. Versteht man »Fremde« als intensiv und radikal, so hat es ein Schreiben in Facebook eher schwer. Versteht man »Fremde« aber als einen Raum, der sich von meinem Heimatraum nicht fundamental unterscheidet, sondern diesen Heimatraum durchaus noch mit beinhaltet und berührt, so könnte man sich auch ein Schreiben in Facebook auf Reisen gut vorstellen. Ein solches Schreiben wäre dann eine fortlaufende Kommunikation mit dem heimischen Raum über das, was mir in der Fremde auffällt. So gesehen würde mich dieser heimische Raum bei meinen Gängen, Beobachtungen und Entdeckungen begleiten und mir hier und da vielleicht sogar helfen, bestimmten Dingen und Erscheinungen näher zu kommen oder auf den Grund zu gehen. Mit anderen Worten: Ich wäre auch auf Reisen endlich nicht mehr allein, sondern bliebe auch dort eingebunden in den heimischen Diskurs, der freilich auch in den altbekannten, heimischen Formationen verliefe. Möchte man so etwas ? Oder will man so etwas gerade nicht ? Ganz anders steht es mit dem Bloggen. Das Bloggen auf Reisen könnte nämlich eine gute, praktische und vor allem einfache Methode sein, die vielfältigsten Beobachtungen und Textsorten in einem übergeordneten Erzählzusammenhang zu präsentieren. Das Zentrum dieses Erzählzusammenhangs wäre man selbst, und zwar so, wie es der Journalist und Extrem-Blogger Andrew Sullivan in einem gescheiten Essay über das Bloggen beschrieben hat: 100

schreiben in facebook und bloggen

Man schreibt schließlich über sich selbst, da man ein relativ fester Punkt ist in dieser ständigen Interaktion mit den Ideen und Fakten der Außenwelt. Und in diesem Sinne ist diejenige traditionelle Form, die den Blogs am nächsten kommt, das Tagebuch. Mit dem Unterschied jedoch, dass ein Tagebuch immer eine Privatangelegenheit ist.89 Das Bloggen ist Tagebuch, aber ein Tagebuch, das von vornherein für eine möglichst breite Netz-Leserschaft entsteht. Sein Ton ist dadurch auch weniger bedächtig und selbstbezogen als der des bloß privaten Tagebuchs. Der Blogger spricht offener, freier und vor allem mehr auf die Außenwelt bezogen als der im Privaten verharrende Tagebuchschreiber. »Interaktion mit den Ideen und Fakten der Außenwelt« nennt Sullivan diese Offenheit, und damit meint er, dass ein Blog Themen setzen und die Arbeit an diesen Themen möglichst von Tag zu Tag fortsetzen sollte. Themenarbeit würde dann bedeuten: Viele Hinweise und Dokumente am Wegrand sammeln und mit dem eigenen Blog verlinken, Texte zu den spezifischen Kulturen der jeweiligen Fremde aufspüren, kommentieren und weiterverfolgen, Umgebungen fotografieren und die Fotos kommentiert in den Blog integrieren, Musik in jeder Form sammeln, Beispiele in den Blog stellen und wiederum kommentieren etc. Dabei gilt: Ein Blogger wird eine Vielzahl von Gedanken oder Fakten zu irgendeinem Thema in keiner bestimmten Reihenfolge senden außer der vom Zeitverlauf vorgegebenen. Ein Autor wird sich stattdessen die Zeit zunutze machen, um diese Gedanken zusammenzufassen, sie zu ordnen und abzuwägen, welche Argumente wichtiger sind 89 Andrew

Sullivan: Warum ich blogge, S. 104.

101

Textprojekte und Schreibaufgaben III

als andere, zu beobachten, wie seine Auffassungen sich während des Schreibprozesses selber entwickeln und darauf reagieren …90 Der Blogger beobachtet und reagiert aber nicht nur auf sich selbst, er reagiert (wenn er das denn will) auch auf die NetzÖffentlichkeit, die sich zu seinem Blog äußert, nachfragt, Fehler korrigiert oder alternative Kommentare abgibt. In diesem Sinn ist das Bloggen immer auch ein Zusammenarbeiten und Kommunizieren, ein stetes Verbessern und Weiterforschen, auf der Suche nach immer neuen Entdeckungen und Details. »Reisen« als Tätigkeit und Lebenspraxis könnte eine ideale Basis gerade für gutes Bloggen sein. Am idealsten wäre dann aber vielleicht ein Reisen, das sich Zeit nähme, sich von einem bestimmten Ort oder Punkt aus zu artikulieren. Besser für das relativ zeitaufwendige und intensive Bloggen wäre es also, mehrere Wochen suchend und forschend an einem einzigen Ort zu verbringen, als in diesen Wochen reisend täglich an einem anderen Ort zu sein. Auch und gerade das Bloggen braucht Ruhe und Konzentration, ja, es braucht einen »Standort«. Die Fremde führt ihm wie von selbst ein unendlich vielfältiges, reiches Material zu. In alle Richtungen und zu den unterschiedlichsten Themenbereichen (Politik, Sport, Gastronomie, Ökonomie, Städtebau, Verkehr etc.) verlaufen die Spuren, man braucht sich bloß auf den Straßen (und gleichzeitig im Netz) zu bewegen, um sie zu verfolgen. Gespräche mit Einheimischen, die man mitschneidet und ins Netz stellt, Geräuschkulissen, die man wie Musik behandelt und in die eigenen Texte integriert: Bloggen könnte die multimediale Form schlechthin sein, um auf das Überangebot an Themen während einer Reise zu reagieren. 90 Andrew

102

Sullivan: Warum ich blogge, S. 113.

schreiben in facebook und bloggen

Andrew Sullivan resümiert: Bloggen verhält sich deshalb zum Schreiben wie Extremsportarten zur Leichtathletik: mehr Freistil, unfallgefährdeter, weniger regelgebunden, lebendiger. Bloggen bedeutet in vieler Hinsicht, laut herauszuschreiben.91

Schreibaufgaben Wie man in Facebook schreibt oder wie man bloggt, weiß heutzutage beinahe jeder – und wenn nicht, ist darüber viel in dem Buch von Stephan Porombka über das Experimentieren mit Blogs und Facebook (ebenfalls in dieser DUDEN-Reihe) zu erfahren.92 Genauere Hinweise darauf, wie man beide Textformen auch auf Reisen einsetzen könnte, wurden bereits gegeben. Deshalb gibt es an dieser Stelle ausnahmsweise keine weiteren konkreten Schreibaufgaben.

91 Andrew

Sullivan: Warum ich blogge, S. 104. Porombka: Schreiben unter Strom, Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co. Mannheim 2012, S. 87 ff.

92 Stephan

103

Textprojekte und Schreibaufgaben IV: Reiseprojekte 13. Ethnologisches Schreiben Die Sonne ist der Adler mit den feurigen Pfeilen, Herr und Gott des Jahres. Sie scheint, glänzt und strahlt.93 Kommen wir nun zu einem Schreiben auf Reisen, das sich einer bestimmten Perspektive verschreibt. Eine solche Perspektive ist hilfreich, weil sie den Blick und das Interesse des Reisenden fokussiert und durch ein bereits vor der Reise entworfenes Reiseprojekt ein tiefer gehendes und gründlicheres Verständnis der Fremde erlaubt. Ein Reisender, der so projektgebunden reist, lässt andere Perspektiven bewusst außer Acht und versteht das Reisen als einen Forschungsprozess, bei dem es vor allem um Erkenntnisse und Erfahrungen in einem bestimmten Forschungsfeld geht. Dieses Forschungsfeld muss nicht wissenschaftlicher Natur sein, vielmehr gibt es durchaus auch ästhetische, die Kommunikation betreffende oder einfach nur persönliche Forschungsfelder. Einige Beispiele aus solchen Bereichen sollen in diesem vierten Großkapitel nun vorgestellt und zur Nachahmung oder Auseinandersetzung empfohlen werden. Beginnen wir mit dem ethnologischen Schreiben. Nach der Eroberung Mexikos durch die Spanier hielt sich im 16. Jahrhun93 Aus

104

der Welt der Azteken. Die Chronik des Fray Bernardino de Sahagún, S. 117.

Ethnologisches Schreiben

dert dort auch ein Franziskanermönch mit Namen Bernardino de Sahagún (1499/1500–1590) auf. Um die einheimischen Azteken unterrichten zu können, lernte er im mühsamen Austausch mit einigen seiner Schüler ihre Sprache. Dieses Studium führte zu einem intensiven Interesse an der aztekischen Kultur insgesamt, die er in zahllosen Gesprächen und Interviews mit den Einheimischen erforschte. Sahagún sammelte dabei so viel Material, dass er sich schließlich eine umfassende Darstellung und Beschreibung der untergegangenen Kultur vornehmen konnte. So machte er sich daran, die verschiedensten Teilkulturen der Azteken (Religion, Politik und Herrschaft, Ökonomie etc.) systematisch zu erforschen. Dabei ging es ihm vor allem darum, die verschiedenen Praktiken und Rituale dieser Kulturen genau kennenzulernen und zu verstehen. Die Beschreibungen solcher Praktiken gehören zu den klassischen Texten ethnologischen Schreibens. Sahagún verfasste sie im engen Kontakt mit den Einheimischen, die ihm detailliert zeigten, wie sie sich in bestimmten Kontexten verhielten. Die Aufgabe des Ethnologen bestand dann in genauer Beobachtung und dem Verstehen dessen, was die einzelnen Gesten bedeuteten und wie die Einheimischen diese Gestik selbst verstanden und interpretierten. Sahagúns Texte, die aus einem derartigen Beobachten und Verstehen hervorgingen, werteten und interpretierten bewusst nicht. Sie dienten vielmehr ganz dem Verständnis des Gesehenen und Erfahrenen und stellten die beobachteten Praktiken und Rituale in ihrem Verlauf und in ihrer Bedeutung für die Einheimischen dar. Dieses ethnologische Schreiben ging aber nicht in einem trockenen Forschungsinteresse auf. Durch seine Präzision, seine Freude an der vertieften Beobachtung sowie seine empathische Teilnah105

Textprojekte und Schreibaufgaben IV

me an den aztekischen Ritualen hat es auch eine intensive literarische Komponente. So etwa an dieser Stelle des großen Aztekenpanoramas, das von den Bohnenverkäufern handelt: Der gute Bohnenverkäufer verkauft die Bohnen sortiert. Jede Art für sich gelegt, macht er die guten Bohnen berühmt, legt die gleichartigen zusammen, daß sie zueinander passen, die frischen, die sauberen, die reinlichen, die gebogenen, die kieselrunden, die blitzsauberen. Die gut ausgesuchte Feldfrucht ist wie eine schöne Armspange, wie schönes Grünedelgestein, wie ein schöner Türkis, der wert ist, geboren zu werden, in eine Truhe, in einen Rohrbe94 hälter, in eine Speicherurne gelegt zu werden … Deutlich sieht man die Forschungsszenerie vor sich: Der Ethnologe Sahagún befindet sich auf einem öffentlichen Markt und beobachtet genau, wie die Bohnenverkäufer mit ihren Waren umgehen und sie für den Verkauf präparieren. Die Freude an solchen detaillierten Beobachtungen ist dem Text genau anzumerken, folgt er doch geradezu passioniert den einzelnen Erscheinungen, Dingen und Gesten, die er darüber hinaus auch noch möglichst präzise benennt. Viele dieser Benennungen scheinen direkt von den Einheimischen zu stammen und übernehmen deren metaphorisches Sprechen: Eine schöne Bohnenfrucht ist wie ein Grünedelgestein etc. Ethnologisches Schreiben schlüsselt die Fremde also auf, indem es sich auf kleine, in sich geschlossene Welten konzentriert. Das Geschehen auf einem Markt, einer bestimmten Straße, in einem Gasthaus oder in einer Küche – all das kann studiert und in seinem Ablauf so beschrieben werden, dass man mehr über die jeweilige Kultur erfährt. Notwendig ist dazu aber ein 94 Aus

106

der Welt der Azteken, S. 200.

