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German Pages 139 [140] Year 1988
Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Klaus Baumgärtner
Kreatives Schreiben an Hochschulen Berichte, Funktionen, Perspektiven
Herausgegeben von Hans Arnold Rau
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kreatives Schreiben an Hochschulen : Berichte, Funktionen, Perspektiven / hrsg. von Hans Arnold Rau. — Tübingen : Niemeyer, 1988. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 42) NE: Rau, Hans Arnold [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-22042-2
ISSN 0344-6735
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Susanne Mang, Tübingen Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Tübingen 3
Vorwort des Herausgebers
Eine deutsche Tageszeitung berichtete im Sommer 1987 von der geplanten Einrichtung eines neuen Studiengangs an der Universität Essen, in dem Studierende lernen können, Gedichte, Romane und Dramen zu verfassen.* Die Überschrift »Dichter oder nicht ganz dicht« bestimmt den Tenor des Artikels, in dem es heißt, »daß Thomas Mann seine >Buddenbrooks< mit knapp über zwanzig Jahren einfach konnte«, und die Frage gestellt wird, »Wer hat Goethe Gretchen beigebracht?«. Die Nachricht selbst wie ihre Kommentierung sind bezeichnend für die derzeitige Situation kreativer Schreibseminare. Einem in den letzten Jahren ständig anwachsenden Interesse auf der einen Seite stehen alte Bedenken auf der anderen entgegen. Dabei verbindet sich die Einsicht, daß es auch im künstlerischen und sprachlichen Bereich Begabungsunterschiede gibt, nur zu gern mit einer Mystifikation des literarischen Schreibprozesses, die den Herstellungscharakter literarischer Texte übersieht, um sich uneingeschränkt dem Geniekult einer Verehrergemeinde hingeben zu können. In einer zunehmenden Zahl von Schreibgruppen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen setzt man sich über Vorurteile dieser Art hinweg, so daß die »Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes« im Herbst 1986 eine bundesdeutsche »Schreibbewegung« konstatieren. Z u m Thema »Kreatives Schreiben« erscheinen Hefte von Fachzeitschriften und werden Tagungen veranstaltet. Im »Segeberger Kreis«, koordiniert von Prof. Dr. Joachim Fritzsche, gibt es einen ersten Zusammenschluß von Schreibseminarleitern. Auch in immer mehr universitären Lehrveranstaltungen wird mit den Möglichkeiten des kreativen Schreibens experimentiert. U m zu ermitteln, in welchem Maße dies derzeit geschieht, führte der Herausgeber im Sommersemester 1986 unter den germanistischen Hochschulinstituten der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins eine Umfrage durch (siehe Einleitung). Sie zeigte, daß an über dreißig Hochschulen kreatives Schreiben praktiziert wird. Das mehrfach geäußerte Interesse an einem größeren Erfahrungsaustausch veranlaßte den Herausgeber, zur Mitarbeit am hier vorliegenden Sammelband einzuladen. Mit diesem Buch soll f ü r alle, die an Schreibgruppen interessiert sind, ein Einblick in derzeitige Zielsetzungen und Methoden literarisch * Stadelmaier, Gerhard: Dichter oder nicht ganz dicht. Stuttgarter Zeitung vom 31.7.1987.
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orientierter Hochschul-Schreibseminare gegeben werden, sowie Hinweise auf damit verbundene Forschungsansätze. Natürlich wird weder ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, noch sollen Rezepte verabreicht werden. Entscheidungen über das jeweilige Vorgehen können sich immer nur aus dem konkreten Zusammenhang ergeben. Gedacht ist an einen exemplarischen Bericht, an Anregung zur Diskussion und Ermutigung zu eigenen Initiativen. Der Band beginnt nach der Einleitung mit einem Beitrag von Walter Hinck, der sich als Leiter des Kölner »Forums für schriftstellerische Versuche von Studenten« auf seinen Lehrer Wolfgang Kayser beruft. Ein Beitrag von Johanna Blömeke führt ein Produkt des »Forums« vor und beschreibt, wie die Autorin die Bedingungen der Produktion erlebt hat. Ekkehard Skoruppa berichtet über ein anders akzentuiertes Unternehmen, ebenfalls an der Universität Köln. Albrecht Schau von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg berichtet von unterschiedlichen Ansätzen bei der gemeinsamen Produktion von Kinderbüchern und zieht Lehren aus den Schwierigkeiten, die sich bei dieser Arbeit gezeigt haben. Otto Dörner hat mit seinen Studenten an der Universität Osnabrück erprobt, wie mit Hilfe der japanischen Haiku-Kunst auch deutsche Verse verdichtet und gesteigert werden können. Gisbert Keseling stellt ein Forschungsunternehmen dar, das innere Prozesse während der Produktion fiktionaler Texte untersucht, um durch solche Einsichten auch nicht-literarisch Schreibenden Hinweise auf zweckmäßiges, die Flüssigkeit des Vorgangs förderndes Verhalten geben zu können. Kaspar H. Spinner legt Verfahrensweisen dar, die dazu dienen, kreatives Schreiben f ü r literaturwissenschaftliche Erkenntnis fruchtbar zu machen. Gegen universitäre Schreibübungen, in denen sich die Subjektivität der Autoren zu sehr entfalten kann, wendet sich Joachim Dyck. Er fordert eine Orientierung von Schreibseminaren an klassischen rhetorischen Maßstäben. Holger Rudioff findet bei Friedrich Nietzsche Ansatzpunkte zu einer Theorie literarischen Schreibens, die eine »Entlarvung des Geniekults« anstrebt. Der Band endet mit einem Beitrag von Greg Divers, in dem ein Überblick über verschiedenste Studiengänge für kreatives Schreiben an US-amerikanischen Colleges und Universitäten gegeben wird. Wenn das kreative Schreiben an deutschen Hochschulen mehr sein will als eine Modeerscheinung, dann muß es sich allerdings mit den nationalspezifischen Traditionen literarischer Produktion und ihrer akademischen Vermittlung kritisch auseinandersetzen. Angeregt durch Erfahrungen in anderen Ländern, könnten sich eigenständige Formen der Forschung und Lehre weiterentwickeln, um die entdeckten Möglichkeiten gemeinsamer Textproduktion im Sinne einer neuen Schreibkultur zu fördern.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers
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Hans Arnold Rau Einleitung: Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen
1
Walter Hinck »Literatur lebendig« Johanna
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Blömeke
Als Studentin im »Forum für schriftstellerische Versuche«
. .
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»Wir haben die Schublade voll!« Ein Bericht über die Autorenwerkstatt an der Universität Köln
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Albrecht Schau Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität. Chancen und Risiken von Schreibseminaren mit oder ohne vorgegebenen Schreibimpuls
36
Otto Dörner Texten von Kurzgedichten nach dem Vorbild des japanischen Lyrik-Genres >Haiku< im studentischen Schreibseminar. Diskurs und Bericht
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Gisbert Keseling Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse und Bearbeitung von Schreibstörungen
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Ekkehard
Kaspar H.
Skoruppa
Spinner
Kreatives Schreiben und literaturwissenschaftliche Erkenntnis .
79
Joachim Dyck Die antike Rhetorik in der modernen Schreibwerkstatt
88
. . . .
VIII Holger Rudioff Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens. Dargestellt anhand Friedrich Nietzsches »Menschliches, Allzumenschliches« .
97
Greg Divers Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben an amerikanischen Colleges und Universitäten (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Katrin Boeckel und Anna Rau)
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Anschriften der Autoren
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Hans Arnold Rau
Einleitung: Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen
1. Vorbemerkung Protokolle, Referate und Examensarbeiten sind an deutschen Universitäten seit jeher verfaßt worden. Daß dort auch Erzählungen, Gedichte, Hörspiele, Reden und Reportagen entstehen, ist dagegen neu. Seit etwa zehn Jahren sind Studentinnen und Studenten zunehmend daran interessiert, sich in Schreibseminaren Ausdruck zu verschaffen und ihre Texte miteinander und mit ihrem Hochschullehrer, gelegentlich unterstützt durch einen Schriftsteller oder Journalisten, zu diskutieren. Nicht selten kommt es zur Veröffentlichung in Form von Lesungen, broschierten Anthologien, Studentenzeitungen, Literaturzeitschriften oder Rundfunksendungen. Der deutliche Anstieg von Schreibseminaren fällt nicht zufällig in eine Zeit berufsperspektivischer und fachwissenschaftlicher Neuorientierung in den Geisteswissenschaften. Er ist sowohl Reflex als auch Chance akademischer Reflexion einer »Schreibbewegung«, deren Mitwirkende in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen neue Hoffnungen auf das Schreiben setzen. Unter den Hochschullehrern sind es neben den nicht mehr allein auf die Schulen festgelegten Deutschdidaktikern und den Rhetorikern nun auch ehemals rein analytisch arbeitende Literatur- und Sprachwissenschaftler, die mit produktionsorientierten Elementen in ihren Lehrveranstaltungen experimentieren oder spezielle Schreibseminare einrichten. Auch von Seiten der Kreativitätsforschung, der Identitätsforschung, der Gruppentherapie und der Erwachsenenpädagogik gibt es Zugänge zum kreativen Schreiben. Dieser Vielfalt entsprechend, sind die bisherigen begrifflichen und methodischen Absprachen gering. Nicht einmal die Bezeichnung »kreatives Schreiben« ist unumstritten, obwohl sie sich in letzter Zeit gegenüber »fiktionalem«, »expressivem« und »personalem Schreiben« durchzusetzen scheint. 1 Sie berücksichtigt die subjektive wie die objektive Seite der Textproduktion und hat den Vorteil, der Bildung creative 1
Vgl. ζ. B. Themenheft »Kreatives Schreiben«, Westermanns Pädagogische Beiträge, 38. Jg., Februar 1986, und die von Prof. Dr. Gert Ueding geleitete Tagung der Akademie Tutzing vom 16.-18. Juni 1987 zum gleichen Thema.
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Hans Arnold Rau
writing2 zu entsprechen, einem bereits weit verzweigten Bereich insbesondere der amerikanischen Muttersprachen-Philologie. Unter »kreativem Schreiben« soll hier der Selbstausdruck durch die Produktion literarischer Texte verstanden werden, einschließlich der Produktion autobiographischer, rhetorischer und journalistischer Formen. Auf den folgenden Seiten möchte ich zunächst einen Überblick geben über die Praxis von Hochschul-Schreibseminaren in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin, wie ich sie 1986 durch eine Umfrage ermittelt habe. Sodann möchte ich eine geistesgeschichtliche Einordnung versuchen und die Widerstände erklären, die sich lange Zeit dem kreativen Schreiben an deutschen Hochschulen entgegengestellt haben. Anschließend soll eine kurze Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den Kategorien biographischer und ästhetischer Identität und Fiktionalität dazu beitragen, Elemente einer Theorie des kreativen Schreibens bereitzustellen. In einem Schlußabschnitt wird auf bei uns unaufgearbeitete Lehr- und Forschungserfahrungen des amerikanischen creative writing hingewiesen. 2. Umfrage zu Schreibseminaren 3 2.1 Durchführung und Ergebnisübersicht Um zu erfahren, wo und in welcher Form sich schreibinteressierte Studentinnen und Studenten in Seminaren treffen, sandte der Verfasser zu Beginn des Sommersemesters 1986 Fragebögen an die germanistischen Institute aller wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins. Insgesamt wurden 86 germanistische Institute an 61 Universitäten, Gesamthochschulen, Technischen und Pädagogischen Hochschulen angeschrieben. 4 Es wurden 33 Fragen zum 2
Von der »Yale Conference on the Teaching of English« wurde creative writing wie folgt charakterisiert: »an act of composition in which the student creates a controlled dramatic voice and an imagined world, without sacrificing the sense of logic and reality. The creation of this world is a process of making concrete the personal experience of the student in the literary form prose or verse.« Morrill, Mabel, and the Commitee On Creative Writing: Creative Writing. In: Gordon, Edward J. und Noyes, Edward S. (Eds.): Essays o n the Teaching of English. New York: Appleton 1960, S.79-91.
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Dieser zweite Abschnitt der Einleitung ist eine überarbeitete Fassung meines Berichts »Kreatives Schreiben an deutschen Hochschulen. Eine Umfrage.« Wirkendes Wort, 37. Jg., Heft 3, 1987, S. 228-235. Grundlage war das Verzeichnis »Germanistik an deutschen Hochschulen. Verzeichnis der Hochschullehrer in der Bundesrepublik Deutschland. Zusammengestellt von F. W. Hellmann. Deutscher Akademischer Austauschdienst, Bonn 1982« sowie das Ergänzungsheft »Veränderungen und Ergänzungen, Stand SS 1985«.
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Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen
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Vorhandensein und zur Arbeitsweise von Schreibseminaren gestellt sowie zu ihren Teilnehmern und deren Intentionen. Es konnten muItiple-choice-Vorgaben angekreuzt, aber auch individuelle Antworten gegeben werden. Beteiligt haben sich an der U m f r a g e 58 Institute an 43 Hochschulen. Die Fragebögen wurden meist von den Seminarleitern selbst, in wenigen Fällen von wissenschaftlichen Hilfskräften ausgefüllt. Die Frage: »Gibt es an der genannten Hochschuleinrichtung ein Schreibseminar oder ein Forum f ü r schreibende Studenten/innen, in dem die Teilnehmer Texte verfassen u n d / o d e r selbstverfaßte Texte zur gemeinsamen Besprechung vorlegen?« wurde von 38 Instituten positiv beantwortet. In den weitaus meisten dieser in den Vorlesungsverzeichnissen aufgeführten Seminare steht das kreative Schreiben im Mittelpunkt. Nur in sechs der gemeldeten Seminare geht es primär u m anderes: u m den angemessenen Gebrauch der Schriftsprache bei Deutsch lernenden Ausländern, 5 um das Abfassen von Verwaltungstexten und um die Übertragung mittelhochdeutscher Verse ins Neuhochdeutsche. Zu den verbleibenden 32 Instituten mit Seminaren f ü r kreatives Schreiben treten fünf weitere, an denen die Produktion eigener kreativer Texte im R a h m e n einer anderen Lehrveranstaltung einen Schwerpunkt bildet. So ergeben sich die 37 ζ. T. schon langjährig stattfindenden Lehrveranstaltungen (siehe Tabelle), auf deren Basis die im folgenden näher dargestellten Umfrageergebnisse ermittelt wurden. Eindeutig mit »nein« beantwortet wurde die oben zitierte Frage von 12 Instituten. Vereinzelte frühere Schreibseminare an der Universität Bayreuth, an der Technischen Universität Braunschweig und an der Gesamthochschule Kassel blieben wegen unvollständiger Angaben bei der Auswertung unberücksichtigt.
2.2 Teilnehmer Die »Schreibseminare«, wie die tabellarisch aufgeführten Lehrveranstaltungen abkürzend genannt werden sollen, sind zum größten Teil in den f r ü h e n achtziger Jahren entstanden. Die Zahl der Teilnehmer beträgt durchschnittlich 17 und ist bei etwa einem Drittel der Schreibse5
Im Seminar von Dr. Irmgard Ackermann am Institut für Deutsch als Fremdsprache an der Universität München spielt das kreative Schreiben eine wichtige Rolle. Auch dieses Seminar muß wegen der besonderen Voraussetzungen im Bereich Deutsch als Fremdsprache hier unberücksichtigt bleiben. - Vgl. Rau, Hans Arnold: Autobiographisches und fiktionales Schreiben im DaFUnterricht. In: Informationen Deutsch als Fremdsprache, 12. Jg., Heft 1, 1985, S. 68-71.
fiktionäle
autobiographische Texte [
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1 TH Aachen, Päd. FakVFIiil. Fak.
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a) WS 83/84
2 FU Berlm, Philosophische Fakultai
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a) WS 75/76
Prof. Dr. Hans Schumacher
3 Univ. Bochum, Abt. f. Philologie
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a) SS 83
Dr. Gerhanl Mensching, AkOR
4
a) WS 79/80
Prof. Dr. K. Daniels/Prof. Dr. W. Schemme
an wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins Germanistische Institute * )
Uoiv. Bonn, Pädagogische Fakultät
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c Ό Durchbruch< gelingt. Ich hoffe es, zu prophezeien wage ich es nicht. Die >Literatur lebendig< machten unsere Übungen dadurch, daß sie inmitten einer Stätte der Wissenschaft den Versuchen literarischer Produktivität ein Forum gaben. Was da auch gelernt werden konnte, war Selbstkritik. Es ist kein Zufall, daß Studenten, die ins »Forum« zu kommen sich scheuten oder zu gut sich fühlten, mir aber ihre Gedichte und Romane zur Beurteilung andienten, weitaus weniger zu angemessener Selbsteinschätzung bereit waren als diejenigen, die sich in den Gesprächen des Forums hatten überzeugen lassen. Nichts kann für den, der literarischen Ehrgeiz hat, nützlicher sein als eine kleine Öffentlichkeitsprobe.
Johanna Blömeke Als Studentin im »Forum für schriftstellerische Versuche«
Pandora, Süße mit offenen Armen nehm ich dich auf und entzücke mich mit dir ich glaube nicht daß man dich vorher so liebte Ich glaube nicht daß der Zorn des Prometheus - und anderer gerechtfertigt war deren schönes Übel mit der üblen Büchse du hießest Pandora die Unheilsbringerin mit Seuchen, Krankheiten und dir Frau als Geschenk Die Götter dachten als Strafe der Männer dich - die weisen hatten ihre Gründe Ich bin froh, daß du kamst ich nehm dich mit offenen Armen auf und glaube an dich Pandora, Süße
Der Mythos von Pandora, die mit ihrer unheilvollen Büchse als »Göttergeißel« über die Menschen kommt, ist ein von Goethe bis Wedekind beliebtes literarisches Thema. Alte Mythen bieten Berührungs- und Reibungspunkte, die sich aus der Entfernung zwischen archaischem Stoff und neuzeitlicher Perspektive natürlich ergeben. Das obenstehende Gedicht entstand aus einer Aufgabe, die sich diese Tatsache zunutze machte: sie forderte die literarische Bearbeitung einer Figur aus der Mythologie. Außer mir haben sich noch ungefähr vierzig Studenten damit beschäftigt, im »Forum für schriftstellerische Versuche von Studenten«, geleitet von Walter Hinck, aus dem Thema einen literarischen Text zu machen. Es war nicht die einzige Aufgabe dieser Art; auch die Neufassung von Fabeln wurde verlangt und die Ausführung eines gegebenen Er-
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Johanna Blömeke
zählanfangs. Die Ergebnisse waren - vor allen Dingen im Vergleich interessant. Vergleich ist hier ein wichtiges Stichwort, denn darin liegen viele der Möglichkeiten und Ziele eines solchen Schreibseminars zutage. Die Vorlage eines Textes im Forum zwingt zur Selbstdisziplin, zur gründlichen, aufmerksamen Überarbeitung einfach dadurch, daß man sich einer kleinen, aber kundigen Öffentlichkeit stellt. Man lernt, sachliche Kritik zu üben - und sie zu ertragen. Durch die Konfrontation mit den unterschiedlichsten literarischen Techniken und das Kennenlernen verschiedener Schreibstile wurde mir die Abgrenzung von anderen A u t o r / i n n / e n erheblich erleichtert selbst wenn man noch nicht genau weiß, was man will, ist es schon sehr gut, zu wissen, was man (und wie man es) auf keinen Fall machen möchte. Natürlich führt diese Abgrenzung schnell zu einer Rivalitätssituation; ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, daß eine solche Rivalität sehr produktiv sein kann. Als ein seminarinterner Literaturwettbewerb angekündigt wurde, kam es jedoch zu ernsthaften Spannungen: Viele der Teilnehmer waren der Ansicht, daß es unnötig sei, die Rivalitätssituation noch zu verschärfen. Leider kommt kaum ein/e j u n g e / r Schriftsteller/in heute lange um einen Wettbewerb herum; er bietet die oft einzige Möglichkeit, bekannt zu werden. Insofern war die >Trockenübung< im Seminar vielleicht ganz sinnvoll. Übrigens habe ich gemeinsam mit einigen anderen Teilnehmern des Seminars mehrmals den Versuch unternommen, einen privaten Autorenkreis, der ohne Leiter auskommen sollte, zu gründen. Das Unternehmen wurde kein Erfolg. Uns fehlte ein Verbindungsglied und, vor allem, ein moderierendes Element. Mittlerweile bin ich der Meinung, daß ein Schriftstellerseminar einen Leiter braucht. Einen möglichst unaufdringlichen, versteht sich, der keine falsche Entscheidung trifft weil er überhaupt keine trifft; und der dafür sorgt, daß nicht er der Dreh- und Angelpunkt der Veranstaltung ist, sondern die Texte. Daß Seminare, die zum Schreiben anregen, immer populärer werden, zeigte sich auch im Interesse des Deutschlandfunks für das Schriftstellerforum. Er brachte eine Sendung mit Interviews von Walter Hinck und gab mir die Gelegenheit, mein erstes Gedicht zu veröffentlichen. Mir hat das Forum also auch ganz unmittelbar weitergeholfen. Aber auch ohne das: Drei Jahre in Walter Hincks Forum gehen nicht spurlos an einem vorüber.
