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German Pages 276 [270] Year 2014
Maria Imhof Schneller als der Schein
• machina
I Band 6
Editorial Das lateinische Wort »machina« bedeutet - wie seine romanischen Entsprechungen - nicht nur Maschine, sondern auch List, bezeichnet zugleich den menschlichen Kunstgriff und das technische Artefakt. Die mit diesem Wort überschriebene Reihe versammelt Studien zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft in technik-und kulturanthropologischer Perspektive. Die darin erscheinenden Monographien, Sammelbände und Editionen lassen sich von der Annahme leiten, dass literarische, theatralische, filmische oder andere mediale Produktionen nur mit gleichzeitiger Rücksicht auf ihre materielle Gestalt und ihren kulturellen Gebrauch angemessen zu beschreiben sind. Die Reihe wird herausgegeben von Irene Albers, Sabine Friedrich, Jochen Mecke und Wolfram Nitsch.
Maria Imhof (Dr. phil.) lehrt Italienische und Spanische Literaturwissen schaft an der Universität zu Köln.
MARIA IMHOF
Schneller als der Schein Theatralität und Beschleunigung in der spanischen Romantik
[ transcript]
Zgl. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln.
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MEINEN ELTERN IN LIEBE
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
111
EINLEITUNG: XPONOL UND TEXNH
113
1.
MEDIUM, RAUM, ZEIT I 25
1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.3.1 1.1.3.2
Theater als Mediendispositiv I 25 Medium und Theatralität I 25 Medienvergessenheit und Medienpräsenz I 29 Theaterraum - Theaterzeit I 31 E>w1pov: Schauraum Theater I 31 Raurn-Zeitverhältnisse und Zeitdimensionen I 36
1.2
Technik als Beschleunigung und Beschleunigung als Technik I 39 Beschleunigungserfahrung als soziale Erfahrung I 39 Phänomenologie der Beschleunigung I 44 Technische Beschleunigung: Ursprung allen Übels ? 144 Beschleunigung des sozialen Wandels und I 48 Reaktionen: Beschleunigung des Lebenstempos I 51 Folgen: Verzeitlichung von Identität I 57
1.2.1 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.2.4
FAZIT: THEATER ALS AKZELERATIONSZIRKEL 160
2.
BESCHLEUNIGUNG UND THEATER 165
2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2
Die Flügel des Chronos I 65 Technik als Akzeleration: Peri6dico und Postkutsche I 80 Akzeleration als Technik: Das Theater von innen I 88 Kulisse als Kunst, Schauspiel als Technik 188 Bühne und Bildmedium: Illusion und Maschine I 92
2.4 2.4.1 2.4.2
Das Theater von außen I 98 Publikum und Presse I 98 Theater im Bild 1101
FAZIT: ZEITERFAHRUNG, ZEITGESTALTUNG UND DER SCHEIN 1107
3.
NICHT SCHNELL GENUG: DON ALVARO 0 LA FUERZA DEL SINO (1835) 1113
3.1 3.2 3.3 3.4
Vorhang aufl Theatralität und Räumlichkeit 1114 Beschleunigung und Theatralität 1122 Fluch(t)wege ohne Zukunft 1128 La prez de Espafia? Un enviado del infierno? Räume und Identitätskonstrukte 1138 Velociferisch! Schnelligkeit und Zeitdruck 1145
3.5
FAZIT: DIE VERNICHTUNG DES RAUMES DURCH DEN ROMANTISCHEN HELDEN 1150
4.
DER GEBREMSTE SCHNELLSEGLER: SIMÖN BOCANEGRA (1843) 1155
4.1 4.2
Beschleunigte Dramenproduktion 1157 Besprochene Fiktionsräume: Der Seemann und die Adelige 1160 Politische Macht statt romantischer Liebe 1165 Sirnon als Akzelerationssubjekt 1169 Greifbare Gegenwartsschrumpfung 1174 Ein schneller Greis: Fiesco 1176 Erzwungene Entschleunigung: Sirnon 1179 Beschleunigung der Kommunikation: Die Briefe und der Wind 1183 Beobachtete Beobachter 1186
4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9
FAZIT: DIE AKZELERATION DER ZEIT DURCH DEN ROMANTISCHEN HELDEN 1193
5.
IMMER MIT DER EILE: DON JUAN TENORIO (1844) 1195
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
Ein romantischer Don Juan? 1197 Strategien der Zeitmanipulation I 203 Verweile mit Eile: Keine Zeit für Verführungsszenen I 203 Strategie der Sieger: Multitasking I 210 Die Ungeduld und die Uhr 1211 Der Spieler I 213
Ambivalente Grenzziehungen I 223 Juans Inszenierungen: Die Maske, der Schauspieler und der Regisseur I 223 5.3.2 Juan und die Bühnentechnik 1231 5.3.2.1 Pantheon und Sanduhr: Raumausstattung, der Zeit enthoben I 231 5.3.2.2 Körper und Kulisse I 236 5.3.2.3 Die perfekte Maschinistin I 238 5.3. 5.3.1
FAZIT: DIE VERNICHTUNG DES ROMANTISCHEN HELDEN DURCH DIE TECHNIK I 242
>NACHBLICK>Opfersteuern und Gebetshauch« (Goethe: Prometheus) oder gar Darstellungen erhalten, wodurch er andererseits, weniger >>kümmerlich« als jene genährt, seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit bewahren konnte. Und so hat er es geschafft, gemäß seiner Natur als Zeitgott all die hofierten olympischen Brüder und Schwestern zu überdauern. Im Gegensatz zu diesen nämlich huldigen wir ihm auch heute noch, selbst wenn er das weitgehend abstrakte Prinzip >Zeit< geblieben ist, das er bereits für die Griechen war.2 Seine die Jahrhunderte überdauernde unge-
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2
Zu Chronos und seinen bildliehen Darstellungen vgl. >>Chronos«, in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 1, Stuttgart: Druckemüller 1964-1975, S. 1166; Manuel Bendala Galan: >>ChronoSChronos«, in: Der kleine Pauly, S. 1166, sowie Bendala Galan: >>Chronosden Vater allerUnd die Jahre werden verkürzt, werden gleichsam zu Monaten, und Monate zu Wochen, und Wochen zu Tagen, und Tage zu StundenChronoSKair6s«, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC), Bd. 5.1, S. 920-926, die Abbildungen dazu in Bd. 5.2, S. 597f.; auch >>Kair6s>Teatros«, in: Figaro. Colecci6n de artfculos dramaticos, literarios, politicos y de costumbre, hrsg. v. Alejandro Perez VidaljLeonardo Romero (Biblioteca Clasica 92), Barcelona: Critica 1997, S. 464-466. 15 Vgl. Paul Valery: Werke, hrsg. v. Jürgen Schmidt-Radefeld, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989-1995, Bd. 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, 1995. Goethe lässt Eduard in den in den Wahlverwandtschaften den beschleunigten sozialen Wandel und den schnellen Verfall scheinbar gesicherten Wissens beklagen, vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, 1. Teil, 4. Kapitel, in: Goethe. Werke, Bd. 3: Faust I und II. Die Wahlverwandtschaften, hrsg. v. Albrecht SchönejWaltraut Wiethölter, Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 431f. 16 Vgl. Hans Jörg Neuschäfer: >>Das 19. JahrhundertProjekt der Moderne< darzustellen und sich rückwärtsgewandt in Verweigerung zu ergehen, sondern ganz im Gegenteil eine fruchtbare Synthese aus affirmativer Rezeption von Geschwindigkeitsmanifestationen- wie am Einsatz einer verbesserten Bühnentechnik zum schnellen Szenenwechsel abzulesen - und einer Inszenierung des Unbehagens, das die technisierte beschleunigte Welt hervorruft, darzustellen.21 Dazu muss die Geschichtsebene der Dramen von der Vermittlungsebene bewusst unterschieden werden. Seit dem spatial turn ist die Beschäftigung mit der Zeit einige Jahre ein wenig aus der Mode gekommen, da gerechterweise der lange vernachlässigte Raum nun eingehende Betrachtung erfährt_22 Dennoch erscheinen in den letzten Jahren auch wieder verstärkt Studien zur Zeiterfahrung in der modernen Gesellschaft, die vor allem aus historischer oder soziologischer Per-
20 Diese Überlegungen speisen sich aus den Ergebnissen einer Arbeitsgruppe zur Medialität, in deren Umfeld auch ein Band zur Theatralität entstanden ist: Jörg DünnejSabine FriedrichjKirsten Kramer (Hrsg.): Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009; eine weitere Veröffentlichung steht noch an, vgl. Sabine FriedrichjK:irsten Kramer (Hrsg.): La teatralidad desde una perspectiva hist6rica de los medios, Kassel: Reichenherger [in Vorbereitung]. 21 Vgl. auch Urte Helduser!Johannes Weiß (Hrsg.): Die Modernität der Romantik, Kassel: Univ. Press 1999 und im Bezug auf die französische Romantik Rainer Zaiser (Hrsg.): Die Modernität der französischen Romantik als imaginatio borealis, Frankfurt a. M.: Lang 2007. 22 Stellvertretend für viele nützliche Veröffentlichungen zum Raum Hans-Christian von Herrmann: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München: Fink 2005; Jörg DünnejStephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006; NeumannjMülder-Bach (Hrsg.): Räume der Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007; Jörg DünnejSabine Friedrichj Kirsten Kramer (Hrsg.): Theatralität und Räumlichkeit; Verena DollejVerena Helfrich (Hrsg.): Zum spatial turn in der Romanistik. Akten der Sektion 25 des XXX. Romanistentages (Wien, 23.27. September 2007), München: Meidenbauer 2009; Wolfgang HalletjBirgit Neumann (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009.
EINLEITUNG
I 21
spektive auch den Raum nicht völlig ausklammern,23 und Vergils >tempus fugit< ist sogar so populär, dass es Aufnahme in kommerziellen Medien findet.24 Im Theater ist die Trennung von Raum und Zeit deshalb auf Dauer schwierig und nur bedingt sinnvoll, da diese eng zusammenspielende Faktoren der theatralen Aufführung und Kommunikation sind. 2S So ist es ein Anliegen dieser Studie, eine Synthese aus verschiedenen Ansätzen zu versuchen, die für das Theater, insbesondere das Theater des 19. Jahrhunderts, fruchtbar zu machen sind. Auf der Grundlage einer bereits erfolgten Differenzierung soll der Zusammenhang zwischen den im Theater so eng zusammenwirkenden Kategorien Raum, Zeit und Medium untersucht werden. Bei aller dramatischen »Fürsorge für den Raum« besteht gerade im romantischen Theater die Tendenz zur Pluralisierung der Schauplätze, die einen Verlust des theatralen Raumerlebnisses zur Folge haben.26 Gerade durch die Pluralisierung der Räume aber beschleunigt das romantische Theater seine Sujets in wesentlichem Maße und dehnt nicht nur den bespielten Raum auf einen >Fernraum< aus, sondern auch die Zeit, die die Handlung in Anspruch nimmt. Die Definition von Beschleunigung als >Vernichtung des Raumes durch die Zeit< erfährt hier eine weitere Dimension durch die >Dramaturgie der WanderungDramaturgie der Wanderung< siehe Wolfram Nitsch: >>Nachbemerkung. Raumwechsel mit Zuschauer«, in: DünnejFriedrichjKramer (Hrsg.): Theatralität und Räumlichkeit, S. 251-254.
22 I SCHNELLER ALS
DER SCHEIN
ten, sich den veränderten Umständen anzupassen, scheitert in den meisten Fällen. So inszenieren romantische Dramen Beschleunigung auch in ihrer beunruhigenden Form und stellen so die Ambivalenz der Erfahrung aus. Auch die beweglichen romantischen Helden der in dieser Arbeit behan· delten Dramen sind durch ihre Mobilität gekennzeichnet, darüber hinaus aber auch wie andere mit Berufen versehen, die sie per se zu schnellem Orts· wechsel befähigen:2s Sirnon Bocanegra ist Seefahrer, Don Alvaro reist gar aus Übersee an, und Don Juan Tenorio kennt man als (proto)typischen Vertreter des schnellfüßigen Ortswechsels, der sich weder an sozialen Standesnoch an topographischen Landesgrenzen aufhält. Die geschwinden romantischen Helden stehen stellvertretend für Reaktionen auf und den Umgang mit der beschleunigten Zeit: Don Alvaro unterliegt trotz dämonischer Schnelligkeit der beschleunigten Zeit und erscheint damit als Verwandter von Rugiero (La conjuraci6n de Venecia) oder Manrique (El trovador); der gebremste Schnellsegler Sirnon Bocanegra unterliegt einer erzwungenen Entschleunigung durch seinen Eintritt in die Politik, reagiert mit (temporärem) Ausstieg aus der beschleunigten Welt und findet in Marsilla (Los amantes de Teruel) einen vergleichbaren Heldentypus, der im Drama verletzt und ohnmächtig eingeführt wird. Allerdings fungiert Bocanegra im Hauptteil des Dramas auch für andere Figuren als Zeitverkürzer und erscheint ihnen dämonisch aufgrund seines souveränen Zeitmanagements. Die spielerische Figur Don Juan Tenorio zeigt darüber hinaus viele Strategien der Zeitmanipulation und des Zeitgewinns auf. Scheitern die meisten romantischen Helden an der beschleunigten Gegenwart, so treibt er selbst die Ereignisse noch an, so dass er den anderen Figuren nicht nur immer einen Schritt voraus ist, sondern diese Beschleunigung auch nicht als Druck empfindet; für ihn ist sie inspirierende spielerische Herausforderung, und so ist er niemals der Überwältigung durch Figuren oder Zeit ausgesetzt, sondern nur durch die Bühnentechnik selbst zu besiegen. Don Juan besitzt nämlich eine Eigenschaft, die heute immer wesentlicher wird: Er ist multitaskingfähig.
28 Nach Lotman hat die bewegliche Figur grenzüberschreitenden und damit sujetbildenden Charakter, während die klassifikatorischen Figuren der Etablierung und Stabilisierung der (Raum-)Ordnungen dienen und diesen unbeweglich zugeordnet sind. Daher nennt Lotman bewegliche Figuren >Handlungsträger< oder >Helden>Theatralität aus mediengeschichtlicher Perspektive« zugrunde, die inzwischen in Zusammenarbeit mit der 2002 an der Ludwig-Maximilians-Universität München gegründeten Arbeitsgruppe >>Raum Körper - Medium« einen Sammelband herausgegeben und einen weiteren in Vorbereitung hat, vgl. den oben erwähnten Band Jörg DünnejSabine Friedrichj Kirsten Kramer (Hrsg.): Theatralität und Räumlichkeit; Sabine FriedrichjKirsten Kramer (Hrsg.): La teatralidad desde una perspectiva hist6rica de los medios [in Vorbereitung]; siehe ferner Sabine FriedrichjKirsten Kramer: >>Theatralität als mediales Dispositiv. Zur Emergenz von Modellen theatraler Performanz aus
26 I SCHNELLER ALS
DER SCHEIN
diale Kunstform kann auf unterschiedlichen Ebenen untersucht werden, denen je eine bestimmte Perspektive zugrunde liegt, und soll hier nicht nur aufgrund der Kommunikation auf Textebene betrachtet werden, sondern auch unter Einbeziehung seiner aufführungsspezifischen Erscheinungsform.2 Der Rahmen der theatralen Aufführungssituation lässt sich anhand von vier zusammenwirkenden Aspekte beschreiben, die hauptsächlich in und auf der Grundlage von den Studien Erika Fischer-Lichtes erarbeitet wurden:J Auf der Seite der Produktion stehen dabei >InszenierungKörperlichkeit< oder >VerkörperungWahrnehmungPerformanz< wird als Überbegriff verwendet, da erst durch das spezifische Zusammenspiel der anderen drei Aspekte die spezifisch theatrale Performanz von anderen Formen kultureller Performanz abgrenzbar wird. Die Inszenierung betrifft Gestaltung und Ausstattung der Bühne, also Bühnenbild und Bühnentechnik, während der Aspekt der Körperlichkeit die Bewegung und räumliche Organisation der Körper auf der Bühne, sowie deren sprachliche Äußerungen betrifft. Die Präsentation der Körperlichkeit bewegt sich zwischen den Polen einer dominant leiblichen Präsenz der Körper und der Verkörperung einer Rolle, wodurch zwei zu differenzierende Aspekte des Theatralen betont werden. Die Wahrnehmung als Aspekt der Rezeptionsseite beschreibt die Relation zwischen Zuschauerraum und Bühnenraum, die historisch unterschiedliche Ausprägungen erfahren kann und nicht unwesentlich von der Bühnenform und damit verbundenen mehr oder weniger ausgeprägten Grenzziehungen konstruiert wird. 4
2 3
4
medienhistorischer Perspektive«, in: Henri SchoenmakersjStefan BläskejKay Kirchmann!Jens Ruchatz (Hrsg.): Theater und Medien. Theatre and the Media. Grundlagen - Analysen - Perspektiven. Eine Bestandsaufoahme, Bielefeld: transcript 2008, S. 67-84. Allgemeine Betrachtungen zum Theater und seinen Erscheinungsformen liefert nach wie vor kompakt Manfred Pfister: Das Drama, München: Fink 71988. Vgl. die Arbeiten Fischer-Lichtes: Ästhetische Eifahrung. Das Semiotische und das Peiformative, TübingenjBasel: Franke 2001, S. 291-343, Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, TübingenjBasel: Franke 2004, S. 7-26, Diskurse des Theatralen, TübingenjBasel: Franke 2005, S. 11-32; und die einführenden Erläuterungen von DünnejKramer in: DünnejFriedrichjKramer: Theatralität und Räumlichkeit, S. 15-32. So ist die Abgrenzung des Bühnenraums bei der Form der Gucldcastenbühne stärker ausgeprägt als in frühneuzeitlichen Bühnenformen oder dem Shakespearetheater, da der Vorhang als materielle Grenze und die Rampe als >vierte Wand< etabliert werden. Zu den unterschiedlichen Bühnenformen Pfister: Das Drama, S. 41-45; ausführlich Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München: Fink 2005, sowie DünnejKramer: >>Einleitung«, S. 23-26.