Ethnologisches Schreiben

ständiger Kontakt mit Einheimischen, die ihr Tun parallel zu den fortlaufenden Beobachtungen ebenfalls fortlaufend erläutern und kommentieren. So saugt das ethnologische Schreiben einen fremden Diskurs an und präsentiert ihn in der Darstellung und Beschreibung einer bestimmten Szenerie. Ein solches Schreiben und Übersetzen einer fremden Weltvorstellung in die eigene kann sich aber natürlich auch im Kleinen ereignen und muss sich keineswegs zu einem Großprojekt wie dem von Bernardino de Sahagún entwickeln. Wie die kleinere Ausgabe dieses Schreibens aussehen könnte, zeigen die kurzen Texte, die der französische Schriftsteller und Philosoph Roland Barthes (1915–1980) während einer Japanreise verfasst hat. Auch sie konzentrieren sich auf Details eines fremden Lebens, das durch genaue Beobachtung und Nachfragen allmählich entschlüsselt und dann jeweils in seinem Verlauf beschrieben wird. Barthes untersucht japanische Stadtzentren oder Küchen, er besucht eine Spielhalle oder eine Post, er betrachtet Bahnhöfe und durchstöbert eine Schreibwarenhandlung. All diese Orte und Räume werden auf jene Praktiken hin untersucht, die sie in Szene setzen und damit beleben. Ein ganzes Kapitel seines Buches ist dem Vorgang der Nahrungsaufnahme und dabei besonders den Essstäbchen gewidmet: Zunächst einmal haben die Stäbchen – ihre Form sagt dies bereits zur Genüge – eine deiktische Funktion: Sie zeigen die Nahrung, bezeichnen das Stück und verleihen – durch die Auswahlgeste schlechthin, d. h. durch den Index – Existenz. Statt daß die Nahrungsaufnahme zu einer mechanischen Abfolge geriete, bei der man sich darauf beschränkte, die Bestandteile eines Gerichtes hinunterzuschlingen, bezeichnen die Stäbchen, was sie auswählen (wählen 107

Textprojekte und Schreibaufgaben IV

für den Augenblick dies und nicht das), und führen damit in den Nahrungsgebrauch zwar keine Ordnung, wohl aber Phantasie und so etwas wie Muße ein: in jedem Falle eine Tätigkeit, die nicht mehr mechanisch, sondern intelligent ist. Eine weitere Funktion des Stäbchenpaares liegt darin, das Stück Speise einzuklemmen (und nicht mehr fortzureißen, wie es unsere Gabeln tun) …95 Barthes konzentriert sich ganz auf das Essbesteck: Wie sieht es aus, wie geht man damit um, welche Gesten lassen sich unterscheiden und welcher Eindruck entsteht dadurch vom japanischen Essen – im Unterschied zum westeuropäischen. Im Hinterkopf des ethnologischen Schreibens verläuft so immer eine Art von Vergleich. Gefragt wird danach, wie eine fremde Kultur Lebenspraxis gestaltet, wie diese Praxis in ihren Bestandteilen aussieht und was sie bedeutet. Indem man sie ethnologisch beschreibt, entwirft man Gegenbilder zur heimischen Kultur, die dadurch ebenfalls besser in ihren Eigenarten erkennbar wird. Durch die Beschreibung und das Erkennen des Fremden erscheinen so die heimischen Welten des Ethnologen in veränderter Perspektive: als Tiefenkontrast zur Fremde.

95 Roland

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Barthes: Das Reich der Zeichen, S. 30.

Ethnologisches Schreiben

Schreibaufgabe n Machen Sie sich zunächst mit den unterschiedlichsten Lebenswelten in der Fremde (Straßen, Plätze, Märkte, öffentliche Zentren, intimere Versammlungsorte etc.) vertraut und wählen Sie einige dieser Orte, die Sie besonders anziehen, für längere Beobachtungsphasen aus. n Beobachten Sie genau, was sich an diesen Orten ereignet und welchen Gebrauch die Bewohner im Einzelnen mithilfe welcher Praktiken und Rituale von diesen Orten machen. n Lassen Sie sich von den Einheimischen über die verschiedenen Bedeutungen unterrichten, die der jeweilige Ort für sie hat: Wann besuchen sie diesen Raum ? Wohin platzieren sie sich ? Wie lange halten sie sich an ihm auf ? Was machen sie während ihres Aufenthaltes alles ? Mit wem nehmen sie Kontakt auf ? Etc. n Notieren Sie Ihre Beobachtungen und all das, was Sie von den Einheimischen erfahren haben, und machen Sie daraus einen ethnologischen Text, der ein lebensweltliches Detail der Fremde präsentiert: Menschen, Dinge, Handlungen, Räume – und das alles aus der Perspektive der Einheimischen selbst.

109

14. Reisen auf den Spuren eines anderen Im Gästezimmer lag ein großes Buch über van Gogh, und da ich in meiner ersten Nacht in der Provence nicht schlafen konnte, las ich mehrere Kapitel, bis ich, den Band auf dem Schoß liegend, doch einschlief, als in der Fensterecke ein Hauch von Morgenrot erschien.96 Der englische Schriftsteller Alain de Botton wurde vor einiger Zeit von Freunden in ein Bauernhaus in der Provence eingeladen. Er nahm das Flugzeug nach Marseille, mietete sich dort einen Wagen und machte sich dann auf den Weg in eine Landschaft, die er noch nicht kannte. Natürlich hatte er schon viel über sie gehört und immer wieder war auch davon die Rede gewesen, wie schön gerade diese Landschaft sei – de Botton war trotz dieser Lobeshymnen aber reserviert geblieben, ja er hatte sogar den Verdacht, dass gerade die Provence ihm aus irgendwelchen Gründen nicht »entsprechen« würde. So näherte er sich seinem Reiseziel mit einer gewissen Skepsis und einem unterdrückten Unwillen. Diese beiden Empfindungen verstärkten sich noch, als er mit seinem Wagen wirklich in der oft gepriesenen Landschaft ankam. Hässlich war sie nicht, nein, so etwas zu behaupten wäre übertrieben gewesen, andererseits zeichnete sie sich aber auch nicht durch besondere Schönheit aus. Ein paar Olivenbäume, eigentlich schon eher Büsche, ein paar Weizenfelder, ähnlich den öden Weizenfeldern Südostenglands, und hier und da ein paar unscheinbare Zypressengruppen, der Rede nicht wert. In der Nacht seiner Ankunft im Bauernhaus seiner Freunde widmete sich de Botton dann eher aus Langeweile einem Bildband mit Werken des Malers van Gogh, die van Gogh während 96 Alain

110

de Botton: Kunst des Reisens, S. 209.

Reisen auf den Spuren eines Anderen

eines fünfzehnmonatigen Aufenthaltes in der Provence in den Jahren 1888/1889 gemalt hatte. Als de Botton am nächsten Morgen sein neues Quartier verlässt, glaubt er seinen Augen nicht zu trauen. Plötzlich sieht und begreift er seine Umgebung ganz anders als am vergangenen Tag, denn plötzlich sieht er die Olivenbäume, Weizenfelder und Zypressenbäume mit den Augen van Goghs: Es war ein klarer Tag. Ein Mistral wehte, der die Weizenähren auf einem angrenzenden Feld zauste. Ich hatte tags zuvor schon an dieser Stelle gesessen, bemerkte aber erst jetzt die zwei hohen Zypressen, die am Ende des Gartens standen – eine Entdeckung, die mit meiner nächtlichen Lektüre des Kapitels über deren Darstel97 lung durch van Gogh zu tun hatte. De Botton sieht aber nicht nur mit den Augen van Goghs, sondern er erinnert sich plötzlich – angesichts der Umgebung, die nun ausschaut wie von van Gogh gemalt – auch daran, was der Maler in seinen Briefen aus dieser Gegend über Olivenbäume, Weizenfelder oder Zypressengruppen gesagt hatte. Die Zypressen zum Beispiel waren ihm wie ägyptische Obelisken erschienen, aus der Nähe betrachtet, zeigten sie einen besonders feinen Grünton, aus der Ferne dagegen wirkten sie wie schwarze Flecken. Außerdem erschienen die Äste der Zypressen irgendwie seltsam verdreht und erweckten aus der Ferne den Eindruck einer im Wind flackernden Flamme. All das beginnt de Botton nun auch langsam wahrzunehmen, er nähert sich der Zypressengruppe und betrachtet sie von allen Seiten. Und genau in diesem Moment wird ihm klar, wo und wie er sich bewegt: Er bewegt sich in einem allmählich vertrauter 97 Alain

de Botton: Kunst des Reisens, S. 209.

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Textprojekte und Schreibaufgaben IV

werdenden Terrain auf den Spuren van Goghs, er erkundet die Fremde, indem er sie durch den sensuellen Wahrnehmungsfilter eines anderen betrachtet. Indem er das aber tut, beginnt er nun auch, die Bilder van Goghs besser und genauer zu erkennen: Meine Augen entwickelten nach und nach die Fähigkeit, in der Natur die auf den Leinwänden vorherrschenden Farben wieder zu erkennen. Wohin ich auch blickte, überall sah ich kontrastierende Primärfarben. Neben dem Haus grenzte ein lilafarbenes Lavendelan ein gelbes Weizenfeld. Die Dächer der Häuser waren orange vor einem reinblauen Himmel. Grüne Wiesen waren getüpfelt mit 98 rotem Mohn und von Oleander gesäumt. So bewegt sich de Botton zwischen einem fremden Raum und einem Bildmaterial hin und her, das diesen Raum untersucht und deutet. Indem er sich diese Deutung verständlicher macht und ihr nachgeht, interessiert er sich zugleich auch für die besondere Machart der Deutung. Dabei übernimmt er sie aber nicht nur und versteht sie auch nicht nur immer besser, sondern er beginnt auch, sie anhand eigener Überlegungen zu vertiefen und zu befragen. Die kontrastierenden Primärfarben auf van Goghs Bildern – ja, solche starken Kontraste gab es in der Landschaft der Provence wahrhaftig besonders häufig. Warum aber ? Wie konnte man sich eine solch seltsame Häufigkeit erklären ? Solchen Fragen nachgehend, entstehen de Bottons eigene Reflexionen, die sich gleichwohl nicht ganz von den Spuren van Goghs entfernen: Durch van Gogh darauf hingelenkt, ging mir auf, dass auch die Farben in der Provence ungewöhnlich waren. Das hatte klimatische Gründe. Der Mistral, der, von den Alpen kommend, durch das 98 Alain

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de Botton: Kunst des Reisens, S. 213.