Ekkehard Skoruppa »Wir haben die Schublade voll!« Ein Bericht über die Autorenwerkstatt an der Universität Köln
Am Anfang war ein Flugblatt: »Wir haben die Schublade voll!« Das Papier machte die Runde unter Studenten an der Universität Köln, sorgte für erstaunliche Resonanz. Beim annoncierten Treffen in der Privatwohnung des Unterzeichners Karl Karst zählte man die Köpfe der Interessierten zwar nicht nach Dutzenden, doch es kamen etliche Schreiber >mit vollen Schubladen< und andere zumindest voller Enthusiasmus. Das war 1979, und eine Zeitschrift für Literatur, Kunst und wissenschaftliche Beiträge sollte gegründet werden. »Hier und da dies und jenes mit Für und Wider durch Verbindung zu trennen und durch Trennung zu verbinden«, hieß es einige Monate später im Editorial der ersten Nummer. Die vielleicht etwas verkrampft wirkende Kopf- und Feuilletonlastigkeit, die im Rückblick scheinbar herauszulesende Beliebigkeit war gewiß keine Ungewißheit des Anspruchs und sollte erst noch verschwinden. Aber am Anfang glich die Privatinitiative tatsächlich einem Sprung ins kalte Wasser, bei dem man sich manchmal mit Formulierungen wärmt: Denn weder das Zeitschriftenmachen, weder redaktionelle, organisatorische, technische, noch verlegerische Belange waren hinlänglich erprobt, und nicht viel besser stand es um die Erfahrungslage mit publikationszentrierter Arbeit beim Umgang mit Texten. Die Zeitschrift, die sich auszeichnen sollte durch »formale und thematische Offenheit«, war aus dem Stand zu konzipieren, zu gestalten, herzustellen und zu füllen - von jenen mit Engagement und Idealismus, mit Mut zum Risiko und eben den vollen Schubladen, dabei zumeist aber nur kläglich gefüllten Portemonnaies. Um Geschichte und Entwicklung der »Autorenwerkstatt« an der Universität aufzurollen, ist etwas weiter auszuholen. Denn die anfängliche Privatinitiative hat einen merkwürdigen Weg zur Institutionalisierung im Übungsprogramm an der Studiobühne der Universität genommen. Der Aufruf zum Zeitungsmachen, das Publikationsangebot, stand wie geschildert am Beginn. Karl Karst, damals Student der Germanistik und Theaterwissenschaften und freier Hörfunk- und Fernsehkritiker bei verschiedenen Zeitungen, heute Hörspiel-Redakteur, hatte nicht zu Unrecht darauf gesetzt, daß verstreut unter Studenten und Nicht-Studenten - denn auch an letztere ging der Aufruf - schriftstel-
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Ekkehard Skoruppa
lerische Blütenträume reifen und möglicherweise Talente verborgen sind, die es zu finden und zu fördern lohnt. Aber ein Treffen fehlte, ein Treffpunkt, ein offenes Forum zur breiteren Diskussion, eine selbstgeschaffene Möglichkeit zur Publikation. Die Wirkung des Flugblattes bewies in der Tat dann zweierlei: Es wird viel und intensiv geschrieben im Umfeld der Universität und - das, was geschrieben wird, ist nicht allein für den Eigengebrauch gedacht, zur Selbstvergewisserung notiert und als Tagebucheintrag zu werten. Der Wunsch, Öffentlichkeit zu erreichen, zeigt sich zunächst ineinem mit dem Wunsch, Erfahrungen auszutauschen. Während des fast vierjährigen intensiven, aber dennoch recht kurzen Lebens der Zeitschrift, sammelten sich weit über 150 zum Teil sehr umfangreiche Manuskripteinsendungen an. Allerdings nach der ersten Nummer - nicht nur aus Kölner (Studenten-)Kreisen. Wider eigenes Erwarten sorgte »das kölner heft«, bis zum Streit mit einer ähnlich titulierten Schweizer Zeitschrift kurz »das heft« genannt, f ü r Rascheln im Medienwald. Der Norddeutsche Rundfunk lobte, Tageszeitungen munterten auf, »Die Zeit« berichtete, wog und befand als zu schwer, als zu anstrengend-theoretisch im germanistischen Jargon. Ein Urteil aus einem Mißverständnis: Der Rezensent hatte den Redaktionssitz »Universität Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur« mit dem Herausgeber Karl Helmut Karst verwechselt. Und wohl zu recht sah sich der geschäftsführende Direktor des Instituts zu einer Korrektur im Hamburger Wochenblatt genötigt: Das »heft« war in der Tat keine Publikation des Instituts, es war eine Privatinitiative, die vielleicht nicht sorgsam genug das Impressum gestaltet hatte. Zwar stimmte der Ort, er gab gleichwohl zu Verwechslungen Anlaß. Als der Berichterstatter nach der ersten Nummer zur Redaktionsgruppe stieß, war man bereits umgezogen: In einem Raum der Studiobühne der Universität Köln fanden fortan mindestens einmal wöchentlich Redaktions- und Lektoratssitzungen statt. Letztere waren jeweils >offene< Veranstaltungen, zugänglich für jedermann, denn die Idee war, Autoren, Zeitschriftenmacher und Interessierte an einen Tisch zu bringen und diskutieren zu lassen über Texte und ihre Publikationsmöglichkeit. Der feste Stamm von Zeitschriftenmachern, die gleichzeitig auch Autoren sein konnten, wurde in den Lektoratssitzungen immer wieder von Neuzugängen ergänzt. In manchmal mehrstündigen Treffen konnten die vortragenden Autoren (Kopien ihrer Texte lagen aus) direkte Auseinandersetzung, Kritik, unmittelbare Bewertung und eine fast ebenso schnelle Entscheidung erfahren. Im Laufe der Zeit aber erwies sich, daß zwei grundsätzlich verschiedene Bedürfnisse die zuweilen hitzigen Gespräche prägten: Möglichst breite, ausführliche und bis zur Literatur- und Gesellschaftstheorie reichende Diskussionen, auch Austausch von Schreiberfahrungen, dies
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forderten die einen, während andere - und dazu gehörte auch ein Teil des mittlerweile 6-8-köpfigen festeren Stamms der »heft«-Mitarbeiter auf schnellere Wertung und Entscheidung, auf publikationszentrierte und die Zeitungsbelange bedenkenden Diskussionen bestand. Zwischenzeitlich wurde eine Umlaufmappe mit den zu besprechenden Texten angelegt, und erneut saß man im Einzelstübchen, sichtete und bewertete Texte wie vorher. Besonders aus den Arealen der Autoren, die als Gäste zuweilen nur ein- oder zweimal zur Gruppe stießen, wurde Unmut an endlosen Diskussionen laut: Ein fast professionelles Interesse an Veröffentlichung herrschte hier nicht selten vor, die Autoren wollten schlicht wissen, ob ihr Text nun angenommen werde oder nicht. An Diskussionen, an Analysen und Interpretationen, kurz - an einem Gespräch über Literatur, bestand weit geringeres Interesse. U m die Geschichte des »kölner hefts« abzukürzen: Nach den vier Jahren waren zwar nicht die idealistischen, wohl aber die finanziellen Ressourcen restlos erschöpft. Das aufwendig gemachte 100-Seiten-Heft, das in Qualität und Ausstattung, vor allem aber in seiner Resonanz weit über das, was ursprünglich gedacht war, hinausgekommen war, mußte sich mit einer zwar vollständig gestalteten, dann aber doch unveröffentlichten letzten Nummer verabschieden. Signale des Kulturamts der Stadt Köln, auch des Instituts für deutsche Sprache und Literatur, unterstützend einzugreifen, kamen zu spät. Die Manuskripte verschwanden wieder in der Schublade. Fast wie am Anfang. Mit einem Unterschied: Die »Autorenwerkstatt«, die sich bald nach den Schwierigkeiten im »offenen Lektorat« gegründet hatte, blieb bestehen. Hier sollte jene ausführliche Diskussion weiter ermöglicht werden, die das Lektorat auf die Dauer - gegen die Ausgangsidee - überfordert hatten, so erzählte mir Karl Karst, der die Werkstatt bis 1985 leitete. Der auf Veröffentlichung ausgerichteten Lektorats-Diskussion sollte schon zur Heft-Gründerzeit eine >Voröffentlichkeit< an die Seite gestellt werden, in der nicht zuletzt auch solche Gespräche geplant waren, die auf »Verbesserung«, auf »Änderung«, auf ein »Überarbeiten« der gelesenen Texte zielten. Autoren, die ihre Texte von Anfang an zur Publikation anboten, hatten verständlicherweise wenig Interesse, sich in ihre Zeilen hereinreden zu lassen. Für Karl Karst, der damals beide Gruppen leitete, bedeutete dies einen Mehraufwand an Zeit und Arbeit. Daher wurde der Plan überdacht, die »Autorenwerkstatt«, noch immer privat organisiert und initiiert, zu institutionalisieren, um zumindest einen kleinen organisatorischen Teil abzugeben und den Zeitaufwand zu entschädigen. Ein weiterer Grund: Sie sollte zur regelmäßigen Einrichtung werden, unabhängig vom Initiator Karl Karst. Die Studiobühne der Universität, die von ihren Mitgliedern selbstverwaltet wird, bot sich dazu an - zumin-
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Ekkehard Skoruppa
dest A n k ü n d i g u n g und Werbung wurden von ihr übernommen. Seither findet sich die Autorenwerkstatt im Übungsprogramm der Studiobühne, und damit auch im Vorlesungsverzeichnis der Universität im Rahmen des Studium generale f ü r Hörer aller Fakultäten. Z u d e m gibt es Ankündigungen in einem Semesterfaltblatt. Und auch ein Honorar, wenngleich ein eher symbolisches, steht dem Gruppenleiter seither zu. Das Programm der Studiobühne ist breitgefächert: Außer der Autorenwerkstatt finden sich im Vorlesungsverzeichnis der Act Shop (Übungen zur praktischen Theaterarbeit), Bühnentanz, Bühnentechnik, Filmwerkstatt, Videogruppe und Fotogruppe. In der Hauptsache macht die Studiobühne natürlich Theater: eigene Produktionen, Gastspiele, Festivals. Mitglied in der zentralen Universitätseinrichtung kann jeder werden, gleichgültig ob er Universitätsangehöriger oder Externer ist. Entscheidungen über Grundsätzliches, das Übungsprog r a m m und die Theaterprojekte, fällt die Mitgliederversammlung, stimmberechtigt sind hier allerdings nur die Angehörigen der Universität Köln. F ü r die Autorenwerkstatt bedeutete (und bedeutet) der neue organisatorische R a h m e n eine größtmögliche Freiheit: R ä u m e werden bereitgestellt, Unterstützung für Projekte, von denen noch berichtet werden soll, wird im Rahmen des Möglichen geleistet, das Übungsprog r a m m selbst, die Arbeit der Werkstatt, ist ihr völlig selbst überlassen. Seit G r ü n d u n g der Werkstatt 1980 gab es keinerlei Probleme in der Mitgliederversammlung. Freilich haben die »Autoren« bis ins Jahr 1986 ein wenig beachtetes Schattendasein gefristet. Kontakt zu anderen Gruppen, Zusammenarbeit mit der Bühne bestand kaum, ganz anders als in den sechziger Jahren, als bereits eine Art dramatische Werkstatt an der Studiobühne existierte. Unter der Leitung des heute emeritierten Theaterwissenschaftlers Professor O.C.A. zur Nedden wurden damals Texte speziell f ü r die Bühne und die A u f f ü h r u n g geschrieben, so berichtete mir Georg Franke, der Leiter der Studiobühne. Entsprechend den Regularien der Einrichtung ist auch der Teilnehmerkreis der Autorenwerkstatt nicht auf Studenten beschränkt. Von derzeit rund 25 Teilnehmern (bei relativ großer Fluktuation) k o m m e n sieben aus dem nicht-universitären Bereich. Die Tendenz zeigt sogar nach oben: I m m e r häufiger meldeten sich in jüngster Zeit Interessenten, die nicht studieren oder ihre Studienzeit längst hinter sich haben, die von der Werkstatt bei Lesungen, aus dem »Kölner Stadtbuch« (eine Adressen-Sammlung mit Tips und Hinweisen) oder über die Kölner Zentralbibliothek erfahren haben. Eine begrüßenswerte Entwicklung: Die Struktur der Autorenwerkstatt wird aufgelockert und die Werkstatt verknöchert nicht zu einem germanistischen Zirkel, denn wie sich leicht vorstellen läßt, kommen die meisten Teilnehmer aus den geistes-
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wissenschaftlichen Fächern, besonders aus der Germanistik. Die Universität ist jedoch tatsächlich nur ein Treffpunkt und kein programmatischer Ort, seminar-vergleichbar geht es bei uns in kaum einer Hinsicht zu. Daß geraucht werden darf oder Kaffee getrunken in den Sitzungen, geht auf Absprache zurück und mag eine Äußerlichkeit sein. Daß man sich duzt, macht älteren Neuankömmlingen manchmal Schwierigkeiten, ist aber zumeist gewünscht. Daß kein eigentlicher Dozent die Sitzungen leitet, verwundert manchen, fällt aber kaum auf, sobald die Gespräche begonnen haben. Die Atmosphäre ist gelöst, das Interesse führt die Mitglieder zusammen, regelmäßige Teilnahme ist keine Pflicht. Weder werden Teilnehmerlisten geführt, noch ist Anmeldung erforderlich, ein einziges Mal nur werden Adressen ausgetauscht, um Kontakte zu ermöglichen und der Studiobühne Adressaten für ihre Programme und Einladungen mitzuteilen. Im Anschluß an die Sitzungen hat sich ein »Nachseminar« etabliert - in einem kleinen Cafe nahe der Universität. Ein Stammtisch nun seit Jahren, doch sicher keine Stammtischgespräche: nicht selten werden dort die Diskussionen weitergeführt, und schon einige Male haben sich öffentlich spontane Lesungen ergeben - zum Schrecken oder zum Vergnügen anderer CafeBesucher. Daß literarische Geselligkeit, Gespräche über eigene und fremde Texte, Kontakte zu anderen Autoren eine wichtige Funktion in der Werkstatt haben, wurde mir mehrfach mitgeteilt. Daß ein ungezwungenes Treffen nicht mit der Absicht, aber doch mit der Möglichkeit, Kontakte persönlich zu vertiefen, Seltenheitswert hat an einer Massenuniversität, mag eine zusätzliche Attraktivität für manche Student(inn)en bedeuten. Vor allem anderen aber herrscht das Interesse an Literatur vor: Viele Gruppenmitglieder schreiben seit längerer Zeit, es gibt aber auch A n fängen und Teilnehmer, die nur als kritische Diskutanten mitwirken wollen. Von Zweigleisigkeit könnte man also auch in der Autorenwerkstatt sprechen, anders als beim »heft«-Lektorat jedoch behindert sie hier nicht. Die Vorstellung, literarisches Schreiben zu >erlernenFertige< oder >abgeschlossene< Texte sind nicht unbedingt Voraussetzung in dieser >VoröffentlichkeitFehler< aufmerksam zu machen, auf Unstimmigkeiten oder Brüche im Text hinzuweisen, und - was nicht selten geschieht - Zustimmung zu bekunden. Freilich sind Patentrezepte für >richtiges< Schreiben nicht zu erwarten, auch thematische Schreibübungen haben sich als wenig sinnvoll erwiesen. Daher ist Voraussetzung für die Arbeit der Werkstatt das Engagement ihrer Mitglieder.
Mit anderen Worten: Sollten die Schubladen einmal leer sein, hätte sich die Autorenwerkstatt erübrigt. Sie spricht in erster Linie Interessierte an, die bereits Schreiberfahrungen mitbringen und nicht erst auf den Weg gebracht sein wollen. Nur mit einem schriftstellerisch aktiven Teil ist es in dieser Gruppe möglich, auch Anfängern etwas zu bieten: an der Reibfläche gelesener und diskutierter Texte entzündet sich manches Mal ein eigener Versuch. Die Spielregeln der Werkstatt sind schnell geschildert: Von Mal zu Mal wird vereinbart, wer Texte und in genügender Anzahl Kopien mitbringt. Nachdem der Autor seinen Text gelesen hat, entwickelt sich die Diskussion - zunächst oftmals schleppend, in Halbsätzen, mit ersten vorläufigen Anmerkungen. Prinzipiell ist dem Hörer-Forum alles erlaubt: direkte, unmittelbare Ablehnung wie spontane Zustimmung. Schweigepausen nach der Lektüre gehören in den Bereich des Normalen: Halten sie länger als gewöhnlich an, betätigt sich der Gruppenleiter manchmal als überbrückender Moderator. Daneben hat er kaum eine andere Funktion als alle anderen. Hier und da vielleicht versucht er, Argumente zu sortieren, den Gang der Diskussion zu vergegenwärtigen; aber auch dies übernehmen zuweilen andere Gruppenteilnehmer. An wenigen Stellen nur ist mit dem Hinweis auf Erfahrungen einzugreifen: So hat es sich etwa erwiesen, daß die Befragung des Autors kein probates Mittel ist, einen Text zu verstehen, zu interpretieren
» W i r h a b e n die S c h u b l a d e v o l l ! «
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und zu werten. Ohne ihn muß das Gespräch in Gang kommen, der Text selbst muß es erzeugen können. Die Gruppe nimmt in der Regel die Position eines normalen Lesers ein, dem ebenfalls kein Autor auf die Sprünge hilft. Gegen Ende der Besprechung freilich kommt es fast stets zur Einbeziehung des Autors, zur Rückfrage an ihn. Bis dahin kann die Autorenwerkstatt jenes Test- und Resonanzfeld sein, das er häufig wünscht. Manchmal laut werdende Mutmaßungen, in Schreib- und Literaturgruppen würden bloß höfliche Nettigkeiten ausgetauscht, treffen auf die Autorenwerkstatt nicht zu. Es wird hart diskutiert, entschiedener und auch spontaner als es manchem lieb ist. Zu Beginn des Semesters versucht der Gruppenleiter daher stets deutlich zu machen, daß eine gewisse Distanz von den eigenen Arbeiten wünschenswert ist. W e r mit frischem Herzblut geschrieben hat und persönliche Dinge verhandelt, wer in Gedichten etwa eben noch empfundene eigene und sehr wahrhaftige, aber deshalb noch lange nicht literarisch gelungen dargestellte Gefühle ausbreitet, der kann harte Kritik in der Regel schlecht vertragen. Kritik in dieser Voröffentlichkeit aber muß vertragen können, wer sich den Diskussionen stellt. Und so bleiben Gratwanderungen nicht aus: Selbst wenn Polemik und hämische Verrisse nie vorgekommen sind, ernsthafte, sachliche und textzentrierte, aber sehr deutliche Kritik vorherrscht - manchmal scheuen sich die Gruppenmitglieder, ihr Urteil unverblümt zu äußern. Das häufig bei Texten, die niemandem gefallen wollen, die jeder gern vom Tisch hätte. Da die Gruppe sich ständig ändert, gibt es zwar keinen verbindlichen Gruppengeist, keine allmählich entwickelten Kriterien (so es sie, was zu bezweifeln ist, überhaupt geben kann), wohl aber wiederkehrende Fragen. Lauter alte Kritikerfragen: was hat der Autor sich vorgenommen, ist das Anliegen sinnvoll, wie hat er es durchgeführt, umgesetzt, thematisch und sprachlich bewältigt? Auch ohne Leitung eines Dozenten tauchen in fast jeder Diskussion solche Fragen auf, wird beschrieben und interpretiert, schließlich gewertet - freilich selten unisono. Und doch gleichen sich oft die Eindrücke; beständiges Schweigen, Verlegenheitssätze sind äußere Zeichen für schwierige Situationen: Wie sagt man einem Schreiber, daß sein Text nicht nur » F e h l e r « , »Brüche« und »Unstimmigkeiten« aufweist, daß nicht nur Sprache, Metaphern und Bilder nicht stimmen, sondern daß an all dem mit Überzeugung Vorgetragenen überhaupt nichts literarisch Diskutables zu entdecken ist. Hier ist Fingerspitzengefühl vonnöten. Es kommt zu Verwechslungen in der Autorenwerkstatt; es gibt G ä ste, deren Texte Signale sind in einem gänzlich anderen Sinne als dem literarischen. Da werden Kommunikationsbedürfnisse deutlich, da suchen Schreiber manchmal Rat und Hilfe - für bestimmte Lebenssitua-
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tionen, nicht für Probleme mit dem eigenen Schreiben. Da ist das unbeholfene Schreiben ein Vehikel der Kontaktsuche, und die Veröffentlichung, selbst in dieser Voröffentlichkeit, entspricht einem höchst privaten Mitteilungsbedüfnis. Da texten sich die Autoren ihre Probleme von der Seele - auf schiefer Ebene, denn das Gewicht liegt auf der Problemseite. Das hört sich herablassend an, soll es aber nicht. Schreiben als Selbstvergewisserung, Literatur als Therapie hat ihre Berechtigung, aber die Gruppe als Therapeutengemeinschaft wäre schlicht überfordert. Daß die Texte, die bei uns vorgestellt , kritisiert oder auch >verrissen< werden, in manchen Fällen nicht zuletzt von den Schreibern selbst handeln, macht sie freilich noch nicht alle zu öffentlichen Tagebucheintragungen, zu >Objektivierungen< bloß privater Lebensprobleme. Die literarische Ambition rangiert in den Diskussionen immer ganz oben - und das soll auch so bleiben. Daß literarisch unverarbeiteten Verletzungen und Erschütterungen nicht weitere von der Kritik hinzugefügt werden, dazu ist die Gruppe sensibel genug. Freilich hält es Schreiber, die wahrhaftig empfinden, aber wahrhaft schlecht schreiben, auch nicht lange bei uns. Die Unterschiede der vorgelesenen und vorgelegten Arbeiten sind ebenso gewaltig wie die Voraussetzungen und Fertigkeiten der Autoren: Literarische Talente, die zum Teil mehrfach bereits veröffentlicht haben, die als freie Autoren zu leben versuchen und täglich Stunden am Schreibtisch verbringen, treffen im Extremfall auf Gelegenheitsschreiber, für die das Schreiben eher ein Hobby ist. Das schafft natürlich ein Qualitätsgefälle, kann zu Konflikten führen, wenngleich letzteres bisher nur selten der Fall war. Im Sommersemester 1987 allerdings taten sich zum ersten Mal Gräben auf. Der Zulauf neuer Mitglieder überwog den älteren Stamm bei weitem. Und Gebrauchslyrik ä la Allert-Wybranietz stieß bei den Neuen überraschend auf großen Beifall. Das wiederum verprellte manchen Alt-Werkstättler, der sich vom Niveau der Gespräche enttäuscht sah. Das Prinzip der offenen Gruppe aufrecht zu erhalten und dennoch nicht immer völlig von vorn anfangen zu müssen, etwa mit Diskussionen um literarische Qualität, dies macht in der Tat die meisten Probleme. Was langjährigen Gruppenmitgliedern längst abgehandelt scheint, kann für Neuzugänge noch völlig unentschieden sein. Was an Texteigenheiten der häufig Vortragenden dem Stamm der Werkstatt-Mitglieder bekannt ist, das ist für jene Neuland. Und da die Gruppe nicht von gemeinschaftlichen Übungen, nicht von Gruppen-Spielen und -Aufgaben, sondern eher von der literarischen Weiterentwicklung der einzelnen Autoren lebt, ist es stets eine schwierige Frage, wie sich Neuzugänge integrieren lassen. Dem Gruppenleiter bleibt als Moderator des Gesprächs zuweilen nichts an-
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deres übrig, als Diskussionen abzukürzen, Zurückliegendes zu referieren, derart einen Ausgleich zu versuchen. Daß dennoch nicht alle Interessierten zu halten sind, scheint mir ganz natürlich und überdies notwendig, damit die Gruppe nicht allzu groß und die Gespräche nicht allzu vielstimmig werden. Anfänger mögen nach den ersten literarisch ausgefeilteren Texten eine Schwellenangst aufbauen und daher nicht mehr kommen, bei literarisch Fortgeschritteneren könnte es ein vielleicht notwendiger Abnabelungsprozeß sein. Die junge Autorin Liane Dirks erzählte mir während eines Seminars über Schreibgruppen an Volkshochschulen einmal von ihrer generellen Skepsis gegenüber solchen Gruppen. Das Schreiben sei halt ein individueller Prozeß, ein recht einsamer am Schreibtisch zumeist, den sie sich kaum in einer Gruppe vorstellen könne. Autorengruppen, so Liane Dirks, könnten vielleicht zeitweise eine Begleit- und Kontrollfunkton übernehmen, danach aber sei eine Lösung von der Gruppe wohl unumgänglich. In etwa das will die Autorenwerkstatt auch sein: Kontroll- und Begleitinstrument. Sie sieht sich darüber hinaus freilich nicht zuletzt auch als kleine Kontakt- und Informationsbörse: So ist es über berufliche und persönliche Verbindungen etwa zur Stadtbibliothek Köln, zum Westdeutschen Rundfunk, zum »Kölner Stadtanzeiger« und zu ein paar Veranstaltern von Lesungen ab und an möglich, Kontakte und Lesungen zu vermitteln, Tips und Publikationshinweise zu geben. In einer Kölner Stadtzeitung ist erst vor kurzem von einem Mitglied der Werkstatt eine Rubrik eingerichtet worden, die monatlich bislang unveröffentlichte Lyrik druckt. Auch mit der Kölner Literaturzeitschrift »Zeilensprung« besteht über Mitglieder eine, wenn auch lockere, Zusammenarbeit. Obschon dies alles eher den einzelnen Autoren zugute kommen soll, gibt es dennoch auch gemeinsame Initiativen: Im Herbst 1985 beispielsweise veranstaltete die Werkstatt einen ersten Hörspiel-Workshop auf einem kleinen Weingut in der Toskana. Vorausgegangen waren Überlegungen, einmal ein gemeinsames literarisches Projekt zu versuchen, (die gemeinsame Textproduktion erwies sich freilich als äußerordentlich problematisch). Der eigentliche Auslöser für die Hörspiel-Idee war schließlich ein Stück, das der Westdeutsche Rundfunk ausstrahlte: Die »Robinsonate« von Götz Naleppa, der sich mit einer Gruppe von Musikern und zahlreichen Robinson-Crusoe-Büchern zwei Wochen lang auf eine einsame Öl-Mühle zurückgezogen hatte, um vor Ort ein Hörspiel aufzunehmen. Eine musikalisch-sprachliche Umsetzung des Robinson, eine Sonate eben, entstanden aus der konzentrierten Stimmung und Spannung an abgeschiedenem Ort. Wie sich beim Hören erwies ein reizvolles Experiment.