MEDIUM, RAUM, ZEIT
I 27
Die Grundlage für die Beschreibung der medialen Dimension des Theaters bilden kulturanthropologische Medientheorien wie die Marshall McLuhans, die Medien als prothetische Extensionen des menschlichen Körpers fassen.s Neuere Arbeiten betonen, dass Medien bestehende Körperfunktionen nicht einfach exteriorisieren oder erweitern und somit eine Leistungssteigerung erzielen, sondern vielmehr im Zusammenspiel von Körpern und techni· sehen Artefakten etwas Neues erzeugen, das Auswirkungen auf die Wahrnehmung und den Weltbezug des Benutzers hat. Das Theater wird so als Mediendispositiv beschreibbar, in dem Körper in ihrer Koppelung an technische Apparaturen nicht nur Räume konstituieren, sondern auch durch ihre Materialität einen Mehrwert an Bedeutung erzeugen.G Im 19. Jahrhundert betrifft dieses Zusammenspiel nicht nur das Theater, sondern auch neue optische Geräte, die den Körper als konstitutives Element einer Maschine quasi einverleiben. So verweisen Apparate wie das Stereoskop oder später der Photoapparat auf den radikalen Bruch in der Konzeption des Sehens und des Betrachters, einen Bruch, der auch die Grenzziehungen im Theater affiziert. Die Wissenschaft trennt im 19. Jahrhundert die Untersuchung des Lichts von derjenigen des Sehens. Während das Licht der physikalischen Optik zugeordnet wird, erscheint das menschliche Auge als Gegenstand physiologischer Studien.? Die Apparaturen, die zur Untersu-
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Vgl. dazu, noch immer aktuell, Marshall McLuhan: Understanding media. The extensions ofman, CambridgejLondon: MIT Press 1964/2001. Dazu auch die Arbeiten von Sibylle Krämer, die das Medium als Apparat definiert, als ein Instrument, mit dem wir künstliche Welten erzeugen können, die neue Erfahrungen und neue soziale und kulturelle Interaktionsformen eröffnen. Impliziert ist darin, dass Medien einen Überschuss an Bedeutung produzieren, der sich der Kontrolle der Benutzer entziehen kann. Aufgrund ihrer Materialität sagen Medien mehr, als ihr Benutzer intendiert. Der kulturelle >Mehrwert< des Mediums beruht darauf, dass sich im Gebrauch materieller und technischer Medien ein signifikanter Bruch mit bestehenden Wahrnehmungs- und Kommunikationskonventionen vollzieht: So generiert beispielsweise das Panorama eine völlig neue Seherfahrung, Stereoskope verändern den Benutzer, indem das Sehen individualisiert wird. Vgl. dazu Sibylle Krämer: >>Das Medium als Spur und als ApparatDas Panorama. Die Anfänge der modernen Sensomotorik um 1800Weg der Farbe< bei Goethe auch Joseph Vogl: >>Der Weg der Farbe (Goethe)«, in: NeumannjMülder-Bach (Hrsg.): Räume der Romantik, s. 157-168. 8 FriedrichjKramer: La teatralidad desde una perspectiva hist6rica de los medios [in Vorbereitung]. 9 Kirsten Kramer!Jörg Dünne: >>Einleitung. Theatralität und Räumlichkeit«, in: DünnejFriedrichjKramer (Hrsg.): Theatralität und Räumlichkeit, S. 15-32. 10 Im Anschluss an Paechs Interrnedialitätsbegriff, sowie die Ausführungen von Balme und KramerjDünne: >>Einleitung«, S. 17, kann das Theater als intermediales Gefüge verstanden und beschrieben werden, was in der Romantik vor allem durch die Aufnahme der Panoramatechnik dokumentiert ist, vgl. Joachim Paech: >>lntermedialität. Mediales Differential und transformative Figurationen«, in: Jörg Helbig (Hrsg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären For-
MEDIUM, RAUM, ZEIT
I 29
ihrerseits prägen Sehgewohnheiten, die auch kulturelle Praktiken außerhalb des Theaters betreffen. Insofern charakterisiert sich das theatrale Mediendispositiv auch durch einen intermedialen Bezug.
1.1.2 Medienvergessenheit und Medienpräsenz Charakterisiert sich die theatrale Aufführung durch die Interaktion verschiedener medialer Elemente, so bestehen im Hinblick auf die bewusste Wahrnehmung, beziehungsweise die >Sichtbarkeit< der Medialität Abstufungen. Dabei kann unter Bezug auf Wolfgang Matzatzwischen den Polen der dramatischen Perspektive auf die vermittelte Handlung und die vermittelten Gegebenheiten der Bühne und der theatralischen Perspektive unterschieden werden.l 1 Während die dramatische Perspektive sich auf die dramatische Handlung und die Repräsentation der dargestellten Bühnenwelt einlässt und die Theatersituation somit ausblendet, also gleichsam durch einen Status der >Medienvergessenheit< charakterisiert ist, fokussiert die theatralische Perspektive den Aufführungscharakter selbst. Dabei lassen sich zwei weitere Pole innerhalb der theatralischen Perspektive ausmachen, ausgelöst je nach Manifestationsgrad der Medialität des Theaters, als Medienaktualisierung durch besondere Bühneneffekte oder gar als Medienreflexivität durch die autoreferentielle Selbstthematisierung des Mediums.l 2 Im Theater des 19. Jahrhunderts scheint Medienaktualisierung und Medienreflexion insbesondere an technische Beschleunigung angebunden und
schungsgebiets, Berlin: Erich Schmidt 1998, S. 14-30; Christopher Balme: >>Theater zwischen den Medien: Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung«, in: Christopher BalmejMarkus Monirrger (Hrsg.): Crossing Media. Theater- Film- Photographie- Neue Medien, München: ePODIUM 2004. 11 Wolfgang Matzat hat drei Ebenen und diesen zugeordnete Rezeptionsperspektiven unterschieden. Die dramatische Perspektive fokussiert die vermittelte Handlung und gibt sich der Identifikation und Illusion der Echtheit hin, was Auswirkungen auf die Raumwahrnehmung hat. Die theatralische Perspektive fokussiert den Als-Ob-Charakter der Aufführung selbst und kann zur Bewunderung der Ausstattung oder zu Kritik durch den Zuschauer führen; die lebensweltliche Perspektive stellt Verbindungen zum Lebenskontext des Zuschauers her und lässt die vermittelte Handlung interpretierbar und auf die Lebenswelt des Zuschauers beziehbar erscheinen. Für die Unterscheidung von Medienreflexivität und Medienaktualisierung hingegen muss dieser Ansatz erweitert werden, da er rein rezeptionsästhetisch argumentiert, vgl. W.M.: Dramenstruktur und Zuschauerrolle, München: Fink 1982, S. 13-68. 12 Dazu FriedrichjKramer (Hrsg.): La teatralidad desde una perspectiva hist6rica de los medios [in Vorbereitung]. Zur Sichtbarkeit des Mediums im 19. Jahrhundert auch Crary: Techniken des Betrachters, S. 136f.
30 I SCHNELLER ALS
DER SCHEIN
mit in der fiktiven Handlung dargestellten Beschleunigungserfahrungen gekoppelt zu sein. Bereits im Theater der frühen Neuzeit lässt sich eine Tendenz zur Technisierung der Aufführung konstatieren.13 Im Rahmen der industriellen Revolution kommt es zur Wiederaufnahme und Weiterentwicklung der technikzentrierten Theateraufführung: Zur intensiven Beschleunigung der Kulissenbewegungen und der Szenenwechsel, sowie der technischen Verfeinerung der Bühnenmaschinerie. Diese technisch gesteuerte Akzeleration wird in der fiktiven Handlung mit der dem 19. Jahrhundert eigenen Erfahrung des Zeitdrucks verknüpft, dem die Protagonisten unterliegen und der zu Verspätungen führt, die an Spiegelungen der theatralen Aufführungssituation gebunden werden.1 4 Die Ausstellung der Medialität ist also anders motiviert und dargestellt als im siglo de oro und auch in anderen visuellen Kunstformen fassbar.ls Medienaktualisierung ist nun auch eine Folge der Beschleunigungserfahrung und der Beschleunigung der Bühne selbst, die sich in der Ausstattung und Gestaltung des Bühnenraumes zeigt, also Teil der >Inszenierung< ist und die Verbindung zwischen Räumlichkeit und Theatralität in den Blick rückt. Das sich als veränderlich erfahrende Zuschauersubjekt erfährt auch sein Sehen als ein an Zeitlichkeit angebundenes.16
13 Ruano de la Haza beschreibt ausführlich die technischen Fortschritte für das frühneuzeitliche Theater, vgl. Jose Marfa Ruano de la Haza: La puesta en escena en los teatros comerciales del siglo de oro, Madrid: CastaHa 2000. 14 Rugieros Verspätung in La conjuraci6n de Venecia führt beispielsweise zu der Situation, dass alle anderen Verschwörer schon sitzen, während er allein wie ein Schauspieler, der die Bühne betritt, eingeführt wird; der Auftritt des Helden erfolgt in einigen romantischen Dramen vor Zuschauern. 15 In Bezug auf die Photographie hat Degas betont, dass visuelle Kunstformen immer ein Publikum voraussetzen, also auch Ausstellungsräume Schauräume sind, vgl. dazu Paul Virilio: Die Sehmaschine, Berlin: Merve 1989, S. 77. Virilio betont dabei die Entpersonalisiemng des Objektes. 16 Crary verweist auf den diachronen Wandel in der Konzeptualisiemng des Betrachters. Während dieser in der frühen Neuzeit als objektiv und unveränderlich gedacht wird, zeigt sich derjenige des 19. Jahrhunderts als ein subjektiver Betrachter, der die vormals angenommene Gleichzeitigkeit des betrachteten Objekts und seiner Entstehung auf der Netzhaut in Frage stellt und sich somit am Nachbild interessiert erweist. Daher ist die camera obscura, die eine Gleichzeitigkeit als gegeben annimmt, nicht mehr als Modell für das moderne Sehen adäquat, vgl. Crary: Techniken des Betrachters, S. 103-108. bes. S. 104.
MEDIUM, RAUM, ZEIT
1.1.3
I 31
Theaterraum- Theaterzeit
1.1.3.1 82a8pov: Schauraum Theater Geht man in diesem gedanklichen Rahmen von Theater als einem Mediengefüge aus, so lässt sich die raum-zeitliche Struktur zunächst am Theaterbau selbst beschreiben. Sowohl räumlich als auch zeitlich aus der Alltagswelt ausgegliedert, entspricht der Theaterraum einem geordneten Rahmen, in dem sich durch die Spielpraxis eine neue Raumordnung konstituieren kann. Theatralität entsteht erst, wenn Praxis des Spiels und ein raumsetzender Rahmen zusammenkommen, der das theatrale Spiel in wie rudimentärer Form auch immer als solches markiertP
Den raumsetzende Rahmen, der sich nicht zwangsläufig in einem architektonischen Gebilde manifestieren muss - das auto sacramental beispielsweise verzichtet auf den Rahmen des Theatergebäudes und wird unter freiem Himmel aufgeführt - bildet im Falle des romantischen Theaters der moderne Theaterbau mit der Guckkastenbühne.l 8 Das Aufziehen und Schließen des Vorhangs bildet die Rahmung der Theatersituation. Die Blickrichtung und die feste Position des Zuschauers wiederum trägt zur Trennung des Zuschauerraumes vom Bühnenraum bei, materiell konkretisiert im Theatervorhang, wohingegen der Kopf gedreht werden und der Blick quasi losgelöst über die Bühne schweifen und verschiedene Elemente fokussieren kann.J9 Durch die Blickbeteiligung des Zuschauers konstituiert sich die räumliche
17 DünnejKramer: >>Einleitung«, S. 15-32, hier S. 20. 18 Schon in der Antike wird das Theater als Schauraum begriffen, wie sich an der Etymologie des Wortes von theorein (betrachten) zeigt. Freilich spielt die Akustik in den antiken Theatern ebenfalls eine große Rolle. In der Romantik ist die Guckkastenbühne längst etabliert, die das Theater als Schauraum ausweist und das Verhältnis von Zuschauerraum und Bühne eindeutig festlegt, was bei anderen Theaterformen, wie z.B. den carros, nicht der Fall war; vgl. zum antiken und frühzeitlichen Theater Haß: Das Drama des Sehens, zu Raum und Architektur bes. S. 340-383; Hans Ulrich Gumbrecht: >>Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit«, in: Johannes Janota (Hrsg.): Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, 2 Bde., Tübingen: Niemeyer 1992, Bd. 2, S. 827-848. 19 Diese Eigenschaft teilen Panorama und Theater, siehe Sternberger: Das Panorama, und Heinz Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München: Fink 1970; auf den Bruch in den Sehgewohnheiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts verweist Jonathan Crary. Die Loslösung der Sinne und das subjektive Sehen sind für ihn Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, das sich vom Modell der camera obscura verabschiede, vgl. Crary: Techniken des Betrachters, bes. S. 75-102.
32 I SCHNELLER ALS
DER SCHEIN
Trennung als eine latent instabile und erzeugt eine Ambivalenz der Rollenverteilung, die gerade im romantischen Theater häufig auf die Bühne selbst transportiert wird.2o So erweist sich nicht nur die Bühnenform und die Ausstattung, sondern auch die grundsätzliche Relation zwischen Bühne und Zuschauerraum, die sich auf die jeweiligen Grenzziehungen zwischen beiden Räumen und den daraus resultierenden unterschiedlichen Wahrnehmungsund Rezeptionsmodi bezieht, als relevant für die jeweilige historische Ausprägung. Die Wahrnehmungsgewohnheiten ändern sich auch aufgrundder theatralen Aufführung.21 Für die Betrachtung der räumlichen und zeitlichen Struktur ist auch die - ebenfalls historisch kodierte - Präsentation der Körperlichkeit nicht unwesentlich, insbesondere die Unterscheidung zwischen einer dominant leiblichen Präsenz der Körper und der Verkörperung einer Rolle, wodurch zwei zu differenzierende Kategorien der Räumlichkeit sichtbar werden, die auch auf die Ebenen der Wahrnehmung beziehbar sind. Der Zusammenhang zwischen Theaterraum und Aktionsraum des Körpers erweist sich im Theater als zentral für die Konstitution von Theatralität. Die physische Präsenz des Körpers gewinnt eine zentrale Bedeutung vor allem dann, wenn Körper und Bildraum in Konvergenz treten oder sich zu einer Einheit formieren. Dabei können die agierenden Schauspieler sich zu beweglichen oder statischen bildliehen Figurationen zusammenschließen, oder gar Teil des Bühnenbildes werden, das in diesem Fall gleichsam eine tatsächliche Extension des Körpers darstellt. 22 Der >bespielte Raum< als materiell verfügbarer Bühnenraum bildet die Grundlage, auf der der >gespielte Raum< von den Bewegungen der Körper und ihrem Spiel erzeugt werden kann, sofern sie die Verkörperung in den Mittelpunkt ihrer Darstellung rücken und (semantisierte) Handlungsräume
20 Dazu ausführlich Haß: Das Drama des Sehens; Kai Merten zeigt diese Ambivalenz der Betrachterposition und die Entgrenzung in der Romantik am Beispiel Wordsworths auf, siehe Kai Merten: >>>As Lear reproached the winds I could almostj Have quarreled with that blameless spectacle.< Zur Raumkrise des Theaters in der romantischen Literatur - und zu ihrer Lösung«, in: DünnejFriedrichjKramer: Theatralität und Räumlichkeit, S. 105-122, bes. 107-111. 21 Jonathan Crary hat darauf hingewiesen, dass die Rolle des Betrachters bei Wahrnehmungsvorgängen und -Veränderungen zu beachten sei, nicht nur die Produktionen, die sich daraus ergeben, vgl. Crary: Techniken des Betrachters, hier S. 11-35. 22 So können die Cuadros de Costumbres in Angel de Saavedras Don Alvaro, in denen der Körper selbst zum Darstellungsinstrument wird (Tanz, Gesang), oder die Statuen im zweiten Teil von Jose Zorrillas Don juan Tenorio als derartige statischdynamische Figurationen verstanden werden.