Reisen auf den Spuren eines Anderen

Rhônetal weht, reinigt den Himmel regelmäßig von Wolken und Feuchtigkeit und hinterlässt ihn in purem, sattem Blau, ohne die geringste Spur von Weiß. Gleichzeitig fördern ein hoher Grundwasserspiegel und gute Bewässerung ein für ein Mittelmeerklima einzigartig reiches Pflanzenvorkommen. Ohne Wasserknappheit, die ihr Gedeihen beeinträchtigt hätte, kann die Vegetation hier die Vorteile des Südens – Licht und Hitze - voll ausschöpfen … Aufgrund dieses Zusammenspiels von wolkenlosem Himmel, trockener Luft, Wasser und reicher Vegetation herrschen in der Provence lebhafte, kontrastierende Primärfarben vor.99 Indem de Botton den Eigenheiten der Bilder van Goghs nachgeht, begreift er also nicht nur diese Malerei, sondern auch die Landschaft der Provence besser. In seinem Spurensucher-Text schreibt er gleichsam parallel: Er erläutert sich die Provence mithilfe der Bilder und Texte van Goghs, und er erläutert sich die Bilder und Texte van Goghs durch eine vertiefte, reflektierende Betrachtung der Besonderheiten der Provence. Zwischen die Fremde und den Reisenden wird bei derartigen Reiseprojekten also eine Art »Übersetzung« geschaltet, an deren Gestaltung der Reisende dann die ganze Zeit arbeitet und schreibt. Daher reagiert er nicht mehr an und für sich auf die Fremde, sondern nur dort und in jenem Maße, wo sie sich auf einen »Vorgänger« (oder »Vorgeher«) beziehen lässt. Ein solches Verfahren macht das Schreiben auf Reisen zu einer reflektierenden Nachschrift. Dann erzählt es davon, wie sich ein anderer Fremder vor einem in dem jeweiligen Raum bewegte, und es versucht zu beschreiben, wie ich selbst diesen Raum genauer erkenne, indem ich mich auf den Spuren dieses anderen bewege. 99 Alain

de Botton: Kunst des Reisens, S. 212.

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Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Natürlich lässt sich ein solches Verfahren nicht nur mit dem Blick auf bekannte Bilder und Maler anwenden, sondern auch auf die anderen Künste ausdehnen. Man könnte (sogar sehr genau) verfolgen, wo und wie Goethe sich während seines langen Romaufenthaltes in den Jahren von 1786 bis 1788 in Rom bewegte; oder man könnte Liszt auf seinen Reisen durch die Schweiz begleiten und sich dabei auf seine Kompositionen beziehen. Reisen auf den Spuren eines anderen haben den großen Vorzug einer Art von Führung, indem sie sich an bereits vorhandenes Material anlehnen und dieses Material neu lesen. Andererseits könnten sie aber auch einen Nachteil haben, nämlich den einer Verengung. Am Ende würde man dann die Provence kaum noch mit eigenen Augen sehen, sondern immer und überall nur mit den Augen van Goghs. Und was wäre dagegen zu tun ? Zunächst einmal gar nichts. Man sollte das Verfahren der Spurensuche ausprobieren und nebenher ein zweites Notizbuch anlegen. Und in dieses Notizbuch sollte man eintragen, was einem selbst so aufgeht, während man die Provence als ein Doppelgänger durchreist.

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Reisen auf den Spuren eines Anderen

Schreibaufgabe n Orientieren Sie sich genau, welche bekannten Künstler, Schriftsteller, Musiker etc. sich an dem von Ihnen bereits ins Auge gefassten Reiseziel längere Zeit aufgehalten und sich über diese Zeit auch ausführlicher geäußert haben. n Verfolgen Sie vor Ort die Wege dieser »Vorgänger«, besuchen Sie nach Möglichkeit die Häuser, in denen sie gelebt haben, und lesen Sie alles, was diese »Vorgänger« über ihren Aufenthalt geschrieben haben. n Markieren Sie auf einem Stadtplan diese Wege und Aufenthaltsorte und machen Sie sich Notizen über Ihre eigenen Eindrücke von diesen Orten. n Beschreiben Sie die Orte, indem Sie sich auf die Arbeiten Ihrer »Vorgänger« beziehen, und versuchen Sie sich klarzumachen, welche neuen Perspektiven über die jeweiligen Orte Ihnen diese Arbeiten eröffnen. n Verfolgen und vertiefen Sie diese Perspektiven, indem Sie anhand der Arbeiten der »Vorgänger« darüber nachdenken, was das Besondere der Reiseorte ausmacht und wodurch dieses Besondere eigentlich entstanden ist. n Verarbeiten Sie all Ihre unterschiedlichen Notizen in einem Text, in dem Sie Ihren »Vorgänger« durch den gemeinsamen Reiseort begleiten: Heimlich ? Sich mit ihm unterhaltend ? Konkret und damit real ? Oder nur in Ihrer Fantasie ? Entscheiden Sie selbst.

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15. Reisen zu zweit Kafkas Vorschlag einer gemeinsamen Reisearbeit. Unvollkommen erklärt. Gleichzeitige Beschreibung der Reise, indem man die Stellung des andern zu den Dingen beschreibt.100 Am 26. August 1911 brechen die beiden miteinander befreundeten Schriftsteller Max Brod (1884–1968) und Franz Kafka (1883–1924) von Prag aus mit dem Zug zu einer längeren gemeinsamen Reise auf. Sie wird über Lugano nach Mailand und Paris und schließlich wieder zurück nach Prag führen und bis in den späten September dauern. Bei ihrer Abreise verabreden die beiden Freunde, gleichzeitig Aufzeichnungen über die Reise zu machen: jeder für sich, aber jeder eben auch mit dem Blick auf den andern. Nach der Reise werden sie diese Aufzeichnungen dann vergleichen und beobachten, wie unterschiedlich sie sich ein und dieselbe Umgebung angeeignet haben. Schließlich werden sie sogar daran denken, aus ihren Aufzeichnungen einen Roman zu verfassen, der eine bestimmte Reise aus den unterschiedlichen Perspektiven zweier Freunde beschreibt. Dieses Projekt einer »Reise zu zweit« ist das bekannteste eines solchen Typus in der deutschsprachigen Literatur. Es besteht aus verschiedenen Komponenten. Zum einen geht es den Freunden darum, vergleichbare Reisebeschreibungen mit dem Blick auf ein und dieselbe Umgebung herzustellen. Durch den Vergleich dieser Beschreibungen wird jedem von ihnen klar, was der jeweils andere gesehen und was er übersehen oder anders gesehen hat. 100 Max

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Brod: Reise Lugano – Mailand – Paris, S. 73.

Reisen zu zweit

Zweitens erlauben solche Vergleiche aber auch Rückschlüsse auf die Psychen der beiden Beobachter. Leicht lässt sich nämlich erkennen, wie aktiv oder passiv sie auf ihre Umgebungen zugehen, wie sie sich mit ihnen verständigen oder auf sie einlassen und welche Schlussfolgerungen über diese Innenbewegungen die Außenwahrnehmungen erlauben. Nicht die Reisebeschreibung allein interessiert also die beiden Schreiber, sondern vor allem die versteckten, inneren Reaktionen, die sich in der Art der Beschreibung niederschlagen. Die Aufzeichnungen können in diesem Sinn zu einem Gespräch und Nachdenken darüber führen, wie jeder der beiden bestimmte Details der Reise und die Reaktionen des anderen auf diese Details verstanden hat. Hierzu ein interessantes, vielsagendes Beispiel: Als die beiden Freunde nach einer langen Nachtfahrt im Zug am frühen Morgen in Paris ankommen, drängt Franz Kafka (wie Max Brod dann notiert) darauf, ein jeder solle nicht allzu viel Zeit in seinem Hotelzimmer verbringen, sondern nur »das Gesicht bissel waschen«. Brod notiert weiter, dass er genau das getan habe und dann zu Kafka hinauf in dessen Hotelzimmer gegangen sei: Ich tue es, gehe hinauf, er reibt sich mit Seife und Waschlappen, hat allen möglichen Luxus aus dem Koffer gepackt und geht nicht, ehe er wieder alles in Ordnung gebracht hat. Ich habe den Koffer nicht 101 geöffnet. Max Brod ahnt nicht, dass sich Freund Kafka in seinem Hotelzimmer keineswegs so wie er beeilt und nur flüchtig mit etwas Wasser durchs Gesicht gefahren hat. Kafka vielmehr ist zunächst auf den Balkon seines Hotelzimmers getreten, um einen Blick auf Paris zu werfen: 101 Max

Brod: Reise Lugano – Mailand – Paris, S. 107.

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Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Erstes Heraustreten auf meinen Balkon und Umblick wie wenn ich jetzt in diesem Zimmer erwacht wäre, während ich doch von der Nachtfahrt so müde bin, daß ich nicht weiß, ob ich es imstande sein werde für den ganzen Tag in diese Gassen hinauszulaufen, besonders wie ich sie jetzt von oben aus, noch ohne mich sehe.102 Obwohl er eigentlich darauf gedrängt hatte, sich zu beeilen, denkt Kafka zunächst gar nicht daran, das zu tun. Er lässt sich vielmehr Zeit und wirft einen ersten Blick auf die Gassen der Stadt, um gleich zu bemerken, dass diese Gassen ihn nicht im Geringsten zu einem Aufbruch animieren. In dieser frühmorgendlichen Verfassung kann er mit Paris nichts anfangen, kein einziges Detail hält er fest, und erst recht notiert er keinen ersten Gesamteindruck des Panoramas, das sich von seinem Balkon aus bietet. Kafka ignoriert vielmehr Paris und geht in sein Zimmer zurück. Dort wendet er sich seinem Koffer zu, öffnet ihn, packt ihn teilweise aus und beginnt, sich mit Seife und Waschlappen sorgfältig das Gesicht zu waschen. Noch während er das tut, erscheint sein Freund Max Brod. Kafka notiert: Max kommt in mein Hotelzimmer herauf und ist darüber aufgeregt, daß ich noch nicht fertig bin und mir das Gesicht wasche, während ich früher doch gesagt hätte, daß wir uns nur ein wenig waschen und gleich weggehn sollen. Da ich mit Wenigwaschen nur das Waschen des ganzen Körpers ausgeschlossen, dagegen damit gerade das Waschen des Gesichtes gemeint habe und damit eben noch nicht fertig bin, verstehe ich seine Vorwürfe nicht und wasche das Gesicht weiter wenn auch nicht so genau wie früher, während Max sich mit dem ganzen Schmutz der Nachtfahrt in seinen Kleidern auf mein Bett setzt, um zu warten. Er hat die Gewohnheit und 102 Franz

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Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 173.