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Vom Prinzip her ähnliches wollten auch wir versuchen; die Voraussetzungen f ü r eine gemeinsame Hörspielerkundung waren zudem günstig daher, daß kaum einer der Beteiligten je mit diesem Medium intensiver gearbeitet hatte. Anders als beim Schreiben mußten hier also keine unterschiedlichen Entwicklungsstufen und individuellen Eigenheiten berücksichtigt werden, anders als beim Schreiben wollten sich alle Schreiber dem Gemeinschaftsprojekt unterordnen. In der damaligen Einladung an Karl Karst, der bereits seine Dramaturgenstelle in der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks übernommen hatte und das Projekt mit Interesse und Unterstützung verfolgte, hieß es: Geplant sind Erkundungen auf einem für viele Autoren neuen medialen Gebiet. Bislang >nur< mit dem Medium der Sprache in schriftlich fixierter Literatur vertraut, wollen sich neun >Schrift-Steller< mit den Möglichkeiten der akustischen Kunst auseinandersetzen und in gemeinsamer Arbeit ein »HörSpiel«, ein Spiel mit Hörbarem produzieren. Bewußt ist in Vorgesprächen nicht der Weg eines starren Manuskriptstücks eingeschlagen worden, sondern der einer ad-hoc-Produktion, die aus bereits gesammeltem Sprach- und Spielmaterial erst vor Ort entstehen soll. Die Dokumentation der Annäherung an das akustische Medium gehört ebenso zu den Zielen der Arbeitswoche wie die Notation der akustischen Spiele dieses in seiner Art erstmaligen Gruppenstücks der Autorenwerkstatt.
Der Versuch schlug, nimmt man nur das nie fertig gewordene Endprodukt, letztlich zwar fehl, aber dies lag allein an der Nachbearbeitung des aufgenommenen, vielversprechenden Materials, das in Köln collagiert und montiert werden sollte. Die im besten Fall semi-professionellen Geräte, mit denen die Studiobühne dienen konnte, reichten für den schwierigen Schnittplan bei weitem nicht aus. Gleichwohl war das privat organisierte Seminar ein Erfolg: Das Interesse für Hörspiele war geweckt worden und hält bis heute an. Generell bedauerlich ist, daß selbst ein Versuchsstadium, für das die Rundfunkanstalten verständlicherweise nur schwer zu begeistern sind, an einer deutschen Universität kaum durchzuhalten ist. Es fehlen die technischen Voraussetzungen: Hörspielstudios, die den praktischen Zugang zum Medium sichern könnten, sind Mangelware. Und so bleibt diese eigenständige akustische Kunstform zwischen Literatur und Musik, die sich anböte zur Gruppenarbeit in entsprechenden Werkstätten, fast stets verschlossen für experimentelle Erkundungen. Natürlich bieten sich auch andere Gruppen-Aktivitäten an, die weniger Aufwand erfordern. Auch die Autorenwerkstatt nutzt sie. Neben Bühnentexten für die Studiobühne, an der mehrere Werkstättler schreiben wollen, neben einer anderen Gruppe innerhalb der Werkstatt, die daran denkt, eine regelmäßig erscheinende Theater-Zeitschrift in Zusammenarbeit mit der Studiobühne aufzubauen, sind es vor allem Lesungen, die gemeinschaftlich gestaltet werden können. Schon 1984, noch unter der
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Leitung von Karl Karst, trat die Werkstatt gleichsam als Veranstalter in der Reihe »Lektionen»auf: Bei den groß angelegten Abenden lasen vornehmlich bekannte Autoren, Bodo Morshäuser etwa oder Erich Fried. In Absprache mit Fried, der ein großes Publikum lockte, wurde aber auch Unbekannten die Chance der Lesung eingeräumt: während der Veranstaltung, so war es angekündigt, konnten Interessierte eigene Texte »spontan« lesen. Allerdings ging ein (ebenso spontanes) Lektorat voraus, die Veranstaltung hätte sonst kein Ende gefunden. Die Idee der >Spontanlesung< stieß durchaus auf Zuspruch und hatte Erfolg bei Autoren und Publikum. Seit 1986 veranstaltet die Werkstatt in einer neuen Reihe, nun aber in kleinerem, intimerem Rahmen, eigene Lesungen, die bislang nur Werkstatt-Mitglieder präsentierte. Die alte »Lektionen«-Idee, eine Mischform zu versuchen, ist zwar noch nicht aufgegeben, aber nach einer Neuorientierung schien es zunächst wichtig, in ausschließlich eigener Sache den Bereich der »Voröffentlichkeit« zu verlassen. Immer häufiger wünschten Mitglieder ihre Texte in einer Gruppenlesung einem größeren Publikum vorzustellen. Nicht jeder Text hat dabei besondere literarische Güte, aber es gibt, so bestätigt zumindest die Presse, lohnenswerte Entdeckungen. Ein Textheft soll der Flüchtigkeit des Hör-Eindrucks begegnen, die Lesungen sind künftig für jedes Semesterende geplant. Daß die Werkstatt zudem eine kleine Anthologie vorbereitet, zeigt nicht nur, daß mittlerweile auch Aktenordner mit Arbeiten gefüllt sind, es zeigt auch, daß die schnelle, unbedingte Publikation nicht das Ziel der Arbeit sein soll. Denn es hat Jahre des Sammeins gebraucht, bis eine kleine, kritisch ausgewählte Sammlung entstehen konnte.
Albrecht Schau
Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität. Chancen und Risiken von Schreibseminaren mit oder ohne vorgegebenen Schreibimpuls
1 Die Notwendigkeit kreativer Schreibseminare ergibt sich für die Pädagogischen Hochschulen gleichermaßen aus dem Lehrplan für die Grund-, Haupt- und Realschulen sowie der Studienordnung, die sich daran orientiert. Kreatives Schreiben erscheint in diesen Dokumenten als die Tätigkeit des »Texte Verfassens«, die pragmatische sowie schöpferisch-freie Textsorten umfaßt. Dominiert wird allerdings der Lehrund Lernbetrieb an Pädagogischen Hochschulen nach wie vor von für das wissenschaftliche Arbeiten notwendigen Formen schriftlichen Sprachhandelns wie Protokoll, Referat, Exzerpt und wissenschaftlichen Prüfungsarbeiten. Es liegt in der Logik einer handlungsbezogenen Lehrerausbildung, daß angehende Lehrer nicht nur theoretisch beherrschen sollten, was später Schülern nahezubringen ihre Aufgabe sein soll. Über diese spezifisch berufsbezogene Motivation hinaus gibt es eine umfassendere pädagogische Absichtserklärung für kreatives Schreiben, die sich aus dem humanistischen Erziehungsziel der allseitigen Persönlichkeitsentfaltung ableiten läßt. Und da ist nach wie vor das schriftliche Sprachhandeln eine Tätigkeitsform, die einer ganzheitlichen Erziehensforderung gut ansteht. Denn niemand wird bestreiten können, daß Schreiben in allen seinen Schattierungen ein integrales Moment der Sprachbeherrschung darstellt. Dieses Desiderat gilt in besonderem Maße für Deutschlehrer. Neben dem Schreiben und stets darauf bezogen gehört das Lesen wie endlich auch die Reflexion über Sprache zu jenen Operationen, die zur Entfaltung zunächst der Sprachpersönlichkeit wie dann der umfassenden Persönlichkeitsentfaltung entscheidend beitragen. Neben dem Normverständnis und dem historischen Verstehen sprachlichen Handelns war Kreativität stets ein Begleiter aller sprachgebundenen Äußerungsformen. Wobei noch unzulänglich geklärt zu sein scheint, daß Sprachnorm und kreative Entgrenzung und Erweiterung der Sprache ein spannungsvolles dialektisches Verhältnis miteinander eingehen und wie dieses Verhältnis in jeder Epoche aussieht.
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Als eine Tätigkeit, die >Kreationen< hervorbringt, gehört Kreativität zur >Kreatur< Mensch als etwas Wesentliches, das Entwicklung garantiert und zuläßt. Mithilfe des schöpferischen Tuns vermag sich der Mensch seiner Fesseln zu entledigen. Insofern ist Kreativität immer schon eine auf Befreiung gerichtete Tätigkeit gewesen. Kreatives Schreiben wäre demnach ein auf Befreiung gerichtetes Handeln. Nun sieht es ganz so aus, als könnte sich kreatives, auf Befreiung des Menschen aus seiner unverschuldeten U n f r e i h e i t gerichtetes Schreiben im institutionellen Rahmen einer Hochschule kaum entfalten. Das, was man Verschulung nennt, steht quer zu schöpferischer Tätigkeit. Es sei denn, kreatives Schreiben richtet sich just gegen jene Zwänge, die es nicht zulassen wollen. Es war dies in der Tat eine heimlich gehegte Erwartung des Verfassers, die er sich als Realist allerdings nicht zulassen wollte. Und die Realität gab ihm recht. Kreatives Schreiben an einer Hochschule stößt zunächst an das Problem der knapp verwalteten, gegängelten Zeit: Kreativität will sich ausdehnen, Effizienzdenken schränkt aber gerade ein. So werden der Kreativität bereits die Flügel gestutzt, ehe sie überhaupt abheben kann.
2 Ausgehend von einem offenen, studentenorientierten, theoretisch aber noch nicht festgelegten didaktischen Konzept sollten zwei Modelle von Schreibseminaren einmal durchgespielt werden, um einerseits festzustellen, welche Voraussetzungen Studenten mitbringen, und um andererseits zu testen, was Studenten in kurzer Zeit zu leisten in der Lage sind. Es war beide Male daran gedacht, die Schreibseminare empirisch mit Fragebögen, Tonband und Video zu begleiten, um zu verläßlichen Erkenntnissen zu gelangen. Modell 1 wurde kurz vor Semesterbeginn als einwöchige Kompaktveranstaltung angeboten und hatte von den Teilnehmern erarbeitete »Vorlagen« zum Ausgangspunkt. Modell 2 wurde im >normalen< Semesterbetrieb als Seminar ohne jede Vorgabe, aber dafür mit >Supervisionnormalen< G r u n d s c h u l e n a n t r e f f e n : ein relativ niedriger Standard an sächlicher Ausstattung. Diese Voraussetzungen sollten simuliert werden. Die Gruppen-Anweisungen wurden sodann >über Kreuz< ausgetauscht und ein Diskurs in Gang gebracht. Zunächst diskutierten die G r u p p e n isoliert, ehe die »Anweisergruppe« mit einbezogen wurde. A n eine empirische Unterstützung des Schreibseminars war nicht mehr zu denken, nachdem sich die Studenten ζ. T. vehement gegen diese Kontrolle zur Wehr setzten. Die hier festgehaltenen Ergebnisse sind Produkte von Protokollen des Seminarleiters. Anders als Modell 2 wurde dieses Schreibseminar vom Verfasser allein geleitet. Sowohl in den einzelnen G r u p p e n als auch den G r u p p e n
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untereinander herrschte ein lebhafter Kontakt während der gesamten Woche. Die Arbeitsmoral war gut, die Arbeitsatmosphäre entspannt. Die Teilnehmer bekundeten immer wieder spontan, wie wohl sie sich fühlten. Der Seminarleiter fühlte sich ebenfalls wohl und in die Gesamtgruppe integriert. Er brachte sich auf Wunsch einer Gruppe mit einigen kreativen Fingerübungen selbst in die Arbeit ein. Bemerkenswert war auch, daß die festgesetzten Seminarzeiten nicht selten überschritten wurden. Die Motivation hielt unter den Teilnehmern während der 5 Tage konstant an, steigerte sich am letzten Arbeitstag (Freitag) nochmals, als es an die Fertigstellung und die Vorstellung der einzelnen Kinderbücher ging. Die Teilnehmer führten diese Euphorie auf die tagtäglich sichtbaren Arbeitserfolge zurück. Der Stolz auf das eigene Kunstprodukt äußerte sich u. a. auch darin, daß die Teilnehmer die Kinderbücher nach einem vorher ausgemachten Auswahlverfahren mit nach Hause nahmen, um sie der Familie oder Freunden vorzuführen. Vorgelegt wurden entweder reine Bilderbücher oder Kinderbücher mit zahlreichen Illustrationen. Themenwahl, Themenausgestaltung und Illustration bewegten sich in konventionellen Bahnen. Ehe die >Exponate< in eine Vitrine wanderten und in einer kleinen Feier der Hochschulöffentlichkeit vorgestellt wurden, konnten in zwei Grundschulklassen Erfahrungen mit den Bilderbüchern gesammelt werden. Die Kommentare waren interessante Rückmeldungen an die Adresse der Studenten (und den Seminarleiter). Sie konnten überprüfen, inwieweit sie den Erfahrungshorizont der Schüler erreicht oder verfehlt hatten. Von kleinen Abweichungen abgesehen, wurden die Kinderbücher von den Schülern >angenommennormale< Seminarveranstaltung. Wieder nahmen mehrheitlich Studenten mit der Fächerverbindung Deutsch/Kunst teil. Auf eine Themenvorgabe wurde verzichtet, auch auf eine Festlegung des Adressatenkreises. In der ersten Sitzung wurden die Interessen der 19 Teilnehmer erhoben und diskutiert, desgleichen die der >Expertenverrißprofessionellen< Anspruch, der freilich auch intendiert war. Andererseits beflügelte das Verhalten der Lektorin die Arbeit: es stellte sich eine Trotzreaktion ein. Als die Beiträge termingerecht fertiggestellt waren, zeigte sich, daß der Umfang solche Ausmaße angenommen hatte, daß an einen Druck im Stehsatz nicht mehr zu denken war. Nicht minder problematisch war die rasche Umstellung auf das moderne Textverarbeitungssystem. Denn außer einem Seminarleiter verfügte niemand über entsprechende Kenntnisse. Fünf Teilnehmer erklärten sich schließlich bereit, an einer Einführung in die Textverarbeitung, die gerade lief, teilzunehmen und das Manuskript auf Diskette zu schreiben. Das Schreib-Projekt schien gerettet. Doch die Arbeit zog sich nicht nur in die Semesterferien hinein, sondern sogar in das nachfolgende Semester. Und dort kollidierte sie mit neuen Verpflichtungen der Studenten. Als schließlich der erste Ausdruck vorlag, waren nur mehr wenige Studenten zu einem Besprechungstermin erschienen. Das Interesse war erlahmt, der Lernbetrieb forderte seinen Tribut!
5 Mit aller Vorsicht lassen sich aus den abgehaltenen Schreibseminaren folgende Schlußfolgerungen ziehen: 1. Nach unseren Erfahrungen wurden die Schreibseminare von den Studenten aus folgenden Gründen aufgesucht. Mehrheitlich versprachen sich die Lernenden von ihnen eine persönlichkeitsaufbauende oder -unterstützende Wirkung, die mit einer Entlastung vom entfremdeten Lernen einherging. Eindeutig unterrepräsentiert war die Motivation, etwa das Schreiben zu lernen, um eventuell ein Alternative zum Lehrberuf, genauer: zur Lehrerarbeitslosigkeit aufzubauen (ζ. B. als Journalist, Schriftsteller, PR-Mitarbeiter usw.). Denkbar ist allerdings, daß dieser Wunsch unterschwellig durchaus präsent war, aus
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Furcht zu versagen, aber nicht artikuliert wurde. Deutlich ausgeprägt war wiederum der Unterhaltungswert, die Möglichkeit zur ungestörten Kommunikation, gemischt mit dem nicht minder starken Bedürfnis nach Spontaneität. 2. Kreativität erschöpft sich nicht im raschen Fixieren eines Einfalls. Dessen Ausgestaltung, Umformulierung, Anreicherung, Formulierung, kurz: der mitunter auch quälende >Arbeitsprozeß< der Formgebung bereitet im Schreiben ungeübten Studenten große Schwierigkeiten, auf die eine Didaktik des Schreibens Rücksicht zu nehmen hat. 3. In der Regel brachten die im Schreiben noch nicht stabilisierten Lernenden selten jene Ausdauer mit, die der künstlerische Arbeitsprozeß erheischt. 4. Die literarischen, speziell sprachlichen Voraussetzungen der Teilnehmer waren zwar unterschiedlich. Insgesamt gesehen ist jedoch das Niveau als eher niedrig einzustufen (Sprachrepertoire, Flüssigkeit usw.). Deutlich besser waren hingegen die praktisch-gestalterischen Kompetenzen sowie grafisch-malerischen Fähigkeiten ausgeprägt. 5. Für eine Didaktik des kreativen Schreibens ist die Bereitstellung nicht nur von Materialien von Belang. Vielmehr sollte, sofern man computergesteuerte Textverarbeitungssysteme einbezieht, vorher ausgemacht sein, ob die Teilnehmer die Textverarbeitung beherrschen. Nachträglich lassen sich diese Schreibkenntnisse kaum einholen. 6. Ist ein Schreibseminar produktorientiert angelegt, ist Zeitkalkulation höchstes Gebot: es sollte vorher eingeschätzt werden, ob die vorhandene Zeit zur Fertigstellung der Produkts ausreicht. 7. Nicht jedes Schreibseminar eignet sich für die Gruppenarbeit. Kollektives Arbeiten hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Fähigkeit zur Kooperation, vom Thema, vom Genre sowie von individuellen Dispositionen. In vielen Fällen ist kollektives Arbeiten nur in der Phase der Themenfindung, Themendiskussion, Informationsbeschaffung, der wissenschaftlichen Durchdringung des Themas, der abschließenden Diskussion der einzelnen Beiträge im Plenum sinnvoll. Der eigentliche Schreibvorgang dürfte vor allem bei fiktionalen Texten, aber nicht nur diesen, nach unseren Erfahrungen immer noch der privaten Tätigkeit vorbehalten bleiben. 8. Anders als in den romanischen und angelsächsischen Ländern ist die Schreibkultur an den Schulen und Hochschulen der Bundesrepublik verödet. Die G r ü n d e liegen in einer verfehlten Bildungspolitik, was hier als These so stehen bleiben muß. Kein Wunder, daß eine theoretisch fundierte Kunst des Schreibens nicht existiert. Die Bemühungen um eine Konzeption kreativen Schreibens sollten von einer fortschrittlichen Tätigkeitsorientierung aus erfolgen. Die Vertreter der kulturhistorischen Schule haben hier Schrittmacherdienste geleistet.
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Ein Schreib-Symposium könnte Aufschluß darüber geben, wie weit die Ansätze zu einer handlungsbezogenen Schreibkultur heute bereits gediehen sind. Und auch dies sollte deutlich geworden sein: von den Einzeldisziplinen aus lassen sich allenfalls erste Schritte entwickeln. Es gilt aber, das Ganze in den Blick zu nehmen. Und das heißt: fächerübergreifendes Projektdenken ist gefragt.
Otto Dörner
Texten von Kurzgedichten nach dem Vorbild des japanischen Lyrik-Genres >Haiku< im studentischen Schreibseminar
Diskurs und Bericht Entsprechend einer heute wieder stärker produktionsästhetisch orientierten Poetik, hat sich aus dem Bedürfnis, mit Literatur nicht nur rezeptiv umzugehen, an der Abteilung Vechta der Universität Osnabrück ein Arbeitskreis schriftstellernder Germanistikstudenten gebildet. Die Schreibversuche sind meist lyrischer Art. Werden sie für bündig befunden, können sie in der von vier unserer Studenten herausgegebenen Literaturzeitschrift, der man - in schöner ironischer Brechung - den Titel »Größenwahn« gegeben hat, publiziert werden. Drei Hefte liegen inzwischen vor. Die Kritik an den vorgestellten Textproduktionen führt mitunter zu langen Erörterungen, wie man den immer wieder benannten Schwachstellen begegnen könnte, besonders dem Mangel an Gestaltungskraft. Blenden wir uns in ein solches Werkstattgespräch ein, in dem der Seminarleiter (SL) ermuntern möchte, einen gangbaren neuen Weg zu erproben, sich nämlich an der japanischen Kurzgedichtform >Haiku< zu orientieren.
