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German Pages [829] Year 2020
Helmut Wohnout /Andreas Pacher (Hg.)
Sapientia – Temperantia – Fortitvdo – Ivstitia Festschrift für Wolfgang Johannes Bandion
Helmut Wohnout, Andreas Pacher (Hg.)
Sapientia, Temperantia, Fortitvdo, Ivstitia Festschrift für Wolfgang Johannes Bandion
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1/6a, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Andrej Jemec, „V središču vsega je človek III“ (Der Mensch im Zentrum von Allem III), 2018, Acryl auf Leinwand, Foto von Matija Pavlovec. Abbildung S. 2: Franz Viehauser, W.J.B., Bronze, 2001 Korrektorat: Gabriele Fernbach, Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21064-1
Inhalt
Zum Geleit
Jean-Claude Kardinal Hollerich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Editorial
Helmut Wohnout/ Andreas Pacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Eine persönliche und biographische Spurensuche Durch die Brille seines Schwagers
Der Versuch einer Porträtzeichnung Georg Karasek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die Freiheit ist immer ein gemeinsames Gut
Willi Mernyi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26 „Der Mensch nämlich ist das Ziel der gesamten Schöpfung“
(Thomas von Aquin, S.c.G. 3,22) Toni Faber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Eine literarische Spurensuche
Andreas Pacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
I. Sapientia Österreich und Europa – Inspiration aus Recht, Kunst und Glauben Die immer neuen und alten Aufgaben Österreichs in Mitteleuropa
Perspektiven der österreichischen Mitteleuropapolitik Erhard Busek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
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Inhalt
Die Gretchenfrage der Moderne
Johannes Huber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .47 Mit den Elefanten tanzen
Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit als Maß einer Politik der sozialen Mitte Clemens Martin Auer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Im Zeitalter der großen Wanderungen
Die europäische Migrationsgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte Michael Spindelegger / Martin Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Identität und Integration
Der Beitrag der europäischen Kulturpolitik zum vereinten Europa Stefan Zotti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Christliche Werte in Recht und Politik – eine Tour d’ Horizon
Theresa Philippi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Wie eine Diözesangrenze zur Staatsgrenze wurde
Vincenc Rajšp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Leere Bilderrahmen
Zur „Enttragung“ von Sammlungsobjekten aus dem Kunsthistorischen Hofmuseum durch die italienische Militärmission im Frühjahr 1919 Franz Pichorner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Liturgische Vielfalt in den Ostkirchen Österreichs im Lichte von lex orandi und lex credendi
Hans-Jürgen Feulner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Der Islam und die Zukunft Europas
Michael H. Weninger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Volksfeste, Schaustellerei & Geisterbahn: Lebendiges Kulturgut
Steve Kayser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
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Inhalt
Die Perspektiven der Autonomie für Kirchen, religiöse Vereinigungen und Gemeinschaften in der Europäischen Union im Lichte des Art. 91 DSGVO
Irena Lipowicz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Staatliche Ehrenzeichen im diplomatischen System
Andreas Pacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 „Stätten“ der Wissenschaft, der Lehre und der Künste in der Österreichischen Bundesverfassung
Teresa Schön . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
II. Temperantia Jerusalem, Rom und andere lieux de mémoire christlicher Erinnerung Ein Prestigebau auf der Kippe
Neue Quellen zur Gründungs- und Baugeschichte des Österreichischen Pilger-Hospizes in Jerusalem Helmut Wohnout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Franz Joseph im Orient. Motive und Stationen der Reise zur Eröffnung des Suez-Kanals
Franz Joseph: Politiker, Pilger, Privatier Markus St. Bugnyár . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Christliche Pilgerfahrten und Pilgersouvenirs aus dem Heiligen Land bis 1917
Paul Rachler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Österreichische und deutsche Forscher im Vatikanischen Archiv und in der Vatikanischen Bibliothek
Christine Maria Grafinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Der Staat der Vatikanstadt
Bausteine seiner Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart Harald Tripp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
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Inhalt
Stift Stams und die Tiroler Landesfürsten
German Erd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 HIC EST MAGNVS IMPERATOR BONI FRVCTVS BONVS SATOR
Johannes Neuhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Ein Kaiser als Epochenverschlepper
Der österreichische Escorial als Traumbild und Ausdruck des Reichsstils Nicolaus Buhlmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Die Heilige Krone Österreichs
Udo Thianich-Schwamberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Vom Ärgernis der Fleischwerdung
Der Bildhauer, Maler und Graphiker Alfred Hrdlicka in theologischer Perspektive Johannes Wais . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
III. Fortitvdo Zu Spiritualität und Geschichte der geistlichen Ritterorden Der Heilige Bernhard als Quelle ritterlicher Spiritualität
Gregor Henckel Donnersmarck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 „Tuitio Fidei et Obsequium Pauperum“
Betrachtungen zum Leitwort des Souveränen Ritter- und Hospitalordens vom Hl. Johannes zu Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta, im Blick auf den Stand der Ritter und Damen in Oboedienz Josef Clemens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Zwischen Wiederherstellung der Vergangenheit und Sendung in der Gegenwart – Pio Franchi de’ Cavalieri und der Historismus im Malteserorden
Ignacio Garcia Lascurain Bernstorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Malteserorden als Völkerrechtssubjekt
Geschichte und Gegenwart Eduard Ivanov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
9
Inhalt
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918). Stationen eines Lebens
Bernhard Huber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Einige Beobachtungen zur tschechoslowakischen Bodenreform 1918–1938 auf den Besitzungen des Deutschen Ordens
Ernst Bruckmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 Der Ritterorden vom Heiligen Grab im Lichte der Gründung der Statthalterei in Österreich im Jahr 1933
Nicolaus Drimmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Annotazioni sul Sacro Militare Ordine Constantiniano di San Giorgio
Anmerkungen zum Heiligen Konstantinischen Ritter-Orden vom Heiligen Georg Maximilian Deym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618
IV. Ivstitia Erinnern und Wachhalten – Das Vermächtnis der Überlebenden Die Wiederentdeckung eines wahren Zeugen des Glaubens aus Oberösterreich
Maximilian Aichern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Sowjetische Häftlinge im Konzentrationslager Mauthausen
Alexey Konopatchenkov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 Das Nebenlager Redl-Zipf und die zweite Phase der „Aktion 14f13“ in der Tötungsanstalt Hartheim (1943–1944)
Neue Erkenntnisse in der Mauthausen-Forschung Jean-Marie Winkler / Cyril Mallet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 Mauthausen und darüber hinaus
Auseinandersetzung des Bundesdenkmalamtes mit Gedenkstätten und Erinnerungsmalen in jüngster Vergangenheit Paul Mahringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
10 Inhalt „... ich habe ihn ja nicht sehen müssen ...“
Die Mühlviertler Menschenjagd in Wartberg ob der Aist in der Wahrnehmung der Lokalbevölkerung Andreas Baumgartner-Danilović . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Budapest 1944/45: Bemühungen des Vatikans zur Rettung ungarischer Juden
Szabolcs Szita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gedenkarbeit im Umfeld von Mauthausen, betrachtet im Kontext europäischer Erinnerungskultur
Peter Gstettner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Juristische Vergangenheitspolitik oder: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Rechtsanwendung
Ulrich Wagrandl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 Die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes und das Doppelbestrafungsverbot
Martin Kaplans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 Die Israelitische Kultusgemeinde in herausfordernden Zeiten
Raimund Fastenbauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 Tabula Gratulatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820
Zum Geleit Jean-Claude Kardinal Hollerich
Jene vier Tugenden, die zuweilen auch Kardinaltugenden genannt werden, beziehen sich nicht auf das Amt eines Kardinals, sondern haben ihren Ursprung in der griechischen Philosophie Platons, der diese Tugenden als Angelpunkte (auf Lateinisch cardines) im Leben eines Menschen sah. Ein tugendsames Leben schien immer erstrebenswert und wurde als Schlüssel für ein friedliches und glückendes Miteinander gesehen. Wolfgang Johannes Bandion ist in vielfältiger Weise mit unterschiedlichen Menschen und Persönlichkeiten im Gespräch. Er besitzt dabei die seltene Gabe des Zuhörenkönnens. Gerade Gespräche und der Austausch von Gedanken sind in unserer Zeit von großer Wichtigkeit. Erinnern heißt Erzählen, und Erinnern heißt Zuhören. Auch wenn in seiner Erinnerung nicht das ganze zwanzigste Jahrhundert direkt vertreten ist, so ist er doch einer jener Glücklichen, die erst nach dem Großen Krieg geboren wurden, dessen Familie ihm aber das Gefühl für – oder besser: die Einfühlsamkeit in – die dramatische Geschichte dieses Kontinents früh vermittelt hat. Dieses Hinhörenkönnen und das Leben des Widerspruchs, das Realisieren des contra dicere, wenn Menschen Unrecht geschieht, zeichnen ihn aus. Die Vielfalt seiner Interessen ist beeindruckend; ich denke in diesem Zusammenhang etwa an einen seiner letzten Beiträge in dem Buch „Via Crucis“, einen Meditationstext zum Kreuzweg von Ernst Arnold Bauer und P. Karl Kern SJ. Als Erzbischof von Luxemburg bin ich mit Wolfgang Bandion über die Grenzen unserer Länder hinaus durch studentische und universitäre Traditionen in zwei so unterschiedlichen Weltstädten – Rom und Tokio – verbunden.
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Jean-Claude Kardinal Hollerich
Der vorliegende Band, der aus Anlass seines Geburtstages erscheint, spiegelt Wolfgang Bandions Freundschaften und Interessen in gelungener und eindrucksvoller Weise wider: als die eines Menschen, der seine Vision von Europa im Herzen trägt und dafür brennt. Vielleicht ist dieses vorliegende Buch auch eine Gelegenheit, zu reflektieren, wie klassische Vorstellungen von Tugenden auch in unserem Leben des 21. Jahrhunderts einen Platz finden können.
Editorial Helmut Wohnout / Andreas Pacher
Die vorliegende Festschrift ist Wolfgang Johannes Bandion zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Weggefährten, Freunde und Kollegen steuerten Beiträge aus all jenen Themenfeldern bei, die im Leben des Polyhistors Wolfgang J. Bandion eine Rolle spielen. Sie schlagen so Brücken zu seinem eigenen und vielfältigen Oeuvre. Wolfgang J. Bandion ist ein Wanderer zwischen Welten, zwischen Kunst und Kirche, zwischen Geschichte und Recht. Konventionelle Versuche einer Einordnung greifen nicht. Wolfgang J. Bandion war und ist genauso akademischer Gelehrter, u.a. an der Universität für angewandte Kunst, wie ein emphatischer Volksbildner anknüpfend an den 1977 verstorbenen Prof. Hugo Ellenberger, der ihm Mentor und Vorbild war. Er ist ein sich in seine Studien vertiefender Wissenschaftler, genauso wie ein aufgeschlossener Philanthrop und Kulturvermittler. In seiner Kuratorentätigkeit spannt er einen weiten Bogen von der klassischen bis zur prononciert-zeitgenössischen Kunst. Mit beispielloser Leichtigkeit hebt er Konventionen auf. Sein Wissen darum, dass der Spielraum des Möglichen noch lange nicht ausgeschöpft ist, verleiht eine befreiende Distanz zur Wirklichkeit. Wolfgang J. Bandion ist ein Konservativer im besten Sinn des Wortes. Er ruht in sich und seiner humanistisch-christlichen Weltsicht. Bleibendes bewahren, offen sein für Neues, eine Neugierde für geistige und kulturelle Weiterentwicklungen und die Toleranz im Denken und Handeln; all das bestimmt sein Leben. Die Gliederung dieser Festschrift richtet sich nach den vier klassischen Tugenden, die zugleich titelgebend für diesen Band sind. Den für sie häufig verwendeten und ein wenig missverständlichen Begriff „Kardinaltugenden“ prägte Ambrosius von Mailand. Er fasste die auf die griechische Philosophie des fünften vorchristlichen Jahrhunderts zurückgehenden vier zentralen Tugenden zusammen. Um sie sollte sich nach Ambrosius wie um eine Türangel, lateinisch cardo, das gesamte sittliche Handeln drehen. Die Kardinaltugenden sind also, auch etymologisch gesehen, Dreh- und Angelpunkt eines geglückten Lebens. Aus Weisheit – Sapientia ist Wolfgang J. Bandion seit früher Jugend ein überzeugter Europäer. Diese Überzeugung baut auf der übernationalen Identität Österreichs, seines Herrscherhauses und seines weit über die heutigen Grenzen Österreichs hinausreichenden geistigen und kulturellen Erbes auf. Das richtige Maß – Temperantia steht für Wolfgang J. Bandion in einem direkten Kontext zu den drei göttlichen Tugenden: Glaube, Liebe
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Helmut Wohnout / Andreas Pacher
und Hoffnung. Diese führen ihn, als Kulturanthropologen, genauso zu den Zentralorten des Christentums wie zu allen Ausdrucksformen christlicher Kunst. Tapferkeit – Fortitudo, das Standhalten bei Schwierigkeiten und das Durchhaltevermögen im Dienst am Nächsten, spiegelt sich für Wolfgang J. Bandion in den Idealen der geistlichen Ritterorden und ihrem reichen, bis in die Gegenwart reichenden Auftrag wider. Für die Bibel ist der gerechte Mensch der Topos schlechthin. Einen zeitgemäßen Ausdruck findet dieser Gedanke in den „Gerechten unter den Völkern“ in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Sein Sinn für Recht und Gerechtigkeit – Iustitia bewog Wolfgang J. Bandion schon früh in seinem Leben dazu, seine Augen nicht vor den Schreckensbildern des nationalsozialistischen Unrechtsregimes zu verschließen, im Gegenteil: Noch zu einem Zeitpunkt, als die Auseinandersetzung mit der NS-Vernichtungsmaschinerie in Österreich eher beiseitegeschoben wurde, wurden die Aufrechterhaltung der Erinnerung an das KZ Mauthausen und die Sensibilisierung für die in seinen zahlreichen Nebenlagern verübten Verbrechen für Wolfgang J. Bandion zu einer Lebensaufgabe. Seine Heimatstadt Wien kennt Wolfgang J. Bandion wie kaum ein anderer. Mit seinem Opus magnum „Steinerne Zeugen der Stadt Wien“ setzte er ihr ein schriftstellerisches Denkmal. Seit jeher dienen ihm aber als Gegenpol zum regen Treiben der Wiener Innenstadt Klöster als Rückzugsorte zur Sammlung und als Quellen der Inspiration, u.a. das Augustiner Chorherrnstift Klosterneuburg, das Benediktinerstift Melk oder im Westen Österreichs das Zisterzienserstift Stams in Tirol. Die wissenschaftliche Breite geht bei Wolfgang J. Bandion Hand in Hand mit einem internationalen, weit über Grenzen hinausreichenden Denkansatz. Räumlich ist er somit in vielen Welten zu Hause. Bereits in Kindheitstagen ist Rom zu einer weiteren Heimat von Wolfgang J. Bandion geworden. Schon damals beeindruckten ihn die antiken Bauwerke genauso wie die barocken Kirchen der Ewigen Stadt. Im Zuge von frühen Studien in den Vatikanischen Archiven knüpfte er Kontakte zu den am Heiligen Stuhl tätigen Österreichern, allen voran zu dem der Vatikanischen Bibliothek vorstehenden Kurienkardinal Alfons Maria Stickler sowie zu Erzbischof Alois Wagner, dem Vizepräsidenten des päpstlichen Rates Cor Unum. Auf akademischen Boden fand Wolfgang J. Bandion in Rom Anschluss an die katholische Studentenverbindung K.a.V. Capitolina. Er gehört der Erzbruderschaft am Campo Santo Teutonico an und entwickelte enge Kontakte zu Rektorat und Priesterkolleg der als Stiftung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gegründeten Santa Maria dell’Anima. Im Zuge von dutzenden Studienreisen und Exkursionen gibt er unermüdlich sein Wissen um die Geheimnisse des antiken und christlichen Roms weiter. Im Laufe der Zeit wurde neben Rom auch Jerusalem zu einem Fixstern im Leben von Wolfgang J. Bandion. Pilgerreisen zu den Stätten des Leidens und Sterbens Jesu Christi
Editorial
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waren für ihn naheliegend, nicht zuletzt auf Grund seiner Zugehörigkeit zum Souveränen Malteser Ritterorden. Genauso fasziniert ihn Jerusalem als zentraler Platz aller drei monotheistischen Weltreligionen, als Ort des Aufeinandertreffens von Juden, Christen und Muslimen und der damit verbundenen Überlieferungstraditionen. Das österreichische Pilgerhospiz an der Via Dolorosa wurde ihm im Laufe der Jahre zu einer vertrauten Heimstätte in Jerusalem und zum Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Studien über die Wechselwirkungen von Orient und Okzident, etwa am Beispiel des legendären und zuletzt von den Habsburgerkaisern geführten Titels eines Königs von Jerusalem. Auf den ersten Blick überraschend sind die Verbindungsstränge Wolfgang J. Bandions in den Fernen Osten, in erster Linie nach Japan und China. Am European Institute der Sophia University in Tokio fungierte er wiederholt als Vortragender und gehört als einer der wenigen Österreicher der an dieser Universität gegründeten Studentenverbindung A.V. Edo-Rhenania zu Tokio an. Zum wechselseitigen Kulturaustausch trug er außerdem durch seine mehrfache Vorlesungstätigkeit am Fine Art College der Shanghai University in China bei. Nicht alles kann an dieser Stelle erwähnt werden, wie etwa Wolfgang J. Bandions zahlreiche Initiativen zu künstlerischen Interventionen, Gedenktafeln und Denkmälern, die er zusammen mit oft jungen Künstlern auf den Weg brachte, oder die unzähligen von ihm arrangierten Vernissagen und Lesungen. Lediglich ein Beispiel soll genannt werden: Als Präsident des Clemens Maria Hofbauer Komitees initiierte er den von Oskar Höfinger künstlerisch gestalteten Reliquienaltar für den Wiener Stadtpatron in der Kirche Maria am Gestade in der Wiener Innenstadt. Dem vorausgegangen waren die von Wolfgang J. Bandion noch in der Zeit des Eisernen Vorhangs begründeten Pilgerfahrten in das südmährische Tasovice (Taßwitz), den Geburtsort Clemens Maria Hofbauers. Grenzen zu überwinden war für Wolfgang J. Bandion stets eine faszinierende Herausforderung. Es sind Grenzen in einem ganz unterschiedlichen Sinn: geographische Grenzen in Mitteleuropa, ideologische Grenzen in seinem Engagement für eine zeitgemäße Erinnerungskultur, religiöse Grenzen in seinem ökumenischen Werben für ein gegenseitiges Verständnis der Konfessionen und Religionen und – in seinem interdisziplinären Ansatz – Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen, die er, scheinbar mühelos, überschreitet. All das trug Wolfgang J. Bandion in Österreich und im Ausland Ehrungen und hohe sichtbare Auszeichnungen sonder Zahl ein. 2000 wurde ihm vom österreichischen Bundespräsidenten der Berufstitel Professor verliehen, obzwar er einen solchen schon seit langem verkörperte: in seinem Habitus, in seiner Noblesse und in der Begabung, sein umfassendes Wissen weiterzugeben. Vieles von Wolfgang J. Bandions faszinierender Persönlichkeit und seinen vielfältigen Interessen spiegelt sich in den Beiträgen der vorliegenden Festschrift wider. Als Heraus-
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geber dürfen wir allen Autoren aus Wissenschaft und Kunst sowie Kirche und Politik für die interessanten beigesteuerten kleineren und umfangreicheren Studien und Miszellen danken. Da sie aus ganz unterschiedlichen Sparten und Disziplinen kommen, entschlossen wir uns in formaler Hinsicht dazu, nicht über alle Beiträge das Korsett der wissenschaftlichen Zitierweise einer bestimmten Fachrichtung überzustülpen, sondern im Sinne der auch vom Jubilar geschätzten wissenschaftlichen Vielfalt die unterschiedlichen Zitierweisen beizubehalten. Ein für alle Beiträge gemeinsames Personenregister findet sich am Ende des Buches. Es soll die wissenschaftliche Erschließbarkeit des Bandes erleichtern. Einen großen Dank dürfen wir Hannes Scheucher für die speziell für diese Festschrift kreierte Darstellung der vier Tugenden aussprechen. Das Cover verdanken wir Andrej Jemec; Linde Waber, Stephan Hilge, Danka Kubin, Jürgen Messensee und Ernst Skrička gratulierten mit speziellen Ausgestaltungen. Auch hatten die Herausgeber die einmalige Gelegenheit, zahlreiche Artefakte aus den Beständen der Sammlungen des Jubilars passend zu den einzelnen Beiträgen auszuwählen. Schließlich dürfen wir auch dem Verlagshaus Böhlau, namentlich Dr. Ursula Huber und Mag. Bettina Waringer, für die sorgfältige editorische Betreuung des Buches und Udo Thianich-Schwamberger für die Erstellung des Personenregisters danken. Wien, im Oktober 2020
Editorial
Jürgen Messensee, Kopf N. für Wolfgang, Kohle, Acryl auf Leinwand, 2018
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Eine persönliche und biographische Spurensuche
Durch die Brille seines Schwagers Der Versuch einer Porträtzeichnung Georg Karasek
Wolfgang Bandion ist ein Privatgelehrter der alten Schule. Solche Gelehrten, die ihren Lebensunterhalt nicht durch ihre denkerische Arbeit sichern, gab es schon in der Antike, und dass Wolfgang in der heutigen Zeit diese Rolle einnimmt, hängt zweifellos mit seinem Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit zusammen. Jede Form der Einengung ist ihm zuwider, Gedankenfreiheit hingegen ist ihm schon seit seiner Jugend ein hohes Gut. Nie hat er sich von zeitgeistigen Strömungen beeinflussen lassen. Sein Weltbild war und ist klar und wird sich auch morgen nicht im Winde drehen. Wolfgang ist als Historiker und Kunsthistoriker fest in der österreichischen und europäischen Geschichte verankert. Die Welt von gestern, die Kultur des alten Europa, ganz besonders die von Wien und der k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn, all das hat ihn immer schon in seinen Bann gezogen. Nicht etwa aus Nostalgie, sondern weil er überzeugt ist, dass der Blick für das große Ganze das Wesentliche ist. Auch wenn er es vielleicht nicht so deutlich formuliert, schwingt bei seinen Gedanken immer mit, dass wir alle aus der Geschichte lernen sollen. Auch wenn viele, die Wolfgang kennen, vermutlich nicht ohne weiteres das Attribut „modern“ mit seinem Namen verbinden würden, ist er es auf seine Weise doch: Schon zu einer Zeit, als es noch nicht selbstverständlich war, für die europäische Idee einzutreten, setzte er sich für das Zusammenwachsen der Länder dieses Kontinents ein. Nicht nur Europa spielt in seinem Leben eine große Rolle, sondern auch die katholische Kirche. Schon in sehr jungen Jahren verfasste er ein umfangreiches kunstgeschichtliches Werk über alle Wiener Kirchen. In den „Steinernen Zeugen des Glaubens“ beschränkte er sich jedoch nicht nur auf die Darstellung der katholischen Kirchen, sondern beschrieb auch die evangelischen und orthodoxen Kirchen sowie die heiligen Stätten der Juden, Moslems und Buddhisten. Sein Anliegen war es, mit diesem Buch ein lebendiges Bild vom „Heiligen Wien“ zu zeichnen, unter Einbeziehung des Glaubens aller Menschen dieser Stadt. Auch das zeigt deutlich seinen Blick für das große Ganze. Das Buch erschien im Oktober 1988, und gut dreißig Jahre später würde so manchem Mitbürger eine solch weitblickende Einstellung gut anstehen. Die „Steinernen Zeugen des Glaubens“ sind auch
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Georg Karasek
Zeugen seines humanistisch geprägten Weltbilds, und so ist auch ein Zitat des großen Papst Johannes XXIII. in seinem Vorwort zu verstehen: „Wir sind nicht auf der Erde, um ein Museum zu hüten, sondern einen Garten zu pflegen, der von glühendem Leben strotzt.“ So hat Wolfgang – anders als so mancher andere Privatgelehrte – seine Gedanken auch aktiv aus seiner Studierstube hinausgetragen. Bei seinen Führungen durch Wien und seinen Vorträgen bringt er seit vielen Jahren den Menschen nicht nur die Kunstschätze seiner Heimatstadt nahe, sondern teilt auch seine gedanklichen Verbindungen zwischen gestern und heute mit ihnen. Neben kunsthistorischen Fakten vermittelt er so Weltoffenheit und humanistische Breite, verbunden mit einer katholisch-liberalen Einstellung. Es überrascht daher nicht, dass Wolfgang seit vielen Jahrzehnten im Mauthausen-Komitee aktiv ist. In der jüngeren Vergangenheit hat das Komitee das Schwerpunktthema „Niemals Nummer – Immer Mensch“ gewählt – ein Motto, das auch sein Motto ist. Er war immer schon ein Kämpfer gegen jede Form des Rechtsextremismus aus tiefer innerer Überzeugung. Eines seiner großen Anliegen ist auch die Verbindung von Kirche und Kunst. So engagierte er sich gemeinsam mit Prälat Alfred Sammer, dem damaligen Rektoratsdirektor an der Akademie der bildenden Künste und späteren Bischofsvikar der Militärdiözese der Republik Österreich, in der Österreichischen Gesellschaft für Christliche Kunst. 1996 wurde Sammer zum Mitglied der Päpstlichen Kunstakademie am Pantheon berufen – eine glückliche Fügung, die Wolfgang einen weiteren willkommenen Anlass für oftmalige Romreisen bot, die auch davor schon Tradition hatten. Wolfgang hat im Laufe der Zeit zahllose Gruppen nach Rom geführt, denen er fachkundig die kulturellen und religiösen Kunstschätze der Ewigen Stadt nahebrachte. Auch das zeigt: Für Wolfgang endet die Welt nicht an der Stadtgrenze von Wien. Übrigens: Im Jahre 1977 führte uns unsere erste gemeinsame Italienreise nach Apulien. Dort entdeckte er – diesmal unter meiner fachkundigen Führung –, dass Italien nicht nur aus Kirchen und Altertümern besteht, sondern dass auch seine Küche und Weinkultur nicht zu verachten sind. Nicht nur in Italien ist Wolfgang häufig zu finden. Bei seinen zahlreichen Aufenthalten am Attersee scheint er fast immer mit schönem Wetter gesegnet zu sein – nur bei unseren gemeinsamen Aufenthalten müssen wir allzu oft bei strömendem Regen die Kinder in Schach halten. Wetter hin oder her, 1990 entschloss Wolfgang sich, eine Kulturwoche in Weißenbach ins Leben zu rufen, die dann auch zwanzig Jahre lang jedes Jahr stattfinden sollte (bis 2010). Als ich bei einem unserer Urlaube Klavierklänge aus dem benachbarten Gutshof hörte, ging ich diesen nach und fand zu meiner Überraschung Friedrich Gulda, der für sich allein in einem großen Raum am Klavier saß und spielte. Ein unwiederholbares Erlebnis! Fast genauso überrascht war ich jedoch, als Wolfgang zum Präsidenten eines
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Segelvereins gewählt wurde. An seinen sportlichen Fähigkeiten konnte das nicht gelegen sein. Wolfgang fehlte auch nicht bei der traditionellen Kaisermesse, die jedes Jahr um den 18. August auf der Wiese hinter dem Hotel zur Post zelebriert wurde. Seit frühen Studententagen hat das studentische Leben und Brauchtum für Wolfgang einen großen Stellenwert. Er ist Mitglied der Katholisch-Akademischen Verbindung Norica und der Katholisch-Österreichischen Landsmannschaft Starhemberg. In beiden Verbindungen ist es ihm auch heute noch ein großes Anliegen, das Verständnis für die bildende Kunst zu fördern. So initiierte er regelmäßig bestens besuchte Vernissagen, in denen zeitgenössische Maler ihre Werke vorstellen. Solche Veranstaltungen organisierte Wolfgang schon zu einer Zeit, als Vernissagen nicht „in“ waren, weil die 68er-Generation andere Veranstaltungsformate mehr schätzte. Doch er folgte unbeirrt seiner Überzeugung. Große und manchmal laute Veranstaltungen auf den Studentenbuden seiner Verbindungen liegen ihm trotzdem nicht. Doch das hindert ihn nicht daran, die Geselligkeit zu pflegen. Legendär sind immer noch seine „kleinen Runden“ im Bauernstüberl seines Museums – pardon: seiner Wohnung. (Wenn es um seine Wohnung geht, wähnt er sich sehr wohl auf Erden, um ein Museum zu hüten.) So war etwa des Öfteren Simon Wiesenthal bei ihm zu Gast, der von seinen „verschlungenen Lebenswegen“ erzählte. Auch Erzbischof Cesare Zacchi teilte des Öfteren bei einem Glas Wein Geschichten von seinen nächtlichen Gesprächen mit Fidel Castro und seinen freundschaftlichen Begegnungen mit Thomas Bernhard. Neben seiner Mitgliedschaft in den beiden Verbindungen pflegte Wolfgang auch Kontakte zur Österreichischen Hochschülerschaft. Er war etwa oft bei den „Greiner-Runden“ dabei, die nach dem legendären Nussdorfer Heurigen benannt wurden, bei dem sich fast täglich Kommilitonen trafen, die in der Hochschülerschaft tätig waren. Leider hat der Heurige bereits vor vielen Jahren seine Pforten geschlossen. Natürlich wurde dort immer heftig politisiert – Wolfgang war schon damals ein „homo politicus“, der jedoch nicht selbst im Rampenlicht stehen musste. Als der spätere Kurier-Chefredakteur Helmut Brandstätter ÖH-Vorsitzender an der Uni Wien war, veranstaltete Wolfgang Führungen durch die historischen Räume der Hauptuniversität am Ring. Er organisierte auch eine Romreise für die Vertreter der Hochschülerschaft, im Rahmen derer die Teilnehmer bei der Papstmesse am Petersplatz sogar persönlich begrüßt wurden. Aber auch sonst fand er häufig Gelegenheit, Reisen zu organisieren. Als es zu einer Neugestaltung des Clemens Maria Hofbauer-Altars in Maria am Gestade kam, setzte er sich für die Beauftragung des bekannten Bildhauers Oskar Höfinger ein und bildete spontan ein Komitee zur Finanzierung des Kunstwerks. Dazu organisierte er Reisen nach Brünn und Taßwitz, weil Hofbauer nicht nur Stadtpatron von Wien ist, sondern auch Ko-Patron der Diözese Brünn. Über diese Initiative kommen seit vielen Jahren regelmäßig Pilger-
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Georg Karasek
gruppen aus Brünn zu den Clemens-Feiern nach Wien. Aufgrund von Wolfgangs guten Kontakten wurden diese Gruppen immer wieder sowohl im Wiener Rathaus als auch in der Präsidentschaftskanzlei empfangen. Aus dieser Zeit stammt auch seine enge Beziehung zum Bischofsvikar Ludvík Horký aus Brünn, der ihn oft und gerne in Wien besuchte, obwohl das zu Zeiten des Eisernen Vorhangs alles andere als selbstverständlich war. Wolfgangs europäische Verbindungen erstrecken sich in viele Richtungen. Seit dem Staatsbesuch von König Juan Carlos im Februar 1978 pflegt Wolfgang auch enge Beziehungen zur spanischen Botschaft. Der damalige Kulturattaché Xavier Sellés-Ferrando, den er durch den späteren Präsidialchef im Bundeskanzleramt, Lukas Beroldingen, kennenlernte, ist ihm später ein guter Freund geworden. Er hält auch engen Kontakt zu den Nachkommen und Angehörigen der republikanischen Spanier, mit denen ihn der Obmann der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen, Hans Maršálek, bekannt machte. Der Kontakt zum damaligen Erzbischof von Krakau, Karol Kardinal Wojtyla, entstand über Franz Kardinal König. Wolfgang durfte Wojtyla über Pro Oriente besser kennenlernen, und bald darauf wurde Wojtyla zum Papst gewählt. Die Verbindung hielt an, vor allem über Kardinal Stanislaw Dziwisz, Wojtylas damaligen Sekretär und den späteren Erzbischof von Krakau. Von dieser Verbindung, die Opilio Kardinal Rossi, ehemaliger Apostolischer Nuntius in Österreich, hergestellt hatte, profitierten auch einige Freunde Wolfgangs, die im Zuge von Romreisen Papst Johannes Paul II. persönlich begegnen durften. Wolfgangs freundschaftliche Verbindung mit der Apostolischen Nuntiatur ist in den folgenden Jahren eine Konstante in seinem Leben geblieben. Ab 1983 bemühte sich Wolfgang auch um einen Besuch des Papstes in Mauthausen, der letztlich im Jahre 1988 zustande kam. In Bezug auf das Lager hatte Wolfgang auch ein besonderes Anliegen, das Kardinal König mit ihm teilte: die Erinnerung an Priester, die in der NS-Zeit als Märtyrer ums Leben kamen. Als Wolfgang die erste Biographie von Johann Gruber verfasste, der am Karfreitag des Jahres 1944 in Mauthausen-Gusen qualvoll und brutal ums Leben kam, schrieb Franz Kardinal König ein Vorwort und fügte der Biographie eine persönliche handschriftliche Widmung bei. Berührt von Wolfgangs Erzählungen trug außerdem Alfred Hrdlicka vierzehn Radierungen, die Grubers Leidensweg darstellen, zum Buch bei, was bei einigen engstirnigen Zeitgenossen zu Irritationen führte. Wolfgangs gemeinsames Zeitunglesen mit Alfred Hrdlicka im Kaffeehaus, meistens im Bräunerhof, ging oft nahtlos in Besuche in dessen PraterAtelier über. Wie viel Wein dort konsumiert wurde, ist nicht überliefert. Was allerdings überliefert ist, ist ein gemeinsames Essen mit Alfred Hrdlicka und Oskar Lafontaine im Restaurant San Carlo in der Mahlerstraße.
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In den letzten Jahrzehnten hat Wolfgang eine intensive spirituelle Verbindung zum Souveränen Malteser-Ritter-Orden entwickelt. Als Mitglied dieses Ordens entdeckte er die zeitlosen Wurzeln des karitativen Handelns: den Menschen mit Liebe, Neugierde und Respekt zu begegnen und sich in der Kunst des Zuhörens und des diskreten Helfens zu üben. So schließt sich der Kreis: Nicht die Faust’sche Studierstube ist Wolfgangs Zuhause, sondern die große, weite Welt von gestern und heute.
Castel Gandolfo, 1996
Die Freiheit ist immer ein gemeinsames Gut1 Willi Mernyi
Es war 1997 im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands: Gründungsversammlung des Mauthausen Komitees. Die damalige Vorsitzende, ÖGB-Vizepräsidentin Irmgard Schmidleithner, hat mich einige Wochen zuvor gefragt, ob ich mir vorstellen kann, mich als junger antifaschistischer Bundesgeschäftsführer der Österreichischen Gewerkschaftsjugend auch hier im Mauthausen Komitee, als einer der Vertreter des ÖGB, zu engagieren. Und so war ich Mitglied der Gründungsversammlung des Mauthausen Komitees (der, der sein Sakko zuhause vergessen hat!), und dort traf ich zum ersten Mal auf ihn, einen echten Professor – etwas schrullig, liebenswert, mit sehr, sehr wachen Augen hinter einer Professorenbrille. Vorgestellt wurde mir Wolfgang Bandion vom damaligen Gewerkschaftssekretär Albert Langanke mit den Worten: „Des is da Wolfgang Bandion, a ,Schwarzer‘ – oba a klasser Mensch. Auf den kannst dich verlassen, der hat Handschlagqualität!“ Eingestimmt mit dieser etwas eigenwilligen Vorstellung habe ich dann in den nächsten Jahren, eigentlich Jahrzehnten, mit Wolfgang Bandion zusammengearbeitet. Zuerst als einfaches Mitglied in der Generalversammlung des Mauthausen Komitees, dann als Vorstandsmitglied und später in meiner Eigenschaft als Vorsitzender. Ich habe ihn immer genauso erlebt: als Antifaschisten, als Christlichsozialen, als Humanisten und als einen, der Kunst und Kultur liebt und lebt. In vielen Sitzungen des Mauthausen Komitees war er ruhender und verbindender Pol. Die Überparteilichkeit des Mauthausen Komitees war ihm immer ein großes Anliegen. Genau betrachtet war und ist Wolfgang Bandion einer der Garanten für die Überparteilichkeit des Mauthausen Komitees Österreich (MKÖ). Wolfgang Bandion war immer auch ein Freigeist, er war keiner, der sich an parteipolitische Einengungen halten wollte oder gehalten hat, sondern er war immer einer, der für seine Sache mit viel Verstand und Herz gekämpft hat und – davon bin ich überzeugt – kämpfen wird. Nicht zu vergessen ist, wie wichtig auch für ihn die Internationalität war, und zwar nicht nur bei Reden oder Vorträgen. Er hat aktiv mitgeholfen. Zum Beispiel beim Denkmal für die ukrainischen Opfer oder als Verbündeter für die Tafel für die kubanischen und chinesischen Opfer. Es war ihm nie wichtig, ob es viele oder wenige Opfer 1
Vgl. Mauthausen-Schwur, 16. Mai 1945
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waren, sondern allein, dass jede Opfergruppe die Möglichkeit hat, in der Gedenkstätte Mauthausen „ihrer“ Opfer zu gedenken. Wolfgang Bandion ist unverzichtbarer Bestandteil des MKÖ. Und auch Jahrzehnte nach unserem Kennenlernen kann ich sagen: ein Mensch mit christlichsozialer Einstellung, mit großem Herz, mit viel Verstand und einer ausgeprägten humanistischen und antifaschistischen Grundeinstellung. Kurzum, eine Person, die sich jeder Vereinsvorstand wünscht, die aber nur wir haben!
Linde Waber, Bureau Bandion, Mischtechnik, 1987
„Der Mensch nämlich ist das Ziel der gesamten Schöpfung“ (Thomas von Aquin, S.c.G. 3,22) Toni Faber
Zum ersten Mal aufgefallen ist mir Wolfgang Bandion anlässlich seiner Spezialführungen rund um St. Stephan. Ein weiterer Kontakt ergab sich aus seinem Engagement für das jährliche Gedenken an den Wiener Stadtpatron, den hl. Clemens Maria Hofbauer, zu dem er eine besondere Beziehung pflegt. So organisierte er auch Studentenwallfahrten nach Brünn und Taßwitz, dem Geburtsort des Heiligen. Ebenso lud er regelmäßig Gruppen aus Brünn zu den Clemensfeiern nach Wien ein. In den letzten Jahren durfte ich auch seine weitverzweigte Familie kennenlernen und konnte zu meiner Überraschung viele Verbindungen zu uns „Stephanern“ entdecken. So ist etwa seine Mutter, die ich von der Sonntagabendmesse und später von verschiedenen Veranstaltungen der Dompfarre kenne, noch heute eine oft und gern gesehene Teilnehmerin am Pfarrleben der Dompfarre. Sie erzählte mir einmal von einem denkwürdigen Besuch mit ihren Eltern bei Kardinal Innitzer nach den Ausschreitungen durch die Hitlerjugend im Oktober 1938. Das devastierte erzbischöfliche Palais hinterließ bei ihr einen unauslöschlichen Eindruck. Zu dieser Zeit wusste sie noch nicht, dass sie später auch ihre erste Berufserfahrung im Sekretariat von Kardinal Innitzer machen würde. Die Not der Kirche, Verfolgung, Krieg und karitative Hilfe waren ihr immer unmittelbar vor Augen. Auch die Nähe zum Stephansplatz blieb ihr erhalten. So fand die Trauung von Wolfgangs Eltern im Jahre 1949 im provisorisch wiederhergestellten Dom statt. Als Hochaltar fungierte der Wiener Neustädter Altar. So scheint es auch fast logisch, dass seine drei Neffen Lukas, Benedikt und Florian von mir zur Erstkommunion und später zur Firmung geführt wurden. Wolfgangs zu früh verstorbene Schwester Sissi übernahm jeweils die Vorbereitung der Kinder. Doch gibt es neben der gepflegten Freundschaft zu ihm und zu seiner Familie doch einige denkwürdige Initiativen von Wolfgang, die ich nicht unerwähnt lassen möchte. Sie sind es wert, in Erinnerung zu bleiben. Im Februar 1997 organisierte er eine Ausstellung in der Barbarakapelle. Anlass war die Hinterlegung einer Kapsel mit Asche aus Auschwitz, die anlässlich des Papstbesuches und Katholikentages im Jahre 1983 vom damaligen Erzbischof von Krakau, Franciszek Kardinal
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Überreichung der Ehrengabe der Österreichischen Lagergemeinschaft an Kardinal König
Macharski, an die Erzdiözese Wien übergeben wurde. Die Ausstellung mit einer Skulptur und Graphiken des jungen Schweizer Künstlers Stephan Hilge trug den Titel: „in memoriam – die unverlierbare Würde des Menschen“. Wolfgang hielt den Sinn der Ausstellung mit wenigen Worten fest: „Sie illustriert nicht Geschichte – ‚wie es damals war‘ –, sondern stellt fest, wie es heute wirkt, und gibt so der Erinnerung eine Zukunft. Nicht nur der Tod und das Leiden werden angesprochen: Im Erinnern enthüllt sich auch des Menschen unverlierbare Würde.“ Diese Ausstellung, zu der der damalige Apostolische Nuntius Erzbischof Donato Squicciarini sprach, führte in der Folge zu einem Wunsch vieler ehemaliger Häftlinge von Mauthausen und deren Familienangehörigen, in St. Stephan ein bleibendes Gedenken für ihre Opfer zu finden. Dank Wolfgangs Initiative konnte dies ein Jahr später auch realisiert werden. Es war eine große und würdige Gedenkfeier, deren musikalische Gestaltung das Musikkonservatorium der Stadt Wien übernahm, unter Teilnahme vieler Jugendlicher und ihrer Eltern. Sie wurde von hochrangigen Vertretern der Ökumene besucht. Berührend war besonders der symbolische Einzug von zwei ehemaligen KZ-Häftlingen mit je einer Urne, die Erde aus dem ehemaligen Lager enthielt: Hofrat Hans Maršálek, Obmann der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen, ein Wiener Tscheche und kommunis-
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tischer Aktivist, dem eine erhebliche Zahl von Mithäftlingen ihr Leben verdankt; und neben ihm Sektionschef Dr. Hermann Lein, der nach dem Rosenkranzfest im Dom gemeinsam mit anderen für Kardinal Innitzer demonstrierte und einer der Jugendlichen war, die infolge dieser Demonstration nicht nur verhaftet wurden, sondern auch Gefängnis und Konzentrationslager erdulden mussten. Die Initiative von Wolfgang Bandion, die Barbarakapelle als Gedenk- und Gebetsort zu nutzen, führte in weiterer Folge auch dazu, dass wir 2009 eine Skulptur der Seligen Schwester Restituta Kafka von Alfred Hrdlicka enthüllen konnten. Restituta Kafka wurde 1943 von den Nationalsozialisten hingerichtet und 1998 in Wien seliggesprochen. So ist die kleine Kapelle am Fuße des Nordturms eine Gedenk- und Gebetsstätte für die Opfer des Nationalsozialismus geworden. Viele der von der NS-Justiz hingerichteten österreichischen Widerstandskämpfer waren keine Christen, vermutlich war eine große Gruppe nicht unbedingt religiös. Die gegenseitigen Verletzungen, die Menschen einander in der Zwischenkriegszeit und während der nationalsozialistischen Diktatur angetan haben, müssen aber angesprochen werden. Nur so heilen Wunden und kann Versöhnung stattfinden. Wolfgang hat sich in vielen Begegnungen dafür eingesetzt. Seine internationale Vernetzung und seine tiefe Verwurzelung in jenem Teil von Wien, den viele Menschen einfach „die Stadt“ nennen, haben, gemeinsam mit seiner Gastfreundschaft, nicht nur mich immer wieder beeindruckt. Das diesjährige Motto des Gedenkjahres der 75. Wiederkehr der Befreiung von Mauthausen – „Menschlichkeit ohne Grenzen“ – könnte ungesehen auch sein Lebensmotto sein.
Eine literarische Spurensuche Andreas Pacher
Wolfgang Bandion verband mit Ilse Aichinger eine typische Wiener Kaffeehausfreundschaft. Stammgäste kennen einander, nicken sich zu, geredet wird aber zumeist nicht viel. Zeitungen und private Verabredungen prägen dieses oftmalige Verweilen. Das Café Tirolerhof, über die Jahre seltener das Prückel, waren die Treffpunkte. Ilse Aichinger, die ihre Kindheit im Wien der Nazizeit als Tochter einer jüdischen Mutter verbrachte und überlebte, wirkte auf Wolfgang Bandion zerbrechlich – wie er einmal bemerkte, „wie aus der Zeit gefallen“, und doch so konkret in ihren Vorstellungen von Politik und Verantwortung. So entstand einst die Überlegung, gemeinsam nach Mauthausen zu fahren. Das ehemalige Gelände des Konzentrationslagers, das Abgehen der Todesstiege und das Verweilen an Tafeln und Denkmälern – das war ihr Plan, sehr wohl wissend von der trügerischen Idylle, die das Grauen unter den grünen Wiesen und Sträuchern verbarg. Ein Beitrag ihrerseits, ein reflektierender Text, war für ein projektiertes Erinnerungsbuch über Mauthausen geplant. Gesprochen wurde viel, und es schien, als würde sich dabei Schicht für Schicht dieser unheilvollen Topographie öffnen. Ein Erinnerungsvorhaben anderer Art war ein vertiefter Spaziergang mit Dietmar Grieser, einem detektivischen Aufspürer literarischer Hinweise. Sowohl Wolfgang Bandion als auch Dietmar Grieser waren von der Bedeutung der Praterstraße, der alten Jägerzeile, beeindruckt, von ihrer Kulturgeschichte, dem einen oder anderen hochadeligen Palais und den eleganten Stadthäusern. Und so führte sie der Weg mehr zufällig über die Tempelgasse in die Ferdinandstraße, wie in Griesers Beitrag ersichtlich sein wird. Diese beiden Begegnungen fanden über den Kaffeehaustisch hinaus eine Fortsetzung, in einem Fall im gemeinsamen Besuch in der heutigen Gedenkstätte Mauthausen, zum anderen in einer an Überraschungen reichen Erkundung eines Teiles der Leopoldstadt. Einen ganz anderen Zugang wählte Friederike Mayröcker. Nicht der Besuch von Mauthausen stand im Mittelpunkt ihrer Überlegungen, es war vielmehr ein Foto aus Kindertagen, das in ihr Erinnerungen evozierte. Und plötzlich erzählte ein kleines Foto eine Geschichte, die vielleicht doch eine andere war, als bloß eine unschuldige Kindheitserinnerung.
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1. Ilse Aichinger: Keine Erinnerung an Mauthausen
Vermutlich nicht nur mein erster Gedanke. Man wußte davon, es war eins der „berühmten“ Lager, aber keiner von denen, die ich verloren habe, hatte damit zu tun. Einmal, während des Krieges, erzählte mir mein Vater, der uns öfter in Wien besuchte, von einem seiner früheren Schüler, der ganz jung freiwillig zur SS gegangen war. Er wurde nach einer kurzen Ausbildung als Wache in das nahe gelegene Lager geschickt, von dem er schon gehört hatte. Dagegen hatte er nichts. Er hatte gedacht, er wüßte, wie es dort zuginge. Daß man erst jetzt erfahren muß, was man zu wissen glaubt, ging ihm dann viel rascher als vielen anderen auf. Er sah die Appellplätze mit den verängstigten, Mißhandlungen und Verhöhnungen ausgesetzten Häftlingen, und er sah die später berüchtigte Steintreppe, auf der sie mit zu schweren Lasten beladen in den Tod stürzten. Den Glücklicheren gelang es bald. Den Kräftigeren ließ man, als der Krieg sich in die Länge zu ziehen begann, den elenden Rest ihres Lebens, um sie, bis ihre letzten Kräfte dahin waren, zur Arbeit zu benutzen. Zu dieser Arbeit gehörten rasche, extreme Schwächung und das langsam gequälte Sterben, es gab genug Nachschub. Der Junge in seiner schwarzen Uniform mit dem silbernen SS-Zeichen und den aufgestickten Totenköpfen war schon am ersten Tag gezwungen, genau hinzusehen. Aber ehe man ihn dazu bringen konnte, selbst mitzutun – genügend seiner Kameraden taten ganz gern mit –, erschoss er sich, ehe der erste Tag der „Praxis“ zu Ende ging, mit seiner Dienstpistole. Eine andere Wahl hätte er, was so viele, die sich spät mit diesem Thema befaßten, übersehen, nicht gehabt. Er ist unbekannt geblieben wie viele Häftlinge, seinen Namen weiß keiner und vermutlich läge ihm auch nicht daran. Er war nach seinem kurzen Aufstieg, den er leicht hätte fortsetzen können, als höhere Charge, Kommandant, Zuschauer, nicht mehr karrieresüchtig. Die Karriere, die er sich selbst herausnahm, stand ihm zu und ließ ihn namenslos. Er hatte keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob er namenslos bleiben wollte, aber seinem Verhalten nach war das vermutlich kein Problem für ihn. Als ich Mauthausen vor einiger Zeit sah, dachte ich gleich an ihn. Die Todestreppe ist jetzt zum Teil überwachsen, die Schlucht wirkt kaum gefährlich, eine gewisse Romantik könnte sich hier ausbreiten, der Wunsch nach einer Art von Nationalpark. Man könnte es – nach den vielen Begradigungen auf dem Lagergelände nach 1945 – schon fast dafür halten. Die Appellplätze wären leicht in Sportplätze zu verwandeln. Der Wunsch, sich in Schluchten zu stürzen, ganz leicht in Reiselust. An die Schönheit der oberösterreichischen Landschaft, die ich sehr früh und immer wieder sehen konnte und die mir auch immer nahe gewesen war, kann ich von diesem Tag an nicht mehr glauben. Kaum eine Landschaft, kaum an Schönheit und auch sonst
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ein wenig anders als an die Skepsis, die mir nicht nur angesichts von Mauthausen und den schon so lange vorübergegangenen Weltkriegen als die wichtigste Voraussetzung erscheint, die heutigen Möglichkeiten zu betrachten. Die Zeit ist blässer geworden, es geht nicht mehr darum, zu überleben, sterben heißt heute aber, nicht aufzufallen, keine Karriere zu machen und unauffällig seine Skepsis immer weiter wachsen zu lassen, bis sie, wenn auch kaum für einen selbst, in eine neue, viel diffizilere Art von Hoffnung umschlägt, eine Hoffnung, vor allem für die Schwachen, die Unbeachteten, die aufgegebenen Fälle, mit denen man sich nach neueren Devisen nicht mehr befassen sollte. Es ist nicht schwierig, solchen Devisen nachzukommen, es machen viele, aber es schadet nicht nur der Intelligenz. Im Übrigen macht es sich aber, wie man sieht, sehr gut bezahlt. In dem Film „Auf Wiedersehen Kinder“ von Louis Malle geht es um Selbstaufgabe, um das Risiko, alles zu verlieren wie die versteckten jüdischen Kinder im nordfranzösischen Kloster, nicht nur das Leben (die Kinder landeten tatsächlich in Auschwitz und der Mönch, der sie versteckt hatte, wurde in Mauthausen ermordet). Der sogenannte „Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte“ war damals ohnehin impliziert. Heute wird dieser Verlust kaum mehr befürchtet, bürgerlich ist mit einem gewissen Recht längst ein Schimpfwort geworden, es geht häufig um anderes, mehr um Rechte auf Ehren als auf „Ehrenrechte“. Und es wird ganz gut dafür gesorgt, daß die Ausgegrenzten im Beruf und in den finanziellen und auch gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten ausgegrenzt bleiben. Im Schatten von Mauthausen erscheint das alles sehr deutlich. Auf den leeren Appellplätzen, die man selbst jetzt, wenn die Sonne sich darüber ausbreitet, nur am Rand erträgt, verlieren die verschiedenartigen Karrieren ganz leicht ihr Gewicht. Bei einem Glas Wein in der kleinen Stadt im Freien, an Holztischen, über die der Wind fährt, fühlt man sich endlich in eine Welt einbezogen, in die man zwar nur am Rande, auch am Rande der eigenen Existenz, gehört, in die Welt der Ungenannten und Verblichenen (ein gutes Wort, wenn es nicht inzwischen durch den falschen Gebrauch und dem überhöhten Wortlaut lächerlich geworden wäre). Man gehörte einen Augenblick lang dazu. Diese Zugehörigkeit duldet nur Augenblicke und kann deshalb nicht überheblich werden. Man hätte es nicht für möglich gehalten: aber man verlässt die kleine Stadt, in der zwar keine überlebensgroßen Mahnmale, aber doch deutliche Schilder mit der Aufschrift „zum Lager“ oder „zum KZ Mauthausen“ angebracht sind, fast ungern. Die junge Kellnerin klagt über den noch immer verdorbenen Ruf der Stadt, über die kaum zu erwartenden Feriengäste. Aber mir kam – vielleicht nicht wegen seiner Absurdität, sondern aus praktischen Gründen – der eher undurchführbare Plan doch immer näher: eine Sommerwoche in Mauthausen. Ob man es aushielte? Auch hier kann man sich langweilen, aber dann wenigstens so extrem, daß die Langeweile um-
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schlägt. Die Stürme sind vorbei, aber es kommt doch ein leichter neuer Wind auf, auch eine neue Erinnerung, genauer, aber doch wieder beunruhigbarer, eine notwendige Erinnerung an unerkannte Gefahren und unerkannte Wünsche. Man fährt fast ungern weg. Aber es gibt eine neue Möglichkeit: „Wiedersehen mit Mauthausen“.
2. Dietmar Grieser: Das lange Schweigen
Der Weg in jenen Abschnitt des Bezirks Leopoldstadt, der – seiner bis 1938 überwiegend jüdischen Bevölkerung wegen – den Namen „Mazzes-Insel“ erhalten hat, führte uns zunächst an einem der bombastischen Bürohochhäuser vorbei, die seit einigen Jahren im Begriff sind, dem Wien jenseits des Donaukanals eine neue Silhouette zu verschaffen. Wir biegen rechter Hand in die Ferdinandstraße ein: 32 Hausnummern, gut erhaltene Gründerzeithäuser neben gesichtslosen Wohnbauten aus neuerer Zeit, insgesamt wenig Auffälliges, kaum Geschäfte. Am Eingang zur Nr. 29, einem der „besseren“ Häuser der Ferdinandstraße, eine Tafel, deren ebenso wortreicher wie wohlformulierter Text von der sonst üblichen Gedenk-Lakonik abweicht: „Die lange verschwiegene Dichterin Veza Canetti lebte und schrieb in diesem Haus. Sie starb in England; aus dem Exil war sie nicht zurückgekehrt. Ihr literarisches Werk voll Schärfe und Empathie wurde erst posthum veröffentlicht.“ Eine Zusatztafel in bunt bewegter Graphik nimmt Bezug auf Veza Canettis Roman „Die Gelbe Straße“: „Die Wahrheit darin ist verschüttet.“ Welche Wahrheit? Hinter der „Gelben Straße“ verbirgt sich die Ferdinandstraße der späten 1920er-Jahre, und da ist, was deren heutiges Erscheinungsbild betrifft, in der Tat vieles „verschüttet“. Fast mutet es wie eine Vorahnung kommender Ereignisse an, wenn es an einer Stelle des Romans heißt: „Die Straße hat ihre Geschichte verloren.“ Gelb ist in der Ferdinandstraße von heute nur noch die eine oder andere Hausfassade. Die Grau- und Brauntöne überwiegen. „Es ist eine merkwürdige Straße, die Gelbe Straße“, beschreibt Veza Canetti den Schauplatz ihres Romans. „Es wohnen da Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte, Verzweifelte und Satte.“ Wir haben es mit einer Art Mikrokosmos der jüdischen Kleine-Leute-Welt im Wien der Vor-Hitler-Zeit zu tun: die Trafik, die nicht nur vom Tabakhandel, sondern auch vom Tratsch lebt; das Café Planet, in dem geile Mannsbilder „Weiber einfangen“ und verarmte Musiker für ein paar Schilling „aufspielen“; die Dienstbotenvermittlerin, bei der sich die „besseren“ Damen mit billigen Mädeln vom Land eindecken; abgetakelte
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Sängerinnen und skrupellose Geschäftemacher; tyrannische Ehemänner und vorwitzige Waisenhauskinder, die das Leben schlau gemacht hat. Das Gelb, in das die Autorin „ihre“ Straße eintaucht, ist die Farbe der Warenballen, die die ringsum ihren Geschäften nachgehenden Lederhändler ein- und ausladen, die dominierende Farbe der Firmenschilder, die Farbe der Goldmünzen, die ein zwielichtiger Bankier in seiner Wohnung hortet, und auch die Farbe der Hundstrümmerln, die achtlose Anrainer auf dem Gehsteig hinterlassen. Gelb ist hier alles – sogar das Gesicht des ledigen Hausbesitzers Pilatus Vlk, der jeden Morgen im Kaffeehaus sein Frühstück einnimmt, bevor er in den Prater abdriftet – außer freitags, wenn er ins Kino geht. Veza Canetti, geborene Venetiana Taubner-Calderon und erste Frau des Nobelpreisträgers Elias Canetti, wäre nicht die Dichterin, die sie ist, hielte sie sich bei den Äußerlichkeiten des von ihr gewählten Romanschauplatzes auf. Selbstverständlich denkt sie bei der obsessiven Betonung des Topos „Gelb“ auch an die traditionelle Bedeutung der sogenannten Schandfarbe, die seit eh und je mit Eigenschaften wie Neid, Eifersucht und Geiz gleichgesetzt wird – Eigenschaften, die in Veza Canettis düsterem Sittenbild allesamt eine tragende Rolle spielen. Die Gelbe Straße ist Veza Canetti deshalb so vertraut, weil sie selbst in deren Urbild, der Ferdinandstraße, lange Zeit gelebt hat. Acht Jahre älter als ihr Mann, ist die Tochter einer sephardischen Mutter und eines ungarisch-jüdischen Vaters 1897 in Wien auf die Welt gekommen. Hochgebildet, doch körperbehindert (ihr fehlt der linke Unterarm) bringt sie sich zunächst mit Englischunterricht an einem Privatgymnasium und mit Übersetzungstätigkeit (etwa Graham Greenes „Die Macht und die Herrlichkeit“) durch; erst durch ihre Nähe zu Elias, den sie 1924 (damals noch als Chemiestudenten) kennenlernt und 1934 heiratet, kommt sie selbst zum Schreiben. Die „Arbeiterzeitung“ druckt etliche ihrer Erzählungen ab, einen Verleger findet sie nicht. Erst lange nach ihrem Tod – Veza Canetti stirbt am 1. Mai 1963 im Londoner Exil – erschienen ihre Bücher, wurden ihre Theaterstücke aufgeführt. Eine Rückkehr nach Wien war für sie nicht in Betracht gekommen – mit der bitter-sarkastischen Begründung, ihre ehemaligen Landsleute würden nach 1945 sicherlich „bald alle jüdische Pässe haben“. „Sie hatte unendlich viel Geduld mit mir“, wird Elias Canetti später über sie sagen. Das „Zusammenwirken ihres richtigen Instinkts und ihrer Wärme“ macht sie für den acht Jahre Jüngeren „unwiderstehlich“. Seine Bücher, die er bis zum Jahre 1980 schrieb, sind nach seiner Aussage alle mit einer einzigen Ausnahme Veza gewidmet. 1934 verlassen Veza und Elias Canetti die Ferdinandstraße. Originalton Canetti: „Es war ein erlösendes Gefühl, der düsteren Ferdinandstraße entstiegen zu sein.“ Die nunmehrige Adresse in Grinzing lautet, zumindest am Briefpapier, „Am Himmel“.