Reisen zu zweit

führt sie auch jetzt vor beim Vorwürfemachen den Mund aber auch das ganze Gesicht süßlich zusammenzuziehn, als suche er dadurch einerseits das Verständnis seiner Vorwürfe zu befördern und als wolle er andererseits zeigen, daß nur dieses süßliche Gesicht, das er gerade hat, ihn davon abhalte mir eine Ohrfeige zu geben …103 In Kafkas Notizen erscheint die Situation im Hotel in ihrer ganzen Verfahrenheit. Freund Max kocht vor Wut, während Kafka beginnt, diese Wut und ihre Signale bis ins Detail zu sezieren (die Notizpassage ist etwa doppelt so lang wie die von Brod). Dann aber geschieht das in Kafkas Augen Schlimmste: Freund Max betritt den Balkon, auf dem Kafka wenige Minuten zuvor stumm, einfallslos und wenig beeindruckt von Paris gestanden hatte, um Kafka vorzuführen, wie ein gestandener Schriftsteller (der Kafka damals noch nicht ist) auf eine Weltstadt wie Paris reagiert. Kafka notiert, dass Max Brod …  …mit mir auf den Balkon trat und die Aussicht besprach, vor allem, wie pariserisch sie sei. Ich sah eigentlich nur wie frisch er war, wie er sicher zu irgendeinem Paris paßte das ich gar nicht bemerkte, wie er jetzt aus seinem dunklen Hinterzimmer kommend zum erstenmal seit einem Jahr in der Sonne auf einen Pariser Balkon trat und sich dessen würdig bewußt war, während ich leider deutlich müder war, als bei meinem ersten Hinaustreten auf den Balkon ein Weilchen vor Maxens Kommen. Und meine Müdigkeit in Paris kann nicht durch Ausschlafen sondern nur durch Wegfahren beseitigt werden. Manchmal halte ich das sogar für eine 104 Eigentümlichkeit von Paris.

103 Franz 104 Franz

Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 173. Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 173 f.

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Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Was also zeigt die kleine, vielsagende Szene ? Sie stellt den gestandenen Schriftsteller Max Brod vor, wie er dabei ist, sich nach den typischen Vorstellungen, die sich ein gestandener Schriftsteller von Paris macht, der Weltstadt Paris zu nähern. Er spricht über die Stadt, er weiß bereits, was pariserisch ist. Und er tut so, als befände er sich in einem Raum, der sich ihm gleich, während des ersten Spaziergangs mit seinem Freund Franz, ganz von selbst öffnen wird. Für Kafka jedoch verläuft die Annäherung an Paris ganz anders. Er schweigt, hört zu und versteht nicht, wovon die Rede ist. Paris erschließt sich ihm ganz und gar nicht auf den ersten Blick, ja er hat sogar den starken Verdacht, dass Paris sich ihm überhaupt nicht erschließen wird. Am liebsten würde er gar nicht erst in die fremden Gassen hinuntergehen, am liebsten würde er sofort wieder abreisen, so endgültig erscheint bereits in den ersten Stunden, in denen er in Paris ist, das Bild, das er sich von dieser Stadt macht. Anhand dieses Beispiels kann man gut erkennen, wie das Projekt einer »Reise zu zweit« aussehen könnte. Zwei parallel laufende Notatfolgen von ein und derselben Reise zeigen bei genauerer Betrachtung die unterschiedlichen Erlebnisformen, mit denen die beiden Reisenden auf die Fremde reagieren. Im Grunde reichen die Notizen aber noch weiter, ja sie reichen sogar bis in die tiefsten Erlebnisstrukturen, die sich nicht nur im Verhältnis der Reisenden zur Fremde, sondern eben auch in den kleinen Dramen offenbaren, die sich zwischen den Reisenden abspielen. Die Reisebeschreibungen, an denen die beiden arbeiten, arbeiten also in Wahrheit am »Psychodrama des Reisens« in verschiedenen Szenen und Auftritten, mit den entsprechenden Konflikten und Höhepunkten. Der Reisepartner ist dabei für jeden der beiden ein geheimer Verstärker oder ein unabsichtlicher Provokateur oder ein unerwarteter Analysand der eigenen Stimmungen. 120

Reisen zu zweit

Dabei jedoch wird es nicht bleiben. Die beiden unterschiedlichen Reisetexte bedürfen nach der Heimkehr von der Reise einer Deutung und eines Gesprächs. Indem die beiden Freunde sich später in Prag über ihre Texte beugen, werden sie versuchen, die Reise in ihren Tiefenschichten zu begreifen: Warum erschien Max Brod die Weltstadt Paris so nah ? Und warum Kafka so fremd ? Und was passierte genau zwischen den beiden, als sie sich in Kafkas Hotelzimmer begegneten und dann zusammen hinaustraten auf einen Pariser Balkon ?

Schreibaufgabe n Verreisen Sie mit einer guten Freundin oder einem guten Freund (die Sie schon seit einiger Zeit kennen und die Ihnen daher sehr vertraut sind). Verständigen Sie sich darauf, während der gesamten Reise Ihre Eindrücke festzuhalten. n Sprechen Sie vor der Reise darüber, in welcher Form diese Reiseeindrücke festgehalten werden sollen. (Als kurze stichwortartige Notate ? Als Tagebucheintragungen ? Als fortlaufender Reisebericht ? Als Reiseerzählung ?) n Sprechen Sie während der Reise nicht über Ihre Aufzeichnungen. Notieren Sie stattdessen fortlaufend, welche Details der Fremde Sie im Einzelnen anziehen, abstoßen oder zumindest interessieren. 121

Textprojekte und Schreibaufgaben IV

n Notieren Sie daneben Beobachtungen darüber, wie sich Ihr Reisepartner auf der Reise verhält: Wo reagiert er ganz anders als Sie ? Wo verstehen Sie seine Reaktionen nicht mehr ? Wo wird er Ihnen fremd ? Wo empfinden Sie weshalb eine besondere Nähe zu ihm ? Wo hätten Sie ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben (vgl. die Szene zwischen Max Brod und Franz Kafka) ? Wo hätten Sie seine Hilfe in einer bestimmten, unangenehmen Situation erwartet ? Etc. n Lassen Sie nach Ihrer gemeinsamen Heimkehr etwas Zeit vergehen und setzen Sie sich erst dann zusammen, um die beiden unterschiedlichen Reiseaufzeichnungen gemeinsam zu lesen. Gehen Sie dabei nicht zu schnell, sondern langsam und gründlich vor. n Sprechen Sie darüber, wie Ihnen die Reise aus den beiden unterschiedlichen Blickwinkeln im Nachhinein erscheint und was Sie durch die Beschreibungen an Neuem über die Fremde und an Neuem über Ihre Freundschaft erkannt haben.

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16. Künstlerreisen als Reiseprojekte Wer längere Zeit an einem Ort in eine Richtung schaut, hört, wie die Natur aus ihrer planetarischen Bewegung heraus spricht. Das geht von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang und setzt sich in der Erdbewegung fort.105 Vor etwas mehr als zehn Jahren erschienen zwei Nummern der renommierten Kunstzeitschrift »Kunstforum«, die sich thematisch auf den Schwerpunkt der Künstlerreise konzentrierten. In Ausgaben mit Titeln wie »Ästhetik des Reisens« und »Atlas der Künstlerreisen« führten sie ihren Lesern anhand vieler Beispiele vor, dass die Künstler das Reisen neu für sich entdeckt hatten.106 Jedes Mal ging es dabei um bestimmte, oft bereits vor der Reise konzipierte und dann während der Reise dokumentierte Projekte. Es gab Künstler, die mit dem Zug durch ganz Sibirien und die Mongolei gefahren waren und 131 kleinformatige Aquarelle der vorbeiziehenden Landschaft gemalt und dazu dann einige Texte geschrieben hatten, und es gab andere Künstler, die das Projekt »Transsibirische Bahn« in einem Schuppen in Darmstadt mithilfe einer Installation verwirklicht hatten, die man nur von außen, durch ein Guckloch, betrachten konnte. Viele Künstler beschäftigten sich mit dem Thema »Bewegung« oder »Behausung« und untersuchten alternative Formen der Fortbewegung oder wenig bekannte Formen des flüchtigen oder nomadischen Wohnens in eher einsamen Gegenden. Wie funktionierte zum Beispiel »Zen im Gehen« ? Unter anderem so: 105 Von

Schwelle zu Schwelle. Ein Gespräch mit Günther Uecker, S. 10. Band 136: Ästhetik des Reisens. Teil 1: Ankommen, hiersein, weggehen. Februar–Mai 1997; Kunstforum Band 137: Ästhetik des Reisens. Teil 2: Atlas der Künstlerreisen, Juni–August 1997.

106 Kunstforum

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Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Weiter fest auftreten, die Augen auf das richten, was zwischen drei und fünf Metern vor uns liegt, die Augen ohne Anspannung über das Gesehene »schleifen« lassen, und langsam das Sehen mit dem Schrittrhythmus verbinden, dann mit jedem Schritt den Boden »heranziehen«, bis sich mit allen Sinnen das unerschütterliche Gefühl einstellt, daß uns die Erde schrittweise entgegenkommt.107 Handlungsanweisungen dieser Art und eigene Spielregeln des Reisens machten eine große Gruppe eines solchen »Schreibens auf Reisen« aus. Eine andere bestand aus konkreten Untersuchungen (Berichten, Essays und Erzählungen) zur Wahrnehmung der Fortbewegungsmittel auf Reisen. Themen waren hier etwa die Langeweile am Steuer, das Mopedfahren, die Flugreise, die Bootsreise oder das Auto als Kamera: Das amerikanische Auto transferiert den Fahrer in einen imaginären Raum, der unendlich weit von der gewohnten Objektwelt entfernt scheint. Das amerikanische Auto verwandelt im Fahren alles, was vor seinen Fenstern sich abspielt, in Kino, von dessen Bildbewegungen der Zuschauer unbedingt ausgeschlossen bleibt. Er 108 kann ihnen nur durch Zuschauen beiwohnen. Besonders der Band »Atlas der Künstlerreisen« enthielt dann eine große Fülle überraschender, sorgfältig inszenierter und durchgeführter Projekte, von Rekonstruktionen einer Pilgerreise über unscheinbare, an den Reiseorten hinterlassene Gesten der Anwesenheit bis hin zur Suche nach den Räumen des Lichts und der Farben:

107 Zen

im Gehen nach Meister Nuel Rho San. Von Elmar Dalesi und Ralf Kersten. In: Kunstforum 136, S. 136 f. 108 Michael Rutschky: Das Auto ist eine Kamera. In: Kunstforum Band 136, S. 163.