HAIKU In siebzehn Silben gleitet über drei Zeilen eine Strophe aus (Carl Heinz Kurz (1983))
SL: Bei unseren letzten Zusammenkünften hat die berechtigte Kritik an den vorgestellten gereimten konventionellen Strophenmustern alle überzeugt. Das Endreimgedicht ist sicher nach wie vor in der deutschen Lyrik möglich - gelungene Beispiele von Ulla Hahn oder Günter Kunert belegen es - aber es bedarf dazu eben der Meisterschaft solcher Könner. Doch auch an den ungereimten freirhythmischen Versen gab es genug zu kritisieren: Mangel an Präzision und Konzentration, Re-
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dundanzen, Verschwommenheit, weitschweifige, willkürliche Assoziationen, die es dem Leser verwehren, eigenständig Assoziationsketten zu bilden, fragwürdige »flatness«, willkürliches Ausufern eines guten Einfalls. Um einigen der benannten Mängel zu begegnen, möchte ich Sie heute auf einen mir gangbar erscheinenden Weg führen. Wagen wir beim Texten den Versuch, uns am Stilmuster der wohl kürzesten Gedichtform der Weltliteratur zu orientieren: dem japanischen Haiku. Es ist dem Umfang nach nur dreizeilig und zwingt somit zu größtmöglicher Konzentration. Ich plädiere für die Beachtung dieses Genres nicht nur seiner Kürze wegen, sondern weil es - als echte Gesellschaftskunst - so außerordentlich populär ist. Haiku-Kunst wird in Japan von allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen betrieben. Man könnte meinen, hier bewahrheitet sich Goethes Wort: »Das poetische Talent ist dem Bauer so gut gegeben wie dem Ritter; es kommt nur darauf an, daß jeder seinen Zustand ergreife und ihn nach Würde behandle.« Keine andere Gedichtform hat ähnlich hohe Distributionsgrade erreicht. In Japan existieren gegenwärtig etwa 700 Haiku-Zeitschriften. Das Haiku-Museum Tokyo meldet, daß es etwa eine Million Haiku-Autoren gebe und an die 1000 neue Haiku-Monographien jährlich. A : Nachahmung fernöstlicher Stilmuster? Führt das nicht zu fragwürdigem epigonenhaften Japonisieren? C : Sollen wir Lotusblumen-Lyrik produzieren? S L : Die Bedenken erscheinen berechtigt. Nachahmung fremder Muster ist immer fragwürdig. Natürlich soll nicht ein japonisierendes Suj e t mit Lotusblumen, Tempelgärten, Reisfeldern, Teehügeln, Kimonos und Seidenfächern gezeichnet werden, sondern das fremde Muster wäre zu transportieren und bei uns zu naturalisieren. Andere Gedichtformen haben j a solche Transpositionen auch gut überstanden. D e n k e n wir an das ursprünglich sizilianische Sonett, das heute weltweit verbreitet und allen Kultursprachen einverleibt ist. Oder an die antiken Odenstrophen. Sehr lange hat es gedauert, bis diese älteste abendländische Gedichtgattung - dank der Erneuerung der deutschen Dichtersprache durch Klopstock - der deutschen Literatur gewonnen wurde und in Hölderlin zur Hochblüte kam. D : Aber hier handelt es sich um abendländische Gedichtformen. E : Und verwehrt nicht auch die doch sicher ganz andersartige japanische Prosodie eine solche Transposition? S L : Wenn abendländische Kunst im Fernen Osten vollgültig integriert werden konnte - dem Sonett begegnen Sie auch in fernöstlichen Spra-
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chen, auch der horazischen Ode 1 - müßte umgekehrt auch eine Rezeption fernöstlicher Kunst bei uns gelingen. Im übrigen dauert dieser Integrationsprozeß des japanischen Haiku schon lange an, er fällt zeitlich zusammen mit dem Beginn der europäischen Lyrik der Moderne. Spätestens seit Georg Trakl ist die deutsche Lyrik der Moderne eine ichlose Lyrik, das Ich bringt sich nicht mehr selbst explizit in den lyrischen Vorgang ein. Ähnlich ist es im Haiku, wo das Ich anonym bleibt, sich zurücknimmt und sich auch nicht versteckt in Personal- und Possessivpronomina. Vermutlich wegen dieser Affinität erwachte bei den modernen europäischen Lyrikern das Interesse am Haiku, zuerst in Frankreich um die Jahrhundertwende, dann in Deutschland bei Arno Holz, Paul Ernst und besonders bei Rilke. Während des Ersten Weltkriegs wurde es besonders in Frankreich populär. Die zweite große Rezeptionswelle ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten. Besonders seit den 60er Jahren verbreitet es sich rasch außer in Frankreich - vor allem in Jugoslawien, dann in Übersee in Mexiko und den USA. Dort gibt es inzwischen fünf Haiku-Zeitschriften und eine Fülle entsprechender Forschungsliteratur. Einflüsse des Haiku sind nachgewiesen im Werk von Paul Eluard und Ezra Pound, beim Griechen Seferis; Brecht hat sich zu seinen Kurzgedichten der Spätphase von dieser fernöstlichen Form anregen lassen (wie vom Nö-Spiel in seinen Lehrstücken). Zu Rilkes Begegnung mit dem Haiku lesen Sie bitte den Beitrag des Amsterdamer Germanisten Herman Meyer in der Zeitschrift »Euphorion« von 1980.2 Rilke lernte das Haiku ab 1920 in französischer Übersetzung kennen. Meyer zeigt auf, wie anregend die japanische Haiku-Dichtkunst auf Rilkes poetologisches Selbstverständnis und auf seine Formulierungskunst in seinen letzten Lebensjahren, vorrangig in seinen französischsprachigen Gedichten, gewesen ist. Meyer belegt auch, daß beim späten Rilke von klassischer Geniepoetik mit ihrer vermeintlich spontanen Schaffenskraft nicht die Rede sein kann, auch Rilkes Gedichte sind in langen Schaffensprozessen erarbeitet. Auch seine Gedichte sind, im Sinne der von Benn formulierten neuen Schaffenspoetik, »gemacht«. Bewußt gemacht von einem modernen Künstler, der das von der technischen Welt dem heutigen Menschen aufgezwungene bloße rezeptive Verhalten durch Kunstproduktion beenden, zumindest zeitweilig durchbrechen will. 1
Ich verweise auf die chinesische Festschrift »Ho-la-tz'u-chi-rien-t'e-paän« ( D e m Andenken des Horaz), Tientsin Peiping 1935. Man könnte an solchen Integrationsversuchen die tragende Qualität des Gattungshaften und seine ethnische Ubiquität studieren. 2 Herman Meyer: »Rilkes Begegnung mit dem Haiku«. In: Euphorion 1980, S. 134-168.
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Und damit sind wir ja wohl beim Hauptanliegen, das Sie letztlich in ein solches Schreibseminar führt. Ihre Abwehr bloßer Rezeptionsästhetik verstehe ich als Abwehrhaltung einem Dasein gegenüber, das lediglich in einem rezeptiven Funktionieren auf die Signalelemente der Umwelt bestimmt ist. Als »Gegengewicht zu einer allgegenwärtigen Trockenheit unseres Nützlichkeitsdenkens« könne das Haiku-Dichten wirken, heißt es in einer neuen Publikation von Haiku-Texten. 3 A: Meines Wissens ist das japanische Haiku mit einer ganz bestimmten, religiösen Vorstellungswelt verbunden, dem Zen-Buddhismus, der uns fremd ist und den meisten auch fremd bleiben wird. Ist da noch ein Texten in Mustern, denen diese religiöse Vorstellung zugrundeliegt, möglich? SL: Soweit wir uns nicht auf den Zen-Buddhismus persönlich einlassen, m u ß uns diese religiöse Vorstellungswelt sicher verschlossen bleiben. Der neueste Haiku-Forschungsbeitrag in Europa stammt von Yoriko Yamada-Bochynek. 4 Er hat die Affinität zwischen dem spezifischen religiösen Erfahrungsmodus und dem Haiku aufgezeigt und sie aus vorlogischen Erkenntnisprozessen erklärt, auf die beide zurückgriffen. Was den spezifisch religiösen Erfahrungsmodus anbelangt: in dieser Hinsicht kann die Integration echter Haiku-Vorstellungswelt in unsere Haiku-Versuche nicht geplant sein. Eine solche Affinität, wie sie für das Haiku East gilt, braucht ja auch nicht für eine neue Gattung Haiku West zu gelten. Hinsichtlich der religiösen Vorstellungswelt wollen wir das Haiku nicht nachahmen, aber wir können uns auf das fremde Stilmuster einlassen, um zu prüfen, was uns daran anzusprechen vermag. Dazu sollten wir über die innere Gattungsgesetzlichkeit des Haiku mehr wissen. Wie bei jeder Gattung ergeben sich letztlich erst aus dem Studium der Gattungsgeschichte vertiefte Einsichten. Wir müßten also die große Fülle der Gattungsbeispiele von den Anfängen bis heute studieren. Das kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Im Handapparat steht eine Menge Literatur bereit, um sich darüber informieren zu können. 5 Die 3
Hans und Hilde Kasdorff: Augenblick und Ewigkeit. Haiku. Bonn: Bouvier 1986 (mit Rezension in der FAZ, 7.3.1987, 26). 4 Yoriko Yamada-Bochynek: Haiku East and West: A Semiogenetic Approach. (Bochum Publications in Evolutionary Cultural Semiotics, Vol 1), Bochum 1986. 5 In Auswahl (soweit nicht bereits vermerkt): Kenneth Yasuda: The Japanese Haiku. Its essential nature, history, and possibilities in English, with selected examples. Tokyo: Rutland, 7th pr. 1985. Dietrich Krusche: Haiku. Bedingungen einer lyrischen Gattung. Übersetzungen und ein Essay. Tübingen, 41982. Keiji Kato: Deutsche Haiku. Ein kurzer Beitrag zur vergleichenden Literaturgeschichte. Tokyo: Nagata 1986. Jürgen Berndt: »Japanische Literatur«.
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beste Kennerin des Haiku aus unserem Kreis ist Frau Buerschaper. Sie hat sich intensiv mit der Gattungsgeschichte und der Baugesetzlichkeit des Haiku befaßt und selbst schon zahlreiche Haiku veröffentlicht. 6 Ich habe sie gebeten, uns kurz mit den wichtigsten literarästhetischen Eigenheiten der Haiku vertraut zu machen, auf daß wir versuchen können, uns selbst auch an die Erprobung des fernöstlichen Stilmusters zu begeben, um eine mögliche Vorbildhaftigkeit für unser Texten zu erkennen. Frau B: Der Name Haiku ist zusammengezogen aus //a/kai no Hok&w, was soviel bedeutet wie humoristischer Anfangsvers. Er leitet ursprünglich eine partnerschaftliche Gemeinschaftsdichtung offensichtlich auf humorvolle Art ein. Das Bemühen um einen inhaltlich und sprachlich brillianten Start führt dazu, daß die Eingangsverse, die Hokku, dank ihrer Vollendung keiner Ergänzung bedurften und für sich allein als Kurzgedicht bestehen konnten. Das trug zur Entwicklung des Haiku als selbständiger Gedichtform bei. Die humoristische Sinn- und Inhaltsdeutung, die der Name aufzwingt, verlor sich schon zur Zeit des großen Haiku-Dichters Matsuo Basho (1644-1694). Er und die anspruchsvolle Basho-Schule nach ihm widmete sich den jahreszeitlichnaturverbundenen, transzendenten Inhalten und strebte durch sprachliche Ausdruckskunst und inhaltliche Perfektion den sinnreichen Haikustil an. Anderen Dichtern lag daran, dem Humor und der schlichten volkstümlichen Aussage einen Weg offenzuhalten. Die aus diesem Bestreben erwachsene Gattung ist heute unter dem Namen Senryu in Japan bekannt. Formal sind Haiku und Senryu gleich, je dreizeilig mit 17 Silben in der Aufteilung 5 - 7 - 5 . Abweichende Silbengruppierungen kommen vor: 5 - 5 - 7 oder 7 - 5 - 5 oder 5 - 9 - 5 . Die Silben sind im Durchschnitt auf 12 Wörter verteilt. Während das Haiku sich zu einer hochgeistigen Gedichtform entwickelt hat, blieb das Senryu populär. Es bot jedem die Möglichkeit literarischer Betätigung, da der formalen Begrenztheit keine Einschränkung auferlegt war.
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In: Berndt, J. (Hg.): Bi-Lexikon Ostasiatische Literaturen. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1985. Geza S. Dombrädy: »Formen der japanischen Lyrik«. In: See, Klaus von (Hg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 23. Wiesbaden 1984. Margret Buerschaper: Zwischen allen Ufern. Gedichte. Haiku. Bovenden: Verlag Graphikum 1985. Dies.: Freude auf das Mögliche. Gedichte/Haiku/Senryu. Bovenden: Graphikum, 2 1985. Dies.: Atemholzeiten. Gedichte. Vechta 1983.
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SL: Im Deutschen wird die Unterscheidung zwischen Haiku und Senryu terminologisch bislang kaum gemacht, beide firmieren unter der Bezeichnung »Haiku«. Auch wir wollen bei unserer praktischen Arbeit auf die namentliche Differenzierung verzichten, aber bei unseren eigenen Versuchen beide Arten, vor allem auch die volkstümlich heitere berücksichtigen. Bitten wir noch Frau B., uns an einem Textbeispiel die innere Baugesetzlichkeit aufzuzeigen. Frau B: Das Haiku geht vom Bild aus, von der Impression. Dieses Bild ist mit wenigen Worten in der treffendsten Weise darzustellen. Der lyrische Vorgang des Haiku ist bestimmt durch Bewegung und Zweipoligkeit. Als Pole gelten im Haiku Begriffe, die eine Kontraststellung ermöglichen: Himmel - Erde, Stille - Sturm, See - Wolken. Eine Bewegung zwischen den Polen kann aus jeder Empfindung entstehen durch Geräusch, Geruch oder unsichtbare Wahrnehmungen. Ein Beispiel - es stammt von Hans Stilett - möge verdeutlichen: Der Stubenfliege schwarze Lebenskraft verzuckt im Netz der Spinne Die beiden Pole werden in diesem Gedicht durch die beiden Insekten angedeutet. Sie können als Einfachheit und Raffinesse, als Dummheit und Klugheit gedeutet werden. Die Bewegung fließt von dem Zappeln der Fliege, das nicht ausgesprochen wird, weil das Bild diese Assoziation von selbst auslöst, durch das Netz zur starr lauernden Spinne. Festgehalten ist nur der Augenblick, in dem die Bewegung endet, bildkräftig dargestellt in dem Verb »verzuckt«. Das Verb stellt in diesem Haiku auch gleichzeitig die W e n d u n g dar, vom Zappeln zum Stillwerden, vom Kämpfen zum Aufgeben, vom Leben zum Tod. Bild, Bewegung und Wendung sind die notwendigen handwerklichen Elemente des inneren Aufbaus. Das Entscheidende ist der im Haiku verborgene Sinn, verborgen, weil unausgesprochen, zwischen den Zeilen: »Der ästhetische Reiz einer Impression, der nicht geringere einer polar bestimmten Bewegung auf kleinstem Raum, dies alles soll dem verborgenen Sinn nur dienen.« 7 S L : Wir danken Frau Buerschaper für ihren Beitrag. Von ihren eigenen Haiku wird sie uns in der nächsten Sitzung zwei vorstellen und erläutern. Und alle anderen sollen sich nun erstmals an die praktische Haiku-Textarbeit wagen und ihre Texte das nächstemal vorstellen.
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Wilhelm von Bodmershof: »Studie über das Haiku«. In: I. v. Bodmershof: Im fremden Garten. Zürich: Arche 1980.
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F ü r heute bliebe noch Zeit, das beim letztenmal begutachtete G e dicht wieder v o r z u h o l e n und z u überlegen, ob es durch R e d u k t i o n auf eine H a i k u - L ä n g e gewinnen könnte. W i r bitten M a r c o u m erneute Lektüre seines Gedichts. M: Ganz anders wird mir ganz anders w e n n ich dich seh D u Frau wunderbare Frau tolle Frau T a n z e n wir tanzen den R a u s c h den Rausch aus den g a n z e n den g a n z e n b e t r u n k e n e n Tag mal wieder ganz anders mal wieder ganz anders den R a u s c h den betrunkenen T a g S L : D a n k e M a r c o . D a s letztemal wurde j a schon gesagt, die Selbstbetrachtung v o n Teil I wirkt matt, sei zu vordergründig und trivial in der A u s f o r m u l i e r u n g , während der zweite T e i l f ü r sich allein bestehen könnte als r h y t h m i s c h bewegte Sequenz und mit dem g e l u n g e n e n Bild v o m » b e t r u n k e n e n Tag«. M a r c o hat sein G e d i c h t verteidigt als im T r e n d der Postmoderne liegend und sich b e r u f e n auf sein literarisches Vorbild R o l f Dieter B r i n k m a n n . M : Ja, u n d ich betone erneut: Ich will nicht ambitioniert texten und elitär, sondern anti-ambitioniert und anti-elitär. Ich habe den T e x t bew u ß t » f l a t « gehalten, bewußt antihermetisch und unbebildert im Sinne einer postmodernen »Ästhetik der O b e r f l ä c h e « , und ich zitiere A n d y W a r h o l : » A l l is pretty«. Β : A b e r d o c h gerade erst bei der Bildvorstellung v o m » b e t r u n k e n e n T a g « h a b e n w i r aufgehorcht, und durch besondere Ausgestaltung dieser Bildvorstellung könnte ein K u r z g e d i c h t in der A r t eines H a i k u werden. D: Ich b i n auch der M e i n u n g , an Pop-art orientierte sogenannte postmoderne Literatur darf kein » A u s f l u g ins A l l b e k a n n t - T r i v i a l e « wer-
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den, wie es H. Härtung formuliert hat, sondern sie will dem Leser »zu einem Trip ins Unbekannte verhelfen«. 8 [Bald sind die ersten Umformungsversuche fertig und werden vorgestellt] SL: Hier haben wir schon einige Reduktionsvorschläge von Marcos Gedicht, alle ranken sich um die geglückte Wendung vom »betrunkenen Tag«. Marco möge die beste davon benennen: Wir tanzen den Rausch den betrunkenen Tag aus tanzen wir tanzen Komm, tanze den Tag, den betrunkenen Tag aus, der zärtlich sich neigt. Komm, tanze den Tag mit mir, den trunkenen Tag, der rauschhaft sich neigt. M : Die letzte Version gefällt mir schon ganz gut. Aber damit Teil I meines Gedichtes nicht ganz herausfällt, soll er wenigstens im persönlichen Anruf, im Imperativ, erhalten bleiben und in den Eingangsvers eingehen, etwa so: Komm tanze mit mir den betrunkenen Tag aus der rauschhaft sich neigt. [Beifällige Anerkennung] Auch euer Beifall wird mich nicht veranlassen, fortan das Haiku als heilige Kuh anzubeten. Und damit niemand haiku-süchtig wird: Lest mal Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht in »Westwärts 1 & 2«, betitelt »Highkuh, West«. 9 SL: Das ist ein schöner Hinweis am Schluß unseres heutigen Gesprächs. Aber Brinkmanns Gedicht stellt einen Gegenpol zu seinen Pop-Art-Texten dar. Die Titulierung zeigt deutlich, daß er das fernöstliche Haiku kannte. Er hat sich in seinen letzten Schaffensjahren mit dem Zen-Buddhismus beschäftigt und auch die berühmten Zen-Koans, 8
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Harald Härtung: »Lyrik der >Postmoderneechten< Haiku - an zweiter Stelle erscheint, sondern an erster. Sicher sei damit kein Haiku getextet worden, aber ein mögliches deutsches Kurzgedicht, das das japanische Vorbild noch durchscheinen lasse: Wer hat dich, du schöner Wald... kahlgeschoren hoch dort oben? Tief die Welt verworren schilt die Scherer vom Fließband. Buchdrucker und Kupferstecher tanzen genüßlich ums Tischleindeckdich. Die Seminarteilnehmer erkennen die Eichendorff-Zitate und benennen ihre Kontrastwirkung. Sie lassen auch das danse macabre-Motiv gelten, fragen aber, sicher zurecht, ob dem Ernst der Thematik die ironisierende sprachliche Gestaltung angemessen sei. Sie sehen offensichtlich das Komische oder Ironische des japanischen Senryu-Genres durchscheinen. Die gleiche Frage stellt der SL an das Folgebeispiel: Du blauer Planet! wie lange noch bewohnbar ohne Karate? Das Schlußwort führt zu der Fragestellung zurück, von der im Diskurs-Teil schon die Rede war. Provoziere die japanische Genre-Form nicht solche Lexeme, die dann im deutschen Kontext eine komische Wirkung haben? Der Texter versteht es, seine »schlagkräftige« Schlußwendung gegenüber solchen Einwendungen zu verteidigen. Befreiende Heiterkeit löst das einzige beigesteuerte Liebesgedicht aus: Geliebtes Wesen! Laß mich dein Lindenblatt sein und mit dir sterben!
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Die Heiterkeit versteht M a r c o f u l m i n a n t zu steigern, indem er das »Lindenblatt« d u r c h ein »Feigenblatt« ersetzt sehen möchte. N a c h d e m der Bann gebrochen ist, r ü c k e n auch die Verschlosseneren, die m a n gerade in Lyrik-Seminaren a n t r e f f e n kann, mit ihren T e x t e n heraus. D e r S L ermutigt besonders jene, die sich nicht an die strenge j a p a n i s c h e O r i g i n a l f o r m gehalten haben, sondern die Verse abweic h e n d gestalten, ζ. B. mit K u r z v e r s im Inneren, u m a r m t von z w e i längeren Versen, w i e in d e n folgenen Beispielen: Frühling und S o m m e r und Herbst Leuchtende A s t e r Sind deine T a g e g e z ä h l t ? W u n d e r der heiligen Nacht Friede auf Erden Dauerten W u n d e r doch an K u r z g e d i c h t e mit der Evokation von G e d a n k e n d i n g w ö r t e r n hat k a u m einer beigesteuert. D i e wenigen Beispiele r u f e n - typisch f ü r philologische T e x t e r - meist die Sprache als thematischen V o r w u r f a u f : W o r t e schmieren polstern die spitzen K a n t e n dichten die Fugen. »Sprache macht's möglich« hat der T e x t e r dem G e d i c h t als Ü b e r s c h r i f t vorgestellt; er akzeptiert aber schnell den A l t e r n a t i v v o r s c h l a g »Fugen dichten« als Titel. H a i k u haben ja im a l l g e m e i n e n keine Überschrift. W i r fragen, was sie in diesem Falle zusätzlich leistet. D i e Ü b e r s c h r i f t und der Eingangsvers werden b e i m ersten Lesen mit B e t o n u n g auf d e m Substantiv gelesen. Erst beim zweiten V e r s stellt der Leser auf die intendierte A k z e n t u i e r u n g der Verben um. D a d u r c h b e k o m m t das G e dicht s c h w e b e n d e Syntax und damit sicher einen zusätzlichen ästhetischen Reiz. E i n thematisch ähnliches H a i k u v o m gleichen T e x t e r lautet: Worte gleißen. Sie gaukeln dir G l ü c k vor und spielen dir mit. Im Unterschied zu obigem »Lesegedicht« e r k e n n e n wir, d a ß das G e dicht, o b w o h l thematisch und formal d e m v o r h e r g e h e n d e n so ähnlich, insofern wesentlich anders ist, als es laut gelesen werden will, auf d a ß die r h y t h m i s c h e n Ausdrucksqualitäten (vor allem die Alliterationen, aber a u c h der W e c h s e l v o m trochäischen R h y t h m u s z u m daktylischen) sich e n t f a l t e n k ö n n e n .