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erschaffen.23 Als Bühnenraum selbst wird er wahrnehmbar, wenn er sich in seiner Materialität manifestiert oder wenn er durch die Repliken der Figuren oder die Inszenierung thematisiert wird.24 Historische Veränderungen können an der Darstellung von Körperlichkeit ebenso wie am ordnenden Rahmen des Bühnenraumes und seiner Ausstattung sichtbar werden. In Bezug aufletzteres mögen sie sich durch die Integration zeitgenössischer visueller Medien oder die Veränderung der Beleuchtungstechnik äußern, welche sich von einer reinen Funktionalität hin zum gestaltenden Element entwickelt.2s Das Licht selbst entwickelt sich im 19. Jahrhundert, abgesehen von Veränderungen in seiner Funktion, vom Kerzen- über Gaslicht zur elektrischen Beleuchtung, und dies nicht nur im Theater. Bereits die Einführung der Straßenbeleuchtung verändert die Wahrnehmung und den Umgang mit Licht. Dabei wird im 19. Jahrhundert die möglicherweise Zerstörerische Auswirkung des Lichts auf den Körper ebenso Untersuchungsgegenstand wie seine Funktionsweise und physikalische Zusammensetzung; das Sehen selbst wird Gegenstand physiologischer Studien,
23 Aus systematischer Perspektive ist zu unterscheiden, ob der Körperaufgrund seiner Leiblichkeit und Materialität Räume erzeugt, oder ob er aufgrundder Verkörperung fiktiver Identitäten Verweischarakter besitzt und somit funktional eingesetzt wird. Historisch können verschiedene Körperkonzepte oder -praktiken verschiedenen Epochen zugeordnet werden, allerdings ist wie immer bei zu schematischen Einordnungen Vorsicht geboten, da auch etablierte Körperkonzepte gerade im Theater gerne unterlaufen werden; vgl. KramerjDünne: >>Einleitung«, S. 21; zur Unterscheidung von gespieltem und bespieltem Raum siehe Daniel Fulda: »>Breter, die die Welt bedeuten>>As Lear reproached the winds I could almostjHave quarreled with that blameless spectacle.«vierter Wand< wesentlich zur Konstitution beitragen; der Theaterraum ermöglicht als abgeschlossener Schauraum die freie Darstellung fiktiver Welten, die freilich durch die Betrachtung rückbeziehbar auf nichtfiktionale Umstände sind und in ihrer Ausstattung nicht nur den Willen zur illusionistischen Täuschung erkennen lassen, sondern auch denjenigen zur Ausstellung der eigenen Materialität. So dient die Ausstattung der Bühne nicht nur der Erzeugung realistischer settings oder semantisierter Räumlichkeiten, sondern verweist in vielen Fällen auf sich selbst.2s Es verwundert nicht, dass die Bühnentechnik und die Ausstattung zur Werbung
26 Der im 19. Jahrhundert systematisch eingeführten Straßenbeleuchtung wird die zunehmende Sehschwäche der jungen Leute zugeschrieben, die nunmehr alle Brillen tragen müssen und nicht mehr in der Lage seien, bei Kerzenschein ein Buch zu lesen, vgl. dazu und über die Straßenbeleuchtung Virilio: Die Sehmaschine, S. 31-33, hier 32. Zu den wissenschaftlichem Untersuchungen und der Trennung von physikalischen Studien über das Licht und physiologischen über das Sehen Crary: Techniken des Betrachters, S. 93. 27 Zum Panorama als Massenmedium vgl. Marie-Louise Piessen (Hrsg.): Sehsucht: das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts (anlässlich der Ausstellung >>Sehsucht, das Panorama als Massenunterhaltung im 19. Jahrhundert>> vom 28. Mai bis 10. Oktober 1993 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn), Basel u.a.: StroemfeldfRoter Stern 1993; Bodo von DewitzfWerner Nekes (Hrsg.): Ich sehe was. was Du nicht siehst! Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Wemer Nekes. Katalog zur Ausstellung in Museum Ludwig Köln, Göttingen: Steidl 2002. Zu verschiedenen multimedialen Formen im 19. Jahrhundert die sehr informative Studie von Anno Mungen: BilderMusik. Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungiformen in Theater- und Musikau.!JUhrungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Remscheid: Gardez! Verlag 2006 (Filmstudien 45). 28 Einen historischen Überblick zur Entwicklung des Theaters gibt Ulrike Haß: Das Drama des Sehens; zum Konzept der vierten Wand Pfister: Das Drama, S. 41-45 und S. 327-350, sowie Johannes Friedrich Lehmann: >>Der Zuschauer als Paradigma der Moderne. Überlegungen zum Theater als Medium der Beobachtung«, in: Christopher BalmefErika Fischer-LichtefStephan Günzel (Hrsg.): Theater als Paradigma der Modeme? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, TübingenfBasel: Francke 2003, S. 155-166.
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für die Neuartigkeit der Dramen herangezogen werden.29 Die technisch-visuelle Herausforderung ermöglicht dem Zuschauer zusätzlich, die ästhetische Distanz zu wahren, die zum Verständnis der Tragödie nötig ist. Zu starke Identifikation mit dem Geschehen ist nicht erwünscht, da sie den intellektuellen Genuss einschränken würde.3o Mit Hilfe der Bühnentechnik lassen sich Bewegung, Masse und Beschleunigung inszenieren; dabei wird die Sehsucht des Publikums ebenso bedient wie seine Überwältigung angestrebt. Die Erfahrung visueller Überwältigung wie der Schwindel, der viele Besucher in der Anfangsphase im Panorama überkommt, scheint direkt dazu zu führen, dass diese Erfahrung erneut aufgesucht wird. Das Theater macht sich dies zunutze und ermöglicht gleichermaßen die lustvolle Partizipation am Bühnengeschehen wie die Erkundung faszinierender und beunruhigender lebensweltlicher Erfahrungen wie die der Akzeleration. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht eindeutig in ihrem Einfluss auf die Lebenswelt einzuordnen, führt sie zum Einsatz neuer technischer Möglichkeiten in der Bühnenmaschinerie, zu einer Verbesserung der Kulissenbewegungen auf der Bühne. In einem zweiten Schritt führen diese technischen Errungenschaften zur Inszenierung von Beschleunigung und Beschleunigungserfahrung in den Dramen. Die Dramen wiederum erfordern durch die Vielzahl an Bühnenbildern weitere Möglichkeiten, schnellere und effektivere Wechsel zu realisieren und schließen so den Kreis. Dies begünstigt eine Dramenproduktion, die sich bereits auf diese Möglichkeiten bezieht und verlässt. Die Vielfalt der Orte, die Zeitstruktur der Dramen und der schnelle Wechsel der Bühnenbilder bringen die Technik ins Bewusstsein der Zuschauer, die die Möglichkeiten der Bühnentechnik so nicht nur bemerken, sondern auch durch Applaus kommentieren können. Dieser Zusammenhang zwischen Beschleunigung und Sichtbarwerdung der Medialität des Theaters, zwischen Geschwindigkeit und Medienaktualisierung scheint charakteristisch für das romantische Theater in Spanien. Auf der Ebene der präsentierten Handlung setzt sich diese Verbindung fort, da
29 So werden beispielsweise die >>decoraciones nuevas« in Don Alvaro bei der Ankündigung im Diario de Avisos de Madrid ausdrücklich erwähnt (22.3.1835/24.3.1835); in einer Rezension zu Don Alvaro werden begeistert die häufigen Pfiffe des Maschinisten erwähnt, der die vielen Aktionen der Bühnenmaschinen einleitet, vgl. El artista, 3 Bde., Bd. 1, S. 153-156, hier 155. 30 Zur Ironie in der Tragödie, die mir als Form der Theatralität erscheint, siehe Christoph Menke: >>Ästhetik der Tragödie. Perspektiven der Romantik«, in: Bettirre MenkejChristoph Menke: Tragödie - Trauerspiel - Spektakel, Berlin: Theater der Zeit 2007, S. 179-198.
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die Handlung ihrerseits binnenfiktional Zeitproblematik inszeniert, um gleichzeitig Situationen zu konstruieren, die auf die Wirkungs- oder Punktionsweise des theatralen Dispositivs selbst verweisen_ Es scheint daher sinnvoll, bei der Untersuchung dieses Zusammenhangs Beschleunigung auf der Vermittlungsebene von Beschleunigungsinszenierung auf der Geschichtsebene voneinander abzugrenzen.31 Die Zeiterfahrung der Figuren wird differenziert von der Zeitgestaltung des Dramentextes und der Realisierung auf der Bühne betrachtet. Der Faktor Zeit erscheint auf beiden Ebenen in unterschiedlicher Weise zentral.
1.1.3.2 Raurn-Zeitverhältnisse und Zeitdimensionen Analog zur Raumanalyse liegt bei der Analyse von Zeitstrukturen im theatralen Text die Unterscheidung dieser beiden Ebenen auf der Hand. Unterscheidet man die Ebene der vermittelten Handlung von der Ebene der Vermittlung selbst, so ergeben sich zwei disparate Ebenen für die Analyse von Raum- und Zeitstrukturen. Die Geschichtsebene betrifft die binnenfiktionale Darstellung von Beschleunigung und das Zeitempfinden der Figuren, denen Erfahrungen und Erlebnisse eingeschrieben werden, die Rückschlüsse auf lebensweltliche Erfahrungen zulassen und die dargestellte Geschichte somit in ihrer historischen Ausprägung kontextualisieren. Bei der Untersuchung der Vermittlungsebene geraten die Form der Übermittlung und die Kommunikation mit dem Zuschauer in den Blick, dessen Wahrnehmungs- und Sehgewohnheiten durch optische Medien geprägt und verändert werden. So entspricht in der Betrachtung von Raum- und Zeitstrukturen der Fokussierung der Geschichtsebene die >gespielte Zeitgespielte RaumSpielzeit< und >bespielter Raum< bei der Perspektive auf die Vermittlungsebene und die materielle Dimension des Theaters in den Blick genommen werden. Wird beim theatralen Raum der bespielte Raum der Theaterbühne vom gespielten Raum der fiktiven Handlung unterschieden32, so beschreiben im Hinblick auf die Zeit die gängigen Begriffe Spielzeit und gespielte Zeit weitgehend die Zeitdimensionen, die der Vermitt-
31 Die Unterscheidung von Geschichts- und Vermittlungsebene stützt sich aufTodorov, der in Bezug auf narrative Texte histoire und discoursvoneinander unterschei-
det, vgl. Tzvetan Todorov: >>Die Kategorien der literarischen Erzählung«, in: Heinz Blumensath (Hrsg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972, S. 263-294 (übersetzt von Irmela Rehbein). 32 Siehe dazu grundlegend Max Herrmann: >>Das theatralische Raumerlebnis«, in: DünnejGünzel (Hrsg.): Raumtheorie, S. 501-514, sowie Fulda: >>>Breter, die die Welt bedeuten«das Ganze in Ausschnitten< präsentiert, ergibt sich aber fast zwangsläufig eine beschleunigende Wirkung, da die Geschichte quasi wie im Zeitraffer erzählt wird, mit Sprüngen und Ellipsen versehen, die nur durch kommentierende Erzählungen, die wiederum konkurrierende Zeiträume eröffnen, kompensiert werden kann. Die Figuren selbst hingegen können auch innerhalb der fiktiven Zeit ihr Lebenstempo als ein beschleu· nigtes wahrnehmen und somit eine lebensweltliche Erfahrung spiegeln, die Autor und zeitgenössischem Publikum gemeinsam ist. Das Publikum wird im 19. Jahrhundert mit Figuren konfrontiert, die Beschleunigung thematisieren, gleichzeitig mit einer beschleunigenden Zeitstruktur in der Vermittlung der Stoffe und zusätzlich, auf der Ebene der Vermittlung, mit einer technischen Beschleunigung durch die Perfektionierung der Bühnentechnik. Kann die gespielte Zeit so durch ihren Bezug zur Geschichtsebene mit dem Zeitempfinden der Figuren einerseits in Verbindung gebracht werden und können andererseits durch die spezielle Vermittlung jener gespielten Zeit Rückschlüsse auf den Gestaltungswillen des Autors gezogen werden, so lässt diese seine individuelle Art die Tendenz zu einer kontinuierlichen oder einer diskontinuierlichen Zeitstruktur des Dramas erkennen, das so hinsichtlich
33 So bei Pfister, der die primäre (szenisch dargestellte) gespielte Zeit von der sekundären (Handlung von Anfang bis Ende des Stücks, unter Berücksichtigung der übersprungenen oder parallelen Handlungen) und der tertiären (einschließlich der Vorgeschichte und etwaiger Zukunftsvorhersagen) gespielten Zeit unterscheidet, vgl. Pfister: Das Drama, S. 369-370.
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seiner Form interpretierbar wird.J4 Diese Unterscheidung scheint in Bezug auf das 19. Jahrhundert sinnvoll, da im romantischen Theater die >offene< Form und die damit verbundene diskontinuierliche Zeit- und Raumstruktur in Zusammenhang mit den technischen Neuerungen und der beschleunigten Bühnenmaschinerie steht, darüber hinaus aber auch auf der Ebene der fiktiven Handlung Diskontinuitäten ausgespielt werden, die ihrerseits das Gefühl eines beschleunigten Lebenstempos in den Figuren illustrieren. Wird Geschwindigkeit als die >Vernichtung des Raumes durch die Zeittheatralische Raumerlebnis< durch die Auslagerung der Handlung in Fernräume irritiert oder gar durch zu viele unterschiedliche Spielräume zerstört, scheint es sinnvoll, dem Zusammenhang dieser Raumvielfalt mit der meist diskontinuierlichen Zeitstruktur der Dramen nachzuspüren und ihre Bedeutung für die beschleunigende Wirkung des romantischen Theaters zu ermitteln.36 Dem Weg, an Hand dessen die theatrale Verwandlung des bespielten Raumes in den gespielten Raum stattfindet, kommt im romantischen Theater ein besonderer Stellenwert zu. Nicht nur die Räume an sich gewinnen an Bedeutung, indem die Ausstattung und die Perfektionierung der Bühnenmalerei und-technikforciert werden; das romantische Theater strebt nicht nur nach der perfekten Illusionsbildung im einzelnen Bild. Mir scheint vielmehr die Verbindung zur Geschwindigkeit, mit der binnenfiktional Räume durchmessen werden, somit fiktionsextern Räume vor dem Auge des Zuschauers verwandelt werden, das Besondere und Entscheidende am romantischen Theater zu sein. Eine Entschleunigungsinsel wie das Theater zu einem Beschleunigungsdispositiv zu transformieren, ist möglicherweise das größte Paradoxon und die größte Leistung des romantischen Theaters. Durch die Perfektionierung von einzelnen Bühnenbildern und den selbstrepräsentativen Charakter weist das romantische Theater eine ganz eigene >Fürsorge für
34 Volker Klotz beschreibt und interpretiert ausführlich die >offene< und die >geschlossene< Form im Drama, vgl. Volker Klotz: Offine und geschlossene Form im Drama, München: Hanser, 141999. 35 Zur Beschleunigung in der Moderne und dem steigenden Gefühl der Zeitknappheit siehe ausführlich und die Forschung resümierend Rosa: Beschleunigung; sowie Wolfgang Behringer: >>Beschleunigung>Das theatralische RaumerlebniSNachbemerkung. Raumwechsel mit Zuschauerrutschenden Abhängen< zu befinden und mit einer extrem verkürzten Halbwertszeit von Wissen und stabilen Institutionen konfrontiert zu sein, führt zu dem teilweise selbst auferlegten Zwang, schneller sein zu wollen, um auf dem Laufenden zu bleiben.GG Da dabei immer die Gefahr des Anachronismus und der verpassten Chancen besteht, ist diese Beschleunigung nur partiell freiwillig. Die generelle Abnahme der Zeitdauer, in der die Stabilität von Handlungsbedingungen erwartungssicher garantiert ist, wird, analog zur >RaumschrumpfungGegenwartschrumpfung< bezeichnet.67 Lässt sich also ein schneller Wandel von Familien- oder Firmenstrukturen konstatieren, eine rapide Veraltung von allgemein verfügbarem Wissen, so kann dies als Indiz für die Beschleunigung des sozialen Wandels erkannt werden, der mit dem Gefühl einhergeht, die Gegenwart >schrumpfe< auf ein Minimum, während Zukunft und Vergangenheit große Zeiträume einnehmen.Gs Die Beschleunigung des sozialen Wandels ist also bestimmend für ein nunmehr verunsichertes Gefühl von >in-der-Welt-sein>Gegenwartsschrumpfung und zivilisatorische Selbsthistorisierung«, in: Frithjof HagerjWerner Schenkel (Hrsg.): Schrumpfongen. Chancen für ein anderes Wachstum. Eis Diskurs der Natur- und Sozialwissenschaften, Berlin: Springer 2000, S. 11-20; Rosa: Beschleunigung, S. 176-194. 67 Das Konzept der Gegenwartsschrumpfung wird von Rosa u.a. von Hermann Lübbe übernommen, vgl. Hermann Lübbe: >>Gegenwartsschrumpfung«, in: Klaus BackhausjHolger Bonus (Hrsg.): Die Beschleunigungifalle oder der Triumph der Schildkröte, Stuttgart: SchäfferjPöschl 31998, S. 129-164; H. L.: >>Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik«, in: Akademie der Wissenschaften Mainz: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Nr. 5, Stuttgart: Franz Steiner 1996, S. 1-37; H. L.: >>Gegenwartsschrumpfung und zivilisatorische Selbsthistorisierung«; dazu auch Rosa: Beschleunigung, S. 184-194. 68 Pointiert lässt sich diese Erfahrung an sich ständig aktualisierenden NachrichtenWebseiten beobachten: Das >Weltwissen< von 10 Uhr ist wenige Stunden später hoffnungslos veraltet; siehe auch Rosa: Beschleunigung, S. 184-194, hier S. 192; Lübbe: >>Gegenwartsschrumpfung und zivilisatorische Selbsthistorisierung«, bes. S. 18f., wo er die Expansion der Zukunftsräume beschreibt, manifest in von Firmen benützten Drei-Jahres-Kalendern (statt der üblichen Jahreskalender), die versuchen, die weitere Zukunft bereits zu strukturieren.