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3. Friederike Mayröcker: Ich erinnere mich
Dorli Brill, Susi Thorsch, Margit Schuster, Ruth Uhan, Madeleine Trauttmansdorff, Erich Zinsler, Erich Poupée … die anderen Namen vergaß ich – nicht mehr als 1 Dutzend Knaben und Mädchen, private Volksschule: Institut Lycée („Die englischen Fräulein“). Würde man sich diese Schulmädchen und -knaben als Bild vorstellen, sähe man über den Köpfen einiger Kinder 1 Kreuzchen oder 1 Sternchen. Einmal wurde 1 Gruppenfoto gemacht, wir stehen in 1 Kreis und halten uns an den Händen, und 2 der Mädchen ziehen die Schultern hoch, als würden sie fragen, wie es weitergehen werde: Die beiden Mädchen Susi Thorsch und Dorli Brill, über deren Köpfen wir uns 1 Kreuzchen oder Sternchen denken können, sind rechtzeitig weggegangen, ich glaube Amerika. Susi Thorsch, ich gehe beinahe täglich an dem Haus vorbei, in dem sie einst gewohnt hat, war 1 stilles blondes Mädchen, begabt, Eltern Akademiker. Dorli Brill in großer Entfernung: klein, zierlich, beinahe kränklich aussehend, auch sie hatte das Land rechtzeitig verlassen können. Was mag mit ihnen geschehen sein, wo mögen sie leben, wie? 20. Juni 1998 (Die ursprüngliche Orthographie wurde beibehalten.)
Linde Waber, Bureau Bandion, Mischtechnik, 1987
I. SAPIENTIA Österreich und Europa – Inspiration aus Recht, Kunst und Glauben
Hannes Scheucher, Sapientia, Acryl auf Papier, 2020
Die immer neuen und alten Aufgaben Österreichs in Mitteleuropa Perspektiven der österreichischen Mitteleuropapolitik Erhard Busek
Die Donau hat für Österreich über die Jahrhunderte mythologische Bedeutung gewonnen. In der Bundeshymne besingen wir das „Land am Strome“, der Donauwalzer hat es zur inoffiziellen Nationalmelodie gebracht. Von Wien ist die Rede als der „Donaumetropole“, wenngleich die Stadt gar nicht wirklich an der Donau liegt; zur Darstellung der Geschichte greifen wir auf die Donaumonarchie zurück und meinen dabei eigentlich Mitteleuropa. Im Ernstfall nimmt man es auch gar nicht so genau, wenn man vom Donauraum spricht, weil etwa die Tschechen selbstverständlich dazugezählt werden, die weit und breit keine Donau haben, notfalls auch noch Südpolen oder Slowenien – wobei man sich damit behelfen kann, dass es Flüsse gibt, die immerhin in die Donau münden. Auch politisch ist der Boden, der sich um die Donau spannt, ein weites Feld. Heute ist es die Zentraleuropäische Initiative mit Österreich, Italien, Ungarn und Jugoslawien, die ursprünglich entlang der Donau entstanden ist, und auch die Tschechoslowakei hat sich bald eingefunden. Mittlerweile sind es 16 Staaten, die bis Weißrussland reichen und auf diese Weise versuchen, in diesem durch Geschichte und Politik gebeutelten Raum eine Synthese herzustellen. Auch die Mythologie, die sich aus der Geschichte herausgebildet hat, ist reich an Donau-Bezügen. Die Nibelungen zogen Attila entgegen; Rüdiger von Bechelaren (Pöchlarn) war offensichtlich eine Art Donaugraf; die Babenberger haben ihre Verwaltungszentren entlang der Donau bis nach Wien vorgeschoben. Um den Raum wurde stets recht kräftig gestritten, wobei die Přemysliden, die Luxemburger, das Haus Anjou und natürlich die Habsburger eine große Rolle spielten. Die Türken kamen entlang der Donau herauf. Prinz Eugen wieder „ließ schlagen eine Bruck’n, dass man konnt’ hinüberrucken“ gegen Belgrad – womit wir schon mitten in der aktuellen Situation sind: Die Donau tritt oft erst durch die Zerstörung ihrer Brücken in unser Bewusstsein; oder durch den Aufschrei, dass es so gut wie keinen Transport mehr entlang dieses Flusses gibt. Was kann ein Fluss bedeuten? Zunächst stellt er einmal einen Transportweg dar, und als solcher hat auch die Donau in der Geschichte eine große Rolle gespielt. Das Salz kam an
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ihr entlang, wie der Salzgries in Wien erkennen lässt; das Stapelrecht wurde ausgeübt, wovon das Geschäftsviertel des I. Bezirks genauso Zeugnis gibt wie die Ruprechtskirche, die die Schritte der Christianisierung entlang der Donau aufzeigt. Dass die Wasserversorgung auch mit dem Fluss verbunden ist, ist uns schon weniger bewusst, weil wir längst alle möglichen Systeme entwickelt haben, die uns heute versorgen. Weiter unten an der Donau wird die ökologische Herausforderung sichtbar, mit der wir uns heute konfrontieren müssen. In diesem Jahrhundert ist der Donaustrom auch zur Energiequelle geworden, wobei wir längst vergessen haben, dass die Kriegsproduktion der Hermann-Göring-Werke seinerzeit die eigentliche Motivation war. Dass aber Wasserkräfte auch kritisch politisch werden können, haben uns Hainburg sowie Gabčíkovo und Nagymáros ganz deutlich gezeigt. Viel könnte man auch zur kulturellen Bedeutung der Donau sagen; denn ein Fluss kann trennen – als Grenze – oder verbinden und überbrücken. Marc Aurel hat sich hier aufgehalten, um den eindringenden Markomannen und Quaden die Stirn zu bieten; die Architekten Fellner und Helmer haben ihre 42 Opernhäuser entlang der Donau gebaut, als Symbol einer gemeinsamen Kultur. Eben diese Donau ist zugleich Grenze und Verbindung; das lässt sich entlang des Flusses sehr deutlich beobachten. Uns sind Brücken selbstverständlich geworden, Rumänien und Bulgarien hingegen verbindet nur eine einzige. Ein Fluss kann auch eine Herausforderung für Wahnsinnstaten darstellen – wie etwa der Kanal, den Ceaușescu zur Verkürzung des Donauweges gebaut hat und der heute de facto ohne Funktion ist. Als die Donaumonarchie zu Ende ging, wurde der Fluss erst so recht zum politischen Problem. Vor dem Ersten Weltkrieg waren mit zeitlichen Unterschieden zwei Imperien für die Donau verantwortlich: das Reich der Habsburger und der Padischah in Istanbul. Die Donaukommission verdankt ihre Entstehung den Friedensschlüssen nach dem Ersten Weltkrieg. Die Donaudampfschifffahrtsgesellschaft (DDSG) wurde bereits damals zum Problem; früher hatte sie ohne Schwierigkeiten alle Länder der Monarchie verbunden, heute existiert sie nicht mehr. Bald nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahre 1989 begann sich um diese Donau herum einiges an Problemlösungswillen zu entwickeln, etwa in Form der Zentraleuropäischen Initiative und der Visegrád-Staaten. Einmal mehr wurde damit die Bedeutung dieses Raumes für Europa signalisiert. Die Gemeinsamkeit des Raumes ist unseren Nachbarn entlang der Donau, bedingt durch den Eisernen Vorhang, viel mehr bewusst, als das heute bei uns der Fall ist. Die Zugehörigkeit Österreichs zum Westen hat dazu geführt, dass ein Großteil unserer Bevölkerung das Gefühl verloren hat, unsere Nachbarn entlang des Stromes gingen uns etwas an. Ich beobachte mit Interesse und auch mit Sorge, dass man in anderen Ländern über eben diese Gemeinsamkeit oft mehr weiß als unsere junge Generation. Es hat sich im Gegenteil sogar eine gewisse Ablehnung breitgemacht, die in der Diskussion um die Erweiterung der
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Europäischen Union deutlich zutage tritt. Hier stoßen wir auf mangelndes Verständnis in der Nachbarschaft, denn unsere Nachbarn fühlen sich uns offenbar viel näher, als wir uns ihnen nahe fühlen. Aber offensichtlich ist für uns heute Mallorca noch immer näher als Bratislava. Das ist der Unterschied zur Generation meiner Großeltern, ja sogar meiner Eltern, für die die Fahrt mit der „Preßburger Bahn“ an einem Sonntag zur Jause noch eine Selbstverständlichkeit gewesen ist. Ein Wort zur Situation Südosteuropas: Um eine langfristige Perspektive der Integration werden wir dort nicht herumkommen. Die aber wird nur möglich sein, wenn wir den Donauraum so rasch wie möglich miteinbeziehen und als einen Teil Europas betrachten. Ehrlicherweise muss gesagt werden, dass die Kenntnisse der Problematik nicht allzu tief sind, was uns so manche Diskussion oder gar ein Blick in die Medien zeigt. Offensichtlich müssen wir hier „Europa wieder lernen“, nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Aktualität. Da nützt auch eine Nostalgie nichts, die sich darüber freut, dass Nepomukstatuen auf den Brücken stehen und Dreifaltigkeitssäulen und Barockkirchen genauso dazugehören wie eine bestimmte Art von Küche, die im Donauraum zu Hause ist. Um es kurz zu machen: Es gibt eine europäische Verantwortung für diesen Raum, und erst recht eine österreichische. Was sind die Hindernisse auf diesem Weg? Zunächst einmal die notwendige Transformation, die ihre Zeit braucht. Anzunehmen, dass es ausreicht, ein paar Gesetze zu ändern, die Demokratie einzuführen und die freie Marktwirtschaft zu erklären, greift gegenüber den Veränderungen eines halben Jahrhunderts, die schließlich auch in den Menschen vorgegangen sind, entschieden zu kurz. Einerseits ist Geduld erforderlich, andererseits aber auch ein gewisser Druck auf unsere Nachbarn, den Mut zur Veränderung zu haben. Wir sollten allerdings nicht mit den Fingern zeigen, denn auch wir haben für so manche Veränderung lange gebraucht – man denke nur an unsere Nachkriegsgeschichte oder etwa die Verstaatlichte Industrie. Ein zweites Problem stellt die Vorstellung dar, dass es ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten gibt. Die Gefahr ist sehr groß, dass aus einem Opting-out erst recht wieder neue Trennlinien entstehen, die etwa mit „Schengen-Land“ oder „Euro-Land“ schon längst gegeben sind, aber trotzdem überwunden werden müssen. Auch von Kerneuropa, vom Europa der konzentrischen Kreise, von Achsen und einigen anderen Einteilungsgesichtspunkten ist die Rede. Was wir brauchen, ist – um die Sprache der Europäischen Union zu verwenden – einen „regional approach“. Dieser Bezug zur Region braucht aber auch einen Advokaten und einen Dolmetscher. Beides im vorliegenden Fall zu sein, wird Österreich nicht erspart bleiben. Wer sonst soll sich dazu bereitfinden, wenn nicht wir, die wir an der Donau liegen.
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Manchmal glaube ich wahrzunehmen, wie offenbar der Rhein-Main-Donau-Kanal dazu führt, dass das Interesse jener, die am Rhein situiert sind, vor allem im Ökonomischen massiver gewichtet wird. Das aber hieße eine alte österreichische Aufgabe verkennen. Ein weiteres Problem ist zweifellos auch der in diesem Raum vorhandene Nationalismus. Es ist eine irrige Annahme, dass es sich dabei um einen neuen Nationalismus handelt. Es ist vielmehr jener Nationalismus, der aus dem 19. Jahrhundert auf uns gekommen ist und zu Kriegen, Vertreibungen und zum Holocaust geführt hat und vom Kommunismus offensichtlich auf Eis gelegt wurde, weil eine internationalistische Ideologie sich offiziell keinen Nationalismus leisten konnte. In Wirklichkeit war er auch dort vertreten, nur eben unterdrückt. Umso heftiger kommt er jetzt wieder zum Vorschein, wie wir schmerzvollerweise an Jugoslawien merken, aber auch an der Separation der Tschechen von den Slowaken. Möglicherweise ist Desintegration eine Vorbedingung zur Integration, jedenfalls aber eine Aufforderung, diese in Gemeinsamkeit zu bewältigen. Dort ist die Rolle der Kultur anzusiedeln. Das positive Ergebnis des vor 25 Jahren erfolgten EU-Beitritts ist, dass wir Österreicher wieder lernen, nicht nur Verantwortung für uns, sondern auch für andere zu haben und zu übernehmen. Das ist ein ungeheuer wichtiger Vorgang, der zu einer qualitativen Veränderung unserer Befindlichkeit führt. Wir waren ohnehin in Gefahr, durch eine bestimmte Auffassung der Neutralität in eine Lage zu kommen, die Carl Schmitt einmal für die Schweiz mit dem Ausdruck einer „durch Neutralität verstärkten Schicksalslosigkeit“ beschrieben hat. Gleich, was mit der Neutralität nun geschieht, die Mitgliedschaft in der EU verhindert eine solche Entwicklung, die letztlich dazu führen kann, dass man auf der Landkarte der Faktizität gar nicht mehr existiert und selbst das Gefühl hat, für nichts mehr verantwortlich zu sein. 1989 war nicht nur das Annus mirabilis der europäischen Geschichte, sondern auch ein Jahr der qualitativen Veränderung für Österreich. Es mutet mich eigentümlich an, wenn ich in den österreichischen Nachbarländern manchmal erlebe, dass für die gemeinsame Monarchie – nicht die Staatsform – mehr Empfinden in jenen Ländern vorhanden ist, die zum Sowjetblock gehört haben, als bei uns in Österreich. Dort erinnert man mich daran, dass es offensichtlich in der Monarchie eine Zeit gegeben hat, zu der wir auskömmlich miteinander leben konnten, was uns offensichtlich heute angesichts der Schwierigkeit, mit dem „Fremden“, dem „Anderssein“ umzugehen, gar nicht so leichtfällt. Es soll keine Nostalgie aufkommen: Auch die Monarchie hat es nicht geschafft, und darin liegt ja schließlich eine der Wurzeln ihres Untergangs. Und doch scheint sich niemand darüber bewusst zu sein, dass wir durch unsere Teilnahme an diesem Staat auch Verantwortung für andere übernommen haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass etwa die Serben in der Kraina von den Habsburgern als Bollwerk gegen das Osmanische Reich angesiedelt
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wurden, ein Umstand, der bis heute Konsequenzen hat. Vielleicht sollten wir uns den historischen Kontext mehr vergegenwärtigen, ohne jedoch jene Seiten wiederzubeleben, die leicht zu Gespenstern werden können. Seit 1989 ist Europa wieder möglich geworden, denn vor 1989 hat es eigentlich nicht existiert. Die Folge des Zweiten Weltkrieges war, dass der eine Teil über den Atlantik hinweg mit einer Supermacht freiwillig verbunden war, der andere wiederum weniger freiwillig im Einflussbereich einer anderen Supermacht gelegen ist. Europa konnte sich weder um seine Identität bemühen noch sein eigenes Schicksal bestimmen. Diese Entwicklungen haben nicht nur Veränderungen für Österreich, sondern auch für die gesamte Europäische Union bewirkt – Veränderungen, die eigentlich noch nicht voll begriffen, geschweige denn bewältigt sind. Welche Veränderungen sind es, denen Österreich, und damit auch Europa, ausgesetzt ist? Ich möchte zehn Punkte nennen, von denen ich glaube, dass sie eine beachtliche Relevanz haben, aber nicht Anspruch auf Vollständigkeit erheben. 1. Die politische Geographie Europas beginnt, sich der natürlichen Geographie wieder anzugleichen: Um es an primitiven Beispielen sichtbar zu machen: Die Wiener etwa müssen wieder lernen, dass Prag eine Stadt im Nordwesten und nicht im „Osten“ ist, wie eine Mehrheit von ihnen heute immer noch sagt. „Osten“ wird als geographisch-politischer Begriff verwendet, der noch dazu nicht sehr freundlich gemeint ist. Ebenso haben wir Österreicher zu begreifen, dass es von Wien an unsere Westgrenze – etwa Bux in der Schweiz – genauso weit ist wie nach Uschgorod. Bei Uschgorod muss allerdings hinzugefügt werden, dass dieser Ort in der Ukraine liegt. Wenn man dann noch zu bedenken gibt, dass aller Voraussicht nach das künftige Schicksal der Ukraine für uns von größerer Bedeutung sein wird als das der Schweiz, erregt man immer noch Erstaunen. Die Schweiz hat ihr Problem mit Europa, aber Europa hat ein Problem mit der Ukraine und deren demokratischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung. Auf schmerzliche Weise haben wir gelernt, dass es von Wien nach Innsbruck genauso weit ist wie von Wien nach Sarajevo, denn alles, was dort geschehen ist, war für uns durch Flüchtlinge, Migration und Militär von Bedeutung. 2. Wir müssen die Wirklichkeit der Nachbarn zur Kenntnis nehmen: Der Eiserne Vorhang brachte es mit sich, dass wir eine nur sehr partielle Wahrnehmung unserer Nachbarn hatten. Wohl blieben trotz des Kommunismus die Ungarn für uns präsent, was sich aber in der Tschechoslowakei, im Tito-Jugoslawien oder „weiter hinten“ getan hat, blieb uns verborgen. 3. In der näheren Umgebung Österreichs sind nach 1989 21 neue Staaten entstanden (wenn man die zentralasiatischen Republiken als solche akzeptiert). Das hat nicht nur die Landkarte verändert, neue Hauptstädte entstehen lassen und zur Errichtung vieler neuer Botschaften geführt, sondern im Gesamten eine andere Landschaft ergeben. Im Wesent-
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lichen war es – historisch gesehen – die Auflösung der Pariser Vorortverträge von 1919, die für unsere westeuropäischen Freunde manchmal schwer zu akzeptieren war. 4. Veränderung des Sicherheitsparadigmas: Die Ost-West-Teilung hat zu einem Denken in Militärblöcken geführt. Dieses Denken hat sich aus der Öffentlichkeit noch nicht ganz verabschiedet, doch die Konflikte von heute sind international. Europa hat dafür noch immer kein Instrumentarium entwickelt. 5. Die Finalité d’Europe: War es früher ein Spiel der Intellektuellen, sich die Frage zu stellen, wie weit Europa reicht, so stehen wir heute in der Tat vor dem Problem, angesichts der Möglichkeit einer weiteren europäischen Integration Grenzen setzen zu müssen. Eine Diskussion darüber findet nicht statt – wobei es sich nicht nur um ein geographisches, sondern um ein geistig-kulturelles Problem handelt. Die Intellektuellen Europas – ich sage das sehr kritisch – sind uns hier eigentlich ihren Dienst noch schuldig geblieben. 6. Europäische Trennlinien: Die Veränderung in unserer Nachbarschaft verlangt von uns, dass wir uns mit echten und vermeintlichen Trennlinien beschäftigen. Ich meine zum Beispiel die alte, oft bemühte Trennlinie zwischen Rom und Byzanz, zwischen Katholiken und Protestanten einerseits und der Orthodoxie andererseits, aber auch die zwischen Westen und Osten, und natürlich die zwischen Arm und Reich. Gegenwärtig neigen wir dazu, solche Trennlinien zu vertiefen. Eine Strategie zur Überwindung ist bisher nicht erkennbar. 7. Gibt es einen neuen Nationalismus? Davon ist im Zusammenhang mit manchen Strömungen in den Transformationsstaaten oft die Rede. Ich glaube, dass diese Beurteilung nicht fair ist, denn auch der Westen Europas hat eine Reihe von ähnlichen Problemen – wie etwa das Baskenland, Nordirland und andere – nicht verkraftet. Wir können Südtirol auf der positiven Seite der Bilanz anführen; aber zweifellos gibt es eine durchgehende Tendenz, sich mit Populismus der Probleme zu entledigen. Dazu gehört die Migrationsfrage ebenso wie die Staatsbürgerschaftspolitik. 8. Die europäischen Veränderungen finden mitten im Prozess der Globalisierung statt, der ja Europa nicht für sich allein bestehen lässt, sondern den Kontinent nicht nur wirtschaftlich und sozial, sondern auch ökologisch und politisch voll betrifft. Die Tendenz zu „Fortress Europe“, zur Festung Europa, ist nur so zu erklären, dass man Einflüsse von außen abschirmen will. Das verkennt aber völlig, dass die Globalisierung längst Wirklichkeit ist und von Tag zu Tag fortschreitet. Die Frage ist, wie wir damit umgehen und welche Rolle Europa sich selbst dabei zumisst. Europa ist ja schließlich durch Einflüsse von außen zu dem geworden, was es heute ist. Die Renaissance wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht die arabische Welt die griechisch-römische Antike überliefert hätte. Die Erkenntnisse in Mathematik und Chemie wären ohne Indien und den Vorderen Orient wieder nicht möglich gewesen. Die Einflüsse in Philosophie und Theologie sind ebenso mannigfaltig.
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Und schließlich ist das Schießpulver zwar in China erfunden, aber erst in Europa mörderisch angewandt worden. 9. Nicht nur im Falle Österreichs führt die Entwicklung zu einer neuen Rolle des Kleinstaates. Waren wir auch für eine gewisse Zeit hoffnungslos abgeschlagen und ohne Chancen, so gibt uns die Europäische Integration und die gewachsene Anzahl von Kleinstaaten die Möglichkeit, mehr als bisher auf das Geschehen Einfluss zu nehmen. Man muss es aber tun und sich innerhalb der EU Freunde schaffen. 10. Warum überhaupt Europa? Für die Generation nach dem Zweiten Weltkrieg war völlig klar, warum, und Winston Churchill hat es in seiner Rede an der Universität Zürich 1946 formuliert: Es ging darum, eine bleibende Friedensordnung zu etablieren, da der Versuch nach dem Ersten Weltkrieg gescheitert war. Man wollte den deutsch-französischen Konflikt, der für Jahrhunderte unseren Kontinent bestimmt hat, beenden – was zweifellos auch gelungen ist. Ein weiteres Motiv war sicher die kommunistische Herausforderung, und diese wiederum mit einer Gründe für das Engagement der USA im europäischen Integrationsprozess. Es galt, die Stärke und Widerstandsfähigkeit der freien Demokratien zu festigen. Beide Begründungen sind längst Teil einer Erfolgsstory; der jeweilige Anlass ist aber heute entweder weggefallen oder hat sich über die Generationen verändert und ist nicht mehr relevant. Heute ist es meines Erachtens die Globalisierung, die uns als Motiv dienen muss. Europa muss nicht nur hier seine Rolle bestimmen, sondern auch wettbewerbsfähig, gestaltend und erkennbar bleiben. Damit verbunden ist aber auch der Auftrag, dem vielfältigen Bild Europas einen Rahmen zu geben. Gegenwärtig konzentriert sich die europäische Integration nach wie vor auf Wirtschaft und Technologie, Verwaltung und Organisation. Das ist aber ein Europa „oben ohne“. Ich meine das natürlich nicht im Sinne der Bademode, sondern im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten in der historischen und kulturellen Erfahrung. Größere Perspektiven bieten die Erklärungsversuche der Zukunft, die gegenwärtig angeboten werden. Nach 1989 hat etwa Francis Fukuyama mit seinem „Ende der Geschichte“ quasi den ewigen Frieden in Aussicht gestellt; Samuel Huntington hat mit dem „Clash of Civilisations“ eine andere, höchst kontroverse Perspektive geboten. Hier werden die diversen kulturellen Konflikte auf dieselbe Ebene gebracht wie etwa das Weltbild des Kalten Krieges. Ronald Reagan hat die Unterscheidung von „good guys“ und „bad guys“ souverän genug beherrscht, um jedenfalls die Sowjetunion als „evil empire“ bezeichnen zu können. Heute sind wir gleichermaßen „good and bad guys“, und in mancher Beziehung ist das „evil empire“ überall. Die Situation Europas lässt sich leichter mit den Begriffen „Kosmos“ und „Chaos“ beschreiben. Zweifellos gibt es einen neuen Kosmos, eine neue Ordnung, ja einen neuen Glanz des Kontinents. Es gibt aber auch das Chaos, jedenfalls jene neue Unübersichtlichkeit, die eine Fülle von Institutionen mit sich gebracht hat.
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Die Transformationsländer in unserer Nachbarschaft haben sich nach 1989 aus eigener Kraft auf den Weg zur Demokratie gemacht und ungeheure interne Veränderungen durchgeführt; und die soziale Geduld mancher Bevölkerungsschichten ist unendlich zu bewundern. Wir haben gegenüber diesen Ländern eine moralische Verpflichtung, die wir durchaus in die Waagschale werfen sollten, um dem natürlichen Egoismus, der uns in dieser Diskussion auch beherrscht, ein gerechtes Gegengewicht zu geben. Eines brauchen wir aber bei aller Rationalität auch für dieses Europa, nämlich die großen Erzählungen. Mit Untersuchungen und Statistiken, mit komplizierten Vertragsmechanismen und Konferenzen allein können wir dieses neue Europa nicht schaffen. Die Gestaltung der Welt ist durch Geschichten und Erzählungen geschehen, aus denen auch Europa schließlich hervorgegangen ist. Es waren die Mythen und Sagen der griechischrömischen Literatur, die Erzählungen und Zeugnisse der Bibel, aber auch die Epen und Sagen der nationalen Literaturen, die gemeinsam, einander ergänzend und durchdringend, in ungeheuer vielen Metaphern und Metamorphosen, die Grundmuster menschlicher Existenz umrissen haben. In ihnen tritt eine große Integrationsfähigkeit zutage, deren Wirksamkeit zur abendländisch-westlichen, zur europäischen Kultur geführt hat. Darum ist uns heute in vielem die geistige Ordnung abhandengekommen, das Vertrauen in das Leben und der Optimismus der Jugend. Denken wir doch daran, welch bildende Kraft der Faust-Mythos, der des Don Juan, die Figur des Don Quixote, aber auch die der Jeanne d’Arc hatten. Jede Nation kann solche Erzählungen und Figuren ihr eigen nennen. Es kann keine Einheitserzählung geben, sondern nur eine Vielfalt von Erzählungen, aus der eine gemeinsame Erzählung wird. Nur so kann eine gemeinsame Geschichte – nicht eine einheitliche Geschichte – überhaupt zustande kommen. Zum Gelingen einer gemeinsamen Geschichte gehört das gegenseitige Übernehmen unserer verschiedenen Geschichten. Niemand in Europa kann sagen, er verfüge über die „einzig wahre“ Geschichte. Das haben Hitler und Stalin getan. Eine solche Behauptung ist immer gegen Europa und seine Kultur gerichtet. Wir haben im vergangenen Jahrhundert genügend leidvolle Erfahrungen mit jenen Erzählern gemacht, die uns eine „einzig wahre“ Geschichte erzählen wollten. Erweitern wir also Europa im Geiste und im Herzen. Schließlich ist ja der Mythos von Europa auch als Liebesgeschichte überliefert... Wenn ich zum Abschluss ein Wort von Karl-Markus Gauß zitiere, könnte man meinen, er übertreibe, aber die Ereignisse der letzten Jahrzehnte seit 1989 geben ihm recht: „Die Donau ist ein Experiment, das die ganze Welt beeinflusst – was hier scheitert, mag überall scheitern, was hier Erfolg hat, gibt Hoffnung für jeden anderen Platz der Erde.“ Das gilt insbesondere für Österreich, die Region, in der wir zu Hause sind.
Die Gretchenfrage der Moderne Johannes Huber
Eines Abends, als sie schon auf der Höhe der Echinaden-Inseln waren, sei der Wind eingeschlafen und das Schiff sei treibend in die Nähe der Paxos-Inseln gelangt. Die meisten seien noch wach, einige nach beendigtem Mahl beim Trinken gewesen. Plötzlich habe man von der Paxosinsel her eine Stimme gehört, die laut „Thamus!“ rief, so daß man sich verwunderte. Thamus war aber ein Ägypter und Steuermann des Schiffes, doch nicht vielen der Fahrgäste mit Namen bekannt. Beim ersten und zweiten Anruf habe er geschwiegen, beim dritten Mal aber dem Rufer geantwortet. Dieser habe nun seine Stimme noch mehr erhoben und gerufen: „Wenn du auf die Höhe von Palodes kommst, dann melde, daß der große Pan tot ist!“ Als sie das gehört hätten, so erzählte Epitherses, seien sie alle sehr erschrocken und hätten sich darüber unterhalten, ob es besser sei, den Auftrag auszuführen, oder sich nicht darum zu kümmern, sondern es auf sich beruhen zu lassen, und Thamus habe sich dahin entschieden, wenn Wind wäre, stillschweigend vorbeizufahren, wenn aber Windstille und glatte See in dieser Gegend wäre, das Gehörte auszurichten. Als sie auf der Höhe von Palodes angelangt waren und weder Wind noch Wellengang war, habe Thamus, vom Heck nach dem Land hin blickend, gerufen, wie ihm gesagt worden war: „Der große Pan ist tot!“ Kaum aber habe er diese Worte geendigt, so habe sich, nicht von einer, sondern von vielen Stimmen, ein lautes Wehklagen, vermischt mit Ausdrücken der Verwunderung, erhoben. Da nun viele Menschen dabeigewesen seien, so habe sich die Geschichte schnell in Rom herumgesprochen, und Thamus sei vom Kaiser Tiberius zur Audienz befohlen worden.
Plutarch 1. Eine Bestandsaufnahme
Steht man vor den Kathedralen Europas, in denen jahrhundertelang Menschen den Kontakt zum Transzendenten suchten, und hört man darin bewegt, was große Musiker zur Ehre Gottes komponierten, so ergreifend, dass mitunter auch die gotischen Säulen des Kircheninnenraumes mitzuschwingen versuchen, und bestaunt man die klassischen Bilder in den großen Galerien der Welt, die erst dann verständlich werden, wenn man das Christentum kennt, dann hat es allerdings nur dann einen Sinn, dies alles weiterzudenken,
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wenn es vernünftig ist, an Transzendentes zu glauben, man innerlich überzeugt ist, der große Pan sei doch nicht tot, und dass es vor allem nicht unvernünftig wäre, an Inhalte zu glauben, die jenseits unserer Vorstellungswelt existieren. Zwei Jahrtausende haben christliche Denker um Antworten auf die großen Fragen der Menschheit gerungen. Was ist Schuld? Gibt es eine Vergebung? Wie verteilen sich die Rechte des Einzelnen gegenüber jenen des Staates? Was ist der Sinn unseres Lebens, und warum gibt es das Böse in der Welt? Die Möglichkeit, die jahrhundertealten Antworten auf diese sinnstiftenden Fragen der Moderne zu vermitteln, ist momentan in der Krise; den weltanschaulichen Amtsträgern fehlt einerseits das moderne Vokabular, andererseits werden die Brücken zum Transzendentalen mit Leichtigkeit abgerissen, was vor allem in jenen Erdteilen leichtfällt, die sich – trotz globaler Armut – zu Genusstempeln umstrukturieren und deswegen dem Diesseits treu bleiben müssen. Um dies auch intellektuell rechtfertigen zu können, beginnen sie, die Wissenschaft zu vergöttlichen, die ihnen bestätigt, dass der große Pan wirklich tot ist. Paradoxerweise hat diese Apotheose der mechanistischen Aufklärung schon Nietzsche beklagt. Damit werden auch Fragen des Woher und Wohin immer weniger verstanden und auch gestellt, „denn die Moderne stimmt der Auffassung zu, das Leben sollte in seiner Immanenz reichlich aufgefasst werden, um alles im Diesseits zu konsumieren: Und da interessieren uns andere Welten nicht mehr, dann reißen wir die Brücken zum Transzendenten ab. Und da werden in den Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphären ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind. Gleichzeitig werden mehr Abfälle aus Konsum und gesellschaftlichen Lebensformen generiert, als sich in absehbarer Zeit im Recycling-Prozess resorbieren lassen. Vor allem werden aber im Gang der Liberalisierung mehr Hemmungen fallen gelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltung und neue Fairness-Regeln domestiziert werden könnten.“1
Allerdings mehren sich die Hinweise: dass das derzeitige hedonistische Zwischenspiel eine Ende hat, noch bevor das 21. Jahrhundert ausklingen wird. Damit wird die Frage der Werte neu gestellt – und darüber hat das Christentum mehr als zwei Jahrtausende lang nachgedacht –, unsere Religion ist zweifellos die reflektorisch stärkste in der menschlichen Geistesgeschichte. 1
Peter Sloterdijk, Was geschah im 20. Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
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2. Das mechanistische und das spekulative Weltbild der Physik
Aber auch die Naturwissenschaft verlässt seine mechanistischen und auch atheistischen Erkenntnisinterpretationen, nämlich dass das Universum nur eine große Maschine wäre, die einen Schöpfer nicht mehr benötigt. Begonnen hatte es vor circa 400 Jahren, als Galilei sein Fernrohr, das er von einem holländischen Monokelhersteller bekam, zum ersten Mal in das Weltall richtete und zu seiner großen Verwunderung am Mond Berge und Krater sah – genauso wie auf unserer Erde – sowie andere Planeten, die ebenfalls von Trabanten umgeben waren, und daraus richtig schloss, dass es am Firmament nicht metaphysisch zuginge, sondern ganz einfach irdisch.2 Und als Kepler Gesetze formulierte, die nicht nur auf das Fallen eines Steines, sondern auch auf die Bewegungen der Gestirne anwendbar waren, glaubte man, dass die Welt eine einzige große Maschine wäre, die nach Gesetzmäßigkeiten abläuft und in der es für eine transzendentale Intervention keine Notwendigkeit gäbe. Damals prägte die Physik unser Weltbild, der Himmel war entzaubert. Das Weltall glich einer großen Maschinerie, die nach Regeln funktionierte, welche letztendlich alle kosmischen Ereignisse zu erklären vermochten. Eine enzyklopädische Weltsicht begann, unser Leben mechanistisch zu verstehen. Bald schloss man daraus, dass auch unser Körper eine Maschine wäre – und übrigens auch der Staat –, mit vielen einzelnen Rädchen. Der interpretative Transfer dieser mechanischen Physik des 17. und 18. Jahrhunderts in die Philosophie fand an einem Spätherbsttag 1865 in einem Leipziger Antiquariat statt, wo Friedrich Nietzsche Arthur Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ aufstöberte und dort den ihn prägenden Satz las: „Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, [, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: Dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine mißliche Lage (…). Der Mensch nur ein Wimpernschlag des Kosmos?“
Der Pastorensohn hatte auch den Kosmologen Johann Friedrich Mädel studiert und vertraute seiner um vieles jüngeren Vertrauten Cosima Wagner Folgendes an: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ,Weltgeschichte‘; aber doch nur eine 2
Johannes Huber, Walter Thirring, Baupläne der Schöpfung, Seifert Verlag, Wien 2020.
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Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten wieder sterben. Es gab Ewigkeiten, in denen sie nicht waren; wenn es wieder mit ihnen vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.“
„Diese Hypothese (nämlich einen Schöpfer) brauchen wir nicht mehr“ – Worte, die in einem Satz die mechanistische Geistigkeit von damals zusammenfassen. Damit wurde die Kosmologie und mit ihr die Naturwissenschaft zum Kronzeugen für eine rein anthropomorphe, jede Transzendenz ausklammerende Geistigkeit, die noch lange nachwirkt. Wahrscheinlich würde Laplace heute eine andere Antwort geben, nicht die, wie sie ihm seinerzeit bei einer Begegnung mit Napoleon zugeschrieben wurde: Hundert Jahre nach Newton hatte er eine Beschreibung der Planetenbahn entwickelt, die ausgefeilter war als bei Newton und die die Stabilität der Umlaufbahnen besser erklären konnte; als er sie seinem einstigen Schüler Napoleon vorstellte und dieser ihn mit der Frage unterbrach, welche Rolle Gott dabei spielte, antwortete er mit dem schon erwähnten Satz: „Diese Hypothese brauchen wir nicht mehr.“ Obwohl in der Zwischenzeit dieses mechanistische Weltbild zusammenbrach, klingt dieser Satz von Laplace noch immer nach. So strahlte BBC z. B. am 2. Mai 1950 ein Interview aus. Interviewpartner des Redakteurs war Fred Hoyle, Physiker – ein ganz großer seiner Zunft –, der damals einen Begriff prägte, welcher bis heute Hochkonjunktur behalten sollte, nämlich den des „Big Bang“.3 Hintergrund dieser Begriffsschöpfung war eigentlich ein Streit – kein sachlicher, sondern ein ideologischer, um nicht zu sagen, ein religiöser. Kurz vorher war es Edwin Hubble gelungen, den Abstand zwischen Erde und Andromedanebel zu berechnen; und dabei stieß er auf das Phänomen der Rotverschiebung: Die Gestirne rasen – offensichtlich wie Granatsplitter – auseinander, und dadurch verschiebt sich die Farbe. Und irgendwann muss es vorher gezündet haben; das Universum – so Edwin Hubble – musste einen Anfang gehabt haben. Und obwohl das nur eine physikalische, keineswegs aber eine philosophische oder gar theologische Aussage war, rief es einen Sturm der Entrüstung hervor, weil manche fürchteten, dass angesichts dieser kosmophysikalischen Theorie unter Umständen vielleicht doch ein Weltenbaumeister über die Hintertür die Bühne betritt. Deshalb meinte Hoyle ironisierend in dem BBC-Interview, es gäbe tatsächlich Wissenschaftler, die diesen Unsinn eines großen Krachs – eines Big Bang – glaubten. Für Hoyle durfte es keinen Anfang geben. Eine ähnlich emotionsreiche Diskussion wie vor 60 Jahren in der Physik erlebten wir 3 Ebenda.
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auch in den biologischen Fächern. Wobei es nicht um die Evolution ging – diese wird kaum ein Vernünftiger infrage stellen –, sondern um die Tatsache, dass alles zufällig entstehen musste und nicht nach der Natur inhärenten Gesetzen. Und wieder ist es die große Angst, ein Weltenbaumeister – Deus ex Machina – könnte bemüht werden, wenn nicht der reine Zufall für die Entstehung biologischer Arten postuliert würde. „Und das war auch der Grund für die Sommeroffensive der Gottlosen 2007, der wir zwei der oberflächlichsten Pamphlete der jüngeren Geistesgeschichte verdanken: gezeichnet Christopher Hitchens und Richard Dawkins.“4
Wobei diese zufallsorientierte, religionsfeindliche Deutung der Evolution nicht von Darwin stammte, der eigentlich als Lamarckist eine gerichtete Evolution, geführt von der Umwelt, annahm. Und gerade nach dem Darwin-Jubiläumsjahr mehrten sich die Hinweise, dass es zwar eine Höherentwicklung der Arten und damit eine Evolution gibt, dass aber auch diese Höherentwicklung physikalischen Konstanten untersteht, die bis in jenen Mikrokosmos reichen, in dem Energie und Materie ineinander übergehen, was unsere mesokosmische Vorstellungswelt übersteigt. Unser Genom – und das ist für uns noch nachvollziehbar – ist keine mechanistische Perlenschur, sondern ein faszinierender Magnet, der permanent – unüberschaubar für den Augenblick – seine elektrische Ladung ändert und damit permanent oszilliert; und in diesen Oszillationen ist der Gang von der befruchteten Eizelle zum fertigen Menschen – die Proteinsynthese –, aber auch das Schicksal jeder einzelnen Organelle und die Höherentwicklung der Arten vorgezeichnet. Und diese Oszillation ist nicht zufällig, sondern elektrostatisch determiniert. Galapagos war kein Zufallsgenerator, und es ist auch naturwissenschaftlich nicht die Königshypothese, zu glauben, die Evolution leistet sich den Luxus, in Zeitkoordinaten seine Geschöpfe als Zufallsprodukte vorbeispazieren zu lassen: den Tyrannosaurus rex, das Ebola-Virus, den Homo sapiens. In den letzten Jahrzehnten wurden physikalische Erkenntnisse geboren, die begannen – und Ähnliches ereignet sich derzeit in Biologie und Medizin – diese Weltschau erneut zu verändern. Denn jene Weltmaschine, von der noch Galileo und Kepler sprachen, macht – so die neuen Erkenntnisse der Physik – nicht einmal zehn Prozent der Gesamtwirklichkeit aus; der weitaus größere Teil des Weltalls ist unsichtbar, die Maschinerie der Sterne scheint 4
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nur ein Nebenprodukt jener Energie zu sein, die Galilei und Kepler nicht wahrnehmen konnten. Überhaupt sind Materie und Energie ineinander verschränkte Erscheinungsformen, wobei auch die Zeit nur in der materialisierten Form der Realität existiert. Geht die Materie in Energie über, so wird sie wahrscheinlich zeitlos. Der wissenschaftliche Erkenntnisakt selbst wird durch die moderne Physik relativiert. Die Unschärfe im Mikrokosmos erlaubt es nicht mehr, exakte Angaben über physikalische Größen zu machen, eine Unschärfenwolke überzieht alles. Auch im Makrokosmos übersteigen die Dimensionen unser wirkliches Vorstellungsvermögen: Wir reden über die Lichtgeschwindigkeit so wie über einen fahrenden Zug, trotzdem überfordert sie unser begriffliches Denken, wie jene 100 Milliarden Konstanten, die sowohl für das Alter des Weltalls wie auch für die Anzahl der Galaxien zu stehen scheinen. Und noch weiter: Die starre Trennung zwischen Objekt und Subjekt verschwindet. Beobachtet man ein Objekt, so verändert man es gleichzeitig auch. Objekt und Subjekt beginnen sich zu vereinen, der Unterschied zwischen Beobachtetem und Beobachtendem verschwimmt – zumindest in den berechnenden Zahlen.5 Und es gibt noch viele andere Beispiele: Das unbegrenzte Universum und das holographische Modell sind nicht kompatibel. Auf zirka 100 Milliarden Lichtjahre weit wird unser Universum geschätzt, die Energie innerhalb dieses geschlossenen Systems kann nur eine bestimmte Anzahl von Konfigurationen und Modellen liefern. Allerdings ist mathematisch das Universum unbegrenzt, sodass es ein Paralleluniversum geben müsste. Das übersteigt unser Denkvermögen – und deswegen ist es nicht unredlich, hier eine Glaubensentscheidung anzusetzen. Vor 13 Milliarden Jahren mussten innerhalb der Planck-Zeit von nur 10-43 sec die Weichen für die kosmische Evolution richtig eingestellt worden sein. Nun ist der Kosmos 1060 Planck-Zeiten alt – eine Zahl, die sich unserer Vorstellung entzieht – und die Naturgesetze gelten noch immer! Für Gesetzmäßigkeit verwenden die Franzosen auch das Wort „designe“; wenn die Naturgesetze Milliarden von Jahren mit einer lückenlosen Präzision ablaufen – ohne Fehler –, kann man das mit Recht auch als intelligent bezeichnen; mit dem Kreationismus hat das nicht das Geringste zu tun – Kardinal Schönborn hatte vollkommen recht. Wissenschaft und Religion sollen aber – und das möge nochmals gesagt sein – getrennt bleiben, und Letztere darf nicht die Lücken der Ersteren ausfüllen. Es muss jedem Menschen erlaubt sein, Agnostiker, Atheist oder Theist zu sein. Aber nur den religiös Musikalischen wird häufig und immer mehr die Frage gestellt, ob sie es unter Berufung auf die Naturforscher als vernünftig einstufen, an transzendente Inhalte zu glauben; die große 5
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Frage, ob es jenseits unseres Mesokosmos transzendente Wirklichkeiten gibt, wird auch in der Konsumgesellschaft zu einer Kardinalfrage. Obwohl – um es nochmals zu betonen – Glaube und Wissenschaft getrennt bleiben mögen, wurde vor allem Letztere immer wieder missbraucht, um Jenseitigkeiten zu ironisieren; übersehend, dass große Naturforscher die Entschlüsselung von physikalischen und biologischen Gesetzen als Erkenntnis einer großen Ordnung, die ein Weltenbaumeister etablierte, erlebten. Heute weist uns die spekulative Physik des 20. Jahrhunderts tatsächlich die Grenzen des menschlichen Erkenntnishorizonts auf und lässt es zumindest nicht unvernünftig sein, jenseits und unabhängig von dieser mesokosmischen Welt unsere persönlichen sinnstiftenden Antworten anzusiedeln, was lange Zeit von den intellektuellen Mechanikern der Aufklärung als so dumm abgetan wurde, wie Gretchens Frage an Faust. Und tatsächlich: „Eine naturalistische Weltanschauung, die sich über letzte Gründe ausschweigt, wird von vielen als steril und zumutungsreich empfunden. Das erklärt nicht nur die politische Schwäche des Atheismus, sondern auch die Paradoxie, dass nach einer Umfrage sechzehn Prozent bekennen, nicht an Gott zu glauben, sich aber nur fünf Prozent als Atheisten bezeichnen“ wie Thomas Thiel es formulierte. Allerdings: „Die Wissenschaft nimmt die Religion nur deshalb hin, weil sie sich von ihr unangefochten fühlt und ein subtileres Instrument hat als den offenen Streit: die naturalistische Aushöhlung der Religion“ (FAZ 24. 12. 2016). Umso mehr soll redundant darauf aufmerksam gemacht werden, dass diese naturalistische Weltbetrachtung immer nur den Mesokosmos „vermisst“ und Berechnungen über den jenseitigen (jenseits des Mesokosmos) Bereich zwar durchführten, nicht aber verstehen kann; und es ihr auch unmöglich ist, Sinndeutungen zu geben, lässt es als intellektuell redlich erscheinen, an einer religiösen Interpretation unserer Existenz festzuhalten. Wolf Singer sagte kürzlich, er lebe mit der Gewissheit, dass das, was sich uns erschließt, nur ein Teil von etwas Größerem, nicht Erfassbarem sein kann: das uns nicht Zugängliche – entweder „Zufall“ oder „eine höhere Ordnung“, in die wir eingebettet sind. Der Mensch ist Bewohner des Mesokosmos, alle seine Sinne sind evolutionär durch die mesokosmische Umwelt geprägt, und seine Sinneswahrnehmungen beschränken sich auch auf diese.6 „Der sichtbare und berechenbare Raum ist nur ein kleiner Schlitz der Wirklichkeit. Da sind das Auge und die Neuronen, die das oder jenes bemerken, dort sind es Wellen, die durch das Unendliche vagabundieren – zwischen beiden besteht kaum eine Berührungsfrequenz“.7 6 Ebenda. 7 Peter Sloterdijk, Nach Gott, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
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Es ist daher folgende Aussage wichtig: „Wenn die Wissensgockeln ex cathedra verkünden, dass auch im Weltanschaulichen nur das Festgestellte zählt – dann muss geantwortet werden: Nicht-Wissen ist kein Einwand gegen das Wirkliche –, da braucht man gar kein Pflichtverteidiger des Transzendentalen zu sein.“ Und es ist seltsam, dass das Nichtwissen die Hardcore-Positivisten und Anthropomorphisten nicht mehr verlegen macht. Denn das Transzendente ist nicht Objekt einer Gerichtsverhandlung, bei der mit Beweisen alles geklärt werden kann; es gibt nur Hinweise. Und „zwischen Himmel und Erde bewegen sich grenzenlose Mengen an Energien“8, an deren hintergründige Gesetze der an Zeit und Raum gebundene menschliche Geist – wegen dieser Begrenztheit – nicht herankommen wird. Vor allem aber ist unsere Erkenntnis nur eine Kategorie, die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. „The lack of evidence is not evidence of lack.“ Katzen können einzelne Farben kaum unterscheiden, die Analyse ihres Sehpigments bestätigt dies. Sie sehen die Wirklichkeit nur in Grau; trotzdem würde niemand behaupten, dass es Farben nicht gebe, nur weil das Sensorium der Katzen diese nicht perzipiert. Zwar ist das menschliche Gehirn weiter entwickelt als das der Katzen, trotzdem kann es keineswegs den Anspruch erheben, endgültige Realitäten erkennen zu können. Dem menschlichen Gehirn bleibt in den jetzigen, aber auch in den zukünftigen neuralen Vernetzungen – solange wir an Raum und Zeit gebunden sind – manches verborgen, was trotzdem existiert. Seit Einsteins Relativitätstheorie wissen wir, dass es auch keine Erfahrungsmöglichkeit der Gleichzeitigkeit gibt. Alles, was wir sehen, ist bereits vergangen – dies resultiert aus der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit. Das Universum ist ein virtueller Raum, der uns nur aus seiner Vergangenheit trägt und bestimmt. Im Verbund mit der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit, auf der die ganze Relativitätstheorie beruht, ergibt sich daraus eine Sichtbarkeitsgrenze für das All – eine Art Welthorizont. Aber auch im Mikrokosmos stößt man zu immer kleineren Bereichen vor, bis schließlich mit der Quantenunschärfe ebenfalls ein limitierender Erkenntnishorizont erreicht wird. „ Der Welthorizont – einerseits die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit – schützt uns vor dem unendlich Großen, genauso wie andererseits das Planksche Wirkungsquantum oder die Heisenbergsche Unschärfe uns vor dem unendlich Kleinen schützt.“9
8 Ebenda. 9 Bruno Binggeli, Primum mobile, Amman, Zürich, 2006.
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Im mesokosmischen Bereich des Alltags haben wir es mit getrennten, kausal zusammenhängenden Objekten zu tun; im Bereich der Quantenphysik sieht man, dass die Dinge ursachenlos miteinander verknüpft sind. In ihr bilden sie eine große Einheit, alles scheint mit allem unauflöslich zusammenzuhängen – ein fast pantheistischer Klang. „Kürzlich hat der englische Wissenschaftsautor Jim Baggott in seinem Buch „Farewell to Reality“ die neuesten Entwicklungen der Stringtheorie und der Quantenkosmologie kritisch unter die Lupe genommen. Die Physik sei zu weit gegangen. Märchen-Physik – „fairy tale physics“ – nennt er sie, die „Verrat an der Wahrheit“ verübe und an der Grenze zur Vertrauenserschwindelei liege. Die Physik stellt heute Fragen, die zu beantworten den Horizont der Empirie übersteigen. Deshalb, so Baggott, ist sie – zumindest auf gewissen Gebieten – in das Stadium einer postempirischen Wissenschaft ohne Bodenhaftung übergetreten; man könnte auch sagen: ins Stadium der Metaphysik [...]. Bezeichnend, was der amerikanische Nobelpreisträger Sheldon Glashow schon 1986 in der Zeitschrift „Physics Today“ schrieb: „Zum ersten Mal seit dem Mittelalter sehen wir, wie unsere noble Forschung enden könnte, nämlich damit, dass der Glaube die Wissenschaft erneut ersetzt.“ Die mathematische Rabulistik der Stringtheoretiker, wie sie sechs Dimensionen in einem Raumgebiet der Größenordnung von 10–33 Metern zerknautschen können, übertrumpft tatsächlich die Spekulationen mittelalterlicher Theologen, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben“ (NZZ 7.4. 2014). Das sind Zitate von Naturforschern, die natürlich auch keinen Weltenbaumeister belegen, wohl aber die Vernünftigkeit einer Glaubensentscheidung für Unsichtbares und Unerklärbares legitimieren. Damit wird die Gretchenfrage wieder intellektuell legitim, andererseits müssten die christlichen Glaubensinhalte so verkündet werden, dass sie beim modernen Menschen auch ankommen können.
3. Offenbarungsverständnis im 21. Jahrhundert
Allerdings wird es zur Aufgabe jeder Theologie, die transzendentale Botschaft so zu verkünden, dass sie auch in der Reflexion auf das Weltbild der modernen Naturwissenschaften „die methodisch ausgegrenzten sinnlichen und existentiellen Gehalte des Glaubens“10 intellektuell rechtfertigen kann. Zentrale christliche Glaubensinhalte wie die Menschwerdung und die Auferstehung müssen in ihrer Kernaussage begriffen und dargestellt werden, das metaphorische Vokabular der damaligen Zeit kann ruhig infrage gestellt werden, ohne dass man auf die Botschaft verzichten müsste. Denn „nicht Gott allein ist der Offenba10
Thomas Thiel, „Man scheue die nihilistischen Herausforderungen nicht“, F.A.Z. vom 14.12.2106, Nr. 292, S. 9.
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rungs-Schöpfende, auch der von ihm kommenden Natur und dem von ihm geschaffenen Menschen sind schaffende Qualitäten eigen. Was immer den Subjekten bekannt gemacht wird, es kann nie ohne deren Eigenbeitrag umgesetzt werden Durch diese Wendung zum Subjektiven ist Offenbarung nicht nur eine singuläre Verlautbarung des Absenders, sondern auch eine Einbindung des Adressaten“11 – entsprechend ihrer Zeit – und auch des 21. Jahrhunderts. Das soll an zwei Beispielen erklärt werden:
3.1 Inkarnation
Eine Fleischwerdung (= Inkarnation) Gottes wird heute kaum mehr verstanden. Die Inkarnation, wie sie bei den Evangelisten in bukolischer Weise erzählt wird, ist weit mehr als eine Weihnachtsgeschichte. „Es gab Anlehnungen in der griechischen Mythologie, wo man gewohnt war, dass Götter in menschlicher Gestalt durch die Welt eilen, und die Dionysos-Sage der Beziehung von Gottvater und Gottsohn, die in manchen Aspekten der christlichen Heilsgeschichte recht nahekommt. Dennoch wirkte die Botschaft von einem menschgewordenen und gekreuzigten Gott auf die damalige Welt, auf Hellenisten und Juden gleichermaßen, so abstoßend, dass sie nicht unbedingt aus einer Opportunität der Zeit heraus erfunden worden wäre.12 Aber der Unterschied des christlichen Gottes, der Mensch wurde, zu den anderen, mythischen Göttern, war die historische Realität, die die Christen für sich beanspruchten und mit Angabe von Geburtsort und unter Zuhilfenahme der römischen Administration und Chronologie permanent darauf hinwiesen, dass ihr Gott tatsächlich lebte, an einem bekannten Ort zu einem umschriebenen Zeitpunkt. Dies war für die damalige Zeit völlig neu. Denn das Weihnachtsevangelium nach Lukas, das traditionell am Weihnachtsabend verkündet wird, lässt an all diesen Genauigkeiten nichts zu wünschen übrig. Ob beabsichtigt oder nicht, das Christentum hat dadurch aufs Tiefste den hellenistischen Platonismus durchdrungen: Der Abstieg der Ideen wird zur Inkarnation Gottes, der Aufstieg zur Ideenschau, zur mystischen Vereinigung mit dem Weltenbaumeister.“13 Mit dem Wort „Menschwerdung“ fangen wenige Zeitgenossen etwas an. „Menschwerdung“ steht im Widerspruch zu jener simplen Auffassung über Gott und Religion, die heute 11 12
Peter Sloterdijk, Nach Gott, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. Carl Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums, Beck´sche Verlangsbuchhandlung München 1954. 13 Ebenda.
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viele Menschen unbewusst teilen: Wenn es Offenbarung und göttliche Realitäten gäbe, dann müssten sich diese mit Macht in unserer Welt zeigen, sie müssten einbrechen und durch übernatürliche Aktionen auf sich aufmerksam machen, sich so unter Beweis stellen. Umgekehrt wiederum fordern andere, dass eine fast „naturwissenschaftliche Übernatürlichkeit“ in den Religionen sichtbar werden müsste – wenn das nicht der Fall ist, so sei dies ein Argument gegen jede theistische Realität. Das menschliche Gehirn ist am weitesten entwickelt, kann aber trotzdem nicht den Anspruch erheben, die ganze Realität erfassen zu können. Auch dem menschlichen Gehirn bleibt in dem jetzigen, aber auch in zukünftigen Gehirnvolumina vieles verborgen, was trotzdem existiert. Absolute Realitäten erkennen zu können, ist eine Wunschvorstellung des Menschen; schon die Kohlenwasserstoffphysiologie limitiert dieses Ansinnen. Werden theologische Wahrheiten den Menschen überliefert, so kann dies nur auf „menschliche Weise“ erfolgen. Anders würde der Mensch es nicht wahrnehmen und verstehen, eine Inkarnation wird notwendig und entpuppt sich als einziger Weg, Metaphysik mitgeteilt zu bekommen. Den schwarzen Stein der Kaaba, der vom Himmel fällt und in absoluten Worten metaphysische Offenbarungsweisheiten beinhaltet, den gibt es nicht; Gott kann sich uns nur entsprechend unseren Gehirnwindungen mitteilen – das ist der tiefste Sinn der Inkarnation. Wenn man daher in der Entstehung und in der Entwicklung von Religionen und religiösen Gemeinschaften „Menschliches“ entdeckt, so spricht dies keineswegs gegen Gott, sondern ist Folge des inkarnatorischen Gesetzes, nach dem göttliche Weisheiten nur in Menschengestalt – mit aller dazugehöriger Relativität – geoffenbart und umgesetzt werden können.