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Unser Anglist behauptet, daß Haiku englischsprachig besser möglich seien, da man in der englischen Sprache in 17 Silben mehr bedeutungstragende Morpheme unterbringen könne als in der deutschen mit ihren vielen »toten« Endungen oder Vorsilben. Hier sein Beispiel: The moon is red. But no future, no stiff for the trip, for god's sake. »Typische Studentenlyrik mit no-future-Zitierung und Trip-Suche«, wendet einer kräftig ein. Die Überlegung, daß die englische Sprache für die japanische Haiku-Form geeigneter sei als die deutsche, mag richtig sein. Aber dafür ist die Gefahr für den Deutschen, der englisch textet wenn er in der Fremdsprache nicht so behaust ist wie es etwa Rilke im Französischen war - zu groß, zu bequemen griffigen Zitaten zu greifen und abgegriffene Worthülsen zu verwenden. Deswegen erntet unser Anglist auch mehr Beifall für sein deutschsprachiges Beispiel: Keiner von uns blick zurück Reich mir die Hände Nimmermehr scheid ich im Zorn Das Gedicht gefällt, weil hier geschickt auf den Titel des den meisten bekannten Stückes »Blick zurück im Zorn« von Osborne aludiert wird. Der SL ermuntert zu ähnlichen Literatur-Gedichten, die auf bedeutende Werke anspielen. Er schlägt als Terminus >Literatur-Haiku< vor und meint, es solle erprobt werden, inwieweit die Quintessenz von literarischen Werken auf wenige Verse komprimiert werden könne. Er empfiehlt, sich auf das eine oder andere Werk der Weltliteratur zu einigen und darüber bis zur nächsten Seminarsitzung ein Kurzgedicht zu versuchen. Die Überlegung wird aufgegriffen, schnell einigt man sich auf Thomas Manns »Der Tod in Venedig« (die Verfilmung war gerade zu sehen), und zur nächsten Sitzung liegen mehrere Fassungen vor, von denen zwei zitiert seien: Dank lächelnder Jugend findet der Tod in Venedig sein Opfer. Nicht wegen der unorthodoxen Verteilung der Silben auf die drei Verse wird das Gedicht kritisiert, aber die wörtliche Erscheinung des Novellentitels wird als störend empfunden. Reizvoller sei der andere Vorschlag, auch deswegen, weil der nicht mit den Spielregeln vertraute Leser oder Hörer selbst rätseln könne, auf welches Werk angespielt werde:
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Wer die Schönheit angeschaut... in blauer Lagune kennt die Verwirrungen brauner Nächte. Bei der Frage nach dem Produktionsprozeß ergibt sich wie selbstverständlich die Lektüre des ganzen Gedichts von Platen, aus dem eingangs zitiert wird, und des Venedig-Gedichts von Nietzsche: » A n der Brücke stand / Jüngst ich in brauner Nacht [...]« und führt zu Überlegungen, wieweit Platen und Nietzsche für Thomas Manns Novelle bedeutsam waren. Die angehenden Deutschlehrer unseres Arbeitskreises wollen die literaturdidaktische Anregung für ihren künftigen Deutschunterricht in der gymnasialen Oberstufe aufgreifen. Sie erkennen die geglückte Verbindung v o n Literaturrezeption und kreativer Textproduktion: das in den Fragehorizont gestellte Werk muß zunächst gründlich gelesen werden; das rezeptiv Angeeignete wird dann z u m Material der kreativen Eigenleistung umgewandelt und kann in einem dreizeiligen Kurzgedicht eine bündige Gestalt finden. Der Literaturlernende kann auf diese Weise die Verquickung von bloßer interpretatorischer Literaturbetrachtung mit produktivem Eigenschaffen erfahren. Als Fazit unserer Beschäftigung mit der japanischen Kurzgedichtform Haiku, zunächst diskursiv auf theoretische, dann auf praktische Art, können wir festhalten: Wir haben eingesehen, wie ergiebig es sein kann, wenn wir stärker komparatistisch arbeiten und dabei nicht nur abendländisches Geistesschaffen beachten, sondern mundiales. W i r haben uns auf radikale Fremdheitserfahrungen eingelassen, um von etwas ergriffen werden zu können, was uns bislang fremd war. Dabei haben wir auch weltweite Gemeinsamkeiten im poetischen Schaffen erkennen können. W i r sind durch Orientierung an der fernöstlichen Reduktionsform veranlaßt worden, bündiger und konzentrierter und gestalthafter zu texten. Und wir haben schließlich durch das Texten von Literatur-Kurzgedichten die beglückende Koinzidenz von Literaturrezeption und kreativer Eigenproduktion erfahren können.
Gisbert Keseling Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse und Bearbeitung von Schreibstörungen
1. Grundlagen Zu meinem Lehrveranstaltungsrepertoire im Rahmen des Fachgebiets Germanistische Linguistik gehören unter anderem auch Schreibseminare, in denen den Teilnehmern die Möglichkeit geboten wird, ihre Schwierigkeiten beim Schreiben zu bearbeiten. Das Schreiben literarischer Texte ist dabei nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, die Teilnehmer relativ schnell und ohne längere Vorbereitung zum Schreiben zu bringen und sich mit den dabei auftauchenden Problemen auseinanderzusetzen. Die als dreitägige Kompaktseminare durchgeführten Veranstaltungen sind ein Nebenprodukt eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts »Textproduktion«, in dem es um die Erforschung der aktionalen und mentalen Prozesse beim Verfassen von Sachtexten geht.1 Wir gingen dabei von der Hypothese aus, daß Schreiben als innerer Dialog organisiert ist und daß die von Sacks, Schegloff und Jefferson beschriebenen Mechanismen mündlicher Kommunikation wie Orientierung am Rezipienten, Sprecherwechsel, Sequenzierung und das organisierte Vorkommen von Reparaturen in verkappter Form auch in schriftlicher Textproduktion auffindbar sind, jedoch so, daß diese Prinzipien an dem fertigen, in Reinschrift geschriebenen Text nicht mehr ohne weiteres erkennbar sind. Die Orientierung am Rezipienten, so unsere Annahme, zeigt sich beim Schreiben in der Weise, daß sich Autoren einen idealisierten Rezipienten konstruieren, der ihnen vorgibt, was und wie sie zu schreiben haben. Sprecherwechsel und sequentielle Organisation müßten sich unter anderem im Pausenverhalten aufzeigen lassen, derart, daß die Autoren ihren Text in Segmenten produzieren, die durch Pausen voneinander 1
Um Schreibpausen, Körperpostitionen, Blick etc. festzuhalten, werden die Autoren mit zwei Kameras gefilmt und die Manuskripte anschließend nach einem speziellen Verfahren transkribiert. Außerdem werden in einigen Versuchsserien die Autoren dazu aufgefordert, den Schreibvorgang durch sog. lautes Denken (laute Kommentare) zu begleiten. - Bislang wurden die Textsorten Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Textes (summary), Wegbeschreibung, geschäftlicher Brief, Gebrauchsanweisung untersucht.
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abgetrennt sind, ähnlich wie die konversationeilen Einheiten durch potentielle oder tatsächliche Übergangsorte mit Pausen usw. gegliedert sind. Die Produktion eines mehrere oder viele Segmente umfassenden Textes könnte man sich dann als Herstellung einer Folge sequentiell organisierter Einheiten vorstellen, wobei der Autor in ständigem Wechsel die Sprecherrolle und die Rezipientenrolle einnimmt und dabei sukzessive als Sprecher eine Schreibeinheit (einen Satz oder Teilsatz) produziert, konditionelle Relevanzen aufbaut 2 und als Rezipient darauf reagiert und/oder antwortet. Das würde bedeuten, daß auch die Produktion fortlaufender Texte lokal organisiert ist. Zugleich würde dieses Prinzip eine Erklärung für die Tatsache abgeben können, daß Autoren in der Lage sind, Texte zu verfassen, ohne vorher zu wissen, was diese im einzelnen enthalten werden, welchen Umfang sie haben und wie sie aufgebaut sein werden. Soweit in verkürzter Form die Hypothesen, mit denen wir unsere Arbeit begannen. Die Untersuchung der Schreibaufnahmen, der nachträglichen Interviews und insbesondere der lauten Kommentare, mit denen unsere Versuchspersonen ihren Schreibprozeß begleiteten, ergab allerdings, daß wir die Komplexität der den Schreibvorgang organisierenden Prinzipien unterschätzt hatten. Zwar ließ sich zeigen, daß die Versuchspersonen auch bei flüssiger Textproduktion nach Sätzen zumeist Pausen einlegen und daß sie, wenn man sich auf die lauten Kommentare verlassen kann, während dieser Pausen die nächsten und vor allem das unmittelbar nächste Textsegment vorplanen, daß es also in der Tat so etwas wie eine lokale Planung gibt; es konnten darüber hinaus jedoch auch mentale Prozesse aufgezeigt werden, die nur für schriftliche Textproduktion einen Sinn ergeben. Aus den lauten Kommentaren ergab sich, daß sich die meisten Schreiber die Zeit nehmen, vor Schreibbeginn Überlegungen darüber anzustellen, was ihr Text enthalten soll und wie er aufgebaut sein soll. Auch während des Schreibens werden zuweilen sehr lange Denkpausen eingelegt, die unter anderem der globalen Vorausplanung dienen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Stichworte, Skizzen, Gliederungen und Markierungen in den Primärtexten. Deren Analyse ergab, daß die Prozesse der globalen Planung zum Teil zwei- oder (seltener) dreidimensional organisiert sind und daß die Randnotizen Markierungen enthalten, die die spätere Transformation in eine lineare Kette erleichtern sollen (Keseling/Wrobel/Rau 1987). Außerdem gibt 2
Unter konditioneller Relevanz (conditional relevance) wird in der Konversationsanalyse eine spezielle Beziehung zwischen den beiden Teilen einer Paarsequenz (ζ. B. Frage - Antwort, Gruß - Gegengruß) verstanden, derart, daß durch die Realisierung eines Paar-Teils das zweite Paar-Teil für einen nächsten Sprecher relevant wird (ζ. B. Sacks 1972).
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es nach und zum Teil auch während des Schreibprozesses sog. Kontrollphasen, in denen das zuvor Geschriebene noch einmal gelesen und gegebenenfalls geändert wird. Die Makrostruktur des Schreibprozesses läßt sich also als Folge von drei Makro-Phasen darstellen: globale Planung, Formulieren, Kontrollieren, wobei die mittlere Phase in unregelmäßigen Abständen durch Phasen globaler Planung u n d / o d e r Kontrolle unterbrochen sein kann. In etwa entspricht dies dem von Galperin (1969, 1973), Α. N. Leontjew (1971), Α. A. Leont'ev (1975) im Rahmen der Wygotskischule entwickelten Tätigkeitsmodell mit den Phasen Orientierung, Ausführung, Kontrolle. Demgegenüber scheint der Formulierungsprozeß zumindest in Phasen flüssiger Produktion weitgehend lokal organisiert zu sein. Der Schreibfluß wird hier mehr oder weniger regelmäßig durch Satzpausen von mittlerer Länge unterbrochen. Die während dieser Pausen ausgeführten Aktivitäten scheinen geordnet zu sein: Wenn Autoren sich Gedanken über den Inhalt ihres nächsten zu schreibenden Satzes machen (Reflexionen), dann erscheinen diese in den lauten Kommentaren zuerst. Diese Phase wird dann abgelöst von sogenannten lauten Vorformulierungen, die der anschließenden Niederschrift vorausgehen und mit dieser im Großen und Ganzen, aber nicht immer vollständig übereinstimmen. Wichtig für den Schreibprozeß ist nun das Verhältnis von Reflexionsphase und Vorformulierungsphase: in den lauten Kommentaren zu den Wegbeschreibungen enthalten die Reflexionen und die Vorformulierungen ein gemeinsames Wort, in der Regel eine Ortsbezeichnung oder einen Orientierungspunkt. Abgesehen von diesem einen Wort (in selteneren Fällen ist es auch eine Phrase) sind Reflexion und Vorformulierung sprachlich jedoch in keiner Weise identisch. Erstere sind metasprachliche Ausdrücke vom Typ »jetzt schreibe ich am besten über X«, während die letzteren der Objektsprache angehören. Das gemeinsame Wort X scheint den Anstoß zur Formulierungsphase zu geben,· denn die Reflexionen werden häufig mit dem Auftauchen des Wortes X abrupt abgebrochen. Ebenso abrupt taucht jetzt eine erste Vorformulierung auf; aus dem Wort X wird ein Satz oder ein Teilsatz, der plötzlich als Einheit da ist. D. h. eine Vorformulierung wird nicht Wort für Wort zu dem »Anstoßwort« X hinzukonstruiert, sondern sie taucht als Ganzheit im Bewußtsein auf. Vorformulierungen scheinen nun der »Ort« zu sein, an dem der Autor seinen Satz oder seinen Teilsatz evaluiert. Das geschieht in der Weise, daß in kritischen Situationen, d. i. insbesondere bei nicht flüssiger Produktion, der Satz oder Teilsatz oft mehrmals verbal modifiziert wird, in der Regel jedoch so, daß der Satzrahmen, die syntaktische Struktur und größere Teile der lexikalischen Füllung beibehalten und nur einzelne Wörter ausgetauscht werden. Manchmal wird in solchen
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Fällen der Rahmen viele Male hintereinander wiederholt, wobei es nicht selten bei der ersten Formulierung bleibt. Dieser ganze Prozeß scheint auf eine Art von Probehandeln hinauszulaufen. Explizite Bewertungen (»das ist nicht gut«, »das klingt holprig« oder ähnlich) kommen zwar ebenfalls vor, sind aber weitaus seltener als die Probehandlungen mit der Reparatur einzelner Wörter. - Kommentare und Vorformulierungen werden in anderer Stimmlage gesprochen. Letztere klingen wie Diktate, erstere wie ein Stück Gespräch oder Selbstgespräch. Unsere Annahme, daß die schriftliche Textproduktion nach der Art eines inneren Dialogs mit innerem Rollenwechsel zwischen Produzenten und Rezipienten in einer Person organisiert ist, erwies sich also als zu einfach. Zwar ließ sich zeigen, daß Autoren auf ihren aktuell letzten Satz nach der Art einer Antwort reagieren, indem sie Fortsetzungen ausprobieren und gegebenenfalls verwerfen, jedoch ließ sich nicht nachweisen, daß den Schreibern dabei ein Rollenwechsel bewußt ist. Es scheint eher so zu sein, daß die Autoren ihre Textproduktion durch Aktivitäten begleiten, die auf einen Wechsel von selbstgesprächsähnlichem Kommentar und Probeformulierung mit regelmäßigem Ebenenwechsel hinauslaufen. Ob sich hier die aus Konversationen bekannten Paarsequenzen abbilden, mag dahingestellt bleiben. Die Untersuchungen hierzu sind noch lange nicht abgeschlossen (vgl. Rau). Unabhängig von den obigen Hypothesen ergab sich, daß Autoren, wenn sie flüssig schreiben, ein Textmuster abarbeiten, wobei für die Textproduktion die im Muster enthaltenen formelhaften oder einförmigen Ausdrücke wichtig sind. Routinierte Schreiber übernehmen diese Ausdrücke mehr oder weniger automatisch und bringen sie in eine von den Erfordernissen ihres individuellen Textes abhängende Ordnung, wobei die ihnen bewußte Arbeit vor allem darin besteht, die in den formelhaften Ausdrücken enthaltenen Leerstellen mit inhaltlich relevanten Ausdrücken zu füllen. So bestehen Wegauskünfte ζ. B. zum einen Teil aus formelhaftem Material wie »dann gehst Du -«, »danach überquerst Du - « und zum anderen Teil aus den in die Leerstellen einzusetzenden Ortsbezeichnungen usw. Es zeigt sich, daß die Fähigkeit, einen Text flüssig und sachgerecht zu schreiben, weitgehend vom Grad der Kenntnis und der Beherrschung des Textmusters abhängt (Einzelheiten s. Keseling 1984, 1987a, 1987b, Keseling/Wrobel/Rau 1987, Wrobel/Steuble 1983, Wrobel 1986, Wrobel/Rau 1986).
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2. Organisation der Schreibseminare Die Idee, Hypothesen oder Ergebnisse unseres Forschungsprojekts für ein Seminarkonzept zu verwenden, entstand zu einem Zeitpunkt, als die zuletzt erzielten Ergebnisse noch nicht vorlagen. Die für den Leser leicht feststellbaren Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis erklären sich allerdings nicht nur hieraus, sondern außerdem aus dem speziellen Zweck der Seminare. Deren Ziel ist nicht die Vermittlung einer Theorie oder deren Umsetzung in die Praxis, sondern die Bearbeitung aktuell auftretender Schreibschwierigkeiten. Die Frage, ob diese immer mit den im Projekt beschriebenen Prozessen zusammenhängen, schien dem gegenüber von zweitrangiger Wichtigkeit zu sein. Es bot sich an, die Veranstaltung nach der Art einer mit Gestaltprinzipien arbeitenden Balint-Gruppe zu organisieren. Für die konkrete Durchführung bedeutete dies, die Teilnehmer dazu anzuhalten, während des Seminars zu schreiben und im Anschluß an jede Schreibübung die aufgetretenen Probleme nicht nur anzusprechen, sondern gegebenenfalls auch in Szene zu setzen, um auf diese Weise auch die emotionalen Anteile bearbeitbar zu machen. Die Schreibübungen sind so angelegt, daß zu ihrer Ausführung bestimmte Probleme gelöst werden müssen, bei denen Schwierigkeiten voraussehbar sind. Wenn irgend möglich, werden diese im anschließenden Gespräch nicht generell, sondern als Problem eines einzelnen Teilnehmers bearbeitet, der der Gruppe sein Schreibproblem nach der Art eines >Falles< vorträgt. Erst in einer späteren Phase versuche ich, das Problem zu verallgemeinern. Es gibt keinen vorausgeplanten Ablauf mit einer im vorhinein festgelegten Reihenfolge von Übungen, sondern ich wähle aus einem Grundrepertoire jeweils diejenige Übung aus, von der ich glaube, daß sie dem aktuellen Entwicklungsstand der Gruppe oder einzelner Teilnehmer angemessen ist oder daß sie das Gruppengeschehen in einer bestimmten Richtung beeinflussen kann. Zum Grundrepertoire gehören unter anderem die folgenden Übungen: (1) Zehn Minuten lang ohne Pause schreiben mit vorgegebenen oder frei zu wählendem Thema ( = sich warm schreiben). (2) Variation von (1): 10 Minuten ohne Pausen schreiben, in den nächsten 10 Minuten Pausen einlegen, wenn es notwendig ist. (3) In dem ohne Pausen geschriebenen Text nach einem Muster oder einer Struktur suchen. Was ist neu oder was ist altbekannt? (4) Einen vorgegebenen Textanfang mustergerecht fortsetzen. (5) In einem zuvor geschriebenen Text nach Stellen suchen, an denen sich der Autor »O. K.« bzw. nicht »O. K.« fühlte, die entsprechenden Stellen verschiedenfarbig unterstreichen. (6) Einen Text oder Textteil auf zwei nebeneinanderliegenden verschiedenfarbigen Blättern schreiben, einem Reinschriftblatt und einem Kladdenblatt.
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(7) Zwei Teilnehmer schreiben gemeinsam einen Text. (8) Einem anderen einen Text diktieren. (9) Als Ergänzung im Anschluß an (8): dem Partner bei einem zu zeichnenden Bild die Hand führen. - Erschwerender Zusatz: der andere hat die Möglichkeit durch passiven Widerstand bestimmte Striche, Figuren etc. zu verhindern. (10) Erschwerung von (8): Der ganzen Gruppe einen Text diktieren. (11) Einen im Rollenspiel geführten Dialog oder einen natürlichen Dialog als: (a) Szene für ein Theaterstück, (b) Hörspielszene, (c) Teil eines Filmdrehbuchs, (d) Dialog in einer Erzählung schreiben. (12) Ein vorgegebenes oder selbst auszuwählendes Thema nacheinander als Tagebucheintragung, Brief, Erzählung, Dialog, Gedicht usw. bearbeiten. (13) Im Anschluß an Übung (1): Nur in Hauptsätzen schreiben und/oder den ganzen Text oder einen größeren Textteil in einem einzigen beliebig langen Satz schreiben. Anschließende Frage: »Finden Sie in diesen Texten Ihr Muster wieder, oder haben Sie unfreiwillig für sich etwas Neues entdeckt?« (14) Dialog schreiben, den die rechte Hand mit der linken Hand führt. (15) Variationen von (14): Vorher die Hände betrachten, aufschreiben, was die linke Hand kann; dann mit der linken Hand ein Bild malen. Erst danach den Dialog zwischen den beiden Händen. (16) Dialog zwischen dem Kopf und einem (zu wählenden) anderen Körperteil schreiben. (17) Innerhalb einer bestimmten Zeit zu einem vorgegebenen oder frei zu wählenden Thema einen Text schreiben. Danach den inneren Kritiker zu Wort kommen lassen und zum Schluß mit diesem einen schriftlichen Dialog führen. (18) Sich einen unsympathischen, verhaßten, gefürchteten und/oder als >eklig< empfundenen Menschen vorstellen und anschließend möglichst ohne vorheriges Überlegen und ohne Schreibpausen diesen Menschen darstellen. (19) Den Stift, das Blatt Papier, die Schreibunterlage usw. sprechen lassen und einen schriftlichen Dialog mit ihnen führen. , (20) Zu einer geplanten größeren Arbeit Stichworte und eine Gliederung schreiben. (21) Einen Text unter erschwerten Bedingungen schreiben, indem der Seminarleiter in bestimmten Abständen Erläuterungen zu dem vorgegebenen Thema abgibt und auf diese Weise den Formulierungsprozeß immer wieder unterbricht. (22) In einem bereits geschriebenen Text nachträglich etwas einfügen. (23) Zu einer größeren Arbeit, die bereits ganz oder zu größeren Teilen fertiggestellt ist, eine halb- Oder ganzseitige Zusammenfassung schreiben. (24) Variation zu (23): Zuefst zu einer noch nicht fertiggestellten größeren Arbeit eine Zusammenfassung schreiben, danach die Fortsetzung ebenfalls als Zusammenfassung, Projektskizze o. ä. schreiben. (25) Einen zu Anfang des Seminars geschriebenen Text zwei Tage später noch einmal lesen: was hat sich in der Einschätzung jetzt geändert? Worauf haben Sie beim Lesen hauptsächlich geachtet, was würden Sie jetzt gern noch ändern? (26) Wahrnehmungs- und Meditationsübungen (s. dazu unten).