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nimmt und sich auf wenige Generationen reduziert. Wenn die Transformation struktureller und kultureller Gewissheiten gar innerhalb einer einzigen Generation erfolgt, kommt es zur >Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen>Gegenwartsschrumpfung und zivilisatorische Selbsthistorisierung«, S. llf. 71 Koselleck: Zeitschichten, S. 21-24. 72 Koselleck: Zeitschichten, S. 19-77. 73 Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 199.
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nomischer Sicherheit, da der schnelle Wandel sich auf allen Ebenen vollzieht und so zum Gefühl der Gegenwartsschrumpfung beiträgtJ4 Dies führt auch zur Erfahrung von Planungsunsicherheit und Verzeitlichung von Identität. Romantische Helden als Außenseiter vertreten oft eine zeitlich avancierte Zeitschicht, während die Elterngeneration auf veralteten Ehrvorstellungen des siglo de oro sitzengeblieben ist. Aus dem ewigen Kreislauf der biologischen und kulturellen Reproduktion und Rekurrenz treten die Helden als zeitliches Überraschungsmoment heraus. Dabei nehmen die rekurrenten zeitlichen Strukturen eine ähnliche klassifikatorische Rolle ein wie die klassifikatorischen räumlichen Strukturen in Lotmans RaumsemantikJS Das Theater inszeniert also die für die Modeme konstitutive Instabilität von materialen und sozialen Kontext-, Handlungs- und Entscheidungsbedingungen, die sich aus der Beschleunigung des sozialen Wandels ergibt. Dadurch werden seine Figuren immer wieder zur Revidierung von Erwartungen und Neuinterpretation von Erfahrungen gezwungen. Auf der Grundlage historischer Dramen inszeniert die Romantik verzeitlichte und zeitliche Grenzen überschreitende Helden. In ihre Einzelerfahrung ist die kollektive Erfahrung der Modeme eingeschrieben, die Planungsunsicherheit, die Zeitknappheit, die Gegenwartsschrumpfung durch die plötzlich minimale Zeitspanne zwischen dem davor und dem danachJG 1.2.2.3 Reaktionen: Beschleunigung des Lebenstempos Die Reaktion auf die Erfahrung der Beschleunigung des Wandels ist zunächst das Gefühl, nicht flexibel oder schnell genug zu sein. Es besteht natürlich die Möglichkeit, das eigene Tempo zu erhöhen, aber auch diese zunächst freiwillige Entscheidung kippt häufig schnell in eine Druckerfahrung. Die technische Beschleunigung bietet sich zur Illustration des oben erwähnten paradoxalen Zusammenhanges zwischen technischer Beschleunigung und Zeitdruck ebenso an wie zur Erläuterung des sozialen Drucks, der sich aus der Beschleunigung des Wandels ergibt. Benötigt nämlich ein Brief immerhin ein bis zwei Tage, um beim Empfänger einzutreffen, und muss der Absender wiederum mindestens vier Tage auf eine Antwort warten, so ver-
74 So interpretieren bedeutende Romantikforscher die Konflikte in den Dramen, z.B. Donald E Schurlknight: Spanish Romanticism in context, David Thatcher Gies: The Theatre in Nineteenth century Spain, auch Neuschäfer: Spanische Literaturgeschichte, S. 231-238. 75 Vgl. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, bes. S. 347-367. 76 Vgl. Kaselleck Zeitschichten, S. 34-41.
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kürzt die E-Mail als elektronische Weiterentwicklung des Briefes diesen Zeitraum auf wenige Stunden oder Minuten, je nachdem, wie viel Zeit die Kornmunikationspartner am Computer zubringen.77 Die elektronische Kommunikation über Skype, Facebook oder Twitter wiederum beschleunigt die Nachrichtenübermittlung zusätzlich, da der Online-Status des Gegenübers angezeigt wird und somit seine sofortige Reaktion erwartet werden kann. Bereits die Feststellung dieser Erwartungshaltung deutet die Entwicklungslinie an, die sich häufig quasi von selbst aus technischer Beschleunigung ergibt. Wird ein Antwortbrief möglicherweise immer noch geduldig erwartet, so ändert sich die Haltung der Kommunikationspartner bereits beim E-Mail-Kontakus Die im Vergleich zur brieflichen Kommunikation zu konstatierende Ungeduld ist möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass der Zeitgewinn, der sich der elektronischen Kommunikation verdankt, in eine erhöhte Anzahl von elektronischen Nachrichten investiert wird, d.h. dass in der selben Zeit, in der ein einziger Briefwechsel stattfindet, eine Vielzahl von Nachrichten versandt werden kann und wird.79 Im Allgemeinen ist der Grund für die Ungeduld aber auch in der Veränderung des den Handlungen zugrundeliegenden Zeitmaßstabes verankert.so Es besteht eigentlich kein Zwang, das Kommunikationstempo im elektronischen Schriftverkehr zu erhöhen. Erscheint aber die Dauer eines Briefwechsels, um obenstehendes Beispiel aufzunehmen, mit vier bis sechs Tagen durchaus angemessen, so schiene diese Zeitspanne für den Austausch elektronischer Post doch unverhältnismäßig lang, und es erschiene unhöflich, einen Bekannten auf eine E-Mail oder gar eine Nachricht über Facebook vier Tage warten zu lassen.Sl Analog lässt sich das Mobiltelefon mit seiner Option der permanenten Erreichbarkeit auch als Sorge lesen, etwas verpassen zu können, das Smartphone oder iPhone als
77 Diese Beispiel eJWähnt Rosa: Beschleunigung: S. 119. 78 So reagieren viele Studenten inzwischen ungeduldig. wenn nicht innerhalb eines Tages eine Antwort auf ihre Anfragen versandt wird, und es erscheint ungewöhnlich, wenn man nicht seine gesamte Arbeitszeit über E-Mail erreichbar ist, wohingegen private Mails im Rückgang begriffen sind, da die meisten Menschen sich eher über Facebook und ähnliche Sites austauschen als über die inzwischen schon als langsam empfundene E-Mail. 79 Rosa: Beschleunigung, S. 119f., Anm. 11 erläutert das E-Mail-Beispiel, weitere Kammunikationsformen wie Skype wurden 2005 wohl noch nicht in umfassendem Maße von soziologischen Studien wahrgenommen. 80 Vgl. zum Wandel des Begriff dessen, was als >>alt« wahrgenommen wird Lübbe: >>Gegenwartsschrumpfung und zivilisatorische SelbsthistorisierungGesprächspartners< erwartet. Verspätet er sich, wird seine Verfügbarkeit durch Nachfrage überprüft.s 2 Sätze werden verkürzt, Informationen quasi in Sprechgeschwindigkeit ausgetauscht oder durch den Versand konventionell semantisierter Smileys, der >EmoticonsBeschleunigung< und >Entschleunigung< als Gegensätze aufzubauen oder die seit einiger Zeit beschworene >Entschleunigung< als Lösung des Dilemmas anzubieten - es werden lediglich sozialen Folgen beschreibbar, die sich auch in der literarischen Umsetzung im 19. Jahrhundert zeigen, wenn reflektiert wird, dass der aufgebaute Zeitdruck dem Umgang mit der Akzeleration geschuldet ist, einem Umgang, der als soziales Verhaltensmuster entworfen wird und meist unreflektiert bleibt. 83
82 Dabei ist, anders als beim Telefongespräch, in dem die Überprüfung des Kanals über die phatische Sprachfunktion erfolgt, hier Sinn und Zweck der Nachfrage die Überprüfung der >Anwesenheit< des Gesprächspartners. 83 Die Begriffe Beschleunigung und Entschleunigung werden aktuell im Zusammenhang mit Ausstellungen bemüht, bzw. in Tageszeitungen diskutiert, die teilweise auch Rosas Beschreibungen von Vorgängen in diesem Sinne missverstehen, vgl. die Artikel: Christian Geyer: >>Beschleunigung ist nicht das Problem und Entschleunigung nicht die Lösung«, sowie: Swantje Karich: >>Wer hat an der Kunst gedreht?« in: Franlqi;rter Allgemeine Zeitung Nr. 9, S. 29 (11.1.2012).
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So sind es denn auch nicht die Einführung des gerrauen Zeitplanes der Postkutschenfahrten und die Entwicklung schnellerer Kutschenformen, die den Reisenden des 19. Jahrhunderts primär in Bedrängnis bringen, sondern eher die Tatsache, dass er nun möglicherweise versucht, am selben Tag eine Strecke zurückzulegen, die er sonst auf zwei Tage verteilt hätte, oder aber eine Strecke zweimal, die er normalerweise nur einmal auf sich nehmen würde.s4 Wollen wir also nicht nur die Beschleunigung selbst, sondern auch ihre primären und sekundären Folgen adäquat beschreiben, müssen wir uns diesen Reaktionsmechanismus präsent halten: Bringt die technische Be· schleunigung als Reaktion eine Steigerung der Produktion bestimmter Men· geneinheiten mit sich und steigen deren Produktionsraten dergestalt, dass sie die Beschleunigungsraten übertreffen, kommt es zu einer Beschleuni· gung des Lebenstempos, die möglicherweise mit der Zeit als unangenehm oder gar bedrohlich wahrgenommen wird, andernfalls nicht. Die Verbin· dung zwischen technischer Beschleunigung und Beschleunigung des Lebenstempos an sich besteht nur in diesem speziellen Fall, der allerdings häufig eintritt. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, versucht Hartmut Rosa, Beschleunigung nicht nur physikalisch zu fassen und an die Zurücklegung einer Wegstrecke anzubinden, sondern eben als >Mengenzunahme pro Zeiteinheit< zu definieren. Damit nämlich gelingt es ihm, auch beschleunigte Bereiche zu erfassen, die sich nicht physikalisch beschreiben lassen, wie beispielsweise die Beschleunigung des Wechsels von Arbeitstellen oder Partnern.ss Das Beispiel deutet bereits an, dass einer objektiv wahrnehmbaren Steigerung der zu verarbeitenden Handlungs- oder Informationsfülle das subjektive Verhältnis zur zu Verfügung stehenden Zeit gegenübersteht.SG So kann einer objektiv wahrnehmbar erhöhten Handlungsmenge durch vier Tempo steigernde Aktionen begegnet werden: Man kann eine tatsächliche Steigerung von Handlungseinheiten innerhalb des zur Verfügung stehenden
84 Rosa beschreibt in seinem Eingangskapitel sehr anschaulich die utopische Gesellschaft, die die technische Beschleunigung hervorbringen würde, wenn es nicht zu diesen Reaktionen käme, vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 9f. 85 Rosa: Beschleunigung, S. 118-124. 86 Rosa unterscheidet objektive und subjektive Parameter des beschleunigten Lebenstempos, vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 195-236; Nildas Luhmann weist darauf hin, dass das Geschehen sich in der Moderne objektiv schneller vollzieht, als es subjektiv verarbeitet werden kann, siehe Nildas Luhman: >>Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten« (1968), in: N.L: Politische Planung. Auflätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 143-164, hier S. 149.
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Zeitraumes erreichen, indem man seine Handlungen selbst beschleunigt, also schneller tippt oder geht. Sogar die Sprechgeschwindigkeit kann oder muss erhöht werden, nicht nur bei natürlich veranlagten >SchnellsprechernPower Nap< von einigen Minuten ersetzt den Mittagsschlaf, die sogenannte >quality time< mit den Kindern ersetzt abends komprimiert die Zeit, die diese tagsüber in Krippe oder anderer Ganztagesbetreuung verbringen, damit die Eltern anderen Tätigkeiten nachgehen können.S7 Auch die Fähigkeit, mehrere Handlungen simultan auszuführen, als englischer Ausdruck >Multitasking< ins Deutsche übernommen, scheint sich einigen Bedeutungszuwachses zu erfreuen. Wie ich zeigen werde, finden sich diese Tempo steigernden Reaktionen auf die Verknappung von Zeitressourcen schon im romantischen Theater. Ebenso das Gefühl des Zeitdrucks, das sich als subjektiver Parameter des beschleunigten Lebenstempos erweist. Das Gefühl einer >rasend schnell< vergehenden Zeit oder das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben, ist dem romantischen Helden quasi konstitutiv eingeschrieben, da er häufig durch Verspätung die Dramenhandlung initiiert und ihre paradigmatischen Wendungen oder ihre Katastrophen produziert. Dieser Eindruck einer sich permanent verkürzenden Zeit produziert Stress, wobei dieser als subjektive Empfindung nichts über das absolute Lebenstempo aussagt, wohl aber über dessen Veränderung. Am Stressempfinden kann man eine Steigerung des gewohnten Tempos des Lebens messen: We run as fast as we can in order to stay in the same place oder Was funktioniert, ist bereits überholt. 88 Besteht nun eigentlich kein Zwang, das eigene Lebenstempo aufgrund von technischer Beschleunigung oder der sich steigernden Dichte von Ereig-
87 Zu diesen Zeitverdichtungsstrategien gibt es den teuren guten Rat bereits in vielen Magazinen, vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 200. 88 Siehe Conrad: Modem Timesand Modem Places, S. 6; dazu Rosa: Beschleunigung, S. 213-216; Admiral Mountbatten, nach Paul Virilio: Die Sehmaschine, S. 76.
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nissen zu erhöhen, so scheint es dennoch bedeutende Probleme mit sich zu bringen, sich dem sozialen Druck zu widersetzen; Verpassensangst als Begründung für erhöhtes Lebenstempo betrifft dabei in besonderem Maß berufliche Kontexte. Neben der Tatsache, dass durch die niedrige Halbwertszeit des Wissens die Gefahr einer schnellen Veraltung besteht, wenn man nicht >mithält< und >auf dem Laufenden< bleibt, besitzt die Verpassensangst aber auch die Kehrseite, dass Subjekte schneller leben wollen, um mehr mitzubekommen. Daher ist die Moderne nach Walter Benjamin auch die erfahrungslose Zeit des schnellfüßigen Spielers, die Zeit der unverbundenen Erlebnisse, die nicht in Erfahrungen umgewandelt werden.s9 Der Anpassungszwang betrifft im sozialen Umfeld vor allem die junge Generation, die sich aus Angst vor Sanktionen der Altersgenossen scheut, >OUt< zu sein, und somit jeden schnelllebigen Trend mitmacht. Während Anpassungszwang und Verpassensangst noch weitgehend reflektierbar und möglicherweise sogar kontrollierbar erscheinen, lässt sich der Veränderung des gesellschaftlichen Maßstabes für die Dauer bestimmter Vorgänge kaum entgegenwirken, da er sich aus kollektiven Wahrnehmungsgewohnheiten speist. So hat die Beschleunigung der Kulissen im Theater Auswirkungen auf Zeitmaßstab und Erwartungen des Publikums, und das Panorama prägt die Sehgewohnheiten.9o Verändert also die Beschleunigung des Lebenstempos das Handeln und das Erleben des Einzelnen, da die Erlebnis- und Handlungsrate pro Zeiteinheit steigt, ergibt sich daraus nicht nur eine Veränderung im >TunSein>Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, in: W.B.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. RolfTiedemannjHermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 509-690. 90 CataLin Marin: La escenografta de los dramas romanticos espanoles, S. 69f., Koschorke: >>Das Panoramaverflüssigten« dabei die Gesellschaft insgesamt.92
Die Dynamisierung oder gar Auflösung gesellschaftlicher Strukturen wird begleitet von der Verzeitlichung familiärer Strukturen, da die Generationen überdauernde Großfamilie als Modell von der Kleinfamilie abgelöst wird, die sich zwar durch individuelle Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern definiert, aber zeitlich auf eine Generation begrenzt ist und mit dem Tod der Eltern zerfällt.93 So lässt der soziale Wandel durch die Beschleunigung zu wenig Zeit zur Etablierung stabiler Identitäten, weswegen Benjamin einen >Erfahrungsverlust in der modernen Gesellschaft< konstatiert, begründet auf der Tatsache, dass die Vielzahl schockartiger Erlebnisse des Alltags nicht in Erfahrungen umgewandelt werden können. Diese aber bilden einen Teil der Identität. Wenn die Strukturen der Welt in einem ständigen Wandel begriffen sind und sich Erwartungshorizonte laufend neu konstituieren, erscheint es quasi unmöglich, Erlebnisse mit Vergangenheit und Zukunft in Beziehung zu setzen und so Stabilität in die Identitätskonstruktion zu bringen.94 Da die Neigung zu stabiler Identität der Beschleunigung des sozialen Wandels entgegensteht, bleibt dem modernen Subjekt nichts anderes übrig, als sich als flexibel und veränderungsfreudig zu konzipieren, wenn es nicht der frustrierenden Erfahrung unterliegen will, dass jeder auf Stabilität angelegte Versuch eines Identitätsentwurfes unweigerlich an einer sich schnell
nicht erst ein Phänomen der sogenannten >Postmoderne< zu sein, wie Hartmut Rosa annimmt, Rosa: Beschleunigung, S. 237. 92 Rosa: Beschleunigung, S. 155f. 93 Zur Entwicklung des modernen Familienmodells Philippe Aries: Geschichte der Kindheit, München: dtv 12 1996; Imhofbeschreibt den Wandel von Familien betriebenen Höfen, deren Oberhäupter über Jahrzehnte oder Jahrhunderte für die Kontinuität des Betriebes bürgten, vgl. oben Imhof: >>Von der sicheren zur unsicheren Lebenszeit. Ein folgenschwerer Wandel im Verlaufe der Neuzeit« (1984). 94 Dazu Walter Benjamin: >>Charles Baudelaire«.