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Künstlerreisen als Reiseprojekte

Mit der Zeit bemerkte ich, daß jeder Ort unterschiedliche, ja ganz eigene Farbtonskalen und Lichtverhältnisse besitzt. Oft konnte ich die Farben schon aus der Ferne aufgrund der Erdbeschaffenheit erkennen oder in der flirrenden Tönung der Luft sehen.109 Viele der Künstler dokumentierten ihre Arbeiten mithilfe von Kommentaren zu Fotografien, die sie gemacht hatten, manche ließen sich aber auch interviewen, um sich detailliert nach den Projekten befragen zu lassen. Meist zielten die Projekte schließlich auf Präsentationen (in Ausstellungen, aber auch vor Ort, in Räumen der Reise selbst), die das Projekt sowohl beschrieben als auch die Details seiner Ausarbeitung und Ausführung vorführten. So wurden die Künstlerreisen zu Entstehungsprozessen der Kunst und der Verlauf dieser Werkprozesse zum eigentlichen Inhalt der Präsentation. (Beide Bände der Zeitschrift »Kunstforum« enthalten in diesem Sinne eine große Fülle von Anregungen für eigene Reisekonzepte und Reiseprojekte im Kleinen.) Auf besonders eindrucksvolle und einzigartige Weise zeigte in den letzten Jahrzehnten schließlich der Künstler Günther Uecker, wie stark Reisen sein künstlerisches Arbeiten geprägt und bestimmt haben. Bezeichnend für Ueckers Verständnis der »Arbeit auf Reisen« ist, dass er seine Arbeitskonzepte meist erst vor Ort und nach intensivem Kennenlernen der Fremde entworfen hat. So bewegt sich Uecker nicht selten in abgelegenen und untouristischen Gegenden, um über starke, unvermittelte Naturerfahrungen den besonderen kulturellen Gestus starker Einsamkeitspanoramen zu erfahren. In solchen Landschaften entwickelt er eine eigene Zeichensprache, die auf die Eigenheiten des Naturraums Bezug nimmt und diesen Naturraum neu erschließt. Mitte der Siebzigerjahre zum Beispiel hält sich Uecker in der 109 Elisabeth

Arpagaus: Orte des Lichts. In: Kunstforum Band 137, S. 74.

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Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Libyschen Wüste auf. Dort zieht er mit einem schweren Pfahl so lange markante Linien in den Wüstensand, bis es zur Berührung und zum Aufeinandertreffen zweier Linien kommt: Wo sich zwei Linien berühren, ist ein Punkt, den Punkt bestimme ich, dort schlage ich einen Nagel ein. Der Schatten des Nagels stellt eine neue Linie dar – die Bewegung des Schattens wird zur Wahrnehmung von Zeit. Die Richtungsbezogenheit des Nagels in diese Welt und die Artikulation von Licht und Schatten sind Dimensionserweiterungen. Man wird rundherum blicken – da uns 110 eine Richtung blind gemacht. Ein zweites Wüstenprojekt gilt der Fixierung von Sonneneindrücken. In sogenannten »Sonnennachbildern« testet Uecker die physiologische Reaktion des Auges auf die Sonneneinwirkung, er hält die farbliche Reaktion mit Aquarellfarben auf kleinen Rechtecken aus Büttenpapier fest: Eine unendliche Reihe von Blickversuchen, bei geöffnetem Auge das Sonnenlicht direkt einfallen zu lassen, bis es nicht mehr zu ertragen ist, die Augen zu schließen und die Bilder, welche bei geschlossenen 111 Augen erscheinen, zu malen. Solche Experimente verdeutlichen, worin das Besondere von Künstlerreisen als Reiseprojekten besteht. Reisen dieser Art nähern sich der Fremde nämlich mit der Neugierde großer Kinder, die den kulturell bereits gedeuteten Erlebnisraum zunächst einmal ignorieren. All das, was bereits besprochen, beschrieben und interpretiert wurde, hat kaum ein Gewicht. Stattdessen 110 [Günther 111 [Günter

126

Uecker:] Von Schwelle zu Schwelle, S. 56. Uecker:] Von Schwelle zu Schwelle, S. 59.

Künstlerreisen als Reiseprojekte

nimmt man vor Ort Platz und geht möglichst unvoreingenommen und naiv auf das Fremde zu, um dessen besondere Wirkungen auf einen außenstehenden Betrachter zu erfassen. Danach beginnen die Prozesse der Annäherung an das Fremde, die sich mit der Zeit in Werkprozesse verwandeln. So entstehen während der Reise Konzepte des Umgangs und der Einflussnahme auf das Fremde, die sich allmählich verdichten und eine längere Ausarbeitung verlangen. Aus scheinbar naiver Betrachtung wird so reflektierte Erfahrung. Und die Spuren dieser Reflexion schlagen sich dann in Texten eines »Schreibens auf Reisen« nieder, das nicht Eindrücke der Reise beschreibt, sondern die künstlerische Arbeit dokumentiert, die sich dieser Eindrücke angenommen und sie unendlich verfeinert und reflektiert hat.

Schreibaufgabe Reiseprojekte dieser Art bedürfen der freien Fantasie vor Ort. Deshalb sollen hier keine speziellen Aufgaben formuliert werden. Stattdessen könnte man in eher allgemeinem Sinn sagen, dass solche Projekte sich meist auf noch wenig beobachtete, beschriebene oder dokumentierte Vorgänge und Details der Fremde konzentrieren. Solche Details oder Vorgänge machen sie sich als Erlebnisräume bewusst. Und in diese Erlebnisräume greifen sie dann dokumentierend, hinweisend oder verändernd ein. Den Prozessen dieser Eingriffe gilt schließlich das eigentliche »Schreiben«: Es präsentiert einen Werkprozess vor Ort, mit Objekten und in Räumen des jeweiligen Ortes.

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Textprojekte und Schreibaufgaben V: Schreiben nach der Reise 17. Der Reisebericht Seit unserm Hierseyn waren wir würkliche Fischfresser (Ichthyophagi) geworden; denn viele von uns aßen schlechterdings nichts als Fisch. Aus Besorgniß, daß wir dieser treflichen Speise in der Folge überdrüßig werden könnten, suchten wir oft neue Zubereitungs-Arten hervor. Wir machten Fisch-Suppen und Fisch-Pasteten, wir kochten, wir brateten, wir rösteten, wir stobten sie …112 Nehmen wir nun an, dass wir mit reichlich Notiz- oder Tagebuchmaterial von unserer Reise zurückgekehrt sind. Während wir unterwegs waren, hatten wir selten ausreichend Zeit, unsere meist knapp gehaltenen Aufzeichnungen auszuarbeiten. Jetzt aber, nach unserer Rückkehr, können wir das mitgebrachte Textmaterial auswerten und zu einem längeren, in sich geschlossenen Text umschreiben. Die klassische und älteste Form einer solchen Ausarbeitung 113 ist der Reisebericht (oder auch: die Reisebeschreibung). Einer der umfangreichsten und bekanntesten Reiseberichte der deutschen Literatur stammt von dem Aufklärer Georg Forster (1754–1794), der seinen Vater bei der zweiten Weltumseglung 112 Georg

Forster: Reise um die Welt, S. 125. J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1989.

113 Peter

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DER REisebericht

von Captain Cook während einer dreijährigen Schiffsreise (1772–1775) begleitete. Nach seiner Rückkehr schrieb er die »Reise um die Welt«, einen Reisebericht, der zu einem großen Erfolg und für die moderne Form eines solchen Berichts vorbildlich wurde. Forster schreibt nüchtern und sachlich. Er ist in erster Linie voller Neugierde und geradezu leidenschaftlich an all den fremden Phänomenen interessiert, die ihm begegnen und die er zum großen Teil noch nicht kennt. Am meisten beschäftigen ihn die Lebensformen der Fremden, von ihren Gesten und Kommunikationsformen über Kleidung, Sitten und Ernährung bis hin zu ihren religiösen Ritualen. Für seinen ausführlichen Bericht kann er auf die Aufzeichnungen und Notizen zurückgreifen, die sein Vater während der Reise in offiziellem Auftrag gemacht hat. Sechs Folianten umfasst dieses akribische, faktengesättigte Reisejournal, aus dem der junge Forster dann einen Reisebericht filtert, der auf bestimmte Details fokussiert und immer bildlich und anschaulich bleibt, ohne den Leser durch Aufzählungen von Fakten zu ermüden. Stattdessen durchzieht den Reisebericht ein einfacher erzählerischer Faden, an dem entlang das Geschehen aufgerollt wird. Strukturiert wird die Erzählung durch die Angabe der jeweiligen Tageszeit. Es folgen kurze, prägnante Schilderungen der jeweiligen Ereignisse, fast alle etwa in gleicher Länge. Etwa so: Wir erreichten gegen Mittag die Dusky-Bay (in Neuseeland), das Wetter war soundso, die Gegend bot folgenden Anblick ( …), wir gingen vor Anker, die Matrosen warfen sofort ihre Angeln aus, wir fingen eine Menge folgender Fische ( …), wir aßen und tranken dieses und jenes, dann setzten wir zwei Boote aus, um verschiedene Buchten der Bay genauer zu untersuchen und einen bequemeren Ankerplatz zu finden. Dabei 129

Textprojekte und Schreibaufgaben V

begannen wir mit unseren Studien des Tier- und Pflanzenreichs, es war herrlich, es fehlte uns im Grunde an nichts, wir beschlossen, länger zu bleiben: Wir waren nicht über zween Tage in dieser Bay gewesen, so wurden wir bereits überzeugt, daß sie nicht unbewohnt seyn müsse. Als nehmlich am 28.Morgens einige unsrer Officier in einem kleinen Boote auf die Jagd gingen, und etwa zwei oder drey englische Meilen weit vom Schiffe in eine Bucht hineinruderten, wurden sie auf dem Strande einige Einwohner gewahr, die ein Canot (Kahn) ins Wasser setzen wollten. Bey ihrer Annäherung fiengen die Neu114 Seeländer an überlaut zu rufen … Die Passage zeigt, wie Forster erstens daran gelegen ist, einen wenn auch noch so minimalen Erzählfluss in Bewegung zu halten: Was passierte dann und dann ? Was passierte darauf ? Gleichsam an den Rändern dieses Erzählflusses werden zweitens die Details genau benannt: Die Offiziere benutzen ein kleines Ruderboot, sie entfernen sich zwei oder drei englische Seemeilen, die Einheimischen setzen ein Kanu ins Wasser, dann beginnt ein überlautes Geschrei. Beide Komponenten werden schließlich einem plastischen, für den Leser gut vorstellbaren Bildeindruck untergeordnet. Man sieht die Offiziere aufbrechen, in eine Bucht hineinrudern und eine Entdeckung machen. Damit ist nicht zuletzt für eine gewisse Spannung gesorgt. Die dramaturgischen Mittel sind also sehr einfach, sie dienen aber der Sache, fesseln den Leser an das Geschehen und geben durch die Detailangaben zu erkennen, dass der Autor auch wirklich vor Ort gewesen ist und sich gründlich umgeschaut hat. Genau das ist, knapp gesagt, die Zielsetzung eines guten Rei114 Georg

130

Forster: Reise um die Welt, S. 118.