Wie leicht zu sehen ist, dienen diese Übungen verschiedenen Zwecken. Zum Teil haben sie einen mehr technischen Charakter und dienen dazu, neue Formen und neue Schreibtechniken auszuprobieren öder bestimmte Phasen bzw. Komponenten des Schreibprozesses zu isolieren, um diese anschließend den Teilnehmern bewußt zu machen. In ande-
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ren Übungen überwiegt dagegen der kreative Aspekt: die Dialoge zwischen Körperteilen, mit dem unsympathischen oder >ekligen< Menschen usw. sollen die Teilnehmer dazu bringen, beim Schreiben nicht nur >sich selbst< zu gestalten, sondern Rollen anzunehmen und verinnerlichte >Stimmen< von Eltern, Freunden, Partnern usw. lebendig werden zu lassen und diese unter Umständen auch beim Schreiben auszuleben, d. i. den inneren Dialog mit einem Widersacher o. ä. nicht nur als technisches Schreibproblem, sondern als (nicht immer bewußtes) Problem der eigenen Lebensgeschichte anzusehen. Wie sich in allen bisher durchgeführten Schreibseminaren zeigte, wirken sich solche dialogischen Schreibübungen auch auf den Gruppenprozeß aus, derart, daß in den szenischen Darstellungen Übertragungen auf andere Gruppenmitglieder deutlich werden. Wenn sich beim Vorlesen oder in den Gesprächseinheiten Präferenzen für ganz bestimmte Themen u n d / oder Charaktere zeigen, werte ich dies als mögliches Indiz für die Wirksamkeit aktueller Übertragungen, auf die ich in der Regel jedoch nicht verbal, sondern durch die Auswahl bestimmter Schreibthemen reagiere, um auf diese Weise - mehr oder weniger stumm - einen begonnenen Gruppenprozeß voranzutreiben und, wichtiger noch, um dadurch für eine latente Verzahnung von Schreib- und Gesprächssitzungen zu sorgen. - Es ist mir wichtig, daß den Teilnehmern diese innere Verbindung deutlich wird und daß sie lernen herauszuspüren, wann in ihren Texten Elemente aus dem Hier und Jetzt auftauchen. Nur letzteres thematisiere ich explizit, manchmal verwende ich dazu auch Wahrnehmungs- und Meditationsübungen nach dem Vorbild von Perls/Hefferline/Goodman und Stevens, die ich in der Regel allerdings so modifiziere, daß der Schreibprozeß und dessen Produkte im Mittelpunkt stehen. Manche dieser Übungen beziehen sich ausschließlich auf die materielle Seite des Schreibens, die verwendeten Materialien, die Schrift, den Raum, die Tische und die mitanwesenden anderen Teilnehmer (z.B. wer sitzt mit wem an einem Tisch, wer bevorzugt einen Tisch für sich allein, welchen Blickkontakt, welchen Austausch von Schreibmaterialien gibt es usw.). Ich merke an, daß diese gestalttherapeutischen oder -pädagogischen Elemente meiner Seminare nicht nur eine äußere Zutat sind und auch nicht nur der praktischen Ausgestaltung der Seminare geschuldet sind, sondern daß sich hier gewisse Übereinstimmungen in der gemeinsamen theoretischen Grundlage von Gestalttherapie und Psychodrama auf der einen Seite und unserem auf Konversationsanalyse und Tätigkeitstheorie gründenden Forschungsprojekt auf der anderen Seite abzeichnen. Ich denke dabei insbesondere an das Rollenkonzept, an die in der kulturhistorischen Schule entwickelte Theorie der inneren Sprache bzw. des inneren Sprechens und die von Wygotski vertretene Auf-
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fassung von der dialogischen Organisation des Denkens sowie an bestimmte Ideen der Gestaltpsychologie, weniger jedoch an die psychoanalytischen Grundlagen der Gestalttherapie Perls'. Auf diesen Punkt kann ich hier nicht weiter eingehen. Für die psychologisch-therapeutisch-pädagogische Seite verweise ich auf Arbeiten von Brown, Petzold, Petzold/Orth sowie auf den ebenso übersichtlichen wie informativen Handbuchartikel von L. Hartmann-Kottek-Schroeder; für die Tätigkeitstheorie auf Galperin (1969 und 1973), Keseling (1979), Α. N. Leontjew (1971), Α. A. Leont'ev (1975), Wygotski (1969); für unseren eigenen Ansatz auf Keseling, Keseling/Rau/Wrobel, Wrobel und Wrobel/Rau. Das Seminar ist als dreitägige Kompaktveranstaltung konzipiert und wurde bislang viermal durchgeführt.
3.
Beispiele für Schreibstörungen und deren Bearbeitung in dem Seminar
3.1 Schwierigkeiten, den Schreibfluß aufrechtzuerhalten oder ihn in Gang zu setzen Immer wieder beklagen sich Teilnehmer darüber, daß sie bestimmte Schreibübungen nicht ausführen oder nicht abschließen können, weil ihnen keine passenden Formulierungen einfallen. Mitten im Schreiben stockt ζ. B. der Schreibfluß oder eine Formulierung wird nicht als gut befunden, und es geht nicht mehr weiter. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer davon ist der folgende: Es gibt Zeiten und Situationen, in denen uns Formulierungen leicht fallen, und es gibt umgekehrt Situationen, in denen wir uns damit schwer tun. D. h. wir können das Hervorbringen von Formulierungen nicht erzwingen oder mit dem Verstand steuern, sondern Formulierungen fallen uns ein, tauchen spontan in unserem Bewußtsein auf, und zwar nicht nur in Form einzelner Wörter, die wir um ein zweites, drittes und viertes Wort ergänzen, wie im Dominospiel, sondern in Form von Wortketten, syntaktischen Konstruktionen, Phrasen, Sätzen oder Teilsätzen usw. Wir haben die Absicht über etwas Bestimmtes zu schreiben, wissen aber noch nicht, mit welchen Worten wir es ausdrücken, und plötzlich ist eine Formulierung da. D. h. der Übergang vom Denken über eine Sache zur Formulierung ist abrupt. Wir können uns zwar vornehmen, jetzt nach Möglichkeit mit der Formulierung zu beginnen, wir können aber nicht eine bestimmte Formulierung planen. Dieser zerebral ablaufende Prozeß entzieht sich unserem Bewußtsein.
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Damit hängt ein weiteres z u s a m m e n : Eine erste Formulierung zieht oft mehr oder weniger automatisch einen zweiten, dritten und nächsten Satz oder Teilsatz nach sich; plötzlich >sind wir mitten drin< und unser Text schreibt sich d a n n gleichsam von selbst. Da Schreibern diese Tatsachen nicht bewußt sind, versuchen sie immer wieder, Formulierungen und Formulierungsphasen zu erzwingen. Gelingt ihnen dies nicht, suchen sie nach Ursachen, versäumen aber, ihre Hypothesen, die ihnen in diesem Z u s a m m e n h a n g einfallen, ernsthaft zu überprüfen. Eines der Hauptziele der Schreibseminare besteht daher darin, solche falschen G r ü n d e zurückzuweisen und die Autoren immer wieder auf die Spontaneität ihrer Formulierungseinfälle hinzuweisen. Zwar ist bislang wenig über die Bedingungen bekannt, die flüssiges Formulieren fördern oder h e m m e n , jedoch ist sicher, daß das Nachdenken über Formulierungen oder gar über deren G r a m m a t i k die Intuition eher hemmt. Dies ist der Hintergrund der Übung (1): Schreiben ohne Pausen. Die Aufforderung, irgendetwas schriftlich zu formulieren und dabei das bewußte Planen und Formulieren zwangsläufig zurückzustellen (Vorausplanungen und Überlegungen zur G r a m m a t i k usw. werden normalerweise in den Schreibpausen angestellt), setzt mehr oder weniger automatisch einen Formulierungsprozeß in G a n g ; oft werden nicht nur unerwartet neue Muster, sondern auch neue Ideen produziert. Übung (1) wird daher im Verlauf des Seminars mehrfach wiederholt und bei Auftreten von sogenannten Schreibhemmungen gezielt eingesetzt. - Eine andere Strategie ist die Empfehlung, beim Auftreten von Formulierungsstörungen den Schreibprozeß zunächst zu unterbrechen, im Z i m m e r herumzulaufen oder gegebenenfalls mit einem Notizblock eine Weile spazierenzugehen. Die Störung, um die es hier geht, ist, wenn man so will, eine Rhythmusstörung. Der rhythmische Wechsel von Nachdenken über das zu Schreibende u n d A u s f ü h r u n g (d. i. das Hervorbringen von Formulierungen) ist gestört; letzteres erhält ein Übergewicht, so daß der (rhythmische) Ebenenwechsel (s. Kap. 2) nicht mehr regelmäßig vollzogen werden kann. Die Strategien zur Behebung dieser Störung laufen darauf hinaus, die Phasen des bewußten Nachdenkens vorübergehend auszuschalten oder zu reduzieren und den Schreiber auf diese Weise in die Lage zu versetzten, ein G e f ü h l f ü r seinen Rhythmus zu gewinnen. Im Anschluß an Ü b u n g (1), die ich manchmal kombiniert mit Übung (3) anwende, spreche ich dieses G e f ü h l an und versuche, zusammen mit den Teilnehmern geeignete Ausdrücke zu finden.
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3.2 Probleme mit dem Textmuster. Wie originell sollten oder können Texte sein? Eine weitere Ursache für stockenden Schreibfluß, die mit den in 3.1 angesprochenen Gründen häufig einhergeht, ist fehlendes oder nicht aktualisiertes Textmuster-Wissen: Bei der Aufgabe (12), nacheinander ein und dasselbe Thema als Tagebucheintragung, Brief, Erzählung, Dialog und Gedicht zu schreiben, scheiterten die meisten Autoren derart, daß sie mindestens mit einer dieser Formen Schwierigkeiten hatten. In dem anschließenden Gespräch zeigte sich, daß die meisten Teilnehmer mehr oder weniger an ihrem Muster klebten. Tagebuch und Brief waren die beliebtesten Formen, erst dann kamen Gedicht, Dialog und Erzählung. Ein eigentümlicher Widerspruch stellte sich heraus: Schreiben geht uns auf der einen Seite nur dann von der Hand, wenn wir unser Muster gefunden haben und dieses in irgend einer Form abarbeiten; andererseits empfinden wir aber die Muster häufig als Klischees und stellen den Anspruch, originell zu sein. Auf solche Widersprüche reagiere ich als Seminarleiter gelegentlich mit paradoxen Anweisungen, indem ich dazu auffordere, von einem vorgegebenen Muster auf keinen Fall abzuweichen oder indem ich eine Liste phraseologischer Ausdrücke vorgebe und auffordere, daraus einen sinnvollen Text zu kombinieren, dabei aber auf keinen Fall etwas Eigenes hinzuzufügen. Der (vergebliche) Versuch, solche Texte ohne Verstoß gegen diese Anweisung zu verfassen, führt zu absurden und oft komischen Resultaten, über deren Analyse es manchmal gelingt, eine Diskussion über das Verhältnis von Muster und persönlicher Aussage in Gang zu setzen und die Einsicht zu vermitteln, daß beides notwendig ist und daß wir Originalität nicht dadurch erreichen können, daß wir jegliches Muster verwerfen. In anderen Fällen versuche ich, den (in der Regel hinderlichen) Originalitätsanspruch dadurch aufzubrechen, daß ich im Gespräch den Begriffskomplex >originell< usw. umdefiniere und als Vorbereitung dazu die Teilnehmer auffordere, in ihren bereits geschriebenen Texten nach Passagen zu suchen, die ihnen so vorkommen, als habe sie jemand anderes geschrieben oder die ihnen in irgendeiner Form als »für sie neu« erscheinen. Dazu erweisen sich besonders die Dialoge zwischen Körperteilen und andere aus der Gestalttherapie und -pädagogik adaptierte Übungen als geeignet. Manche Teilnehmer entdeckten im Anschluß an solche Übungen, daß sie bestimmte Wendungen aus mündlichen Alltagsdialogen übernommen hatten und daß sie es geschafft hatten, dafür eine bestimmte Form zu finden, die sie bislang noch nie verwendet hatten. Solche Passagen empfanden sie als originell, und sie erinnerten sich, daß es ihnen bei deren Niederschrift oder
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beim späteren Lesen dieser Stellen »recht gut ging«. Sie hatten das Gefühl, für sich etwas Neues entdeckt zu haben, Teile eines Musters, das sie sich im Moment des Schreibens selbst geschaffen hatten. Die Originalität bestand jedoch in erster Linie aus der von den Schreibern selbst gefundenen (und nicht übernommenen) Anpassung alltagsdialogischer Momente an die schriftliche Form oder, wie man es auch ausdrücken könnte, in der Übernahme und Verkörperung einer Rolle, was mit Petzold/Mathias einen aktiven und schöpferischen Prozeß erfordert und nicht nur die Realisation einer unterstellten Erwartung seitens eines tatsächlichen oder vorgestellten Partners. 3 Insgesamt gehören allerdings die mit Originalität, Muster, eigenem Stil usw. zusammenhängenden Phänomene zu den am schwersten zu bearbeitenden Problemen. Autoren entwickeln offenbar einen schwer erklärbaren Widerstand, sich intensiv und im Detail mit ihren eigenen Produkten auseinanderzusetzen und scheinen eher pauschale (negative oder positive) Urteile vorzuziehen.
3.3 Probleme mit Stichworten und Gliederungen Von der Aufgabe, unter Termindruck ein vorgegebenes oder frei zu wählendes Thema zu bearbeiten und abzuschließen, fühlten sich einige Seminarteilnehmer beflügelt, andere dagegen gelähmt. Schon in der Schule, sagen die letzteren, hätten sie gelernt, daß es unter Druck nicht geht und daß sie dementsprechend auch nichts zustandebringen. »Schreiben kann ich nur für mich allein, am besten abends, wenn ich weiß, daß ich so lange weiterschreiben kann, wie ich will, und daß mich niemand stört«, sagt eine Teilnehmerin. Andere stimmen ihr zu: »Besonders die Anwesenheit anderer stört mich; deswegen bringe ich auch in Klausuren nicht das zustande, wozu ich eigentlich in der Lage wäre«. - »Woran sind Sie nun wirklich gescheitert?« frage ich, »ich halte es für unwahrscheinlich, daß wir Menschen so verschieden veranlagt sind, daß die einen nur unter Druck, die anderen nur ohne jeden Druck schreiben können«, entgegne ich und fordere dazu auf, den Schreibprozeß so genau wie möglich zu rekonstruieren. »Ich habe zuerst Stichworte gemacht und hatte vor, daraus als nächstes eine Gliederung zu machen. Aber schon nach dem dritten oder vierten Stichpunkt fiel mir plötzlich eine Einleitung ein, ein erster Satz. Ich habe ihn hingeschrieben, und plötzlich war ich mitten im Schreiben meines endgültigen Textes.« - Ich: »Wollten Sie das?« - Teilnehmerin: »Nein, 3
Petzold/Mathias, S. 149ff. (Kap. 3.3.2 »Zum Modell einer integrativen Rolle«.)
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es kam so. Ich war so glücklich, daß mir überhaupt etwas eingefallen war.« - Bei weiterem Nachfragen stellt sich heraus, daß der Teilnehmerin genau dies zum Verhängnis geworden war. Sie bemerkte ziemlich bald, daß sie sich beim Schreiben verrannt hatte und machte dann einen neuen Anfang, um beim dritten Versuch endgültig aufzugeben. -»Sie wollten zwei, vielleicht sogar drei Probleme gleichzeitig lösen«, kommentierte ich später, »und daran sind Sie gescheitert. Stichwort und endgültiger Text sind zwei verschiedene Textsorten, die Sie nicht gleichzeitig verfassen können; das eine erfordert Distanz und einen klaren Kopf, beim anderen müssen Sie sich - zumindests bei Ihrem Thema - auch emotional einbringen.« - Bei späterer Gelegenheit fordere ich die Teilnehmer explizit dazu auf, für einen Text zunächst Stichworte zu schreiben und diese anschließend zu analysieren. Es stellt sich heraus, daß ein Drittel der Teilnehmer niemals gelernt hat, Stichworte oder Gliederungen zu schreiben, obwohl mir alle darin zustimmen, daß diese für bestimmte Schreibaufgaben eigentlich unentbehrlich sind. Die linguistische Struktur von Stichworten war den meisten neu.
3.4 Der innere Kritiker Die Tatsache, daß es einen inneren Kritiker gibt, der den Schreibprozeß begleitet und steuert, ist den meisten Teilnehmern bewußt, noch ehe dessen Existenz im Seminar thematisiert wird. Zweck der Schreibaufgabe (17) ist daher nicht so sehr, diesen Kritiker aufzuzeigen, als auf die produktiven oder zerstörerischen Potentiale hinzuweisen und letztere gegebenenfalls zu bearbeiten. Ich benutze die Dialoge mit dem inneren Kritiker dazu, herauszufinden, wann und an welchen Phasen des Schreibprozesses sich der Kritiker hauptsächlich bemerkbar macht. Aus den Antworten ergibt sich, daß er im Prinzip zwar immer da ist, daß er bei flüssigem Schreiben jedoch in den Formulierungsphasen und in den (mittellangen) Pausen während des Formulierens zurücktritt. Aber sobald der Schreibfluß stockt, so versichern mir die Teilnehmer, trete der Kritiker hervor, und Schreiben werde häufig zur Qual. Es stimmt dann auf einmal nichts mehr, und plötzlich wimmele der zuvor geschriebene Absatz von Unzulänglichkeiten oder Fehlern. Auch beim späteren Durchlesen sei dies häufig so. Meine Bearbeitungsstrategien laufen in solchen Fällen auf dreierlei hinaus: ich versuche einerseits durch weitere Fragen oder kleinere Zusatzübungen den Teilnehmern bewußt zu machen, was beim Ausdenken von Formulierungen in ihnen vorgeht, daß sie in den (mittellangen) Pausen ununterbrochem damit beschäftigt sind, sich Formulierun-
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gen einfallen zu lassen und diese gegebenenfalls so lange zu modifizieren, bis sie >passen< und hingeschrieben werden können. Dieses gedankliche Ändern, so versuche ich zu zeigen, ist im Prinzip aber schon eine Art von Kritik, d. i. ein Verwerfen von zuvor Ausgedachtem, eine Kritik, die jedoch deswegen konstruktiv ist, weil sie in eine sofortige >Reparatur< des kritisierten Ausdrucks ausmündet. - Die zweite Strategie zielt darauf ab, die Schreiber für Stockungen zu sensibilisieren: Wenn Reparaturen mehrfach nicht mehr auf Anhieb gelingen und Formulierungen nicht mehr wie von selbst kommen, kann dies ein Zeichen dafür sein, daß etwas nicht stimmt, daß sich der Schreiber ζ. B. im Muster >vergriffen< hat oder daß er nicht weiß, worüber er als nächstes überhaupt schreiben will; und daß er deshalb die Formulierungsphase besser für eine Weile unterbricht bzw. sie durch eine Kontrollund/oder Planungsphase ablöst. - Eine dritte Strategie wende ich vor allem an, wenn die Kritik selbstzerstörerische Züge annimmt und die Autoren - häufig bei späterem Lesen - nicht mehr fähig sind, die Kritik zu lokalisieren und stattdessen alles Geschriebene pauschal verurteilen. Hier kommt es in der Bearbeitung vor allem darauf an, die Autoren von ihrer >alles oder nichtsArbeit< nicht falsch verstanden werden. Arbeit meine ich im Sinne der antiken Aufforderung zur Übung (exercitatio) mit dem Ziel sicherer Geläufigkeit (firma facilitas).8 Voraussetzung dafür sind Sachkenntnisse und Wörter, G e d a n k e n und sprachliche Formulierungen (copia rerum ac verborum 10,1,5), aber auch Lesen, Schreiben und Reden (10,1,2): »Tatsächlich sind sie aber so miteinander verknüpft und alle so unzertrennbar, daß, wenn es auch nur an einer von ihnen fehlen sollte, auf die übrigen alle M ü h e vergebens aufgewendet wäre. D e n n gediegen und immer bei frischer Kraft kann die Redekunst n u r sein, wenn sie aus gründlicher schriftlicher Übung ihre Kräfte gewonnen hat; ohne das Vorbild, das die Lektüre liefert, wird aber das Ziel dieser schriftlichen Arbeit, da der Wegweiser fehlt, unstet und verschwommen bleiben, und wer auch weiß, was und wie er reden muß, wird doch, wenn ihn die Redekunst nicht schlagfertig gemacht und f ü r alle Fälle gerüstet hat, gleichsam n u r über verschlossenen Schatzkammern wachen.« Daß das Schreiben Mühe {labor) verursacht und nicht dem Lustprinzip gehorcht, darüber war sich die antike Rhetorik einig. Als Kunstlehre f ü r Gebrauchstexte ist sie eine Produktionsästhetik, die ihr Ziel auf die Notwendigkeiten, aber auch die Banalitäten der Textherstellung unter alltäglichen Bedingungen richtet und gleichzeitig - das macht ihre Aktualität aus - über die gesellschaftlichen und bildungs-
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Vgl. Axel Hacke, Warten auf den Blitz, Süddeutsche Zeitung Nr. 203, 5./6. September 1987, S. 131. Quintilian, Institutio oratoria, hg. u. übers, von Helmut Rahn, 2 Bde., Darmstadt 1972, 10,1,1.