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verändernden Umwelt scheitert.95 Die daraus ableitbare Dynamisierung der Identität schlägt sich in verzeitlichten vorläufigen und weitgehend kontingenten Lebensentwürfen nieder. Da technische Beschleunigung das Verhältnis des Menschen zu Raum, Zeit, Menschen und Dingen verändert, man denke an Sozialverhalten oder Organisation des Lebens von der Bettkante aus durch das Internet, affiziert sie auch das Verhältnis zu identitätsstiftenden Einrichtungen wie Partnerschaft oder Beruf. Der Lebensabschnittspartner ersetzt den Lebenspartner, der zeitlich begrenzte Job die Lebensstellung, der vorübergehende Wohnsitz den festen Wohnort. Selbst wenn das Konzept einer stabilen Beziehung oder einer Lebensstellung existiert, unterliegt man immer dem Rechtfertigungszwang oder der Abgleichung des Konzepts mit anderen, die über dynamische Konzepte oder zumindest das Kontingenzbewusstsein verfügen, dass es auch >anders< oder gar >leichter< sein könnte.% So ist es aus soziologischer Perspektive eine prägende Erfahrung der Moderne, dass Selbstverhältnisse an Zeitverhältnisse angebunden sind.97 Wer man ist oder sein möchte, was man zu erreichen strebt, welche Entwicklungsphasen man durchläuft, all dies ist von Zeitabschnitten bestimmt, aus denen sich keine stabile, sondern eine verzeitlichte Identitätsvorstellung ableitet; die Vorläufigkeit sämtlicher Identitskonstrukte illustriert die Verzeitlichung der Identität in der Moderne, der schnelle soziale Wandel führt zum Selbstverlust des Individuums. So werden Existenzen der Tendenz nach >>ebenso ortlos wie Orte identitäts-und geschichtslos«.9s Diese Tendenz wird bisweilen erst für die >postmoderne< Gesellschaft konstatiert, während in der klassischen Moderne die Identitäten weitgehend stabil seien; an Hand des Wandels der Identitätsvorstellung von einer stabilen zu einer verzeitlichten Größe wird der Bruch zwischen klassischer Moderne und Postmoderne kon-
95 Rosa: Beschleunigung, S. 176-194, S. 236-240. 96 Rosa: Beschleunigung, S. 181f. 97 Nach Rosa: Beschleunigung, ist es ein Kennzeichen der modernen Zeitgesellschaft, dass berufliche und auch andere Beziehungen zeitlich beschränkt und bestimmten Lebensphasen zugeordnet sind, siehe S. 236-240. 98 Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis, S. 205ff., H.R.: >>Zwischen Selbstthematisierung und Artikulationsnot? Situative Identität als Fluchtpunkt von Individualisierung und Beschleunigung«, in: Jürgen Straub!Joachim Renn (Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a. M.j New York: Campus 2002, S. 267-302, H.R.: Beschleunigung, S. 174, in Anlehnung an Mare Auge: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt Fischer 1994, und >>Ürte und NichtOrte der Stadt«, in: Helmut BottjChristoph Hubig u.a.(Hrsg.): Stadt und Kommunikation im digitalen Zeitalter, Frankfurt a. M.: Campus 2000, S. 177-187.
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statiert.99 Ich werde zeigen, dass sich die Verzeitlichung der Identität bereits im romantischen Theater abzeichnet und somit die Romantik in Spanien, bestimmt man >modern< über Verzeitlichung, bereits zur Moderne gerechnet werden muss.1oo
Rosa: Beschleunigung, S. 237; Paul Michael Lützeler (Hrsg.): Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Peiformativität, Globalisierung, Tübingen: Stauffenberg 2000; andere Studien vermeiden den Begriff der Postmoderne und belassen es bei einer Moderne im engeren Sinn, also ca. ab 1890, vgl. auch Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der Moderne, Schlüsseltexte der Postmodernediskussion. Mit einem Beitrag von Jean Baudrillard, Weinheim: VCH Acta Humaniora 1988. 100 Die Romantik wird im Anschluss an Foucault gerne als Aufbruch zur Moderne bezeichnet, da Foucault die Tiefenepisteme um 1800 ansetzt und das Gefühl, an einem Umbruch zu stehen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts belegt ist, siehe wie oben Maurer (Hrsg.): Romantik. Aufbruch zur Moderne; nach Stefan Schreckenberg ist romantische Subjektivität durch Merkmale wie Entfremdung und Sinnverlust als Vorgriff auf spätmoderne Formen zu verstehen, siehe Schreckenberg: Erprobung des modernen Subjekts [in Vorbereitung].
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FAZIT: THEATER ALS AKZELERATIONSZIRKEL Die Historizität der romantischen Dramen ist weithin als konstitutiv bekannt. Aus der Perspektive der Akzeleration ergeben sich allerdings neue Anhaltspunkte für die Interpretation der romantischen Theaterproduktionen. Die Historizität scheint die Kehrseite der Beschleunigungserfahrung darzustellen; da die Vergangenheit als gesichert erscheint, wird sie, freilich nur als Folie, der Präsentation zeitgenössischer Erfahrungen und Befindlichkeiten zugrunde gelegt. Als zentraler Aspekt des romantischen Theaters verweist die Wahl historischer Stoffe darauf, dass das Interesse an der Geschichte der Beschleunigung des sozialen Wandels geschuldet ist, die sich im 19. Jahrhundert als Folge der industriellen Revolution potenziert. Die Darstellung der Geschichte in Verbindung mit Einzelerfahrungen, die die rekurrente Struktur aufbrechen und in der Darstellung raum-zeitlicher Außenseiter Beschleunigungs- und Überwältigungserfahrungen der Lebenswelt in das Theater auslagern, scheint ein wesentliches konstitutives Element romantischer Dramenproduktion zu sein. Aber dies führt nicht zur Verweigerung der Entwicklung. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts verbindet sich die romantische Kritik an der Ökonomisierung der Zeit mit der impliziten Affirmation der Akzeleration an sich. Die Umsetzung der romantischen Dramen ist stark von den technischen Entwicklungen im Bühnenwesen geprägt. Da für den Zuschauer die vermittelte Handlung in den Hintergrund geraten und stattdessen die Vermittlung zum zentralen Aspekt der Aufführung werden kann, diese theatralische Zuschauerperspektive vom romantischen Theater gerne an die Inszenierung von Beschleunigung oder die Zeitproblematik an sich geknüpft wird, ist eine enge Verkoppelung der Zeit- und Raumstrukturen mit der Medialität des Theaters zu konstatieren. So erscheint die Reflexion der Mediendimension des Theaters untrennbar verknüpft mit der binnenfiktionalen Beschleunigungsthematik und der metafiktionalen Inszenierung von Beschleunigung. Die ostentative Ausstellung der materiellen Dimension des theatralen Dispositivs scheint besonders dann zur Geltung zu kommen, wenn sie die technische Beschleunigung der Bühne an die Beschleunigungserfahrungen der Figuren koppelt. Das Theater erweist sich hier nicht als Entschleunigungsinsel, sondern als Element eines gesellschaftlichen Akzelerationszirkels. Die Beschleunigung der Kulissen prägt die Sehgewohnheiten des Publikums, und einer Gewöhnungsphase folgt die nächste Beschleunigungsphase auf dem Fuße, ausgelöst durch eine veränderte Erwartungshaltung. Die Bühne wird weiter
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technisch aufgerüstet, das Tempo der Figuren erhöht sich weiter, die Frequenz, in der neu produzierte Dramen erscheinen, steigert sich. So setzt sich das romantische Theater trotz Vergangenheitsbezogenheit paradoxerweise an die Spitze der Beschleunigungsgesellschaft. Da aber kontinuierliche Beschleunigung fast zwangsläufig zum Stillstand führen muss, ist es eigentlich kein Wunder, dass sich nach circa 15 Jahren der romantische Akzelerationszirkel selbst erledigt. Schneller als Don Juan Tenorio kann man schließlich nicht mehr sein.JOl
101 Jose Zorrillas Don ]uan Tenorio (1844) wird häufig als Endpunkt der gesamten spanischen Romantik angesetzt. Beatriz Kampe! begründet diese zeitliche Eingrenzung auf zehn Jahre mit der Unterwerfung Juans unter bürgerliche Normen wie Religiosität und Anerkennung der väterlichen Autorität, womit Zorrilla mit dem Konzept des romantischen Helden breche, vgl. Beatrix Kampe!: >>Verführer und Rebell. Zur romantischen Ausprägung der Don Juan Figur bei Lenau und Zorrilla«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrifl37 (1987), S. 68-89. Der religiös-moralische Aspekt des Dramas ist aber bei gerrauerer Untersuchung kaum zu erkennen, wohingegen die dem romantischen Helden eigene Geschwindigkeit prominent in Szene gesetzt wird und die Akzentuiemng der romantischen Ästhetik und die Ausstellung bühnentechnischer Tricks gerade im zweiten Teil des Dramas in den Vordergrund rücken. Ob eine Eingrenzung auf Jahreszahlen überhaupt sinnvoll ist, mag dahingestellt bleiben; Don Juan Tenorio ist unbestreitbar einer der schnellsten Helden der spanischen Romantik, insofern muss man aus der Perspektive der Beschleunigungserfahrung von einem, wenn nicht dem Höhepunkt sprechen. Allerdings werden bis 1850 weiterhin romantische Dramen produziert und aufgeführt, auf die viele andere Aspekte des Romanticismo zutreffen. Daher widersprechen der zeitlichen Eingrenzung auf 10 Jahre dennoch mit RechtErmanno Caldera: El teatro espanol en la epoca romantica, und Piero Menarini: El teatro romantico espanol (1830-1850). Autores, obras, bibliografla, Bologna: Atesa Editrice 1982, die sich mit dem Aspekt der Beschleunigung nur am Rande befassen. Sie setzten einen zeitlichen Rahmen von 20 Jahren an. Dieser Meinung schließt sich denn auch Michaela Peters an, die zwar die Modernität der Romantik mit den (äsilietischen) Kategorien Zeit, Subjekt und Freiheit fasst, den Aspekt der Beschleunigung aber ebenfalls nur am Rande streift, vgl. Peters: Das romantische Drama und Spaniens Wege in die ästhetische Moderne, S. 21-26.
Ignaz Günther: Chronos Bayerisches Nationalmuseum
2. BESCHLEUNIGUNG UND THEATER
2.1 DIE FLÜGEL DES CHRONOS Gegenwärtige Beschleunigungstheorien beschreiben Akzeleration als einen potentiell Zeit verkürzenden Vorgang. Damit zeigen sie sich einer langen Tradition frühmoderner Erfahrungsberichte verwandt, die, in der endgültigen Bewertung der Vorgänge häufig unentschieden, die beunruhigende Flüchtigkeit des Chronos konstatieren.! Weit davon entfernt, eine systematische Untersuchung zur Zeiterfahrung im 19. Jahrhundert darzustellen, sind diese literarischen Stellungnahmen doch ein interessantes Indiz dafür, dass Beschleunigung in technischen wie in sozialen Bereichen weniger mit Ablehnung denn mit mit Verunsicherung aufgenommen wurde, da die eindeutige Positionierung zur Einschätzung der neuen Entwicklungen wegen deren überwältigender Rasanz noch nicht möglich erschien. 2 Auf die intensive Be-
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Einen Überblick über Aspekte von und Reaktionen auf Beschleunigung im 19. Jahrhundert gibt Andreas Braun: Tempo! Tempo!. So beschreibt Mariano Jose de Larra in seinem Artikel über die Postkutsche die Entwicklung als eine ruckartige, vgl. Mariano Jose de Larra: >>La diligenciaGeschichteErlösung von der Welt< - löst, wandelt sich diese theoretische Erwartungshaltung ab dem 19. Jahrhundert zu einem empirischen Erfahrungswert, der sich mit der Eisenbahn, aber auch schon zu Beginn des Jahrhunderts mit Faktoren wie der beginnenden Industrialisierung, dem Ausbau von Städten und Häfen und der Einführung eines regelmäßigen Postkutschenverkehrs verknüpft.6 Zeitverkürzung wird nun, unab-
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v. Alejandro Perez VidaljLeonardo Romero (Biblioteca Clasica, 92), Barcelona: Critica 1997, S. 348-354, bes. S. 348 f. So in Michel Foucault: »Von anderen Räumen« (1967/1984), in: Jörg Dünne/ Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie, S. 317-329. Vgl. KoseHecks Kommentar zu Chamissos Gedicht »Das Dampfross« (1830); nach diesem erschließt sich die Vergangenheit durch Beschleunigung zunehmend, die Zukunft hingegen entzieht sich immer mehr vgl. Koselleck: Zeitschichten, s. 150-152. Siehe auch in Bezug auf die frühe Neuzeit Miriam Lay Brander: Raum-Zeiten im Umbruch. Erzählen und Zeigen im Sevilla der frühen Neuzeit, Bielefeld: transcript 2011, besonders S. 9-21. KoseHeck zeichnet diese Entwicldung nach und verbindet sie mit der These der Denaturalisierung der Zeit in Zusammenhang mit der mechanischen Uhr und der technischen Beschleunigung durch die Eisenbahn, siehe Koselleck: Zeitschich-
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hängig von der Vorstellung einer Apokalypse und dem Ende der Welt, zu einer Metapher für Beschleunigung. Spanien ist in der ersten Jahrhunderthälfte durch die politischen Unruhen und ständigen Regierungswechsel zusätzlich auf dem sozialen Sektor einer permanenten und beschleunigten Transformation unterworfen, die eine diskontinuierliche ökonomische und soziale Entwicklung zur Folge hat.7 So kommt es erst ab 1856 zu einer systematischen Konstruktion des Eisenbahnnetzes, während sich Privatinitiativen bereits ab 1829 feststellen lassen, Madrid und Barcelona ab 1843/44 über Teilstrecken verfügen, und in anderen Ländern Europas hauptsächlich in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts der Ausbau den Eisenbahnnetzes beginnt.S Die Erfahrungen mit der Eisenbahn als technischem Motor der nunmehr möglichen Distanzverkürzung, einer Maschine, die die Geschwindigkeit in einer Weise steigert, die dem Körper nicht möglich ist, da er immer an die Natur und deren Grenzen angebunden bleibt, bleibt in Spanien zunächst eine über England und Frankreich vermittelte.9 Eile aber gehört zum 19. Jahrhundert; und hält man um 1830 eine
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ten, S. 153-168; den technischen Fortschritt im 19. Jahrhundert beschreibt Pedro Bidagor Lasarte für Spanien als >>rasant, erdrückend>Das 19. Jahrhundert«, in Dieter-J. Mehlhorn (Hrsg.): Spaniens Städte. Kleine Geschichte des Städtebaus in Spanien von den Anfängen bis zum 20. Jahrhundert, Dortmund: Dortmunder Vertrieb für Bau- und Planungsliteratur 1996, S. 209-239, hier S. 209-212; zur Postkutsche und ihrer Wirkung siehe Klaus Beyrer: Die Postkutschenreise, Tübingen: Tübinger Verein für Volkskunde 1985, zur Eisenbahn Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zum Zusammenhang zwischen Beschleunigungserfahrung und politischer Unsicherheitvgl. Hermann Lübbe: >>Zeit-ErfahrungenDas 19. Jahrhundert>Les paysages artificiels«, in: M. D.: Paysages en mouvement, S. 99-166, bes. 111-122.