Schreiben nach der Reise

seberichts. Die Ausmalung von Emotionen und Stimmungen dagegen wird bis aufs Äußerste zurückgedrängt. Forsters eigene Stimme erscheint höchstens in der Form knapper Reflexionen oder Kommentare, schweift aber nirgends länger ab. Seine Haltung könnte man bereits die eines modernen Reporters nennen, der die Phänomene von allen Seiten und unter vielen Aspekten beobachtet und durchdenkt und an nichts mehr interessiert ist als daran, seinen Lesern einen möglichst lebendigen, gut recherchierten und nicht zuletzt unterhaltsamen Eindruck von dem Abenteuer der Fremde zu geben.

Schreibaufgabe n Verschaffen Sie sich nach einer Reise einen Überblick über Ihre Notizen und Tagebucheintragungen. n Entwerfen Sie einen groben ersten Plan Ihres Reiseberichts, indem Sie die einzelnen Stationen nacheinander festhalten und zu jeder Station knappe Stichworte notieren. n Fokussieren Sie anhand dieser Stichworte jeweils auf bestimmte (möglichst unterschiedliche) Ereignisse, Personen, Objekte oder Räume der Reise. n Berichten Sie dann chronologisch, indem Sie in einfacher, sachlicher Form davon erzählen, was Sie gesehen und erlebt haben. n Enthalten Sie sich langer Wertungen oder sonstiger Abschweifungen, schreiben Sie vielmehr bildlich und anschaulich, im Dienst an der Sache. 131

18. Die Reiseerzählung Man konnte barfuß gehen, aber es war kühl im Mai, und Mokassins waren auf den Marmortreppen angenehmer. Man aß herrlich und trank gut.115 Anders als der Reisebericht schreibt die Reiseerzählung die von einer Reise mitgebrachten Notizen oder Tagebucheintragungen zu einer Geschichte um. Eine solche Geschichte hat sowohl einen markanten Erzähler als auch Personen, die miteinander ins Gespräch kommen (Figuren), zusammen etwas unternehmen (Handlung) und die Fremde als einen Spielraum für ihre Interessen und Passionen betrachten (Themen). Dabei hält sich die Reiseerzählung aber wie der Reisebericht an den realen Verlauf einer Reise und an genaue Fakten (Uhrzeiten, Ortsnamen, Reisewege etc.), die belegen, dass die Reiseerzählung nicht frei erfunden ist und auf Recherchen beruht. Ein gutes, wenn auch ambitioniertes Beispiel für eine solche Reiseerzählung ist der Text »Gefährlicher Sommer«, den der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway (1899–1961) im Auftrag der Zeitschrift »Life« über eine Spanienreise des Jahres 1959 geschrieben hat. Hemingway war auf dieser Reise nicht allein, sondern mit seiner Frau und wechselnden Gruppen von Freunden unterwegs. Die Gespräche, die sich zwischen diesen Reisenden ergeben, lassen private Details erkennen: wie sie die Reise persönlich erleben, wie sie bestimmte Ereignisse kommentieren oder wie sie mit den anderen Reisebegleitern umgehen. Im Verlauf der Reise sorgen sie dadurch einerseits für Privatheit, können daneben aber 115 Ernest

132

Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 31.

Die Reiseerzählung

auch dazu dienen, Informationen über die Fremde im Plauderton der Dialoge darzubieten. In Manzanares, nahe Madrid, frühstücken Hemingway und ein Freund zum Beispiel an einem Morgen außerhalb ihres Hotels in einer Taverne: Wir frühstückten in einer Taverne; wir tranken Milchkaffee und tunkten das gute Brot darin ein und nahmen ein paar doppelte Gläser Faßwein und ein paar Scheiben Manchegan-Käse zu uns. Die neue Landstraße war um die Stadt herumgelegt worden, und der Mann an der Theke erzählte uns, es kehrten jetzt nur noch sehr wenige Reisende in den Tavernen ein. »Diese Stadt ist tot«, sagte er, »wenn nicht gerade Markttag ist.« »Wie wird der Wein dieses Jahr ?« »Es ist noch zu früh, um darüber etwas sagen zu können«, erzählte er mir.116 Eine solche Begegnung zeigt anschaulich, wie sich recherchierte Fakten unaufdringlich in Details einer Geschichte verwandeln lassen. Ganz nebenbei erfahren wir nämlich, was es in einer spanischen Taverne am frühen Morgen zu essen und zu trinken gibt (sogar die Käsesorte wird exakt benannt), warum die Tavernen dieser Stadt kaum noch besucht werden und wie es im Sommer des Jahres 1959 um die Weinernte steht. Die meisten Gespräche haben darüber hinaus aber auch ein zentrales Thema, das Thema Stierkampf. Stierkämpfe werden von der Reisegesellschaft in den verschiedenen großen Arenen des Landes besucht und bilden dadurch den roten Faden (oder die Fortsetzungsgeschichte) der Reise. Daneben sorgen sie aber 116 Ernest

Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 38 f.

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Textprojekte und Schreibaufgaben V

auch für kleine Minidramen, durch deren Darstellung und Schilderung sich der Erzähler Hemingway als ein brillanter Beobachter (und Kenner der Szene) ausweist, wie hier bei der genauen Beobachtung eines Stierkämpfers: Ich beobachtete ihn, wie er ungeduldig wartete, den Stier nie aus den Augen verlor, wie er ihn aufmerksam betrachtete, analysierte, wie er nachdachte, plante. Er sagte Juan, wo er den Stier haben wollte, und dann ging er hinaus und übernahm den Stier mit vier tief ausgeführten Manövern; das linke Knie, der Unterschenkel und der Knöchel im Sand, das rechte Bein ungeschützt, ließ er den Stier durch die magische Kraft seiner muleta nach vorn und wieder zurückgehen, versprach ihm alles, bot sich ihm als Ziel an und zeigte ihm einfühlsam und sanft, daß dieser Teil des tödlichen 117 Spiels weder schmerzhaft noch strapaziös war. Passagen dieser Art beweisen allein durch die Präzision der Erzählung, wie sehr sich der Erzähler in das Thema vertieft hat. Wiederum ganz und gar unaufdringlich zeigt er, dass sein Blick längst kein bloß touristischer, sondern der eines erfahrenen, mit dem Thema gut vertrauten Reisenden ist. Ausgiebige Recherchen haben zu diesem Wissen beigetragen, werden aber mit keiner einzigen Bemerkung angedeutet. Dass diese Recherchen aber wirklich bis zum Kern des Themas vorgestoßen sind, zeigt sich darin, dass selbst die berühmtesten Stierkämpfer Spaniens auf dieser Reise die Nähe Hemingways suchen. Der Erzähler Hemingway erlebt die Stierkämpfe also nicht nur durch die Brille seines enormen Wissens, sondern auch ganz unmittelbar aus der Nähe zu ihren Protagonisten. So dringt die Reiseerzählung bis hinter die Kulissen der 117 Ernest

134

Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 52.

Die Reiseerzählung

Kämpfe vor und zeigt Vorgänge, zu denen der Leser nie einen Zugang haben wird  – so wie hier, als Hemingway nach einem Stierkampf den Torero Antonio aufsucht und der äußerst knappe Dialog dem Torero die Meisterschaft des Kampfes (und dem Erzähler die Meisterschaft der Beobachtung) bescheinigt, sodass sich beide auf ein gemeinsames Essen verständigen können: Oben im Hotel lag Antonio auf dem Bett, müde eher von dem Tragen auf den Schultern als vom Kampf, und lächelte sein dunkles, glückliches Lächeln. »Contento, Ernesto ?« fragte er. »Muy contento.« »Ich auch«, sagte er. »Hast du gesehen, wie er war ? Hast du alles mitbekommen ?« »Ich glaube schon«, sagte ich. »Laßt uns in Fraga essen.« »In Ordnung.« »Fahrt vorsichtig.« 118 »Wir sehen uns in Fraga«, sagte ich. Solche Momente gehören zu den Höhepunkten einer Reiseerzählung. Sie zeigen (aber wiederum: sehr diskret, unaufdringlich), dass der Reisende Eingang in die Fremde gefunden hat. Im Grunde ist er kaum noch ein Reisender, sondern gehört  – aufgrund seiner Kenntnisse oder aufgrund sonstiger Fähigkeiten und Tugenden – zum Kreis der Einheimischen: Er sitzt an ihrem Tisch, er spricht ihre Sprache, und er verständigt sich durch Andeutungen. Die große Kunst der Reiseerzählung besteht also darin, die Fülle der Erlebnisse und recherchierten Details in einer Geschichte 118 Ernest

Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 112.

135

Textprojekte und Schreibaufgaben V

zu kombinieren, die – wie andere Geschichten eben auch – auf kleine Höhepunkte zuläuft und von einer Fragestellung (einem Thema, einer Obsession etc.) vorangetrieben wird. Dabei gilt das ganze Vorhaben letztlich dem hohen Anspruch, die Distanz zur Fremde zumindest zeitweise zu überwinden und in die Zentren der Landesgeheimnisse vorzudringen. Solche Geheimnisse müssen nicht so außergewöhnlich sein wie im Falle Hemingways, sie können vielmehr auch aus kleinen Offenbarungen und Annäherungen an die Fremde bestehen. Wichtiger ist, dass ein möglicher Leser die Erzählung so liest, als läse er eine gut erfundene, mit Spannungs- und Überraschungsmomenten arbeitende Erzählung. In einer solchen Erzählung sind dann selbst die ruhigen, stillen Momente noch Momente einer packenden Dramaturgie, sie lassen den Leser ausatmen und bilden doch bereits das erste Moment eines neuen Spannungsbogens hin zum nächsten Höhepunkt der Reise: Draußen vor dem Fenster peitschte ein mittelschwerer Sturm die 119 Zweige der Platanen, und ab und zu regnete es.

119 Ernest

136

Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 107.

Die Reiseerzählung

Schreibaufgabe n Verschaffen Sie sich einen guten Überblick über die Notizen und Tagebuchaufzeichnungen, die Sie während einer Reise gemacht haben. n Legen Sie eine kleine Liste der Personen an, mit denen Sie gereist bzw. mit denen Sie während Ihrer Reise zusammengetroffen sind. Halten Sie auch kurz das Aussehen, bestimmte Eigenheiten und charakteristische Handlungsweisen dieser Personen fest. Überlegen Sie, welche dieser Personen Sie in Ihrer Erzählung auftreten lassen wollen. n Fertigen Sie eine Skizze der Reisestrecke mit ihren verschiedenen Stationen an und notieren Sie, was Sie an diesen Stationen erlebt haben, welche dieser Erlebnisse sich gut erzählen ließen und welche Personen dabei auftreten sollen. n Überlegen Sie, welche Themen (oder Obsessionen etc.) die Reise bestimmten und wie diese Themen durch die Erzählung der Reiseerlebnisse vertieft oder dramatisiert werden könnten. n Erzählen Sie die Reise dann als eine Geschichte aus der Perspektive eines Erzählers. (Sind das Sie selbst ? Oder ist es ein anderes Mitglied der Reisegruppe ?) Bleiben Sie dabei nahe an den Erlebnissen und arbeiten Sie mit lebendigen, die Personen charakterisierenden Dialogen.