3.2 Die Entstehung des Neuen Testaments
Wenn nachgewiesen werden kann, aus welchen Elementen das Neue Testament entstand, wo es Anleihen nahm und sich schon bestehender religiöser Vorstellungen bediente, dann läuft auch dies keineswegs dem Offenbarungscharakter zuwider, sondern lebt vielmehr die Grundidee der Inkarnation. Zahlreiche Erzählungen aus dem Neuen Testament, vor allem der Evangelisten, benützen Bausteine, die es in der damaligen Welt schon gab, religiöse Vorstellungen, die andere Kulte gebrauchten. Dies kann fast kriminalistisch dargestellt werden und wurde lange Zeit als Argument gegen die christliche Offenbarung verstanden und interpretiert. Die Inkarnation macht aus diesem Gegenargument jedoch ein Argument, denn „Fleischwerdung“ bedeutet auch hier das Benützen von bereits existierenden Vorstellun-
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gen, von einem schon vorhandenen religiösen Bilderkatalog, dessen man sich eben bediente, genauso wie die Offenbarung sich des Fleisches (Fleischwerdung) bedient hat. Die Kindheitsgeschichte bietet sich als besonderes Studienobjekt dafür an, wie der „fleischliche Körper“ schon vorhandene Mythen auf Christus adaptierte, was aber ebenfalls keineswegs gegen das Christentum spricht. Die Geschichte vom Besuch der Magier an der Krippe war zur Zeit der Evangelisten ein bekanntes Detail; römische Kaiser wurden von Magiern besucht, so von Tiridates, der als Magier auftrat und wieder andere Magier dem Kaiser vorführte. Aber auch die Sternerscheinungen, die mit der Geburt Christi in Bethlehem koexistierten, waren „stilistische Elemente“, ein „literarisches Fleisch“, dessen sich die Hagiographen bedienten. Bei der Geburt des Mithridates, aber auch beim Regierungsantritt des Augustus traten astronomische Erscheinungen als Vorzeichen auf; selbst der Kindermord hat antike Parallelen, göttliche Kinder wurden schon immer verfolgt; nach Sueton beschloss der Senat auf ein Vorzeichen hin, dass im Geburtsjahr des Augustus kein in diesem Jahr geborener Knabe aufgezogen werden sollte, und auch von Horus, von Apollon und von Herakles wusste man, dass das Göttliche nicht ohne Gefahr in diese Welt eintreten kann. Besonders schöne Parallelen ergeben sich zur Lichterscheinung in der Nacht, wie sie bei der Geburt des göttlichen Kindes von den Evangelien formuliert werden: „Mitten in der Nacht sah ich die Sonne strahlend im leuchtenden Licht“, heißt es von der Isis-Weihe, und aus den Mysterienfeiern stammt der Ruf: „Euch ist heute der Heiland geboren!“ In Eleusis formulierten die Hierophanten den Jubelruf: „Einen heiligen Knaben gebar die Herrin“, und bei Osiris tönt es: „Der Herr aller Dinge geht aus dem Licht hervor, ein großer König und Wohltäter, Osiris ist geboren.“ Als Helfer und Gottes Sohn erscheint Jesus ähnlich wie die meisten hellenistischen Erlösungsgötter.14 Christus ist der wahre Dionysius; dieser war von den Titanen in Stücke gerissen worden und erstand jedes Frühjahr unversehrt von den Toten, als Kind, dem die wilden Frauen als Ammen beistanden. Die Krippengeburt war bereits bei Dionysius bekannt, auch er hieß Heiland, und in den Mysterien wurde sein Körper verzehrt. Viele der neutestamentlichen Wundergeschichten stammen aus dem Asklepios-Kreis, dessen Heilungsberichte die ganze Welt kannte. Wie Asklepios heilt Jesus mit seiner ausgestreckten oder aufgelegten Hand oder mit dem Finger, den er in das kranke Körperglied steckt, oder auch durch eine Berührung mit dem Kranken. Wie bei Asklepios sind Glaube und Heilung meist, doch nicht immer aufeinander bezogen, gelegentlich wird auch ein Ungläubiger geheilt. Wie dort wird auch hier von den Geheilten Dank gefordert. Ein von Asklepios geheilter Blinder sieht wie ein von Jesus Geheilter zunächst nur Bäume. Geheilt werden von beiden: Gelähmte, Stumme, in der Ferne Erkrankte, Lahme. Ihre Bahren tra14 Ebenda.
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gen die Kranken nach der Heilung bei beiden selbst davon. Beide machen keinen sozialen Unterschied, heilen Jung und Alt, Arm und Reich, Mann und Frau, Sklaven und Freie, Freunde und Feinde. Zu den Heilungen kommen Naturwunder: Asklepios, der ihm verwandte Serapis und Jesus stillen Stürme. Asklepios hat sechs Tote auferweckt, wobei die Einzelheiten dieselben sind wie bei den beiden Toten, die Jesus auferweckte: Viele Zeugen sind zugegen, Scheintod wird von Ungläubigen vermutet, den Erweckten wird Nahrung gegeben. So übernimmt Jesus auch die Titulatur des Asklepios, er ist „Arzt“ schlechthin, Herr über Krankheitsmächte und Heiler. Dass Jesus tatsächlich geheilt hat, ist aus den Erzählungen von Markus ableitbar, der nämlich berichtet, dass nicht alle Heilungen von Jesus von Erfolg gekrönt waren – dies wäre nicht formuliert worden, wenn man nur Plagiate aus dem Hellenismus gesucht hätte. Trotzdem blieben die Heilungen Zeichen, sodass die von ihm geheilten Menschen und Freunde darin eine göttliche Kraftwirkung erkannten; das, was man in der ganzen Welt von Asklepios erzählte, das sah man hier auch verwirklicht.15 Auch vom Mithras-Kult – dem Gegenspieler der christlichen Religion – wurden Anleihen genommen: das Blut des Stieres, das eine neue Schöpfung einläutet, der aus dem Fels Geborene – ex petro genitus – und schließlich das Weihnachtsfest, jenes Datum, an dem die Raben Mithras das Signal gaben. Die Urchristen, die das alles wussten, hätten es nicht verstanden, warum diese Anleihen gegen ihre Religion sprechen sollten: „Alles ist Euer – Ihr aber seid Christus.“ Viele andere Beispiele gäbe es noch, Berührungsängste hatten die Urchristen nicht, sie waren der Überzeugung, in Jesus dem wahren Asklepios, dem wahren Mithras und dem wahren Dionysius begegnet zu sein, und damit übernahm man auch deren Attribute und Geschichten. Anders sehen es jedoch die, die religiös unempfänglich sind: Für sie sind das alles Beweise – im Feuerbach’schen Sinn – wie sich Menschen ihren Gott erfanden. Für welche Deutung man sich letztendlich entscheidet, hängt nicht von Argumentationskünsten ab, sondern vom naturwissenschaftlichen Äquivalent für Gnade – von der epigenetischen Prägung. Festgehalten soll allerdings werden: Wenn man sich für die christliche Deutungsversion entscheidet, so bleibt man dennoch im intellektuell redlichen Bereich.
4. Ist christliche Ethik noch zeitgemäß? „Am 11. Mai 1996 verlassen zwei japanische Bergsteiger ihr letztes Lager auf 8.200 Meter, um das 8.848 Meter hohe Gipfelziel des Mount Everest über die Nordwand zu erreichen. Bei 8.500 Meter bemerken sie im Schnee, wenige Zentimeter neben ihrer Aufstiegsroute, einen 15 Ebenda.
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indischen Bergsteiger, verletzt, entkräftet und halb erfroren. Aber er kann noch sprechen. Die Japaner bleiben nicht stehen, sondern setzen ihren Aufstieg fort. Bei Höhenmeter 8.630 entdeckt die Gruppe zwei weitere Inder, der eine, am Boden ausgestreckt, liegt im Sterben, der andere kauert einfach im Schnee, er lebt. Die japanische Expedition setzt den Aufstieg fort. Keines ihrer Mitglieder hat den Überlebenden Nahrung oder eine Sauerstoffflasche gegeben. Kein Wort ist gewechselt worden. Nur Blicke. Nach der Rückkunft verkündete der Sprecher der Expedition, der 21-jährige Shigekawa, jenseits der 8.000 Meter kann man sich keine Ethik mehr leisten.“ (DER SPIEGEL) „Wenn ich die Inhalte des Neuen Testamentes in einem einzigen Satz zusammenfassen müßte, würde ich sagen: Es umschließt das Archiv all dessen, was die in Kulturen zersplitterte Menschheit nicht vergessen darf, wenn sie ihre weiteren Schicksale unter einen empathischen Begriff von Zivilisation stellen möchte“.16
Tatsächlich findet man den Verzicht auf das „Aug um Aug und Zahn um Zahn“-Postulat, der die Welt verändern sollte, schon in den frühchristlichen Hymnen, in denen die ersten Christen offensichtlich die Kraft und den Erfolg ihrer Ideen erkannt und dieses bemerkenswerte soziologische Phänomen der raschen Ausbreitung des Christentums als ein göttliches Wunder betrachtet haben. Lange vor dem endgültigen Sieg des Christentums und dem Toleranzedikt schrieben diese Kirchenväter in Hymnen, dass durch diesen Kern ihrer Lehre die Welt verändert werden würde. Da die ganz großen Erfolge des Christentums vor Konstantin liegen, ist der Hauptgrund weder in der radikalen christlichen Intoleranz zu suchen, noch in ihrer Werbung um die sozial schwächeren Schichten – obwohl auch das dazu beigetragen haben mag –, sondern in der inneren Glut einer praktischen Liebesidee, die freilich auf eine Welt stieß, die dafür vorbereitet war. Liebesforderungen waren der antiken Geisteshaltung nicht neu, wohl aber die Kombination mit der jüdischen Werkfrömmigkeit, mit der Tat, die eine Konkretheit für den vor einem stehenden Menschen forderte. Wenn auch die Wirklichkeit oft hinter dem Ideal zurückblieb, das, was gemeint war, erregte eine Welt, die weithin lieblos und doch unendlich liebesbedürftig war, aufs Tiefste. Sicher haben Stoa und Kynismus dies gut vorbereitet, aber sie haben den Gedanken der Bergpredigt nicht in die Praxis umzusetzen verstanden – das war dem jüdisch hellenistischen Synkretismus vorbehalten geblieben. 16
Peter Sloterdijk, Nach Gott, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
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Wenn seit Konstantin die Zahl der Todesurteile abnahm, wenn Grausamkeiten wie die Kreuzigungen verschwanden, wenn Menschenschlächtereien zum Vergnügen allmählich aufhörten, wenn man sich der Menschen in Gefängnissen annahm, so war dies für das antike Leben völlig neu. Wenn Basilius Krankenhäuser für Arme und Waise gründete, wenn von Afrika bis Kleinasien das Frühchristentum erwiesenermaßen die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen versuchte und für Arbeitsbeschaffung sorgte, so waren dies aus der Liebe geborene praktische Leistungen, die die Antike sonst nicht aufzuweisen hatte. Die Frühchristen haben tatsächlich die Herrschaft der Selbstliebe, den Egoismus als Prinzip schmerzlicher empfunden als alle anderen und dagegen trotz Rückschläge alles zu tun versucht, was ihnen möglich war.17 Und das ist meines Erachtens nach das Zentrum der christlichen Ethik.
5. Die Auferstehung ist das Zentrum unseres Glaubens – auch im 21. Jahrhundert
Obwohl das Christentum die reflektorisch intensivste Religionsmacht der Welt ist, unterliegt sie aus einer kommunikativen und defensiven Schwäche heraus immer wieder der Versuchung, ihren Exilgedanken – das Zentrum der Botschaft – in Sozialarbeit, Solidarität und Caritas umzukodieren, um ja nicht ironisiert zu werden.18 Manche christliche Kirchen – so meinen viele – haben sich immer mehr zu einem reibungslos ablaufenden Funktionärsverband mit spiritueller Ausrichtung entwickelt, mit festen Sitzen in Kommissionen und Rundfunkräten, aber fast ohne eigenes, aus dem Glauben geschweißtes provokantes Bekenntnis, dass wir uns nämlich auf diesem Planeten nicht einrichten können, wie in einem ewigen Haus. Der Quantenphysiker Anton Zeilinger legt es wissenschaftlich nahe, dass beim solitären Ereignis des Urknalls die Information für alles, was später kam, bereits fertig und vorbereitet gewesen sein muss: die Information für die Elemente, das Periodensystem, die Kohlenwasserstoff-Welt, und damit gilt auch für uns: „Am Anfang war die Information“. Wenn diese Information – auch für uns – von Anfang an da war, warum soll sie dann vergehen, wenn lediglich dieser Leib zerfällt? Denn auch die Physik lehrt uns, dass Grundlagen des Kosmos Felder sind, die den ganzen Raum gleichmäßig ausfüllen – über Milliarden von Lichtjahren –, und nur gelegentlich tritt aus diesen Feldern, wenn genug Energie auftaucht, Materie hervor. 17 18
Carl Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums, Beck’sche Verlangsbuchhandlung München 1954. Peter Sloterdijk, Nach Gott, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
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Man spricht von gesteigerter Energie, von Wellen und Korpuskeln und verkündet, dass Materie geformte Energie sei. Und diese Materie führt einen metastabilen, mehr oder weniger lang dauernden Tanz auf, den wir Körper und Leben nennen, bevor – wenn die elektronische Energie absinkt – sie wieder in das Hintergrundfeld zurücksackt – pulvis es et in pulverem reverteris –, oder man könne es so sagen, wie die französische Sprache das Wort „sterben“ umschreibt: „rendre l’ame – die Seele zurückgeben. Unterschreitet die Energie den kritischen Wert, dann kehrt auch die Materie selbst wieder in das Feld zurück – ihre Impressionen, die sie sich während des Tanzes erworben hat, mitnehmend. Über Einzelphotonen scheinen Atome Gedächtnisse zu haben, die sie weitergeben können. Dies ist das Prinzip der Quantenkryptographie. „Die sichtbare Welt unseres Mesokosmos ist nur ein kleines Segment im großen Kuchen der Gesamtwelt, die der menschliche Geist ansatzweise mathematisch zu erfassen versteht. Unsere mesokosmischen Sinne vermitteln uns letztendlich das materielle Segment unseres Daseins: Körper entstehen, wachsen, sterben und verfallen. Ein Kreislauf, der allerdings Hintergründigkeiten besitzt, die unseren Sinnesorganen nicht mehr zugänglich sind. Obwohl quantenphysikalische Reaktionen mit unseren Neuronen nicht direkt registriert werden können, sind sie dennoch in jenen Atomen präsent, aus denen unsere Körper bestehen. Dies zu erhellen, gehört zu den faszinierendsten Wissensgebieten biophysikalischer Forschung, die verständlicherweise auch transzendent gedeutet werden könnten. Denn wenn Materie und Energie ineinander umwandelbare Größen sind, wenn ein ,Hintergrund‘ existiert – der sich natürlich unseren Sinnen nicht offenbart, aber alles durchwebt –, aus dem die Materie hervortritt, wenn ausreichend Energie auf diesen Hintergrund trifft, wohin aber Materie auch wieder zurückkehren kann, wenn die Zeit nur ein Kennzeichen der Materie ist und es auch ein Dasein ohne die Zeitgrenzen gibt, und schließlich wenn Photonen ein Gedächtnis zu haben scheinen – so wird das alles als transzendente Komponente der Welt interessant. Dass es in den biologischen Systemen Reaktionen gibt, die einen quantenphysikalischen Hintergrund besitzen, sollte noch einmal zusammengefasst werden: Veränderungen im Magnetfeld pflanzen sich fort und bleiben erhalten, Einzelphotonen geben Atomen ein Gedächtnis, das diese weitertransportieren. In ,spukhafter‘ Weise sind Photonen über unermessliche Distanzen miteinander verschränkt – dies alles klingt tatsächlich nach einer Physik der Unsterblichkeit, falls es in unserem Körper tatsächlich auch Reaktionen gibt, die quantenphysikalisch verewigt werden könnten.“
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Damit wird die persönliche Glaubensentscheidung legitim: Der Tod muss keine Totalvernichtung sein – er könnte auch nur ein Kostümwechsel werden.19 Nach dem großen Physiker Walter Thirring ist der Tod eine Art Gütertrennung – ein Teil bleibt zurück, während der andere dorthin zurückgeht, von wo er kam – in den Hintergrund: rendre l’ame – die Seele zurückgeben, wobei die Antwort auf die Frage interessant wäre, wie unversehrt sie dorthin zurückkehrt. Der Tod muss auch nicht dem Herausreißen und dem Verbrennen einer Seite gleichen; möglicherweise wird diese Seite neu, möglicherweise sogar noch schöner geschrieben. Dass dieser Ort jenseits unseres Vorstellungsvermögens ist, darauf deutet bereits Mk 12, 16 im Gespräch mit den Sadduzäeren hin, mit dem Hinweis, dass dort weder geheiratet und verheiratet wird, dort ist es „hos angelois en urano“, also jenseits von Raum und Zeit. Warum braucht der Mensch eine definitive Zufluchtszone? Warum braucht er auch eine Letzt-Immunität? Warum hat wahrscheinlich jeder von uns Augenblicke einer transzendenten Evidenz, selbst wenn er sich mit seiner Kirche noch in einem Privatkrieg befindet? Warum zerreißen dann kurzfristig die Wolken? Und warum werden dann die großen Fragen des Woher und Wohin mit freudigem Herzen beantwortet?20 Weil der Mensch das Ebenbild seines Schöpfers ist. Und wenn das Geschöpf das Abbild des Schöpfers ist, dann ist es verständlich, dass es sich wieder nach seinem Schöpfer zurücksehnt. „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild“ – der Hagiograph wiederholt und formuliert es nochmals in einer Antiphon „nach dem Bild Gottes schuf er ihn“ (1 Moses 1, 16). Wär nicht das Auge sonnenhaft, es würde nie die Sonn erblicken Wär nicht in uns des Gottes eigene Kraft Wie könnt uns Göttliches entzücken? (J. W. v. Goethe)
Verwendete und zitierte Literatur: Baupläne der Schöpfung Johannes Huber, Walter Thirring, Seifert Verlag, Wien 2020 19 Ebenda. 20 Ebenda.
64 Nach Gott Peter Sloterdijk, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017 Was geschah im 20. Jahrhundert Peter Sloterdijk, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016 Geistesgeschichte des antiken Christentums Carl Schneider, Beck’sche Verlagsbuchhandlung München 1954 Primum mobile, Bruno Binggeli, Amman, Zürich, 2006 „Man scheue die nihilistischen Herausforderungen nicht“ Thomas Thiel, F.A.Z. vom 14.12.2106, Nr. 292, S. 9
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Mit den Elefanten tanzen Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit als Maß einer Politik der sozialen Mitte Clemens Martin Auer
Wer damit beginnt, sich mit der geistigen und politischen Situation der Zeit auseinanderzusetzen, wird nicht umhinkommen, Ungleichzeitigkeit als das bestimmende Phänomen festzumachen. Ein katholischer Christ, wie Wolfgang J. Bandion, tut sich damit relativ leicht. Er wird im Verlauf seines eigenen Lebens und angesichts seines reifen Lebensjubiläums des Alters selber gut verstanden haben, dass christliche Religion, die diesen Namen verdient, in ihrem Verständnis von Welt und Zeit in einer geradezu ärgerlichen Weise immer ungleichzeitig ist.1 Die Auseinandersetzung mit dem geistigen, politischen, sozialen und kulturellen Zustandsbild einer „globalisierten“ Welt macht das allzu deutlich. Die Kennzeichnung der geistigen und politischen Situation der Zeit als Phänomen der Ungleichzeitigkeit wird – zumindest im Europäischen Kontext – weitgehend als Ausdruck breiter Unzufriedenheit, Verunsicherung und Verlust an Identität wahrgenommen. Die Ursache dafür liegt in den vielen Paradoxien einer Liste der verschiedensten Ungleichzeitigkeiten, wie zum Beispiel • im Politischen die von Moderne (Säkularisation, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit) und Vormoderne (Neo-Nationalismus, politischer wie religiöser Fundamentalismus); 1
Ich bin im Dezember 2019 anlässlich des Todes des Doyens der neuen Politischen Theologie, Johann Baptist Metz, wiederum auf dessen Hinweis auf das „Ärgernis“ der Ungleichzeitigkeit christlicher Religion gestoßen, den er schon 1982 anlässlich einer von Jürgen Habermas initiierten Jubiläumsschrift „Zur geistigen Situation der Zeit“ des Suhrkamp Verlags in einem spannenden Aufsatz festgehalten hat. Dort wiederum in Erinnerung an die von Karl Jaspers in einer historischen Zeitenwende erschienene Schrift „Die geistige Situation der Zeit“ (1931). Dieser, zugegebenermaßen sperrige Begriff der Ungleichzeitigkeit geht daher auf Karl Jaspers zurück, geprägt von den realen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen in der jeweils erlebten Zeit. Vgl. Metz, Johannes Baptist: Produktive Ungleichzeitigkeit, in: Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, 2. Band: Politik und Kultur. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1982, S. 529–538
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Clemens Martin Auer
• im Ökonomischen die von Kapitalismus, globaler Weltwirtschaft, historisch nie gekanntem Wohlstand sowie uferlosem Konsum und den verschiedensten Schattierungen der schreienden Armut, Ungleichheit in der Vermögensverteilung und Korruption, • im Gesellschaftlichen die von wissenschaftlichem, technischem Fortschritt sowie Digitalisierung und gleichzeitig fataler Zerstörung von natürlichen Lebensgrundlagen (Klima- und Umweltkrise); • in politischer und kultureller Freiheit, Anerkennung der Differenz (Emanzipation, Frauenrechte, Diskriminierungsverbote aufgrund von Geschlecht, Rasse und sexueller Orientierung) und anderseits im unverblümt auftretenden und offen zur Schau gestellten Rassismus, in der Fremdenfeindlichkeit, im dumpfen Antisemitismus und Chauvinismus. Zum Verständnis dessen, worin die politischen Herausforderungen bestehen, um die unsere Zeit beschreibende Ungleichzeitigkeit bewältigen zu können, soll von fünf Elefanten die Rede sein, die im Raum herumstehen, wenn es um die Gefährdung der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit oder der Nachhaltigkeit in der Entwicklung unserer Lebensgrundlagen geht. Das sind die Elefanten: • Kapitalismus (insbesondere der globale Finanzkapitalismus), • Konsum (wie, was und zu welchen Mengen und Preisen kaufen wir da die ganze Zeit), • Kompetitivität (sprich der globale wirtschaftliche Wettbewerb und seine Auswirkung auf den Welthandel und den Sozialstaat), • Kommunikation (sprich die Frage nach dem „Cui bono“ der Digitalisierung aller Wirtschafts-, Produktions-, Erkenntnis- und Lebensprozesse) sowie • der Elefant Kultur (sprich die Frage nach der Identität als Ausdruck des empfundenen Selbstwerts, oder, umgekehrt, als Ausdruck der Ablehnung und Verbitterung, Feindseligkeit). Diese fünf „K-Elefanten“ stehen gut sichtbar auf der Agora der demokratischen und geistigen Auseinandersetzung.2 Mit diesen großen Kreaturen wollen die traditionellen Kräfte der politischen Mitte den Tanz aber nicht so recht wagen, um so zur Auflösung der Paradoxien der Ungleichzeitigkeit beizutragen. Die Krise der politischen Mitte3 und der gleichzeitige Aufbruch eines (für den Autor in 2 3
Ich strapaziere hier Aristoteles’ Satz, nach dem die Demokratie so weit reicht, wie die Stimme des Herolds auf der Agora. Als politische Mitte sind hier die traditionellen Parteienfamilien aus Christ- und Sozialdemokraten sowie Liberale, Grüne oder moderat konservative Parteien verstanden, wie sie sich real auch in den Parteigruppen des Europaparlaments organisieren. Vgl. zum Begriff der Mitte auch Stürmer,
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jeder Hinsicht unappetitlichen) Populismus in den westlichen Demokratien lässt sich auf die bisher manifeste programmatische Schwäche der Mitte zurückführen, wie dieser Tanz mit den Elefanten, sprich die politische Auseinandersetzung, auf der Agora gewagt werden könnte. Die politische Mitte hat dafür kaum noch Regeln anzubieten und weiß nicht mehr, wer die Führung beim Tanzen übernehmen soll. Elefanten sind groß und können den Weg verstellen. Ein verstellter Weg der demokratischen Entwicklung kann aber zum Verlust der Freiheit, verstanden als selbständige Führung des Lebens, der Selbstherrschaft, führen. Diese Form des Freiheitsverständnisses hat sich seit der griechischen Antike bis hinein in die moderne Ideenwelt der Aufklärung und der jüngsten Menschenrechtskonventionen als das bestimmende Verständnis von Freiheit als „Unabhängigkeit von einer den anderen nötigenden Willkür“ durchgesetzt.4 Die Schwäche der politischen Mitte, mit diesen Elefanten zu tanzen, führt zur schleichenden Untergrabung der Legitimität der demokratischen Freiheitsordnung. Es stellt sich sogar die nicht unberechtigte Frage, ob diese Schwäche nicht auch damit zusammenhängt, dass die Elefanten selber die politische Mitte für sich instrumentalisieren. Damit wäre die Demokratie nur mehr eine Fassade mit mehr oder weniger freien Wahlen. Folgt man diesem Gedanken, haben die aus Wahlauseinandersetzungen erfolgreich hervorgehenden Eliten weniger das allgemeine Gemeinwohl als Ziel vor Augen. Sie positioniere sich vielmehr entsprechend einem Marketingkonzept, um auch die nächste Wahl wieder gewinnen zu können. In einer solchen „Postdemokratie“5 würden dann die tiefer liegenden politischen Herausforderungen im Sinne der vorherrschenden Wirtschaftsinteressen von denjenigen gelöst, die gerade über den besseren Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern verfügten. Denken wir zur Illustration des Arguments einen Augenblick an reale Herausforderungen, wie Verkehr, Lärm, CO2-Ausstoß, Treibhausgas: Hinter den verschlossenen Türen haben sich die Lobbys der Auto- oder Energieunternehmen bei den politischen Eliten der Mitte, gemessen am bisherigen Erreichen von Nachhaltigkeitszielen, sichtlich erfolgreicher durchsetzen können, als die Vertreter von Klimaschutz und nachhaltigem Lebensraum. Im Vergleich dazu würden auch die Vertreter der Arbeitnehmer, von Familien, Frauen, Kindern, der Bildung, Kultur, Gesundheit etc. ihre Anliegen auf der politischen Prioritätenliste weit hinten gereiht vorfinden. Wie auch immer: Weil aber die Fragen der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit so nicht gelöst werden, entsteht über den Umweg des
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Michael: Die Kunst des Gleichgewichts, Europa in einer Welt ohne Mitte. Berlin-München: Propyläen Verlag, 2001 Die traditionsbildenden Literaturstellen finden sich unter anderem in: Platon, Politik; Aristoteles, Metaphysik oder bei Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Die wohl pointierteste Auseinandersetzung mit diesem Thema findet sich bei Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 2008.
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Populismus die reale Gefahr, dass sich neue Formen der Tyrannis oder Usurpation herausbilden. Ein Kennzeichen der Ungleichzeitigkeit als geistige und politische Situation der Zeit ist die von den Populisten geübte brüske Zurückweisung des Gedankens, dass nur die jeweils größere Gemeinschaft von Weltbürgern, die über den engen Begriff der Nation hinausgeht, den Zustand des Friedens und des Humanums garantieren kann. Diese Welterklärung stand tief verwurzelt hinter der Gründungsabsicht und dem Wirken der Vereinten Nationen oder dem, was die heutige Europäische Union ausmacht. Die nachhaltige Sicherung des Humanums für die gesamte Weltgesellschaft, von Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen und den Völkern war eines der bestimmenden politischen Motive der Politikergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg.6 Selbst wenn der universale Anspruch der Gültigkeit des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte sich realpolitisch in der globalen Dimension nicht durchsetzen konnte, war zumindest in der westlichen Welt der intellektuelle Anspruch und politische sowie verfassungsmäßige Wille, in dieser Richtung zu wirken, ungebrochen. Diese Sicht wird durch ein neues Verständnis von Nationalismus selbst in westlichen Kernländern herausgefordert. „America first“ (Donald Trump) und „Brexit“ (Boris Johnson et al.) stehen als beispielgebender Paradigmenwechsel. Von ihnen wird in einer an Selbstblendung gemahnenden Form die nationale Errettung des eigenen Schrebergartens niedriger politischer Instinkte zelebriert. Dieser Neo-Nationalismus greift auch in bisher in ihrem ethnischen und religiösen Pluralismus friedlichen Ländern, wie zum Beispiel Indien, als Ausdruck eines anti-islamischen Reflexes um sich. Das Unappetitliche an diesen Formen des Neo-Nationalismus ist seine historisch völlig unkritische rhetorische und geistige Verwandtschaft zu den Proponenten der größten Katastrophe der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus. Die schrittweise Auflösung der politischen Mitte als bisher erfolgreiche Plattform des balancierten Interessensausgleichs sozioökonomischer Realitäten mit dem gelinderen Mittel der Kompromisssuche ist über die Vereinigten Staaten von Amerika und dem Vereinigten Königreich hinaus weit fortgeschritten. Als Testlabor des Niedergangs der modernen Nachkriegsparteien fungiert wie so oft in der Geschichte Italien mit dem weitgehenden Verschwinden der christ- und sozialdemokratischen Kräfte.7 In Frankreich ist die sozialdemo6
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Die „Gründungsväter“ der heutigen Europäischen Union hatten ihre politische Heimat allesamt in der neuen politischen Mitte nach dem Zweiten Weltkrieg; Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Jean Monnet oder Robert Schuman waren Vertreter aus der Gruppe der Christdemokraten. Als eine der ersten großen Nachkriegsparteien hat sich 1994 die Democrazia Cristiana aufgelöst. Das war die Partei des Alcide de Gasperi, legendärer Integrations- und Wiederaufbaupolitiker nach dem Drama des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges und einer der Gründungsväter der heutigen Europäischen Union.
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kratische Linke praktisch verschwunden.8 In den meisten ost- und zentraleuropäischen Ländern hat sich nach der politischen Wende von 1989 ein labiles Kräfteverhältnis von teilweise sich rasch verändernden politischen Bewegungen herausgebildet, deren programmatischer Kern, sofern nicht stramm national-konservativ, schwer auszumachen ist. In Österreich sind auf der gesamtstaatlichen Ebene ähnliche Veränderungen festzustellen: Die einstmals staatstragende „schwarze“ christdemokratische Volkspartei wurde von einer „türkisen“ Wahlbewegung (friedlich) übernommen, wahlpolitisch erfolgreich, aber ohne erkennbare programmatische Identität. Die Sozialdemokratie in Deutschland, Österreich oder dem UK ist lediglich der Schatten ihrer einstigen politischen Stärke. Eine der großen Leitideen der politischen Mitte der Nachkriegsgeneration ist Gerechtigkeit; eng verknüpft einerseits mit dem Verständnis der politischen Aufklärung von den Menschenrechten, wonach alle Menschen vor dem Recht als individuelle Person gleich sind und die trotzdem bestehenden Unterschiede sich nicht von Geburt oder Stand, sondern durch wirtschaftliche Umstände ergeben können. Und anderseits hat die Idee von der Gerechtigkeit zur einzig nachhaltigen Revolution des 20. Jahrhunderts geführt, zum Sozialrecht im „Europäischen Sozialstaat“ mit den rechtlich verbrieften Mechanismen für eine Teilhabe- und Chancengerechtigkeit. Dahinter steht, sehr verkürzt, ein seit rund 2.500 Jahren ungebrochener und viel gewendeter Anspruch der europäischen Zivilisation, der bereits bei Platon (Politeia) und Aristoteles (Rhetorik, Nikomachische Ethik) belegbar ist und das rechtliche und politische Verständnis der griechischen und römischen Antike prägte: „suum cuique“, jedem das Seine. Was heißt, dass im Recht und in der Würde alle Menschen gleich sind; ungleich sind sie lediglich in ihrer Differenz aus Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Interessen. Die Notwendigkeit, angesichts der raumfüllenden „K-Elefanten“ den Begriff von Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert neu zu denken und für den Gebrauch in der politischen Mitte neu zu bestimmen, kann zunächst an drei zugespitzten Provokationen deutlich werden: Zum Ersten ist es der radikale Schlüsselsatz von Papst Franziskus, der im Zentrum seiner Kritik an den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten dieser Zeit steht: „Diese Wirtschaft tötet.“9 Selbst wenn dieser Satz im Kontext einer in Mitteleuropa zumindest 8
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Emmanuel Macron hat mit seinem Wahlsieg 2017 bei den Präsidentschafts- und Nationalversammlungswahlen mit seiner Bewegung „En Marche“ die große staatstragende Parti Socialiste praktisch vernichtet. Die PS hat noch 30 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung, in der Legislaturperiode davor hatte die Partei der Präsidenten Mitterands und Hollande noch die absolute Mehrheit. Evangelii Gaudium (EG), Apostolisches Schreiben des Heiligen Vaters Papst Franziskus. Rom: Vatikanische Druckerei, 2013, Ziffer 53
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theoretisch zur „Sozialen Marktwirtschaft“ neigenden Wirtschaftsordnung zu apodiktisch sein mag, drückt er doch eine politische Grundstimmung aus: Die einzig geltenden Axiome für den Erfolg unseres globalen Wirtschaftens scheinen die Kriterien von der Konkurrenzfähigkeit, den Gesetzen des Stärkeren und Schnelleren, der schicksalshaften Flüchtigkeit des Finanz- und Kapitalmarktes und damit von der permanenten Unsicherheit, als Einzelner, als Unternehmen, als Gesellschaft oder Staat in der Globalisierung nicht mithalten und daher sozial und wirtschaftlich verlieren zu können, zu sein. Wer also im 21. Jahrhundert die Idee der Gerechtigkeit neu denken und in der politischen Mitte Erfolg auf der demokratischen Agora haben will, müsste, wie Papst Franziskus provoziert, gegen die „sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems“ antreten: Gegen den „Fetischismus des Geldes und der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel“. Sein Befund: Die Wirtschaftskrise, die wir durchmachen, „lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen.“10 Dazu stellt sich, zweitens, in der politischen Debatte ein tief emotionales Gefühl der Überforderung und Übervorteilung – also von Ungerechtigkeit – ein: Den Preis – also die vielen Billionen Euro und Dollar –, der für die letzten Wirtschafts- und Bankenkrisen bezahlt worden ist, beziehungsweise der für die Bewältigung der Öko-Krise noch zu bezahlen sein wird, würden, so das Verständnis wahrscheinlich der meisten Menschen, diejenigen bezahlen, die überhaupt noch rechtschaffen Steuern und Abgaben auf Arbeitsleistung zahlen. Die Dividenden und Bonuszahlungen in diesem Spiel würden dagegen diejenigen einstreifen, die diese Unübersichtlichkeit der Märkte überhaupt durchschauen und damit einseitig manipulieren. Auch wenn die Bilanz in diesen Fragen weniger dramatisch zu sein scheint, dieses Bild ist naturgemäß gefährlicher Nährboden für alle Arten von populistischen Verkürzungen. Wie schwierig und unübersichtlich die wirtschafswissenschaftliche Analyse zum Thema Steuer- und Einkommensverteilung auch sein mag: Es setzt sich die gefühlte Meinung in den Köpfen fest, dass sich das Wachsen von Einkommen als eine immer einigermaßen akzeptierte Aussage über die Teilhabe des Einzelnen am wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens oder der „Wirtschaft“ in seiner Gesamtheit nur mehr zulasten der Leistungsund zugunsten der Finanzkapitalträger verteilt. Dahinter steht das statistische Faktum, dass sich – in einer generellen und nicht individuellen Betrachtung – die durchschnittlichen Einkommen aus Arbeit in den westlichen Ländern stagnierend entwickeln, sich im unteren Bereich streckenweise sogar nach unten 10
Vgl. EG, 55
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bewegen, bei gleichzeitig rasantem Vermögenszuwachs aus Kapitaleinkommen.11 Damit erfährt der ungeschriebene gesellschaftliche „Sozialvertrag“ eine Infragestellung durch ein bisher nie näher hinterfragtes Axiom: In Europa galt nach 1945 das Bewusstsein, dass es den Kindern der nächsten Generation wirtschaftlich und sozial besser als der eigenen Generation gehen wird. In diesem Bewusstsein sind Momente der eigenen Unbill politisch hingenommen worden. Für die Generation, die nach 1980 geboren wurde, scheint diese Generationenperspektive auf ein besseres Leben nicht mehr zu stimmen. Sie kommt zu spät zur wirtschafts- und wohlstandspolitischen Party auf die Agora der Demokratie. Angesichts dieser ungleichen Teilhabe an der Einkommensverteilung, der Infragestellung dieses „Sozialvertrags“ und der raschen Dynamisierung der „Öko-Krise“, wahrgenommen als Zerstörung der Natur als Lebensumfeld, bildet sich aber sehr rasant eine Grundlage für wachsende politische Destabilisierung. Die Frustration über die Ausweglosigkeit der gesellschaftlichen Überforderung und Übervorteilung kennt, drittens, aber auch eine Paradoxie in die andere Richtung: In der Welt des europäischen Sozialstaates macht sich ein Anspruchsdenken breit. Im System der Solidarität des sozialen Ausgleichs und der Teilhabe, auf das sich die Sozialgesetzgeber im Sinne der sozialen Stabilität in der Gesellschaft verständigt haben, nimmt sich die Gruppe von Frührentnern oder Empfängern von Transfereinkommen Ansprüche heraus, die im Kern gegen das Prinzip der Solidarität verstoßen. Diese Gruppe nimmt das Sozialgesetzbuch nicht in Anspruch im Sinne der Solidarität zur Abfederung individueller Lebenslagen (etwa Krankheit, Alleinerziehung, Arbeitslosigkeit, Lebensumbrüche, Opfersituationen etc.), sondern aus einem Kalkül für den persönlichen Vorteil, nicht mehr oder doch nicht arbeiten zu müssen. Die Kosten für diese Nichtteilhabe am Erwerbsleben beschränken als Folge jene finanziellen Mittel, die für die anderen Voraussetzungen der solidarischen Teilhabegerechtigkeit notwendig sind, wie zum Beispiel die staatlichen Aufgaben in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Kultur. Bevor an dieser Stelle Missverständnisse entstehen: Hier geht es nicht um die von Populisten gefütterte Debatte um „Sozialschmarotzer“. Es geht um die in den europäischen Sozialstaaten in seiner Dramatik zwar unterschiedliche, aber trotzdem bestehende Abweichung zwischen dem faktischen und dem gesetzlichen Pensionsantrittsalter. Pars pro toto möge auf die sozialen Unruhen im Winter 2019/2020 in Frankreich hingewiesen werden, bei denen es genau um solche Fragen der zwingend notwendigen Anpassung der Pensionssysteme ging. Gemeint ist hier also nicht die Infragestellung des Solidarsystems an sich, sondern die seiner Abgrenzung gegenüber einem Anspruchsverhalten, wofür seine Instrumente eigentlich nicht entwickelt wurden. 11
Dazu gibt es unzählige Studien und Untersuchungen, beginnend bei der OECD. Zuletzt vgl. zum Beispiel, Sustala, Lukas: Zu spät zur Party. Salzburg: Ecowin, 2020
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Wie differenziert die Fakten im Einzelnen auch sein mögen: Generell verschiebt sich im modernen Sozialstaat die Generationengerechtigkeit rasant zulasten der Jungen und Leistungsbereiten. Auch hier macht sich das Phänomen einer anthropologischen Erkenntniskrise breit: die Gleichgültigkeit gegenüber der individuellen Verantwortung für das Gelingen des persönlichen Lebensglücks im Sinne eines sozial, wirtschaftlich, kulturell und persönlich geglückten Lebens. Denn Solidarität kann subsidiär immer nur der Ausgleich für die individuellen Schwächen durch Krankheit, Alter, Behinderung, Fürsorgepflichten in den Familien oder Erwerbslosigkeit etc. bei der Erreichung dieses individuellen Lebensglücks sein. Das von der Gesellschaft ausgestattete Netz an sozialer Sicherheit wird durch die Verweigerung zur Übernahme der eigenen Verantwortung aufgrund individualisierter Bequemlichkeit zerrissen, und zwar immer dann, wenn sich eine Haltung des Anspruchs auf Ersatz- und Transfereinkommen, wie am Beispiel der Frühverrentung oder absichtsvollen Nichtbereitschaft zur Teilhabe am Erwerbsleben ersichtlich, breitmacht. Eine weitere Frage provoziert: Wird die moderne Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft? Hat sich im Sinne der Gerechtigkeitsfrage das Verständnis von (sozialer) „Marktwirtschaft“ mit ihren Regeln für die Herstellung, Entlohnung und dem Handel von und mit Gütern und Dienstleistungen zum Nutzen und im Interesse der Menschen in den letzten fünfzig Jahren zu einer „Marktgesellschaft“ gewandelt?12 Gibt es die Marktwirtschaft im Sinne einer „pursuit of happiness“ (des Wohlergehens, des Lebensglücks, des Gemeinwohls der Menschen) nicht mehr? Ist es die „Vorherrschaft des Geldes“, wie Papst Franziskus meint, die bisher scheinbar gültige Kriterien von Gerechtigkeit und Gemeinwohl zerstört? Steht nicht mehr soziale oder individuelle Gerechtigkeit im Vordergrund, sondern nur mehr der Finanzgewinn? Ist alles und jedes – eben nicht allein die Güter und Dienstleistungen – nur mehr durch Geld bewertbar? Wird aus Mangel an grundlegender anthropologischer Orientierung der Mensch auf nur eines seiner Bedürfnisse, auf den Konsum, reduziert?13 Papst Franziskus sieht hinter dieser Entwicklung (politische und wirtschaftstheoretische) Vertreter einer Ideologie, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. Darum würden diese Ideologen auch das Kontrollrecht der Staaten bestreiten, die beauftragt seien, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen. „Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt.“14 Sind das aber allein nur Ideologien, sondern nicht auch die gängigen Paradigmen in der Wirtschafts-, Handels- und Finanzwissenschaft, die diese anthropologische Orientierung verloren zu haben scheinen? 12 13 14
Vgl. Sandel, Michael: What Money can buy, The Moral Limits of Markets. London: Penguin Books Ltd., 2012 EG, 55 EG, 56
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Diese kursorisch bleibende Bilanz an provokanten Sichtweisen zur geistigen und politischen Situation unserer Zeit zeigt, dass für die politische Analyse und die Entwicklung eines in der realen Politik tauglichen Verständnisses von Gerechtigkeit die große Polemik des Papstes zwar eine gedankenanregende Provokation, aber wenig brauchbar ist. Daher ist zunächst eine Gerechtigkeitsbilanz notwendig. Und die beginnt zweifelsfrei mit einem Paradoxon, nämlich mit dem Erfolg der politischen Mitte, wenn es um die Tradition der Menschenrechte und des modernen Sozialstaates geht. Die frühen Ansprüche auf Gerechtigkeit des späten 18. und des 19. Jahrhunderts haben sich in den Verfassungs- und Grundrechtsordnungen der modernen westlichen Rechtsstaaten durchgesetzt. Die geburts- und standesgemäße Differenz und die damit einhergehende Ungleichheit und Ungerechtigkeit bei den Lebensentwürfen in der Feudal- und Ständegesellschaft des „Ancien Régime“ ist durch den Anspruch der Gleichheit und Freiheit ersetzt worden. Wie sehr wir Heutigen vielleicht die barocke Prachtentfaltung bewundern, der Pathos der ersten europäischen Menschenrechtserklärung von 1789 macht die Stoßrichtung der Moderne für die Entwicklung des Rechtsstaates deutlich: Im Artikel 1 dieser französischen „Ur-Menschenrechtserklärung“ heißt es: „Die Menschen (Männer) werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.“ Das jüngste Rechtsdokument dazu ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (als Teil des Vertrags von Lissabon vom 1. Dezember 2009 und damit Teil der Verfassungen aller EU-Staaten), die den Entwicklungsgang seit 1789 sehr schön widerspiegelt: Dort gibt es neben dem Artikel von der allgemeinen Gleichheit vor dem Recht ein explizites Diskriminierungsverbot im Artikel 21: „Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.“ Dazwischen liegt, trotz politischer Rückschläge durch Usurpation und Terrorregimen, die bekanntermaßen schon während der Französischen Revolution begonnen haben, die beinahe „ihr Kinder aufgefressen hätte“, eine enorm erfolgreiche Geschichte der politischen Emanzipation. Sie ist die Bewegung, um „Anerkennung der Differenz“,15 angefangen bei der Anerkennung der Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, den Rechten und der politischen Gleichberechtigung der Frauen über die der Rassen und Ethnien zum allgemeinen und freien Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger bis hin zum Diskriminierungsverbot und damit der Anerkennung der Differenz in der Gesellschaft auch auf15
Diese Metapher von der „Anerkennung der Differenz“ als eine der zentralen Kulturleistungen der Moderne geht auf Charles Taylor zurück.
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grund von Alter oder sexueller Orientierung, durchzusetzen. Diese Idee der emanzipatorischen Gerechtigkeit hat als das Thema unserer Tage jetzt in beinahe allen westlichen Rechtsstaaten zu einer vollständigen Anerkennung der Ehe, unabhängig von der sexuellen Orientierung der Partner geführt. Diese Menschen- und Grundrechtstradition ist und bleibt ein zwingendes Muss und unverzichtbare Orientierung in allen politischen Grundentscheidungen der politischen Mitte. Sie ist entschieden zu verteidigen gegen religiösen oder politischen Fundamentalismus, die Scharia oder andere obskure Rechtstraditionen, die den einzelnen Menschen in eine nicht vollkommene Rechtsposition der Gleichheit, Freiheit und Sicherheit setzen. Sie ist aber auch zu verteidigen gegen gelangweilte politische Anspruchslosigkeit und populistisches Desinteresse: Die modernen Freiheits- und Gleichheitsrechte sind kein Zugeständnis der Toleranz, nicht verhandelbar, sondern absolut in ihrem Rechtsanspruch. Daher kann auch umgekehrt im Rechtsstaat jedwede Form der Diskriminierung (z. B. von Frauen, Minderheiten, Homosexuellen), die Scharia oder andere obskure Rechtstraditionen, nicht toleriert werden. Es muss ein politischer Imperativ der politischen Mitte sein, dass die zwingende Rechtsgültigkeit der Grundrechte nicht verhandelbar ist. Der Rechtsstaat hat Gerechtigkeit überhaupt erst für alle Menschen, die eben vor dem Recht und in ihrer persönlichen Integrität gleich sind, durchsetzbar gemacht. Die Scharia kennt dieses Grundprinzip schlichtweg gegenüber dem Andersgläubigen nicht. Die zweite große Leistung der politischen Mitte zur Durchsetzung von Gerechtigkeit sind die in den letzten hundert Jahren in den Parlamenten beschlossenen Sozialgesetzbücher der Sozialstaaten. Das muss auch Papst Franziskus in seiner Kritik an den sozialen und ökonomischen Bedingungen entgegengehalten werden: Der Sozialstaat in der europäischen und westlichen Tradition hat soziale Gerechtigkeit in Form von sozialer Vorsorge und Sicherung nicht allein als appellative „Caritas“ oder „Barmherzigkeit“, sondern als kodifiziertes Recht festgeschrieben. Es geht hier grundsätzlich um soziale Rechte, um Anspruchsrechte in den großen Themenfeldern Gesundheit, Alter, Familie, Bildung und Arbeitslosigkeit. Das Sozialgesetzbuch schafft den zentralen Hebel zur Durchsetzung der Ausgangs- und Teilhabegerechtigkeit an der wirtschaftlichen Gesamtleistung einer Gesellschaft und im Kampf gegen die Armut. Thomas Piketty hat in „Capital in the Twenty-First Century“ diese Entwicklung sehr nachvollziehbar dargestellt:16 Anhand einer historischen Zeitreihe der Staatsausgaben (die Summe aller Steuern und Abgaben, gemessen im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt [BIP]) kann die (aktive) Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft gemessen werden. Betrug die Staatsquote in vergleichbaren Staaten des Westens zwischen 1870 und 1910 16
Piketty, Thomas: Capital in the Twenty-First Century, London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2014, 471ff.
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unter 10 Prozent des BIP, ist diese laufend gestiegen und spätestens ab Mitte der fünfziger Jahre auf Werte zwischen 35 und 55 Prozent gewachsen; wobei die traditionellen Sozialstaaten Kontinentaleuropas in den letzten rund 40 Jahren bei Werten stabil um plus/minus 50 Prozent liegen, die USA eher bei 30 und das UK bei etwa 40 Prozent. Pikettys These lautet, dass diese Staaten ihre „reichsunmittelbaren“ Aufgaben bis zum Ende des Ersten Weltkriegs auf die klassischen Staatsausgaben beschränkt hätten, wie Armee, Polizei, Gerichte, Außenpolitik, generelle Staatsadministration, ein wenig Investition in Schulen und Infrastruktur. Die seither erfolgte Steigerung von zehn auf und die nunmehrige 50%ige Staatsquote entfalle zum großen Teil auf die zunehmenden Aufwendungen des jeweiligen Staates für Gesundheit, (im steigenden Ausmaß) für Pensionen, für Bildung (Schulen und Universitäten), gegen Arbeitslosigkeit und die anderen Formen von Transferzahlungen (Familien, Kinder, Sozialhilfen etc.). Die Höhe der Staatsquote ist damit eine politische Aussage über die Wirkung der demokratisch gewollten und damit legitimierten Umverteilung von Vermögens- und Einkommenswerten einer Volkswirtschaft zugunsten der sozialen Teilhabe und damit zur Herstellung der sozialen Gerechtigkeit. Die politische Mitte kann somit für sich beanspruchen, dass sie eine historisch noch nie zuvor da gewesene gesellschaftliche Qualität an Freiheit und Gerechtigkeit hervorgebracht hat, weil beispielsweise niemand in einem kontinentaleuropäischen Sozialstaat aufgrund einer schweren Krankheit und der damit verbundenen hohen Kosten um die soziale und ökonomische Existenz bangen muss. Das ist ein Ausdruck von höchster gesellschaftlich und politisch bewirkter Integration. Hier greifen wichtige und korrigierende Mechanismen der geltenden Sozialgesetzbücher. Marktwirtschaft und Sozialgesetzbuch, also soziale Marktwirtschaft, sind die Grundlagen eines modernen Verständnisses von sozialer Gerechtigkeit. Hier setzt sich der humane Grundsatz der politischen Mitte durch, dass derjenige, der nicht oder nicht mehr an den Leistungen einer Gesellschaft teilhaben kann, einen rechtlichen und nicht allein nur einen moralischen Anspruch hat. Vor dem Hintergrund dieser an sich positiven Gerechtigkeitsbilanz beginnen aber erst die heutigen Herausforderungen im Umgang mit den „K-Elefanten“. Wenn es so ist, dass diese hier beschriebene Form der kodifizierten Solidarität demokratisch gewollt ist, die derzeitige Höhe der Staatsquote also eine Aussage über dieses Wollen für soziale Gerechtigkeit ist, dann können die nunmehr hinzutretenden neuen Staatsaufgaben, nämlich die Stabilisierung der Finanz- und Kapitalmärkte sowie die Bewältigung der globalen ökologischen Krise, nicht in diese Bandbreite der Staatsquote hineingepresst werden. Oder anders gewendet: Wenn diese, Solidarität ermöglichende Höhe der Staatsquote in erster Linie über Steuern und Abgaben auf Einkommen aus Arbeit, Erwerb und Konsum finanziert wird, kann der in der Finanz- und Öko-Krise auftretende Bedarf an Staatsmitteln nicht
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auch aus diesen staatlichen Einnahmen gedeckt werden, ohne dabei die Stabilität der sozialen Gerechtigkeit zu untergraben. Wenn das so wäre, müsste tatsächlich davon gesprochen werden, dass die große multinationale Geld- und Industriewirtschaft die Welt der politischen Mitte in der Postdemokratie beherrsche, ja sogar in der Lage sei, damit den historischen einmaligen Zustand an sozialer Gerechtigkeit nachhaltig zerstören zu können.17 Die sogenannte „Austerity“-Politik, die unter anderem von der World Bank oder dem Internationalen Währungsfonds nach 2008/2009 vielen (europäischen) Krisenstaaten zur Stabilisierung der eigenen Haushalte, aber auch des nationalen Finanzmarkts aufgezwungen wurde, hat bereits zu einem weit verbreiteten Kahlschlag in der Sozialpolitik geführt. Im Sinne des Elefanten „Kapitalismus“, entsteht ein grundsätzliches politisches Gerechtigkeits- und Legitimationsdefizit, wenn Steuern und Abgaben auf Arbeit, Erwerb und Konsum für die Stabilität der Finanz- und Kapitalmärkte herangezogen werden. Der überwiegende Teil der Steuerzahler lukriert, bezogen auf das Lebenseinkommen, höchstens einen kleinen Teil seines Gesamteinkommens aus Zinseinkünften. Dieses Sparvermögen stammt in erster Linie von bereits versteuerten Einkommen und dient zur Vorsorge für besondere Anlässe (Alter, Investitionen in Wohnraum, Boden oder Geschäft sowie vielleicht für aufwendigere Kultur- und Freizeitaktivitäten). Insofern hat sich ein großer Teil des Finanz- und Kapitalmarkts genau von dieser Mehrheitswelt der Einkommen aus Produktion von Gütern und Dienstleistungen – wohlgemerkt ohne staatliche Intervention – abgekoppelt. Die Finanzkrise ist nicht durch das Marktverhalten der Sparer, sondern durch die hoch spekulativen finanzmarktinternen Kunstprodukte entstanden. Daher muss der Staat seine Mittel, die er notwendigerweise zur Stabilisierung des gesamten sozialen und ökonomischen Gefüges für den Finanz- und Kapitalmarkt aufbringen muss, aus anderen besteuerbaren Quellen beziehen. Es ist ein gerechtigkeitspolitischer Imperativ für die politische Mitte, diese Steuermittel aus den Einkünften von spekulativen Finanzprodukten bzw. den Einkünften der Finanzund Kapitalwirtschaft jenseits eines politisch verhandelbaren Freibetrags für das angesparte Finanzvermögen eines Durchschnittsbürgers zu beziehen. Aus dem Blickpunkt der Gerechtigkeit braucht es diese Besteuerung von Finanzvermögen jenseits gängiger Ansparprodukte und der Finanzeinrichtungen. Vor und nach der großen Finanzkrise passieren über zwei Drittel des Volumens aller Finanztransaktionen völlig entkoppelt von der Realwirtschaft. Und genau dort entsteht die Gefahr, die Bedrohung, die von diesem Finanzmarkt auf die das Leben der Menschen bestimmenden Rahmenbedingungen der Realwirtschaft ausgehen. Und genau dort hat intelligente Steuerung des Staates anzusetzen, was die politische Mitte bisher weitgehend verabsäumt hat. 17
Vgl. dazu auch Crouch, Colin: Postdemokratie
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Um im Bild von Thomas Piketty zu bleiben: Wenn es im historischen Langzeitvergleich durch die Stabilisierung der Finanzkrise zu einer (vielleicht lediglich vorübergehenden) Erhöhung der Staatsquote kommt, kann dieser Sprung nicht aus den bisherigen Steuern und Abgaben aus Arbeit, Erwerb und Konsum finanziert werden, weil dieser Steueranteil für die Finanzierung der dem Erwerbsleben zugeordnete Gerechtigkeitstangente in den Bereichen Gesundheit, Alter, Bildung, Arbeitslosigkeit notwendig ist. Eine Kürzung dieser Mittel zugunsten der Finanzmarktstabilisierung führt unweigerlich zur Destabilisierung des Sozialstaats und damit zu einem Defizit an sozialer Gerechtigkeit. Hinzutretende Staatsaufgaben, die eine höhere Staatsquote zur Folge haben, müssen daher konsequenterweise (vorübergehend) aus denjenigen Sektoren der Wirtschaft lukriert werden, die den Aufwand zur Stabilisierung verursacht haben. Eine weitere Herausforderung im Umgang mit dem Elefanten Kapitalismus ist der gerechtigkeitspolitische Imperativ für die politische Mitte, die demokratische „Re-Regulierung“ des Finanzmarktes und seiner Institutionen vorzunehmen. Die Produkte der Banken und anderer Finanzeinrichtungen können sich nicht länger weitgehend der staatlichen Kontrolle entziehen. Hier müssen die Regierungen, Parlamente und auch die Gerichte neue Formen der Steuerungsintelligenz einsetzen. Tun sie das nicht, und zwar deutlich mehr als bisher, verlieren sie gegenüber der Gesellschaft politisches Vertrauen in die Fähigkeit, die Menschen vor undurchsichtigen und unübersichtlichen Machenschaften und den falschen Versprechungen des Finanzmarkts zu schützen. Die ersten zögerlichen Schritte einer Re-Regulierung der Finanz- und Kapitalmärkte nach 2010 ist von einem gesamtgesellschaftlichen Kontext aus betrachtet jedenfalls nicht ausreichend. Sie haben mehr oder weniger lediglich zu einer enormen Bürokratisierung im Bereich traditioneller Veranlagungen oder Bankgeschäfte geführt. Gerichtsurteile über Pönalzahlungen von großen Finanzeinrichtungen sind zwar ein erster Schritt, lenken aber trotzdem von den enormen Schadenssummen für die Allgemeinheit ab. Ohne eine neue und kluge Regulierung des Finanzsektors verspielt die Demokratie ihre Fähigkeit, die richtige Kontrolle und somit auch Gerechtigkeit durchzusetzen. Es waren die Parlamente der westlichen Staaten, die in Zeiten der großen „Neo-Konservativen“, wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan, versuchten – damals begründet mit dem Eindruck von der Überregulierung der Finanzwirtschaft –, die (heilsamen) Kräfte des freien Marktes zur Wirkung kommen zu lassen. Später haben „die dritten Wege der Linken“ (wie Tony Blair oder Gerhard Schröder) oder anderer Pragmatiker, wie Bill Clinton oder Angela Merkel, die sich anbahnenden Gefahren am Finanzmarkt mit seinen bisher unvorstellbar künstlich-spekulativen Produkten politisch ignoriert. Eine der Ursachen für die Erosion der politischen Mitte und das Erstarken eines nationalistischen Populismus liegt genau in dieser Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Wirkungen des Finanz- und Kapitalmarkts.
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Ähnliche Überlegungen sind bereits beim wirtschaftswissenschaftlichen Urvater des Kapitalismus, bei Adam Smith (1723–1790) in „Wealth Of Nations“ nachzulesen. Paul Krugman hat 2010 am Höhepunkt der Bankenkrise in der New York Times auf diese spannende Argumentation von Adam Smith hingewiesen.18 Hier ist nicht der Ort, um die Komplexität der wissenschaftlichen Rezeption von Smith’ Denken über Geld und Banken nachzuvollziehen. Hier geht es um den gesellschaftspolitischen Kontext, für den dieser Urtheoretiker des freien Marktes mit seinen mehr als deutlichen Hinweisen interessant ist: Smith meint, dass die staatliche Regulierung von Banken genauso zwingend notwendig sei, wie in den Städten die feuerpolizeilichen Bestimmungen für die Gebäudesicherheit.19 Der damalige Kontext war für ihn die geübte Praxis von Banken, mit der Ausgabe von kleinen Denominationen betrügerische Aktivitäten zu setzen. Er verlangte das Verbot von Hochrisikogeschäften oder Hochzinskrediten von Banken, auch wenn das für ihn grundsätzlich ein „manifester Verstoß gegen die natürliche Freiheit ist, die immer die bessere Geschäftsgrundlage für Rechtsbestimmungen ist“. Aber „gegenüber der Sicherheit einer Gesellschaft im Ganzen“ müsse die natürliche Freiheit einiger weniger („sowohl die der am freiesten als auch die der am despotischsten Leute“) durch die Gesetze des Staates eingeschränkt werden, weil sie in der Lage seien, die Sicherheit der Gesellschaft zu gefährden. Smith begründet diesen für ihn ungewöhnlichen Gedanken damit, dass die Regulierung der Banken notwendig sei, damit diese erst „umsichtig“ handeln und die anderen nicht übervorteilen. Smith war von einer tiefen Skepsis geprägt, ob Banker ohne diese gleichsam feuerpolizeilichen Schutzbestimmungen ethisch überhaupt einwandfrei arbeiten und deswegen großen Schaden in der Gesellschaft anrichten könnten. Die Elefanten Konsum, Kompetitivität und Kommunikation stehen eng nebeneinander im Raum und machen das aus, was anderwärtig auch als Globalisierung umschrieben werden kann. In diesem Kontext hier interessiert lediglich, wie in einer Politik der Mitte Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit als Leitmotive politischen Handels gewahrt bleiben. Alle drei Elefanten haben das Potenzial, bei ungezügeltem Marktverhalten Ausdruck dessen zu sein, was Papst Franziskus allenthalben beklagt: Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel. Dann wären sie Ausdruck einer tiefen anthropologischen Krise, die Leugnung des Vorrangs des Menschen. Konsum, Wettbewerb und digitale Kommunikation sind per se treibende und bestimmende Elemente des ökonomischen Handelns. Sie können nur nicht, und das wäre der Kontext eines erfolgreichen Diskurses in der politischen Mitte, losgelöst werden vom Gemeinwohl, also den Bedürfnissen der Menschen nach Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Was ist, beispielhaft, gemeint? Wenn der Preisdruck des Konsums dazu führt, immer nur 18 19
Krugman, Paul: Financial Reform Endgame. New York Times, February 28, 2010 Smith, Adam: Wealth of Nation, Vo. II. London: W. Strahan (1776), p 324 ff.