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Welt schrumpft durch die Erreichbarkeit auf einen Bruchteil ihrer bisherigen Größe. Durch die Eisenbahn potenziert sich diese Erfahrung. Literarische Berichte von Victor Hugo über die belgisehe Eisenbahn (1837) oder Michel Chevalier über die Vorliebe der Amerikaner für technische Beschleunigung (1836) sind Zeugnisse einer intensiven Beschäftigung mit der Wirkung der Eisenbahn auf den Wahrnehmungsapparat des Menschen. Bisweilen wird die Eisenbahn auch Gegenstand der politischen und literarischen Reflexion, noch bevor sie de facto einen regelmäßigen Fahrbetrieb aufnimmt.14 Die überwältigende Bedeutung, die der Eisenbahn für das gesamte 19. Jahrhundert zukommt, wird früh erkannt: »Was mich betrifft, so halte ich die Eisenbahnen allerdings für ein Ereignis auf dem Continente, vielleicht können sie einen Abschnitt in der Weltgeschichte bezeichnen, wie die Buchdruckerkunst« bemerktE. Beurmann bereits 1837 in seinen Berichten über Brüssel und Paris.ls Interessanterweise setzt Beurmann mit dieser Einordnung die Eisenbahn in Beziehung zu kommunikationsmedialen Umbruchssituationen auf technischer Basis wie der Erfindung der Druckerpresse im 15. Jahrhundert. Und tatsächlich rückt die Eisenbahn in ihrer Rezeption in die Nähe der Druck- und übertragungsmedien. Durch ihre Eigenart, Kommunikation zu befördern und unüberwindbare räumliche Distanzen zu überbrücken zeigt sie sich dem Telegraphen verwandt, in ihrem Einfluss auf die visuelle Wahrnehmung des Fahrgastes durch dessen unbeweglicher Position hinter Fensterscheiben, das Vorüberfliegen der Bilder am Abteilfenster, das Verschwinden der Natur hinter der >Landschaft>EI Autor>Theatre and dictatorship«, in D. Th. G: The Theatre in Nineteenth Century Spain, Cambridge: University Press 1994, S. 40-95. 27 Auf den Umbruch um 1800 ist oftmals hingewiesen worden, vgl. wie oben Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge; das Bewusstsein, an einer Epochenschwelle zu stehen, findet sich bei Friedrich Perthes oder Mariano Jose de Larra, der seine Zeit als das Jahrhundert des >>vapor« bezeichnet; zu Wandlung des Begriffs der Gegenwart und der Bedeutung von Krisen für Beschleunigung siehe dazu auch Koselleck: Zeitschichten, S. 162-168.
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SCHNELLER ALS DER SCHEIN
y en pantanos y selvas tenebrosas magnificas ciudades, ilustradas un tiempo y poderosas.zs
Unter dem vordergründigen vanitas-Motiv des Gedichts lässt sich ein differenzierter Zeitbegriff feststellen, der in Zusammenhang mit der technischen Beschleunigung zu bringen ist. Erscheint die Zeit hier personifiziert mit den für Chronos typischen Flügeln, die zum schnellen und unbemerkten Entschwinden dienen, und schlägt der harte Arm ebenso unbarmherzig wie vernichtend zu, so ist die Plötzlichkeit des Angriffs der Zeit hier ebenso angesprochen wie ihre Unerbittlichkeit und ihre Zerstörerische Wirkung (»en polvo el fuerte muro«). Bereits der Ausdruck »impulso« verweist auf die überraschende Schnelligkeit des Zeit-Angriffs; in der Folge beschleunigt der Dichter auch sein Aufzählungstempo und fasst Jahrhunderte in Anspruch nehmende Ereignisse in wenige Verse zusammen, vom Vergehen der Reiche bis zur Verlandung der Meere, vom Aussterben menschlicher Generationen zum Untergang einflussreicher Städte. »Mares se tornan fertiles llanuras«: im Präsens beschrieben, erscheint dieser einige Jahrhunderte in Anspruch nehmende Vorgang in Sekundenschnelle fast gleichzeitig abzulaufen, der Augenblick wird zur elementaren Größe und löscht in sich Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen aus. So entzieht sich bei De Saavedra durch die >Beschleunigung der Geschichte< nicht nur die Zukunft dem Blick, während die Vergangenheit- eine gängige These in Bezug auf die Romantik- gesichert erscheint, sondern auch diese bietet keinen Anhaltspunkt mehr. Kair6s, der Augenblick, wird zum >Unzeitgenossen< des Menschen- keinesfalls zum Verweilen geneigt.29 Durch die Darstellung der Natur zeigt sich das Gedicht der Romantik verbunden, der Bezug zur Antike verweist auf die literarische Herkunft De Saavedras aus dem Klassizismus_Jo Doch werden die Antiken und mittel-
28 Angel de Saavedra, Duque de Rivas: Obras completas, hrsg. v. Enrique Ramirez de Saavedra, Madrid: Sucesores de Rivadeneyra 1894, Bd. 1: Poesias, S. 309-314, hier s. 309. 29 Von einer Beschleunigung der Geschichte spricht Reinhard Koselleck: Zeitschichten, S. 150-176; zu Kair6s als >Unzeitgenosse< Paul Virilio: Der Futurismus des Augenblicks, Wien: Passagen 2010, S. 64; die These der beschleunigungsfeindlichen Romantik findet sich auch in Braun: Tempo! Tempo!, S. 44f. Die meisten der in dieser Weise kommentierten Darstellungen beziehen sich aber auf die zweite Jahrhunderthälfte und beachten die erste Phase der industriellen Revolution wenig. 30 Zu ldassizistischen Elementen in Werk Angel de Saavedras vgl. Ermanno Caldera: >>De Aliatar a Don Alvaro. Sobre el aprendizaje clasicista del Duque de Rivas«, in: Romanticismo 1. Atti del II Congresso sul Romanticismo Spagnolo e Ispanoamericano.
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alterliehen Bauten weder in ihrer Pracht noch als leuchtendes Beispiel für die Zeitgenossen oder als malerische Ruinen geschildert, sondern als Ruinenrest, der dem völligen Verschwinden anheim gegeben wird: >>Ay! Veras pronto su total rüina, seran desmoronados y en vil polvo tornados. - Ach! Bald wird man ihren völligen Untergang erleben, sie werden zerbröckeln und sich in verächtlichen Staub auflösen!« (S. 313). Es wird zwar beklagt, ist aber unausweichlich, dass auch die Reste keinen Ruhm verbürgen, sondern vollständig getilgt werden, wie auch die Namen der Völker, die schnell wie der Blitz, >>cual encendido relampago veloz«, verschwinden und dem Vergessen zum Opfer fallen: >>vuestros nombres sin piedad hundieron« (S. 310). De Saavedra unterscheidet sich insofern von der romantischen Ruinendichtung, die in Spanien ohnehin zu dieser Zeit nicht so ausgeprägt ist wie in England, Deutschland oder Frankreich, als er sich nicht als Flaneur inszeniert, der im Mondschein in den Gebäuderesten über die Vergänglichkeit des Lebens oder die Schönheit der Ruine als ästhetisches Konstrukt sinniert, sondern eher den Akt der Zerstörung und deren Plötzlichkeit in den Mittelpunkt stellt.3 1 Dies unterscheidet ihn auch dezidiert von der barocken Ruinendichtung, die die Folge der Zerstörung und, daran angebunden, das vanitas mundi Motiv wesentlich prominenter setzt als ihr romantischer Nachfahre es tut.32 So thematisiert das Gedicht unter häufigem Gebrauch der Worte >>veloz« und >>fugaz« den Wandel der eigenen Gesellschaft und beschleunigt die Darstellung, indem einige Verse, nunmehr auf die Gegenwart bezogen, fast identisch wiederholt werden und die Beschreibung des Verfalls, auf wenige Verse zusammengedrängt, resümiert wird: >>Templos y torres, puentes y murallas, caeran, caeran entre las fieras manos del tiempo asolador. - Tempel
Aspetti e problemi del teatro romantico, Genova 1982, S. 108-125; zum Romantischen Nieholsan B. Adams: >>The extent of Rivas's RomanticismRömische Ruinen in der englischen Romantik« in: Rom- Europa: TrejJjJUnkt der Kulturen 1780--1820, hrsg. v. Paolo Chiarini, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 257-271, zu Deutschland und der Modernität der Romantik Matthias Schöning: »Zeit der Ruinen. Tropologische Stichproben zu Modernität und Einheit der Romantika su impulso tremendo en polvo se resuelve el fuerte muro« (S. 309). Diese Beschleunigung scheint nun aber mit der Waffe der Zeit in Zusammenhang zu stehen, die auf die Moderne, möglicherweise auf die industrielle Revolution, verweist: >>El hierro poderoso« (S. 309) gibt nicht nur das Werkzeug selbst- die Sichel-, sondern auch ein Material (Eisen) an, das zweierlei Bezugspunkte aufweist: Es ist das Material der Uhrzeigers und es verweist auf die Beschreibung der beginnenden industriellen Revolution als >eisernes Zeitalter>mächtige« Waffe in den Händen der Zeit wird deutlich, dass der Antikebezug nur als Folie für den schnellen Verfall der Gegenwart dient: ~Porque mi mente en amargos recuerdos hoy se ceba, sin advertir el mal que esta presente? ~Que importa que pasaran tantos imperios [... ]? - Weswegen nährt sich nun mein Geist an bitteren Erinnerungen, ohne das Übel zu sehen, das vor ihm liegt? Was bedeutet es schon, dass so viele Reiche untergehen? (S. 313)
In der rhetorischen Frage erweist sich die Gegenwart als wesentlich wichtiger als die untergegangenen Reiche, mögen sie noch so bedeutend gewesen sein. Die Waffe, bei De Saavedra noch in den Händen des Chronos, verselbständigt sich mit dem Voranschreiten der Industrialisierung; in der Jahrhundertmitte wird Arrigo Boito in seinem Gedicht Case nuove (1866) die personifizierte Zeit durch die Bauspekulanten des modernen Mailand ersetzt,
33 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV, in F. N.: Sämtliche Werke, Bd. 1, hrsg. v. Giorgio CollijMazzino Montinari, MünchenjBerlin: de Gruyter 1999, S. 157-510, hier Abschnitt 39.
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die nach dem Vorbild Haussmanns in Paris Mailand neu gestalten wollen.34 Diese wiederum treten nur in entpersonifizierter Form auf: in Form von Abrissinstrumenten nämlich, von Rammböcken und Hämmern, von Werkzeugen zum Einreißen ganzer Viertel. Zappe, scuri, scarpelli. Arleti, mattelli, Istrumenti di strage e di ruina, L'impero e vostro! 0 tempi irrequleti! Hacken, Beile, Skalpelle, Rammböcke, Hämmer, Werkzeuge des Massakers und des Abrisses die Macht ist Euer! Oh unruhige Zeiten!
Dabei verfährt Boito in seiner Beschreibung ähnlich wie De Saavedra: Die Macht der Zerstörung wird im ersten Teil des Gedichts prominent in Szene gesetzt, sogar akustisch vernehmbar durch die Aufzählung lautmalerischer Werkzeugnamen. Im zweiten Teil blickt das lyrische Ich auch ein wenig auf das alte Mailand zurück, viele der Neuen Häuser sind natürlich noch nicht gebaut, und die, die es sind, entbehren der Individualität - sie sind alle weiß und geschmacklos. Der Abriss der älteren Häuser verändert die gesamte gewachsene Stadtstruktur und bringt sogar die alteingesessenen Hausgeister dazu, sich zu entfernen. Durch das Abdecken der Dächer werden unrühmliche wie intime Orte freigelegt, die Toilette ebenso wie das Schlafzimmer. Wird die Zeit bei Boito rhythmisch durch die Hammerschläge der Bauinstrumente strukturiert, so finden sich bei De Saavedra noch lediglich Hinweise auf die beginnende Industrialisierung. Das Gefühl des (zu) schnellen Wandels und der beunruhigenden Technisierung hingegen verbindet beide Gedichte, wobei Boitos Gedicht schon sozialkritisch erscheint, während De Saavedra noch eher konstatierend den beschleunigten Verfall der Gesellschaften und Bauwerke darstellt, ohne 1818 die konkreten Folgen schon beschreiben zu können. Boitos Gedicht wiederum blickt nicht nur melancholisch auf den Zustand in der Vergangenheit, sondern empört sich hauptsächlich über die mangelnde ästhetische Sensibilität der Profitmacher. Ironisch feuert er die Zerstörung noch an:
34 >>Case nuove«, in Arrigo Boito: Poesie e racconti, hrsg. v. Rodolfo Quadrelli, Milano: Mondadori 1981; zur Industrialisierung auch: Enrico Cesaretti: >>A new home for the ltalians? A Iitera! and metaphorical interpretation within the context of Scapigliatura«, in: ForumforModem Language Studies, Special issue on Italian National Identity 38, 2 (2002), S. 140-154.
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Scuri, zappe, arieti, smantellate, abbattete e gaia e franca suoni I' ode alla calce e al rettifilo! Hacken, Beile, Rammböcke, Deckt ab, reißt nieder, und fröhlich und frei Ertöne das Loblied auf den Keil und die Wasserwaage!
Boitos Gedicht konstatiert einen beschleunigten Wandel durch die Industrialisierung, kritisiert aber hauptsächlich die (ästhetische) Achtlosigkeit, mit der er vollzogen wird. Dass er am Ende des Gedichts ausgerechnet »fogna« (Kloake) auf »l'uom ehe sogna« (der Mensch, der träumt) reimt, mag darauf verweisen, dass er die idealisierende Träumerei keinesfalls für eine Lösung des Problems hält. Sind bei Boito die eigenmächtigen Abrissmaschinen rein destruktiv, so ist es in De Saavedras Gedicht ein wenig anders; die Waffe des Chronos ist nicht nur als Werkzeug der Zerstörung interpretierbar, sondern eben auch als Uhrzeiger- syntaktisch wäre >>revolviendo« auch auf >>el hierro poderoso« beziehbar, eine Beziehbarkeit, durch die eine semantische Ambivalenz entsteht. So ist es denn auch der Uhrzeiger, der sich im Kreis bewegt und die artifizielle und unpersönliche Waffe des modernen technisierten Zeitgottes darstellt.JS Mag sich auch 1818 die denaturalisierende mechanische Uhr noch in der Hand der personifizierten Zeit, des antiken Chronos, befinden, wodurch sie sich eine quasi menschliche, nicht denaturalisierte Qualität bewahrt: Chronos' Attribute- die Sichel und die Sanduhr- verschmelzen dennoch bei De Saavedra in eins, der Zeitmesser dieses noch halb metaphorischen Übergangs-Gottes besteht nun schon nicht mehr aus Sand, sondern bereits aus Eisen. Die Uhr selbst hat zu diesem Zeitpunkt schon Eingang in diverse Fabrikhallen gefunden; hier diszipliniert sie die Arbeitszeiten und neutralisiert subjektives Empfinden oder persönliche Organisation. Als denaturalisierte Form der Zeitzählung repräsentiert die Uhr die Entfremdung von der Natur und steht in direktem Zusammenhang mit der Industrialisierung.3G Wenig
35 Auf die Entwicklung und Bedeutung der Uhr verweisen Koselleck: Zeitschichten, S. 154, und Oliver Bidlo: Rastlose Zeiten. Die Beschleunigung des Alltags, Essen: 01dib 2009, S. 48-51. 36 Zur Denaturalisierung der Zeit Koselleck: Zeitschichten, S. 153-168, zur industriellen Revolution und der Disziplinierung der Zeit durch die Uhr auch Oliver Bidlo: Rastlose Zeiten, S. 48-51; zu Plänen zur Beschleunigung der Fabrikarbeit (bereits um 1880) durch Frederic Winslow Taylor siehe Weibel: Die Beschleunigung der Bilder, S. 58-64.
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später wird die Uhr als unabhängige Größe auch Eingang in die Repliken des romantischen Theaters gewinnen, nicht nur in Spanien, sondern davor auch in Frankreich. In Paris, wo sich die meisten exilierten spanischen Dichter - unter ihnen auch Angel de Saavedra - treffen, wird das Theater durch Victor Hugo dominiert und bisweilen irritiert.37 Noch irritierender als die Tatsache, dass ein König sich in einem Wandschrank verstecken muss, erscheint dem Publikum in Hernani, dass der König nach der Uhrzeit fragt: »Quelle heure est-il?« lässt er verlauten und erweist sich damit als moderner Monarch, der sich denn auch am Ende des Dramas würdig seinem Nebenbuhler geschlagen gibt und der Eheschließung Hernanis mit Dofia Sol zustimmt. Dies ganz im Gegensatz zum bösen Don Ruiz, der als alternder Lustgreis das Glück der Liebenden noch rachsüchtig zerstört, auch wenn er selbst keinen Gewinn mehr daraus beziehen kann. Der moderne König hat durchaus Grund, sich um den Fortgang der Zeit zu sorgen, denn in Hernani überschlagen sich die Ereignisse permanent: Ein Rivale nach dem anderen ersteigt Dofia Sols Balkon und dringt in ihr Zimmer ein, einen um den anderen muss sie, da sie sich beinahe auf die Füße treten, verstecken. Dass sie dabei nur über einen Wandschrank verfügt, und der König nicht sehr erfreut ist, in diesem bereits Hernani vorzufinden, macht die Komik der Szene aus, die ganz im Sinne von Hugos Verbindung des sublime und des grotesque konstruiert ist.38 Das Theater inszeniert so aber auch die für die Moderne charakteristische Instabilität von Kontext- und Handlungsbedingungen, die das Individuum ständig zur Revision von Entscheidungen zwingen. Antonio Garcia Gutü~rrez wird diese Häufung der Aktionen und Figuren durch die Technik der Szenenüberblendung perfektionieren und die Schrumpfung der Zeitressourcen spürbar machen, während Angel de Saavedra der Uhr eine bedeutendere Rolle in seinem in Paris geschriebenen Drama Don Alvaro o la foerza del sino geben wird. Geht Hugos König relativ souverän mit der Uhr um, so wird De Saavedras Leonor beinahe zum Objekt der Uhr und von dieser bedrängt, geängstigt, gehetzt.