137

19. Der Reiseroman Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus.120 Der Reiseroman schließlich ist das Meisterstück der Reiseliteratur. Sein Autor aber interessiert sich nur noch ganz am Rande für die Daten und Fakten der Reise, und es geht ihm auch nicht mehr darum, Themen und Terrains der Fremde mithilfe einer Erzählung zu erforschen. Stattdessen tritt das Erzählen selbst ganz in den Vordergrund, und zwar so sehr, dass die im Reiseroman auftauchenden Namen von Städten oder Landschaften anfänglich nur noch wie nebenbei erwähnt werden. Der Autor lenkt aber auch später den Fokus nicht mehr auf all diese Räume, höchstens in knappen Beschreibungen oder Andeutungen kommen sie noch vor. Viel wichtiger ist nämlich die Geschichte selbst, die meist von einem Reiseabenteuer oder einem starken Reiseerlebnis zum nächsten führt. Erzählen bedeutet dann: einer Stationenkette besonderer Reiseereignisse zu folgen. Die Wege zwischen den unterschiedlichen Orten der Reise lehnen sich häufig aber nicht mehr an die üblichen Streckenverbindungen oder Routen an. Sie können vielmehr ganz willkürlich und spontan entstehen, je nach Lust und Laune der handelnden Personen, die sich dann ziellos durch die Landschaft treiben lassen, mal nach Norden, dann wieder westwärts, zurück in den Osten und unerwartet wieder nach Norden. Das Vorbild für ein solch zielloses, spontanes und in gewissem 120 Joseph

138

von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, S. 5.

Der Reiseroman

Sinn anarchisches Reisen ist Joseph von Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts«. Im Vorfrühling macht sich die Hauptfigur auf, nicht ahnend, wohin der Weg sie dann führen wird. Sie folgt vielmehr ganz ihren eigenen Impulsen und den sich zufällig am Wegrand auftuenden Verlockungen: Als ich eine Strecke so fortgewandert war, sah ich rechts von der Straße einen sehr schönen Baumgarten, wo die Morgensonne so lustig zwischen den Stämmen und Wipfeln hindurchschimmerte, dass es aussah, als wäre der Rasen mit goldenen Teppichen belegt. Da ich keinen Menschen erblickte, stieg ich über den niedrigen Gartenzaun und legte mich recht behaglich unter einem Apfelbaum 121 ins Gras … Ein Baumgarten, die Morgensonne, ein Gartenzaun, ein Apfelbaum – so knapp wird eine Station der Reise skizziert. Sie lädt den Reisenden zum Verweilen ein und hinterlässt beim Leser die Frage danach, was nun als Nächstes passieren wird. Auf solchen Stationen wird die Hauptfigur gleichsam stillgestellt und muss warten, bis die Außenwelt sich zeigt und auf sie zukommt. Meist tut sie das an jeder Station dann auf andere, verblüffende Weise. Dann kommen Personen, Gegenstände oder Räume ins Spiel, die mit dem Verlassen der jeweiligen Station sofort wieder im Dunkel verschwinden. Daher sind solche Stationen meist nur flüchtig berührte Orte, an denen sich jeweils eine kleine Szene (ein kleines Drama) der Reise abspielt. Solche Szenen (oder Dramen) haben inhaltlich die Aufgabe, den Reisenden von einer neuen oder anderen Seite zu zeigen und ihm verblüffende Reaktionen zu entlocken, dramaturgisch aber haben sie die Funktion, in dem sonst eher 121 Joseph

von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, S. 28.

139

Textprojekte und Schreibaufgaben V

gleichförmigen Vergehen der Reisezeit gewisse Spannungsmomente zu setzen. In »On the Road«, dem bekanntesten Reiseroman der amerikanischen Literatur, lässt der Autor Jack Kerouac (1922–1969) seinen Erzähler dann und wann auch mit einem Trucker fahren: Der Typ überbrüllte das Dröhnen einfach, und ich musste bloß zurückbrüllen, und das war total locker. Und er ballerte die Kiste bis nach Rapid City, Iowa, durch, brüllte mir echt witzige Geschichten zu, wie er in jeder Stadt mit unfairem Tempolimit die Gesetzeshüter zum Narren hielt, und wiederholte immer wieder, »mir werfen 122 die Cops keine Knüppel zwischen die Beine.« Er war wunderbar. Auch an dieser Station des Romans wird die Hauptfigur stillgestellt und reagiert kaum. Für die Dauer des Verweilens an der Station treten vielmehr ganz neue Figuren in den Vordergrund, die sofort ausreichend Raum erhalten, um sich darzustellen. Stationen ermöglichen also große Auftritte von Figuren, Selbstdarstellungen, Monologe, aber auch Kontrasthandlungen zu den Handlungen der Hauptfigur. Gleichzeitig enthalten sie im Hintergrund oft auch ein gewisses Gefahrenmoment, dessen Schweben oder Flimmern in der Hauptfigur eine Unsicherheit hinterlässt. Im nächsten Augenblick könnte sich der Trucker in ein Monstrum verwandeln, oder es könnte passieren, dass er wegen seines temperamentvollen Erzählens von der Straße abkommt und einen Unfall verursacht. Reiseromane erzählen also mit verhaltenen Spannungsbögen, die immer wieder zu kleinen Abenteuern (mit Kontrastfiguren oder 122 Jack

140

Kerouac: On the Road. Die Urfassung, S. 27 f.

Der Reiseroman

auch Reisebegleitern) hinüberblenden. Die Orte, an denen sie spielen, sind oft abgelegen und haben auf den ersten Blick überhaupt nichts Faszinierendes. Auf keinen Fall aber sind es touristische Orte, ja man könnte sogar sagen, dass der Reiseroman gegenüber Gegenden, die vom Tourismus geprägt sind, eine natürliche Feindschaft unterhält. Im Abseits wie die Orte befinden sich meist denn auch seine Figuren, die sich als Außenseiter verstehen und auf Reisen sind, um sich selbst besser kennenzulernen oder überhaupt erst zu erahnen, wo ihr Platz in der Welt in ferner Zukunft einmal sein könnte. In diesem Sinn wirken ihre Begegnungen mit anderen Figuren denn auch wie kurze Testverfahren, die ihnen die Essenz und die Dramatik eines fremden Lebens konzentriert vorführen. Indem sie sich von diesem fremden Leben gleich wieder abwenden oder indem sie es eine Weile begleiten, zeigen sie Impulse von Antipathie oder Sympathie. Und so bietet ihnen der Reiseroman lauter Gelegenheiten, ihre Emotionen auszuloten und allmählich zu jenem inneren Gleichgewicht zu finden, an dessen Möglichkeit sie anfänglich nicht einmal zu glauben wagen. Höchstens in kleinen, vorsichtigen Zeichen präsentiert ihnen der Reiseroman zu seinem Beginn eine derartige Hoffnung. Und doch leuchten solche anfänglichen Zeichen dann wie Wegweiser durch die vielen Hundert Seiten, die er oft zurücklegt, bis den Roman sein meist künstliches Ende (denn er will ja eigentlich gar nicht enden) ereilt. Ein deutscher Reiseroman, jüngeren Datums und auf den Spuren des Taugenichts, beginnt mit einem solchen kurzen Leuchten: An einem Vorfrühlingsabend kehrte der junge Fermer nicht mehr in die Kaserne zurück. Es war noch recht kühl, doch waren die ersten Anzeichen des nahenden Frühlings zu bemerken. »Es tut sich 141

Textprojekte und Schreibaufgaben V

etwas«, dachte Fermer, »scheint nicht alles aufspringen zu wollen ?« Um den Vollmond flogen eilend Wolkenfetzen, die sich sofort wieder zerstreuten; die sonst fahle Himmelsdecke war an einigen Stellen weit aufgerissen, und Fermer konnte die leuchtenden Sterne erkennen.123

Schreibaufgabe n Versuchen Sie, das erste Kapitel eines Reiseromans zu schreiben. n Lassen Sie diesen Roman an einem Ort beginnen, den Sie gut kennen, benennen Sie diesen Ort aber nicht. n Fangen Sie mit einer Aufbruchsszene an: Die Hauptfigur macht sich plötzlich zunächst noch allein auf den Weg. n Folgen Sie ihr auf diesem Weg eine Weile und beschreiben Sie die schwankenden Stimmungen der Figur, eingebettet in kurze Beschreibungen oder Andeutungen der Außenwelt. n Führen Sie Ihre Figur so zu ihrer ersten Station. Gönnen Sie ihr einen Moment des längeren Verweilens und konfrontieren Sie die Figur dann mit ihrer ersten »Begegnung«. n Machen Sie aus dieser »Begegnung« (mit einer anderen Figur oder einem Gegenstand etc.) einen spannenden, abenteuerlichen Moment.

123 Hanns-Josef

142

Ortheil: Fermer. Roman. Frankfurt/M. 1979, S. 9.

Nachbetrachtung: Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen In ihrer Großstruktur folgen die Textprojekte und Schreibaufgaben dieses Buches jenem »reisegeschichtlichen Dreiklang« von Vorbereitung, Ausführung und Auswertung der Reise, der schon in den ältesten Reisemethodiken seit dem Zeitalter des Humanismus und der Renaissance erscheint.124 Seither wurde das Reisen in all seinen Formen und in seiner praktischen Umsetzung als eine Kunst (ars apodemica) betrachtet, die in umfangreichen und viel gelesenen Kompendien beschrieben und gelehrt wurde. Zum Inhalt dieser Lehre gehörte natürlich auch das Schreiben auf Reisen, das die jeweilige Reisepraxis reflektierte und in ihrer besonderen Form dokumentierte. Um für sich selbst genau jene Formen zu finden, die heutzutage für einen Schreiber interessant sein könnten, sollte man nun aber auch einen Blick auf die einzelnen Teile der Textprojekte und Schreibaufgaben in diesem Buch werfen. Da gibt es an erster Stelle jene Verfahren, die man bereits zu Hause erproben und dann nach Belieben auf Reisen anwenden kann, um von bestimmten Spaziergängen, Flanerien, Wanderungen etc. zu erzählen (Teil I). Solche »Erkundungsgänge« sollte man sich auf einer Reise eigens vornehmen und in einer ihnen je124 Vgl. Justin

Stagl: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800. Wien, Köln, Weimar 2002, S. 100.