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philosophischen Voraussetzungen des Schreibens (oder Redens) nachdachte. Im Brennpunkt ihrer Überlegungen stand die Herstellung eines Textes, der es immer mit der Überzeugung eines Gegenübers zu tun hat. Der überwiegende Teil alltäglicher Literatur ist Zweckliteratur. »Man will etwas anbieten oder verhindern, mitteilen oder in Frage stellen, bewältigen oder in Gang setzen. Erläuterungen zu einer Steuererklärung stehen in einem viel engeren Verwandtschaftsverhältnis zur Literatur als ein mit 1 benoteter Schulaufsatz«, so faßt Paul Schuster alte rhetorische Weisheiten zusammen. Gefühle haben in solchen Zusammenhängen nur funktionalen Wert, sie dienen der Glaubwürdigkeit, der Eindringlichkeit und der Unterhaltung, denn »wer gern etwas hört, glaubt es leichter« (8,3,5). Begreift man Schreiben als einen Akt der Vermittlung von Ideen, Ansichten, Argumenten, die überzeugend, anschaulich, verständlich vorgetragen werden sollen, dann sind geschwätziger Bekennerfreude und Entblößungslust enge Grenzen gesetzt: Das Reden über eigene Befindlichkeiten hilft da nicht viel, es interessiert allenfalls denjenigen, der nach der Bestätigung seiner eigenen Stimmungen sucht und sie für Therapie hält. Ein solcher Anspruch schiene einer Produktionsästhetik dilettantisch, es sei denn, die Darstellung von Erlebnissen und Gefühlen ist Gegenstand der Schreibübung. Setzt man aber auf die Vermittlung der Fähigkeit, einen Text einer bestimmten Gattung (Reportage, Brief, Bericht, Beschreibung etc.) gut zu schreiben, dann ist die antike Rhetorik noch immer eine Goldgrube, die trotz weitgehender Verschüttung früherer Schächte mit ihren Regeln und Vorschlägen einen ansehnlichen Gewinn abwirft. Damit kommen wir zum Problem der Praxis von Schreibseminaren an Universitäten. Sie setzen voraus, daß Studenten »kein genaues Wortbild mehr im Kopf haben« (Hentig) und stellen sich der Erkenntnis, daß »die sprachliche Ausdrucksfähigkeit auf ein bislang unbekanntes Minimum zusammengeschnurrt ist« (Glaser). 9 Sind solche Urteile vielleicht nur der Ausdruck einer Generation, die sprachlos vor den Schreibkünsten ihrer Kinder steht, obwohl diese doch am Computer mit der Welt sprachlicher Zeichen bestens zurechtkommen? Ich glaube nicht. Denn schließlich wird in vielen Klassen »nur mehr das Allernötigste geschrieben oder abgeschrieben. Arbeitsblätter und Merkblätter und noch mehr Blätter sind bei der Hand, und schließlich gibt es Kopiermaschinen«. 1 0 Im Schreibseminar an der Universität sollte deutlich sein, daß es nicht um Therapiegewinn und Persönlichkeitswachstum geht, sondern 9 10
Der Spiegel Nr. 28, 9. Juli 1984, S. 127. Ebd., S. 132.
D i e antike Rhetorik in der m o d e r n e n Schreibwerkstatt
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um intellektuelle Anstrengung, um Sprach- und Bewußtseinserweiterung, um Produktion von Texten, die gesellschaftlicher Norm folgen. Eine sehr vorläufige Definition. Denn die Norm wird durch den Seminarleiter und dessen Vorstellung vom >guten Text< gegeben. Über den Geschmack läßt sich streiten: Eine Maxime, die der Diskussion im Vorfeld bedarf. Um jedoch im Seminar die Diskussion über die Qualität sprachlicher Äußerungen auf ein Minimum einzuschränken, scheint es das Beste, auf Schöngeistiges zu verzichten. Poetische Texte erlauben zu viele Lizenzen, und es käme doch vorerst darauf an, möglichst wenig Lizenzen zuzulassen: genaue Argumentation, Wortfülle, syntaktische Präzision, um dem stimmungssatten Anfänger die Möglichkeit seelischer Ausschweifung zu nehmen. Über die poetische Valeur eines Adjektives läßt sich streiten, über die sprachlich adäquate Wiedergabe von Erlebnissen allemal. Dabei soll die Diskussion über den Wert von Wörtern in einem genauen Zusammenhang keineswegs ausgeschlossen werden. Aber zu Beginn geht es darum, dem Studenten das Bewußtsein dafür zu schärfen, daß die Herstellung eines Satzes, der dem Gedanken adäquat ist, eine beachtenswerte handwerkliche Leistung darstellt. Deswegen ist die Übung an persuasiven Gattungen (Leserbrief, Flugblatt, Buchkritik) besonders fruchtbar, da sie für alle Teilnehmer eine vergleichbare Argumentation zulassen. Auch die genaue Begrenzung des zu schreibenden Textes ist wichtig, weil ihr eine besondere Dialektik innewohnt: Man schreibt bereits in Hinsicht auf die Grenze, muß kürzen, den Platz mit in die Formulierung einkalkulieren. An markanten Abschnitten der studentischen Arbeiten lassen sich besondere Schwächen diskutieren: Unklarheiten, verwinkelte Satzkonstruktionen, Überschüssiges, Verbmangel etc. Rhetorische Grundbegriffe, sprachliche Figuren werden erklärt, an Beispielen aus der Literatur verdeutlicht. Die Beschreibung des Raumes etwa, in dem die Seminarsitzungen stattfinden, macht deutlich, wie leicht sich die Emotion mit der Sache vermischt, wie schnell sich das Gefühl in den Vordergrund schiebt und die Sicht auf den Gegenstand verstellt. Diese Texte sind dann eine gute Gelegenheit, über das Problem der Sachangemessenheit zu sprechen, über Fragen der Perspektive, des auktorialen Erzählens. Fragen des Wortschatzes kommen ins Spiel, des expressionistischen Ausdrucks, der Anschaulichkeit, nun möchten sie Dichter werden, ihrer Abneigung über die kargen Bedingungen, unter denen sie studieren müssen, Ausdruck verleihen: Manierismen und wortgewaltig daherkommende Plattitüden sind an der Tagesordnung und können bearbeitet werden. Wenn ich gefragt würde, worin meine Leitlinie eines solchen Seminars besteht, dann würde ich auf die antike Rhetorik und speziell auf
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das verweisen, was dort unter dem Kapitel »elocutio« abgehandelt wird. D e n n es geht um die Lehre vom Ausdruck, von der Quintilian sagt: »>Ausdrücken< heißt nämlich: alles, was m a n in G e d a n k e n erfaßt hat, zum Vorschein bringen und es den Hörern übermitteln [ . . . ] dies vermag keiner ohne Kunstlehre (ars) zu erreichen, hierauf ist der größte Eifer zu verwenden, dies sucht die Übung, dies die Nachahmung, hierin verzehrt man sich Zeit seines Lebens« (8, Pr.15). Da die meisten Studenten ihre Einfälle aufs Papier bringen wollen und die Bedeutung der Form nicht kennen, ist es sinnvoll, sie zu lehren, so zu schreiben, daß ihr Text einleuchtet und gern gelesen wird. Das wäre auch das quintilianische Ideal: »Eine große Leistung ist es, die Dinge, von denen wir reden, klar und so darzustellen, daß es ist, als sähe man sie deutlich vor sich« (8,3,62). Für technische Details gibt es die entsprechenden Handbücher. Nur eine Überlegung noch zum Schluß: Fast das Wichtigste ist die Ausweitung des meist dürftigen Wortschatzes. Und auch da halte ich mich an Qintilian: » G ä b e es für die einzelnen sachlichen Gegebenheiten jeweils nur einzelne Wörter, so erforderten die Worte geringe Sorgfalt; denn alle böten sie sich gleich mit den Sachen selbst dar. Da nun aber die einen eigentümlicher, schmuckvoller, wirkungsvoller oder wohlklingender sind als andere, müssen sie nicht nur alle bekannt sein, sondern auch zur Hand und, sozusagen, im Blickfeld, damit, wenn sie sich dem Urteil des Redenden zur Schau stellen, die Auswahl der Besten unter ihnen leicht vonstatten geht« (10,1,6). Quintilian legt Wert darauf, daß Wortfülle zugleich mit Urteilskraft erworben wird und schlägt daher die Lektüre und N a c h a h m u n g der besten Schriftsteller vor. Heute aber eine breite Belesenheit bei den Studenten vorauszusetzen, wäre ein grundlegender Irrtum über die Realität eines geisteswissenschaftlichen Studiums. Der abgekürzte Weg über das Synonymenlexikon (etwa Textor), mit dessen Hilfe sich auch Farbigkeit, Genauigkeit, Treffsicherheit erzielen läßt, ist daher der realistische. Vielleicht braucht man sich als Lehrer in Schreibseminaren nur einen einzigen Satz aus der Institutio oratoria zu eigen machen und ihn der Arbeit zugrundelegen: »Schreiben m u ß man also möglichst sorgfältig und möglichst viel« (10,3,2).
Gekürzte Fassung eines Vortrages, der am 17. Juni 1987 an der Akademie Tutzing gehalten wurde.
Holger Rudioff Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens. Dargestellt anhand Friedrich Nietzsches »Menschliches, Allzumenschliches«
Der Titel meines Beitrags könnte ebenso lauten: Wider die Einschüchterung, kreatives Schreiben zu praktizieren. Oder auch: Das Erfinden von Geschichten als Vermögen der Erinnerung. Wider die Wahrnehmungstäuschung der exklusiven Dichterpersönlichkeit. Kreatives Schreiben an Hochschulen, an Schulen, in privaten oder öffentlichen Zirkeln sieht sich immer wieder mit populären Vorurteilen konfrontiert. Schulterklopfend attestiert man zwar die allemal zu lobenden Versuche, literarisch produktiv zu werden, nicht zuletzt jedoch augenzwinkernd mit dem mehr oder weniger versteckten Hinweis auf die Untauglichkeit der Vorgehensweise. Wolle man allen Ernstes die sog. Legende vom verkannten Genie wiederbeleben? Durch literarische Geselligkeit sei noch kein Meister vom Himmel gefallen. Und auch die Übung mache es nicht. Trotz aller Reminiszens an Übung, Diskursivität oder Studium bilde die Unmittelbarkeit einer talentierten Persönlichkeit die nicht hintergehbare Voraussetzung zum Schreiben. Gegen eine derartige Vorurteilsstruktur hat bereits Friedrich Nietzsche entschiedenen Einspruch erhoben. Zwar ist sicher nicht von der Hand zu weisen, wie sehr gerade Nietzsche in seinem Frühwerk der romantischen Bewunderung und kultischen Verehrung des Künstlers (man denke an seine Ausführungen zu Wagner und Schopenhauer) Vorschub geleistet hat. Dennoch weist sein Spätwerk entscheidende Passagen zur Entlarvung des Geniekults auf. Ebenso enthält es Ansatzpunkte zu einer Theorie literarischen Schreibens. Die Rede ist von der Aphorismen-Sammlung »Menschliches, Allzumenschliches«, die einen einschneidenden Wendepunkt in der Entwicklung von Nietzsches Genie-Gedanken abgibt. Eine nähere Analyse der hier vorgenommenen Argumentation kann zwei Gesichtspunkte eröffnen. Erstens ermöglicht sie auf exemplarische Art und Weise, die aufgezeigten Vorurteile in Frage zu stellen und eine Beziehung zu ihrer historischen Genese herzustellen. Darüber hinaus erlaubt sie es, Kriterien zu benennen, schriftstellerische Versuche von Studenten und Schülern (sog. Laien) mit der Arbeit des gesellschaftlich anerkannten Schriftstellers (sog. >Professionellergöttlich< nennen heißt: , hier brauchen wir nicht zu wetteifern!' Sodann: alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles Werdende unterschätzt. (M.A, S. 554)
Der Nachsatz gibt zu erkennen, daß Nietzsche sich keinesfalls ausschließlich mit der Vorstellung göttlichen Ursprungs literarischen Schaffens auseinandersetzt. Jener Erklärung also, die von Piatons Enthusiasmus-Lehre ausgehend, immer wieder ins produktionsästhetische Feld geführt wird. Als zentrale Polarisierung tauchen die Begriffe »alles Fertige, Vollkommene« versus »alles Werdende« auf. Der Schein intuitiv geleiteten Schaffens baut auf der abgeschlossenen Gestalt des Kunstwerks auf. Da allein das fertige Werk das Licht der Öffentlichkeit erblickt, wird jeder nachvollziehbaren Einsicht in sein Zustandekommen (»alles Werdende«) der Boden entzogen. Man könnte auch sagen, das bereits abgeschlossene Produkt läßt über sich selbst hinaus keinen Einblick in den Prozeß des Herstellens zu. Auf dieser Basis wirkt es, wie bereits zitiert, »als ob es auf einen Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei« (M,A, S. 545), oder, »als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, also ein Wunder sich vollziehe« (M,A, S. 550; Hervorhebungen H.R.). Als Ergebnis können wir festhalten, daß die bezaubernde Wirkung des vollkommenen Kunstwerks - und der künstlerischen Intuition auf einem Verdecken des Prozeßcharakters literarischen Produzierens beruht. Dieser Prozeß wird als »vorhergegangenes inneres Arbeiten« bestimmt. Verdeckt wird also die Arbeit; geniales Produzieren kann sich nur durch den Weg einer mangelnden Einsicht in die eigene Werkstatt behaupten. Der Schein intuitiv geleiteten künstlerischen Tuns, den das abgeschlossene Werk erzeugt, reproduziert sich im Kopf der Rezipienten. Da ihnen die näheren Bedingungen und Voraussetzungen jenes »vorhergegangene^] innere[n] Arbeiten[s]« nicht bekannt sind, mischt sich in den ästhetischen Genuß das Gefühl des Wunderbaren, des Unerklärbaren. 3 4
Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen 1985, 16, S. 167. Ebd., S. 9.
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Auf dem Hintergrund dieses Ergebnisses kann nach produktionsästhetischen Traditionslinien gefragt werden, die den erkannten Widerspruch zwischen künstlerischem Tun als Arbeit und künstlerischem Schein als »Zauberschlag« problematisiert haben. In der AutonomieÄsthetik des 18. Jahrhunderts soll (bes. bei Kant und später bei Schiller) das Werden des Kunstwerks um einer besonderen Wirkung willen verdeckt werden. 5 Unter dem Begriff des Werdens diskutiert man hier primär das Abhängigkeitsverhältnis des Produzenten von literarischen Regeln. Bezeichnenderweise bedient man sich bereits hier der Terminologie des »als ob«, die, wie oben ersichtlich, Nietzsche ins Zentrum seiner Kritik rückt. Bei Kant dient sie dazu, künstlerisches Vermögen und Werk als Natur zu begründen: A n einem Produkt der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.« (KdU § 45, S. 404). 6
An der Oberfläche des Werkes muß die Leistung des Künstlers also als Natur erscheinen; sie muß erscheinen, als ob keinerlei Absicht und Regelbefolgung im Spiel sei. Nun weist der Begriff der »Regeln« auf die Tätigkeit des Handwerks zurück. Regeln sind erlernbar, zur Meisterschaft ausbildbar. Und wenn - so ließe sich folgern - bestimmte Regeln des literarischen Produzierens als erlernbar gelten, so stehen sie über den Prozeß der Bildung und Ausbildung jedermann zum kreativen Schreiben zur Verfügung. Ein kenntnisreicher Einblick in das »vorhergegangene innere Arbeiten« (Nietzsche) stellt dann die Bedingung der Möglichkeit in Aussicht, schriftstellerische Kompetenz zu erwerben. Allerdings ist Kants Selbstverständnis von einer solchen Aussicht weit entfernt. Ja, eher wird das gerade Gegenteil angenommen. »Schöne Kunst«, daran läßt Kant keinen Zweifel, ist nur als »Kunst des Genies« möglich. Allein ein »angeborenes produktives Vermögen« (§ 46, S. 405)7 gebe der Kunst die Regeln. Nur wer über eine derartige Gnade der Geburt verfüge, könne Regeln und literarische Überlieferung 5
Dieser Zusammenhang kann hier nur skizziert werden. Vgl. dazu ausführlich: Holger Rudloff, Produktionsästhetik und Produktionsdidaktik. Kunsttheoretische Voraussetzungen literarischer Produktion (Habil.-Schrift, Köln 1987; Frankfurt 1988 in Vorbereitung). 6 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In: Kant, Werke in zehn Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Darmstadt 1968.- Im Text beziehen sich die Seitenzahlen auf diese Ausgabe; KdU = Kritik der Urteilskraft. 7 Zur Ingenium-Tradition vgl. zusammenfassend: Edgar Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926.
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scheinbar mühelos in die eigene Diktion einschmelzen. Es ist unschwer ersichtlich, wie sehr Kants Annahme einer exklusiven Dichterpersönlichkeit mit den oben einleitend genannten aktuellen Vorurteilen gegen kreatives Schreiben an Schulen und Hochschulen übereinstimmt. Aber hier liegt nur eine halbe Wahrheit. Wer sich zur Abstützung der These von den genialen Gemütsanlagen an Kant orientiert, ebnet die in der KdU selbst vorgetragenen Widersprüche allzu vorschnell ein. Natürlich ist hier durchgängig vom Genie und einer unbewußt schaffenden Natur die Rede. Es gehört jedoch zu den Vorzügen von Kants Schrift, daß sie, als eine der frühen Auseinandersetzungen mit den Bedingungen literarischer Produktion und Rezeption in der bürgerlichen Gesellschaft, die Brüche und Geburtswehen ihrer Entstehung unverblümt entfaltet. An ihnen kann sich eine kritische Analyse orientieren. So drückt Kant in aller Deutlichkeit aus, daß der ästhetische Schein als Schein hergestellt werden muß. Der Widerspruch des Kunstwerks, auf Kriterien der zweckmäßigen und handwerklichen Planung aufzubauen, diese jedoch durch den Schein zu verdecken, wird in der KdU direkt angesprochen. Ein ausführliches Zitat mag das verdeutlichen: Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d. i. schöne Kunst muß als Natur a n z u s e h e n sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist. Als Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle P ü n k t l i c h k e i t in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Produkt das werden kann, was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne P e i n l i c h k e i t , ohne daß die Schulform durchblickt, d. i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe. (§ 45, S. 405)
Führt man sich die hier getroffenen Bestimmungen über den künstlerischen Arbeitsprozeß noch einmal dezidiert vor Augen, so lassen sich aufschlußreiche Hypothesen entwickeln. Von der Tätigkeit des Genies heißt es, sie sei 1.1 in der »Zweckmäßigkeit« »absichtlich«, 1.2 »alle Pünktlichkeit in der Übereinstimmung mit Regeln« werde »angetroffen«, 1.3 »die Regel [habe] dem Künstler vor Augen geschwebt«. Und über das abgeschlossene Werk erfährt man, 2.1 es dürfe »nicht absichtlich scheinen«, 2.2 »schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein«, 2.3 »ohne daß die Schulform durchblickt«, 2.4 »ohne eine Spur zu zeigen«. Die Gegenüberstellung macht transparent, was das Kunstwerk durch den ästhetischen Schein verdeckt. Zum einen betrifft es die Regel, zum
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anderen das Hergestelltsein überhaupt, die ausgeführte Arbeit. Indem gerade die Arbeit verdeckt wird, treten jene entscheidenden Merkmale in den Hintergrund, die den Menschen als Menschen kennzeichnen. Dazu gehören vor allem die angesprochenen abbildenden und schöpferischen Potenzen allgemeiner Arbeit, nicht zuletzt das direkt geltend gemachte teleologische Prinzip (vgl. Punkt 1.3). Zur Exklusivität genialen Produzierens erhoben, verdeutlichen sie den zentralen produktionsästhetischen Widerspruch. Wir formulieren ihn durch die folgende Hypothese: Was potentiell allen Menschen zukommt, dürfen nur wenige ausführen. Die Erscheinungsform des abgeschlossenen Kunstwerks - vermittelt durch sinnliche Wahrnehmung - tilgt alle Spuren, die einen möglichen Rückschluß - vermittelt durch rationale Erkenntnis - auf allgemeine Verfügbarkeit künstlerischer Tätigkeit als Arbeit zulassen. So vermittelt der Schein des autonomen Kunstwerks ein Herrschaftsverhältnis. Es kommt in der einschüchternden Formel zum Ausdruck, produktive Einbildungskraft gehöre einer über-menschlichen Dimension an. An dieser Stelle ist jedoch auf einen nicht zu unterschätzenden Einwand einzugehen. Die bisherigen Ausführungen legen das Mißverständnis nahe, künstlerische Tätigkeit solle um den Preis intrumenteller Vernunft zur planbaren Arbeit eingeebnet werden. Schließlich verfügt die KdU über die Kategorie »Geist«. Der »Geist« bringt die Gemütskräfte »zweckmäßig in Schwung« und versetzt sie in ein »Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt« (§ 49, S. 413). Sein besonderes Betätigungsfeld liegt in der Darstellung ästhetischer Ideen. Der »Geist« des Genies sei »in dem glücklichen Verhältnisse, welches keine Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen kann«. Über alle rationale Erkenntnis hinaus formuliere Geniekunst das »Unnennbare in dem Gemütszustande« (§ 49, S. 417 f.). Ein solcher Einwand bringt mit Hilfe der Bestimmungen Kants in der Tat zum Ausdruck, daß kreatives Schreiben nicht durchgängig mit Imperativen der Planbarkeit vereinbar ist. Künstlerisches Produzieren treibt eine vorliegende Regel über sich selbst hinaus, die sich der Planbarkeit entzieht. Dem wird kaum zu widersprechen sein. Aber gerade die Bestimmung des Geistes als Spiel der Gemütskräfte, das sich »von selbst« erhält, kann auf der anderen Seite gerade einen Wahrheitsgehalt im Sinne allgemeinverfügbarer Schreibkompetenzen für sich verbuchen. Denn sie verweist auf eine eigentümliche Dialektik in jedem Schreib- und Denkprozeß. Schreiben und Erkennen gehen ineinander über. Beim Schreiben entdeckt das Subjekt seine Interessen und Bedürfnisse und kommt so zu Ergebnissen, die einen vorher angelegten Entwurf entscheidend modifizieren. Spätestens seit Kleists kleiner Schrift »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Re-
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den« 8 sind derartige Zusammenhänge hinreichend bekannt. Sie betreffen Reden und Schreiben gleichermaßen. 9 Während Kants Kritik die immanenten Widersprüche des GenieGedankens also deutlich formuliert, kleistert sie die literaturwissenschaftliche Überlieferung als einen nicht mehr preisgebbaren Sachverhalt zu. Als ein Beispiel von vielen sei dafür die geistesgeschichtliche Betrachtungsweise von Karl August Korff genannt. Korffs »Geist der Goethezeit« (1923-1940 erstveröffentlicht) beschränkt sich bei der Interpretation des oben zitierten § 45 der KdU auf eine rein »psychologisch^]« 10 Auslegung. Gehört bei Kant der Widerspruch zwischen Arbeit und Zudecken von Arbeit durch den ästhetischen Schein zum festen Bestandteil des theoretischen Selbstverständnisses, so legt Korff einseitig die Gewichte auf psychische Voraussetzungen. Kurzschlüssig wird das »eigentümliche Geheimnis der schönen Kunst« aufgeworfen und zugleich gelöst. Vom Genie als dem »gesetzmäßig fühlende[n] Mensch[en]« erfährt man, dieser trage »die Regeln gleichsam im Blut«. 11 Kants ausführlich problematisierte Gegenüberstellung von Regelbefolgung / ästhetischem Schein und »Geist« wird durch eine Verabsolutierung seelischer Bedingtheiten zurückgenommen. Thematisiert die KdU ausführlich die »Schulform« des Herstellens, deren durch Arbeit bedingte Spuren nur nicht erscheinen dürfen, so mystifiziert die Geistesgeschichte das zum »geheimen Gesetz«: Und nur wo wir einem Ganzen einen Sinn, eine innere Form, ein geheimes Gesetz anmerken, sprechen wir von Kunst. 12
Man erkennt deutlich, wie sehr die Überlieferung alle rational erkennbaren Teile des Produzierens zu nicht mehr herleitbaren Gegebenheiten ummünzt. Geheime Mächte treten an die Stelle einstmals aufklärerischer Gedankengänge. Das betrifft mit der Problematik des Herstellens der Werke zugleich den abzubildenden Ideengehalt. Die Aufklärung bestimmt Schönheit eindeutig nach ihrem Beitrag zur Sittlichkeit (vgl. KdU § 59). In der Nachfolge Kants weist Friedrich Schiller auf ein durch Vernunft und Humanität bestimmtes Ideal des ästhetischen Scheins hin. 13 8
Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: Heinrich von Kleist, dtv-Gesamtausgabe, Bd. 5, hg. v. Helmut Sembdner, München 1964, S. 53-58. 'Vgl. dazu aus aktueller Sicht: Gert Ueding, Rhetorik des Schreibens. Eine Einführung, Kronstein/Ts. 1985, S. 59ff. 10 Karl August Korff, Geist der Goethezeit, 2. Teil: Klassik, Leipzig 1930, S. 471. 11 Ebd., S. 472. 12 Ebd., S. 471. 13 Vgl. dazu ausführlich: Peter Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, Frankfurt 1983, S. 57ff.