37 Hugos Hemani sorgt für einigen Aufruhr, wenngleich Uta Feiten die >>bataille de Hernani« als inszenierten Skandal versteht, der Hugo und seinem romantischen Theater die Gelegenheit bietet, Legendenbildung zu betreiben, vgl. Uta Feiten: >>Victor Hugo: Pniface de Cromwell und HemaniPreface de Cromwell«, in: V. H.: Cromwell. Drame en cinq actes (1827), Paris: Furne 1840, S. 3-53.
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2.2 TECHNIK ALS AKZELERATION: PERIÖDICO UND POSTKUTSCHE Fokussiert Angel de Saavedra bereits 1818 die Unbeherrschbarkeit und Unheimlichkeit der schnell verrinnenden Zeit, den Wandel und die daraus folgende Schnelligkeit des Lebens mit Blick auf den technischen Aspekt, so erscheint Mariano Jose de Larra (1809-1837) ungefähr zehn Jahre später als ein Schriftsteller, der, bedingt durch seine Position mitten in einem medialen und gesellschaftlichen Umbruch, die Beschleunigung ganz klar in einen technischen Zusammenhang stellt_ Larra war nur kurzzeitig mit seinen Eltern exiliert und konnte schon 1818 nach Spanien zurückkehren. Als Autor und Herausgeber einiger Zeitschriften machte sich der spitzzüngige Kritiker Anfang der 1830er Jahre einen Namen, arbeitete in der sich etablierenden Gattung des costumbrismo und schrieb Theaterkritiken; das Werk Larras spiegelt viele Aspekte der zeitgenössischen Stimmung in Madrid wider.39 In Larras Articulos, die teilweise in seinen selbst gegründeten Zeitschriften erscheinen, zeigt sich deutlich das Bewusstsein, sich auch in einer medialen Umbruchsituation zu befinden.4o Durch die Einführung der Schnellpresse verdrängen Tageszeitung und wöchentlich erscheinende Zeitschriften das Buch als primäre Informationsquelle;41 die rasche Produktion und die hohe Erscheinungsfrequenz verweisen auf eine sich laufend verändernde gesellschaftliche Struktur, deren Gewissheiten und Interessen sich quasi täglich verändern.42 Technische Be-
39 Zur Gattung des costumbrismo siehe Hans Ulrich Gumbrecht!Juan-Jose Sanchez: >>Der Misanthrop, die Tänzerin und der Ohrensessel. Über die Gattung Costumbrismo und die Beziehungen zwischen Gesellschaft, Wissen und Diskurs in Spanien von 1805 bis 1851«, in: Jürgen LinkfWulfWülfing (Hrsg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 15-62; Jose Fernaudez Montesinos: Costumbrismo y novela. Ensayo sobre el redescubrimiento de la realidad espanola, Madrid: CastaHa 1972. 40 Zur medialen Umbruchssituation und Larras Position siehe Sabine Friedrich: >>Figaro in fabula. Mediale Formen der Selbstbeobachtung bei Mariano Jose de LarraUna mentalidad de transici6nFigaro in fabulaFigaro in fabula«, S. 219f. 44 Erschienen am 26. Januar 1835 in La Revista Espanola 460, vgl. Figaro, S. 292f.; Sabine Friedrich arbeitet die satirische Schreibweise Larras an diesem Artikel heraus, vgl. Friedrich: >>Figaro in fabula«, S. 226-234. 45 Larra in >>Un periodico nuevo«, in: Figaro, S. 293.
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nicht mithalten.46 Der grundsätzlich positiven Haltung gegenüber Fortschritt und Akzeleration tritt ein dezidiert negatives Bild der spanischen Gesellschaft zur Seite, die Larra spöttisch als langsam und schwerfällig beschreibt, und die daher im 19. Jahrhundert, wo Geschwindigkeit Voraussetzung für Aktion und Entwicklung ist, fast zwangsläufig versagen muss. Einerseits erhofft er in seinen Artikeln die Möglichkeit einer Besserung der Umstände, andererseits erwächst aus Beschleunigungshoffnung und Zukunftsorientiertheit gleichzeitig Akzelerationsangst und Zukunftsunsicherheit Diese Ambivalenz der Haltung Larras wird auch in seiner Beziehung zu seinem eigenen Betätigungsfeld, dem der literarischen Produktion, deutlich. Die Schnellpresse bringt durch die rasche Produktion, die erhöhte Anzahl an erreichbaren Lesern aufgrund der Kürze der Artikel und deren Erscheinens in der Tagespresse eine neue Form der Vermittlung hervor und affiziert auch das Verhältnis zwischen Autor und Leser. Da eine tägliche Rezeption möglich und vorgesehen ist, entwickelt sich eine fiktive persönliche Kommunikationssituation, in der der Leser theoretisch auf die Artikel reagieren kann. Diese Rezeption ist für Larra wesentlicher Bestandteil dieser neuen Kommunikationsform, so dass er in seinen Artikeln wiederholt die Fiktion eines persönlichen Besuchs seiner Leser entwirft, die Figaro - seinem journalistischen Alter Ego -ihre Kritik vermitteln oder ihn in der seinen bestätigen.47 Diese fiktive Mündlichkeit steht im Dienste der schnellen Gedankenformation im Rahmen einer täglich erscheinenden Zeitschrift, der schnelle Verfall von Aktualität durch die Presse löst aber bei Larra ein ambivalentes Verhältnis zur Zukunft aus, da die Gleichzeitigkeit der Kommunikation den Augenblick als dominantes Element setzt, während Vergangenheit und Zukunft sich dem Blick zunehmend entziehen.4s Nicht alles, was der Fortschritt bringt, erscheint Larra 1834 wünschenswert:
46 Hier findet sich noch ein Unterschied zwischen den beiden Aspekten der Be-
schleunigung, von denen für Virilio die eine notwendige Folge der anderen ist: Beschleunigung führt für Virilio zwangsläufig zum Stillstand, für Larra scheint der Stillstand die ungewollte Folge zu sein, wenn man sein Tempo nicht der allgemeinen Beschleunigung anpasst. Virilio spricht vom >>Rasenden StillstandFigaro in fabula«, S. 215. 48 Vgl. Virilio: Der Futurismus des Augenblicks, S. 64.
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EI siglo XIX, siglo harto matematico y positivo; siglo de vapor; siglo en que los caminos de hierro pesan sobre Ia imaginaci6n, como un apagador sobre Ia luz. 4 9 - Das 19. Jahrhundert ist übersättigt an Mathematik und Produktion; es ist das Jahrhundert des Dampfes; ein Jahrhundert, in dem die Schienen der Eisenbahn die Imagination überfahren und wie Lichtlöscher wirken.
Der technische Aspekt der beschleunigten Kommunikation und der Verkehrswege scheint die beunruhigende Nebenwirkung zu haben, dass die durch die Entlastung von Organisationszwängen freigewordenen geistigen Kräfte nicht für dichterische Imagination genützt werden, sondern in mathematische Berechnungen und den Entwurf weiterer technischer Konstrukte investiert werden. So bleibt aus Larras Perspektive zu wenig Zeit für inspirierte und inspirierende Neuschöpfungen.so An anderer Stelle allerdings beschreibt er technische Beschleunigung mitnichten als Faktor im Prozess zur Auslöschung der Imagination, sondern als förderlichen Aspekt bei Kommunikation und räumlich-gedanklicher Verbindung: Las diligencias y el vapor han reunido a los hombres de todas las distancias; desde que el espacio ha desaparecido en el tiempo, ha desaparecido tambü~n en el terreno. [... ] Un libro es, pues, a un peri6dico, lo que un carromato a una diligencia. 51 - Die Postkutschen und die Dampfmaschine haben die Menschen aller Entfernungen vereint; seit der Raum in der Zeit verschwunden ist, ist auch die Erde verschwunden. [... ] Ein Buch ist also, verglichen mit einer Zeitschrift das, was ein Karren verglichen mit der Postkutsche ist.
Postkutsche und Dampftechnik stehen hier für die Verbindung der Menschen unterschiedlicher Orte, und in direktem Zusammenhang mit der Produktion und Verbreitung von Gedankengut. Technisch gesehen stellen die Verbesserung der Transportwege und die Einführung fester Fahrzeiten zunächst eine Beschleunigung des Transports dar. Der Straßenbau ermöglicht ein zielstrebiges Durchqueren des Raumes, und die Fortbewegung im Raum prägt das räumliche Bewusstsein, das Gefühl für Entfernung und Zeitdau-
49 Zum >Mal du siede< Larras siehe Susan Kirkpatrik: >>Larra and the Spanish >Mal du siede>Un periodico nuevo«, in: Figaro, S. 293.
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er.sz Ebenso wie der Vorgang der Raumschrumpfung, den Larra hier 1834 formuliert, affiziert das Zeitverhältnis des Menschen aber die Presse; ähnlich wie bei Beurmann findet sich bei Larra eine Verbindung zwischen Verkehrsmitteln wie Eisenbahn oder Postkutsche und der Kommunikationsform der Presse. Beschreibt jener die Einführung der Eisenbahn als ähnlich bedeutsam wie diejenige der Druckerpresse, so vergleicht Larra das Buch direkt mit dem Karren und die Zeitschrift mit der Postkutsche, was die Geschwindigkeit ihrer Produktion und Rezeption angeht und ihre Fähigkeit, den Raum in der Zeit verschwinden zu lassen. Der Transport von Gütern und Menschen hat für Larra neben der Raumschrumpfung noch eine weitere Wirkung, die den sozialen Wandel betrifft: Postkutschen haben die angenehme Eigenschaft, nicht nur als Transport-, sondern auch als Kommunikationsmittel zu dienen: Las ideas se agarran como el polvo a los paquetes y viajan tambü~n en Diligencia. 53 Ideen heften sich wie der Staub an das Gepäck und reisen auch mit der Postkutsche.
So trägt die Einrichtung der Kutsche nicht nur zur Raumschrumpfung, sondern auch zur beschleunigten Weitergabe von Gedankengut und Ideen bei, und wird so ein Faktor in der Beschleunigung des sozialen Wandels. Daher ist die Postkutsche für Larra auch ein beschleunigtes Kommunikationsmittel: La rapidez de las comunicaciones ha sido el vfnculo que ha reunido a los hombres de todos los pafses.s 4 - Die Geschwindigkeit der Kommunikationsformen war das Band, das die Menschen aller Länder miteinander verbunden hat.
Mit seinem Fokus, das Transportmittel als Metapher zu fassen, als ein Medium, das etwas anderes mit sich durch den Raum trägt, nimmt Larra die Entwicklung einer speziellen Wahrnehmung vorweg, die vor allem im 20. Jahrhundert Verbreitung gefunden hat.ss Die Mobilität und Geschwindig-
52 Vgl. Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, übers. v. Ronald Vouille, Berlin: Merve 1980; ähnliche Gedanken formuliert in Bezug auf den Raum, der sich erst durch Bewegung konstituiert, Michel de Certeau: >>Praktiken im Raum>La diligenciaLa diligenciaMecanismes dangereux. Techniques de Ia metaphore et metaphores technques chez Claude SimonLa diligencia«, in: Figaro, S. 349. Larra in >>Un periodico nuevo«, in: Figaro, S. 293; Heinrich Heine spöttelt leicht beunruhigt, die Eisenbahn habe den Raum getötet, so bliebe, hätte man genügend Geld, nur noch die Zeit zu töten übrig, vgl. Heinrich Heine: Gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 449. Harvey: The Condition of Postmodemity, S. 201ff; Larra in >>La diligencia«, in: FIgaro, S. 349.
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Raum überwindbar, so erweist er sich auch als beherrschbar; Raum-ZeitKompression erscheint als Indiz für Beschleunigung: Sie heben alle räumlichen Trennungen durch Annäherungen in der Zeit auf[ ... ] Denn alle Räume sind nur durch die Zeit, deren wir bedürfen, um sie zu durchlaufen, Entfernungen für uns; beschleunigen wir diese, so verkürzt sich für den Einfluss auf das Leben und den Verkehr der Raum selbst. 61
Noch vor der Eisenbahn verändern die Postkutschenlinien durch den reglementierten und beschleunigten Transport von Gütern und Menschen das Verhältnis zu Raum und Zeit.6 2 Diese von Larra so genannten »hijas de la epoca«, unabwendbare Folgen des Fortschritts in der Welt, durchziehen ab 1818 das Land und machen auch isolierte Orte für jedermann erreichbar. In Frankreich sind bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Straßen ausgebaut und die Diligence Royale befindet sich über weite Strecken im Einsatz; in Deutschland und England entwickeln sich um die Jahrhundertwende neue Formen von Beförderungsmitteln.63 Mit dem Voranschreiten des Straßenbaus und der Entwicklung in der Postkutschentechnik wird das Reisetempo innerhalb weniger Jahre verdoppelt, und die Kutsche wird in Hinblick auf die Geschwindigkeit der Fortbewegung wahrgenommen, nicht mehr als »ertragreiche Einnahmequelle zur Aufwertung des staatlichen Finanzhaushaltes«, womit sich die Perspektive und das Ziel des Postkutschenverkehrs grundlegend verändert.6 4 Der Ökonomisierung oder Denaturalisierung der Zeit durch die Uhr, wie sie in der Komprimierung von Aktionen, in der Aufnahme schnellerer Arbeitstechniken und der Einführung amerikanischer Fertigungsmethoden greifbar wird, folgt die Ablösung von ökonomischen Strukturen auf dem Fuße, die Beschleunigung wird Selbstzweck.Gs Durch das Bestreben des Reisenden, möglichst schnell am Ziel anzukommen, bilden sich so auch ab 1821 die >Schnellpost< und der >Eilwagen< heraus, Formen, die auf die Geschwindigkeit des Postwagens bereits im Namen verweisen und die zu überwindende räumliche Distanz aus den Refle-
61 So in Bezugnahme auf die Eisenbahn im Brackhaus Conversations-Lexikon der Gegenwart in vier Bänden, Bd. I/2, S. 1115-1136; kommentiert in Koselleclc Zeitschichten, S. 160f. 62 Zur Postkutsche allgemein siehe Klaus Beyrer: Die Postkutschenreise; zu der RaumZeit-Kompression durch die Erschließung des Raumes durch die Postkutsche auch Kaselleck Zeitschichten, S. 197. 63 Vgl. Beyrer: Die Postkutschenreise, bes. S. 205-210. 64 Beyrer: Die Postkutschenreise, S. 235; zur Verdoppelung der Geschwindigkeiten im Kutschenverkehr wie in der Schifffahrt Kaselleck Zeitschichten, S. 158f. 65 Vgl. dazu auch Knut Hickethier: Medienzeit, S. 6f.
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xionen zu verdrängen suchen.GG Wurden in Spanien vor Einführung der Postkutsche nur unvermeidliche Reisen begonnen, so wird in den 1830er Jahren die Reisegeschwindigkeit erhöht, die Reisetätigkeit alltäglich. Larras Flaneur madrileno beobachtet bei seinen Besuchen am Abfahrtsort der Postkutsche, dem Patio de las Diligencias, in kostumbristischem Ambiente gesellschaftliche Entwicklungen im modernen Madrid und beschreibt ein unterschiedlich geprägtes Verhalten der Personen im Umgang mit der Reise und der Herrschaft durch die Uhr. Der Passagier, der feste Abfahrtszeiten durch häufige Reisetätigkeit bereits gewöhnt ist, tritt ruhig und geordnet in den Hof der Postkutschen, wohingegen seine Begleiter oder >Erstreisende< mit Hast und Sorge, sie könnten die einmalige Gelegenheit verpassen, hereinstürzen, immer ein Auge auf die Uhr gerichtet. Im modernen Madrid lässt sich der Einführung einer denaturalisierten, unabhängigen Zeit zunächst nur durch Erhöhung des eigenen Tempos begegnen; diese leitet sich aus der überholten Angst her, etwas zu verpassen, was nicht nachzuholen ist. 67 Hat sich der Reisende aber bereits an Geschwindigkeit und feste Zeiten gewöhnt und ist daher diesbezüglich entspannt, zieht diese Gewöhnung Unzufriedenheit und den Wunsch nach weiterer Steigerung der Geschwindigkeit nach sich.Gs Denn die reiseerfahrenen Benutzer der Postkutsche haben schon Zeit, sich nach Möglichkeiten umzusehen, die Fahrt weiter zu verkürzen- bei Larra ist es das Abenteuer mit einer Unbekannten, das ein alleine reisender Militärangehöriger anstrebt. Den beschleunigten Reisenden steht die entschleunigte Figur des beobachtenden Autor-Ich gegenüber, quasi ein Flaneur in Madrid.G9 Dieser verharrt in seiner Zuschauerposition und lässt lediglich den Blick schweifen, ähnlich wie dies die Rezeptionshaltung in optischen Attraktionen der Zeit
66 Vgl. den Ausblick auf das 19. Jahrhundert in Beyer: Die Postkutschenreise, bes. S. 235-238; zur Dynamisiemng des Raumes, Verdichtung als Element der Dynamisierung, und die Mobilität im 19. Jahrhundert durch die Postkutsche auch Kay Kirchmann: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck, hier S. 312-326. 67 Vgl. oben Rosa, der die Beschleunigung des Lebenstempos meist aus Verpassensangst und Anpassungszwang herleitet, Rosa: Beschleunigung, S. 213-222; Kay Kirchmann: Verdichtung. Weltverlust und Zeitdruck; Vera KingjBenigna Gerisch (Hrsg.): Zeitgewinn und Selbstverlust. Folgen und Grenzen der Beschleunigung, FrankfurtjNew York: Campus 2009. 68 Bereits bei Larra deutet sich die folgende Entwicklung des beschleunigt Reisenden zum >einsamen Reisenden< an, der sich etwas später im Zug herausbildet- derjenige, der die Reisezeit verkürzen, in der Eisenbahn aber mit Lektüre zu überbrücken sucht und den Kontakt zu den Mitreisenden dann eher vermeidet; eine Tendenz, die in der Postkutsche noch nicht zu ausgeprägt ist, Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 51-66, bes. S. 62-66. 69 Larra in: >>La diligencia«, in: Figaro, S. 350f.