143

Nachbetrachtung

weils entsprechenden, hier vorgestellten Textform festhalten. Sie bilden ein anspruchsvolles Schreibgenre, das die fremden Räume auf Höhepunkte und Besonderheiten hin durchstreift und diese Räume in exemplarischer Form näher bringt. Viel einfacher sind jene Textverfahren des Notierens und Aufzeichnens für sich selbst, die den Verlauf und den Alltag einer Reise in unterschiedlich kurzen oder langen Schreibphasen festhalten (Teil II). Solche Verfahren reichen vom Reisetagebuch über das frei geführte Notizbuch bis zu thematisch geführten Notizbüchern. Da man nicht die Zeit haben wird, mehrere solcher Verfahren gleichzeitig anzuwenden, sollte man zunächst überlegen, welche man überhaupt erproben oder welche man miteinander kombinieren will. Nützlich wird es auf jeden Fall sein, den jeweiligen Verlauf eines Reisetages am Abend, in der Nacht oder am Morgen des nächsten Tages in der Kurzform eines Reisetagebuchs zu notieren. So behält man den räumlichen und zeitlichen Verlauf der Reise (Wo war ich genau wann ?) deutlich im Blick. Daneben sollte man aber ein Notizbuch führen, in das man während eines Tages einzelne Beobachtungen knapp und prägnant notiert. Dazu gehört faktisches Material, dazu können aber auch Beobachtungen zum eigenen Befinden oder Beobachtungen zu Kulturen der Fremde gehören. Ein solches Notieren kann frei, aber auch mit dem Blick auf ein bestimmtes Thema erfolgen. Notiert man frei, reicht ein einziges Notizbuch, notiert man darüber hinaus aber auch thematisch, sollte man für das thematische Notieren jeweils ein eigenes Notizbuch anlegen. Auch das »Schreiben für und an andere« in den verschiedenen Formaten, die hier vorgestellt wurden (Teil III), sollte man, sofern das auf Reisen möglich ist, auf jeden Fall festhalten. Ansichtskarten und Briefe sollte man kopieren, und mediale Tex144

Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen

te sollte man zur weiteren Verwendung (oder als Sonderformen der Dokumentation einer Reise) ausdrucken. Selbstständige Reiseprojekte von der Art schließlich, wie sie ebenfalls hier skizziert wurden, gehören zu den anspruchsvollsten Formen der Reisedokumentation (Teil IV). Sie erfordern sehr viel Zeit und führen nicht selten dazu, dass die Reise beinahe ausschließlich auf das Projekt zentriert verläuft. In diesem Sinne ist das Projekt dann eine selbstständig gewählte, alle Aktivitäten berührende Kunstform, deren Dokumentation ausschließlich die jeweilige Kunstpraxis beschreibt und reflektiert und sich nicht weiter mit sonstigen Themen oder Reizangeboten einer Reise beschäftigt. Will man das während einer Reise gesammelte Material noch einmal in einer fortlaufenden, sich auf die wesentlichen Momente und Beobachtungen einer Reise konzentrierenden Form zusammenfassen, so kann man das Material zu einem Reisebericht, einer Reiseerzählung oder sogar zu einem Reiseroman aus- und umarbeiten (Teil V). Das Material für solche rückblickenden Großformate sollte durch Zeichnungen und Fotografien komplettiert werden, auf die man zurückgreifen kann, wenn man bestimmte Beobachtungen oder Eindrücke präzisieren will. Der wichtigste Ratschlag aber betrifft die Materialien der Reisetage- oder Notizbücher. Im extremen Fall schleppt man auf Reisen eine stattliche Zahl von ihnen mit sich herum. Das könnte lästig oder unpraktisch sein. Deshalb ein guter Vorschlag: Man sollte ausschließlich Spiralnotizbücher mit Blankopapier verwenden, davon aber gleich mehrere mitnehmen. Alle Notizen eines Tages kommen dann in ein einziges solches Notizbuch, und zwar so, dass man die Texte später auch einzeln vor sich haben und herausreißen kann. Man sollte die einzelnen Aufzeichnungen oder Blätter des145

Nachbetrachtung

halb datieren und nur auf der rechten Seite eines Heftes schreiben (bei Spiralheften ist das Beschreiben auf der linken Seite sowieso nicht sehr praktisch). Auch Zeichnungen und Skizzen sollten immer nur auf der rechten Seite eines Heftes erscheinen. So füllt man während einer Reise mehrere Notizbücher, hat es jedoch punktuell immer nur mit einem einzigen Notizbuch zu tun. Der Clou daran ist, dass man die vollgeschriebenen (und datierten) rechten Seiten nach der Reise aus den Notizheften herauslösen und sie auf die Seiten eines großen blanko Skizzenblocks (zu empfehlen ist das Format DIN A3) kleben kann. Auf einem solchen Großformat finden dann alle während der Reise gemachten Aufzeichnungen (der unterschiedlichsten Textverfahren) über- oder nebeneinander Platz. Zeichnungen und Fotografien lassen sich leicht den Texten zuordnen oder in sie integrieren. Das Endprodukt ist dann ein einziger Skizzenblock, der alle einzeln gemachten Aufzeichnungen in all ihrer Buntheit sammelt und zu einer Gesamtdarstellung vereinigt. Die anderen Formen einer Gesamtdarstellung der Reise wären die schon angesprochenen: Reisebericht, Reiseerzählung, Reiseroman. Entschließt man sich für eine dieser aus der Rückschau konzipierten Formen, so hat das während der Reise gesammelte Material lediglich die Aufgabe einer vorläufigen Quellenund Dokumentensammlung. Der später geschriebene Gesamttext dagegen erscheint in sich geschlossen und wirkt dadurch oft souverän und abgerundet. Frischer, lebendiger und vielleicht sogar anarchischer könnten aber Dokumentationen (wie der große Skizzenblock) ausfallen, in denen alles während einer Reise geschriebene, gezeichnete oder fotografierte Material in bunter Form gesammelt erscheint. Eine solche Präsentation wird die direkten Wahrnehmungsprozesse im Verlauf der Reise in den Mittelpunkt rücken 146

Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen

und auf Schwerpunkte oder Abrundung verzichten. Eine Reise zu beschreiben, heißt dann: sie für einen Leser in all ihrer schönen Spontaneität nachvollziehbar zu machen.

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Literaturverzeichnis

Buch über Projekte von Künstlern wie Bruce Nauman, Richard Long, Francis Alÿs, Marina Abramovic oder Sophie Calle, die das Gehen in den Mittelpunkt stellen.] Fox, Robin Lane: Reisende Helden. Die Anfänge der griechischen Kultur im homerischen Zeitalter. Aus dem Englischen von Susanne Held. Stuttgart 2011. [Grundlegende, gut lesbare Studie über die Abenteuerwelten der frühen griechischen Seefahrer des 8. Jahrhunderts v. Chr., die das Mittelmeer eroberten.] Fuest, Leonhard: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. München 2008. Gräf, Holger Th./Pröve Ralf: Wege ins Ungewisse. Eine Kulturgeschichte des Reisens 1500 – 1800. Frankfurt/M. 2001. Gros, Frédéric: Unterwegs. Eine kleine Philosophie des Gehens. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer und Michael Bayer. München 2010. Hille, Horst: Postkarte genügt. Ein kulturhistorisch-philatelistischer Streifzug. Heidelberg 1988. Holzheid, Anett: Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie. Berlin 2011. Jocks, Heinz-Norbert: Archäologie des Reisens. Ein anderer Blick auf Uecker. Köln 1997. [Faszinierender und sehr anregender Prachtband zu den großen Reiseprojekten des Künstlers Günther Uecker.] Kaschuba, Wolfgang: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne. Frankfurt/M. 2004. [Eisenbahn, Auto, Flugzeug, Foto, Radio, Kino – wie haben sie unsere Raumerfahrungen verändert ?] Kleinsteuber, Hans J./Thimm, Tanja: Reisejournalismus. Eine Einführung. 2., überarbeit. u. erw. Auflage Wiesbaden 2008. [Einführung in Theorie und Praxis des Reisejournalismus.] 156

Sekundärliteratur

Knoll, Gabriele M.: Kulturgeschichte des Reisens. Von der Pilgerfahrt zum Badeurlaub. Darmstadt 2006. [Knapper, guter Überblick zur Geschichte des Reisens.] Köhn, Eckhardt: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin 1989. [Beginnt mit Studien zur urbanen Literatur in Frankreich seit 1780, konzentriert sich dann auf Paris und schließlich ganz auf Berlin.] König, Gudrun M.: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik. Wien 1996. Kufeld, Klaus: Reisen. Ansichten und Einsichten. Frankfurt/M. 2007. [Essay über die Kunst des Reisens und Sehens.] O’Neill, L. Peat: Travel Writing. Cincinnati/Ohio 2006. [Umfassendes amerikanisches Handbuch zur Praxis des »Schreibens auf Reisen«, mit vielen Übungen und interessanten Aspekten.] Ortheil, Hanns-Josef: Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren. Mannheim 2012. Porombka, Stephan: Schreiben unter Strom. Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co. Mannheim 2012. Pytlik, Anna: Die schöne Fremde – Frauen entdecken die Welt. Stuttgart 1991. [Materialreicher Katalog zu einer großen Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart.] Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. Hrsg. von Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff. München 1991. [Aufsatzsammlung zu Theorie und Praxis des Reisens vom Mittelalter bis zur Gegenwart.] Reisen und Alltag. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung. Hrsg. von Dieter Kramen und Ronald Lutz. Frankfurt/M. 1992. [Sammelband mit Studien zu Erlebnisformen des modernen Tourismus.] 157

Literaturverzeichnis

Schärf, Christian: Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch. Mannheim 2012. Stagl, Justin: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800. Wien, Köln, Weimar 2002. Stichweh, Rudolf: Der Fremde. Studien zur Soziologie und Sozialgeschichte. Berlin 2010. Stiegler, Bernd: Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte des Reisens im und um das Zimmer herum. Frankfurt/M. 2012. Sutterlüty, Ferdinand/Imbusch, Peter (Hrsg.): Abenteuer Feldforschung. Soziologen erzählen. Frankfurt/M. 2008. Thompson, Carl: Travel Writing. London u. a. 2011. Traveling shots. Film als Kaleidoskop von Reiseerfahrungen. Hrsg. von Winfried Pauleit u. a. Berlin 2007. Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen. Hrsg. von Bernd Blaschke u. a. Bielefeld 2008. Wellmann, Angelika: Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes. Würzburg 1991. Weppen, Wolfgang von der: Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der die Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995.

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Von Hanns-Josef Ortheil 160 Seiten. Festeinband, abgerundete Ecken und Lesebändchen 978-3-411-74911-9

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Schreiben unter Strom. Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co. Von Stephan Porombka Herausgeber: Hanns-Josef Ortheil 160 Seiten. Festeinband, abgerundete Ecken und Lesebändchen 978-3-411-74921-8

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Hanns-Josef Ortheil, Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim, ist Herausgeber der Reihe „Kreatives Schreiben“ und Autor der Bände „Schreiben dicht am Leben“ und „Schreiben auf Reisen“.

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Schreiben auf Reisen. Wanderungen, kleine Fluchten und große Fahrten – Aufzeichnungen von unterwegs. von Hanns-Josef Ortheil

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Herausgeber der Reihe: Hanns-Josef Ortheil

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