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die billigste Ware (Dienstleistung) als absatzfähige Ware (Dienstleistung) zu betrachten, und dementsprechend die Produktionsbedingungen sich ausschließlich danach orientieren, wo die Produktion am billigsten ist, dann bleiben alle Kosten für ein faires Solidarsystem oder nachhaltige Umweltbedingungen außer Acht. Diesem Preis- und Kosten-Kreislauf nach unten kann nur durch einen austarierten Rahmen von Normen, Standards und Regulatorien entgegengewirkt werden, der aber wiederum engagiertes und proaktives politisches Handeln verlangt. Politik der Mitte heißt dann nicht, den Interessen von Industrie, Herstellern und Händlern nachzugeben, sondern eine Balance herzustellen mit den Interessen derjenigen, die an der Wertschöpfungskette entweder nicht teilnehmen oder von ihr negativ betroffen sind. Die Erosion der politischen Mitte hat eine ihrer zentralen Ursachen im Wegschauen, sodass die Elefanten Kapitalismus, Konsum, Kompetitivität und im zunehmenden Maße der Elefant digitale Kommunikation zu einer, historisch gesehen, nie gekannten Verzerrung in der Verteilung von Vermögen und Einkommen geführt haben. Ein Beispiel zur Illustration: Jack Welch, der legendäre Geschäftsführer von General Electric (G.E.), einem der weltgrößten Unternehmen, ist Anfang März 2020 verstorben.20 In seiner Zeit als CEO hat der Kapitalwert von G.E. zwischen 1981 von 13 Milliarden auf 500 Milliarden Dollar im Jahr 2001 zugenommen. Dafür wurde er von der Finanzwelt und zahllosen Ökonomen als der große Held, „Manager des Jahrhunderts“ (Fortune Magazine) gefeiert. Seine Maxime: Jedes Jahr 10 Prozent weniger Beschäftigte in den USA und Aufbau von Produktionskapazitäten in Niedriglohnländern zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit von G.E. Diese Form des Hyper-Kapitalismus führte in New York State zur Vernichtung von Industriearbeitsplätzen, damit zu stagnierenden oder rückläufigen Einkommen mit unsicheren Arbeitsplätzen in den meisten anderen Sektoren, zur Erosion des Gemeinwohls in ganzen Landstrichen sowie einer politischen Entfremdung der arbeitenden Bevölkerung gegenüber dem politischen Establishment, das diesen Verzerrungen des Marktgeschehens kein oder unzureichendes politisches Handeln entgegensetzte. Gewonnen haben dabei nur die Kapitaleigentümer, völlig entkoppelt von der realen Produktivität des Unternehmens. Der Treppenwitz der Geschichte: G.E. ist letztlich durch die Geschäftsstrategie von Welch, den großen Gewinn am Kapitalmarkt zu erzielen, nach der Finanzkrise von 2008 nur mehr ein Schatten seiner einstigen Kapitalisierung. Diese Elefanten „Konsum, Kompetitivität und digitale Kommunikation“ stehen eng zusammen auf der Agora, wenn es um das Thema „Internethandel“ geht: Der Drang zur billigen Ware am globalen Markt, „online“ bestellt, zeigt naturgemäß Auswirkungen auf den traditionellen Einzelhandel und dessen Beschäftigte. Letztere, ohnehin Teil des Nied20
Vgl. Lohr, Steve: Jack Welch, G. E. Chief Who Became a Business Superstar, Dies at 84. New York Times, March 2, 2020
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riglohnsektors mit geringer Ausbildung, werden zu einem nicht geringen Teil durch die Beschäftigten in der Logistikindustrie ersetzt, dort noch schlechter bezahlt und ausgebildet. Die Auswirkungen sind in den Einkaufsstraßen der großen Städte nicht mehr zu übersehen. Und auch in dieser komplexen Verflechtung der ökonomischen Themenstellung hat die politische Mitte, wenn es um die existenziellen Interessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ganzer Wirtschaftssektoren geht, bisher keine überzeugenden Antworten gefunden. Nicht zuletzt die traditionelle linke Mitte, die Sozialdemokratie, schaut verblüfft zu, wie sich das Elektorat den nationalistischen Populisten zuwendet. Diese haben zwar keine Lösung anzubieten, benennen in großer Rhetorik aber die sozialen Schieflagen. Die bisher gängigen politischen Instrumente, die etwa in dieser Konstellation „Konsum, Kompetitivität, Kommunikation“ intelligent steuern könnten, wie etwa (Frei-)Handelsabkommen, sind in den letzten Jahrzehnten aber das Projekt jener gesellschaftlichen Eliten gewesen, die aus ihnen auch einen ökonomischen Vorteil gezogen haben. Die Erosion der politischen Mitte hat auch damit zu tun, dass in diese Instrumente keine ausreichenden Schutzmechanismen eingebaut wurden, die soziale Stabilität, soziale Gerechtigkeit oder nachhaltigen Schutz der Natur ermöglicht hätten. Hier ist nicht der Raum, aber es lohnt sich, den politischen Widerstand gegen solche Freihandelsabkommen genau zu betrachten: Zum Beispiel wurde das North American Free Trade Agreement (NAFTA) von Donald Trump aufgehoben und ersetzt; das weitgehend geheim fertige verhandelte Abkommen zur Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) ist am politischen Widerstand gescheitert, weil es demokratisch bestimmte Rechte und Partizipationsmöglichkeiten zugunsten von (global agierenden) Unternehmen und von den der parlamentarischen Kontrolle entzogenen Schiedsgerichten ausgehebelt hätte. Die rhetorische Floskel, dass es allen Menschen mit einem freien Welthandel immer nur besser gehen würde, hat sich mittlerweile als eine große Enttäuschung entpuppt, mit der die Eliten der politischen Mitte heute konfrontiert werden. Stagnierende Einkommen und das Abkoppeln eines guten Drittels der Erwerbsbevölkerung von Einkommenszuwächsen, sind in den westlichen Industrieländern der deutlichste Beleg dafür. Es ist ein Treppenwitz, dass der erfolgreichste Populist der Gegenwart, Donald Trump, genau in diesem Punkt Fairness und Reziprozität einfordert, wenn es um Handelsabkommen geht. Etwas, das die politische Mitte versäumt hat. Verschiedenste Studien über politische Konsequenz aus diesen weltwirtschaftlichen Entwicklungen, bei denen die „K-Elefanten“ bei allen Wendungen und Drehungen immer im Raum stehen, stimmen in diesen Punkten mehr oder weniger immer überein. Hinsichtlich des Vertrauens in die Demokratie und die Funktion des politischen Systems zeigen in den westlichen Demokratien die verschiedenen Einkommensgruppen große
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Unterschiede. Lediglich das reichste Drittel wird die Demokratie als die beste Staatsform betrachten. Letztlich deswegen, weil es am Erfolg der Globalisierung teilhat. Nur 40 Prozent der anderen zwei Drittel werden finden, dass das politische System der Demokratie gut funktionieren würde. Die Antwort auf die Frage, warum gerade der einkommensschwächere Anteil am Elektorat dem elitenskeptischen Neo-Nationalismus der Populisten zustimmt, wird sich damit selbst erklären. Für die meisten europäischen Länder gilt, dass ein gutes Drittel des aktiven Elektorats wegen der großen Enttäuschungen die Veränderung der eigenen politischen, ökonomischen oder sozialen Unbill im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr in Form partizipativer Teilhabe in Gewerkschaften oder (linken) Parteien selber in die Hand nimmt. Stattdessen erfolgt eine Delegation der Vertretung der politischen Interessen an Populisten, die mit einfachen Rezepten des Neo-Nationalismus versprechen, einen Zustand vor der Globalisierung des Kapitalismus, des Konsums, der Kompetitivität, der digitalen Kommunikation wiederherzustellen. Was die Populisten gemeinsam haben, ist, das Zurück in die politische Vor-Moderne durchsetzen zu wollen, unter Aufgabe dessen, was als positive Leistungsbilanz des modernen Rechts- und Sozialstaates betrachtet werden könnte. Das mag als Paradoxon erscheinen, ist aber eine der großen Ungleichzeitigkeiten der geistigen und politischen Situation unserer Zeit. Für die politische Mitte ist der „Kultur-Elefant“ im 21. Jahrhundert eine der schwierigsten Herausforderungen. Die Homogenität reiner Nationalstaaten, die kulturelle Identität auf die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, einem „Volk“ reduziert, ist längst geplatzt. Religion, insbesondere das Christentum, fungiert in den demokratischen Staatsordnungen kaum noch als identitätsstiftender Kitt. Die meisten modernen westlichen Gesellschaften Europas sind in ihrer Pluralität säkular und „post-national“; sie sind Zuwanderungsgesellschaften geworden, in denen ethnische und kulturelle Vielfalt besteht. Das wiederum führt zu einer Ungleichzeitigkeit zwischen einer säkularen und einer islamischen Welterklärung. Dieser moderne Pluralismus mit all seinen Schattierungen hat aus der politischen Mitte heraus bisher keine überzeugende identitätsstiftende Antwort erfahren.21 In den westlichen Gesellschaften haben sich einerseits unterschiedlichste kulturelle Identitäten aus einer realen und gefühlten „Viktimisierung“ heraus entwickelt. Diese im Anglo-Sprachgebrauch genannte „politics of identity“ versucht jede Form der Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung, sozialer oder ethnischer Minderheit, Zugehörigkeit zu subkulturellen Ausdrucksformen und so weiter bis ins letzte Detail regulatorisch zu verhindern. Einige dieser Aspekte finden sich als obskure 21
Zu diesem Thema gibt es mittlerweile eine große Zahl von Analysen, zuletzt vgl. vor allem Fukuyama, Francis: Identity, The Demand for Dignity and the Politics of Resentment. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2018.
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Übertreibungen, die gerade an US-amerikanischen Universitäten unter den Stichworten „political correctness“ oder „victimization“ zu beobachten sind. Damit wird häufig eine historisch bisher vorherrschende „Leitidee“ als eine intrinsische Täterkultur gebrandmarkt, was wiederum breite Integration nachhaltig verhindert. Andererseits ist die kulturpolitische Debatte durch „politics of resentment“ dominiert: Es ist das ein durch Verunsicherung hervorgerufenes Ressentiment gegenüber allem Fremden aus Sorge oder Angst vor Überfremdung. Oder auch ein Ressentiment gegenüber einer „liberalen“, „weltoffenen“ Kulturhaltung der „urbanen Eliten“, die, in verschieden ausgeprägten Schattierungen, als Verrat an der eigenen Heimat und den gewohnten Bräuchen und Traditionen empfunden wird. Heimat ist dann nicht mehr der Raum, in dem sich jemand kulturell, politisch und persönlich-familiär „auskennt“ und eine Form der emotionalen Zugehörigkeit empfindet. Was durchaus auch bedeuten kann, bedingt durch die Mobilität des modernen Lebens, dass sich insbesondere urbane Eliten mehreren Heimaten zugeneigt fühlen. Heimat wird im Gegensatz dazu durch das Ressentiment als Abwehrbegriff aufgebaut, hinter dem Fremdenfeindlichkeit, nationalistische Überlegenheitsgefühle oder purer Chauvinismus blühen. Der Schritt von der politischen Rhetorik des Ressentiments zu (kultur-)politisch motivierten Attacken antisemitischer oder islamophober Ausrichtung ist nur mehr klein. Diese Haltung des Ressentiments ist aber nicht allein den erstarkten politischen rechtsradikalen und nationalistischen Bewegungen zu eigen. Es ist als Phänomen auch bei großen Einwanderungsgruppen (inklusive deren Jugendgruppen) zu beobachten, die sich in „Parallelgesellschaften“ zurückziehen, eine ideologische Schutzmauer aus religiösen und folkloristischen Traditionen aufziehen und die Mehrheitsgesellschaft als fremd, wenn nicht sogar als unmoralisch und feindlich betrachten. Letzteres äußert sich unter anderem in Frauenfeindlichkeit mit bedenklicher Intensität. Wiederum: All das fördert keine breite Integration. Die Ungleichzeitigkeit der „politics of identity“ und der „politics of resentment“ führt jedenfalls zum Verlust der kulturellen Integration in der Mitte. Liberale Politik neigt dazu, den potenziellen Kulturkonflikten auszuweichen und hält an der Fiktion fest, dass in der Multikulturalität ausschließlich eine Bereicherung für alle liegt. Das vorhandene kulturelle Ressentiment wird mit hochgezogenen Augenbrauen als vormodernes Verhalten deklassiert. Konservative Politik neigt dagegen dazu, dem vorhandenen Ressentiment in der Bevölkerung mit einer Rhetorik der geschlossenen Zuwanderungsgrenzen oder dem Apell gegenüber der Immigrationsbevölkerung von „Fordern und Fördern“ zu begegnen. Beides greift ins Leere und verursacht Frustration und Ausgeschlossen-Sein. Kulturelle Identität hat aber im Kern mit dem Selbstbewusstsein von Würde zu tun, mit der Anerkennung der jeweiligen Differenz, des Anders- und Unterschieden-Seins, mit Respekt und Toleranz. Es geht um eine Debatte, was die gemeinsame Europäische „Leit-
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kultur“ ausmacht, die von den starken Elementen der Aufklärung (Menschen- und Freiheitsrechte) und einem gemeinsamen Bewusstsein einer europäischen Geistes- und Kulturgeschichte, die das Gemeinsame und nicht das Trennende sucht, getragen sein sollte. Dieser Diskurs hat sich jedoch weitgehend verlaufen. Es bleibt weiterhin offen, was die gemeinsamen Kernelemente einer europäischen Identitätsstiftung sein können. Wenn die politische und gesellschaftliche Mitte diesen Diskurs aber nicht trägt, dann ist der „Clash of Civilizations“22 mitten in Europa angekommen. Im Jahr 2020 bleibt die kritische Frage, ob die rechtsstaatliche Demokratie als Staatsform der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sich weiterhin friedlich entwickeln kann. Oder hat das Zeitalter der Postdemokratie mit seinen Ausprägungen der Usurpation, Despotie, Oligarchie oder sogar Tyrannei schon längst begonnen? Die politische Dynamik eines neo-nationalistischen Populismus soll jedenfalls als ernste Bedrohung in dieser Richtung verstanden werden. Jede rechtsstaatliche Verfassung mit ihren austarierten Systemen der Gewaltentrennung, geteilten Macht und garantierten Menschenrechte kann sehr schnell zu einem reinen Stück Papier verkommen, das keine Wirksamkeit mehr entfaltet. Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten ist der prominenteste Vertreter dieses NeoNationalismus, dem die komplexen Prozeduren der Rechtsstaatlichkeit nur ein lästiges Hindernis bei der Demonstration der persönlichen Machtvollkommenheit sind. Er und alle anderen Vertreter des Populismus können nur aus der Kraft einer wiedererstarkten politischen Mitte gestoppt werden. Die politische Mitte muss jedoch eindeutig für (soziale) Gerechtigkeit und (ökologische) Nachhaltigkeit stehen. Das Wort Gemeinwohl darf kein Fremdwort bleiben. Die aalglatte Rhetorik des politischen Marketings muss durch überzeugte Steuerungsintelligenz abgelöst werden, um im Namen des Humanums die Schattenseiten des Kapitalismus, des Konsumismus, der globalisierten Kompetitivität, der digitalen Kommunikation und der Kultur der Würdelosigkeit auszubremsen. Es geht um den geordneten Tanz mit diesen derzeit ziemlich wild und ungezügelt auf der Agora herumlaufenden Elefanten. Es geht um ein Verständnis von neu gestalteten politischen Partnerschaften, damit Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit wieder das bestimmende Maß guter Politik werden.
22
Dieser Ausdruck verweist in seiner Aktualität auf das nach wie vor richtungsweisende Buch von Samuel P. Huntington, Clash of Civilisations and the Remaking of World Order (erschienen bei Simon&Schuster, 1996), in dem er in intellektueller Brillanz die Gründe für alle politischen und militärischen Konflikte des beginnenden 21. Jahrhunderts als kulturelle Konfrontationen insbesondere zwischen den westlichen, islamischen und chinesischen Kulturräumen vorhergesagt hat.
Im Zeitalter der großen Wanderungen Die europäische Migrationsgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte Michael Spindelegger / Martin Hofmann
1. Einleitung
Am Beginn jeder Auseinandersetzung mit der europäischen Migrationsgeschichte steht eine einfache Feststellung: Migration ist in Europa heute ein heftig und kontrovers diskutiertes Thema, das den politischen Diskurs prägt, Wahlen entscheidet und die Legitimität nationaler und europäischer Institutionen infrage stellt. Seit Beginn der 1970er-Jahre führt die EU das sogenannte Eurobarometer durch. Es handelt sich dabei um halbjährlich durchgeführte repräsentative Umfragen in den Mitgliedstaaten der EU zur Meinungsentwicklung unter den Bürgerinnen und Bürgern der EU. Die Themen Zuwanderung, Flucht und Integration nehmen im Rahmen der Befragungen eine wichtige Rolle ein. Im Rahmen des letzten Eurobarometers von 2019 sahen 34 % der Befragten „Immigration“ als die größte Herausforderung für die EU, mit deutlichem Abstand gefolgt von den „Folgen des Klimawandels“ (22 %), der „wirtschaftlichen Situation“ (18 %), den „öffentlichen Finanzen“ (18 %), der „Umwelt“ (13 %) und „Fragen der Arbeitslosigkeit“ (12 %). Themen wie „steigende Lebenskosten“, „Kriminalität“, „Energieversorgung“, „Pensionen“ und „Steuern“ wurden hinsichtlich ihrer Bedeutung von 10 % oder weniger der Befragten als „größte Herausforderungen“ für die EU genannt.1 Sollten sich die Befragten aber zu den wichtigsten Herausforderungen in ihrem jeweiligen Heimatstaat äußern, so rangierte das Thema „Immigration“ mit im Schnitt 17 % nur noch an fünfter Stelle hinter den Themen „Arbeitslosigkeit“, „steigende Lebenskosten“, „Gesundheit und soziale Sicherheit“ und „Umwelt, Klima und Energieversorgung“.2 Bei aller Wichtigkeit scheint das Thema gleichzeitig auch abstrakt zu sein. Es gewinnt an Bedeutung, je weiter es von der eigenen Lebenswirklichkeit entfernt ist. Je näher die Fragen des Eurobarometers an dieser Lebenswirklichkeit gestellt werden, desto stärker treten andere Prioritäten in den Vordergrund. Migration scheint also ein Stück weit ein „Stellvertreterthema“ zu sein, ein Kristallisations1 2
European Union 2019, 22 European Union 2019, 24
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punkt für die Skepsis gegenüber den Unwägbarkeiten und Veränderungen der Gegenwart, aber auch jene gegenüber der Lösungskompetenz der Europäischen Union, die großen Fragen unserer Zeit betreffend. Letztere ist nicht völlig unbegründet, die unterstellte Skepsis der Unionsbürgerinnen und -bürger hat aber durchaus historische Dimensionen, die in der spezifischen europäischen Migrationsgeschichte, aber auch in den immanenten Widersprüchen der globalen Entwicklung im Anhang an industrielle Revolution, Bevölkerungsemanzipation und der Durchsetzung nationalstaatlicher Prinzipien begründet ist. In einer Welt, die von Nationalstaaten und nationalen Identitäten geprägt ist, liegt Migration fast zwangsläufig „quer“ zu anderen politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Dieser Schluss kann gerade aus der Migrationsgeschichte gezogen werden, verbunden mit der Erkenntnis, dass die Auseinandersetzung mit Migrationsfragen kaum zu einem endgültigen Abschluss finden wird, sondern immer wieder neu geführt und gestaltet werden muss.
2. Was kann uns Migrationsgeschichte lehren?
Die grundsätzliche Frage, ob sich aus der Geschichte Lehren für Gegenwart und Zukunft ziehen ließen, ist weder neu noch auf die historische Betrachtung von Migrationsbewegungen beschränkt. Historia magistra vitae. Für zwei Jahrtausende waren Wissenschaft und Politik der Formel Ciceros gefolgt, nach der die Historie eine „Art Sammelbecken multiplizierter Fremderfahrungen“ sei, aus der die jeweilige Gegenwart lernen könne, Erfolge der Vergangenheit zu wiederholen und Fehler der Vergangenheit zu vermeiden.3 Diese Vorstellung hielt sich bis ins 18. Jahrhundert, als die zunehmende Beschleunigung des sozialen, technischen und wirtschaftlichen Wandels den Rekurs auf Beispiele aus der Vergangenheit immer weniger geeignet erschienen ließ, um den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen. Das veränderte auch die Rolle, die der Geschichte in Politik und Herrschaft zugedacht wurde. Über Jahrhunderte hinweg war die Historie eine Sammlung von Geschichten, die als „Schule der Herrscher“ gegenwärtige Politik anleiten sollten. Dies konnte sie nun nicht mehr leisten, „zu neu“ und „zu anders“ erschienen Gegenwart und Zukunft im Vergleich zu vergangenen Epochen, als dass Erstere noch viel von Letzterer lernen konnte. Der Plural der vielen Geschichten der alten Historie wurde nun zum Singular der einen Geschichte. Deren Rolle wurde unterschiedlich gedeutet. Eine Schule sprach ihr jeden über die Darstellung vergangener Ereignisse hinausgehenden Zweck ab, eine andere sah in der Geschichte den „einzigen Weg zur wahren Erkenntnis“ des jeweils gegenwärtigen Zustandes der Menschheit, eine dritte glaubte in der Geschichte die Grundprinzipien 3
Koselleck 2017, 1
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allen menschlichen Handelns und die unausweichlichen Gesetzmäßigkeiten der weiteren Entwicklung der Menschheit erkennen zu können.4 Mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus und der damit verbundenen Aufgabe seiner geschichtsphilosophischen Vorstellungen stellte sich die Frage: „Wozu noch Geschichte?“ wieder aufs Neue. Der deutsche Sozialhistoriker Jürgen Kocka hatte bereits in den 1970er-Jahren eine Reihe von Antworten auf diese Frage formuliert, die bis heute nichts an Aktualität verloren haben.5 Zunächst einmal sei historische Erkenntnis unabdingbar für „das Verständnis und die richtige Behandlung von Gegenwartsphänomenen“. Darüber hinaus spiele sie nach wie vor und trotz ihres Bedeutungsverlustes eine wichtige Rolle bei der Legitimation politischer Entscheidungen und der Stabilisierung politischer Systeme. Sie zeige immer auch jene Handlungsalternativen auf, die in der Vergangenheit bestanden hätten und die nicht genutzt worden seien. Damit führe sie auch der Gegenwart vor Augen, dass in unterschiedlichen Optionen und jenseits des Sachzwanges gedacht werden könne. Sie führe Individuen und gesellschaftlichen Gruppen ihr jeweiliges historisches Selbstverständnis vor und helfe bei der Orientierung von Einstellungen und Handlungen in der Gegenwart. Besser als die Sozialwissenschaften könne sie individuelle Konstellationen und Phänomene untersuchen und der vorschnellen Reduktion komplexer Realität auf allzu simple Welterklärungstheorien widerstehen. Schlussendlich erfülle Geschichte aber auch noch den Zweck einer „zwecklosen“ Beschäftigung, mit der sich Freizeit sinnvoll und auf zivilisierte Weise verbringen lasse.6 Die skizzierten Thesen Kockas lassen sich ausgezeichnet auf die Beschäftigung mit der europäischen und globalen Migrationsgeschichte anwenden. Dabei ist diese Geschichte keineswegs nur „zweckfrei interessant“, sie kann eine ganze Reihe von Erkenntnissen bieten, die „das Verständnis und die Behandlung von Gegenwartsphänomenen“ unterstützen können. Die polarisierte politische Diskussion, aber auch das anmaßende Selbstbild der Gegenwart als historisch einmalig verleiten mitunter zu der falschen Annahme, Migration sei ein Phänomen der unmittelbaren Zeitgeschichte, das keine historischen Parallelen habe. Öffentliche und politische Diskussion überbieten sich in Superlativen in Bezug auf die Einmaligkeit der Situation, die Größe der Herausforderung und den Mangel an probaten Lösungen. Wir leben in einem Zeitalter der Geschichtsvergessenheit, zumindest was ihr Potenzial zum Verständnis unserer Gegenwart betrifft. Das ist schade, verstellt es doch den Blick auf die lange Tradition des Topos und seine ebenso langfristigen Wirkungszusammenhänge. Das engt auch den politischen Spielraum der Gegenwart ein. Eine stärkere Verortung der Migration in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und damit auch als 4 5 6
Koselleck 2017, 16 Kocka 1990, 428 Kocka 1990, 441
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„Orientierung für die gegenwärtige Lebenspraxis“7 täte der öffentlichen und politischen Diskussion gut, würde zu mehr Gelassenheit führen und damit auch den Spielraum für bessere Lösungen verbreitern. Dazu bedarf es zunächst einmal der Klärung der Begrifflichkeiten und der Einordnung der quantitativen Dimensionen des Phänomens. Das soll in den nächsten beiden Abschnitten geschehen.
3. Was verstehen wir unter „Internationaler Migration“?
Migration kann mit Fug und Recht als integraler Bestandteil der Menschheitsgeschichte betrachtet werden. Menschen haben sich immer und aus den unterschiedlichsten Gründen aus ihrer unmittelbaren Heimat in andere Gebiete bewegt, um Bedrohungen zu entgehen, bessere Lebensbedingungen zu finden oder dem der Menschheit innewohnenden Drang nach Entdeckung und etwas „Neuem“ zu folgen. Migration ist also ein „sehr altes“ Phänomen, gleichzeitig ist sie aber auch „sehr jung“, zumindest wenn man sie in ihrem heutigen Verständnis betrachtet. In diesem Verständnis ist Internationale Migration ein Produkt des 19. Jahrhunderts und aufs Engste mit dem Werden von Nationalstaaten und der Durchsetzung des nationalstaatlichen Prinzips der Einheit von Staatsterritorium und Staatsvolk verbunden. Ohne eindeutig definierte Staatszugehörigkeit und ebenso klar definierte Staatsgrenzen gäbe es auch keine Internationale Migration. Nach den Empfehlungen der Vereinten Nationen werden Internationale Migrantinnen und Migranten als Personen definiert, die ihren regulären Wohnsitz über Staatsgrenzen hinweg verlegen und auch die Intention dazu haben. Dauerhafte Migration bezieht sich auf Personen, die mehr als ein Jahr außerhalb ihres Heimatlandes leben, temporäre Migration auf Personen, die dies für einen Zeitraum von drei bis weniger als zwölf Monaten tun.8 Bloße Mobilität von Personen reicht dabei nicht aus, sie muss die Grundlage einer „auf Dauer angelegten“ bzw. einer „dauerhaft werdenden räumlichen Veränderung des Lebensmittelpunktes“ haben.9 Internationale Migration umfasst demnach sowohl Faktoren raum-zeitlicher Mobilität von Personen als auch Faktoren einer intendierten Verlagerung des Lebensmittelpunktes dieser Personen, wobei Letztere nicht freiwillig erfolgen muss. Das heißt wiederum, dass auch die Gruppe der über Landesgrenzen vertriebenen Personen, der Asylwerberinnen und Asylwerber und der im Sinne der Genfer Konvention anerkannten Flüchtlinge unter die Definition Internationaler Migration fallen. Im Gegensatz dazu gilt die zahlenmäßig große Gruppe von im Inland Vertriebenen, die sogenannten Binnenflüchtlinge oder In7 8 9
Rüsen 2013, 243 UNDESA 1998 Kröhnert 2002
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ternally Displaced Persons (IDPs), nicht als Internationale Migrantinnen und Migranten. Das Phänomen der Internationalen Migration ist also das Ergebnis der Anwendung von rechtlichen und analytischen Definitionen. Daraus ergibt sich auch eine gewisse Diskrepanz zwischen der „gefühlten“ Bedeutung des Phänomens und seiner „tatsächlichen“, die eigentlich viel geringer ist, als es mitunter den Anschein hat. Im nach wie vor andauernden Zeitalter des Nationalstaates sind Fragen der Identität und Zugehörigkeit zur jeweiligen Staatsnation ausgesprochen bedeutsam, was Verteilungsfragen und den Zugang zu Rechten und Lebenschancen betrifft. Staatsbürgerinnen und -bürgern erscheint es oft, als würde Zuwanderung ihre Vorrechte berühren, ein Umstand der mit Sicherheit zu teils überzogen negativen Sichtweisen des Phänomens beiträgt. Eine kluge Migrationspolitik darf diese Ängste nicht abtun, sie sollte vielmehr den Nachweis erbringen, dass sie sie ernst nimmt und sich ihrer annimmt. Das wird ihr nur dann gelingen, wenn sie zu demonstrieren vermag, dass sie die Zuwanderung tatsächlich steuern und im Sinne der Staatsbürgerinnen und -bürger positiv gestalten kann.
4. Die Ursachen und die quantitative Dimension Internationaler Migration
Umfang und Richtung internationaler Migrationsströme hängen von den Wirkungen einer Reihe von zentralen „Treibern“ oder „Megatrends“ ab. Diese Treiber sind Krieg, Bürgerkrieg und Konflikte, die Globalisierung von Wirtschaft, Werten und Aspirationen, sich verändernde Technologien und Kommunikationsmittel, demographischer Wandel, zunehmende Lebenserwartung, steigendes Bildungsniveau, Urbanisierung und – in zunehmendem Maße – Umweltfaktoren und Klimawandel. Zusammen bilden sie das globale und langfristige Migrationsklima, in das regionale und kurzfristige Entwicklungen eingebettet sind. Es ist dabei davon auszugehen, dass sich die Wirkmacht der genannten Treiber über die Zeit eher verstärkt als abschwächt. Gewalttätige Konflikte sind heute überwiegend innerstaatlich und verursachen eine immer größere Zahl von Binnenvertriebenen. Dieser Trend wird durch die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und der Umweltzerstörung noch verschärft. Die Mehrheit der internen Migrationsströme bewegt sich weiterhin innerhalb und in Richtung der Länder des Globalen Nordens, aber Migration gewinnt auch im Globalen Süden ständig an Bedeutung. Letztere wird durch die beschleunigte sozioökonomische Entwicklung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, ein höheres Bildungsniveau, eine längere Lebenserwartung und zunehmende Urbanisierung angefeuert. Die demographische Alterung betrifft Gesellschaften mit hohem, mittlerem und niedrigem Einkommen und erhöht die Nachfrage nach Auswanderung und Einwan-
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derung gleichermaßen. Die Einkommensunterschiede zwischen den Weltregionen bleiben bestehen oder vergrößern sich sogar, was bedeutet, dass Wanderung zwischen ihnen eher attraktiver als weniger attraktiv wird. Nicht zuletzt bedeuten die Umwälzungen des 20. und 21. Jahrhunderts in Technologie, Kommunikation und Verkehr, dass Kernbereiche der Menschheit wie Arbeit, Lernen, Interaktion oder Kommunikation nicht mehr an ihre räumlichen Wurzeln gebunden sind und Wanderungen erleichtern. Die tatsächliche Wirkung dieser Treiber hängt dann aber immer auch von globalen Gelegenheitsstrukturen ab, in denen Migrationsentscheidungen getroffen und individuelle Migrationsprojekte umgesetzt werden.10 Das tatsächliche zahlenmäßige Ausmaß Internationaler Migration lässt sich nicht exakt messen. Die Gründe dafür liegen in der Komplexität des Phänomens – so können etwa irreguläre Migrationsbewegungen nur sehr schwer erfasst werden –, der mangelhaften Datenlage in vielen wichtigen Ursprungs- und Zielländern und der ungenügenden Vergleichbarkeit von Statistiken aufgrund unterschiedlicher Definitionen und Erfassungszeiträume.11 Alle verfügbaren Statistiken bestätigen dabei die kontinuierliche Zunahme der Zahl Internationaler Migrantinnen und Migranten. Die jüngsten Schätzungen sprechen von 272 Millionen Internationalen Migrantinnen und Migranten, was rund 3,5 % der Weltbevölkerung entspricht und einen Anstieg von 5,4 % im Vergleich zu den 258 Millionen Internationalen Migranten des Jahres 2017 bedeutet.12 Die Gesamtzahl der Internationalen Migrantinnen und Migranten wächst im Moment schneller als die Weltbevölkerung. Hauptverantwortlich für dieses überproportionale Wachstum ist der erstgenannte Treiber, nämlich Krieg, Bürgerkrieg und gewaltsamer Konflikt. Zwischen 1993 und heute hat sich die Zahl der weltweit Vertriebenen von 21,4 Millionen auf 70,8 Millionen mehr als verdreifacht. Die Zahl der Flüchtlinge, d. h. der Vertriebenen, die außerhalb ihres Heimatlandes leben, stieg zwischen 1993 und 2018 um 14,1% von insgesamt 17,8 Millionen auf insgesamt 20,4 Millionen. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Binnenvertriebenen (Internally Displaced Persons – IDPs) um fast das Zehnfache von insgesamt 4,2 Millionen auf insgesamt 41,3 Millionen.
5. Europa und seine jüngere Migrationsgeschichte
Wie oben ausgeführt ist Migration in ihrer allgemeinsten Bedeutung als „räumliche Mobilität von Menschen“ Teil der Conditio humana. Der lapidare aber historisch präzise Schluss 10 11 12
ICMPD 2020, 2 Hofmann 2017, 10 UNDESA 2019
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könnte lauten, dass, wo Menschen sind, immer auch gewandert wird. Migration ist so alt wie die Menschheit selbst, gleichzeitig ist sie aber auch immer wieder neu und vollzieht sich vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen historischen, ökonomischen, kulturellen und politischen Bedingungen in unterschiedlichen Formen und Verläufen. Auch in Europa sind Wanderungen keine Neuheit der jüngeren Geschichte. Die Wanderung von Handwerkern, Gelehrten oder Studenten, religiös oder politisch motivierte Vertreibungen oder solche infolge von Kriegen oder kleinräumigere saisonale Wanderungen von Arbeitskräften in der Landwirtschaft hat es immer schon gegeben.13 Was sich im 19. Jahrhundert ändert, sind die Größenordnungen, die Distanzen und die Geschwindigkeit, innerhalb derer sich Wanderungen vollziehen. Ebenso neu ist, dass Migration zunehmend als eigenständiges und klar umrissenes Phänomen ins öffentliche und politische Bewusstsein tritt. Die sich rasant verändernden historischen Bedingungen verändern die Sichtweise auf Migration bzw. die Relevanz der Sichtweisen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Im Merkantilismus des 18. Jahrhunderts entschied alleine der Fürst, dass Sicherheit und Wohlstand des Landes abhängig von der Größe und Leistungsfähigkeit der Staatsbevölkerung seien und die Zuwanderung neuer und nützlicher Untertanen auf jeden Fall zu befördern sei. Die ansässige bäuerliche und weitgehend rechtlose Bevölkerung wurde dabei kaum nach ihrer Meinung gefragt. Auch die jeweilige Landeskirche war über Jahrhunderte eine Instanz, die die Autorität hatte, mittels Konfessionsfragen die Akzeptanz von Neuankömmlingen zu verwalten, ebenso wie die Bürgermeister und Ratsherren in den großen Städten. So gesehen hat die neuere europäische Migrationsgeschichte, deren Beginn sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts verorten lässt und die im Wesentlichen bis heute andauert, ihren Ausgang in einem dreifachen fundamentalen Wandel, nämlich jenem der Liberalisierung, Nationalisierung und Ökonomisierung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Liberalisierung bedeutete zunächst einmal, dass sich die Menschen aus ihren rechtlichen und mentalen Abhängigkeiten gegenüber den Herrschenden zu lösen begannen bzw. aus diesen entlassen wurden. Hoerder beschreibt diesen Prozess als von einer „Säkularisierung der Hoffnung“ begleitet; die Menschen kamen zur Auffassung, dass ihr Schicksal nicht allein durch weltliche und überweltliche Autoritäten bestimmt war, sondern dass sie in der Lage waren, es selbst und aktiv zu gestalten.14 Räumliche Mobilität wurde zu einem wesentlichen Teil dieses gesteigerten Gestaltungsspielraumes, zunächst in Form von Land-StadtWanderung, bald jedoch auch in Form der großen Auswanderungswellen aus Europa in die damals immer noch „Neue Welt“ Nord- und Südamerikas. Neben der skizzierten Individualisierung der Lebensläufe fand aber gleichzeitig ein Prozess der wirtschaftlichen Integration und kulturellen Homogenisierung statt, der das Zeitalter des Nationalismus kennzeichnete 13 14
Fassmann 2007, 33 Hoerder 1993, 14
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und die auf fürstlicher Herrschaft basierenden Territorialstaaten zu Nationalstaaten wandelte.15 Den Einzelnen kamen nunmehr Rechte zu, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Nation ableiteten und über die Institution der Staatsbürgerschaft klar von allen Nichtangehörigen der Nation abgrenzten. Gleichzeitig vermittelte die Idee der Nation auch eine kollektive Identität und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Größeren. Daraus ergab sich aber auch der Anspruch gegenüber den Regierenden, die nationale Identität und die damit verbundenen Vorrechte zu schützen und dem unterstellten Zugriff von Zugewanderten zu entziehen. Schlussendlich wurden die Menschen im Allgemeinen und Fremde im Besonderen immer stärker durch das Prisma ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit betrachtet. Während sich das Recht auf Ausreise langsam, aber stetig zu einer Art allgemeinem Menschenrecht wandelte, wurde das Recht auf Einreise von den Zielländern von Migrationsbewegungen immer weiter eingeschränkt und Gesetzen der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit unterworfen. Die Ökonomisierung der Verhältnisse führte zur Ökonomisierung der Migration, die gleichzeitig Chancen eröffnete und Hindernisse errichtete. Die drei genannten Grundmuster der Liberalisierung, Nationalisierung und Ökonomisierung von räumlicher Mobilität, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts herauszubilden begannen, begleiten uns im Wesentlichen bis heute und umreißen sowohl die großen Dynamiken der Internationalen Migration als auch den Rahmen, in dem Migrationspolitik wirken soll und wirken muss. Da ist zunächst einmal der individuelle Anspruch auf eine erfolgreiche und eigengestalterische Verwirklichung von Lebenszielen, der auch den Anspruch auf Mobilität zur Zielerreichung mit einschließt; dann der gleichzeitige Anspruch auf die Bewahrung von nationaler Identität und all jener Vorrechte, die sich aus der Zugehörigkeit einer Nation ableiten; und schlussendlich das ökonomische Paradigma in der Betrachtung von Migration, das den wirtschaftlichen Nutzen von Wanderungen für die jeweiligen Zielländer maximieren und alle als weniger nützlich erachteten Migrationen nach Möglichkeit unterbinden will. Die Wirkung dieser Grundmuster während der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte und vor dem Hintergrund ihrer jeweils unmittelbaren zeitgeschichtlichen Zusammenhänge bildet die Basis für die folgende Darstellung der einzelnen Phasen und Epochen der jüngeren europäischen Migrationsgeschichte.
15
Hoerder 1993, 15
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6. Europäische Migrationen im 19. und 20. Jahrhundert 6.1 Erste Phase: Europa und das „Zeitalter der Migration“, 1846–1914
Das 19. Jahrhundert ist eine Epoche der „großen Mobilisierung“ der europäischen Gesellschaften. Diese Mobilisierung vollzieht sich zunächst einmal vor allem als Land-StadtWanderung und Binnenmigration innerhalb der sich etablierenden europäischen Nationalstaaten. So stieg etwa die Bevölkerung Wiens zwischen 1880 und 1910 von 800.000 auf zwei Millionen, wobei 53 % des Zuwachses auf Zuwanderung aus den Kronländern entfiel.16 Im kollektiven Gedächtnis verhaftet blieben die großen transatlantischen Migrationen, die in Wirklichkeit nur einen geringeren Teil der durch Industrialisierung, Freisetzung der Landbevölkerung, hohe Geburtenzahlen und sinkende Sterblichkeit bedingten Wanderungen umfasste. Genaue Statistiken fehlen, Schätzungen sprechen aber von zwischen 50 und 55 Millionen Menschen, die zwischen 1846 und 1924 ihre europäischen Heimatländer in Richtung USA verließen. Daneben gab es noch rund 13 Millionen europäische Einwanderer in Kanada, Brasilien und Argentinien.17 Österreich-Ungarn war dabei eines der wichtigsten europäischen Ursprungsländer. Zwischen 1900 und 1910 wanderten 2,15 Millionen Menschen aus dem Habsburgerreich in die USA, damit war Österreich-Ungarn in diesem Zeitraum das wichtigste Herkunftsland für Immigration in die USA, noch vor Italien und Russland.18 Für den internationalen Teil der Wanderungen waren nach Fassmann vier Voraussetzungen ausschlaggebend: Erstens setzten sich in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die Industrialisierung Bauernbefreiung und das Recht auf Ausreise durch. Diese beiden Liberalisierungen waren zweitens eine Reaktion auf den ökonomischen Wandel und die ökonomischen Disparitäten zwischen den Regionen auf nationaler und globaler Ebene. In der freien Zirkulation von Arbeitskräften wurde einerseits eine wirtschaftliche Notwendigkeit gesehen, die andererseits durch die Auswanderung überschüssiger Bevölkerung auch eine Reduzierung des sozialen Drucks im Inneren versprach. Der dritte Faktor war die Revolution im Transportwesen und Herausbildung einer „Migration Industry“, die neben Schifffahrtslinien auch die Entwicklung von Migrationsagenturen beinhalteten, die aktiv um ihre Klienten warben und die Organisation von Reise und Arbeitsvermittlung im Zielland versprachen. Der vierte Aspekt war eine zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz von Migration als Mittel zur individuellen oder familiären Zielerreichung einerseits und als Mittel zum Auffüllen des Arbeitskräftereservoirs in den rasant 16 17 18
Bauböck 1996, 3 Fassmann 2007, 38 Bauböck 1996, 2
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wachsenden industriellen Zentren andererseits. Die großen Migrationsbewegungen aus Europa trugen wesentlich „zum ‚Take off‘ der USA als führende Industriemacht“ bei. Wie auch heute hatte Migration nicht nur ökonomische Ursachen, sondern auch ökonomische Folgen, die überwiegend positiv für die Wirtschaft der Zielländer waren.19 Das soll aber nicht bedeuten, dass Migration ohne Einschränkungen akzeptiert worden wäre bzw. diese Akzeptanz nicht über die Zeit geschwunden wäre. Die „Poor Laws“ in Großbritannien oder das „Heimatrecht“ in Österreich-Ungarn sollten schon immer den Zuzug von Personen einschränken, die zu einem sozialen Problem werden konnten. Die große Wende in der Einwanderungspolitik der USA erfolgte dann im Zuge des Ersten Weltkriegs. Die Epoche der ungehinderten europäischen Auswanderung kam damit ebenfalls zu einem Ende.
6.2 Zweite Phase: Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit
Die verheerenden Kriegsfolgen des ersten der beiden Weltkriege, die ihm folgenden Grenzverschiebungen, der Zusammenbruch jahrhundertealter staatlicher Gebilde und die rigorosen bis gewalttätigen Politiken gegenüber nationalen Minderheiten veränderten Gestalt und Richtung der Internationalen Migration. Während die grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts vor allem sozioökonomisch begründet waren, wurden sie nunmehr immer stärker zu „politisch gesteuerten“ und „politisch bedingten“ Phänomenen.20 Allein in Europa entstanden vierzehn neue Staaten – und damit auch zusätzliche Außengrenzen von 11.000 km –, deren Staats- und Nationsbildungsprozesse in der Regel von systematischer und großräumiger Vertreibung nationaler Minderheiten bzw. politischer Gegner begleitet waren. Oltmer schätzt die Zahl der bis Mitte der 1920er Jahre in Europa Vertriebenen, Flüchtlinge und Umsiedler auf zehn Millionen Menschen, 1,5 Millionen allein aus dem revolutionären Russland. Österreichs Gesamtbevölkerung hatte Ende der 1920er Jahre einen Anteil von mehr als 10 % von auf einem Territorium anderer Nachfolgestaaten der Monarchie Geborenen, allein 440.000 seiner Staatsbürgerinnen und Staatsbürger stammte aus der neu entstandenen Tschechoslowakei. Für die anderen Gebiete des ehemaligen Habsburgerreiches galten ähnliche Entwicklungen.21 Die Geburt des „Flüchtlingsproblems“ in den 1920er Jahren war also Ausdruck der Entstehung neuer Staaten und Grenzen, vor allem in Europa, aber auch des endgültigen Durchbruchs des modernen Nationalstaats zur dominanten politischen Organisationsform, in dessen Folge 19 20 21
Kraler 2007, 14 Oltmer 2002, 112 Oltmer 2002, 113
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Staatsbürgerschaft und Ausländerstatus zu zentralen politischen Kategorien wurden.22 Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert stand den Entwurzelten, aber auch jenen, die der wirtschaftlich katastrophalen Situation im Nachkriegseuropa entfliehen wollten, der Weg nach Übersee nur noch in viel geringerem Maße offen. Wie die europäischen Staaten befanden sich auch die USA, Kanada und die lateinamerikanischen Staaten ab den 1920er-Jahren in einer tiefen ökonomischen Krise. Zuwanderung wurde zunehmend als zusätzliche Belastung oder gar Bedrohung in einer ohnehin schwierigen Situation gesehen und dementsprechend deutlich eingeschränkt. Mit dem „First“ und „Second Quota Act“ von 1921 und 1924 sollte die jährliche Zuwanderung auf 350.000 bzw. 150.000 Personen beschränkt werden, was eine deutliche Reduzierung der Zahlen der Jahre 1856–1924 bedeutete.23 Auch die europäischen Staaten antworteten auf die „allgemeine große Krise“, die nach und nach alle Bereiche des wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Lebens erfasste, mit Wirtschaftsnationalismus und Protektionismus und der Errichtung weitgehender Schranken für die Freizügigkeit von Kapital, Gütern und Arbeitskraft.24 Österreich verankerte das Primat der Inländerbeschäftigung in der Gesetzgebung, definierte Ausländerbeschäftigung als grundsätzlich unerwünschte „Ausnahme von der Regel“ und etablierte die Einbindung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern in die Steuerung der Ausländerbeschäftigung; drei Prinzipien, die auch die Zweite Republik auf österreichischem Boden im Wesentlichen beibehalten sollte.25
6.3 Dritte Phase: Zweiter Weltkrieg, Flucht, Vertreibung und Wirtschaftsaufschwung
Im Europa der unmittelbaren Jahre nach 1945 wiederholt sich die Geschichte der Jahre nach Beendigung des Ersten Weltkriegs, allerdings in noch größeren quantitativen Dimensionen. Millionen Menschen waren auf der Flucht oder wurden im Zuge der politischen und staatlichen Neuordnung des Kontinents vertrieben. Je nach Schätzung betrug ihre Zahl zwischen 30 und 60 Millionen. Sie lag damit deutlich höher als die Zahl der weltweit geschätzten Flüchtlinge von heute.26 Darunter fielen auch insgesamt 10,5 Millionen „Displaced Persons“ – Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und überlebende KZ-Häftlinge –, die aus Deutschland und Österreich in ihre Heimatländer zurückkehrten bzw. weitermigrierten. Zunächst war das Flüchtlingsproblem wieder vor allem ein europäisches Phänomen, 22 23 24 25 26
Bilger/Kraler 2005, 15 Fassmann 2007, 42 Kraler 2007, 18 Perchinig 2009, 7 Redondo Carrero 2018, 159
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mit der einsetzenden Dekolonisation und der damit einsetzenden nächsten Neuordnung der Staatenwelt wurde daraus aber rasch eine globale Frage. Wanderungen aus den ehemaligen Kolonien in die ehemaligen europäischen Kolonialmächte erfolgten aber nicht nur durch Zwang, sondern waren, obwohl in den Zielländern oftmals unerwünscht, vor allem auch ökonomisch motiviert. Das globale Flüchtlingsregime, wie es im Wesentlichen auch heute noch besteht, hat seine Anfänge ebenfalls in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, so etwa mit der Gründung des UNHCR im Jahr 1950 und der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Seine endgültige Form erhielt es in den 1960er Jahren mit der formalen Ausweitung der Geltung der Genfer Konvention durch das Zusatzprotokoll von 1967.27 Arbeitsmigration spielte zunächst eine geringere Rolle. Die Phase des Wiederaufbaus konnte mit dem vorhandenen Arbeitskräftepotenzial bestritten werden. Das sollte sich aber mit den in den 1950ern einsetzenden Boomjahren des europäischen Wirtschaftswunders deutlich ändern. Arbeitskraft wurde in Europa zu einem knappen Gut. Als Konsequenz begann die aktive Rekrutierung von Arbeitsmigranten im Rahmen der sogenannten Gastarbeiterprogramme. Diese Phase „großangelegter, aber staatlich gesteuerter Arbeitsimmigration“ prägte das europäische Migrationsgeschehen bis zur Mitte der 1970er Jahre.28 Zwischen den 1950er-Jahren und 1973 wanderten etwa fünf Millionen Arbeitsmigranten aus Südund Südosteuropa in die nordeuropäischen Staaten.29 Die Integration dieser Migranten war weder erwünscht noch wurde sie gefördert, da auf Basis des sogenannten „Rotationsprinzipes“ davon ausgegangen wurde, dass die Migranten den jeweiligen Aufnahmestaat nach Ablauf ihres Arbeitsvertrages oder in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs wieder verlassen würden. In Österreich konnten Gewerkschaft und Teile der Politik die Idee einer weitgehenden Verhinderung der Ausländerbeschäftigung und einem Verständnis des Arbeitsmarkts als für Staatsbürger reserviertes öffentliches Gut lange durchsetzen. Aber auch hier wurde der wirtschaftliche Druck zu groß, und für 1962 wurde erstmals ein Kontingent für ausländische Arbeitskräfte in der Größenordnung von 47.000 Bewilligungen beschlossen.30 Neben dem genannten Rotationsprinzip waren zwei weitere Elemente charakteristisch für die europäische Migrationsgeschichte bis in die 1970er Jahre: der Primat staatlicher bzw. institutionalisierter Mechanismen der Arbeitskräfterekrutierung und das Ersetzen von Herkunft durch ökonomische Kriterien als primäres Selektionsprinzip.31
27 28 29 30 31
Kraler 2007, 25 Hofmann 2017, 14 Zimmermann 2005, 4 Perchinig 2009, 13 Kraler 2007, 26
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6.4 Vierte Phase: Europa als ungewollter Einwanderungskontinent
Spätestens mit dem Ölpreisschock von 1973, dem folgenden wirtschaftlichen Abschwung und der Erkenntnis, dass sich Migrationsströme nicht so einfach „managen“ lassen, wie es das oben genannte Rotationsprinzip der Gastarbeiteranwerbung suggeriert hatte, tritt die europäische Migrationsgeschichte in eine neue Phase ein, die in ihren Kontinuitäten und trotz aller Brüche im Wesentlichen bis in die Gegenwart anhält. Noch bis in die 1960er Jahre hatte rein zahlenmäßig die Auswanderung aus Europa die Zuwanderung nach Europa übertroffen. Innerhalb von 20 Jahren vollzog sich dann eine „migratorische Wende“, die das Europa westlich des Eisernen Vorhangs durchwegs zu einem Einwanderungskontinent wandelte.32 Das bedeutete aber nicht, dass dieser Umbruch seinen Niederschlag auch im kollektiven europäischen Bewusstsein gefunden hätte. Bis heute wird Zuwanderung nicht als etwas den europäischen Staaten und Gesellschaften natürlich Innewohnendes empfunden. Daraus resultierte die gleichzeitige Forderung, dass die Politik Zuwanderung einschränken bzw. so gestalten müsse, dass die Mehrheitsbevölkerung von ihr möglichst wenig betroffen werde. „Restriktion“ und „Integration“ wurden zu den zentralen politischen Schlagworten und sind es bis heute geblieben. Im Zeitalter der Globalisierung mit ihren engen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verschränkungen und dem damit einhergehenden Abbau physischer Barrieren grenzüberschreitender Mobilität erweist sich diese Forderung als nur schwer zu erfüllen. Die wichtigste dieser physischen Barrieren, die den beiden großen politischen Blöcken die weitgehende Kontrolle von Wanderungsbewegungen erlaubt hatte, verschwand 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Eisernen Vorhangs. Die Periode davor, also jene zwischen Ölpreisschock und dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, bildete eine Phase der „beschränkten Zuwanderung“ nach Europa. Nach 1973 gestalteten die europäischen Staaten ihre Immigrationspolitiken zunehmend restriktiv, setzten auf Integration vor Neuzuzug und beschränkten Arbeitsimmigration auf wenige ausgewählte Bereiche. Familienzusammenführung wurde zur wichtigsten Migrationsform der 1970er und frühen 1980er Jahre. In dieser Phase stieg auch das Maß an Fluchtmigration nach Europa wieder deutlich an. Dies war das Ergebnis einer zunehmenden Diversifikation von Migrationsströmen, die Flüchtlinge aus immer weiter entfernten Herkunftsländern nach Europa führten.33 Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Fall des „Eisernen Vorhanges“ in den Jahren 1989/90 eröffneten einen neuen Abschnitt in der europäischen Migrationsgeschichte. Die befürchtete Massenmigration aus dem Osten blieb zwar weitgehend aus, die Grenzöffnungen beim gleichzeitigen schrittweisen Abbau 32 33
Bade 2002, 16 Castles/Loughna 2002, 2
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von Grenzkontrollen innerhalb der EU bzw. im Schengen-Raum und das Entstehen neuer „Armuts-“ bzw. „Konfliktgrenzen“ innerhalb Europas und gegenüber der europäischen Nachbarschaft brachten aber eine neue Dynamik ins europäische Migrationsgeschehen, die sich immer weniger durch nationale Migrationsregime steuern ließ. Die Balkankriege der 1990er Jahre resultierten in geschätzten 200.000 Toten und drei Millionen Vertriebenen, von denen viele nach Deutschland und Österreich flohen und zum Teil auf Dauer blieben. Die volle Wucht dieser Dynamiken zeigte sich dann mit der sogenannten „Flüchtlings-“ bzw. „Migrationskrise“ des Jahres 2015, die eine neue Phase der europäischen Migrationsgeschichte einläutete, deren Ausgang und politische Konsequenzen nach wie vor ungewiss sind. Die drei zentralen Faktoren, die diese Phase bestimmen, sind das Naherücken der großen globalen Konflikte an die Außengrenzen der EU, die nicht zuletzt aus ungelösten migrationspolitischen Fragen resultierende gesamtpolitische Krise der EU und die unterschiedlichen sozioökonomischen Trends in Europa, Asien und Afrika, die bestehende Wanderungsdynamiken auf absehbare Zeit bestimmen bzw. verstärken werden. Gesamteuropäische politische Lösungen, die es in einem so stark integrierten und im Inneren grenzkontrollfreien Raum unbedingt bräuchte, scheitern nicht zuletzt daran, dass im Zuge der globalen Finanzkrise die leistungsstarken und weniger starken Mitgliedstaaten bezüglich ihrer Wirtschafts-, Haushalts- und Arbeitsmarktsituation noch weiter auseinandergedriftet waren. Das hatte auch zur Folge, dass manche von ihnen zu zentralen Zielländern Internationaler Migranten und Flüchtlinge wurden, während das bei anderen Mitgliedstaaten nicht der Fall war. Die asymmetrische Inanspruchnahme einer Minderheit der Mitgliedstaaten als Eintritts- bzw. Zielländer von Asylwerberinnen und -werbern stärkte die euroskeptischen Kräfte und damit auch die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU. Auf dieses politische Dilemma wurden bis heute noch keine überzeugenden Antworten gefunden.34
7. Schlussfolgerungen und Ausblick
Migration ist so alt wie die Menschheit selbst. Die Menschheitsgeschichte war immer schon aufs Engste mit ihrer Migrationsgeschichte verknüpft und umgekehrt. Mit dem 19. Jahrhundert treten nun aber drei Prinzipien in den Vordergrund, die diese in ihrem Kern so alte Historie zu einer dennoch neuen Geschichte machen sollten: Liberalisierung, Nationalisierung und Ökonomisierung von räumlicher Mobilität. Im Zuge dieser Entwicklung entstand der individuelle Anspruch, durch Wanderung das eigene Schicksal 34
Hofmann 2017, 23
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positiv gestalten zu wollen. Gleichzeitig bildeten sich nationale Identitäten heraus, die die Regierenden zunehmend in die Pflicht nahmen, die Interessen ihrer Bevölkerung an der Wahrung nationaler bzw. staatsbürgerlicher Vorrechte gegenüber Fremden durchzusetzen. Schlussendlich wurde Zuwanderung nach und nach einer immer stärkeren ökonomischen Sichtweise unterworfen, die Immigrantinnen und Immigranten, aber auch Flüchtlinge vor allem nach Nützlichkeitskriterien zu betrachten begann. Andere scheinbar neue Aspekte der Internationalen Migration, wie die Verdichtung und Beschleunigung der Verkehrswege oder die Herausbildung einer „Migration Industry“, die individuelle Migrationsprojekte auf legale bzw. weniger legale Art und Weise unterstützt, sind in Wirklichkeit auch nicht neu, sondern haben bereits seit dem 19. Jahrhundert ihren fixen Platz im globalen Wanderungsgeschehen. Ähnliches gilt für das Ausmaß an Vertreibung und Flucht, sowohl im Inneren als auch über Landesgrenzen hinweg, das nach den beiden Weltkriegen, bezogen auf den jeweiligen Stand der Weltbevölkerung, größer war, als es heute ist. Schlussendlich sind auch die Versuche, Zuwanderung auf politischem und rechtlichem Wege zu steuern bzw. einzuschränken, keine neue Entwicklung. „Poor Laws“ und „Heimatrecht“ versuchten schon im 19. Jahrhundert den Zugang zu sozialen Rechten für Fremde einzuschränken, die „Quota Acts“ in den USA der 1920er-Jahre hatten das Ziel, den Zuzug von – zu dieser Zeit vor allem europäischen – Immigrantinnen und Immigranten drastisch zu beschränken. Die letztgenannten Beispiele zeigen dabei zweierlei: Erstens erweist sich die oft rezipierte Vorstellung, dass die traditionellen Einwanderungsgesellschaften in den Amerikas oder Australiens die Neuzuwanderung mit freudigen Herzen und offenen Armen empfangen hätten, weitgehend als Mythos. Die Forderung, das Erreichte für die bereits Ansässigen zu schützen, findet sich in diesen historischen Gesellschaften ähnlich wie in den heutigen europäischen. Zweitens zeigt sich aber auch, dass alle Versprechen, Migration durch politische Intervention vollständig steuern oder verhindern zu wollen, in der Praxis nur selten gehalten werden konnten. Die USA sind trotz aller gesetzlicher Maßnahmen ein Einwanderungskontinent geblieben und werden das vor dem Hintergrund der globalen ökonomischen und demographischen Situation aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft sein, trotz der gegenläufigen Rhetorik und Politik der gegenwärtigen Administration. Richtet sich der Blick nun auf das Europa der Gegenwart, stellt sich eine ganz grundsätzliche Frage: Migration wurde schon seit dem 19. Jahrhundert problematisiert bzw. als problematisch betrachtet, traf selten auf die ungeteilte Zustimmung der ansässigen Bevölkerung und entzog sich zumindest in Teilen der politischen Intervention, die auf Limitierung und Abschottung zielte. Dennoch hatte die Migrationsfrage bis vor wenigen Jahren niemals das Potenzial gehabt, zur Nummer eins unter den politischen Herausforderungen
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Europas und seiner Regierungen zu werden. Eine Erklärung dafür liegt mit Sicherheit in der den Fakten oft widersprechenden Identifikation des Themas mit anderen aus Wandel und Veränderung resultierenden und negativ empfundenen Phänomenen wie dem Verschwinden gewohnter Milieus, dem Verlust lebensweltlicher Identitäten, steigenden Mietpreisen, der allgemeinen Lohnentwicklung, Arbeitslosigkeit oder dem Zugang zu Bildungs- und Lebenschancen. Die zweite und genauso wichtige Erklärung findet sich aber mit Sicherheit in der spezifischen europäischen Migrationsgeschichte. Über Jahrhunderte hinweg war Europa der Emigrationskontinent schlechthin gewesen. Die gesellschaftlichen Strukturen, Identitäten und Narrative waren auf Auswanderung gerichtet, genauso wie die politischen Ansätze zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme. Erst ab den 1960er Jahren und innerhalb von 20 Jahren vollzog sich eine „migratorische Wende“, die zunächst das Europa westlich des Eisernen Vorhangs zu einem Einwanderungskontinent wandelte und später auch die Staaten Mittel- und Osteuropas erfasste. All das war Ergebnis einer historisch einmaligen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Erfolgsgeschichte, die das von zwei Weltkriegen zerrüttete Europa zum größten und in allen Bereichen prosperierenden Friedensraum der Welt machte. Mentalitätsgeschichtlich betrachtet war dieser Zeitraum aber offensichtlich zu kurz, um einen ähnlich pragmatischen Umgang mit dem Thema zu erlauben, wie ihn etwa die jahrhundertealten Einwanderungsgesellschaften an den Tag legen können. Europa ist heute genauso Einwanderungskontinent wie Amerika oder Australien, tut sich aber wesentlich schwerer mit der Anerkennung dieser Tatsache als die Letztgenannten. Die europäische Politik kann aus einer solch historischen Betrachtung wichtige Lehren ziehen. Die erste Lehre könnte sein, dass es sich bei Internationaler Migration in Geschichte und Gegenwart um eine niemals endgültig zu lösende, sondern immer wieder aufs Neue und vor dem Hintergrund des jeweiligen Zeitkontextes zu gestaltende Herausforderung handelt. Die zweite Lehre wäre dann, dass die europäische Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der europäischen Migrationsgeschichte spezifische Sichtweisen und Mentalitäten entwickelt hat, die sich von jenen der traditionellen Einwanderungskontinente unterscheiden und die sich nur über längere Zeiträume verändern werden. Vor diesem Hintergrund sollte eine kluge Migrationspolitik einerseits pragmatische Lösungen anstreben, über deren Spielräume sie sich bewusst ist, und angesichts der langfristigen historischen Trends eine gewisse Entspanntheit gegenüber dem Migrationstopos an den Tag legen. Andererseits muss sie sich aber auch bewusst sein, dass Migration in Europa emotionaler und polarisierter betrachtet wird als in anderen Einwanderungsregionen der Welt, und dass die Politik in ihren Maßnahmen und in ihrer politischen Kommunikation einem höheren Bedürfnis an Steuerung und Kontrolle nachkommen muss.