88 I SCHNELLER ALS DER SCHEIN ist, dem Panorama, dem Diorama, aber auch der Eisenbahn. Insofern ist es wenig erstaunlich, dass Larra seine Beobachtungen auch in die Beschreibung des Hinterhofes, in dem die Postkutschen abfahren, einbettet, und diesen in Analogie zum Theater setzt. Zwar sind die Theater im 19. Jahrhundert bereits in eigens errichteten Gebäuden situiert, aber die Tradition der Hinterhofkomödie ist in der Erinnerung Spaniens lebendig, die Position des Beobachters ist eine dem Zuschauer im Theater vergleichbare. So wird der Hinterhof der Postkutschen zur Bühne: Yo por mi parte me he convencido que es uno de los teatros mas vastos que puede presentar Ia sociedad moderna.7°- Ich meinerseits bin davon überzeugt, dass es eines der besten Theater ist, das die moderne Gesellschaft zu bieten hatjdas die moderne Gesellschaft darstellen kann. Der romantische Außenseiter ist durch seinen beobachtenden Blick charakterisiert; dieser richtet sich im Falle Larras aber nicht nur auf die Gesellschaft und ihre Sitten in Madrid, sondern auf die Folgen von technischer Beschleunigung und die Reaktionen auf sie. Technische Beschleunigung und sozialer Wandel sind für Larra nicht nur in der Figur des Liberalen und dem Bild der Postkutsche vereint, sein ganzes Werk steht im Zeichen des Umbruchs, sowohl auf medialer- durch die Einführung des Massenmediums Zeitschriftals auch auf politisch-sozialer und technischer Ebene. In unruhigen Zeiten werden auch die Wege beschleunigt in Angriff genommen, im Hof der Abfahrt der Postkutschen beizuwohnen oder eine Karte für die Eisenbahn zu kaufen aber bedeutet etwas Ähnliches, wie ins Theater zu gehen.
2.3
AKZELERATION ALS TECHNIK: DAS THEATER VON INNEN
2.3.1 Kulisse als Kunst, Schauspiel als Technik Im Gegensatz zum Patio de las Diligencias und seinen Laiendarstellern hält Larra sehr wenig von den professionellen Schauspielern.7 1 Zu Beginn der
70 Larra in >>La diligenciaYo quiero ser c6micoTeatroSTeatro y algo maS>Estado del teatro en Madrid en 1835>Üsservazioni sui difetti prodotti nei teatri dalla cattiva costruzione del palcoscenico (1815-1824)«, in: Franeo Mancini: Scenografia italiana. Dal rinascimento all'eta romantica, Milan: Fratelli Fabbri Editore 1966, S. 14(}-160, hier S. 146. 98 Ribao Pereira zieht diese Schlussfolgerung seltsamerweise nicht, obwohl sie vorher die Lichtinszenierung im romantischen Theater exakt in dieser Weise beschreibt, vgl. Ribao Perreira: Teatro y representaci6n del drama hist6rico en el Romanticismo espaiiol, S. 93; zum Einsatz des Theaterlichts als gestaltendem Element vgl. Kay Kirchmann: Licht-Räume- Licht-Zeiten. Das Licht als symbolische Funktion im Theater der Neuzeit. Ein Essay. Siegen: Universität-GH Siegen 2000 und, prägnanter: >>Vom erhellenden zum gestaltenden Licht.>Del Madrid teatral del siglo XIX: La llegada de la luz. El teatro por horas. Los incendios. Los teatros de verano«>>, in: Consorcio para la Organisaci6n de Madrid Capital Europea de la Cultura (Hrsg.): Cuatro siglos de teatro en Madrid, Madrid: Peres 1992, S. 85-116; zu Beleuchtungstechniken im Theater allgemein Baumann: Das Licht im Theater. 101 Pinedo Herrero: La ventana magica, S 73; Sternherger stellt fest, dass sich die unangenehmen körperlichen Begleiterscheinungen beim Publikum bald legten, vgl. Sternberger: Panorama, S. 25. 102 Wolfgang Iser beschreibt Komik als Kipp-Phänomen, eine Beschreibung, die sich zur Illustration der illusionsfördernden und gleichzeitig illusionsmindernden Wirkung der romantischen Kulisse heranziehen lässt, vgl. Wolfgang Iser: >>Das Komische: ein Kipp-Phänomen«, in: Wolfgang PreisedanzjRainer Warning: Das Komische, München: Fink 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), S. 398-402. 103 So Andreas Braun und Wolfgang Schivelbusch unter Bezugnahme auf Mal-
larme, der in seiner einige Monate erscheinende Zeitschrift La derniere mode die Eisenbahnfahrt durch eine Landschaft als eine dem Theater gleichwertige Vergnügung in seine Rubrik Gazette et programme de la quinzaine aufnimmt (unter dem Titel >>Les gares«, bzw. >>Les voyages«), vgl. Stephane Mallarme: >>La derniere mode: Gazette et programme de la quinzaine« (1874/75), in: CEuvres completes, hrsg. v. Bertrand Marchal, Paris: Gallimard 1970, S. 484-654.
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druck, die Landschaft bewege sich: »Die Eisenbahn bringt sie zum Tanzen«.J04 Die romantische Kulisse ist beschleunigter und beschleunigender Faktor des Theaters. Dies setzt eine Reflexionsbewegung in Gang, die sich auf die Materialität des Theaters richtet und der Illusionsbildung entgegenwirkt; begünstigt wird diese durch die Sehgewohnheiten des Publikums, das entscheidend durch die Kenntnis des Panoramas beeinflusst ist. Die Sehsucht des Zuschauers und seine Sehnsucht nach mehr ist es, die dem Panorama seinen überwältigenden, auch ökonomischen Erfolg garantiert, und die zur Herausbildung weiterer optischer Apparaturen führtlos Bereits vor der Premiere wird im Publikum eine Erwartungshaltung erzeugt, die sich auf Neuerungen der Bühnenmalerei oder Bühnentechnik richtet. 106 Diese Aufmerksamkeitsstruktur verweist auf die bewusst wahrgenommene Artifizialität der Kulisse, die vom Publikum oder auch den Kritiken kommentiert wird; im Zusammenhang mit den romantischen Inszenierungen rückt sie das Theater in die Nähe eines >Gesamtkunstwerkes>amas« - Panorama, Diorama, Georama usw. - abgeht, die sich auf engstem Raum drängen und erweist sich als bereits gewöhnt an die verschiedenen Ausprägungen, vgl. Bodo von DewitzjWerner Nekes (Hrsg.): Ich sehe was, was du nicht siehst!, S. 7; der englische Gast Sidonie von Seefrieds, den sie in Paris in das Diorama führt, ist nur wenig beeindruckt und möchte eigentlich sehen, was sich hinter der Leinwand abspielt, vgl. Sidonie von Seefried: >>Blätter aus einem Albumno [es] solo Ia palabra escrita del poetaUnzeit hervorgucken«.J09 Die Bühnentechnik selbst setzt sich sozusagen en abyme und bildet so ein Theater im Theater.JlO Die Distanz zum dramatischen Geschehen, die der Zuschauer durch die sich selbst ausstellende und reflektierende Kulisse gewinnt, lässt diese als romantische Ironie erkennbar werden, die es durch ihre Distanzschaffung dem Zuschauer erst ermöglicht, das Tragische der Handlung wirklich zu erkennen. Mit Tränen in den Augen sieht man nämlich schlecht.lll
2.4
DAS THEATER VON AUSSEN
2.4.1 Publikum und Presse Das romantische Theater propagiert also die Aufwertung der Kulissenmaler und Maschinisten; über eine vergleichbare Bedeutung verfügten diese vorher nur im Barocktheater des siglo de oro, dessen Bühnentechnik gut dokumentiert ist.J12 Im Theater des 19. Jahrhunderts, so scheint es, ist die Ausstellung theatraler Praxis und Maschinerie nicht Defizit eines unzureichend ausgebildeten Maschinisten, sondern Element einer theatralen Kommunikation, die
108 Auch die Etymologie des Wortes Theater verweist auf die zentrale Bedeutung des visuellen Aspektes für die Aufführung; so entwickelt Ortega y Gasset seine Idea del teatro auf der Basis der Herkunft von 8taTpov < 8wpdv, i.e. >betrachten>falsche Soffitten und oben herausguckende Mittelvorhänge« (S. 61) zerstört.J13 Der Schauspieler seinerseits sekundiert dem >>perfekten Maschinisten« bei der Illusionsdurchbrechung, indem er vor seiner Versenkung in den Graben durch die Falltür, beziehungsweise in Spanien dem escotill6n, erst mehrfach laut auf den Boden stampft, um das Zeichen für den Maschinisten zu geben. Läse man den, in ironisch lobendem Ton verfassten, fiktiven Brief des Autor-Ich an den Maschinisten und den Dekorateur des Theaters als ernsthafte Handlungsanweisung, wäre diese Praxis beinahe schon als Vorgriff auf das epische Theater Brechts oder das absolute Theater Ionescos zu lesen, da die »zweckmäßige Anordnung der Dekorationen und Maschinerien ihn [den Zuschauer] beständig an das Theater erinnern müssen« (S. 60f.). Die kritische Haltung E.T.A. Hoffmanns zum Einsatz der technischen Medien des Theaters wird von spanischen Zeitzeugen konterkariert; es ist bemerkenswert, dass in einer begeisterten, in El Artista veröffentlichten Kritik zu Don Alvaro o la foerza del sino (1835) gerade die häufig wiederholten, technische Aktionen einleitende Pfiffe des Maschinisten lobend hervorgehoben werden, um auf die Neuheit, Besonderheit und Raffinesse der Ausstattung des aufgeführten Dramas und der darin eingesetzten Bühnentechnik hinzuweisen, die den geschwinden Szenenwechsel in seiner Materialität greifbar macht.11 4 Tadelt Hoffmann die Durchbrechung der Illusion durch das Aufstampfen auf die trampa, so lobt der Kritiker in El Artista genau diese - vom Maschinisten ausgehende - Praxis, weil sie den Zuschauer an den technischen Vorgängen teilhaben lässt. Die Aktualisierung der materiellen Seite des Theaters, die den Genuss an der dargestellten Handlung steigert, anstatt ihn zu schmälern, zeigt den positiven und reflektierten Umgang des Madrider Publikums mit den Medien des Theaters auf. Diese Haltung setzt sich aber letztendlich erst mit dem romantischen Theater durch; Anfang der 1830er Jahre ist der Zustand der Madrider Büh-
113 E.T.A: Hoffmann: >>Der vollkommene Maschinist«, S. 58-66. 114 Vgl. El artista, 3 Bde., Bd. I, S. 153-156, hier 155.
100 I SCHNELLER ALS DER SCHEIN nen Larra noch ein Dorn im Auge, die Theaterpraxis scheint den theoretischen Möglichkeiten hinterher zu hinken_ In seinen Artikeln schilt er schlecht ausgebildete Schauspieler und die miserable Verfassung der Theater.m 1835 beschreibt er als Krisenjahr, da die Zuschauerzahlen der Theater zurückgehen, obwohl Dramen und Schauspieler die gleichen seien, insofern der Rückgang des Interesses nur mit dem Bedürfnis nach neuen Stoffen und einer veränderten Praxis zu erklären sei_ Dabei verweist er auf die Notwendigkeit einer Reform, nicht nur der Ausstattung, sondern der Dramen selbst, und schlägt eine Anlehnung an die französischen Vorbilder Victor Hugo und Alexandre Dumas vor, deren von ihm so benanntes »modernes« Theater der zeitgenössischen »epoca de transici6n« angemessen sei.llG Mehr als die Ausstattung scheinen ihm Schauspieler und Publikum ein zentrales Problem des modernen Theaters, da die ersten ignorant seien und das Publikum sich- wie in Spanien üblich- nur langsam an die Veränderungen gewöhne und an alten Vorstellungen festhalte. In seinem 1832 erschienenen satirischen Artikel »Quien es el publico y d6nde se le encuentra?« macht sich das Autor-Ich in Madrid auf die Suche nach dem >PublikumPublikums< erweist sich als wenig offen für Neuerungen, ein anderer Teil verteufelt alles Alte, im Ganzen scheinen die Meinungen aber nicht auf eingehender Betrachtung des Dargebotenen zu basieren, sondern einer gewissen Inflexibilität zu entspringen, die keine differenzierte Stellungnahme erlaubt. So stellt der Autor am Ende die These auf, dass das Publikum wohl an diesem Tag zu Hause geblieben sei (S. 662). Obwohl keine ausführliche Kritik Larras zu Don Alvaro o la foerza del sino vorliegt, kann aus einem kurzen Verweis auf das Drama in diesem Artikel der Schluss gezogen werden, dass es Larras Beifall fand: Don Alvaro sei eines der wenigen »dramas originales escritos en el gusto de la indicada moderna
115 Larra empört sich in seinen Artikeln des Öfteren über den Gestank in den Theatern und über die Tatsache. dass das Öl aus den Lampen häufig in den Zuschauerraum und damit auf die Köpfe der Zuschauer tropfte, vgl. Larra: >>Teatro y algo mas« (EI Espano/18.4.1836). 116 >>Estado del teatro en Madrid en 1835«, in: M. J. de Larra: Articulos de critica literaria, hrsg. v. Helen F. GrantjRobert Johnson, Salamanca: Anaya 1971, S. 169-171, hier S. 170.
BESCHLEUNIGUNG UND THEATER
1101
escuela« (S. 171). Wenig später wird er eine begeisterte Rezension zu Garda Gutü~rrez' El trovador (1836) und dessen >>efectos teatrales« schreiben.m
Antonio Mufioz Degrains: Los amantes de Teruel (1884)
2.4.2 Theater im Bild Steht das Theater unter dem Einfluss von externen optischen Medien, die für die Bühne adaptiert werden, so hat die romantische Bühnengestaltung ihrerseits Auswirkungen auf die Entwicklung der romantischen Bildproduktion. Es entstehen in den Folgejahren Illustrationen zu romantischen Dramen, die ihrerseits den Raum in theatraler Form gestalten. So Antonio Mufioz Degrains 1884 entstandenes großformatiges Gemälde Los Amantes de Teruel, das auf der Grundlage des gleichnamigen Dramas von Eugenio Hartzenbusch die Todesszene der Liebenden darstellt. Die Aufteilung des Bildes erscheint als Theater im Theater:lls Während sich die Liebenden im Bildvordergrund befinden, theatralisch beleuchtet, dienen die anderen tatenlosen Figuren im Hintergrund als Zuschauer der Szenerie und bleiben weitgehend unbeleuchtet. Zeigt sich bei den Amantes de Teruel die romantische Kulisse nun wiederum gespiegelt in der Malerei,
117 Veröffentlicht in EI Espanol (4.f5. März 1936), vgl. Larra: Articulos, S. 362-368. 118 Vgl. die Ausstellungsräume zur Romantik im Museo del Prado, Madrid, hier Nr. P04521, auch Galeria online: http:/ jwww.museodelprado.esjcoleccionjgaleriaon-linejgaleria-on-linejobrajlos-amantes-de-teruelj
102 I SCHNELLER ALS
DER SCHEIN
so erscheint Francisco Pradilla y Ortiz' ]uana la Loca (1877) sich sowohl theatralen Szenerien als auch Darstellungen von Geschwindigkeit verwandt. 119
Francisco Pradilla y Ortiz: juana la Loca (1877)
Stillstand steht hier Bewegung gegenüber, Juanas Welt steht durch den Tod ihres Mannes still; ihre Unbeweglichkeit wird vom Wind kontrastiert, der an ihrem Schleier reißt und den Rauch des Feuers in die Richtung des abziehenden Trauerzuges treibt. Diese Bewegung erscheint fast analog zu Turners Schneesturm auf dem Meer (1839) oder Regen, Dampf und Geschwindigkeit (1829), wobei auf letzterem Bewegung und Geschwindigkeit durch Dampf illustriert wird, der analog zum Rauch bei Juana erscheint. Ganz ähnlich zeigen sich Claude Monets Bahnhofsbilder, die einerseits durch Dampf und Ankunft Beschleunigung, andererseits durch die Unterteilung des Bildes in eine leere >Vorderbühne< und eine bebaute >Hinterbühne