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Obwohl hier der Dichter den Status des Verkünders von Wahrheit erhält (also unangreifbar, geradezu zu einer apodiktischen Gewißheit verklärt), ist er jedoch eindeutig dem Ideal einer Humanisierung des öffentlichen Lebens verpflichtet. Auch Schillers Bestimmung, das Kunstwerk solle für den Rezipienten »regelfrei erscheinen«, 14 begreift den humanen Auftrag des ästhetischen Scheins nachhaltig im Sinne einer Erziehung zur Sittlichkeit. Besonders in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« wird dem ästhetischen Schein die Möglichkeit zugesprochen, das durch die entfremdete gesellschaftliche Wirklichkeit zerrissene Zusammenspiel von Verstand, Vernunft und Sinnlichkeit erneut zu re-synthetisieren. So wäre es ein einseitiger Rückschritt hinter die durch Anschauung gewonnene Harmonisierung der Gemütskräfte, wolle man die Regeln des Schönen analytisch erfassen. Diese Position ist in Schillers Kallias-Briefen theoretisch vorbereitet. Hier heißt es zwar: »[...] jedes schöne Produkt muß sich vielmehr Regeln unterwerfen«. 15 Allein in der Anschauung dürfen Zweck und Regelverbindlichkeit nicht erscheinen. Als »frei« kann die Sinnlichkeit nur gelten, wenn »das völlige Abstrahieren von einem Bestimmungsgrund« gegeben ist und der Rezipient nicht veranlaßt wird, »außer dem Dinge« danach zu suchen: »Das schöne Produkt darf und muß sogar regelmäßig sein, aber es muß regelfrei erscheinen ,«16 Daß es sich um einen Schein der Freiheit des Produzierens handelt, ist dem Theoretiker Schiller nur zu bewußt: Nun ist aber kein Gegenstand in der Natur und noch viel weniger in der Kunst zweck- und regelfrei, keiner durch sich selbst bestimmt, sobald wir über ihn nachdenken. Jeder ist durch einen anderen da, jeder um eines anderen willen da, keiner hat Autonomie.' 7
Selbstbestimmung des Schönen offenbart sich als eine Sache der Anschauung; sie endet beim Nachdenken, beim verstandesgeleiteten Aufdecken des zugrundeliegenden Arbeitscharakters. Die freie Produktivität des Genies kann sich also nur solange behaupten, wie die ästhetische Erfahrung des Rezipienten von einer rationalen Bestimmung des Werksetzungsprozesses absieht. Im Sinne der ungebundenen Freiheit der Einbildungskraft muß der Rezipient aber gerade von einer solchen rationalen Bestimmung absehen. In den oben zitierten Textstellen wird ersichtlich, daß »freie« ästhetische Betrachtung nur dann ihren Namen verdient, wenn sie das Kunstwerk so ansieht, als ob es durch sich selbst 14
Friedrich Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. G. Fricke/H. G. Göpfert, München 4 1967, S. 402. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd.
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bestimmt wäre. Eine analoge Bestimmung kommt der künstlerischen Subjektivität zu. Sie erscheint in dem Maße autonom, wie es über das Verdecken von Arbeit gelingt, die Abhängigkeit von Regel und Mühe zu bestreiten. Über den Scheincharakter des geschlossenen Kunstwerks wird gleichzeitig der Schein einer natürlichen Gegebenheit genialer Gemütsanlagen vermittelt. Man wird der Schiller'schen Genie-Ästhetik jedoch nur gerecht, wenn man noch einmal hervorhebt, wie sehr das hier aufgezeigte Problem des Verdeckens von Arbeit als Problem erkannt und formuliert wird. Der Künstler verdeckt um der Wirkung willen den Arbeitscharakter seines Tuns. Und die Wirkung wird eindeutig an der humanistischen Absicht festgemacht, die Zerfaserung der Gemütskräfte, die Entfremdung der gesellschaftlichen Verhältnisse im ästhetischen Medium zurückzunehmen. Ganz anders sieht das in jenem historischen Augenblick aus, in dem Friedrich Nietzsche das Verdecken von Arbeit als »Zauberschlag« kennzeichnet. Seine Zeitgenossenschaft entzieht sich der politischen Reflexion literarischer Wirkung. An die Stelle der literarischen Gestaltung eines »Ideals« ist ein sich selbst genießendes Lebensgefühl getreten, das in der scheinbar unerklärbaren künstlerischen Vision die eigene Zugehörigkeit zur geistigen Elite feiert.18 Die exemplarisch ausgewählten Beispiele der Geistesgeschichte (Dilthey, Korff) verdeutlichten die Aktualität von Nietzsches Kritik. Sie führten zudem vor Augen, wie Teile der literaturwissenschaftlichen Überlieferung die produktionsästhetischen Widersprüche in der Theorie der Spätaufklärung (ästhetischer Schein / Verdecken von Arbeit) zu einer Auratisierung der Künstlerpersönlichkeit einebnen. Wir wollen im folgenden Abschnitt aufzeigen, daß Nietzsche gerade an diesen Widersprüchen festhält. Dabei ist einmal zu klären, wie er den Arbeitscharakter literarischen Produzierens begründet. Zum anderen ist zu fragen, in welchem Maße die Fähigkeit, bestimmte künstlerische Absichten durch Arbeit zu verwirklichen, verallgemeinerbar sein kann. Welche Hinweise werden also gegeben, die Schreibversuche sog. Laien mit gesellschaftlich anerkannter schriftstellerischer Tätigkeit zu vergleichen?
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Vgl. dazu Fußnote 2.
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II Nietzsches Kritik am intuitiv-genialen Schöpfertum setzt mit einer Analyse der Intuition ein. Gegen die »sogenannte Inspiration« verweist er auf die mühsame Kleinarbeit des Zusammenstellens und Auswählens: In Wahrheit produziert die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmäßiges und Schlechtes, aber seine Urteilskraft, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethovens ersieht, daß er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen Ansätzen gewissermaßen ausgelesen hat. [ . . . ] Alle Großen waren große Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen. (M,A, S. 549)
Dennoch stehen die vielseitigen Stufen des Überarbeitens keinesfalls im Widerspruch zu plötzlich eintretender Inspiration. Nietzsche ist weit davon entfernt, die Rolle der Inspiration im künstlerischen Schaffensprozeß generell ins Reich der Metaphysik zu verbannen. Er spürt ihren rationalen Kern auf, indem er Inspiration als eine zeitlich verzögerte Entladung akkumulierter Erfahrungen begreift. Die »Produktionskraft«, so heißt es, habe sich »eine Zeitlang angestaut«, ehe sie sich zur Lösung eines bestimmten Problems ihre Bahn bricht: »Das Kapital hat sich eben nur angehäuft, es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen« (M,A, S. 550). Allein an der Oberfläche erscheint die Inspiration zur Momentaufnahme verkürzt, als ob »ein Wunder sich vollziehe«, »ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten« (ebd.). Es ist diese täuschende Momentaufnahme, der sich die vom Irrationalismus beeinflußten ästhetischen Theorien bis heute bedienen. Die Aktualität von Nietzsches Argumentation wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß neue marxistische Ansätze die Rolle der künstlerischen Inspiration analog einschätzen. Freilich ohne Nietzsche zu nennen, heißt es im »Kulturpolitischen Wörterbuch« der D D R grundsätzlich: Die Intuition ist ein plötzlich auftretender Einfall, der die Lösung eines Schaffensproblems bringt. Dieser Einfall ist durch gedankliche Arbeit vorbereitet, die zunächst für die Lösung eines bestimmten Problems zu keinem Ergebnis zu führen schien. Zu einem späteren Zeitpunkt kann, scheinbar unabhängig von der geistigen Vorarbeit, die Intuition auftreten, die aber ohne die vorangegangene geistige Tätigkeit nicht möglich gewesen wäre. 19
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H. Bühl, D. Heinze, H. Koch u. a. (Hg.), Kulturpolitisches Wörterbuch, Artikel: Schaffensprozeß, künstlerischer. Berlin 1970, S. 471-473; Zitat: S. 472.
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Dem Schein intuitiver Unmittelbarkeit des künstlerischen Schaffensprozesses steht die Einsicht in »geistige Vorarbeiten« (Nietzsche: »vorhergegangenes inneres Arbeiten«) gegenüber. Intuition in diesem Sinne ist keine creatio ex nihilo. Als ein weiterer aktueller Beitrag dazu sei auf eine Notiz Uwe Johnsons verwiesen, die auf bemerkenswerte Weise Einblick in die schriftstellerische Praxis erlaubt. Johnson ersetzt die Begriffe Inspiration oder Intuition durch die Umschreibung »Erfahrung im Prozeß des Erfindens«: [. . .] er ist vergleichbar dem Vorgang der Erinnerung, die eine längst vergessene, in diesem Fall noch unbekannte, Geschichte wieder zusammensetzt, bis alle ihre Leute, ihre Handlungen, ihre Lebensorte, ihre Geschwindigkeiten, ihre Wetterlagen unauflöslich mit einander zu tun bekommen. Dabei ist das Suchen nach der Technik eines Arbeitsvorganges oder nach einer Landschaft als Ort der Handlung als Ermittlung geboten. 20
Künstlerisches Produzieren, wie es der Schriftsteller Uwe Johnson vorführt, vermittelt bewußte mit vor-bewußten Momenten. Ins Erfinden geht die Suche nach einer geeigneten »Technik« der Darstellung ein. Die Aneignung der Erfahrungen und Erinnerungen wird damit als ein bestimmter Arbeitsprozeß gefaßt. Auch wenn nicht letztendlich geklärt wird, wie sich der Produzent »im Suchen nach Technik« verhält, so steht doch außer Frage, daß bestimmte Schreibtechniken als Folie dienen. Einiges spricht dafür, es handle sich um ein Ausprobieren von Zusammenstellungen. Der Schreibende setzt seine Erfahrungen innovativ um, er verfügt über gewisse Bauformen, die es ihm erlauben, den Arbeitsprozeß zu strukturieren bzw. ideell vorwegzunehmen: [. . .] erst wenn die Geschichte in allen Bewegungen und Einzelheiten im Kopf vorbereitet und gesichert ist, bis hin zu ihrem letzten Satz, gibt sie die Erlaubnis, >es bloß noch hinzuschreiben^ 2 '
Auch hier verweisen die Aspekte des Vorbereitens, des Planens und Zusammensetzens auf eine handwerkliche Tradition des Schreibens. Sie stellen das Problem erlernbarer Schreibtechniken als Form subjektiver Geschicklichkeit. Genau das entspricht Nietzsches Absicht, im Herausarbeiten von Details, die erst sukzessive zum Ganzen zusammengesetzt werden, der Literaturproduktion einen »Ernst des Handwerks« zu bescheinigen. Im Handwerk des Schreibens finden die gesellschaftlich anerkannten Kunstwerke ihren gemeinsamen Nenner mit Schreibversuchen sog. Laien. Die vergleichbaren Gemeinsamkeiten beziehen sich allerdings nicht nur auf gewisse Ausformulierungen 20
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Uwe Johnson, Begleitumstände. 1980, S. 127. Ebd., S. 428.
Frankfurter Vorlesungen.
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literarischer Strukturen. Zentral steht die Vergleichbarkeit alltäglicher Lebenswirklichkeit. A m Beispiel der N o v e l l e und von Anekdoten führt Nietzsche das exemplarisch vor: Das Rezept zum Beispiel, wie einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu geben, aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt >ich habe nicht genug Talente Man mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen, keinen länger als zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, daß jedes Wort darin notwendig ist; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man es lernt, ihre prägnanteste, wirkungsvollste Form zu finden; man sei unermüdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere; man erzähle vor allem so oft es möglich ist und höre erzählen, mit scharfem Auge und Ohr für die Wirkung auf die anderen Anwesenden, man reise wie ein Landschaftsmaler und Kostümzeichner; man exzerpiere sich aus einzelnen Wissenschaften alles das, was künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke endlich über die Motive der menschlichen Handlungen nach, verschmähe keinen Fingerzeig der Belehrung hierüber und sei ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser mannigfachen Übung lasse man einige zehn Jahre vorübergehen: was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf auch hinaus in das Licht der Straße. (M,A, S. 555) Vorliegende Ausführungen sind nicht frei von möglichen Mißverständnissen. Das betrifft primär die Verwendung des Begriffs »Rezept«. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, es handle sich hier wie bei e i n e m Kochrezept u m die Auflistung von Zutaten, die nur gut zusammengerührt werden müßten. Das ist jedoch nicht der Fall. Der Term i n u s »Rezept« fungiert als ein Kampfbegriff gegen geniales Produzieren, gegen Inspirationslehren und enthusiastische Schwärmerei. Einiges spricht dafür, daß der oben zitierte Zusammenhang auf den produktionsästhetischen Konflikt zwischen Piaton und Aristoteles verweist. 2 2 Bereits die Aristotelische »Poetik« stellt unter Berufung auf den handwerklichen Charakter (poiesis) des dichterischen Hervorbringens gewisse Arbeitsregeln für den Dichter auf. Sie stimmen in wesentlichen Positionen mit Nietzsches Anleitungen überein. Stichpunkte sind hier die Studien über die Wirkung des Dargestellten, die Beobachtung der Charaktere und der Motive menschlichen Handelns, nicht zuletzt die Empfehlungen zum A u f b a u eines Handlungsgerüsts. Besondere Bedeutung k o m m t dem Hinweis des Aristoteles zu, die Ausarbeitung der Werksetzung schrittweise vorzunehmen. D i e einzelnen Teile sollen für sich auf dem Hintergrund des Ganzen formuliert werden. 2 3 Gerade das macht bei Nietzsche den angesprochenen »Handwer22
Vgl. dazu den direkten Verweis Nietzsches auf Piatons Enthusiasmus-Lehre (M,A, S. 557). 23 Vgl. Aristoteles, Poetik. Übersetzung von Olof Gigon, Stuttgart 1961, Kapitel 17 u. 18, S. 48ff. - Dieser Zusammenhang kann hier nur angedeutet werden. Vgl. dazu ausführlich: Holger Rudioff, Produktionsästhetik und Produktionsdidaktik, a. a. Ο.
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ker-Ernst« aus. Er besteht in der sukzessiven Herausbildung der Einzelteile, im Entwerfen, Verwerfen, Sammeln und Verknüpfen. Damit ist gerade ein mechanischer Rezeptcharakter literarischen Produzierens in Frage gestellt. Denn angenommen, es gäbe ein verbindlich feststehendes Rezept, so würden sich ja gerade die mühsamen und als langfristig ausgewiesenen Stadien des Sammeins und Verwerfens erübrigen. Demzufolge ist die Auslegung zulässig, daß der Begriff »Rezept« sich nicht auf ein rein reproduktives Auffüllen vorgegebener Kriterien als Anleitung zur Literaturproduktion bezieht. Vielmehr liegt es nahe anzunehmen, es gehe um Arbeitsverfahren, die theoretisch vom Werk abhebbar sind. Durch die Methode der Abstraktion können handwerkliche Kriterien gewonnen werden, die als solche verallgemeinerbar (und erlernbar) sind. Die konkreten Bedingungen der individuellen Anwendung bleiben davon unberührt. Entscheidend ist, daß der Schaffensprozeß anerkannter Genies mit der potentiellen Erlernbarkeit literarischen Produzierens argumentativ verflochten wird. Auf diesem Hintergrund erscheint eine mögliche Verallgemeinerbarkeit künstlerischer Tätigkeit nicht mehr ausgeschlossen zu sein. Die vorliegende Vermutung kann zusätzlich durch Nietzsches These abgestützt werden, die Reflexion der Schaffensschritte erlaube es, literarisches Produzieren mit wissenschaftlicher Erkenntnis zu vergleichen. Diesen Grundzug der Moderne spricht Nietzsche direkt aus. Dem Glauben an göttlichen und begnadeten Ursprung der Dichtung hält er entgegen, daß dieser »die Wissenschaft [haßt]« (M,A, S. 551). Nur durch die rigide Abwehr wissenschaftlicher Bezugspunkte sei dichterische Tätigkeit als übermenschliche Kraft ausweisbar. Literaturproduktion teile mit wissenschaftlicher Tätigkeit die Notwendigkeit strenger und mühevoller Disziplin. Eine einzigartige Metaphorik unterstützt diesen Gedankengang: Man schreibt ihnen [den »großen Geistern«, H. R.] wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung, zu und glaubt, daß sie ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges und Entscheidendes über Mensch und Welt mitteilen könnten.« (M,A, S. 556)
Die Parallelsetzung von künstlerischer und wissenschaftlicher Tätigkeit verleitet Nietzsche jedoch nicht zu dem simplen Analogieschluß, ihre jeweilige Besonderheit widerspruchslos einzuebnen. Kunstproduktion geht weder in Reproduktionswissen noch in erlernbarer Anwendung restlos auf. Über wissenschaftliche Erkenntnis hinaus bedarf Kunst eines schöpferischen Subjekts, das über persönliche Einsichten, Emotionen, erworbene Bildung und Erinnerung verfügt. Diese konstitutive Rolle subjektiver Erkenntnis und Gestaltung stützt Nietzsche ab, indem er nach den materiellen Bedingungen fragt, die die Persönlich-
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keit des Schriftstellers geprägt haben. Es sind eben keine metaphysisch oder genetisch verbrämten Qualitäten, sondern »rein menschliche Eigenschaften«. Oft befördert gerade erst die Gunst der Stunde literarische Produktivität: Für große Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten: also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, großer persönlicher Mut, sodann das Glück einer Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig darbot. (M,A, S. 556)
Nietzsches Versuch, die Umstände künstlerischen Schaffens zu analysieren, besitzt einen ausgeprägt antispekulativen Charakter. Gegen den gründerzeitlichen Personenkult verlagert sich das Interesse auf die Abhängigkeit der Kunst von Bildung und Erziehung. Das »Glück« der »großen Geister« besteht weniger in einer schicksalhaften Fügung, es erscheint als das Resultat von Sozialisationszusammenhängen. Gestaltung und Aneignung der Wirklichkeit wird nicht mehr als ursprüngliche Natur eines Genies ausgegeben, sondern als eine Verfahrensweise, die bearbeitete Natur (das ästhetische Material, das gesellschaftliche Individuum) zur Grundlage hat. 24 Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Nietzsche der Wahrnehmungstäuschung genialen Produzierens eine rationale Einsicht in das Gewordensein der Literatur entgegenhält. Das betrifft zum einen die Erklärung des künstlerischen Subjekts. »Glücksumstände« der Sozialisation sind primär für seine Ausbildung verantwortlich. Zum andern wird Kunst durchgängig als ein durch Arbeit erworbenes Können erklärt. Mit dem Hinweis auf den handwerklichen und wissenschaftlichen Arbeitscharakter verbindet sich die erkenntnisoptimistische Annahme einer Befreiung literarischen Produzierens aus der Vormundschaft des Exklusiven, einer Befreiung von der Einschüchterung durch Literatur. Literaturproduktion wird potentiell zu einer Tätigkeit, die erlernbar ist (»Handwerker-Ernst«) und jedermann offensteht. Die Aktualität der Kritik Nietzsches spiegelt sich abschließend noch einmal in einer essayistischen Notiz Umberto Ecos über den literarischen Arbeitsprozeß: 24
Nietzsches Entmystifizierung des künstlerischen Genies findet in der Gegenwart ein theoretisches Pendant in den Schriften Paul Valerys »Zur Theorie der Dichtkunst« (Frankfurt/M. 1975). Valery argumentiert gegen übernatürliche Kräfte im Gestaltungsprozeß, indem er seelische Antriebspotentiale und die Verfügung über künstlerische Mittel geltend macht. Im Gegensatz zu Nietzsche jedoch, der die »großen Geister« so eindringlich zur bescheidenen Einsicht in ihre »Glücksumstände« ruft, setzt Valery auf den Stolz (orgueil) als Motor individuellen Produzierens. Durch diese zentrale Kategorie wird dem Glauben an eine Sonderpersönlichkeit erneut Vorschub geleistet.
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Wenn ein Autor behauptet, er habe im Rausch der Inspiration geschrieben, lügt er. Genie ist zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration. Lamartine schrieb einmal, ich weiß nicht mehr, über welches seiner Gedichte, es sei ihm spontan eingefallen, urplötzlich in einer stürmischen Nacht im Walde. Als er gestorben war, fand man seine Manuskripte mit zahlreichen Korrekturen und Varianten, und besagtes Gedicht erwies sich als das vielleicht am meisten >bearbeitete< der gesamten französischen Literatur. 25
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Umberto Eco, Nachschrift zum >Namen der RoseWorkshop< bieten wir begabten Schreibenden die Möglichkeit, mit anerkannten Dichtern und/oder Schriftstellern zu arbeiten und von ihnen zu lernen. Wenn wir auch zum Teil der weit verbreiteten Annahme zustimmen, daß Schreiben nicht gelehrt werden kann, so ist für uns und unsere Arbeit doch grundlegend, daß Begabungen entfaltet werden können. In diesem Licht sehen wir auch unsere Möglichkeiten und Grenzen als Lehrstätte. Wenn man >lernen< kann, Geige zu spielen oder zu malen, dann kann man auch schreiben >lernenacademic/studioteilenÜbungsgedicht