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Identität und Integration Der Beitrag der europäischen Kulturpolitik zum vereinten Europa Stefan Zotti
„Freude, schöner Götterfunken“ – nicht nur im Beethoven-Jahr kommt man an Beethovens „Ode an die Freude“ nicht vorbei, wenn man über Kultur und Europa nachzudenken beginnt. Die Ode ist mittlerweile selbst zu einem Symbol des friedlich geeinten Europas geworden: Schottische Abgeordnete stimmten sie im Februar 2017 während der Abstimmung über das Brexit-Gesetz im britischen Unterhaus an, um ihre Ablehnung des Brexit zu unterstreichen; ebenso sangen ungarische Oppositionelle im März 2019 bei einem der Protestmärsche gegen den autoritären Kurs Viktor Orbáns jene Melodie, die seit 1985 auch als offizielle Hymne der EU dient.1 Die „Ode an die Freude“ ist heute, gemeinsam mit der Europafahne, weit über Europa hinaus zum Symbol für die Integration, aber auch für die dahinterstehenden Werte von Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit geworden. Auch wenn Europa, die Europäische Union weit davon entfernt ist, das „Heiligtum [der Freude]“ zu sein, auch wenn die Geschichte der vergangenen Dekade vor allem eine der Krisen und der oft nur provisorischen Krisenbewältigung war, die kaum Anlass zu feuertrunkener Begeisterung gab: Die Vision, welche die Gründerväter der Union gezeichnet haben, hat für viele Menschen innerhalb und außerhalb Europas nichts an ihrem Glanz eingebüßt. „Alle Menschen werden Brüder“ – es ist schon kein Zufall, dass gerade die „Ode an die Freude“ zum Symbol des vereinten Europas wurde.
1. Europäische Symbole
Als offizielle Hymne der Europäischen Union, wie sie 1985 von den Staats- und Regierungschefs beschlossen und seither als Erklärung der Mitgliedstaaten (nicht aller!) auch 1
Der Beitrag reflektiert die persönliche Sichtweise des Autors und gibt nicht die offizielle Position der Europäischen Kommission wieder. Bereits 1972 erklärte der Europarat die „Ode an die Freude“ zu seiner offiziellen Hymne und nahm damit eine Initiative von Richard Coudenhove-Kalergi auf, der bereits 1955 in einem Brief an den damaligen Pressechef des Europarats, Paul Levy, die „Ode an die Freude“ als Hymne Europas vorschlug.
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Eingang in die Verträge gefunden hat,2 gilt freilich nur die Instrumentalversion der Ode, sie hat bis heute keinen offiziellen Text. Aber vielleicht ist gerade diese Leerstelle einerseits Symbol für die Unvollendetheit des Integrationswerks, andererseits lässt sie genügend Raum, um Beethovens Enthusiasmus weiterzutragen und die politische Vision damit für Dimensionen zu öffnen, die dem normalen politischen Diskurs fremd sind. Politik braucht solche Symbole und lebt selbst von solchen Symbolen. Wer einmal verstanden hat, welche tiefe emotionale Beziehung US-Amerikaner ihrer Flagge gegenüber haben und welch hohe Bedeutung sie ihr als Symbol all dessen, wofür ihre Verfassung steht, zumessen, wird auch verstehen, dass es gerade die EU-kritischen Briten waren, die im Zuge der Diskussionen über eine Verfassung für Europa, sich immer klar gegen europäische Symbole ausgesprochen haben. Denn im verabschiedeten Vertrag über eine Verfassung für Europa von 2004 hätten die Symbole der Union in Artikel I-8 auch eine eindeutige verfassungsrechtliche Grundlage gehabt: „Die Flagge der Union stellt einen Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund dar. Die Hymne der Union entstammt der ‚Ode an die Freude‘ aus der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven. Der Leitspruch der Union lautet: ‚In Vielfalt geeint‘. Die Währung der Union ist der Euro. Der Europatag wird in der gesamten Union am 9. Mai gefeiert.“3 Gerade auch diese Passage und die Angst, dass über staatliche Symbole ein europäischer Superstaat geschaffen würde, waren wesentliche Treiber für die Kritik am Verfassungsvertrag und für sein letztliches Scheitern nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Europahymne und Europafahne – zwei Symbole, an denen sich bis heute die Geister scheiden und die längst Eingang in das allgemeine Set an gesellschaftlichen und politischen Symbolen gefunden haben. Politische Gemeinschaft scheinen solche Symbole zu benötigen, Zeichen, die darauf verweisen, dass es sich eben um mehr als um Zweckgemeinschaften oder eine Wirtschaftsgemeinschaft handelt. Dabei geht es an dieser Stelle noch gar nicht darum, welche Art von nationalstaatlicher Symbolik für eine Gemeinschaft wie die EU notwendig ist oder ob, im Umkehrschluss, die Verwendung von nationalstaatlicher Symbolik einer Entwicklung den Weg bereitet, „der als ein ‚europäisches nation-building‘ 2
3
Erklärung Nr. 52 von Mitgliedstaaten: „Belgien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Spanien, Italien, Zypern, Litauen, Luxemburg, Ungarn, Malta, Österreich, Portugal, Rumänien, Slowenien und die Slowakei erklären, dass die Flagge mit einem Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund, die Hymne aus der ,Ode an die Freude‘ der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven, der Leitspruch ,In Vielfalt geeint‘, der Euro als Währung der Europäischen Union und der Europatag am 9. Mai für sie auch künftig als Symbole die Zusammengehörigkeit der Menschen in der Europäischen Union und ihre Verbundenheit mit dieser zum Ausdruck bringen.“ In: Amtsblatt der Europäischen Union C 326/357, 26.10.2012 Vertrag über eine Verfassung für Europa, in: Amtsblatt der Europäischen Union C 310, 16.12.2004
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bezeichnet werden kann“,4 wie die deutsche Europawissenschaftlerin Ulrike Guérot in ihrem Essay „Was ist die Nation?“ schreibt, in dem sie auch die Frage stellt, ob Europa selbst eine Nation werden kann. Symbole dieser Art sind nicht ausschließlich dem Nationalstaat zu eigen. Vor dem Hintergrund des klassischen Nationalstaats, der traditionell immer auch kulturell beschrieben war und auf eine Kulturgemeinschaft seiner Bürgerinnen und Bürger referenzierte, fällt hinsichtlich der Europäischen Union, die eben als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, auf, dass man sich auch für ihre Symbole der Kultur bediente: der Musik, der Heraldik, eines bestimmten Erinnerungstags und der damit zusammenhängenden Erinnerungskultur. Jean Monnet, einem der Gründerväter der heutigen Union, wird in schöner Regelmäßigkeit das Zitat „Wenn ich nochmals mit dem Aufbau Europas beginnen könnte, dann würde ich mit Kultur beginnen“ unterstellt. Nun gibt es nicht nur keinerlei Belege, dass er dies wirklich gesagt haben könnte, es ist mit Blick auf das historische Einigungswerk auch völlig undenkbar, dass es anders als über den beschrittenen Weg der Vergemeinschaftung kriegswichtiger Güter überhaupt hätte funktionieren können. Und es gibt ebenso keinen Hinweis darauf, dass der Architekt dieses Einigungswerks dies in einer späteren Lebensphase vergessen haben sollte. Eines bleibt an diesem falschen Zitat aber richtig: Je tiefer die Integration vollzogen wird, je mehr Politikbereiche vergemeinschaftet werden, je eher aus der Kohle- und Stahl-Gemeinschaft eine politische Union wird, umso mehr wird Kultur eine Rolle spielen. Nicht deshalb, weil Kultur eben auch irgendwie dazugehört, sondern weil es ab einem gewissen Zeitpunkt um Fragen der Identität geht, um die Frage, welches Bild der Union den Bürgerinnen und Bürgern vermittelt wird, und um die Frage der allgemeinen Akzeptanz und Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dieser Union. Der Brexit drehte sich in seinem Kern ebenso um Identitätsfragen, wie das politische Narrativ der zunehmend illiberalen und EU-skeptischen Regierungen in Ungarn und Polen.5 Wir kennen die seit 2015 wieder neu aufgebrochene Frage nach der Identität westlicher europäischer Gesellschaften aber auch aus Österreich und Deutschland – und in diesen Fällen geht es immer auch um den Bezug zu einer allfälligen europäischen Identität. Nun sind Identitäten selbst nie exklusiv und lassen sich im Regelfall gut in einer Person integrieren. Schwierig wird es dort, wo Identitäten unklar werden, wo sie im schlimmsten Fall gegen bestehende Identitäten konstruiert werden. Die schroffe Ablehnung, die das Konzept der „Vereinigten Staaten von Europa“ regelmäßig erfährt, mag auch seine Wurzel in der Angst haben, dass den bestehenden Nationalstaaten zentrale und wesenseigene Elemente und Identitätsmerkmale weggenommen würden. Die neue Frage nach 4 5
Ulrike Guérot, (2019), Was ist die Nation?, Stuttgart: Steidl, 13 Vgl. dazu u. a. Ivan Krastev/Stephen Holmes, (2019), The Light that Failed. A Reckoning, London: Allen Lane
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der Identität Europas lässt sich dabei auch nicht (nur) akademisch lösen – das gemeinsame Europa muss erfahrbar werden, durch Symbole, durch kulturelle Begegnungen, die den Blick auf das Gemeinsame und Verbindende öffnen. Das kann nur die Kultur lösen! Kultur, hier verstanden als die Summe aller künstlerischen und kulturellen Ausdrucksformen der Menschen, nicht vorschnell eingeschränkt auf den professionellen Betrieb der (längst auch globalen und globalisierten) Hochkultur.
2. Europäische Kultur?
Europäische Länder und Regionen haben sich spätestens seit dem Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert stark über ihre Kultur und ihre Sprache definiert: deutsche Literatur, französische Küche, flämische Malerei oder italienische Opernkunst haben in der Selbstwahrnehmung der aufkommenden Nationalstaaten eine zentrale Rolle gespielt. Aber auch regionale und teilweise lokale Bräuche und Kultur stehen bis heute für die Identität der ansässigen Bevölkerung: die Wiener Musik oder der Fado in Lissabon, regionale Karnevalsbräuche oder Architekturtraditionen haben ihr Umfeld geprägt und sind aus diesem nicht wegzudenken. Aber was ist dann europäische Kultur? Was eint diese vielfältigen nationalen, regionalen und lokalen kulturellen Traditionen in einer Art und Weise, die mehr ist als bloße intellektuelle Abstraktion? Und mehr: Gibt es ein Gemeinsames, das auch stark genug ist, darauf eine europäische Identität aufzubauen? Kultur und identitätsstiftende Kraft lassen sich jedenfalls nicht einfach verordnen, und selbst die engagierteste (kultur-)politische Initiative hätte nicht die Kraft, kulturelle Gemeinsamkeiten herzustellen, die als identitätsstiftend erfahren werden. Aber ist, besser: war, Europa nicht immer schon viel mehr als das Nebeneinander vermeintlich unvermittelbarer nationaler Kulturen? Sind nicht die gemeinsamen Traditionen immer schon das eigentliche Tragende der unterschiedlichen nationalen, regionalen und lokalen kulturellen Ausdrucksformen? Der ehemalige deutsche Bundespräsident Theodor Heuss hat diese gemeinsame Basis in sein berühmtes Bild der drei Hügel gebracht, wobei wir seinen Begriff des „Abendlands“ einfach durch „Europa“ ersetzen können: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“6 Europa ist geprägt von einem gemeinsamen Erlebnishorizont und einer geteilten Geschichte, die oftmals eine Geschichte der (kriegerischen) Auseinandersetzung war. Aber Europa hat eben auch seine gemeinsamen kulturellen und religiösen 6
Theodor Heuss, (1956), Reden an die Jugend, Tübingen: Wunderlich, 32
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Wurzeln: in der griechischen Antike, dem Christentum samt jüdischen und islamischen Einflüssen und dem römischen Staats- und Rechtsverständnis. Diese gemeinsamen Traditionen sind als Tiefendimension der europäischen Integration bis heute bestehend und schaffen jedenfalls eine tragfähige Basis der Verständigung über das Gemeinsame. Ein Blick in die gemeinsame Geschichte offenbart hier nochmals ein ganz anderes Europa als jenes Europa der Nationalstaaten, welches bis heute den Blick auf Grenzen und Abgrenzungen richtet und dabei Gefahr läuft, das Verbindende und Gemeinsame zu übersehen. Denn Europa als offener Raum ist eben keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern war spätestens seit dem Mittelalter die Alltagserfahrung, zumindest einer intellektuellen und politischen Elite. Das mittelalterliche und neuzeitliche Europa war ein offener Raum, in dem Mobilität und Austausch zur Normalität gehörten – auch wenn es in allzu vielen Fällen eine kriegerische Mobilität war und auch wenn der Handel durch eine Vielzahl an Zollregimen behindert wurde. Und dennoch waren die großen Wasserstraßen Europas damals schon zentrale wirtschaftliche Nervenstränge des Kontinents, und der wissenschaftliche Austausch zwischen den Universitäten und den Studierenden der unterschiedlichen nationes war alltägliche Lebenserfahrung einer akademischen (und vielfach zugleich religiösen) Elite. Ulrike Guérot schreibt mit Blick auf diese Zeit: „Insofern gab es keine nationale Kultur, sondern einen europäischen Wissenschafts- und Kulturbetrieb, kurz jene, die das universalistische Gedankengut fördern und sowohl die Naturgesetze als auch die moralischen Gesetze des menschlichen Zusammenlebens erforschen wollten.“7 Dieses offene Europa war die Welt, in der seit dem Mittelalter europäische Geistesgeschichte geschrieben wurde: Thomas von Aquin war ebenso ein Reisender, wie der zwischen Oxford und Paris pendelnde Roger Bacon oder 200 Jahre später Erasmus von Rotterdam, der unter anderem in Paris, London, Venedig, Freiburg und Basel studierte und lehrte. René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und selbst Immanuel Kant, der Königsberg nur ungern verließ – sie alle waren europäische Gelehrte, die in engstem Austausch mit den Denkern ihrer Zeit in ganz Europa standen und die Europa, in modernen Worten, nur als eine Solidargemeinschaft verstehen konnten. Dabei geht es keineswegs darum, das schon damals kleinteilige politische System, die Zerstückelung Europas, aber auch die klar konturierten und teilweise sehr unterschiedlichen und widersprüchlichen philosophischen und künstlerischen Schulen vorschnell zu harmonisieren oder diese Unterschiede gar zu negieren: Europa war nie eine festgefügte Einheit. Aber die Vielfältigkeit beruhte auf einem gemeinsamen Grundverständnis und einem gemeinsamen Grundgerüst an kulturellen, religiösen und philosophischen Ausdrucksformen, die einen (nur zu oft kritischen) Dialog zuließen und Austausch ermög7
Guérot, (2019), 54
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lichten. Hier mag ein Blick in die europäische Architekturgeschichte helfen, das Gemeinte besser zu verstehen: In ganz Europa kennen wir die großen Architekturepochen der Romanik, der Gotik oder des Barock. Und sie folgen klar erkennbaren und abgrenzbaren formalen Regeln, die es nicht schwer machen, romanische Bausubstanz von gotischer zu unterscheiden, teilweise selbst im Rahmen eines einzigen Gebäudes. Diese architektonischen Moden sind zweifellos im Austausch entstanden, es wurde kopiert und abgekupfert, es wurde in ein und derselben Formensprache versucht, sich auch gegenseitig zu überbieten. Dennoch lässt sich die französische Gotik ohne große Probleme von der deutschen Gotik unterscheiden und italienischer Barock sieht anders aus als barocke Architektur in Polen. Regionale, teilweise lokale Unterschiede innerhalb der gemeinsamen Formensprache – nicht uniformierte Einheitlichkeit, aber Gemeinsamkeit, die das gegenseitige Verstehen ermöglicht, ist es, was Europas Kultur ausmacht. Ähnliches ließe sich über die Musik sagen: Auch wenn viele der großen europäischen Komponisten oft lange Zeiten an den Höfen in Wien, Paris und anderswo verbrachten, waren viele davon doch auch regelmäßig auf Konzertreisen und damit Teil einer gesamteuropäischen Musikszene, die – wie die Architektur – einer gemeinsamen Formensprache folgte, die von London bis Rom, von Madrid über Wien bis Moskau verstanden wurde. Und auch hier sind die Unterschiede zwischen italienischen und französischen Opern, dem italienischen Belcanto und der deutschen Nüchternheit klar erkennbar. Waren Kastraten aus der italienischen Musik kaum wegzudenken, fanden diese etwa in Frankreich weniger Anklang. Die Moden mögen unterschiedlich gewesen sein, die gemeinsame Basis war aber jedenfalls gegeben, sodass Formen wie die Oper, geistliche Musik oder auch (später) symphonische Dichtungen europaweit verstanden wurden. Entsprechend waren es zu jeder Zeit auch Komponisten, vereinzelt auch Komponistinnen aus ganz Europa, die innerhalb der Formensprache ihrer Zeit einen Beitrag zum europäischen Kulturerbe leisteten und dieses auch weiterentwickelten. Was wäre die Romantik ohne den Finnen Jean Sibelius, den Polen Frédéric Chopin, den Franzosen Camille Saint-Saëns, die Deutschen Robert und Clara Schumann oder den Österreicher Franz Liszt? Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wäre es aber unverständlich gewesen, den gesamteuropäischen Kontext auszublenden und das künstlerische Schaffen dieser Komponisten (und Interpreten) national zu vereinnahmen. Europäische Kultur ist also nicht gegen regionale und lokale Traditionen zu konstruieren, sondern als das Gemeinsame und Verbindende zu verstehen. Der ehemalige Ratspräsident Donald Tusk wies anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Pécs auf diese gemeinsame kulturelle Formensprache Europas hin, die für ihn den Kern der europäischen Kultur ausmacht: „A European will easily identify what is common for a Portuguese and a Lithuanian, for a Swede and a Croat. Common in the spatial order and
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architecture, music, painting and in metaphysical experience. As different and colourful as we are – as ambiguous and complicated as we are – we all understand the Bible, Homer, Cicero, Cervantes, Dante and Shakespeare. We find ourselves in the music of Bach, Chopin and Liszt, in the paintings of Piero della Francesca and Vermeer. And we all feel good in towns where we can easily find the market square, directing ourselves towards the distant towers of the cathedral and the town hall.“8 Die europäische Stadt, Literatur und Musik, bildende Kunst und Architektur, aber auch gemeinsame politische Traditionen, von den Menschenrechten bis zum liberalen Rechtsstaat – all das sind Symbole einer gemeinsamen Kultur und einer gemeinsamen Geschichte. Dabei darf diese Kultur gerade nicht statisch missverstanden werden, wie es der oftmals verwendete Begriff des „kulturelles Erbes“, auf den wir auch in weiterer Folge stoßen werden, vielleicht verkürzt nahelegen würde: Einerseits ist dieses Erbe eben selbst Gewachsenes, wie sich am Beispiel der politischen Traditionen vielleicht am deutlichsten zeigen lässt, andererseits muss dieses Erbe, um auch heute fruchtbar zu sein, selbst gepflegt und weiterentwickelt werden. Ebenso wie die Volkskultur nicht an einem beliebigen Zeitpunkt in der Geschichte kanonisiert werden darf, sondern einer ständigen Entwicklung unterliegt, muss das kulturelle Erbe in seiner Gesamtheit als offen für neue Entwicklungen verstanden werden. Europas Kultur ist nicht in den Museen dieses Kontinents beheimatet – und wäre sie es, dann wäre sie für die weitere Entwicklung ohne Bedeutung –, sondern muss belebt und gelebt werden. Dies gilt für die politischen Traditionen ebenso wie für künstlerische und (volks)kulturelle Traditionen unseres gemeinsamen Erbes.
3. Eine europäische Kulturpolitik
Angesichts der hohen integrationspolitischen Potenziale von Kultur und kulturellem Austausch, die Europa wieder in seiner Offenheit erfahrbar machen können, spielt Kulturpolitik auf europäischer Ebene bislang nur eine überraschend unbedeutende Rolle. Auch wenn unter den Zielen der Europäischen Union explizit aufgeführt ist, diese wahre „den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas“ (EUV Art. 3 (3)) hat die Union nach Artikel 6 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union nur unterstützende und 8
Donald Tusk, Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Pécs, 8. 12. 2017; unter: https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2017/12/08/acceptancespeech-by-president-donald-tusk-upon-receiving-honorary-doctorate-from-the-university-ofpecs/ (Abruf 11.02.2020)
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koordinierende Kompetenz im Bereich der Kultur, wie auch etwa in der Bildungs- oder Gesundheitspolitik. 9 Artikel 167 AEUV, der „Kulturartikel“ im Vertrag über die Arbeitsweise der Europä ischen Union (Titel XIII), legt die primärrechtliche Grundlage für die kulturpolitischen Aktivitäten der Union. In Paragraph 1 wird die Zielsetzung wie folgt umschrieben: „Die Union leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ (AEUV Art. 167 (1)). Die Ambivalenz zwischen den „Kulturen der Mitgliedstaaten“ und dem „gemeinsamen kulturellen Erbe“ ist augenfällig und mag eine Erklärung für die begrenzten Aktivitäten in diesem Feld sein. Die Angst der Mitgliedstaaten, dass die Union das spezifisch nationale und regionale kulturelle Erbe durch gemeinsame Aktivitäten gleichsam uniformiert, hat hier ihren Ausdruck im Vertrag gefunden. Nicht das gemeinsame Erbe, die europäische Kultur, steht im Vordergrund, sondern das nationale Kulturerbe, das es zu verteidigen gilt. Entsprechend bescheiden nehmen sich auch die im Vertrag vorgesehenen Handlungsfelder einer gemeinsamen Kulturpolitik aus: „Die Union fördert durch ihre Tätigkeit die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und unterstützt und ergänzt erforderlichenfalls deren Tätigkeit in folgenden Bereichen: Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker; Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung; nichtkommerzieller Kulturaustausch; künstlerisches und literarisches Schaffen, einschließlich im audiovisuellen Bereich“ (AEUV Art. 167 (2)). Verbreitung, Schutz des kulturellen Erbes, Austausch und die Förderung kulturellen Schaffens: Diese vier Säulen der europäischen Kulturpolitik werden durch Programme und Initiativen gefördert, auf die noch im Einzelnen einzugehen ist. Die weiteren Teile des Artikels 167 sowie einige andere Regelungen, etwa Ausnahmen für Kulturförderungen vom Beihilfenrecht, die im AEUV ebenfalls getroffen werden, bedürfen an dieser Stelle keiner weiteren Vertiefung. Neben der begrenzten kulturpolitischen Kompetenz der Union – und wohl auch als eine Folge davon – nehmen sich auch die für entsprechende Initiativen und Programme zur Verfügung stehenden Mittel überschaubar aus: In der laufenden Finanzperiode (2014– 2020) stehen für das zentrale Kulturprogramm der EU, „Creative Europe“, gerade einmal 1,46 Mrd. Euro zur Verfügung, was angesichts eines Gesamtbudgets von mehr als einer Billion Euro verschwindend gering ist. Auch wenn die finanziellen Mittel im Sinne des Kommissionsvorschlags für den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027 auf mehr als 1,8 9
Vgl. AEUV, Artikel 6: „Die Union ist für die Durchführung von Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten zuständig. Diese Maßnahmen mit europäischer Zielsetzung können in folgenden Bereichen getroffen werden: a) Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit, b) Industrie, c) Kultur …“
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Mrd. Euro anwachsen dürften,10 ändert das nichts an der kaum wahrnehmbaren Größenordnung im Vergleich mit anderen Politikbereichen. Diese realpolitische Situation spiegelt sich auch in der vielerorts empfundenen politischen Bedeutungslosigkeit des Kulturdossiers innerhalb der Europäischen Kommission wider. Im Vorschlag von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vom September 2019 kam der Begriff Kultur im Dossier der dafür zuständigen bulgarischen Kommissarin Mariya Gabriel zunächst nicht einmal mehr vor („Innovation and Youth“) und wurde erst auf Druck des Europäischen Parlaments im letzten Moment wieder einfügt („Innovation, Research, Culture, Education and Youth“). Wie sieht die europäische Kulturpolitik nun konkret aus, welche Instrumente und Maßnahmen setzen die europäischen Institutionen, vor allem die Europäische Kommission im Bereich der Kultur? Grundsätzlich lassen sich drei Handlungsfelder europäischer Kulturpolitik unterscheiden: der Schutz des kulturellen Erbes, worunter unter anderem die Inventur des Kulturbereichs, aber auch der Kampf gegen illegalen Handel mit Kulturgütern oder Initiativen wie die Kulturhauptstadt zählen; die Förderung der Kreativwirtschaft, etwa durch Förderung der Kompetenzen und des Austauschs junger Kreativer oder der Zugang zu Finanzierung und Märkten; und zuletzt die Förderung des europäischen audiovisuellen Sektors durch die finanzielle Unterstützung der europäischen Filmwirtschaft, aber auch durch die Förderung von Festivals und der allgemeinen Medienkompetenz des Publikums. Seit 2014 werden diese Maßnahmen durch ein gemeinsames Programm, „Creative Europe“, gefördert.11 Dieses Programm verfolgt nach Artikel 3 der diesem Programm zugrunde liegenden Verordnung zwei wesentliche Ziele: „a) [die] Wahrung, Entwicklung und Förderung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt Europas und Förderung des kulturellen Erbes Europas; b) [die] Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Kultur- und Kreativsektors, insbesondere des audiovisuellen Sektors, um intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum zu fördern.“ Diese Ziele werden durch drei Unterprogramme umgesetzt: Das Unterprogramm „MEDIA“, mit 56 % des gesamten Programmbudgets (824 Mio. Euro) der größte Teil des Programms, zielt auf Kompetenz- und Kapazitätsentwicklung audiovisueller Künstler, vor allem vor dem Hintergrund der Digitalisierung des Films ab und fördert, neben dem Kinoverleih und der länderübergreifenden und internationalen Vermarktung, vor allem die Entwicklung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für Filmschaffende sowie die Produktion europäischer Film- und Fernsehproduktionen. 10
11
Vgl. Presseaussendung der Europäischen Kommission „EU Haushalt: Stärkung des europäischen Kultur- und Kreativsektors“ vom 30. Mai 2018; unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_18_3950 (Abruf 12.02.2020) Verordnung (EU) Nr. 1295/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Programms Kreatives Europa (2014–2020); in: Amtsblatt der Europäischen Union L 347/221 vom 20. 12. 2023
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Das Unterprogramm „Kultur“ (455 Mio. Euro) unterstützt den Austausch zwischen Künstlerinnen und Künstlern sowie zwischen einschlägigen Organisationen und Netzwerken. Darüber hinaus werden mit Mitteln dieses Unterprogramms literarische Übersetzungen und Kulturinitiativen wie die Kulturhauptstadt Europas, der Kulturpreis der Union oder das Europäische Kulturerbe-Siegel finanziert. Das dritte Unterprogramm „Sektorenübergreifende Aktionen“ bietet neben einem mit 121 Mio. Euro dotierten Garantiefonds, der Unternehmen und Organisationen im Kultur- und Kreativbereich den Zugang zu Finanzierungen erleichtern soll, verschiedene Initiativen zum länderübergreifenden Austausch über Geschäftsmodelle, organisiert die Erhebung einschlägiger Daten und Analysen des europäischen Kulturbereichs und unterstützt durch Konferenzen und Seminare den kulturpolitischen Dialog und die Förderung von Kultur- und Medienkompetenzen. Es mag der bescheidenen europäischen Kompetenz im Bereich der Kultur geschuldet sein, dass neben der Förderung kultureller Aktivitäten und der grenzüberschreitenden Vermarktung und Vernetzung von Künstlerinnen und Künstlern das Programm eine stark wirtschaftliche Schlagseite hat, vor allem mit dem auch finanziell beachtlichen Schwerpunkt der Förderung der europäischen Filmwirtschaft. So verwundert es auch nicht, dass die Kommission im Vorschlag für das gleichnamige Nachfolgeprogramm („Creative Europe 2021–2027“) neben dem oben genannten Artikel 167 AEUV auch Artikel 173 AEUV, der auf die Förderung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit der Union abstellt, Bezug nimmt. Kultur, so hat es den Anschein, wird in einer solchen Sichtweise nur allzu rasch auf einen (im Übrigen vergleichsweise unbedeutenden) Wirtschaftssektor reduziert, den es im internationalen Wettbewerb durch Förderungen und Finanzierungen zu stärken gilt. Ob damit die integrationspolitischen Potenziale der Kultur und ihre Bedeutung für die in den letzten Jahren politisch so wichtig gewordene Frage nach der europäischen Identität wahrgenommen werden, darf zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. Das bereits angesprochene Nachfolgeprogramm „Creative Europe 2021–2027“ bleibt mit seinen drei Unterprogrammen „Kultur“, „MEDIA“ und „Sektorenübergreifende Aktionen“ im Wesentlichen in der Spur des bisherigen Programms, wenngleich es etwa im Kulturbereich einige spezifische Maßnahmen für die Sektoren Musik, Literatur, Architektur und Kulturerbe gibt und im Medienprogramm neue europäische Video-on-demandPlattformen spezifisch unterstützt werden sollen. Der Garantiefonds fällt im neuen Programm weg; andererseits sollen spezielle Maßnahmen im Bereich der Nachrichtenmedien die Qualität und Unabhängigkeit, vor allem auch in der Auseinandersetzung mit Fake News und der gezielten Unterwanderung des Nachrichtensektors, sichern helfen und so einen Beitrag zur Sicherung der europäischen Demokratie leisten .12 12
Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm Kreatives Europa (2021 bis 2027), COM(2018) 366 vom 30. 5. 2018
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4. Kultur und Identität
Kann europäische Kulturpolitik aber wirklich nicht mehr sein, als die Förderung eines wichtigen, wenngleich in seiner ökonomischen Bedeutung begrenzten Wirtschaftssektors? Der europäische Sozialgipfel von Göteborg im November 2017 brachte auch für die Kulturpolitik eine Neuakzentuierung, welche die Kultur stärker hinsichtlich ihrer integrations- und identitätspolitischen Potenziale in den Blick nahm. Schon der Titel der Kommissionsmitteilung: „Stärkung der europäischen Identität durch Bildung und Kultur“ nimmt diesen Gedanken auf. „Zum Nachdenken über unsere Zukunft“, so die Kommission, „gehört auch ein Nachdenken über die Stärke unserer gemeinsamen Identität. … Daher haben führende Vertreter der EU und der Mitgliedstaaten beschlossen, am 17. November 2017 in Göteborg zusammenzukommen, um die künftige Rolle von Bildung und Kultur bei der Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls und des Bewusstseins der Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gemeinschaft zu erörtern.“13 Zwei inhaltliche Neuerungen fallen dabei auf: Einerseits nimmt die Europäische Kommission das Thema der Identität auf, welches spätestens seit der Migrationskrise 2015 den politischen Diskurs in vielen Mitgliedstaaten prägte, und verbindet es mit der europäischen kulturellen Gemeinschaft, die hier, anders etwa als noch im Vertrag, als eine Gemeinschaft und nicht als die Summe der nationalen Kulturen benannt wird. Andererseits tritt die Frage der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Kultursektors gegenüber sozialen und integrationspolitischen Aspekten, die als „Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls“ angesprochen werden, deutlich zurück. An anderer Stelle heißt es: „Die kulturelle Vielfalt Europas ist eine Stärke, durch die Kreativität und Innovation gefördert werden, und sie stellt gleichzeitig einen gemeinsamen Kern dar, der die Besonderheit der europäischen Lebensart begründet. Bildung und Kultur sind von zentraler Bedeutung dafür, dass Menschen i) sich über Grenzen hinweg besser kennenlernen und ii) erleben und sich bewusst sind, was es bedeutet, ‚europäisch‘ zu sein. Das Verständnis und die Bewahrung unseres kulturellen Erbes sowie unserer Vielfalt bilden die Voraussetzung für das Weiterbestehen unserer Kulturgemeinschaft, unserer gemeinsamen Werte und unserer gemeinsamen Identität.“14 Diese Verbindung von Kultur und Identität ist jedenfalls neu im Kulturverständnis der EU und rückt die Kulturpolitik damit ins Zentrum der politischen Diskussion über die Zukunft des gemeinsamen Europas, das sich immer wieder seiner selbst versichern muss. 13
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Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der europäischen Identität durch Bildung und Kultur. Beitrag der Europäischen Kommission zum Gipfeltreffen in Göteborg am 17. November 2017, COM(2017) 673, 14.11.2017, 2 Ebd., 4
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Wenige Monate später veröffentlichte die Kommission ihre neue strategische Agenda für die Kultur, welche die Impulse des Sozialgipfels aufnimmt: „Das reiche Kulturerbe Europas sowie seine dynamische Kultur- und Kreativwirtschaft stärken die europäische Identität, indem sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen. Die Kultur fördert bürgergesellschaftliches Engagement, gemeinsame Werte, Inklusion und den interkulturellen Dialog innerhalb Europas und in der ganzen Welt. Sie bringt Menschen – auch neu angekommene Flüchtlinge und andere Migranten – einander näher und trägt dazu bei, dass wir uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen.“15 Entsprechend stellt die Kommission in den strategischen Zielen der neuen europäischen Kulturpolitik auch die soziale Dimension voran, die unter anderem auf die „Förderung der kulturellen Entwicklungschancen aller Europäerinnen und Europäer durch ein vielfältiges Angebot an kulturellen Aktivitäten und Möglichkeiten, aktiv daran teilzunehmen“16 abzielt; die wirtschaftlichen und außenpolitischen Ziele ergänzen diese Strategie, werden aber erst danach genannt. Nun mag die Frage erlaubt sein, inwieweit sich diese strategische Neuausrichtung der Kulturpolitik und die Betonung der integrations- und auch sozialpolitischen Dimension von Kultur in dem nur eine Woche später veröffentlichten Vorschlag für das neue Kulturprogramm Creative Europe (2021–2027) niederschlägt und die entsprechenden Erwartungen eingelöst werden – inhaltlich ist jedenfalls zu begrüßen, dass das Kulturverständnis der europäischen Institutionen breiter geworden ist und Kultur und Bildung mit Blick auf die politischen Diskussionen in vielen Mitgliedstaaten eine deutlich höhere politische Bedeutung zuerkannt bekommen. Aber auch dieses Verständnis von Kultur bleibt ein instrumentelles, welches Kultur nun nicht bloß auf seine wirtschaftliche, sondern auch auf eine soziale beziehungsweise integrationspolitische Funktion reduziert. Wie aber steht es um die Selbstzwecklichkeit kultureller Ausdrucksweisen, die sich jeder Instrumentalisierung immer schon entzieht? Oder ist es eine dem politischen System geschuldete Reduktion, welche Kulturpolitik dazu drängt, den instrumentellen Wert vor den Eigenwert zu stellen, weil durch die wesentlichen politischen Instrumente – Rechtssetzung, finanzielle Förderung – kulturelle Aktivitäten bestenfalls unterstützt, nie aber geschaffen werden können? Und muss in einer liberalen Demokratie, welche die Freiheit der Kunst hochhält, die Politik nicht auch so weit wie möglich aus dem künstlerischen und kulturellen Schaffen herausgehalten werden, gerade um diese Freiheit zu sichern?
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Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine neue europäische Agenda für Kultur, COM(2018) 267, 22.05.2018, 1 Ebd., 3
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Wenn also eine gewisse politische Instrumentalisierung der Kultur durch die Politik als notwendiger Kompromiss jeder Kulturpolitik akzeptiert werden kann, muss abschließend gefragt werden, wie eine europäische Kulturpolitik gestaltet sein muss, um ihre integrations-, aber auch sozial- und wirtschaftspolitischen Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Und das tunlichst, ohne die bestehende europäische Kulturbürokratie, die Robert Menasse in seinem Buch „Die Hauptstadt“ treffend karikiert, weiter zu vergrößern, aber sie auch nicht auf eine reine Geldverteilungsmaschinerie ohne eigenständige kulturpolitische Interessen zu reduzieren. Dass es auch nicht darum gehen kann, eine europäische Einheitskultur auf Kosten regionaler und nationaler Traditionen zu schaffen, versteht sich dabei von selbst: Die in der Mitteilung zum Sozialgipfel angesprochene „kulturelle Gemeinschaft“ bedeutet eben gerade keine Neuschaffung einer künstlichen europäischen Kultur, sondern zielt auf das gemeinsame Erbe und die gemeinsamen kulturellen Wurzeln ab, auf die weiter oben eingegangen wurde. Das Leitmotiv der Union: „in Vielfalt geeint“ trifft wohl kaum in einem anderen Bereich so zu, wie in der Kultur und beschreibt die Dialektik zwischen regionalen Traditionen als konkrete Ausformung des gemeinsamen Erbes und dem in diesen Einzeltraditionen zum Ausdruck kommenden Gemeinsamen. Nicht zuletzt kann es einer europäischen Kulturpolitik auch nicht darum gehen, bestehende Kulturförderungen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene einfach zu verdoppeln. Eine europäische Kulturpolitik, die einen Beitrag zur Stärkung der europäischen Identität und damit zur Vertiefung der Integration leisten will, wird daher in erster Linie darauf abzielen, den kulturellen Reichtum europaweit sichtbar und damit die „geeinte Vielfalt“ erlebbar zu machen. In der Erfahrung anderer europäischer Traditionen das Gemeinsame und Verbindende zu entdecken, wird ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl und ein intensiveres Verständnis der gemeinsamen europäischen Identität schaffen, als dies der Binnenmarkt oder selbst die gemeinsame Währung je vermochte. Andererseits haben solche Begegnungen und Erfahrungen das Potenzial, das Verständnis für die Vielfältigkeit europäischer Lebensentwürfe und kultureller Ausdrucksweisen zu erhöhen und auch neuen kulturellen Einflüssen Raum zu geben, die idealerweise als Bereicherung und nicht als Gefährdung des Bestehenden erlebt werden können. Denn eines ist auch klar: Wenn wir von europäischer Identität reden, muss immer bewusst sein, dass es diese nicht in der Einzahl gibt, genauso wenig, wie es den Österreicher, den Franzosen oder den Deutschen gibt. Möglicherweise erlaubt aber gerade die Kultur, diese Multidimensionalität europäischer Identität besser zu verstehen. Kulturelle Vielfalt kann sich aber nicht allein auf das unterschiedliche kulturelle Erbe Europas beziehen, so sehr dessen Bewahrung bis heute eine zentrale Rolle in der europäischen Kulturförderung hat. Vielmehr muss es auch darum gehen, im Austausch neue Formen des künstlerischen und kulturellen Ausdrucks zu finden und das Erbe entsprechend
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fruchtbar zu machen. Insofern ist es zu begrüßen, dass im künftigen Kulturprogramm auch neue und gegebenenfalls kunstsektorenübergreifende Formen des kreativen Arbeitens unter dem Titel „Labor für kreative Innovationen“ gefördert werden. Eine zukunftsorientierte europäische Kulturpolitik muss auch Anstöße geben und Räume für innovative und riskante Projekte eröffnen. Selbstverständlich brauchen Kunst und Kultur auch lebendige Märkte und Absatzmöglichkeiten. Entsprechende Initiativen, um einen europäischen Kunstmarkt zu schaffen und gerade jungen Künstlerinnen und Künstlern grenzüberschreitend Zugang zu diesen Märkten zu verschaffen, ist für die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit und damit die dauerhafte Unabhängigkeit und Freiheit der Kultur eine zentrale Herausforderung. Dabei bleibt immer zu fragen, welchen konkreten Nutzen („European added value“) einzelne Interventionen haben und ob eine zu starke Fokussierung des Fördersystems, etwa auf die Filmwirtschaft, nicht Gefahr läuft, spannende kulturelle Neuansätze zu übersehen. So sehr es wünschenswert und auch aus kulturpolitischen Überlegungen vernünftig ist, eine kreative und lebendige europäische Filmszene zu haben, kann doch kritisch hinterfragt werden, ob mehr als 50 Prozent des gesamten europäischen Kulturbudgets dafür sinnvoll und notwendig sind. Europa ist bis heute einer der fruchtbarsten Kulturräume der Welt und hat damit in den letzten Jahrhunderten einen unschätzbaren Beitrag zum kulturellen Erbe der Menschheit geleistet. Umso mehr mag es verwundern, dass Kulturpolitik bis heute auf der europäischen Ebene ein Schattendasein führt. Es bleibt zu hoffen, dass die in Göteborg eröffnete Diskussion um die Identität Europas und den Beitrag, den Bildung und Kultur zur Beantwortung dieser Frage leisten können, neue Anstöße zu einem gesamteuropäischen Bemühen um eine aktivere Kulturpolitik geben kann. Mit Blick auf die europäische Integration wird oftmals das Fehlen einer Seele dieser Union kritisiert. Gerade hier kann Kultur einen eigenständigen, unersetzbaren und unverzichtbaren Beitrag leisten, das gemeinsame Erbe und die darauf aufbauende Identität Europas sichtbar und verständlich zu machen – und damit Europa eine Seele zu geben. Der französische Präsident Emmanuel Macron wies auf diese Potenziale der Kultur bereits in seiner Europa-Rede an der Sorbonne im Herbst 2017 hin: „Was Europa am stärksten zusammenhält, werden immer die Kultur und das Wissen sein. Denn dieses Europa, in dem jeder Europäer sein Schicksal im Profil eines griechischen Tempels oder im Lächeln der Mona Lisa erkennt, der durch die Werke von Musil und Proust in die Empfindungen ganz Europas hineinspüren konnte, dieses Europa der Cafés, von dem Steiner sprach, dieses Europa, von dem Suarès sagte, es sei ‚ein Gesetz, eine Geisteshaltung, eine Gewohnheit‘, dieses Europa der Landschaften und Folklore, von dem Erasmus, den man als seinen Lehrmeister bezeichnete, sagte, dass man jeden jungen Menschen dazu auffordern müsse, ‚den Kontinent zu durchstreifen, um andere Sprachen
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zu lernen‘ und ‚sein wildes Naturell abzulegen‘, dieses Europa, das von so vielen Kriegen und Konflikten heimgesucht wurde, was dieses Europa zusammenhält, ist seine Kultur.“17 Der europäische Integrationsprozess ist heute an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr reicht, die wirtschaftlichen Vorteile zu preisen, sondern an dem die Bürgerinnen und Bürger spüren, dass Europa am Scheideweg steht, dass darin aber auch die Chance liegt, dass wirklich Neues entstehen kann. Dafür braucht es aber Klarheit über die Identität dieses Neuen und die Konsequenzen, die das für die Identität der Bürgerinnen und Bürger hat, die nicht mehr bloß als Konsumenten, Arbeitnehmer und Wirtschaftssubjekte, sondern als Europäerinnen und Europäer angesprochen sind. Eine solche Antwort kann aber die Politik, nicht (allein) geben, hier ist die Kultur in all ihren Ausdrucksformen gefordert, die immer schon von den großen Fragen der Menschen getrieben war. Wer sind wir als Europäer? Die Antwort auf diese Frage wird uns die Musik, die Literatur, die darstellende und die bildende Kunst, die Architektur und die Wissenschaft, kurz: die Kultur geben.
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Emmanuel Macron, „Initiative für Europa“. Rede an der Sorbonne vom 26. September 2017; unter: https://de.ambafrance.org/Initiative-fur-Europa-Die-Rede-von-Staatsprasident-Macronim-Wortlaut (Abruf: 14.02.2020)
Christliche Werte in Recht und Politik – eine Tour d’ Horizon Theresa Philippi
1. Einleitung
„Die Menschenrechte und Grundfreiheiten sind letztlich säkularisiertes Christentum“, stellte der große Jurist und praktizierende Christ Univ.-Prof. Dr. Heinz Krejci anlässlich seiner Festrede am Weihnachtskommers der katholischen Studentenverbindung Norica am 15.12. 2012 fest. „Das Anliegen Jesu war, uns Erlösung und Heil von all dem zu bringen, was wir einander ständig gegenseitig antun. Wir bräuchten die empfangenen Anleitungen nur ernst zu nehmen und zu befolgen – und das Reich Gottes könnte sich zum Wohle aller über die ganze Erde ausbreiten. Noch weit mehr, als das in Ansätzen allemal bereits der Fall ist. Wir bräuchten nur die ,Goldene Regel‘ einhalten und unsere Nächsten lieben wie uns selbst, die zehn Gebote achten und unsere Neigung zu all den schlechten Eigenschaften nachhaltig bekämpfen, die wir alle nur zu gut kennen. All das zu schaffen, ist eine schwere Aufgabe und Bedingung, um das Reich Gottes zu errichten. Am Reich Gottes ist immer noch zu bauen. Bei sich selbst muss man beginnen. Das Reich Gottes liegt nicht auf einem anderen Stern; es ist nicht zu verwechseln mit dem Himmelreich des Jenseits. Es ist in jedem Einzelnen von uns angelegt und sollte in jedem Einzelnen von uns zur Entfaltung gelangen. Und Gleichgesinnte sollten sich bemühen, es durch gemeinsames Wirken auszubauen. Auch wir sind dazu da.“1 Hatte der geistreiche und verehrte Professor, der auch mir einst das Handelsrecht am Wiener Juridicum näherbrachte, recht? Mit seinem Appell, die zehn Gebote einzuhalten und das Reich Gottes in uns zur Entfaltung zu bringen, ganz sicher. Aber wie ist es um seine Aussage bestellt, dass es sich bei den in Österreich im Verfassungsrang stehenden Menschenrechten und Grundfreiheiten um die ins Weltliche übersetzten Werte des Christentums handelt? Wie passt diese These zu einer Rechtsordnung, die seit der Gründung der Zweiten Republik von der Trennung von Kirche und Staat geprägt ist? Hatte Hans 1
Krejci, Heinz: „Woher kommt er? Wer ist er?“ Festrede anlässlich des Weihnachtskommers e.v. K.A.V. Norica im Niederösterreichischen Landhaus am 15.12.2012; Quelle: Georg Krejci
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Kelsen trotz seiner rechtspositivistischen Ausrichtung2 – möglicherweise unbewusst – doch die christlichen Werte vor Augen, als er am Beginn der Ersten Republik die – in jüngster Zeit vor allem wegen ihrer „Schönheit und Eleganz“ gerühmte – österreichische Bundesverfassung schuf? Wo und wie finden die christlichen Werte ihre Entsprechung in der österreichischen Rechtsordnung? Wie steht es um die christlichen Werte im europäischen Rechtsrahmen, mehr als ein Jahrzehnt nach dem letzten Versuch, der Europäischen Union eine Konstitution zu geben, und den damit einhergehenden Diskussionen3 um die Gottesanrufung in ebendieser Verfassung? Im vorliegenden Beitrag soll zunächst der Versuch unternommen werden, dem Christlichen in der Geschichte, Rechtsordnung und Politik Österreichs und der Europäischen Union nachzuspüren und einige Schlaglichter auf Konzepte, Quellen und Nachweise zu werfen. Gedanklicher Ausgangspunkt ist dabei der Beitrag von Korinek und Gutknecht in der Festschrift für Wolfgang Mantl zum Thema „Christliche Werte in der österreichischen Verfassung“4, die ich in Ausschnitten vorstelle und zitiere und mit eigenen Überlegungen und einem Exkurs ergänze. Nach einer Darstellung der Merkmale christlich inspirierter Politik beschäftige ich mich mit Persönlichkeiten, die sich der Nachfolge Jesu in der Welt verschrieben haben: Politische Christen und christliche Politiker beiderlei Geschlechts und jenen, die durch ihre Ideen und Ausführungen andere zum christlichen Tun inspiriert haben, sollen in Zitaten zu Wort kommen, und ihr Wirken soll skizziert werden.
2. Die österreichische Rechtsordnung
Als Studentin an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien wurde mir von den zu Beginn der 1990er Jahre noch lehrenden Ausläufern der „Reinen Rechtslehre“ erklärt, dass die der Verfassung zugrunde liegende „Grundnorm“ inhaltlich leer und mit 2
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Den Rechtspositivismus charakterisiert die Auffassung, dass Recht und Moral zwei völlig getrennte Konzepte seien bzw. in einer Extremposition, dass das Recht in seinem Geltungsanspruch völlig unabhängig von moralischen Forderungen sei und auch keiner moralischen Rechtfertigung bedürfe, sondern als „verpflichtende Sollensordnung“ unabhängig von ihren Inhalten zu akzeptieren sei. Vgl. dazu Korinek, Karl, Christliche Werte in der Verfassung, Vortrag in der Schottenpfarre am 26. 4. 2010, www.schottenpfarre.at Vgl. Tettinger, Peter J.: „Christliche Werte in der europäischen Grundrechtediskussion“, J. P.Bachem, 2002, S. 5 Korinek, Karl/Gutknecht Brigitte: „Christliche Werte in der österreichischen Verfassung“ in Kopetz/Marko/Poier (Hg.): „Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat“, Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Böhlau 2004, S. 81 ff.
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den jeweiligen Wertungen einer Gesellschaft zu füllen sei. Danach folgte noch ein vage gehaltener Hinweis auf das demokratische Prinzip. Ich habe mich mit diesem Bild eines Vakuums, auf dem doch die wichtigsten Regeln für unser Zusammenleben im Staate Österreich beruhen sollen, nie abfinden können. Es ist daher nicht nur intellektuell reizvoll, einen Nachweis dafür zu erbringen, dass die christlichen Werte eine Entsprechung im positiven Recht finden. Diesen Versuch zu wagen, mildert zusätzlich ein Unbehagen, das mich auch viele Jahre nach Ende des Jus-Studiums nie ganz verlassen hat. Am Ende seiner Schrift „Was ist Gerechtigkeit?“5 räumt Kelsen ein, die im Titel zum Ausdruck kommende Frage nicht beantwortet zu haben. Absolute Gerechtigkeit sei ein „schöner Traum der Menschheit“, er müsse sich selbst aber mit einer „relativen Gerechtigkeit“ begnügen, der Gerechtigkeit der Freiheit, (…) des Friedens, der Demokratie, der Toleranz“.6 Korinek und Gutknecht beziehen sich unter anderem auf ebendiese Werte, wenn sie argumentieren, „dass in einer Verfassungsordnung, welche die Freiheit und Würde der Person garantiert, den Gleichheitsgrundsatz gewährleistet und auf den verfassungsmäßigen Prinzipien von Demokratie , Gewaltenteilung und Rechtsstaat, der grundsätzlichen Trennung von Staat und Gesellschaft, dem Prinzip der rechtlichen Gebundenheit des Staates und der Garantie einer grundsätzlich marktwirtschaftlichen Ordnung aufbaut, es aber ermöglicht, diese im Interesse des Gemeinwohls zu lenken, jene Inhalte nachgewiesen werden können, die man mit den Prinzipien der christlichen Staats- und Gesellschaftslehre, also mit Menschenwürde, Solidarität und Subsidiarität und mit der christlichen Auffassung von Gerechtigkeit in Verbindung bringt“.7
3. Gerechtigkeit und Freiheit als Ausdruck der Menschenwürde
Die Menschenwürde hat ihre Wurzel in der Imago-Dei-Lehre, also in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der als Abbild Gottes geschaffen wurde und folglich mit Würde und zu respektierender Personalität ausgestattet ist. Entsprechungen im positiven Recht finden sich in der „Zentralnorm“ des § 16 ABGB: „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte“ und in der in Verfassungsrang stehenden Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention, die auf die Allgemeine Erklärung der
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6 7
Vgl. Adamovich, Ludwig: „Bemerkungen zu Hans Kelsens Schrift „Was ist Gerechtigkeit?“ in Kopetz/Marko/Poier (Hg.): „Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat“, Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Böhlau 2004, S. 3 Ebenda, S. 11 Korinek, Karl/Gutknecht Brigitte: a.a.O.
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Menschenrechte der UNO verweist.8 Ein gleichlautender Schluss kann für die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union9 gezogen werden, welche in den Mitgliedstaaten direkte und unmittelbare Wirkung10 hat. Gleichheit wurde schon von Aristoteles als „Kern der Gerechtigkeit“ bezeichnet. Jesus widmet der Gerechtigkeit zwei Seligpreisungen:11 Er verheißt jenen, die „hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“, dass sie satt werden, und jenen, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, dass ihnen das Himmelreich gehören werde. Einen stärkeren Nachweis für einen christlichen Wert kann man sich kaum wünschen. Das juristische Denken leitet aus dem Streben nach Gerechtigkeit ein Diskriminierungsverbot im Sinne des Verbotes unsachlicher Differenzierungen ab. Die konkrete Ausformung und Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist, beschäftigt uns bis heute. Das österreichische Gleichbehandlungsgesetz und die Gleichbehandlungsrichtlinien der Europäischen Union werden in unserer modernen Arbeitswelt und Gesellschaft nicht nur von der Gerichtsbarkeit ausgelegt und für die Rechtsprechung angewandt. Staatliche Institutionen wie die österreichische Gleichbehandlungsanwaltschaft und ihr europäisches Netzwerk Equinet12 tragen zur Konkretisierung bei, indem sie Menschen dabei beraten und unterstützen, ihr Recht auf Gleichbehandlung durchzusetzen13. Inhalte der Beratungstätigkeit sind die Gleichbehandlung und Gleichstellung von Frauen und Männern und die Gleichbehandlung ohne Unterschied der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der Weltanschauung, des Alters und der sexuellen Orientierung. Die aus der Beratung gewonnene Expertise wird in Berichten anonymisiert und in Veranstaltungen und durch Netzwerke an die Öffentlichkeit weitergegeben. Dadurch trägt die Gleichbehandlungsanwaltschaft zur Weiterentwicklung der rechtlichen Standards und zur Verbesserung der gesellschaftlichen Situation im Sinne der Wertschätzung von Vielfalt und der Verringerung von Diskriminierung bei. Dies stärkt wiederum die Freiheit des/der Einzelnen, welche – und hier schließt sich der gedankliche Kreis – Ausdruck der Menschenwürde ist.
8 Ebenda, S. 84 Amtsblatt der EU 2007/C 303/01 9 10 Vgl. EuGH 6.11.2018 verb Rs C-569/16 undC-570/16 Maria Elisabeth Bauer 11 Mt 5,6; 5,10 12 https://equineteurope.org/ 13 Vgl. Philippi, Theresa: „Die Umsetzung des europäischen Antidiskriminierungsrechts. Weichenstellung und Impuls für die Weiterentwicklung der österreichischen Gleichbehandlungsinstitutionen“, in: Feigl/Konstatzky (Hg.): „Auf dem Weg zur Gleichbehandlung“, Festschrift für Ingrid Nikolay-Leitner, ÖGB-Verlag 2018, S. 230 ff.
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4. Staatliche Schutzpflichten aktuell interpretiert: Vom Daten- und Klimaschutz bis zur Bekämpfung des Menschenhandels
Der fundamentale Rechtsgrundsatz der Menschenwürde schließt aus, dass ein Mensch jemals als bloßes Mittel für welche Zwecke auch immer betrachtet und behandelt wird. Daraus werden – so Korinek/Gutknecht „staatliche Schutzpflichten zur Sicherung der Grundrechte abgeleitet, die der komplexen modernen Gesellschaft entsprechend zu immer größeren Herausforderungen für den Staat, der sie erfüllen soll, werden“. Die Risiken, die sich beispielsweise aus der Verletzung der Vertraulichkeit für die Freiheit Einzelner ergeben, wachsen mit dem technologischen Fortschritt. Die Europäische Union hat mit der Datenschutzgrundverordnung 2017 ein Rechtsinstrument in Geltung gesetzt, das dem Individuum Schutz vor Missbrauch und Verletzung bieten und eine rasche und vollständige Durchsetzung von Betroffenenrechten wie jenem auf Auskunft über die und Löschung der gesammelten Daten gewährleisten soll. Die Androhung empfindlich hoher Geldstrafen hat ihr auch den Respekt der Normadressaten und eine verhältnismäßig hohe Aufmerksamkeit für die Schaffung der erforderlichen Rahmenbedingungen auf Unternehmerseite eingebracht. Zur tatsächlichen Sicherung des Datenschutzes ist die Zusammenarbeit von Recht, Technik und Organisation gefordert. So verlangt es die Datenschutzgrundverordnung – und ist damit ein Beispiel für eine moderne Rechtsnorm, die in sich selbst die Grenzen des Rechts anerkennt und andere Disziplinen zur Sicherung eines Grundrechts heranzieht. Gefordert ist aber auch der Einzelne in der Doppelrolle als Verarbeiter von Daten und Betroffener von Datenanwendungen anderer – ganz im Sinne einer christlichen Verantwortungsethik. Ein anderes, noch schreckensbildhafteres Beispiel ist die akute Bedrohung der Menschenwürde durch das organisierte Verbrechen des Menschenhandels, das in den letzten Jahren Millionen Menschen in sklavenähnlich ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und vornehmlich Frauen in die Sexarbeit gezwungen hat. Auch hier reagiert der Staat in Kooperation mit der Zivilgesellschaft14 durch polizeiliche Zusammenarbeit und Bewusstseinsbildung weit über die Grenzen von Recht und Gerichtsbarkeit hinaus.15 Obwohl der Umweltschutz bereits in den 1990er Jahren nicht nur eine flankierende Politik zum Binnenmarkt der damals noch als Europäische Gemeinschaft verfassten EU wurde und beispielsweise in der vom Christdemokraten Vizekanzler a. D. Josef Riegler konzipierten „öko-sozialen Markwirtschaft“ ein eigenes ordnungspolitisches Prinzip er14 15
Stellvertretend für viele sei hier auf die deutsche Ordensfrau und Gründerin der Hilfsorganisation SOLWODI, Lea Ackermann verwiesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Lea_Ackermann Vgl. Die Website der Taskforce gegen Menschenhandel im Außenministeriumhttps://www. bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/Zentrale/Aussenpolitik/Menschenrechte/Nationaler_Aktionsplan_2018-2020.pdf
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hielt, ist die schon lange als Notwendigkeit erkannte Umwandlung vom linearen Wachstum in nachhaltige Entwicklung nicht gelungen. Den Auftrag der Bewahrung der Schöpfung und die daraus resultierende ethisch-spirituelle Handlungsanleitung haben wir, global betrachtet, nicht eingelöst, und es ist fraglich, ob der Klimawandel uns noch ausreichend Zeit für ein weiterreichendes Umdenken und eine adäquate Änderung unseres Verhaltens lässt. Stellvertretend für viele andere Krisenherde sei das Gebiet Amazonien genannt, in dem die verheerenden Auswirkungen von Rodung und Brand auf die CO2Emissionen und die praktischen Bedürfnisse nach Neuorganisation des kirchlichen Lebens parallel und besonders deutlich zutage treten.16
5. Demokratie
Auch der Art.1 B-VG, der in programmatischer Weise festlegt, dass Österreich eine demokratische Republik ist, entspricht einem christlichen Wert, nämlich dem des Menschen im „status activus“ der Mitgestaltung an der Staatswillensbildung, der mit freiem Willen ausgestattet, für sein Handeln verantwortlich ist.17 Die demokratische Ordnung stellt, so Papst Pius XII. in seiner berühmt gewordenen Weihnachtsansprache von 1944, hohe sittliche Anforderungen an den Einzelnen. Es hänge vom moralischen Charakter und Verantwortungsgefühl der Bürger ab, ob die Demokratie gelingen kann. (…) Für diejenigen, die im Auftrag des Volkes zu regieren haben, nennt Pius XII. drei Voraussetzungen für ihr Tun: Sie müssen erkennen, worauf ihre Autorität beruht, sie müssen den sittlichen und geistigen Anforderungen an Träger öffentlicher Gewalt entsprechen und sie müssen ihre Bindung an das Recht erkennen und anerkennen. Zum Verhältnis Christentum und Demokratie siehe auch unten die Zitate aus den Schriften von Robert Schuman. Damit schließe ich mein Exzerpt aus den von Korinek und Gutknecht eindrucksvoll erbrachten Nachweisen der christlich-ethischen Dimension in der österreichischen Verfassung, die die eingangs zitierte These, dass das Recht säkularisiertes Christentum sei, untermauern. Im nächsten Abschnitt geht es darum, wie christliche Wertvorstellungen, das Bemühen um die Nachfolge Jesu im politischen Handeln erfahrbar werden können.
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Vgl. Kräutler, Erwin: „Erneuerung jetzt“ – Impulse zur Kirchenreform, Tyrolia 2019 Korinek, Karl/Gutknecht Brigitte: „ Christliche Werte in der österreichischen Verfassung“, in: Kopetz/Marko/Poier (Hg.): „Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat“, Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Böhlau 2004, S. 89
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6. Woran erkennt man christlich inspirierte Politik?
Dieser Frage bin ich im Jahr 2007 auf Einladung der „Christlichsozialen Initiative“ nachgegangen. „Woran würden wir Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass der Heilige Geist stärker im politischen Handeln weht, was wäre anders, leichter, besser, wohltuender?“ wollte ich schon damals wissen und unternahm den Versuch, diese christliche Politik in Leitsätzen zu beschreiben. Es ist mir ein Anliegen, dem vorliegenden Beitrag auch meine eigenen Überlegungen, die ich zum damaligen Zeitpunkt noch vor dem Hintergrund meines politischen Engagements anstellte, anzufügen. Daher folgt eine Zusammenfassung meiner damaligen Versuche einer Beschreibung „christlich inspirierter Politik“18:
Christliche Politik stärkt die Schwachen
Christlich motivierte Politik muss danach trachten, das Dilemma zwischen Glaube und Gehorsam (gegenüber staatlichen Anweisungen, Anm.) erst gar nicht zu erzeugen. Jesus hat – ohne selbst einen formalen Machtanspruch zu erheben – vorgelebt, was Zuwendung zum einzelnen Menschen und Respekt vor der Person an Veränderung und Heilung in einer Gesellschaft erzeugen kann. Es waren seine Jünger, die am Palmsonntag ihre Mäntel vor ihm ausbreiteten und seinen Einzug in Jerusalem wie den eines Königs gestalteten, was die aus dem Evangelium bekannten gewalttätigen Reaktionen der römischen Machthaber auslöste. Politische Christen und christliche Politiker haben in Jesus ein leuchtendes Vorbild der Zuwendung und Hingabe an den Menschen und den Trost und die Bestätigung, die im Glauben an seine Auferstehung liegt. Christlich motivierte Politik ist daher inhaltlich immer soziale, der Ausgrenzung und Verarmung entgegenwirkende Politik. Hildegard Burjan, die erste weibliche Abgeordnete der Christlich-Sozialen mit ihrem Kampf für die Rechte der Heimarbeiterinnen und der Gründung der „Caritas Socialis“, ist dafür ebenso ein Beispiel wie Leopold Kunschak, der Gründer der christlichen Arbeiterbewegung, der sich (im Gegensatz zur klassenkämpferischen sozialistischen Arbeiterschaft) als integraler und gleichberechtigter Teil der kapitalistischen Gesellschaft begreifen wollte. Jesus hat sich in seinem Wirken nicht nur von den zu seiner Zeit Herrschenden, sondern auch von der herrschenden gesellschaftlichen Meinung abgehoben. Er hat sich jenen zugewandt, die – aus welchen Gründen auch immer – abseits der Gesellschaft standen: Mit der gleichen Radikalität, wie er zu den Aussätzigen (Leprakranken) ging und sie heilte, beschäftigte er sich auch mit dem verhassten Zöllner Zacharias und brachte ihn dadurch 18
Philippi, Theresa: „Christlich inspirierte Politik und woran man sie erkennt“, in: Brücken bauen: Christlichsoziale Initiative, Residenz, 2007, S. 153 ff.
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zur Umkehr. Konsequenterweise machte er Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, zu den ersten Zeuginnen und Botschafterinnen seiner Auferstehung, obwohl Frauen damals nur sehr eingeschränkt rechtsfähig und vor Gericht nicht als Zeuginnen anerkannt waren. Christliche Politik ist eine, die die schwachen Stimmen stärkt. Zu diesen schwachen Stimmen gehören –im Sinne der nachhaltigen Entwicklung – auch die Ansprüche künftiger Generationen auf Ressourcen und eine möglichst unversehrte Natur.
Woran erkennt man „christlich inspirierte Politik“?
Es geht darum, sich dem/der Einzelnen als Person zuzuwenden, ihn/sie als Individuum und Abbild Gottes auf Erden wahrzunehmen und anzunehmen, statt aus Menschen Nummern zu machen, die in vorgefertigte Schablonen passen. Gerade die Sozialpolitik, aber nicht nur sie, steht hier vor gewaltigen Herausforderungen. Komplexe, aufgrund zahlreicher Gesetzesnovellen undurchschaubare Anspruchsberechtigungen überfordern diejenigen, die rasch einfach Hilfe brauchen und nicht mit bürokratischen Hürden und Unsicherheiten belastet werden sollen. Oftmals helfen (aus staatlichen Mitteln geförderte und christlich motivierte) Vereine den Einzelnen bei der Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber dem Staat. Bei der Bewältigung dieser Herausforderung darf sich ein christlicher Politiker durchaus der aktuellen Techniken wie Projektmanagement und Organisationsentwicklung bedienen, um staatliches Handeln zu optimieren. Am intensivsten wird Zuwendung jedoch durch das Zuhören gelebt. Zuhören ist nicht nur Ausdruck des Respekts vor der Person, es ist auch Ausdruck einer notwendigen Demut des Handelnden vor dem Wissen und den Erfahrungen jener, die von staatlichen Aktionen betroffen sind. Die Partizipation Betroffener bei der Planung und Durchführung von Großprojekten ist ein Beispiel für eine demütig-christliche Haltung, die respektiert, dass auch die beste Konzeption nicht alle Bedürfnisse vorhersehen kann. Demut als christliche Tugend verbietet ein einseitiges, autokratisches Anordnen von (vermeintlichen) Lösungen.
Christliche Politik achtet das Du
Zuwendung und Respekt sind nicht nur in Bezug auf die Bürger, sondern auch im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen der eigenen und anderen Fraktionen eine christliche Tugend. Wertschätzung und Ehrlichkeit sind Voraussetzungen dafür, dass der politische Mensch am Du zum Ich im Buber’schen Sinn wird.
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Christliche Politik basiert auf Gottvertrauen
Die Legitimation für die Ausübung eines Amtes kann in einer Demokratie nur auf Wahlen und nicht auf der Berufung durch den Willen Gottes basieren. Gottvertrauen ist jedoch für die oftmals aufreibende politische Arbeit eine wunderbare Kraftquelle. In der Bitte um und im Vertrauen auf Gottes Segen liegt die Chance der Entlastung für jene, die meinen, alles selbst bis ans Ende erledigen und tun zu müssen, und Trost in Zeiten der Angst. Christlich inspirierte Politik stellt also den Glauben an Gott über den Gehorsam gegenüber den weltlichen Herrschern und äußert sich im Stil der Zuwendung, des Respekts und der Wertschätzung gegenüber anderen und im Vertrauen auf den Segen Gottes für die eigenen, nach bestem Wissen und Gewissen gesetzten Handlungen.“
7. Die großen Tugenden der christlichen Ethik nach Romano Guardini19
In einer Rede20 vor dem „Domforum Regensburg“ im Jahre 2010 erhob der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, den Anspruch, dass „in den Schlagzeilen des Tages sichtbar werden muss, dass und warum christliche Werte in Europa von Bedeutung sind“. Auch Pöttering stellt in seinen Ausführungen die Menschenwürde ins Zentrum sämtlicher Überlegungen.21 Sie kann von uns selbst missachtet und erniedrigt oder durch das Verhalten anderer beschädigt werden. Aber die Menschenwürde kann keinem Menschen genommen werden; Pöttering folgert daraus, dass der oberste Maßstab der Politik sein muss, die Menschenwürde zu sichern und ihre Entfaltung zu ermöglichen. Für die Beschreibung jener Verhaltensweisen, die „unser Leben wertvoll und würdevoll“ machen, greift Pöttering auf einen Katalog von 17 Tugenden zurück, die der Theologe Romano Guardini in dem 1967 in Würzburg erschienenen Buch „Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens“ beschrieben hat. Neben „Klassikern“ wie Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit nennt Pöttering etwa auch die Geduld, die in Kombination mit der Leidenschaft dazu führte, dass nach dem Scheitern des EU-Verfassungsvertrages nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden erreicht werden konnte, dass mit dem Vertrag von Lissabon das Europäische Parlament als Stimme der Völker in allen 19 https://de.wikipedia.org/wiki/Romano_Guardini 20 Rede des Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Präsident des Europäischen Parlaments a. D., Dr. Hans-Gert Pöttering, MdEP, im Rahmen des Domforums Regensburg am 15. Juli 2010 in der Kathedrale St. Peter, Regensburg. Publiziert von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 2010 Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2007/C 30301) 21
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wichtigen Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union gleichberechtigt mitentscheidet. Damit spielt Pöttering auch auf einen der wesentlichsten Kritikpunkte an der EU, das Demokratiedefizit an, das insbesondere in der schwachen Position des Europäischen Parlaments innerhalb der Institutionen zutage trat. In den gleichen Kontext stellt der ehemalige Parlamentspräsident die Tugend der inneren Sammlung am Beispiel der selbst verordneten Denkpause der EU nach den beiden gescheiterten Verfassungsreferenden. Als Beispiel für die vertrauensbildende Wirkung der Tugend der Höflichkeit nennt Pöttering die im Europäischen Parlament vergleichsweise breite Unterstützung für die deutsche Wiedervereinigung, im Unterschied zur Stimmungslage in vielen Hauptstädten der Mitgliedstaaten bereits im Jahre 1990. Als Grund nennt er die persönliche Erfahrung und das über Jahre gewachsene Vertrauen der Kolleginnen und Kollegen aus anderen Mitgliedsländern in die deutschen Abgeordneten.
8. Das Subsidiaritätsprinzip22 als politisches Organisationsprinzip
Ein Beitrag über die christlichen Quellen und Nachweise in Recht und Politik wäre nicht vollständig ohne die Erwähnung dieses Axioms der Katholischen Soziallehre, das seinen Ursprung in der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ hat, mit der Papst Pius XI. im Jahr 1931, also vierzig Jahre nach der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum“,23 die Lehren von Papst Leo XIII. aktualisierte und vor allem die Gesellschaftsordnung aus christlicher Sicht behandelte. Demnach sei jede Gesellschaftstätigkeit ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen. Es verstoße gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren Gemeinwesen leisten und zu einem guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen“. Am Beginn der 1990er Jahre erlebte die Subsidiarität eine Renaissance und wurde zu einer „Zauberformel“ für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften zu jener „immer enger werdenden Union“, mit der die Mitgliedstaaten auf die sich abzeichnende Wiedervereinigung Deutschlands nach dem Ende der Teilung Europas und dem Fall der Eisernen Mauer reagierten.24 Folglich wurde die Subsidiarität als allgemein22
Vgl. Weber, Bruno: „Subsidiaritätsprinzip und Solidaritätsprinzip als Grundpfeiler bei der Organisation menschlichen Zusammenlebens“, in: Kopetz/Marko/Poier (Hg.): „Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat“, Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Böhlau 2004, S.198 ff. 23 Vgl. https://www.katholisch.at/aktuelles/2016/04/29/eine-kurze-geschichte-der-paepstlichen-sozialenzykliken 24 Vgl. „Subsidiarity: the Challenge of Change“: Proceedings of the Jacques Delors Colloquium European Institute of Public Administration, 1991
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verbindlicher Grundsatz in die Präambel des Vertrages über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 aufgenommen und ist bis heute Richtschnur für die Verteilung der Aufgaben und Kompetenzen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten in dem Bestreben, nur jene Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene anzusiedeln, die wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser dort als in den Mitgliedstaaten selbst durchgeführt werden können.25 Im zweiten Teil möchte ich eine Auswahl von Persönlichkeiten vorstellen, die mich persönlich inspiriert haben, deren Vermächtnis ich in Diskussionen und Vorträgen, auf Reisen, durch Studium oder Beruf begegnet bin. Dabei unterscheide ich zwischen jenen, die in ihrem Wirken Glauben, Charisma und Frömmigkeit mit „Managementfähigkeiten“ verbunden und zum Wohle der ihnen anvertrauten Menschen eingesetzt haben, und jenen, die als Ideengeber, durch Appelle, Konzepte die Mächtigen ethisch inspiriert und geistlich begleitet haben.
9. Missionare, Herrscher, Friedensstifter
Das moderne, christlich geprägte Europa, wie wir es heute als Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union erleben dürfen, gründet auf vielen Impulsen, die bis in die Antike zurückreichen. Der Apostel Paulus bereiste den Kontinent, predigte, richtete Briefe an die jungen christlichen griechischen und römischen Gemeinden und taufte Lydia als erste Frau in Europa. Er kann als ein Brückenbauer zum Alten Rom und dessen damals noch intakten Macht-und Kommunikationsstrukturen betrachtet werden, die nach dem Ende der Christenverfolgungen für die Verbreitung des Christentums wesentliche und nützliche Kanäle wurden. Schließlich wurde das Christentum 391 von Theodosius d. Gr. zur Staatsreligion erhoben.
10. Der heilige Severin: Auf göttliches Geheiß in die Provinz Noricum
Stellvertretend für viele im Gebiet des heutigen Österreich tätige Missionare, die durch ihr Wirken zur Milderung der Kriegswirren und zur Ordnung des Zusammenlebens beitrugen und in der Nachfolge Jesu für die Verfolgten und Schwachen eintraten, soll der insbesondere für die römische Provinz Noricum bedeutende Heilige Severin gewürdigt werden. Seine Vita ist ein anschauliches Beispiel für die Verbindung von weltlich-politisch-administrativer Tätigkeit und einer offen als göttliche Sendung kommunizierten, tief 25
Siehe dazu eine Mitteilung der Europäischen Kommission COM/2018/703 final
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empfundenen spirituellen Berufung. Severin26 stammte aus vornehmen römischen Kreisen oder aus Rom selbst, stand offenbar in enger Verbindung mit den weströmischen Kaisern und hatte bereits hohe Staatsämter inne, bevor er zunächst als kaiserlicher Abgesandter und – nach einer durch einen Umsturz in Rom bedingten „Zwangspause“ in der äthiopischen Wüste – im Jahre 467 ein zweites Mal auf „göttliches Geheiß“ nach Noricum kam. Dort wirkte er noch bis zum Ende des weströmischen Reiches in amtlicher Funktion. Ab dem „Schicksalsjahr“ 476, als Odoaker den Romulus Augustus stürzte, bis zu seinem Tod am 8. Jänner 482 lenkte er aus eigener Initiative – aufgrund einer „Conversio“, die er in der Wüste erfahren hatte – die Geschicke der Provinzbevölkerung und suchte als Helfer der unter Germaneneinfällen, herumziehenden Räuberbanden und materieller Not leidenden Menschen die Verwaltung in seinem Amtsbereich auf christliche Prinzipien zu stützen. Die Kombination aus seiner Erfahrung in Politik und Verwaltung, seinem diplomatischen Geschick im Umgang mit den Germanen und seinem Charisma und Glauben ließen ihn zu einem geistlichen Oberhaupt und weltlichen Anführer werden. Seine Fürsorge galt unter anderem den von den Germanen verschleppten Gefangenen, deren Freilassung er erwirken konnte. Er sammelte Fratres um sich und gründete Klöster, Klosterfilialen und Mönchsniederlassungen. In der „Vita Sancti Severini“ wird mehrfach von Vorahnungen, Prophezeiungen und Wundern, vor allem Heilungen berichtet. Severin konnte sein Wirken auf einer bereits christianisierten Provinz aufbauen; sein großes Verdienst liegt wohl darin, dass er in einer von tief greifenden Umwälzungen geprägten Zeit nicht nur lebenserhaltende Maßnahmen wie die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung oder die schrittweise, geordnete Evakuierung der Provinz von Westen nach Osten durchführte, sondern auch die Moral der Bevölkerung aufrechterhielt und die kirchlichen Strukturen in schwierigen Zeiten nicht nur erhielt, sondern sogar ausbaute.
11. Auf den Spuren von Charlemagne
Den Spuren eines anderen frühen Europäers begegnete ich während meines Praktikumsjahrs 1993/94 als „research assistant“ am European Institute of Public Administration (EIPA) in Maastricht im Süden der Niederlande. Bei meinen Besuchen im nahe gelegenen Aachen erfuhr ich, wie Karl der Große oder Charlemagne bis heute nicht nur in der Stadt, die er zu seiner Lieblingspfalz erwählte, nachwirkt. Er gilt als erster „Einiger“ Europas, weil er auf der Grundlage der lateinischen Sprache und Schriftkultur, der antiken Überlieferung und des Christentums nach den Wirren der Völkerwanderung eine kulturelle 26
Vgl. Eugippius: „Das Leben des heiligen Severin“, Reclam 1986
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Überformung seines Machtbereiches herbeiführte, welche die Entwicklung Europas zu einem bei allen regionalen Unterschieden vergleichsweise einheitlichen Kulturraum ermöglichte. Die tiefe Kluft, die sich nach dem Ende des karolingischen Reiches zwischen Deutschen und Franzosen auftat und Jahrhunderte überdauerte, konnte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Einsicht und Umsicht jenes großen Europäers überwunden werden, der die Mentalität der beiden rivalisierenden Nationen nicht nur begriffen, sondern durch eigenes Erleben verinnerlicht hatte und voraussah, dass die Entstehung Europas „ohne Deutschland ebenso wenig wie ohne Frankreich“ möglich sein würde27. Seit 1950 wird der auf eine Initiative Aachener Bürger zurückgehende Karlspreis28 vergeben – erstmals an Richard Coudenhove-Kalergi, „in Würdigung seiner Lebensarbeit für ein geeintes Europa“.
12. Leopold III. – Friedensstifter und Schutzpatron
Bis es dazu kam, hatten die Völker Europas bekanntlich viele Kriege zu überstehen. Einzelne Persönlichkeiten gingen in die Geschichte ein, weil sie in ihren Bereichen Stabilität, Aufschwung und Wohlstand ermöglichten und zumindest zeitweilig absicherten und schon aufgrund ihrer dynastischen Verbindungen eine Art von Völkerverständigung betrieben, wie der fromme und tüchtige Babenberger Markgraf Leopold III.29 Er führte mit der aus dem Geschlecht der Salier stammenden Agnes, der Witwe des Herzogs Friedrich von Staufen, eine glückliche und kinderreiche Ehe und begründete das Stift Klosterneuburg. Er ist als Schutzpatron in Erinnerung geblieben und wird als Heiliger verehrt.
13. Vordenker und Pioniere der europäischen Einigung
Einigung im Sinne dieses Titels war zunächst die Abkehr vom Krieg und das Eintreten für eine friedliebende Haltung. Lange vor der Herausbildung der Nationalstaaten und den daraus entstehenden Konflikten waren die Völker Europas von Kriegen geplagt – auch von Religionskriegen wie dem Dreißigjährigen Krieg.
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Schuman, Robert: „For Europe“, Nagel 2010, S. 61 f. Vgl. https://www.karlspreis.de/de/ Vgl. Röhrig, Floridus: „Leopold III. der Heilige. Markgraf von Österreich“, Herold 1985
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14. Erasmus von Rotterdam – Vordenker der Toleranz
Einer, der diesen Krieg vorausgesehen und dagegen angeschrieben hatte und für Frieden und Konkordanz eintrat, war Erasmus von Rotterdam30, Augustiner-Chorherr, Philologe und einer der bedeutendsten und einflussreichsten Repräsentanten des europäischen Humanismus. Er trat für relative Religionsfreiheit ein. Erasmus zählte zu den geachtetsten Gelehrten seiner Zeit, man nannte ihn „den Fürsten der Humanisten“. 1516 schrieb er Die Erziehung des christlichen Fürsten (Institutio Principis Christiani), die er als neu ernannter Rat des Fürsten dem späteren Karl V. widmete. Dieser Fürstenspiegel sieht in christlichmoralischen Lebensgrundsätzen des Regierungsoberhauptes die wichtigste Voraussetzung für eine friedliche, segensreiche Politik. Erasmus korrespondierte mit fast allen Herrschern und Päpsten seiner Epoche und wurde allseits für seine offenen Worte und den brillanten Stil bewundert und geachtet.31
15. Richard Coudenhove-Calergi und die Paneuropa-Idee
Als Bannerträger der modernen Europa-Idee gilt der schon als erster Träger des Karlspreises erwähnte Richard Coudenhove-Kalergi.32 Am 17.11.1894 als Sohn eines österreichisch-ungarischen Diplomaten und einer Japanerin in Tokio geboren, widmete er sich bis zu seinem Tod im Jahre 1972 der Freiheit und Einigung Europas. Er entwickelte die Paneuropa-Idee als Gegengewicht zu den totalitären Versuchungen des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus und vor dem Hintergrund der Verwüstungen Europas durch den Ersten Weltkrieg.1922 schrieb er sein erstes Europa-Manifest mit der Vision: „Das kontinentale Europa von Portugal bis Polen wird sich entweder zu einem Überstaat zusammenschließen oder noch im Laufe dieses Jahrhunderts politisch, wirtschaftlich und kulturell zugrunde gehen.“ 1923 gründete Coudenhove-Kalergi die Paneuropa-Union als erste internationale nicht-staatliche Organisation mit dem Ziel, ein modernes Projekt für die Vereinigung Europas in die Tat umzusetzen. Er erreichte, dass 1926 der 1. PaneuropaKongress mit 2000 Teilnehmern in Wien stattfand und durch den österreichischen Bundeskanzler Ignaz Seipel eröffnet wurde. Ehrenpräsident des Kongresses war der hoch angesehene französische Außenminister Aristide Briand, der in der Folge dem Völkerbund in Genf eine Föderation europäischer Nationen vorschlug. Doch Wirtschaftskrise und Nationalismus überschatteten diese Initiativen. Die Warnungen von Coudenhove-Kalergi auf 30 31 32
https://de.wikipedia.org/wiki/Erasmus_von_Rotterdam Vgl. auch Zweig, Stefan: „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“, Fischer 2016 http://www.coudenhove-kalergi-society.eu/Richard-Coudenhove-Kalergi
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dem Paneuropa-Kongress 1932 in Basel: „Stalin bereitet den Bürgerkrieg vor – Hitler den Völkerkrieg“ konnten den Lauf der Geschichte nicht verändern. Aber seine Ideen überdauerten die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und wurden danach Realität.
16. Visionäre und Impulsgeber der europäischen Idee nach 1945. Das Christentum als Grundlage der Demokratie bei Robert Schuman33
„Die Demokratie verdankt ihre Existenz dem Christentum“ formulierte Robert Schuman in seinem Manifest „Pour l’europe“. Schuman stellte darin auf Grundlage seiner eigenen Unterlagen (Reden, Artikel, Konferenznotizen) im Rückblick seine wichtigsten Ideen dar, die sein politisches Handeln im Sinne der europäischen Einigung, insbesondere für den am 9. Mai 1950 verkündeten Schuman-Plan, bestimmten. Der gebürtige Luxemburger Schuman, der den Ersten Weltkrieg als deutscher Soldat in der Militärverwaltung und den Zweiten Weltkrieg zunächst als Minister der Kriegsregierung und ab Mitte 1940 im Umfeld der Resistance erlebte, bündelte seine Erfahrungen mit beiden Staaten und Mentalitäten in dem friedensstiftenden Vorschlag, die kriegswichtigen Industrien in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammenzulegen und dadurch einen neuerlichen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich praktisch unmöglich zu machen. Die folgenden Zitate sind eine Arbeitsübersetzung einer englischsprachigen Ausgabe mit dem Titel „For Europe“, die im Jahr 2010 von der Robert Schuman Stiftung herausgegeben wurde34: „Sie (die Demokratie, Anm.) wurde an jenem Tag geboren, als der Mensch sein Bestes während seines irdischen Daseins geben musste (z. B. durch den Respekt vor der Menschenwürde, den individuellen Freiheitsrechten und durch die Ausübung der brüderlichen Nächstenliebe). Vor Christi Geburt wurden derartige Ideen niemals geäußert. Daraus folgt, dass die Demokratie als Doktrin chronologisch an das Christentum gebunden ist. Sie nahm mit ihm schrittweise Gestalt an, nach einer ordentlichen Portion von Versuch und Irrtum, manchmal auch zum Preis von Fehlern und dem Abgleiten in die Barbarei.“ Schuman bezieht sich zur Untermauerung seiner Thesen auf einen Zeitgenossen, den französischen Philosophen Jacques Maritain35, der die parallele Entwicklung des christlichen Gedankengutes und der Demokratie nachgewiesen hat. Maritain wirkte – jeweils als Leiter der französischen Delegation – sowohl an der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als auch am Zweiten Vatikanischen Konzil mit. In den Diskussionen zur Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte konnte 33 https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Schuman 34 Schuman, Robert: „For Europe“, Nagel 2010, S. 61 35 https://de.wikipedia.org/wiki/Jacques_Maritain
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Maritain auf seinen eigenen, philosophisch fundierten Katalog von 26 Menschenrechten zurückgreifen („Les Droits de l’homme et la loi naturelle“, 1942). Für die Definition von Demokratie greift Schuman auf Abraham Lincolns Formulierung „A people’s government for the people and by the people“ zurück und geht auch auf die in den USA viel unbefangenere Integration des Gebets in staatliche und politische Events (Stichwort: „breakfast prayer“) ein. Das Erfordernis der Trennung von Kirche und Staat unterlegt Schuman mit dem Gleichnis: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“. Er verlangt, dass die Demokratie ihre Beziehung zur Kirche absteckt, und mutmaßt, dass es nicht ohne Konflikte abgehen wird. Das Christentum dürfe nicht auf religiöse und karitative Praktiken beschränkt werden, vielmehr sei es eine Doktrin, welche moralische Verpflichtungen auf allen Gebieten definiere. Mehrmals hebt Schuman den zeitlichen Aspekt und die Notwendigkeit der Geduld hervor: Demokratie könne nicht improvisiert werden, in Europa habe es tausend Jahre Christentum gebraucht, um sie hervorzubringen. Die Umsetzung dieses gewaltigen Programmes einer generellen Demokratie im christlichen Sinne des Wortes findet ihren Ausdruck in der Errichtung Europas. Dieses darf, so Schuman abschließend, keine rein wirtschaftliche und technische Unternehmung bleiben: „Es braucht eine Seele, das Bewusstsein für seine geschichtlichen Affinitäten und seine Verantwortung in Gegenwart und Zukunft und einen politischen Willen im Dienste des humanistischen Ideals.“
17. Europäische Impulse aus Österreich
Obwohl Österreich noch um die Wiedererlangung seiner Souveränität und das Ende der alliierten Besatzung rang, gingen von Politikern der Österreichischen Volkspartei36 wesentliche Impulse zur Vereinigung christlich-demokratischer Politiker und Parteien in Europa aus. Das „Europaziel“ wurde bereits 1950 vom damaligen Bundeskanzler Leopold Figl auf einem ÖVP-Bundesparteitag proklamiert, und viele seiner Parteikollegen machten sich durch organisatorische und strukturelle Inputs um die Verständigung in den schon in den 1940er Jahren gegründeten „Nouvelles Equipes Internationales“ (NEI) verdient. Im Rahmen der NEI kam es zur ersten Kontaktaufnahme der Christdemokraten Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi, aus der sich tragfähige Beziehungen entwickeln sollten, die die Versöhnung von Frankreich und Deutschland, aber auch die für Österreich so wichtige Lösung der Südtirol-Frage ermöglichen sollten. Bis zur Gründung der Europäischen Volkspartei37 sollten allerdings noch gute zwei Jahrzehnte vergehen. 36 37
Vgl. Mertens, Christian: „Die österreichischen Christdemokraten im Dienste Europas“, Medien und Recht, 1997 Vgl. Jansen, Thomas/Van Hecke, Steven: „At Europe’s Service – The Origins and Evolution of the European People’s Party“, Springer 2011
Christliche Werte in Recht und Politik – eine Tour d’ Horizon
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18. Lola Solar – Gründerin der europäischen Frauenunion
Die niederösterreichische Lehrerin und Frauenpolitikerin Lola Solar (1904 bis 1989) wirkte als Abgeordnete zum Nationalrat, in karitativen Organisationen und als langjährige Landesleiterin der niederösterreichischen ÖVP-Frauenbewegung. In ihrer Zeit als Stellvertreterin von ÖVP-Bundesparteiobmann Julius Raab vollbrachte sie auch ihre europapolitische Pionierleistung: Sie berief 1953 den ersten „Kongress christlich-demokratischer Frauen Europas“ nach Salzburg ein und legte damit den Grundstein für die „Europäische FrauenUnion (EFU)“38 von europäischen konservativen, christlichen Frauen. 1955 bis 1959 war sie Vorsitzende, 1961 wurde sie zur Ehrenvorsitzenden der Europäischen Frauen-Union mit Sitz und Stimme im Vorstand auf Lebenszeit gewählt.
19. Alois Mock – Wegbereiter von Österreichs EU-Beitritt
Eben jene Europäische Frauenunion habe er vor Augen gehabt, als er an der Gründung der Europäischen Demokratischen Union (EDU) mitwirkte, sagte Alois Mock39 einmal im kleinen Kreis vor ÖVP-Frauen, dem auch ich angehörte. Kein anderer hat so konsequent und mit ganzem Einsatz an der Umsetzung des Europaziels gearbeitet, wie er. Es war Alois Mock vergönnt, die Gunst der Stunde nach dem Untergang der Sowjetunion zu nützen, den politisch stärkeren Koalitionspartner SPÖ zu überzeugen und den gesamten Beitrittsprozess Österreichs vom Absenden des Beitrittsantrages bis zum Abschluss der Verhandlungen führend zu gestalten und zu orchestrieren.
20. Jacques Delors – Überwinder des Europa-Pessimismus und Erneuerer des Binnenmarktes
„Eurosklerose“ nannte das Time Magazine auf einem Titelblatt die Gefühlslage in den damaligen Europäischen Gemeinschaften der 1980er Jahre. Der französische Sozialist und bekennende Katholik Jacques Delors nutzte sein Amt als Präsident der Europäischen Kommission, um den Binnenmarkt durch Abbau technischer Handelshemmnisse zu realisieren; er prägte das Bild vom Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten, legte mit der Einheitlichen Europäischen Akte den Grundstein für die Reform der Europäischen Ver38 http://www.euwa.at/ 39 Vgl. Eichtinger, Martin/Wohnout, Helmut: „Alois Mock Ein Politiker schreibt Geschichte, Styria 2008
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träge und wurde schließlich zum Partner Helmuth Kohls beim Betreiben der deutschen Wiedervereinigung.
21. Zusammenfassung und Brückenschlag
Am Ende dieses Überblicks über die reichen und vielfältigen spirituellen Quellen und Vorbilder, aus denen wir schöpfen und denen wir nacheifern dürfen, möchte ich nochmals die gedankliche Brücke schlagen, zu jenen, die denselben Werten verbunden sind, ohne sich dabei auf das von Schuman als Doktrin bezeichnete Christentum zu stützen. „Die geschichtliche Erfahrung lehrt uns“40, wie Bruno Weber treffend formuliert, „dass trotz tiefgreifender weltanschaulicher Unterschiede bei allen Menschen ein beachtlicher gemeinsamer Bestand an echten objektiven Werten gegeben ist. Ohne die Anerkennung eines solchen Grundbestandes von gemeinsamen Werten, die durch die Vernunft erkennbar sind, wäre ein Zusammenleben der Menschen in Gesellschaft, Staat und Völkergemeinschaft gar nicht möglich.“ Laut Weber gehört u. a. die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen zu den einzelnen praktischen Beispielen dafür, dass Vertreter christlicher, liberaler, konservativer und sozialdemokratischer Anschauungen über einen solchen Grundbestand gemeinsamer Wertvorstellungen verfügen. Oder, um das „Schlusswort“ Robert Schuman zu überlassen: „Während des langen und dramatischen Prozesses der christlichen Zivilisation wurde und wird der entscheidende demokratische Fortschritt nicht immer von den „totalen Gläubigen“ („total believers“) erreicht. Christliche Ideen überlebten im Unterbewusstsein der Leute und beeinflussten Menschen, die aufgehört hatten, eine dogmatische Religion zu praktizieren, aber dennoch von ihren Hauptprinzipien inspiriert wurden. Diese grundlegend christlichen Prinzipien wurden zu den Merkmalen unserer Zivilisation, dank derer die Rationalisten des 18. Jahrhunderts die Menschen- und Bürgerrechte proklamierten und verbreiteten.“41
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Weber, Bruno: „Subsidiaritätsprinzip und Solidaritätsprinzip als Grundpfeiler bei der Organisation menschlichen Zusammenlebens“, in: Kopetz/Marko/Poier (Hg.): „Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat“, Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Böhlau 2004, S. 200 a. a. O., S. 45
Wie eine Diözesangrenze zur Staatsgrenze wurde Vincenc Rajšp
Die politischen Grenzen Europas des 20. Jahrhunderts, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, teilten einen geographischen Raum, der fast 1000 Jahre lang Teil eines einzigen politischen und staatlichen Systems war; bis 1806 war dieser Raum Teil des Heiligen Römischen Reiches, danach bis 1867 des Österreichischen Kaiserreichs und schließlich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs der österreichisch-ungarischen Monarchie. In diesem Zeitraum kam es jedoch zu Grenzverschiebungen sowohl innerhalb des Landes als auch an dessen Außengrenzen. In diesen Zeitraum fällt die Schaffung der Grenzen einzelner Länder, über die die Habsburger im späten Mittelalter die Macht erlangten (Steiermark, Kärnten, Krain, Görz und die Stadt Triest), sowie vom Königreich Ungarn, über welches die Habsburger 1526 die Königswürde erlangten. Innerhalb dieses Königreichs befand sich auch ein Teil des heutigen slowenischen Staatsgebietes, Prekmurje, mit slowenischer Umgangssprache. In dieser tausendjährigen Geschichte kam es zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert im Hinblick auf den slowenischen Sprachraum vor allem in der Venezianischen Republik zu Grenzverschiebungen. Die Kirchengrenzen sind damals aber unverändert geblieben. Das Anliegen dieses Beitrags ist es, die Änderungen der Kirchengrenzen in Bezug auf die Republik Slowenien und die Länder, zu denen dieses Gebiet in der Vergangenheit gehörte, zu veranschaulichen. Die Grenzen der antiken Diözesen (Emona, Celeia, Poetovio) haben auf diesen Territorien keine Spuren hinterlassen, mit Ausnahme der Diözese Koper (Capo d’Istria, Dioecesis Iustinopolitanus), deren Anfänge bis ins 6. Jahrhundert zurückreichen, deren kontinuierliche Funktionsperiode bis 1180 jedoch nicht lückenlos nachgewiesen werden kann. Die religiöse und administrative Struktur der Kirche wurde mit der Christianisierung, die nach der Völkerwanderung im Mittelalter erfolgte, festgelegt. Auf dem Gebiet des heutigen Slowenien wurde die Missionierung von den beiden Zentren Aquileia und Salzburg aus betrieben. Infolgedessen wurde das Gebiet zwischen diesen beiden Diözesen aufgeteilt und die Grenze 811 von Kaiser Karl dem Großen entlang der Drau gezogen. Nach der Synode in Mantua im Jahr 827 fielen die Diözesen Triest, Novigrad (Cittanova), Poreč (Parenzo), Pula (Pola) und Pićan (Pedena) unter das Patriarchat von Aquileia, aber erst 1132 übergab Papst Innozenz II. dem Patriarchen von Aquileia die Metropolitangewalt
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für die angeführten Diözesen und 1177 zusätzlich noch für Koper.1 Die Grenzen des Patriarchats und der Diözesen blieben bis Mitte des 18. Jahrhunderts unverändert, obwohl die Venezianische Republik nach 1420 die weltliche Macht des Patriarchen von Aquileia beendete und einen Großteil des Territoriums annektierte. Seitdem befand sich das Territorium des Patriarchats in zwei Ländern, der Venezianischen Republik und den Erblanden der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der Habsburger. Die Diözesanstädte Istriens fielen ebenfalls unter die venezianische Herrschaft, mit Ausnahme von Triest, das unter der Herrschaft der Habsburger Zuflucht suchte. Obwohl die kirchliche Grenze des Patriarchen von Aquileia unverändert blieb, wurde die direkte Ausübung kirchlicher Autorität behindert; zugleich hatten die Habsburger aber auch keinen Einfluss auf die Ernennung des Patriarchen. Innerhalb des Gebiets des Patriarchats wurde 1461 in Ljubljana eine Diözese gegründet, in der den Habsburgern das Recht auf Bischofsernennungen zustand, jedoch gelang es ihnen nicht, das gesamte Gebiet des Patriarchats in ihrem Land zu erhalten. Die territoriale kirchliche Ordnung wäre zweifellos durch einen Sieg des Protestantismus in den innerösterreichischen Ländern verändert worden, wenn die kirchliche Ordnung mit den Landesgrenzen zusammengefallen wäre. Aber auch innerhalb der katholischen Kirche gab es sowohl vom Herrscher als auch von den Krainer Landständen den Wunsch, die kirchliche Verwaltung des Patriarchen von Aquileia, welcher in einem anderen Land ansässig war, an den Bischof von Ljubljana zu übertragen. Auch die Grenzen der istrischen Diözesen stimmten nicht mit den Landesgrenzen überein. So gehörten einige der Pfarren von Habsburg-Istrien zu den Diözesen Pula und Poreč, die ihren Sitz in der Venezianischen Republik hatten, während sich einige Pfarreien der Diözese mit Sitz in Triest auf dem Staatsgebiet der Venezianischen Republik befanden. Da die politischen Beziehungen zwischen den Habsburgern und der Venezianischen Republik größtenteils angespannt waren, spiegelte sich dies auch in der Kirchenverwaltung wider, da beide wiederholt die Visitationen der zuständigen Bischöfe in ihrem Hoheitsgebiet verboten hatten. Daraus ergab sich jedoch kein „Machtvakuum“, da die habsburgischen Herrscher über ausreichende Befugnisse verfügten, um als Patronatinhaber vieler Pfarreien in kirchliche Angelegenheiten einzugreifen. Während der Reformation erlangten sie auch die Kontrolle über die Wahl der Äbte in wichtigen Klöstern wie Stična (Sittich) und Kostanjevica (Landstraß). Sie ernannten die Kanoniker des Kapitels von Novo Mesto, die meisten Kanoniker des Domkapitels von Laibach und den Bischof von Laibach. 1
Günther Bernhard, Von Metropoliten und Suffraganen. Zur Diözesanentwicklung im AlpenAdria-Raum im Hochmittelalter. In: Edeltraud Klueting, Harm Klueting und Hans-Joachim Schmidt (Hrsg.), Bistümer und Bistumsgrenzen vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. RomFreiburg-Wien 2006, 21
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Mit der Gegenreformation beseitigten sie ihren Hauptkonkurrenten in religiösen Angelegenheiten, den Landadel, und etablierten sich als alleinige Bewahrer der katholischen Religion. Die Bildung wurde durch Hochschulen und Universitäten der Jesuiten kontrolliert, für die eine regelmäßige Finanzierung geschaffen wurde, und die Pfarrer standen seit dem 16. Jahrhundert wegen Steuerrückständen, die aufgrund einer Erhöhung wegen der Türkenbedrohung entstanden sind, unter ständigem Druck und Kontrolle der Behörden. Erst die Herrscherin Maria Theresia war in ihren Bemühungen, die bestehenden Kirchengrenzen zu ändern, erfolgreich. 1751 gelang es ihr, eine Erzdiözese mit Sitz in Görz zu gründen, bestehend aus Teilgebieten des Patriarchats von Aquileia, die unter ihrer politischen Herrschaft standen. Sie umfasste das gesamte Gebiet des österreichischen Teils des Patriarchats in den innerösterreichischen Ländern Görz, Krain, Kärnten und der Steiermark. Als Herrscher wurden die Habsburger im 18. Jahrhundert trotz des Ressentiments einiger kirchlicher Autoritäten und selbst des Papstes in Rom, aber auch mit Unterstützung einiger Bischöfe zu Trägern umfassenderer kirchlicher Verwaltungsreformen. Die Reformen wurden größtenteils von der Herrscherin Maria Theresia und ihrem Sohn Kaiser Joseph II. durchgeführt. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts hat die Herrscherin Maria Theresia direkt oder über ihre Verwaltungsorgane in den weiteren Bereich des kirchlichen Lebens eingegriffen. In erster Linie wollte sie alle kirchlichen Instanzen an die Zentralbehörde in Wien binden. 1748 wurde das sogenannte „Placetum Regium“ eingeführt, das neue kirchliche Verordnungen mit einer staatlichen Zustimmung verband, und ohne staatliche Zustimmung durften auch keine päpstlichen Bullen verkündet werden.2 1776 führte sie noch ein „Placet“ für alle Anordnungen der Bischöfe ein, die außerhalb der Grenzen des Habsburgerreiches ihre Diözesansitze hatten. Der Staat beschränkte zunehmend die Freiheiten der Klöster und exekutierte 1773 die Aufhebung des Jesuitenordens durch den Papst.3 Etwa zehn Jahre später erfolgte die Aufhebung weiterer Klöster ohne nennenswerten Widerstand. Deren konfisziertes Eigentum wurde in erster Linie zur Finanzierung der Seelsorgereform genützt. Maria Theresias veränderte Einstellung zu kirchlichen Angelegenheiten wurde von ihrem Sohn, Kaiser Joseph II., unterstützt, der überzeugt war, dass eine andere Organisation der Diözesen zu einem besseren religiösen Leben führte. Er drückte diese Überzeugung in einer Denkschrift4 an seine Mutter Maria Theresia aus, nachdem er 1771 eine Reise nach 2 3 4
Günther Bernhard, Von Metropoliten und Suffraganen, 20 Vincenc Rajšp, Ukinitev jezuitskega reda na Slovenskem. In: Jezuiti na Slovenskem. (Redovništvo na Slovenskem, 3). Ljubljana 1992, 255–274 „Enumeration derjenigen Ursachen, welche diese Länder, besonders einige Jahre her, in diese Umstande zu verfallen zubereitet haben, samt denjenigen Mitteln, welche Ich zur Behebung dieser
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Böhmen, Mähren und Schlesien absolviert hatte. Er wurde sich vieler Dinge bewusst, mit denen er nicht zufrieden war, unter anderem waren ihm die Kreisverwaltungen zu groß und daher unwirksam, und die Macht wurde zum Nachteil der Untertanen auf verschiedene Funktionäre verteilt, die sich nicht miteinander koordinierten. Er schlug kleinere Kreisverwaltungen und eine Vereinheitlichung der Macht in einer Instanz – dem Hauptmann – vor. Auch mit der religiösen Situation war er unzufrieden. Er wurde sich des weitverbreiteten Aberglaubens bewusst. Er schrieb die Schuld dem Klerus zu, der nichts gegen den Aberglauben unternimmt „teils wegen Inkompetenz, teils wegen Stupidität und teilweise wegen Eigennützigkeit“. Als wichtigen Grund nannte er die mangelnde Ausbildung der Priester und forderte eine bessere Ausbildung für sie. Unter den Gründen für den schlechten religiösen Status führte er noch die zu großen Pfarreien an, die aus diesem Grund nicht dem richtigen Zweck dienten, und die unangemessene Organisation der Diözesen. Für Böhmen schlug er die Schaffung von zwei neuen Diözesen und eine bessere territoriale Abgrenzung der bestehenden vor.5 Der Kaiser vertrat diese Ideen nicht allein, sie wurden auch in den Reihen der kirchlichen Hierarchie begrüßt. Ein bedeutsamer Unterstützer war der Bischof von Ljubljana (Laibach), Karl Johann Graf Herberstein,6 der zum entscheidenden Initiator der neuen Grenzziehung zwischen den Diözesen wurde. Indem er im Herbst 1781 eine bessere Teilung der Kirche in Krain vorschlug, trug er dazu bei, dass die Diözesanregulierungen im ganzen Land aus der Sackgasse, in die sie geraten waren, gelangten.7 Für diese Sache hatte sich Herberstein seit einem guten Jahrzehnt eingesetzt, aber sie kam erst zum Tragen, nachdem Kaiser Joseph II. die Änderungen im kirchlichen System befürwortete. In Bezug auf die Grenzänderungen der Diözesen schlossen die Behörden zwar kirchliche Würdenträger aus, die ihre Bischofssitze außerhalb der Grenzen ihres Hoheitsgebietes hatten – und dies betraf auch den Papst –, aber dem Einfluss der einheimischen Bischöfe konnten sie sich nicht gänzlich entziehen. Bei diesen verfestigte sich jedoch die
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vitiosen Verfaßung, in allen Theilen, meiner wenigen Einsicht nach, vorzuschlagen glaubte.“ In: Harm Klueting (Hrsg.), Der Josephinismus. Darmstadt 1995, 163 Harm Klueting, 166 Karl Johann Reichsgraf von Herberstein, geboren am 7. 7. 1719 in Graz, gestorben am 7. 10. 1787 in Laibach. Von 1769 bis 1772 war er Weihbischof und von 1772 bis 1787 Bischof in Laibach. Im Jahre 1775 ernannte ihn Kaiser Joseph II. zum Erzbischof, er wurde aber vom Papst nicht bestätigt. (Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1803: ein biographisches Lexicon, hrsg. von Erwin Gatz. Berlin 1990, 20) Rado Kušej, Joseph II. und die äußere Kirchenverfassung Innerösterreichs (Bistums-, Pfarr- und Kloster-Regulierung), ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Staatskirchenrechts. Stuttgart 1908, 14
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Formel, nicht mehr zu verlieren als sie gewonnen oder ausgetauscht hatten, und diese Haltung war auch bei der Regulierung der Diözesangrenzen in Innerösterreich präsent. Dieser Grundsatz zeigte sich auch, als der Bischof von Laibach, Herberstein, im Som mer 1773 eine neue Anordnung der Diözesangrenzen (Concentrir = und Ausgleichung der Dioecesen) zwischen der Erzdiözese Görz und der Diözese Laibach vorschlug. Diese Idee wurde in Wien nicht verworfen, sondern es wurden mit einem Hofdekret vom 28. August die Ordinariate in Görz und Laibach sowie die Kreisbehörden in Görz und Krain angewiesen, Vorschläge zu unterbreiten, damit schon Anfang des Jahres 1774 eine Stellungnahme zu „dieser wichtigen und nützlichen Angelegenheit“ abgegeben werden konnte.8 Bischof Herberstein schlug vor, elf Pfarren, drei Kaplaneien und ein Kloster der Diözese Laibach gegen elf Pfarren und drei Klöster der Erzdiözese Görz zu tauschen. Er wollte den gesamten Bezirk Cilli der Diözese Laibach unterstellen. Als Hauptgründe für seinen Vor schlag führte der Bischof von Laibach Folgendes an: Reduzierung der Visitationskosten und die Möglichkeit der Einführung einer einheitlichen Ordnung. Weiters meinte er, dass die Vermischung der Pfarreien beider Diözesen Verwirrung und Beschwerden verursache. Der erste Erzbischof von Görz, Karl Michael von Attems (1707–1774), lehnte Herber steins Absicht und seine Gründe entschieden ab. Es war für ihn nicht hinnehmbar, die Diözese Laibach um den Kreis Cilli zu erweitern, der ein großes Gebiet seiner Diözese umfasste. Im harten Ton wies der Erzbischof auf ein weiteres Problem hin, mit dem er in Bezug auf den Bischof von Laibach konfrontiert war, der nicht bereit war, ihn als Metro politen anzuerkennen. Wenn der Bischof von Laibach ihn als Metropoliten anerkannte, würde dies laut Attems eher zu einer einheitlichen Ordnung und Disziplin führen, als der Tausch und die Konzentration von Diözesen. Die von Bischof Herberstein vorgeschlagene Änderung der Diözesangrenzen wurde vom Erzbischof mit der Begründung abgelehnt, es sei „unehrlich, die von den allerhöchsten Herrschern Maria Theresia und Papst Benedikt XIV. errichtete Diözese zu verkleinern“. Daher lehnte er die Vorschläge von Bischof Her berstein vollständig ab und bat die Herrscherin, den Bischof von Laibach zu veranlassen, den Erzbischof von Görz als Metropoliten anzuerkennen. Der Görzer Erzbischof Attems starb am 8. Februar 1774. Bereits am 22. Februar star tete Herberstein einen zweiten Versuch. In seinem Brief betonte er, dass mit dem Tod des Erzbischofs von Görz der günstigste Moment „für eine solche notwendige und nützliche Konzentration oder Teilung zwischen den Diözesen Görz und Laibach“ gekommen sei, wodurch die große Verwirrung beseitigt werde, die durch die gemischten Gebiete der bei den Diözesen verursacht werde. 8
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Wir wissen nicht, ob Bischof Herberstein zu dieser Zeit in engerem Kontakt mit dem Kaiser stand. Tatsache ist, dass er den ursprünglichen Plan stark erweitert hatte, einen Plan, der schließlich auch weitgehend verwirklicht wurde. Er schlug vor, die Diözese Laibach zur Erzdiözese zu erheben und Görz zum Sitz einer Diözese zu machen. In Cilli sollte eine neue Diözese gegründet werden, wobei beide als Suffragandiözesen der Erzdiözese Laibach unterstellt werden sollten. Bei der Grenzziehung respektierte er teilweise die Landesgrenzen, nicht aber in Krain, wo die Erzdiözese Laibach den größeren Teil, die Diözese Görz aber den kleineren Teil umfasst hätte. Die Diözese Cilli hätte jedoch alle Teile der Erzdiözese Görz in der Steiermark und die übrigen steirischen Teile der Diözese Laibach erhalten, Teile der Diözese Laibach und der Erzdiözese Görz in Kärnten wären an die Gurker bzw. Lavanter Diözese in Kärnten gefallen. Auch wenn dieser Vorschlag keine Akzeptanz finden sollte, bat er zumindest um die Gründung eines Priesterseminars in Laibach. In Wien reagierte man sehr schnell. Bereits am 16. März wurde beschlossen, Bischof Herberstein persönlich zu antworten und bezüglich seiner Initiative zu erklären, dass alles getan werde, um die Konzentration der Diözesen zu verbessern, dass aber alle anderen Vorschläge derzeit nicht praktikabel seien.9 Der Vorschlag wurde jedoch nicht per se abgelehnt. Das Grazer Gubernium sandte Herbersteins Vorschläge zusammen mit der Antwort seines Vorgängers, Erzbischof Attems, an den neuen Görzer Erzbischof Edling und bat ihn zum ersten Mal am 4. Juli und bereits am 17. Juli zum zweiten Mal um seine Stellungnahme. Erzbischof Rudolf Joseph von Edling (Erzbischof 1774–1784) verfasste seine Stellungnahme am 1. August 1774. Aus Edlings Brief geht hervor, dass er selbst keine externen Vorschläge zur Änderung interdiözesaner Angelegenheiten erwartet hat. Er teilte dem Gubernium mit, dass er während seines Aufenthalts in Wien das Glück hatte, von Maria Theresia um eine Stellungnahme zu dieser Angelegenheit gebeten worden zu sein. Er lehnte Herbersteins Vorschläge ebenso nachdrücklich ab wie sein Vorgänger. Er erhielt von der Kaiserin die Zusicherung, dass keine Konzentration stattfinden würde, und war daher überzeugt, dass keine weitere Erklärung erforderlich wäre, nach zweimaliger Aufforderung jedoch würde er dem Folge leisten. In Herbersteins Vorschlag sah er zwei Hauptpunkte: den Tausch einiger Pfarreien in Oberkrain mit solchen in Kärnten und den Anschluss des Cillier Kreises an die Diözese Laibach ohne Ersatz für die Erzdiözese Görz. In Bezug auf den ersten Vorschlag antwortete er, dass ihm der Tausch – ebenso wie seinem Vorgänger – nicht so wichtig erscheint. Für den Erzbischof von Görz ergäbe sich keine Verbesserung, wenn er nun zur Visitation nach Kärnten statt nach Oberkrain reisen müsste. Als Beispiel dafür, dass der Tausch der 9
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Pfarreien keine besseren Lösungen bringen würde, führte er Pfarreien an, die unter dem Patronat des Laibacher Domkapitels standen, wobei dieses auch weiterhin die Pfarrer nach eigenem Gutdünken bestellen würde. Viel wichtiger als die Frage der Grenzziehung der Diözesen war ihm, genau wie seinem Vorgänger, dass der Bischof von Laibach ihn als Metropolit anerkannte. Er reagierte sehr scharf auf Herbersteins Vorschlag, dass die Diözese Laibach zur Erzdiözese und Görz zur Diözese werden sollte: „Es sei viel weniger Aufwand erforderlich, wenn sich der Bischof von Laibach dem Erzbischof von Görz unterwirft, als dass der Erzbischof von Görz zu einem Laibacher Suffragan wird, wie es der Bischof von Laibach letztens vorgeschlagen hatte.“ Im Herbst 1775 startete Bischof Herberstein seinen dritten Versuch.10 In einem Brief bezog er sich auf seinen Vorschlag von 1773, der bei seinen Visitationen in den Diözesen gereift ist. Die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Umstrukturierung wurde in ihm nur verstärkt, sodass er seine Bitte erneut vorbrachte. Er schreibt, dass der Brief zu umfangreich werden würde, wenn er alle Gründe anführen wollte, und erwähnt daher nur die wichtigsten: Die Priester müssen, um zu ihren Gläubigen zu gelangen, Gebiete überqueren, die zur Erzdiözese Görz gehören; die Pfarreien befinden sich oft näher an den fremden Bischofssitzen als an denen der eigenen Diözese; die Gläubigen hören nicht auf die Predigten und Lehren ihrer eigenen Pfarrer, weil sie ihre Pfarrkirchen nicht besuchen, wodurch es den Geistlichen unmöglich gemacht wird, die Anweisungen des Bischofs bezüglich der Erfüllung der Pflichten der Gläubigen auszuführen. Es sei ferner unmöglich, die „nützlichen jährlichen Befragungen“ durchzuführen, die der Bischof eingeführt hat, um der Unwissenheit der Gläubigen in religiösen Angelegenheiten entgegenzuwirken; den Pfarrern wird es unmöglich gemacht, die Osterbeichte der Pfarrmitglieder zu kontrollieren. In einer einheitlichen Diözese wäre es auch für ihn einfacher, verbunden mit geringeren Kosten und mit weniger Aufwand, Mühe und Zeit, die Visitationen und alle anderen Aufgaben eines Kirchenvorstehers durchzuführen. Aus der Stellungnahme der Kommission „in publico ecclesiasticis“ ist ersichtlich, dass Herbersteins Vorschlag auf reale Probleme aufmerksam gemacht hat, für die die Herrscherin noch keine Lösungen erarbeitet hatte. Eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Herberstein drückt die Feststellung der Kommission aus, dass „in Herbersteins Vorschlag ein ausgeprägter Wunsch besteht, selbst Erzbischof und der Bischof von Görz sein Suffragan werden sollte“. Es wurden auch einige Gründe aufgezählt, warum der Vorschlag zu diesem Zeitpunkt nicht durchführbar war: Maria Theresia hat dem Erzbischof von Görz versprochen, dass vorerst die vorgesehene Konzentration nicht durchgeführt wird und der Erz10
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bischof von Görz verlangt, dass sich Herberstein als Suffragan ihm unterzuordnen habe. Bevor man sich einem solchen Unterfangen widmen könnte, müssten die Befugnisse zwischen Kirche und Staat geklärt werden. Die Angelegenheit sollte schrittweise angegangen werden. Die Herrscherin riet den Bischöfen, sie sollten versuchen, den Tausch der Pfarreien in Kärnten und Krain durchzuführen und den Vorschlag zur Konzentration vorerst fallen zu lassen.11 In den folgenden Jahren wurde nur die Entscheidung getroffen, den Vorschlag zur Konzentration aufzugeben. Nach dem Tod von Maria Theresia sandte Bischof Herberstein am 11. November 1781 einen neuen Vorschlag zur Regelung der Beziehungen zwischen der Diözese Laibach und der Erzdiözese Görz. Er richtete den Brief an den Kaiser.12 Ausgehend von den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts beginnt er seinen Brief: „Vor den Thron Ihrer Majestät bringe ich einen Plan für die Konzentration der Kirche in Krain, der sich von der bisherigen Anordnung dieses Landes unterscheidet, aber ich hoffe fest und bin zutiefst überzeugt, dass er der Staats = Einrichtung angemessener und zur Beförderung der ächten Gottseligkeit erprüsslicher sei.“ Anschließend beschreibt er die Teilung der Kirche in Krain. Sie sei vier Bischöfen unterstellt: in Pedena, Triest, Görz und Laibach, weiters noch dem Vicario Apostolico in Pazin (Pisino) und dem Archidiakon in Rijeka (Fiume). Die Bischöfe von Triest und Pedena haben nur kleine Gebiete. Der größte Teil von Krain falle unter die Erzdiözese Görz, und nur ein kleiner Teil gehört der Diözese Laibach. Zur Diözese Laibach gehört auch ein Teil der slowenischen Steiermark und des slowenischen Kärntens („windisch Steyer und windisch Kärnthen“), wo größere Gebiete auch dem Erzbischof von Görz gehören. Daraus ergeben sich viele Unannehmlichkeiten: Die Diözesangrenzen sind sehr unreguliert, wie aus der beigefügten geographischen Karte hervorgeht. Die Visitationen werden erschwert, die Ausführung der höchsten Befehle kann nicht gleich und präzise kontrolliert werden, Ähnliches gilt für die Verordnungen in Bezug auf die kirchliche Disziplin, die Vorschriften über das Verhalten der Geistlichen, bezogen auf die Frömmigkeit, die in den einzelnen Diözesen verschieden sind. Zum Beispiel hat die Erzdiözese Görz viele Feiertage, die Laibach nicht hat. Und so ziehen die Gläubigen der Diözese Laibach in die Kirchen der Erzdiözese Görz. Dies ergibt wiederum einen Anstoß für ungleiches Verhalten, Arbeitsscheu, Unruhen und Unterschiede in der Lehre. Die Prinzipien der Priester sind unterschiedlich, und die Gläu11
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Österreichisches Staatsarchiv, AVA, CUM, Karton 115, 49 v. J.1775, 25. Nov.; Valentin Einspieler, Johann Karl Graf von Herberstein, Bischof von Laibach. Sein Leben, Wirken und seine Stellung in der Geschichte des Josephinismus. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der philosophischen Fakultät der Universität Wien, Wien 1951, 66 Euer Kays. Königl. Apostolische Majestät
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bigen schwanken. Die derzeitige Situation behindert Gerichtsverfahren, im Falle einer Klage gegen einen Krainer ist es erforderlich, das Kreisamt in Krain zu kontaktieren, bei einer Klage gegen einen slowenischen Steirer oder Kärntner aber das örtliche Kreisamt oder selbiges in Graz. Er betonte, dass sein Vorschlag zur Lösung all dieser Probleme beiträgt. In diesem Vorschlag forderte er erstmals ausdrücklich, dass ganz Krain einer Diözese mit dem Sitz in Laibach unterstellt werden sollte. Die Diözese Görz soll mit Triest verschmelzen. Triest wäre auch der natürlichste und geeignetste Ort für einen Diözesansitz. Dies wäre eine mögliche Lösung für alle anderen Probleme, sodass die slowenische Steiermark und das slowenische Kärnten hinsichtlich ihrer natürlichen Lage dem steirischen bzw. dem Kärntner Bischof unterstellt werden sollten. Er schlägt aber nicht nur Änderungen an den Grenzen der Diözese vor, sondern auch die Aufhebung der herrschenden Verwaltungsstruktur des Patriarchats von Aquileia, die auch von der Erzdiözese Görz mit sechs Archidiakonen aufrechterhalten wurde. Die Archidiakone hatten praktisch unbegrenzte Gerichtsbarkeit: Sie hielten Konsistorien ab, sie
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konnten Synoden einberufen, sie bestätigten Kandidaten für Pfarreien und Kaplaneien. Da sie ein Recht auf Präsentationen, Nominierungen und Installationen hatten, konnten sie diese vollkommen frei vergeben. Dabei äußerte er sich vorwurfsvoll gegenüber beiden Äbten und behauptete, dass sie die lukrativsten Pfarren nur den Mitgliedern ihrer eigenen Orden zuteilten. Sie hätten ferner das Recht zu suspendieren, zu exkommunizieren usw. Mit einem Wort, sie übten alle bischöflichen Befugnisse aus, mit Ausnahme der Sakramente, die nur der Bischof geben konnte. Entschieden lehnte er auch das Recht auf Priesteranstellungen durch die Klöster Sittich und Landstraß sowie durch das Frauenkloster in Velesovo ab. Er kritisierte das Kloster Sittich mit der Aussage, dass es die besten Pfarreien den Ordenspriestern zur Verwaltung gebe, wobei ihnen der wirtschaftliche Nutzen wichtiger wäre als die Seelsorge. Die weniger ertragreichen Pfarreien werden an Weltpriester vergeben, bezüglich Velesovo fragte er sich: „Wie sollten erst die Nonnen zwischen den vier Mauern die Verdienste der Seelsorger in ihren Pfarreien beurteilen?“ Herbersteins Brief kam in die Hände des Kaisers. Er schickte ihn an die Böhmisch- Österreichische Hofkanzlei, die eine Stellungnahme ausarbeiten sollte, „wie es möglich wäre, die notwendige bessere Aufteilung am besten umzusetzen?“. Herbersteins Brief hat somit das Projekt einer neuen Grenzziehung der Diözesen in Innerösterreich in Gang gesetzt. Bereits zur Stellungnahme von Hofrat Franz Josef Heinke, der die vielfältigen Probleme von Herbersteins Vorschlägen erkannte und daher die Frage der neuen Umstrukturierung der Diözesen umfassender betrachtete, meinte die Böhmisch-Österreichische Hofkanzlei, die die Dringlichkeit und Komplexität dieser Frage noch nicht klar verstanden hatte, dass der Referent auf Dinge hingewiesen hat, von denen hier keine Rede sei“13. Um die kirchliche Anordnung der damaligen Bezirke Laibach und Cilli zu veranschaulichen, fügte Herberstein eine Karte bei. Auf Grundlage der Herberstein-Karte nahm der Kaiser an, dass die Situation anderswo ähnlich war, und forderte am 14. Januar 1782 Karten aller Diözesen in Österreich mit Informationen über die Anzahl der Pfarreien und die Länderzugehörigkeit der Ordinariate an.14 In den folgenden Monaten wurden erste Vorschläge für eine weitreichende Umgestaltung der Diözesangrenzen gemacht. Der Kaiser wartete nicht auf die Karten, deren Vorlage er verlangt hatte, sondern befahl im Februar 1782 der Hofkanzlei, einen Plan zu erstellen, wie viele Diözesen in den einzelnen Ländern angesiedelt sein sollten, in welchen Städten die Diözesansitze sein sollten, wohin die bestehenden verlegt werden sollten und wo neue errichtet werden sollten. Am 10. März hatte Ratsmitglied Heinke bereits einen Vorschlag zur Grenzziehung der Diözesen unterbreitet. Kaiser Joseph II. hatte jedoch bereits 13 14
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am Tag zuvor, am 9. März, an den Grafen von Blümeg seinen Plan übermittelt. Der Plan des Kaisers enthielt Vorschläge für Böhmen, Mähren, Galizien, Niederösterreich, Tirol und Innerösterreich. Für sie plante er die Verlegung des Sitzes der Erzdiözese Görz nach Gurk, die Diözese Seckau würde die gesamte Steiermark verwalten, Laibach das gesamte Krain, die Lavantinische und die Gurker Diözese sollten sich die Gebiete der Erzdiözese Görz in Kärnten teilen. Der Diözesansitz aus Triest sollte nach Görz umziehen und die beiden Diözesen sollten sich vereinen. Es würde auch zu einem Austausch von Pfarreien unter der Herrschaft der venezianischen Republik und von Pfarreien aus dem österreichischen Teil der Diözesen im venezianischen Staat kommen. Auf die Diözese Pedena vergaß er.15 Die Anzahl der Diözesen würde unverändert bleiben.16 Die weiteren Schritte zur Regulierung der Diözesen wurden durch die Resolution vom 29. April geregelt. Für Innerösterreich wurde festgelegt, dass aufgrund der Zersplitterung und Vermischung der Diözesen ein Kommissar ernannt werden sollte, der die Grenzen für die Diözesen Seckau, Lavant, Gurk, Laibach und Triest sowie die Erzdiözese Görz vorschlagen sollte. Die Grenzen sollten den Standort, die Bevölkerung und die Sprachen des Landes berücksichtigen17. Mit dem Hofdekret vom 12. Juni 178218 wurde der Bischof von Gurk, Joseph Franz Anton Reichsgraf von Auersperg (1734–1795), zum Kommissar ernannt. Zu den bereits aus der ersten Hälfte des Jahres 1782 erstellten Richtlinien wurde für Auersperg noch Folgendes hinzugefügt: • Alle Diözesen, die ihren Bischofssitz im Ausland haben, verlieren ihr Territorium in Innerösterreich. • Die Situation der einzelnen Länder, der Bevölkerung und der Sprache sei zu berücksichtigen. Jede Diözese sollte eine Ganzheit sein, damit kein Bischof über das Gebiet einer anderen gehen muss. Die Diözese sollte nach Möglichkeit nur von einer Landesstelle abhängig sein. • Quasiordinariate sollten zur Gänze abgeschafft werden. • Er soll sich auf verfügbare Ressourcen und sein eigenes Wissen stützen, das Projekt so geheim wie möglich halten und seinem Plan eine Gebietskarte der Diözesen beilegen. Bischof Auersperg erledigte die ihm übertragene Aufgabe innerhalb von vier Monaten und beendete sie am 21. Oktober 1782 in Pöckstein-Zwischenwässern in Kärnten. In einem Begleitschreiben versichert er, dass er die Aufgabe mit aller Zuverlässigkeit und Ausdauer erledigt hat, und fügte eine Beschreibung der Vorschläge, Listen und Übersichtskarten (Idealmappen) bei. Er entschuldigt sich für die Verzögerung, zu der es entgegen der Erwar15 16 17 18
Rado Kušej, Joseph II., 56 Rado Kušej, Joseph II., 53 Rado Kušej, Joseph II., 66 Österreichisches Staatsarchiv, AVA, CUM, Karton 115, 267 ex Dec. 1782
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Übersichtskarte der Innerösterreichischen Diözesen vor der Josephinischen Regulierung. Karte zum Plan I., wo die deutsch-slowenische Sprachgrenze als künftige Dözesangrenze vorgeschlagen war
tung des Kaisers möglicherweise gekommen ist, aber er konnte die Informationen aus den einzelnen Gebieten der Diözesen nicht schneller erhalten, obwohl ihn die Landesämter nach Kräften unterstützt haben. Auersperg sammelte im genannten Zeitraum statistische Daten über die Anzahl der Gläubigen nach den einzelnen pastoralen Standorten, ihre Zugehörigkeit zur kirchlichen Verwaltungseinheit und Angaben zur Sprache der Gläubigen. Auf dieser Grundlage erstellte er drei Vorschläge für einen „Plan für eine bessere Aufteilung der Diözesen in Innerösterreich“ mit einer tabellarischen Übersicht der pastoralen Standorte (Pfarreien, Vikariate), einer Beschreibung der Vorschläge und vier Karten und sandte sie nach Wien. Er beschrieb zunächst die Geschichte der Organisation der damaligen Situation, dargestellt durch die beigefügte Karte. Drei Pläne folgten. Eine tabellarische Übersicht über den ersten Plan, die auch die Grundlage für die nächsten beiden war, trägt die Bezeichnung Lit. A. Sie enthält Informationen zu pastoralen Standorten, die einer bestimmten Diözese
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zugeordnet werden sollen. In der ersten Spalte steht der Name der Diözese, in der zweiten Spalte Informationen zu den pastoralen Standorten: Land und Kreis, in dem sie sich befindet, die Zugehörigkeit zur damaligen Diözese, der Name des pastoralen Standortes, die Anzahl der Seelen und die Sprache. Abschließend wurde bei jeder Diözese die Anzahl der Gläubigen vermerkt und ein Überblick darüber erstellt, wie viele pastorale Standorte und wie viele Gläubige aus der vorherigen Diözese in die neue gekommen sind. Nach den Anweisungen aus Wien waren für Innerösterreich fünf Diözesen geplant: Gurk, Seckau, Lavant, Laibach und Görz, der die Diözese Triest angeschlossen werden sollte. Nach diesem Plan würde die Diözese Seckau (Graz) 400 Pfarreien und örtliche Kaplaneien mit 811.504 Gläubigen zählen. Am 19. Juli wurde Auersperg aus Wien darüber informiert, dass er auch nach anderen Lösungen suchen könne. Auf dieser Basis arbeitete Auersperg seine Pläne aus.19 Nach dem ersten Vorschlag (I. Plan) Gurk, Völkermarkter Kreis, ein Teil des Kreises Klagenfurt und der Judenburger Kreis in der Steiermark. • Seckau, den Rest der Steiermark bis zur Grenze zur Diözese Lavant. Bei der Grenzziehung zwischen den Diözesen Seckau und Lavant wurde ihm, wie er betonte, die Möglichkeit geboten auch selbst, „die höchste Anweisung in Bezug auf die Provinzsprachen“ durchzuführen. Daher würde die Diözese Seckau die deutschen Pfarreien des Marburger und des Grazer Kreises erhalten. Die Diözese Seckau wäre also ganz Deutsch, was er für einen großen Vorteil hält, „da sie dann nur für deutsche Priester sorgen wird“. Die Diözese Seckau würde sich auf die Landkreise Marburg, Graz, Judenburg und Bruck erstrecken und 230 pastorale Standorte mit 482.165 Gläubigen zählen. • Für die Diözese Lavant war laut Auersperg der Völkermarkter Landkreis in Kärnten vorgesehen, zu dieser Lösung neigte er „teilweise wegen der Lage der beiden Diözesen in Kärnten und teilweise durch die slowenische Sprache, die im Hinblick auf ganz Kärnten hier am häufigsten anzutreffen sei“. Weiters bestimmte er für sie den Kreis Cilli, der von der slowenischen Sprache dominiert wird, sowie den Teil des Marburger Kreises, in dem sich slowenische Pfarreien befinden, und ebenfalls die zwei überwiegend slowenischsprachigen Pfarreien Mureck und Radkersburg im Grazer Kreis. Somit wäre die Diözese Lavant nicht kleiner als die anderen, und die Diözese würde kontinuierlich bestehen bleiben. Er hob den besonderen Vorteil der slowenischen Sprache hervor, die mit Ausnahme einiger deutscher Pfarreien die Diözese innerlich enger 19
Publiziert wurden die Karten: Vincenc Rajšp Karte ob novi razmejirtvi škofij na področju Notranje Avstrije v času cesarja Jožefa II. In: Vincenc Rajšp, Ernst Bruckmüller (Hrsg.), Vilfanov zbornik, Pravo-zgodovina-narod/Recht-Geschichte-Nation. Ljubljana 1999, 362
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verbinden würde. Sie würde 216 pastorale Standorte mit 384.190 Gläubigen zählen. 18 Pfarreien mit 24.229 Gläubigen wären vollständig deutsch, die Pfarre Völkermarkt wäre sprachlich gemischt. Alle anderen Pfarreien in der Diözese Lavant wären slowenisch mit einer kleinen deutschsprachigen Bevölkerung. Zum Beispiel wird Deutsch für Marburg nicht erwähnt, obwohl darauf hingewiesen wird, dass die Landbevölkerung Slowenisch spricht, d. h. die Stadtbevölkerung Deutsch. Für die Pfarre Mureck (Cmurek) mit 2.950 Seelen und Radkersburg (Radgona) mit 3.347 Seelen erwähnt er, dass sie teilweise Deutsch waren, aber die Präsenz der deutschen Sprache schien ihm in keiner der beiden so groß, dass er sie als zweisprachig bezeichnen würde. Für die Diözese Lavant war auch die Anfügung der Pfarren Leutschach (Lučane) mit 4.544 Gläubigen und Gamlitz (Gomilica) mit 3.651 Gläubigen vorgesehen. • Die Diözese Laibach würde den größten Teil des Landes Krain umfassen. Sprachlich wäre sie Slowenisch, außer in der Gottschee, wo ein spezielles Deutsch gesprochen wird. Aus sprachlichen Gründen beabsichtigte Auersperg den Diözesen Triest oder Görz die Tschitscherei anzuschließen, wo sie „eine ganz besondere Sprache sprechen, die teilweise Illyrisch und teilweise Kroatisch ist“. Als Ersatz für die Tschitscherei schlug er vor, fünf Pfarreien und vier Kaplaneien aus der Diözese Triest der Diözese Laibach zu geben. Die Diözese würde 190 Seelsorgestandorte mit 339.634 Gläubigen zählen. • Die Diözese Görz würde das Land Görz und Gradisca umfassen, sowie die Diözesen Triest und Pedena und alle Pfarreien, die zur Diözese der Republik Venedig gehörten. Bischof Auersperg äußerte sich besorgt darüber, dass die Diözese zu groß sein würde, eine weitere Schwierigkeit sah der Bischof auch in der Tatsache, dass die Diözese unter zwei Länder fallen würde. Die Diözese wäre mehrsprachig. Slowenisch würde vorherrschen, jenseits des Isonzo würde Friulanisch gesprochen, in der Stadt Triest neben Slowenisch auch noch Italienisch und Deutsch und in der Tschitscherei, das er dieser Diözese anschließen mochte, ist die Sprache ähnlich der von Pedena bzw. unterscheidet sie sich nicht wesentlich von dieser. Die Diözese würde 220 pastorale Standorte mit 205.278 Gläubigen zählen. Nach dem zweiten Vorschlag (Plan II) würde sich die Anzahl der Diözesen um eine erhöhen, eine Diözese mit Sitz in Leoben oder Judenburg. Dieser Plan untergrub vor allem das Vorhaben einer Grenzziehung zwischen den Diözesen Seckau und Lavant entlang der Sprachgrenze in der Steiermark, da somit der gesamte Marburger Kreis zur Diözese Seckau gehören würde; Die Grenze würde nämlich entlang der Drau verlaufen. Er bemerkte für die Diözese Lavant, dass die slowenische Sprache weiterhin eine gute Position darin behalten würde. Für die Diözesen Laibach und Görz würde sich überhaupt nichts ändern. Bischof Auersperg lag dieser Plan nicht allzu sehr am Herzen. Er wollte daher dem Kaiser noch seinen Plan vorlegen, der wohl ein wenig von der Resolution abwich, mit dem
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aber Bischof Auersperg am meisten zufrieden wäre. Er präsentierte ihn mit einer Karte (Plan III). Nach diesem Plan würde es in Innerösterreich acht Diözesen geben. Auersperg begründete ihn vor allem aus der Sicht eines Bischofs. Nach diesem Plan wäre der Bischof im Zentrum der Diözese und hätte einen guten Blick auf die Herde. Er konnte die Priester genau beobachten und die Erfüllung ihrer Pflichten kontrollieren, und der Zugang der Priester zum Bischof würde erleichtert. Der Nutzen wäre auch größer, wenn Diözesanstädte zu Zentren von Gubernien und Kreisleitungen würden, da viele Amtsgeschäfte an einem Ort erledigt werden könnten. Die Diözese Graz würde den gesamten Grazer Kreis abdecken, mit Ausnahme von zwei Pfarreien, Mureck und Radkersburg, die zur Diözese Lavant gehörten, und dem deutschen Teil des Kreises Maribor. Der Sitz der Diözese Lavant würde nach Judenburg oder Leoben verlegt, und die Diözese würde den Bezirk Judenburg umfassen. Der Diözesansitz von Pedena würde nach Cilli verlegt, wo die neue Diözese ihren Sitz hätte. Die Diözese würde den Kreis Cilli und die slowenischen Teile der Bezirke Marburg und Graz umfassen. Sprachlich wurde sie in ihrer Gesamtheit als Slowenisch gelten. Kärnten würde in zwei Diözesen mit Sitz in Klagenfurt und Villach aufgeteilt. In beiden wären Deutsch und Slowenisch präsent. Die Diözese Laibach, die nach dieser Teilung nicht die Pfarreien der Diözese Triest erhalten würde, wäre slowenisch, mit Ausnahme der Gottschee „mit einer besonderen Sprache“. Das Gebiet der Diözese Görz würde Görz und Gradiška umfassen. Die Entscheidung, ob die Pfarreien von Görz der Diözese Görz oder der Diözese Triest angehören sollten, überließ er dem Kaiser. Die Diözese wird sprachlich als Slowenisch und jenseits des Isonzo als Friaulisch bezeichnet. Die Diözese mit Sitz in Triest würde ebenfalls bleiben. Die Reform wurde 1787 durchgeführt, Laibach wurde zur Erzdiözese, Kaiser Joseph II. ernannte Herberstein zu ihrem Erzbischof, er wurde jedoch vom Papst nicht bestätigt. In Bezug auf die Grenzziehung zwischen den Diözesen Seckau und Lavant gewann der zweite Auersperg-Plan, weil der Grazer Bischof mit dem ersten nicht einverstanden war. Mit einigen Pfarreien reichte die Diözese Seckau bis südlich der Drau. Der Grenzziehungsplan für die Diözese Lavant wurde jedoch nicht als endgültig angesehen. Doch wurden die Neuorganisation und die neue Grenzziehung der innerösterreichischen Diözesen vor allem von der Staatsmacht nicht als geglückt angesehen. Als überflüssig wurde die neue Diözese Leoben betrachtet, und für den ersten Bischof Graf Engel wurde nach seinem Tod im Jahre 1800 kein Nachfolger bestellt. Schon ein Jahr vor seinem Tod, 1799, arbeitete das Gubernium Graz den Vorschlag aus, die Diözese Leoben abzuschaffen, ihr Gebiet der Diözese Seckau anzugliedern und die Diözese Lavant in die Untersteiermark
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zu transferieren, wo sie die Kreise Cilli und Marburg umfassen sollte.20 Der Bischof von Seckau, Arco, war mit diesem Vorschlag jedoch nicht einverstanden, er wäre bereit, nur die Pfarren jenseits der Drau abzutreten. Der Widerstand der Grazer Bischöfe gegen eine Änderung der südlichen Diözesangrenze bildete eine Konstante bis 1853, als der Salzburger Erzbischof Tarnóczy einen Reformvorschlag während der Sedisvakanz unterbreitete. Kaiser Franz II. befahl 1804 eine Reorganisation der Grenzen, nach der die Diözese Gurk das ganze Land Kärnten umfassen sollte, in der Steiermark sollten zwei Diözesen sein, die Diözese Seckau, zu der auch das Gebiet des Bistums Leoben gehören sollte, während der Marburger Kreis in den Rahmen der Diözese Lavant mit dem Sitz in Maribor eingebunden werden sollte. Diesmal wurde bewusst das sprachliche Kriterium betont, die Steiermark sollte nämlich in die „deutsche“ Diözese Seckau und die slowenische („windische“) Diözese Lavant geteilt werden. Die Durchführung des kaiserlichen Dekretes zog sich jedoch in die Länge. Wie aus dem Vortrag an den Kaiser von 1810 hervorgeht, hatte der Vorschlag mehrere Gegner. An erster Stelle war das der Bischof von Seckau, der wiederholt schon darum gebeten hatte, „ihm den Marburger Kreis ganz oder doch zum Theile zu überlassen, weil dieses gerade derjenige Kreis sey, aus welchem die Diözese größtentheils ihren Nachwuchs von Klerus erhalten könne“. Einer Teilung des Kreises auf zwei Diözesen widersetzte sich jedoch die Hofkanzlei, der Referent führte weiter aus, dass „durch die Belassung des Marburger Kreises bey der Seggauer Diözese einen sehr rücksichtswürdigen Wunsche des Fürstbischofs abgeholfen werden würde“. In Bezug auf eine Ausweitung der Diözese Lavant auf den Marburger Kreis wurden im Vortrag auch politische Bedenken ins Treffen geführt, denn „die Absonderung Steyermarks in zwey Diözesen nach Verschiedenheit der Sprachen, nämlich in ein deutsches und ein windisches Bistum, würde, politisch betrachtet, Nachteile haben, da sie nicht leicht geeignet wäre, das Band der Eintracht und des Gemeingeistes unter den Einwohnern dieser Provinz näher zu knüpfen“. Obwohl die Zuteilung des Marburger Kreises starke Befürworter bei den Vertretern der Hofkanzlei hatte, rieten diese jedoch davon ab, der Diözese auch ein Priesterseminar zuzugestehen: Es sollte nur ein gemeinsames in Graz geben, sowohl aus finanziellen Gründen als auch „um eine mehr gleichförmige Bildung des jungen Klerus zu erzielen“.21 Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit, die Diözesangrenzen neu zu ordnen, in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, war der Vorschlag aus dem Jahr 1804 noch immer aktuell. Doch der Bischof von Seckau, Roman Sebastian Zängerle (1771–1848), widersetzte sich diesem vehement und wurde dabei auch vom Gubernium in Graz unterstützt.22 Er 20 21 22
Hubert Bastgen, Die Neuerrichtung der Bistümer in Österreich nach der Säkularisation. Wien 1914, 96 Österreichisches Staatsarchiv, AVA, Alter Kultus, Kart. 117, 98 ex Julio 1810 Vincenc Rajšp, Das Bistum Seckau und die Slowenen bis 1859. In: Ludwig Karničar, Vincenc Rajšp (Hrsg.) Graz und Slowenen/Gradec in Slovenci, Wien-Graz-Ljubljana 2011, 199–211
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begründete seinen Widerstand mit dem Argument, die Diözese Seckau würde einen Mangel an Priesternachwuchs erleiden, da die meisten Priester aus dem slowenischen Teil des Bistums kämen. Obwohl Bischof Zängerle in der slowenischen Geschichtsschreibung eine positive Nachrede genießt, soll doch angeführt werden, dass er kein Verständnis für die slowenische Sprache und ein slowenisches Bildungswesen zeigte und jede Idee der Gründung eines slowenischen Bistums ablehnte. In einem Schreiben an den Kaiser, in dem er vermerkt, dass ein slowenisches Bistum nicht notwendig sei, schrieb er unter anderem: „Fürs erste besteht ein sehr großer, vielleicht der dritte Theil der Inwohner des Marburger Kreises aus Deutschen gleichwie in den Provinzial=Städten Marburg und Pettau so zu sagen nur deutsch gesprochen wird, und es kann daher bey dieser Veränderung immerhin auf die Sprache nicht allgemeine Rücksicht genommen werden. Zweitens ist nicht abzusehen, daß hierdurch der geistliche Dienst für das Heil der Gläubigen einen Vorschub gewinne, indem ich aus Erfahrung weiß, daß in allen Gemeinden nebst den Beamten, Seelsorger und Schullehrern auch viele Gemeindeinsassen der deutschen Sprache kündig sind, und ich bey den Visitationen selten gehindert war deutsche Predigten zu halten; gleichwie auch allerhöchst anbefohlen ist, daß die Schuljugend zur Erlernung der deutschen Sprache verhalten wird.“
Dass sich die slowenischen Priester offensichtlich einen Bischof mit Slowenisch-Kenntnissen oder einen Slowenen als Bischof wünschten, zeigte sich bei der Ernennung des Nachfolgers für Zängerle. Wie Dekan Lovro Vogrin an den Religionsprofessor an der Realschule in Graz, Dr. Jožef Muršec, schrieb, wünschten sich die Menschen einen slowenischen Bischof, und es solle eine diesbezügliche Petition an den Salzburger Erzbischof Schwarzenberg adressiert werden. Vogrin selbst meinte, dass es vorteilhafter wäre, den slowenischen Teil des Bistums Seckau an die Diözese Lavant anzugliedern, doch stimmten diesem Vorschlag nicht alle Priester zu.23 Mit der Ernennung des Bischofs Joseph Othmar Ritter von Rauscher 1849 berücksichtigte der Salzburger Erzbischof Schwarzenberg nicht die Wünsche der slowenischen Gläubigen und Priester. In Salzburg änderten sich die Verhältnisse mit dem Antritt des neuen Erzbischofs Maximilian Tarnóczy (1806–1876) 1850 grundlegend, der mit seinem Memorandum vom 21. Juli 1853 erneut die Frage über „eine Zwekmäßige Arrondierung der Diözesandistrikte in Steiermark und Kärnten“ ansprach, indem er vorschlug, 23
Vinko Škafar, Lovro Vogrin in njegova „Pastirna“. In: Avguštin Lah (Hrsg.), 130 let visokega šolstva v Mariboru. Celje 1991, 151
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das Bisthum Leoben aufzuheben und der Diözese Seckau einzuverleiben; die Diözese Seckau solle die nunmehrigen Kreise Gratz und Bruck umfassen, die Diözese Lavant den Marburger Kreis und die Diözese Gurk ganz Kärnten.
Schon Lovro Vogrin schrieb die Verdienste für den Erfolg dem Erzbischof Tarnóczy, dem Lavanter Bischof A. M. Slomšek sowie den slowenischen Priestern der Diözese Seckau zu, die für diesen Zweck 2740 Gulden gesammelt hatten. Tarnóczy fasste in seinem Memorandum die Geschichte der Organisation der innerösterreichischen Bistumsgrenzen zusammen und stellte die Vorteile der Verwirklichung dieses Planes vor. Er stellte dabei die Sprachenfrage in den Vordergrund. Es sei bei den Bischofsernennungen ein Vorteil für den Erzbischof, denn „dan kann mit Beruhigung der Diözese Seckau ein der slawischen Sprache nicht mächtiger Bischof gegeben werden und die diesfällige Sorge verbleibt nur noch bei Besetzung des Bisthums Gurk und Lavant“. Bei der Diözese Seckau sah er den Vorteil und eine Erleichterung darin, „als dann keine Anforderungen wegen Berücksichtigung der National- und Sprachverschiedenheit an selbes gestellt werden können“, was zwar nicht ganz richtig war, denn es blieben noch immer an die 20.000 Slowenen in der Diözese Seckau. Der Erzbischof entkräftete aber auch den eventuellen Einwand, dass die Diözese die meisten Priester aus diesem Gebiet bekomme, mit der Feststellung, „daß diese vorzugsweise Würdigkeit sich in der That nicht herausstelle, indem nicht ein Mitglied des Domkapitels, das aus dem slawischen Antheil der Diözese stammt und das Verzeichniß der Zöglinge des Knabenseminars beurkundet, daß nur sehr wenige derselben im Marburger Kreise geboren sind. Ein schlagender Beweis, daß eine solche Einwendung grundloß wäre“.24 Zweifellos trug für die Entscheidung, den lavantinischen Bischofssitz zu verlegen und die Diözesangrenzen zugunsten der „slowenischen Diözese“ in der Untersteiermark zu ändern, die allgemeine politische Situation dieser Zeit bei. Nachdem 1848 die Idee der Völkergleichheit aufgekommen ist, die auch von Kaiser Franz Joseph betont wurde, etwa als 1849 das Reichsgesetz- und Regierungsblatt veröffentlicht wurde, „ [..] dann um hierbei auch dem Grundsatze der Gleichberechtigung aller in unserem Reiche vereinigten Nationalitäten volle Rechnung zu tragen, [...] wird von einem nachträglich zu bestimmenden Zeitpuncte ein allgemeines Reichsgesetz = und Regierungsblatt in allen landesüblichen Sprachen ausgegeben werden“. [...] „Die Texte in den verschiedenen Landessprachen sind gleich authentisch“, [...] „In jedem Kronlande wird ein Landesgesetz= und Regierungsblatt 24
Österreichisches Staatsarchiv, AVA, Neuer Kultus, Karton 100, Vortrag Ministers Leo von Thun, 26. 10. 1856
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in den Landessprachen mit beigefügter deutscher Übersetzung erscheinen“25 Geplant waren Ausgaben in zehn Sprachen, darunter auch „in slowenischer Schriftsprache“.26 Zum ersten Mal in der Geschichte haben Sprachen auch in der Verwaltung eine wichtige Rolle gespielt.27 Auf sprachlicher Basis verlief 1849 die neue Kreisgrenze zwischen dem Marburger Kreis und dem Grazer Kreis. Diese Grenze war dann auch für die Diözesangrenze zwischen der Diözese Seckau und der Diözese Lavant entscheidend. Diese Grenze war im Vergleich zur Kreisgrenze zum Zeitpunkt der Umstrukturierung der Diözesangrenzen von Kaiser Joseph II. anders, weil die Marburger Kreisgrenze im Norden nicht mehr in den geschlossenen deutschen Sprachraum reichte. Die Verlegung des lavantinischen Diözesansitzes von St. Andrä in Kärnten nach Marburg (Maribor) in der Untersteiermark im Jahr 1859 war der Abschluss der Bemühungen der letzten sechs Jahrzehnte. Würdenträger der Kirche sowie hochrangige Staatsbeamte der Provinz- und Zentralämter und der Ministerien in Wien waren an diesem Prozess beteiligt, ungeachtet der Tatsache, dass es in beiden Reihen auch Gegner gab, von denen die Bischöfe von Graz am gewichtigsten waren. Die slowenischen Priester haben viel zur Förderung der slowenischen Sprache im öffentlichen Leben beigetragen.28 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es slowenische Bischöfe, die den Unterricht in slowenischer Sprache forderten und slowenische Schulen im ländlichen Raum errichteten. Das waren zum Beispiel der Triester Bischof Matevž (Matthaeus) Ravnikar (1831–1845),29 der Laibacher Bischof Anton Alois Wolf (1824–1859)30, der lavantinische Bischof Ignac Franc Zimmermann (1824–1843)31 sowie der lavantinische Bischof Anton Martin Slomšek. Die Etablierung der slowenischen Sprache wurde auch von der Wiener Obrigkeit maßgeblich unterstützt. Herrscherin Maria Theresia erließ 1749 das erste Patent in slowenischer Sprache32, das noch nicht zur allgemeinen Veröffentlichung in staatlichen und provin25 26 27 28
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Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Oesterreich, Jahrgang 1849. Wien 1850, II, III Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt, VI Sergij Vilfan, Sprachgrenzen und Kreisgrenzen nach 1848, besonders in der Steiermark. In: Recht und Geschichte, Festschrift H. Baltl. Graz 1988, 593–609 Vincenc Rajšp, Römisch-katholische Kirche und ihr Einfluss auf die Formierung des nationalen Bewusstseins bei den Slowenen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1918. In: Peter Švorc, Lubica Harbulová, Karl Schwarz (Hrsg.), Cirkvi a národy strednej Európy – Die Kirchen und Völker Mitteleuropas: (1800–1950). Prešov; Wien 2008, 261–269 Slovenski biografski leksikon, III. Ljubljana 1960–1971), 46 France M. Dolinar, Wolfova življenjska pot. In: Edo Škulj (Hrsg.), Wolfov simpozij v Rimu, Celje 1994, 9–12 Slovenski biografski leksikon, IV. Ljubljana 1980, 817 Vincenc Rajšp, Uveljavljanje slovenščine kot poslovnega jezika v času Marije Terezije in Jožefa II. Patenti v slovenskem jeziku. Wiener slavistisches Jahrbuch, 2007, Bd. 53, 67–72
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ziellen Rechtsakten gelangte, es war aber der Beginn der Verwendung von Slowenisch als Amtssprache. Ein großer Fortschritt für den alltäglichen und wissenschaftlichen Gebrauch der slowenischen Sprache war die Schaffung einer Lehrkanzel für die slowenische Sprache am Lyzeum, später an der Universität Graz.33 Im Vorschlag wurden die Notwendigkeit und der Zweck wie folgt beschrieben: „Zweck: Ausbildung der Sprache – Notwendigkeit: a) für den Priester b) für den Beamten – Nutzen: 1) in religiöser und ästhetischer 2) in naturhistorischer und landwirtschaftlicher Hinsicht“.34 Das Interesse an slowenischen Vorlesungen lag hauptsächlich bei Theologiestudenten und Juristen. 1849 wurden per „Ministerialerlaß“ auch Vorträge in slowenischer Sprache im Fach „Allgemeines bürgerliches Recht und Strafrecht“35 eingeführt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Slowenen auch durch die Kartographie der Öffentlichkeit bekannt:36 Unter anderem wurde der slowenischen Nord- oder deutschen Südsprachengrenze in Kärnten und der Steiermark große Aufmerksamkeit gewidmet,37 indem das slowenische Sprachgebiet und seine Einordnung unter die anderen slawischen Sprachen klar dargestellt wurden.38 Zweifellos haben die slowenischen Wiener Slawisten Bartholomäus (Jernej) Kopitar (1780–1844) und Fran Miklošič (1813–1891) zur Etablierung der slowenischen Sprache beigetragen. Fran Miklošič, geboren in den Windischen Bücheln, wurde 1848 in den Reichstag gewählt und spielte in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eine entscheidende Rolle beim Studium der Slawistik an der Universität Wien sowie bei der Einführung der slowenischen Wirtschaftssprache, war er doch der erste Übersetzer des „Reichsgesetz- und
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Ludvik Karničar, 200 Jahre seit der Gründung des ersten Studentenvereins Societas Slovenica durch Johann Nepomuk Primitz (Janez Nepomuk Primic) und die Bedeutung der Stadt Graz für die Slowenen. In: Graz und Slowenen/Gradec in Slovenci, 23–38 Ludvik Karničar, 200 Jahre seit der Gründung, 28 Gernot Kocher, Josef Krainz, ein „innerösterreichischer“ Jurist. In: Vilfanov zbornik, Pravo-zgodovina-narod / Recht-Geschichte-Nation, 433–437 Vincenc Rajšp, Heinrich Freyers „Spezialkarte des Herzogthums Krain“. Das Slowenische in den Sprachenkarten und ethnographischen Karten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die erste slowenische topographische Karte Krains. In: Brunner, Kurt. Vorträge, Berichte, Posterbeiträge/15 Kartographiehistorisches Colloquium, München, 2.–4. September 2010. Bonn 2012, str.213–223. Vincenc Rajšp, Slowenisch-deutsche Sprachgrenze in der Steiermark bis zum ersten Weltkrieg. In: Ludvik Karničar, Andrej Leben (Hrsg.), Slowenen und Graz = Gradec in Slovenci (Slowenistische Forschungsberichte, Bd. 4). Graz 2014, 37–46 Vincenc Rajšp, Die erste Karte des slowenischen Siedlungsgebietes und ihre Vorlagen. Biblos: Österreichische Zeitschrift für Buch- und Bibliothekwesen, Documentation Bibliographie und Bibliophilie, 2007, 56, 1, 107–124
Wie eine Diözesangrenze zur Staatsgrenze wurde
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Regierungsblatt“ und auch der Urheber der slowenischen Rechtsterminologie.39 Die Übersetzung des Reichsgesetz- und Regierungsblattes war jedoch auch ein entscheidender Schritt zur Vereinheitlichung der slowenischen Schriftsprache. Die Vierziger- und Fünfzigerjahre des 19. Jahrhunderts stellen eine Zeit dar, in der die kulturelle, sprachliche und ethnografische Zusammenarbeit die katholische und die protestantische Intelligenz einander annäherte. Die vom Protestanten Pavel Josef Šafařík verfasste Karte „Slovanský zemévid“ von 1842 enthielt Informationen über die nordslowenische Sprachgrenze, die durch die Mitarbeit von slowenisch-katholischen Priestern wie Valentin Stanič aus Görz, Matija Majar aus Kärnten und Anton Martin Slomšek aus der Steiermark erbracht wurden. Dies ist auch die erste Karte, auf der Slowenen mit diesem Namen erwähnt werden. Basierend auf Šafaříks Daten verzeichnete 1843 Karl Bernhardi auf der „Sprachkarte von Deutschland“ die Sprachgrenze in Kärnten und in der Steiermark, und beide sind auch die Verfasser der „Ethnographischen Karte der österreichischen Monarchie“, die 1846 im Physikalischen Atlas veröffentlicht wurde und in der die Slowenen in deutscher Sprache erstmals als „Slovenzen“ bezeichnet werden. Der Weg der slowenisch-deutschen Sprachgrenze als politisch-administrative Grenze und zur kirchlichen Grenze zwischen den Diözesen Graz und Lavant-Marburg war lang. Die Idee war seit Kaiser Joseph II. vorhanden, wurde aber erst in den 1850er Jahren verwirklicht. Dafür waren zweifellos die geänderten Umstände wichtig, wie die im Jahr 1848 etablierte Idee der Gleichheit der Völker in der Monarchie. Obwohl in den 1830er Jahren gegen die „ethnische“ Teilung des Landes gestimmt worden war, befürworteten sowohl die deutsche Stadtbevölkerung als auch der slowenische Klerus die neuen Diözesangrenzen und die Übertragung des Bischofssitzes. Nationale Konflikte flammten auf dem Gebiet der Untersteiermark erst in den kommenden Jahrzehnten auf. Diese waren innerhalb der katholischen Kirche nicht so augenscheinlich, war doch die Geistlichkeit der Diözese Lavant überwiegend Slowenisch. Sie spiegelten sich hauptsächlich im politischen Bereich wider, wo in der vereinten Steiermark die slowenische Bevölkerung ein Drittel ausmachte, im steirischen Landtag jedoch nicht angemessen vertreten war und auch der Gebrauch der slowenischen Sprache nicht in Übereinstimmung mit der vom Staat proklamierten Gleichheit zwischen den Völkern umgesetzt wurde. Es folgte ein nationaler Wettbewerb um die Vorherrschaft in den Bereichen Politik, Bildung, Kultur und Wirtschaft, der zu schweren nationalen Konflikten und nationalen Kämpfen führte, die vor und während des Ersten Weltkriegs ihren Höhepunkt fanden. 39
Walter Lukan (Hrsg.), Franz Miklosich (Miklošič). Neue Studien und Materialien anläßlich seines 100. Todestages. Wien 1991; Gerhard Ressel, Mikolšič und die slowenisch-deutsche Rechtsterminologie seiner Zeit. In: Jože Toporišič (Hrsg.), Miklošičev zbornik. Ljubljana 1992, 151
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Vincenc Rajšp
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der österreichischungarischen Monarchie im Jahr 1918 wurde aus der Diözesangrenze in der Steiermark die Staatsgrenze. Diese neue Staatsgrenze hat über Jahrzehnte beide Teile des ehemals gemeinsamen Landes der Steiermark stark geteilt. Mit der schrittweisen Öffnung in den 1960er Jahren und vor allem mit dem EU-Beitritt Sloweniens wurde sie wiederum zu einer Grenze, die eine vielseitige Zusammenarbeit zwischen beiden Landesteilen und der Grenzbevölkerung ermöglicht. Und diese Art der Zusammenarbeit im kulturellen Bereich wurde auch von Herrn Prof. Wolfgang Bandion gefördert, der dafür vom Präsidenten der Republik Slowenien am 30. Oktober 2013 mit einer staatlichen Auszeichnung geehrt wurde.
Leere Bilderrahmen Zur „Enttragung“ von Sammlungsobjekten aus dem Kunsthistorischen Hofmuseum durch die italienische Militärmission im Frühjahr 1919 Franz Pichorner
Wem gehören die Kulturgüter eines Staates, wenn dieser Teile seines Staatsgebietes verliert oder es ihn nicht mehr länger gibt? Der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs und das Auseinanderbrechen eines riesigen Staatsgebildes führten zu vielen Interessenkonflikten und auch zu Herausgabeansprüchen in Bezug auf Kulturgüter1. Heftige Auseinandersetzungen betrafen den österreichischen Kunstbesitz, insbesondere die großen Wiener Sammlungen des Kaiserhauses. Infolge der Fairness der maßgeblichen französischen und englisch-amerikanischen Juristenkommissionen in Saint-Germain-en-Laye bei Paris ab Mai 1919 konnte sich Österreich letztlich gut behaupten. Italien hatte noch vor dem Friedensvertrag (10. 9. 1919) eigenmächtig und ungesetzlich Beschlagnahmungen in den Wiener Sammlungen durchführen lassen. Darüber soll in diesem kurzen Beitrag am Beispiel des Kunsthistorischen Museums näher eingegangen werden.2 Bereits im Dezember 1918 hatte das Staatskanzleramt in Wien ein Verbot für die Ausfuhr und den Verkauf von kunst- und kulturgeschichtlichen Gegenständen erlassen. Die Republik Deutschösterreich war zwar ex lege die Rechtsnachfolgerin der Monarchie, aber die anderen Nachfolgestaaten und vor allem die Siegermacht Italien meldeten umgehend beträchtliche Forderungen an. Die Frage, wie der Kriegsverlierer Österreich-Ungarn seine Schulden an die Siegermächte zu bezahlen hatte und wie zum Teil die wertvollen Kunst1
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Vgl. dazu Yves Huguenin-Bergenat, Kulturgüter bei Staatensukzession. Die internationalen Verträge Österreichs nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie im Spiegel des aktuellen Völkerrechts, Zürich 2010 (= Schriften zum Kulturgüterschutz/Cultural Property Studies) Vgl. dazu auch zuletzt Franz Pichorner, Vom „K.K. Kunsthistorischen Hofmuseum“ zum „Kunsthistorischen Staatsmuseum in Wien“. Das Kunsthistorische Museum in den Jahren 1918 bis 1922, in: Ilsebill Barta/Martin Mutschlechner (Hrsg.), 1918 – Bruch und Kontinuität. Das Schicksal des habsburgischen Erbes nach 1918, Wien 2019, 42–47
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Franz Pichorner
schätze als Sicherheitspfand dienen sollten, stand im Raum. Auch das Land Tirol machte unmittelbar nach Kriegsende Ansprüche auf die Ambraser Sammlung des Kunsthistorischen Hofmuseums geltend. Das Denkmalamt und das Staatsamt für Unterricht sprachen sich heftig gegen eine Anerkennung des Rechtsanspruches des Landes Tirol aus. Sofort würde Italien im Namen Südtirols Ansprüche auf Teile der Sammlung erheben. Auch die Tschechen könnten aufgrund des Provenienzprinzips Ansprüche auf die Sammlung Rudolfs II., die einst in Prag beheimatete Kunstkammer, erheben3. Belgien erhob Ansprüche auf den Schatz vom Goldenen Vlies sowie auf Bestände der Rubens-Sammlung und bezog damit seine Ansprüche auch auf die österreichische Herrschaft in den Südlichen Niederlanden im 18. Jahrhundert. Und mit Ungarn dauerten die Verhandlungen über dessen Ansprüche auf den österreichischen Kunstbesitz gar 14 Jahre, bis 1932, an.4 In dieser Zwischenphase von der Republik-Gründung im November 1918 bis zur Landesverweisung und Enteignung des Hauses Habsburg-Lothringen Anfang April 1919 unterstanden die Sammlungen immer noch dem Vermögensverwalter des Kaisers und der hofärarischen Verwaltung.5 Und genau in jene heikle Phase fallen die Entnahme von Kunstwerken aus der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Hofmuseums und der Nationalbibliothek durch die Italienische Militärmission.6 Am 28. Dezember 1918 war die italienische Militärmission, mit der Bahn über Innsbruck reisend, in Wien eingetroffen.7 Chef der Militärmission war General Roberto Segre (1872–1936), der seinen Amtssitz im Wiener Hotel Imperial nahm, das ihm wegen dessen Lage und prunkvoller Ausstattung besonders für eine Siegermacht geeignet erschien.8 3 4
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Vgl. dazu Herbert Haupt, Das Kunsthistorische Museum. Die Geschichte des Hauses am Ring. Hundert Jahre im Spiegel historischer Ereignisse, Wien 1991, 70 Vgl. Lukas Cladders, Europäische Museumsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Mars und Museum. Europäische Museen im Ersten Weltkrieg, hrsg. von Christine Kott und Bénédicte Savoy, Wien 2016, 253–264 Vgl. dazu Posch, Herbert, Umbruch und Kontinuität. Wiener Museen am Übergang von der Monarchie zur Ersten Republik und das Scheitern einer Aneignung, in: Gottfried Fliedl/Roswitha Muttenthaler /Herbert Posch (Hrsg.), Museumsraum Museumszeit. Zur Geschichte des österreichischen Museums- und Ausstellungswesens, Wien 1992, 141 Vgl. dazu ausführlich Hans Tietze, Die Entführung von Wiener Kunstwerken nach Italien. Eine Darlegung unseres Rechtsstandpunktes, Wien 1919; Alphons Lhotsky, Die Verteidigung der Wiener Sammlungen kultur- und naturhistorischer Denkmäler durch die Erste Republik, in: Alphons Lhotsky, Aufsätze und Vorträge, hrsg. von Hans Wagner und Heinrich Koller, Bd. 4, 166 Vgl. Gino Maffei, La Missione Militare Italiana a Vienna, Ferrara 1922, 15–19; Roberto Segre, La Missione Militare Italiana per l’Armistizio, Bologna 1928 Vgl. Johann Rainer, Die italienische Militärmission in Wien 1918–1920, in: Festschrift für Hermann Wiesflecker zum 60. Geburtstag, hrsg. von Alexander Novotny und Othmar Pickl, Graz 1973, 267–280; ders., Die Rückführung italienischer Kulturgüter aus Österreich nach dem Ersten
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Die Arbeit der personell starken Militärmission wurde auf fünf Kommissionen aufgeteilt: zivile Angelegenheiten, Demobilisierung, Abrüstung, Eisenbahn und Schifffahrt sowie zwei beigegebene Kommissionen: Luftfahrt und Kunst. Die Aufgabe der Kunstkommission, die von qualifizierten Fachleuten – Bibliothekaren, Archivaren und Kunsthistorikern – gebildet wurde, bestand in der Auffindung und Rückstellung der nach Italien gehörigen und im Lauf von Jahrhunderten nach italienischer Ansicht unrechtmäßig nach Österreich gebrachten italienischen Kulturgüter. Wertvolle Kodizes aus Neapel, die Kaiser Karl VI. geschenkt worden waren, Gemälde aus Venedig, die in den Jahren 1816–1838 nach Wien gekommen waren, kostbare Tapisserien aus Mantua, die 1866 nach Wien gebracht worden waren, sowie weiteres während des Krieges von österreichischen Stellen aus Sicherheitsgründen aus dem Kriegsgebiet weggebrachtes oder auch von österreichisch-ungarischen Armeeangehörigen geplündertes Kulturgut. Die Rückstellung von letztgenanntem verlief im Wesentlichen ohne ernste Schwierigkeiten. Schwieriger war es bei erstgenanntem. Während die Rückgabe der Mantuaner Tapisserien mit Szenen aus der Apostelgeschichte nach Zeichnungen Raffaels sowie der Neapolitanischen Kodizes ohne großes Aufsehen erfolgte, entwickelte sich um die Gemälde eine heftige Kontroverse, die von beiden Seiten mit großen Emotionen geführt wurde. Am 1. Februar 1919 kündigte Staatssekretär Otto Bauer den Vorständen der Sammlungen des Kunsthistorischen Hofmuseums das Erscheinen der italienischen Kommission an, die alle angeforderten Objekte „mit Militärgewalt“ abholen lassen werde. Und so wurden am 12. Februar 1919 aus der Gemäldegalerie 66 Bilder italienischer Provenienz, darunter solche von Jacopo Tintoretto, Vincenzo Catena oder Bonifazio Veronese, durch die italienische Militärmission „enttragen“. Acht Tage später wurden weitere vier Gemälde von den Italienern abgefordert sowie die (später zurückerstattete) Büste Kaiser Franz II. von Antonio Canova. Das Staatsamt für Äußeres sprach sich gegen den angekündigten Widerstand der Museumsbeamten aus, da es fürchtete, dass bestimmte Lebensmittellieferungen an die hungernde Bevölkerung nicht mehr aus Italien durchgelassen werden könnten. Der Kältewinter 1918/19 erschwerte den Überlebenskampf in der Stadt Wien, die Spanische Grippe forderte Tausende Opfer. Der Gesundheitszustand insbesondere der Wiener Kinder war katastrophal. Der Große Krieg wirkte als Trauma lange nach. Hunger und Unterernährung, extremer Mangel, Kälte, Krankheiten und Epidemien wie die Spanische Grippe oder die Tuberkulose, Kriegstote bzw. -invalide in vielen Familien und zerrissene Beziehungen – all das waren prägende und bleibende Eindrücke jener unmittelbaren Nachkriegszeit. 9
9
Weltkrieg, in: E. Widmoser, H. Reinalter (Hrsg.), Alpenregion und Österreich. Geschichtliche Spezialitäten. Hans Kramer zum 70. Geburtstag, Innsbruck 1976, 105–111 Vgl. dazu Edgard Haider, Wien 1918. Agonie der Kaiserstadt, Wien 2017
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Bereits am 14. März 1919 stellte Generalmajor Roberto Segre im Namen Italiens weitere Forderungen: Vasen, Statuen, Reliefs, Gemmen, Plastiken, Büsten, Gemälde, Waffen und Rüstungen. Süffisant wird bemerkt, dass Segres Bruder zu den bedeutendsten Kunst- und Antiquitätenhändlern Italiens zählte10. Die Lage für die Museumsbeamten und namentlich des seit 1911 amtierenden Galeriedirektors Gustav Glück11 war prekär. Der Generaldirektor der Privat- und Familienfonde Sr. K. u. k. Apostolischen Majestät Franz von Hawerda-Wehrlandt sah in dem bevorstehenden Zugriff der Italiener eine „flagrante Verletzung privater Eigentumsrechte“, die in krassem Widerspruch zu den allgemeinen privat- und völkerrechtlichen Normen stehe. Hawerda-Wehrlandt protestierte energisch als Vertreter des Hauses HabsburgLothringen gegen die Ausfolgung der geforderten Gegenstände an die Italiener und betonte, dass er Direktor Glück für die Unversehrtheit des privaten Gutes haftbar machen werde.12 Es kam zu einem Aufschrei der Kunsthistoriker und Künstler, zu heftigen Diskussionen in der Presse und zu Protestveranstaltungen. Die Museumsbeamten machten die von den Italienern begehrten Gegenstände durch rote Zettel kenntlich. Daneben sprachen die leeren Rahmen der von den Italienern entnommenen Gemälde in der Galerie eine deutliche Sprache. Die Kustoden führten amerikanische Journalisten durch das Museum und machten ihnen die Maßlosigkeit der italienischen Forderungen deutlich. Der international renommierte Wiener Kunsthistoriker Max Dvořák schrieb einen offenen Brief an seine italienischen Fachkollegen, in dem er seiner Empörung über dieses Vorgehen der Italiener Ausdruck verlieh13. Am 18. März 1919 erklärte das Staatsamt für Äußeres, dass ein rechtmäßiger Anspruch Italiens für die geforderten und bereits entnommenen Kunstgegenstände nur durch Abschluss eines Spezialvertrages oder durch Aufnahme einer diesbezüglichen Bestimmung im Friedensvertrag von St. Germain entstehen könne. An die Sammlungsdirektionen erging die Weisung, für die bevorstehenden Friedensverhandlungen entsprechendes Quellenmaterial zur Begründung des österreichischen Standpunktes vorzubereiten. Am 24. März 1919 wandte sich die Beamtenschaft auch an den Chef der 10 11
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Vgl. Lhotsky (wie Anm. 6), S. 181–182 Zu Gustav Glück vgl. zuletzt Wencke Deiters, Die Wiener Gemäldegalerie unter Gustav Glück. Von der kaiserlichen Sammlung zum modernen Museum, Wien 2016; dies., Die Wiener Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums im Ersten Weltkrieg, in: Mars und Museum. Europäische Museen im Ersten Weltkrieg, hrsg. von Christine Kott und Bénédicte Savoy, Wien 2016, 85–94; Lukas, Cladders Freunde, Kollegen, Kriegsgegner. Gustav Glücks Kontakte zu Museumsleuten und Kunsthistorikern nach dem Ersten Weltkrieg anhand des Korrespondenznachlasses in der Österreichischen Nationalbibliothek, in: biblos 63. Beiträge zu Buch, Bibliothek und Schrift (2014/1) 111–130; vgl. auch Alfred Stix, Die Entwicklung der Wiener Kunstsammlungen nach dem Umsturz, in: Belvedere 9 (1930) 55–65 Lhotsky (wie Anm. 6), S. 172 Vgl. Tietze, Die Entführung (wie Anm. 6), 3–9
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Der Saal der Italiener mit leeren Bilderrahmen, 1919
amerikanischen Mission in Wien, Professor Archibald Cary Coolidge, mit der Bitte, er möge seine Regierung auf das Vorgehen der Italiener aufmerksam machen. Coolidge war Professor für osteuropäische Geschichte in Harvard, lange Zeit Direktor der dortigen Universitätsbibliothek und zwischendurch in diplomatischem Dienst in Paris, Petersburg und Wien. Seine Beschäftigung mit mitteleuropäischer Geschichte und seine Erfahrungen auf diplomatischem Gebiet prädestinierten ihn, Amerikas Interessen auf dem Friedenskongress in Paris zu vertreten, und auch für seine field mission in Wien. Coolidge wurde von Präsident Woodrow Wilson zum Leiter der amerikanischen Mission in Wien bestellt. Die Amerikaner kamen am 5. 1. 1919 in Wien an und blieben bis Ende April. Coolidge hatte sich in dieser Zeit große Verdienste um die Bewahrung der Einheit Kärntens und für das Zugeständnis einer Volksabstimmung in Südkärnten, die im Friedensvertrag festgelegt wurde, erworben.14 14
Vgl. Claudia Kromer, Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Frage Kärntens 1918–1920, Klagenfurt 1970
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Am 23. März 1919 verließ der letzte Kaiser mit seiner Familie Eckartsau und reiste ins Schweizer Asyl. Beim Grenzübertritt in Feldkirch unterfertigte Karl I. am 24. März ein Manifest, in dem er seine Verzichtserklärung vom 11. 11. 1918 widerrief und Protest gegen seine Absetzung einlegte.15 Diese Erklärung war eine Provokation für die junge Republik, die umgehend mit dem Gesetz vom 3. April 1919, betreffend die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen reagierte16. Das staatliche, aber in der Verwaltung des kaiserlichen Hofes gestandene, hofärarische bewegliche und unbewegliche Vermögen im Staatsgebiet der Republik Deutschösterreich wurde der Staatsverwaltung unterstellt. Erst im September 1920 wurde dann endgültig entschieden, welche ehemaligen hofärarischen Güter dem Staat zufallen sollten. Neben der Alten und Neuen Hofburg waren das auch die Gebäude des Kunsthistorischen und des Naturhistorischen Museums samt den diese Gebäude umgebenen Gartenanlagen zur Unterbringung der betreffenden Sammlungen17. Die sogenannten Privat- und Familienfonds des Hauses Habsburg und seiner Zweiglinien, meist vom jeweiligen Oberhaupt des Hauses verwaltetes gemeinsames Familienvermögen, wurden ins Staatseigentum übergeführt. Persönliches Privateigentum blieb erhalten. Nachdem die Familie Habsburg-Lothringen die Verfügung über diverse Stiftungen und Fonds als persönlichen Privatbesitz verlangt hatte und um damit zusammenhängende Unklarheiten auszuschalten, wurde das Habsburgergesetz am 30. Oktober 1919 – rückwirkend per 3. April – ergänzt und ausdrücklich festgehalten, welche beanspruchten Fonds bzw. Stiftungen insbesondere als enteignet gelten. Der Anwalt der Familie Habsburg-Lothringen, Friedrich Stritzl-Artstatt, konnte sich hier mit seiner Position nicht gegen den Anwalt der Republik, Gustav Harpner18, durchsetzen. Harpner, der spätere Präsident des Kriegsgeschädigtenfonds, war auch beim Verfassen der Novelle des Habsburgergesetzes vom Oktober 1919 federführend. Zum beschlagnahmten gebundenen Vermögen zählte neben zahlreichen Liegenschaften auch der Primogenitur-Familienfideikommiss der Sammlungen des Erzhauses, wozu die Ambraser Sammlungen von Erzherzog Ferdinand II. von Tirol, die Kunstkammer Kaiser Rudolfs II., die Gemäldegalerie von Erzherzog Leopold Wilhelm und die Antikensammlung von Kaiser Franz I. ge15
16
17 18
Vgl. Elisabeth Kovács (Hrsg.), Kaiser und König Karl I. (IV.). Politische Dokumente aus internationalen Archiven, Wien 2004 (=Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd. 100/2), 460–462 Vgl. Peter Böhmer/Roland Faber, Die Erben des Kaisers. Wem gehört das Habsburgervermögen, Wien 2004, 30–35. – Eine sehr pro-habsburgische Position vertritt Hermann A. Griesser, Konfisziert. Österreichs Unrecht am Hause Habsburg, Wien 1986. Vgl. Maria Welzig, Die Wiener Hofburg seit 1918. Von der Residenz zum Museumsquartier, Wien 2018, 29–30 (Beitrag Anna Stuhlpfarrer) Vgl. zu Harpner: Ilse Reiter, Gustav Harpner (1864–1924). Vom Anarchistenverteidiger zum Anwalt der Republik, Wien 2008
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Abtransport der Bilder aus dem Innenhof des Kunsthistorischen Museums
hörten. Über die rechtlichen Verhältnisse des kaiserlichen Vermögens konnte man sich seit 1875 völlige Klarheit verschaffen. Damals wurde nach dem Tod Kaiser Ferdinands I. eine vorbildliche Generalinventur durchgeführt, die auch für die Gliederung der kaiserlichen Sammlungen und ihre geplante Neuaufstellung in den damals in Bau befindlichen Museumsgebäuden am Ring grundlegend war. Die Ergebnisse dieser Generalinventur wurden dann im Zuge der Verlassenschafts-Abhandlung nach dem Tod Kaiser Franz Josephs I. bestätigt.19 Wie Georg Kugler vermerkt, wäre zwischen Verzichtserklärung und Ausreise Kaiser Karls durchaus Spielraum für Verhandlungen mit den politischen Realisten Karl Renner und Otto Bauer über Vermögen, Apanage und Wohnsitz der ehemaligen Herrscherfamilie gewesen. Die Wittelsbacher in Bayern waren zu diesen Verhandlungen bereit.20 Mit der Auflösung der k. u. k. Hofwagenburg und des kaiserlichen Marstalls im Hofstallgebäude gingen nicht nur die Prunkwägen, Schlitten, Tragsessel, Sänften, Pferdegeschirre und Schabracken, sondern auch die Hof-Gewehrkammer und die Reiche Sattelkammer in den Inventarbestand des Kunsthistorischen Museums über und wurde im Frühjahr 1922 der Waffensammlung (die heutige Hofjagd- und Rüstkammer) angegliedert. Die Prunkfahrzeuge fanden in der ehemaligen Winterreitschule von Schloss Schönbrunn Auf19 20
Vgl. Georg Kugler, Die Landesverweisung Kaiser Karls und die Enteignung des Habsburgischen Kunstbesitzes, in: Jan Mikrut (Hrsg.), Kaiser Karl I. (IV.), Wien 2004, 273–284 Vgl. Kugler (wie Anm. 19) 282
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Franz Pichorner
nahme. Übernommen wurden auch ab 1919 Teile der Adjustierung der ehemaligen Leibgarde, was 1922 mit den prächtigen Livreen des Oberststallmeisteramtes, 400 vollständigen Hofmonturen und den Ornaten der ehemaligen Ordensgarderoben zur Gründung des Monturdepots unter der Verwaltung der Waffensammlung des Kunsthistorischen Museums führte. Ab 28. September 1920 führte das Kunsthistorische Hofmuseum den offiziellen Namen „Kunsthistorisches Staatsmuseum in Wien“. Ab 1. September 1921 wurde dann der amtliche Name „Kunsthistorisches Museum“ festgelegt.21 Der Streit um die italienischen Kunstwerke wurde am 4. Mai 1920 mit der Unterzeichnung der österreichisch-italienischen Kunstkonvention beendet, durch welche die Frage im Wesentlichen den italienischen Forderungen entsprechend entschieden wurde.22
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Vgl. Haupt (wie Anm. 3), 72 Vgl. Rainer (wie Anm. 8), 274
Liturgische Vielfalt in den Ostkirchen Österreichs im Lichte von lex orandi und lex credendi Hans-Jürgen Feulner
Weltweite und ökumenische liturgische Vielfalt als lebendiger Ausdruck der Kirchen in Österreich – so präsentieren sich die zahlreichen fremdsprachigen Gemeinden, wo in rund 30 Muttersprachen der Gottesdienst gefeiert und der Glaube gelebt wird (auf Albanisch, Arabisch, Englisch, Französisch, Mandarin, Griechisch, Armenisch, Serbisch, Syrisch, Altkirchenslawisch usw.). Diese gelebte Vielfalt bereichert das religiös-kirchliche Leben in Österreich, gibt Menschen eine geistige Heimat und ermöglicht Integration, was besonders heutzutage sehr bedeutsam ist. In diesem Beitrag liegt der Schwerpunkt auf der liturgischen Riten-Vielfalt der sogenannten „Ostkirchen“,1 so wie sie alle in Österreich vertreten sind.2 Wer am Gottesdienst einer östlichen Kirche teilnimmt, taucht in eine andere Welt ein: Gesänge, Prozessionen, Weihrauchschwaden, eine Fülle von Symbolen, vergoldete Ikonen, Priester, Diakone und Kantoren in festlichen Gewändern … in der Liturgie bleibt der Alltag zurück. Die Feiernden begeben sich für einige Stunden in die Sphäre Gottes. Für westliche Augen ist der Unterschied zu vertrauten Gottesdienstformen verwirrend. Doch manche Gedanken und Formen der östlichen Kirchen stellen auch Fragen an unser traditionelles Bild von Kirche und regen an, Neues zu entdecken. Für auswärtige Betrachter und Interessenten ist die persönliche Teilnahme an der Liturgie einer Ostkirche die beste Einführung, um sich von der Festlichkeit und der Spiritualität eines solchen Got1
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Wenn in diesem Beitrag die Begriffe „östliche Kirchen“ oder „Ostkirchen“ verwendet werden, sind natürlich die „orthodoxen“ und „altorientalischen“ Kirchen gemeint oder, wie man auch etwas missverständlich sagen kann, die sog. „chalkedonenischen“ und „nicht-chalkedonenischen“ Kirchen des Ostens [vgl. Thomas Bremer/Hacik R. Gazer/Christian Lange (Hgg.), Die orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition, Darmstadt 2013, u. Christian Lange/Karl Pinggéra (Hgg.), Die altorientalischen Kirchen. Glaube und Geschichte, Darmstadt 22011]. Das Gleiche gilt natürlich für die Bezeichnung „östliche Liturgien“ oder „östliche Riten“. Vgl. dazu auch Basilius J. Groen/Christian Gastgeber (Hgg.), Die Liturgie der Ostkirche. Ein Führer zu Gottesdienst und Glaubensleben der orthodoxen und orientalischen Kirchen, Freiburg u. a. 2012; Johannes Oeldemann, Die Kirchen des christlichen Ostens. Orthodoxe, orientalische und mit Rom unierte Ostkirchen, Kevelaer 2016; Christian Gastgeber/Franz Gschwandtner (Hgg.), Die Ostkirchen in Wien. Ein Führer durch die orthodoxen und orientalischen Gemeinden, Wien 2004.
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Hans-Jürgen Feulner
tesdienstes ergreifen zu lassen. Denn diese Form der Liturgie spricht ganz besonders die Sinne an und wird somit zu einem umfassenden spirituellen Erlebnis.3 Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus lassen sich die vielfältigen Liturgien der einzelnen Riten deskriptiv festhalten, dennoch ist damit das Phänomen der liturgischen Feiern der verschiedenen Gemeinden noch lange nicht erfasst und verstanden. Denn diese sind besonders in den Diasporagemeinden einem gewissen Wandel unterworfen. Beispielsweise wird die Liturgiesprache immer mehr zu einer Sprachbarriere für die nachfolgenden Generationen der Diasporagemeinden, wenn das kulturelle Erbe und damit auch die Sprachkenntnis – etwa in „Sonntagsschulen“ – nicht gepflegt werden. Es erheben sich immer häufiger Stimmen für Liturgiefeiern in den neuen Muttersprachen der Diasporagemeinden im Ausland, z. B. Deutsch oder Englisch. Ebenso erkennt man das Unbehagen in den Diasporagemeinden der Ostkirchen, zwei in der Regel verschiedene Ostertermine mitzuerleben. Dieser Wandel zeigt aber auch die Beweglichkeit der Glaubensriten und deren Anpassung bei gleichbleibender Wahrung des traditionellen Erbes.4
1. Zum grundlegenden Verhältnis von Liturgie und Glauben5
Wenn man in diesem Kontext nun zu Recht von „Glaubensriten“ spricht, kommt man zur grundlegenden Verbindung von „Glauben“ und „Liturgie“, da ja gerade in den orientalischen Kirchen die Feier der Liturgie, die Orthopraxie, ein lebendiges Zeugnis des rechten Glaubens, der Orthodoxie, ist. Man könnte auch in westlicher Terminologie sagen: lex orandi – lex credendi (legem credendi statuat lex supplicandi6 = das Gesetz des Gebetes soll das Gesetz des Glaubens bestimmen [Prosper v. Aquitanien, † nach 455]), d. h. das Gesetz oder die Art und Weise des Betens, der Liturgie oder des Gottesdienstes einer Kirche bestimmt und bezeugt das Gesetz, also den Inhalt ihres Glaubens und natürlich auch umgekehrt.7 Die Liturgie ist also eine wichtige Quelle der Dogmatik, der Glaubenslehre, 3 4 5
6 7
Vgl. Hans-Jürgen Feulner, Den Himmel auf die Erde holen. Die Liturgien der östlichen Kirchen, in: Welt und Umwelt der Bibel 21/1 (2016) 24–33, hier: 25. Vgl. Groen/Gastgeber, Die Liturgie der Ostkirche (s. Anm. 2), 11 f. Vgl. zum Folgenden Hans-Jürgen Feulner, „Ex oriente lux“. Die Ostkirchen und ihre Liturgien. Ein liturgiewissenschaftlicher Beitrag zum ökumenischen Dialog, in: Ostkirchliche Studien 61 (2012) 10–42, hier: 10–12. Kap. 8: PL 51, 209 f. und Denzinger/Hünermann (= DH), Nr. 246. – Vgl. auch Max Seckler, Loci theologici, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6 (Freiburg 31997) Sp. 1014–1016. Vgl. Paul de Clerck, „Lex orandi, lex credendi“. Sens original et avatars historiques d’un adage équivoque, in: Questions Liturgiques 59 (1978) 193–212; Joseph Schumacher, Die Liturgie als „locus theologicus“, in: Forum Katholische Theologie 18 (2002) 161–185, hier: 172–174.
Liturgische Vielfalt in den Ostkirchen Österreichs im Lichte von lex orandi und lex credendi
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ein locus theologicus (ein Fundort theologischer Erkenntnis oder eine Erkenntnisquelle der Theologie),8 wie das Axiom später in Anschluss an den Dominikaner Melchior Cano († 1560) in der westlichen Theologie üblicherweise rezipiert wurde.9 Liturgie als unmittelbarer Ausdruck des Glaubens, als „gelebte Religion“ (wie Romano Guardini einmal schreibt10), ist sicherlich Gegenstand der Theologie. Liturgie und Glaube lassen sich also nicht trennen; die Liturgie ist unmittelbarer Ausdruck des Glaubens. Das gilt nicht nur für die Liturgie der römisch-katholischen Kirche, sondern natürlich auch und in besonderer Weise für die Liturgien der Ostkirchen. Der lebendige Glaube einer Kirche drückt sich also besonders in der Verschiedenheit seiner sakramentalen Feiern aus. Die Gesamtheit der liturgischen Gesten und Gebärden, der liturgischen Texte und Symbole, die eine Kirche empfangen hat und tradiert, dies alles macht ihre liturgische Feierpraxis aus. Die Liturgie entwickelte sich über Jahrhunderte hinweg in bestimmten Ausdrucksformen, die mit den verschiedenen Kulturen verbunden waren. Daher spiegelt die Liturgie sehr eindrücklich den kulturellen, theologischen und sogar ethnischen Kontext der verschiedenen christlichen Gemeinschaften in Ost und West wider.11 Die Liturgien der östlichen Kirchen und einiger westkirchlicher Orden oder Teilkirchen (Diözesen) werden oft als östliche bzw. westliche „Riten“ bezeichnet. Der Begriff „Ritus“ ist hier im liturgischen Umfeld – im Gegensatz zum kanonischen/kirchenrechtlichen Gebrauch – durchaus angemessen, allerdings vorausgesetzt, „Ritus“ bezieht sich auf die gesamte Orthopraxie, d. h. die liturgisch und theologisch gelebte Erfahrungswelt einer bestimmten Kirche (oder religiösen Ordensgemeinschaft oder Teilkirche). „Ritus“ meint also in unserem Zusammenhang nicht bestimmte „Rituale“ innerhalb einer Kirche, wie z. B. den „Ritus der Kindertaufe“ oder den „Ritus der Krankensalbung“.12 Die Auffassung von „Ritus“ (im Sinne von byzantinischer, koptischer, armenischer Ritus usw.) muss also als theologische, liturgische 8
9
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Vgl. Josef Pascher, Theologische Erkenntnis aus der Liturgie, in: Joseph Ratzinger/Heinrich Fries (Hgg.), Einsicht und Glaube. Festschrift für Gottlieb Söhngen, Freiburg 1962, 243–258, hier: 256; Karl Federer, Liturgie und Glaube. Eine theologiegeschichtliche Untersuchung, Freiburg/Schweiz 1950, 103; Maxwell E. Johnson, Liturgy and Theology, in: Paul F. Bradshaw/Bryan D. Spinks (ed.s), Liturgy in Dialogue, London 1993, 202–225; Schumacher, Die Liturgie als „locus theologicus“ (s. Anm. 7), 161–167. Melchior Cano hat in seinem Werk „De locis theologicis“ (1563) zehn „loci theologici“ unterschieden, unter denen die „Liturgie“ jedoch noch nicht aufscheint. – Vgl. auch Walter Kern/Franz-Josef Niemann, Theologische Erkenntnislehre (Leitfaden Theologie 4), Düsseldorf 21990, 49–53 Romano Guardini, Vom Geist der Liturgie, Freiburg 91957, 21. Vgl. Feulner, „Ex oriente lux“ (s. Anm. 5), 11 f. Vgl. dazu Rupert Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, Freiburg u. a. 22013, 371 f. – Vgl. auch can. 28 §1 CCEO.
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Hans-Jürgen Feulner
und kulturelle Realität und Lebenspraxis einer bestimmten Kirche oder Teilkirche gesehen werden und ist nicht nur eine bloße „Äußerlichkeit“, die einer Kirche lediglich zukommt, um damit den Anschein von Vielfalt und Verschiedenheit zu erwecken.
2. Die Bedeutung der Liturgie für die Kirchen des Ostens (und des Westens)13
Obwohl wir uns im Folgenden vorwiegend auf die östlichen Liturgien oder Riten beschränken, ist es dennoch hilfreich, zunächst einen kurzen Blick auf die Definition von Liturgie, wie sie uns in der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ (SC)14 des II. Vatikanischen Konzils vom 4. Dezember 1963 begegnet, zu werfen, weil diese umfassende Definition maßgeblich für alle Riten ist, nicht nur für die des Westens, sondern auch für die des Ostens. Die Liturgiekonstitution spricht von den verschiedenen Riten der Kirche mit großer Hochachtung, wenn es in SC 4 heißt, dass „allen rechtlich anerkannten Riten gleiches Recht und gleiche Ehre zuerkannt“ wird.15 Das Dekret über die katholischen Ostkirchen „Orientalium Ecclesiarum“ vom 21. November 1964 unterstreicht dies noch einmal in Art. 6: „Alle Ostchristen sollen wissen und davon überzeugt sein, daß sie ihre rechtmäßigen liturgischen Bräuche und die ihnen eigene Ordnung bewahren dürfen und müssen, es sei denn, daß aus eigenständigem und organischem Fortschritt Änderungen eingeführt werden sollten […]“.16 SC 7 definiert Liturgie als „Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi; durch sinnenfällige Zeichen wird in ihr die Heiligung des Menschen bezeichnet und in je eigener Weise bewirkt und vom mystischen Leib Jesu Christi […] der gesamte öffentliche Kult vollzogen.“ Weiter heißt es im selben Artikel zuvor, dass Christus gegenwärtig ist „in den liturgischen Handlungen“, in der Feier der Eucharistie, „in der Person dessen, der den priesterlichen Dienst vollzieht“, „vor allem unter den eucharistischen Gestalten“ sowie „in seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden“, und schließlich „wenn die Kirche betet und singt“. Da die Liturgie immer eine Handlung Christi und der Kirche ist, ist der Gottesdienst „in vorzüglichem Sinn heilige Handlung, deren Wirksamkeit kein anderes Tun der Kirche an Rang und Maß erreicht“.17 13 14 15
16 17
Vgl. im Folgenden Feulner, „Ex oriente lux“ (s. Anm. 5), 12–17. Acta Apostolicae Sedis 56 (1964) 97–134. Zitiert nach Heinrich Rennings/Martin Klöckener (Hgg.), Dokumente zur Erneuerung der Liturgie. Bd. 1: Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963–1973, Kevelaer 1983, Nr. 4 (im Folgenden zitiert: DEL I). DEL I, Nr. 349. DEL I, Nr. 7.
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Diese Aussagen in SC 7 treffen für alle Riten des Ostens und des Westens zu, gehören also zum inneren Wesen der Liturgie der Kirche in ihren verschiedenen rituellen Ausprägungen. Eine wesentliche Komponente der Liturgie in Ost und West ist außerdem die Heilige Schrift: Die Feier der Liturgie in allen östlichen wie westlichen Riten, ob Feier der Eucharistie oder der Sakramente18 oder der Sakramentalien oder des Stundengebets usw., beinhaltet auch die Verkündigung des Gotteswortes (in biblischen Lesungen und/oder Psalmen; aber auch Gebete und liturgische Gesänge sind biblisch inspiriert). Das endgültige Ziel der Liturgie der Kirche ist die Heiligung der gottesdienstfeiernden Menschen sowie die Anbetung Gottes als Antwort auf seine Heiligung. Sinnfällige Zeichen oder Symbole geben der Liturgie eine sakramentale Dimension, d. h. sie bezeichnen und beinhalten die Gegenwart Christi und des Mysteriums, das die Kirche feiert. Liturgische Zeichen oder Symbole bzw. Symbolhandlungen bestehen in der Regel zumeist aus Worten, wie sakramentalen Deuteformeln, und aus Handlungen, wie Handauflegung oder Übergießen mit Wasser, oder aus materiellen Elementen, wie etwa Wasser, Brot, Wein, Öl – in der theologischen Tradition des Westens spricht man hier in Anschluss an die Scholastik von „Form“ (forma) und „Materie“ (materia). Die sich im Laufe der Geschichte ausbildenden Unterschiede, die unter diesen liturgischen Zeichen oder Symbolen existieren, führten letztlich zu den unterschiedlichen Formen der liturgischen Feiern in den verschiedenen Ostkirchen, d. h. zu den vielfältigen östlichen Riten und Ritenfamilien, wodurch es verschiedene gleichberechtigte Weisen der Heiligung der Gläubigen in der Feier der Liturgie gibt.19 Somit ist es also nicht nur für die römische Liturgie richtig, sondern auch und sogar besonders für die Liturgien der östlichen Kirchen, dass die Liturgie der Höhepunkt ist, „dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle“ ist, „aus der all ihre Kraft strömt“ (SC 10).20 Die Liturgie kann auch aus dem Blickwinkel der Begegnung zwischen Gott und den Gläubigen definiert werden. Das impliziert, dass die Gläubigen, sowohl als Gemeinschaft wie auch als Einzelne, durch den Gottesdienst der Kirche in die Gegenwart des dreieinigen Gottes treten. Diese Begegnung ist eine personale Begegnung, ein heilbringender Dialog zwischen Gott und Mensch.21 In ihrer Liturgie bringt die Kirche dem Vater Anbetung und Verehrung dar, durch Jesus Christus, in der Einheit mit dem Heiligen 18
19 20 21
Der von der westlichen Theologie geprägte Begriff „Sakrament“ ist bekanntlich im ostkirchlichen Kontext problembehaftet, wo man eher von „Mysterium“ (Geheimnis) spricht. Aber der westliche Terminus sei dennoch mit aller Vorsicht benutzt, nicht des Wortes, sondern des theologischen Gehalts wegen, was daher durchaus legitim erscheint. Vgl. SC 4 (DEL I, Nr. 4). DEL I, Nr. 10. Vgl. Emil J. Lengeling, Liturgie – Dialog zwischen Gott und Mensch, hg. v. Klemens Richter, Freiburg 1981.
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Geist (wie es in vielen Gebetsabschlüssen lautet). Gottvater ist der Ursprung und der Endpunkt aller Schöpfung und Erlösung. Jesus Christus ist quasi das Sakrament/Mysterion, das Zeichen, das den Vater offenbart, und zugleich der Mittler, der die Menschen mit Gott versöhnt; der Heilige Geist ist schließlich die Kraft, mit der Christus die gefallenen Menschen erhebt und zum Vater führt. Daher sind die liturgischen Gebete der meisten Kirchen üblicherweise an den Vater gerichtet, durch Christus, im (oder in der Einheit mit dem) Heiligen Geist. Die zentralen Gebete, wie das Eucharistische Hochgebet bzw. die Anaphora, sind an die Person des Vaters gerichtet (mit einigen Ausnahmen, z. B. in der alexandrinischen und altspanischen Tradition).22 Gebete schließen in der Regel mit der Bitte um die Mittlerschaft Christi. Die Kraft des Heiligen Geistes wird außerdem zumeist in Form von Epiklesen23 auf Menschen oder (sakramentale) Elemente herabgerufen. Die Liturgie – und besonders die Feier der Eucharistie (oft auch als „Göttliche Liturgie“ bezeichnet) – hat schon immer eine zentrale Rolle in den östlichen Kirchen gespielt. Seit dem 7. Jahrhundert sind die meisten Ostkirchen mit einem expandierenden Islam konfrontiert gewesen. Zusammen mit anderen tragischen Auswirkungen hatte dies bis auf den heutigen Tag erhebliche Folgen für die pastorale Tätigkeit dieser Kirchen in überwiegend muslimischen Ländern, verbunden mit einer beachtlichen Beschränkung der öffentlichen Religionsausübung. Daher ist es verständlich, dass gerade in diesen östlichen Kirchen nur in und durch die Liturgie – und durch die von ihr inspirierte Volksfrömmigkeit – das Glaubensgut und dessen Katechese über die Jahrhunderte hinweg überlebten und weitergegeben werden konnten. Die Liturgie als gelebter Glaube ist auch der Garant für diesen bedrängten Glauben und tradiert ihn von Generation zu Generation. In einigen Ländern ist dies auch heute noch der Fall, besonders in den vom IS (Islamischen Staat) terrorisierten Ländern des Nahen Ostens. Gerade wegen dieser lebenswichtigen Funktion für den Erhalt und die Weitergabe des kirchlichen Glaubens haben die orientalischen Liturgien von alters her immer schon einen gesteigerten Konservatismus beinhaltet. Jedweden Reformen – auch solchen, die unter Umständen doch erforderlich wären – wird mit allergrößtem Misstrauen begegnet, besonders im Lichte von einigen ungewollten Fehlentwicklungen während der postkonziliaren Liturgiereform in der Römisch-Katholischen Kirche. Darüber hinaus war 22
23
Vgl. Josef A. Jungmann, Die Stellung Christi im liturgischen Gebet (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen [= LQF] 19/20), Münster 21962, passim. – Siehe dazu den Tagungsband: Bryan D. Spinks (ed.), The Place of Christ in Liturgical Prayer. Trinity, Christology, and Liturgical Theology, Collegeville 2008. Vgl. Burkhard Neunheuser, Der Heilige Geist in der Liturgie, in: Theologie und Glaube 35 (1943), 11–24; Cypriano Vagaggini, Theologie der Liturgie, Einsiedeln 1958, 30 f., 139–171 u. a.
Liturgische Vielfalt in den Ostkirchen Österreichs im Lichte von lex orandi und lex credendi
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der christliche Osten nie einer Reformation oder Aufklärung unterworfen, weshalb die Liturgien der östlichen Kirchen als ein Produkt ununterbrochenen Wachstums in der geschichtlichen Entwicklung angesehen werden – viel mehr noch als in der römisch-katholischen Kirche. Diese Sicht herrscht weiterhin trotz einzelner Beispiele von Diskontinuität, also von Brüchen oder Reformen, vor, was durchaus in der östlichen Liturgiegeschichte durch Synodalbeschlüsse belegt ist.24 Im ökumenischen Dialog mit den Ostkirchen sollten wir daher in den theologischen und dogmatischen Gesprächen und Verhandlungen noch viel stärker auf unsere überlieferte Liturgie aufmerksam machen, die seit Jahrhunderten in ihrem Kern ebenfalls unverändert gefeiert wird, gemäß dem theologischen Axiom: lex orandi – lex credendi. Etliche kontrovers-theologische Probleme konnten damit bereits in der Vergangenheit erfolgreich gelöst werden (z. B. die Bedeutung der Epiklese im Verhältnis zu den Einsetzungsworten im Eucharistischen Hochgebet; die Bedeutung der Handauflegung bei den Ordinationen; die Sakramentalität der Bischofsweihe; ja sogar dogmatische Übereinstimmungen in der Christologie mit den altorientalischen Kirchen [„Wiener Christologische Formel“ (1973)25]; die Berechtigung der Verehrung von Heiligen und Ikonen usw.). Andere dogmatische Probleme im ökumenischen Dialog mit den Ostkirchen ließen sich eventuell mithilfe der liturgischen Praxis der verschiedenen Kirchen in der Zukunft ebenfalls lösen (so z. B. die katholische Lehre vom Purgatorium/Fegefeuer mit Blick auf das in allen Liturgien übliche fürbittende Gebet für Verstorbene und bei Totengedächtnisfeiern26).
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25
26
Vgl. Paul Meyendorff, Russia, Ritual, and Reform: The Liturgical Reforms of Nikon in the 17th Century, Crestwood/NY 1991, passim. – Siehe auch Konrad Onasch, Kunst und Liturgie der Ostkirche in Stichworten unter Berücksichtigung der Alten Kirche, Wien u. a. 1981, 347–349; Robert F. Taft, The Byzantine Rite. A Short History (American Essays in Liturgy Series), Collegeville 1992, passim. Siehe dazu Dietmar W. Winkler, Die Wiener Christologische Formel, in: Begegnung und Inspiration. 50 Jahre Ökumene in Österreich, Wien u. a. 2008, 107–110. – Zur ersten Wiener Altorientalenkonsultation bei Pro Oriente (7.–11. Sept. 1971) mit ihren Protokollen siehe: Chalzedon und die Folgen. Erste Wiener Konsultation mit der Orientalischen Orthodoxie 1971. Dokumentation des Dialogs zwischen der armenisch-apostolischen und der römisch-katholischen Kirche sowie des Dialogs zwischen chalzedonischer und nicht-chalzedonischer Orthodoxie. Festschrift zum 60. Geburtstag von Bischof Mesrob K. Krikorian, hg. v. Rudolf Kirchschläger/Alfred Stirnemann, Innsbruck-Wien 1992, 67–299, bes. 274 f. [„Kommuniqué der ersten Konsultation 1971“ = „Wiener Christologische Formel“]. Vgl. André de Halleux, Patrologie et œcuménisme (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 93), Leuven 1990, 782–815 u. a.
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3. Die liturgischen Familien und Riten des Ostens27
Um die Entwicklung der östlichen Liturgien, auch wie sie in Österreich, besonders in Wien, in den vielen Gemeinden gefeiert werden, zu verstehen, muss man einen kurzen Blick auf ihre Geschichte werfen. Als das Christentum in den alten Kulturzentren Fuß zu fassen begann, war die Form der Liturgie noch nicht festgelegt. In jeder großen Stadt (Metropole) der Antike entwickelte sich eine Praxis liturgischer Gebete und Zeremonien, deren Gestalt von der jeweiligen christlichen Gemeinde bestimmt wurde und die sich auch an der liturgischen Praxis des jeweiligen Metropoliten orientierte. Der christliche Osten war damals stärker urbanisiert als der lateinische Westen. Ursprung und Weiterentwicklung aller östlichen Riten sind eng verbunden mit der Entwicklung der Patriarchate, den Bischofssitzen der damals höchst bedeutsamen Metropolen: Rom im Westen und im Osten besonders Alexandrien, Antiochien, Konstantinopel und Jerusalem, dazu noch Seleukia-Ktesiphon (im heutigen Irak). Außerdem war die Entwicklung dieser Liturgien verwoben mit der zunehmenden Bedeutung dieser Bischofssitze. Die frühen Gemeinden strebten danach, sich in ihrer Liturgie an diesen wichtigen Bischofssitzen zu orientieren, von denen dann einige allmählich zu dem wurden, was wir später „Patriarchate“ nennen. Dazu kamen noch andere Einflüsse, die größtenteils durch die kirchenpolitischen Verhältnisse bedingt waren, aber auch Konzilsentscheidungen, vor allem der Konzile von Ephesus (431)28 und Chalkedon (451).29 Im Römischen Reich, dessen Hauptstadt seit dem 4. Jahrhundert Konstantinopel war, nahm Rom trotzdem immer einen Ehrenvorrang ein, und seine lateinische Liturgie drängte bald alle übrigen zurück, so die mailändische oder ambrosianische, die altgallische, die keltische und die altspanische oder mozarabische. Im Orient besaßen zwei Metropolen sehr bald eine ausgeprägte eigene Liturgie: Antiochien (antiochenische Liturgiefamilie) und Alexandrien (alexandrinische Liturgiefamilie). Die landeseigenen Schrift27
28 29
Zum Folgenden Feulner, „Ex oriente lux“ (s. Anm. 5), 18–25. – Aus der Fülle der Literatur in verschiedenen Sprachen sei lediglich erwähnt: Archdale A. King, The Rites of Eastern Christendom I-II, London 1950; Raymond Janin, Les églises orientales et les rites orientaux, Paris 21955; Irénée-Henri Dalmais, Les Liturgies d’Orient (Rites et Symboles 10), Paris 21980; Handbuch der Ostkirchenkunde, Bd. 2, hg. v. Willhelm Nyssen u. a., Düsseldorf 1989, 3–181 (Lit.); Irénée-Henri Dalmais, The Eastern Liturgical Families, in: The Church at Prayer I: Principles of the Liturgy [transl. by M.J. O’Connell], Collegeville 1987, 27–43; Ephrem Carr, Liturgical Families in the East, in: Anscar J. Chupungco (ed.), Handbook for Liturgical Studies I, Collegeville 1997, 11–24; HansJürgen Feulner, Liturgien III, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6 (Freiburg 31997) 974–980 (Lit.); Basilius J. Groen/Christian Gastgeber (Hgg.), Die Liturgie der Ostkirche, Freiburg 2012 u. a. Vgl. Cann. 6–7 (Conciliorum Oecumenicorum Decreta [= COD], Bologna 31973, 8–9). Vgl. Can. 28 (COD 99 f.).
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sprachen hatten im Osten eine hohe Bedeutung und wurden auch beim Gottesdienst verwendet, ähnlich wie das Latein in der römischen Kirche. Als einige dieser Sprachen erloschen, wurden sie durch die neuen Volkssprachen ersetzt. So kam es, dass beispielsweise anstelle der anfänglich griechischen Sprache die syrische, koptische oder arabische trat. Ein weiterer wichtiger Grund für die Zersplitterung der orientalischen Kirchen und ihrer Riten ist in den dogmatischen Streitigkeiten zu suchen (im sog. „Miaphysitismus“ wird die Einheit der menschlichen und der göttlichen Natur in Christus sehr stark betont, d. h. Christus sei vollkommen göttlich und habe nur diese eine göttliche Natur [Eutyches; † 456]; der sog. „Nestorianismus“ nimmt dagegen an, dass in Christus zwei voneinander unabhängige Personen seien, nämlich die des Logos und die des Sohnes Mariens [Nestorius; † 451]). Heute gilt es allgemein als überwunden, von „Nestorianismus“ oder „Monophysitismus“ zu reden – auch und nicht zuletzt aufgrund der Berücksichtigung der lex orandi als lex credendi. Bereits in einem 1953 herausgegebenen Artikel konnte Hieronymus Engberding unter Heranziehung der relevanten liturgischen Texte der sog. altorientalischen Kirchen nachweisen, dass der Vorwurf des „Monophysitismus“ nicht haltbar ist,30 weil er in der von alters her gefeierten Liturgie als Orthopraxie nicht belegbar ist (dazu kommen noch mehrere offizielle Dokumente innerhalb des ökumenischen Dialogs der römisch-katholischen Kirche mit den altorientalischen Kirchen).
3.1 Die Alexandrinische Liturgiefamilie31
Unter den großen altkirchlichen Zentren hebt sich Alexandrien seit frühester christlicher (und vorchristlicher) Zeit zwar weniger durch liturgische Kreativität als vielmehr durch die Kraft der theologischen Spekulation hervor. Während der römische Canon Missae durchaus alexandrinischen Einfluss verrät und wohl auch manche andere römisch-alexandrinischen liturgischen Gemeinsamkeiten im gleichen Sinn zu deuten sind (es gab schon früh liturgische Austauschbeziehungen zwischen Rom und Alexandrien)32, öffnete sich andererseits auch die alexandrinische Liturgiefamilie schon frühzeitig auswärtigen Einflüssen, 30
31 32
Vgl. Hieronymus Engberding, Das chalkedonensische Christusbild und die Liturgien der monophysitischen Kirchengemeinschaften, in: Alois Grillmeier/Heinrich Bacht (Hgg.), Das Konzil von Chalkedon. Geschichte und Gegenwart II, Würzburg 1953, 697–733. Vgl. dazu Handbuch der Ostkirchenkunde 2 (s. Anm. 27), 120–127; Feulner, „Ex oriente lux“ (s. Anm. 5), 20 f.; ders., Den Himmel auf die Erde holen (s. Anm. 3), 30. Ordnung der Taufriten, besonders die doppelte Besiegelung und Myronsalbung; zweigeteilte Interzessionen im Eucharistiegebet; Oblationsepiklese vor den Einsetzungsworten u.v.m. Vgl. auch Stefan Klug, Alexandria und Rom. Die Geschichte der Beziehungen zweier Kirchen in der Antike (JAC.E 11), Münster 2014.
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besonders aus dem „syrisch-antiochenischen“ Liturgiebereich. Zur alexandrinischen Liturgiefamilie zählen heute der koptische Ritus und der äthiopische Ritus. 3.1.1 Der koptische Ritus33
In Alexandrien und Unterägypten wurde der Gottesdienst zunächst in griechischer Sprache gefeiert, in Oberägypten hingegen wahrscheinlich bereits in den koptischen Dialekten. Im 9. Jahrhundert wurde in der koptisch-orthodoxen Kirche34 der bohairische Dialekt die offizielle liturgische Sprache. Heute nimmt die Landessprache Arabisch einen weiten Raum ein. In der Eucharistie gibt es drei verschiedene Anaphoren oder Eucharistische Hochgebete (Anaphora des Kyrill [ehemals Markus], des Gregor v. Nazianz und des Basilius).35 In der Sakramentenspendung haben sich weitgehend syrische Bräuche durchgesetzt, ein Beweis für den starken syrischen Einfluss in Ägypten. Auch der Einfluss der Mönche auf die koptische Liturgie, besonders auf das Tagzeiten-/Stundengebet, darf nicht unterschätzt werden (Bewahrung eines altertümlichen, stark monastisch geprägten Stundengebets).36 Die unierte koptisch-katholische Kirche37 folgt dieser Liturgieform, hat aber seit dem II. Vatikanischen Konzil, wie auch andere katholische Ostkirchen, eine freiwillige „Latinisierung“ ihrer Liturgie durchgeführt (Zelebration zum Volk hin, tägliche Eucharistiefeiern, meist keine Ikonostase usw.). 3.1.2 Der äthiopische Ritus38
Noch besser als die koptische Liturgie hat ihre „Tochter“, die äthiopische Liturgie (in 33
34 35
36 37 38
Vgl. Heinzgerd Brakmann, Die Kopten – Kirche Jesu Christi in Ägypten. Ihre Geschichte und Liturgie, in: Albert Gerhards/Heinzgerd Brakmann (Hgg.), Die koptische Kirche. Einführung in das ägyptische Christentum, Stuttgart u. a. 1994, 9–27 (Lit.); Diliana Atanassova, Der koptische Ritus, in: Groen/Gastgeber, Die Liturgie der Ostkirche (s. Anm. 2), 205–231, 266–268 u. a. Vgl. Harald Suermann, Koptische Kirche, in: Hubert Kaufhold (Hg.), Kleines Wörterbuch des Christlichen Orients [= KWCO], Wiesbaden 22007, 262–266. Vgl. z. B. Ernst Hammerschmidt, Die koptische Gregoriosanaphora. Syrische und griechische Einflüsse auf eine ägyptische Liturgie (Berliner Byzantinistische Arbeiten 8), Berlin 1957; Albert Gerhards, Die griechische Gregoriusanaphora. Ein Beitrag zur Geschichte des Eucharistischen Hochgebets (LQF 65), Münster 1984; Geoffrey J. Cuming, The Liturgy of St. Mark (Orientalia Christiana Analecta 234), Roma 1990; Achim Budde, Die ägyptische Basilius-Anaphora. Text – Kommentar – Geschichte (Jerusalemer Theologisches Forum 7), Münster 2004. Vgl. Hans Quecke, Untersuchungen zum koptischen Stundengebet (Publications de l’Institut Orientaliste de Louvain 3), Löwen 1970. Vgl. Johannes Madey, Koptisch-katholische Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 287 f. Vgl. Heinzgerd Brakmann, Die Einwurzelung der Kirche im spätantiken Reich von Aksum, Bonn
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Äthiopien39 und Eritrea), das syrische Erbteil bewahrt. Die ersten Missionare Äthiopiens kamen aus dem römischen Teil Syriens und dem Kloster der Syrer (Dair as-Suryān) in Unterägypten (im Wādī-Natrūn). Der äthiopische Ritus, der eine ausgeprägte Marien- und Engelverehrung aufweist und etwa 254 Fasttage kennt, zeigt heute noch ein ganz eigentümliches Gepräge. Die eucharistische Liturgie muss auf der auf dem Altar liegenden Gesetzestafel vollzogen werden. Dieses sogenannte Tabōt (eine Holztafel, auf der oft der Dekalog und ein Abschnitt aus Mt 25 eingeschnitzt sind) gilt als Nachbildung der Bundeslade. Dieser Ritus kennt auch liturgische Trommeln und Handrasseln (Sistren) sowie eine Art von liturgischem Tanz in den gottesdienstlichen Feiern. Neben Ostern und Weihnachten hat das Fest der Taufe Jesu, Timkat (am 6. Januar), große Bedeutung. Die Eucharistiefeier kennt 14 kanonische Anaphoren, wovon einige syrischen Ursprungs sind. Unter den Anaphoren findet sich auch eine Marienanaphora.40
3.2 Die Antiochenische Liturgiefamilie41
Als sehr fruchtbarer Mutterboden der liturgischen Kreativität erweist sich der syrisch-palästinensische Raum. Sein semitisches Erbe, das neben dem griechisch-hellenistischen Element der Küstenstädte und kulturellen Zentren weiterbesteht, erscheint von den Ursprüngen her auf existenzielle Frömmigkeitsformen angelegt zu sein. Und die antiochenische patristische Exegese hat ihre Entsprechung in einer heilsgeschichtlich-liturgischen Orientierung und Ausdruckskraft, wie in einer Fülle von liturgiegeschichtlichen Zeugnissen belegt.
39 40
41
1994; Kidane Habtemichael, L’ufficio divino della Chiesa etiopica. Studio storico-critico con particolare riferimento alle ore cattedrali (Orientalia Christiana Analecta [= OCA] 257), Roma 1998; ders., Bibliografia della liturgia etiopica (OCA 280), Roma 2008; Brigitte M. Proksch, Der äthiopische Ritus, in: Groen/Gastgeber, Die Liturgie der Ostkirche (s. Anm. 2), 233–250, 268 u. a. Vgl. Ernst Hammerschmidt, Äthiopische Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 74–77; Johannes Madey, Äthiopisch-katholische Kirche, in: ebd. 91. Vgl. Ernst Hammerschmidt, Studies in the Ethiopic Anaphoras (Äthiopistische Forschungen 25), Stuttgart 21987; Maija Priess, Die äthiopische Chrysostomos-Anaphora, Wiesbaden 2006 u. a. – Vgl. auch die Editionen und Übersetzungen einiger äthiopischer Anaphoren von Sebastian Euringer (und Oscar Löfgren). Vgl. zum Folgenden Feulner, „Ex oriente lux“ (s. Anm. 5), 21–24; ders., Den Himmel auf Erden holen (s. Anm. 3), 30–32.
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3.2.1 Der ostsyrische Zweig42
3.2.1.1 Der syro-mesopotamische Ritus43 Dieser Ritus der (Apostolischen) Kirche des Ostens, oder auch Assyrischen Kirche des Ostens,44 wurde früher fälschlicherweise auch als „nestorianischer“ Ritus bezeichnet und hat bereits sehr frühzeitig in der Kirche von Edessa, einem mächtigen geistigen und religiösen Mittelpunkt syrischer Sprache und semitischer Kultur, seine charakteristischen (semitischen) Züge angenommen. Dieser Ritus kennt drei Anaphoren:45 die Anaphora des Theodor von Mopsuestia, die des Nestorius, und die der Apostel Addai und Mari. Letztere hebt sich von allen anderen bekannten Anaphoren ab und ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in den ältesten Handschriften keine ausdrücklichen Einsetzungsworte enthält; diese wurden erst später (u. a. auch unter anglikanischem Einfluss im 19. Jahrhundert) eingefügt (siehe dazu auch die aufsehenerregenden Richtlinien des „Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen“ in Rücksprache mit der Ostkirchen- und der Glaubenskongregation vom 20. Juli 200146). Die gesamte Liturgie ist von einem tief eschatologischen Geist erfüllt und von einer demütigen Furcht geprägt. Es gibt kaum eine andere Liturgie, in der der Bußcharakter so ausgeprägt ist (im Offizium, in liturgischen Gesängen und auch in der Eucharistiefeier). 42 43 44
45
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Vgl. Handbuch der Ostkirchenkunde 2 (s. Anm. 27), 102–108. Vgl. Erich Renhart, Der ostsyrische Ritus, in: Groen/Gastgeber, Die Liturgie der Ostkirche (s. Anm. 2), 133–153, 261 f. Vgl. Hubert Kaufhold, Assyrische Kirche des Ostens, in: KWCO (s. Anm. 34), 67–69. – Nach der Einführung des gregorianischen Kalenders und einiger anderer Reformen im Jahre 1964 kam es im Irak zum bis heute andauernden Schisma der altkalendarischen Alten Kirche des Ostens. Vgl. Jacob Vadakkel, The East Syrian Anaphora of Mar Theodore of Mopsuestia. Critical Edition, English Translation and Study (Oriental Institute of Religious Studies India, Publications 129), Kottayam 1989; Sébastien Naduthadam, L’anaphore de Mar Nestorius. Édition critique et étude (unveröffentl. Diss.), Paris 1992; Anthony Gelston, The Origin of the Anaphora of Nestorius: Greek or Syriac?, in: Bulletin of the John Rylands University Library of Manchester 78 (1996) 73–86; William F. Macomber, The Oldest Known Text of the Anaphora of the Apostles Addai and Mari, in: Orientalia Christiana Periodica [= OCP] 32 (1966) 335–371; ders., The Maronite and Chaldean Versions of the Anaphora of the Apostles, in: OCP 37 (1971) 55–84; Anthony Gelston, The Eucharistic Prayer of Addai and Mari, Oxford 1992 u. a. Vgl. die ursprüngliche Fassung in Englisch, abgedruckt in: L’Osservatore Romano [26. Oktober 2001]. http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrst uni_doc_20011025_chiesa-caldea-assira_ge.html [Abruf: 17.3.2020]; dt. Fassung: Richtlinien für die Zulassung zur Eucharistie zwischen der chaldäischen Kirche und der assyrischen Kirche des Orients [vom 20.7.2001], in: L’Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache [23. November 2001], 9.
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Nach den stürmischen Zeiten der römisch-persischen Kriege und der arabischen Eroberung ging mit der Reorganisation der Kirche auch die Festlegung der Liturgie Hand in Hand. Diese Reform begann im 7. Jahrhundert mit dem Patriarchen ‘Īšō‘jahb III. († 658). Eines der charakteristischen Merkmale dieser Reform zeigt sich in der Vorliebe für den Siebener-Rhythmus. Das Liturgische Jahr, das mit dem dem 1. Dezember nächstliegenden Sonntag beginnt, wurde in Reihen von sieben Wochen aufgeteilt. Die stark reduzierte Heiligenverehrung zeigt ein altchristliches Gepräge. Ein charakteristisches Element des ostsyrischen Stundengebets ist der Reichtum seiner Gebete. Die ostsyrische Kirche erkennt der Mönchs- und Altarweihe, den Begräbnisriten sowie der Totensalbung einen sakramentalen Wert zu, dagegen nicht der Krankensalbung, die sie nur bis ins 7. Jahrhundert praktizierte. Stattdessen gab es eine Krankensegnung mit dem sog. Henānâ (= „Staub der Verehrung“), d. h. Staub von Märtyrergräbern, der mit Öl und Wasser vermischt den Kranken zum Trank gereicht oder aufgelegt wurde.47 Die Kirchengebäude kennen wohl bereits seit der arabischen Invasion (im 7. Jahrhundert) keinen Bilderschmuck mehr, weshalb es statt einer Ikonostase oft nur eine niedrige zaunartige Abtrennung gibt. Besondere Bedeutung hat die Verehrung des Kreuzes. 3.2.1.2 Der chaldäische Ritus48 Dieser Ritus ist die sehr stark latinisierte Form des syro-mesopotamischen Ritus der mit Rom unierten Chaldäischen Kirche.49 Bereits im 14. Jahrhundert vereinigten sich „Nestorianer“ von Zypern und im 16./17. Jahrhundert ein Teil der ostsyrischen Kirche von Mesopotamien mit Rom und bildeten die Chaldäisch-Katholische Kirche. Seit ihrer Vereinigung mit Rom haben die sogenannten Chaldäer zahlreiche „lateinische“ (römisch-katholische) Bräuche übernommen: Bei der Taufe findet kein vollständiges Untertauchen mehr statt, die Firmung wird nach der ehemaligen römischen Formel gespendet, ebenso die Lossprechung beim Bußsakrament. Nur Ehe- und Begräbnisriten haben ihre alte Form ohne allzu große Veränderungen bewahrt.
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Vgl. auch Awa Royel, Mysteries of the Kingdom: The Sacraments of the Assyrian Church of the East, Modesto/CA 32018. Vgl. z. B. Sarhad Y. H. Jammo, La structure de la messe chaldéenne du début jusqu’à l’anaphore. Étude historique (OCA 207), Roma 1979; Pierre Yousif, Le déroulement de la messe chaldéenne, in: François Cassingena-Trévedy/Izabela Jurasz (ed.s), Les liturgies syriaques (Études syriaques 3), Paris 2006, 59–99 u. a. Vgl. Johannes Madey, Chaldäische Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 119–121.
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3.2.1.3 Der syro-malabarische Ritus50 Als die Portugiesen erstmals mit den Christen der Südwestküste Indiens (Kerala) in Berührung kamen, war dort schon lange die syro-mesopotamische (ostsyrische) Liturgie in Gebrauch, allerdings mit einigen Sonderformen. Im 16. Jahrhundert wollten die portugiesischen Eroberer die Christen Indiens der katholischen Kirche zuführen, gingen dabei aber ziemlich unklug vor, da sie ihnen die römische Liturgie aufdrängten. So ist dieser Ritus seit der Synode von Diamper (1599) sehr stark latinisiert (bis heute) und hat nur einen kleinen Rest seiner Überlieferung bewahrt. Die Wiederherstellung der ostsyrischen Tradition ist noch immer im Gange, denn auf Druck der römischen Kurie ist bereits seit 1934 ein langwieriger und kontroverser Prozess zur Wiederherstellung der ostsyrischen Tradition im Gange, was 1985 und später von der Ostkirchenkongregation nochmals bestätigt wurde.51 Die Liturgiesprache ist die Landessprache Malayalam.52 3.2.2 Der west-syrische Zweig oder Typ
3.2.2.1 Der byzantinische Ritus53 Am bekanntesten dürfte der byzantinische Ritus sein, gehören doch über 80 % aller Ostchristen einer Kirche an, die diese Form des gottesdienstlichen Lebens pflegt (z. B. die 50
51
52 53
Diesen Ritus feiern die Christen der katholischen Syro-Malabarischen Kirche. Vgl. Jonas Thaliath, The Synod of Diamper (OCA 152), Roma 1958; Thomas Arayathinal, The Vicissitudes of the East Syrian Liturgy in Malabar, in: Symposium Syriacum 1972. Célébré dans les jours 26–31 octobre 1972 à l’Institut Pontifical Oriental de Rome. Rapports et communications (OCA 197), Roma 1974, 413–438. – S. auch Paul Pallath, La liturgia eucaristica della Chiesa siro-malabarese (Quaderni di Rivista Liturgica 1), Padua 2000. Vgl. Robert F. Taft, The Syro-Malabar Liturgical Controversy, in: Jose Porunnedom (ed.), Acts of the Synod of the Syro-Malabar Church held in the Vatican from 8 to 16 January 1996, Mount St. Thomas/Kochi 1996, 122–138. Vgl. Johannes Madey, Syro-malabarische Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 483–485. Aus der überaus großen Fülle der Literatur zum byzantinischen Ritus sei nur Robert F. Tafts († 2018) monumentale „History of the Liturgy of St. John Chrysostom“ erwähnt, von der seit 1975 bereits vier Bände erschienen sind [II: The Great Entrance. A History of the Transfer of Gifts and other Preanaphoral Rites of the Liturgy of St. John Chrysostom (OCA 200), Roma 1975, 42004; IV: The Diptychs (OCA 238), Roma 1991; V: The Precommunion Rites (OCA 261), Roma 2000; VI: The Communion, Thanksgiving, and Concluding Rites (OCA 281), Roma 2008.]. – Vgl. außerdem das Handbuch der Ostkirchenkunde 2 (s. Anm. 27), 14–23, 30–100; Hans-Joachim Schulz, Die byzantinische Liturgie. Glaubenszeugnis und Symbolgestalt (Sophia 5), Trier 32000, und Taft, The Byzantine Rite (s. Anm. 24).
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griechisch-, russisch-, serbisch-, bulgarisch- und rumänisch-orthodoxe oder ukrainische, melkitische und ruthenische griechisch-katholische Kirche etc.).54 Der byzantinische Ritus stammt ursprünglich vom Presbyter Johannes von Antiochien. Ihm wurde im 6. Jahrhundert der Beiname Chrysostomos („Goldmund“) verliehen, wahrscheinlich wegen seiner berühmten Predigten. Der Ritus erhielt jedoch in Konstantinopel (Byzanz; heute: Istanbul) seine endgültige Ausgestaltung und spiegelt in vielen seiner Zeremonien den Prunk des byzantinischen Kaiserhofes wider. Drei Hochgebete sind im Gebrauch: die Anaphora des Hl. Basilius; die am häufigsten verwendete Anaphora ist die des Hl. Johannes Chrysostomos; und manche Kirchen benutzen gelegentlich die Anaphora des Hl. Jakobus. An Tagen ohne Eucharistiefeier wird die „Liturgie der vorgeweihten Gaben“ gefeiert, die der Kommunionfeier der römisch-katholischen Karfreitagsliturgie ähnelt. Ein besonderes Merkmal des byzantinischen Ritus ist die Bedeutung der Bilderverehrung (Ikonen). Der Altarraum ist nicht mehr bloß durch eine Schranke, sondern durch eine Ikonostase abgeschlossen. Diese Bilderwand bildet das vielleicht auffälligste Ausstattungsstück in einer byzantinischen Kirche: Auf der von drei Türen durchbrochenen Wand sind in einer festen Anordnung Ikonen angebracht. Im ostkirchlichen Verständnis grenzt die Ikonostase zwar den himmlischen vom irdischen Bereich ab, wird aber während der Gottesdienstfeier immer wieder geöffnet, um so die Kommunikation zwischen Gott und den Menschen zu symbolisieren.55 Die ursprüngliche Liturgiesprache ist das Griechische. Die liturgischen Bücher wurden jedoch bei der Bekehrung der Slawen ins Altkirchenslawische übersetzt. Die Melkiten in Syrien und Ägypten feierten ihre Gottesdienste anfangs in Syrisch bzw. Griechisch, später und besonders heute in Arabisch. 3.2.2.2 Der syrisch-antiochenische Ritus56 Dieser Ritus ist die traditionelle Liturgie der syrisch-orthodoxen („jakobitischen“) Kirche57 (und auch der syrisch-katholischen Kirche). Nach Jerusalem war Antiochien die erste Gemeinde, von der das Christentum seinen Ausgang nahm (vgl. Apg.). Als römische Provinz mit griechischer Kultursprache ent 54 55 56 57
Vgl. auch Bremer/Gazer/Lange, Die orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition (s. Anm. 1). Vgl. Anna Grabowska/Basilius J. Groen, Der Stellenwert von Ikonen in der Liturgie, in: Groen/ Gastgeber, Die Liturgie der Ostkirche (s. Anm. 2), 61–80, 258 f. Vgl. Handbuch der Ostkirchenkunde 2 (s. Anm. 27), 109–114; Aho Shemunkasho, Der westsyrische Ritus, in: Groen/Gastgeber, Die Liturgie der Ostkirche (s. Anm. 2), 155–184, 262–264. Vgl. Johannes Madey, Syrisch-orthodoxe Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 479–482.
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wickelte Westsyrien eine Liturgie in griechischer Sprache; lediglich das Gebiet um Edessa (Adiabene) bildete das Zentrum syrischer Kultur. Das Konzil von Chalkedon (451) verursachte eine Spaltung innerhalb der Kirche von Antiochien. Ein „rechtgläubiges“ Patriarchat blieb zwar bestehen, aber es umfasste mit der Zeit vor allem die „Kaisertreuen“ (Melkiten), die schließlich bis zum 9. Jahrhundert die byzantinische Liturgie vollständig annahmen. Die „Miaphysiten“ setzten sich jedoch durch. Die sogenannte „jakobitische“ Kirche Antiochiens (heute: syrisch-orthodoxe Kirche) vereinigte Christen griechischer und syrischer Sprache. Der syrisch-antiochenische Ritus wurde aus verschiedenen Bestandteilen gebildet, die teils aus dem Griechischen übersetzt, teils ursprünglich syrisch waren. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erhielt er sein endgültiges Gepräge. Dieser Ritus besitzt außer der alten Jakobus-Anaphora58 etwa 80 andere Anaphoren.59 Ein charakteristisches Merkmal ist das Überwiegen hymnischer Elemente im Stundengebet, sodass die Psalmen fast ganz verdrängt wurden. Altsyrisch ist die Liturgiesprache geblieben, wenn auch in Syrien und im Libanon die Lesungen und andere Gebete in arabischer Landessprache gesprochen werden. Im 17. Jahrhundert vereinigte sich ein Teil der Westsyrer mit Rom. Sie bilden seither ein syrisch-katholisches Patriarchat,60 in dem bis heute der syrisch-antiochenische Ritus mit lateinischen Elementen in Kraft ist. 3.2.2.3 Der maronitische Ritus61 Dieser Ritus ist eine Variante des syrisch-antiochenischen Ritus. Er wird von den maronitischen Gemeinden des Libanon verwendet. Seit der Zeit der Kreuzzüge (11.–14. Jahrhundert) sind die Maroniten62 eng mit Rom verbunden und waren daher starken lateinischen Einflüssen ausgesetzt. Seit dem Mittelalter hat sich auch der Kirchenbau immer mehr den römischen Bräuchen angepasst, ebenso wie die liturgische Gewandung. Erst im Ritual von 58
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60 61
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Vgl. dazu nun auch Gabriele Winkler, Die Jakobus-Liturgie in ihren Überlieferungssträngen. Edition des Cod. arm. 17 von Lyon, Übersetzung und Liturgievergleich (Anaphorae Orientales 4 – Anaphorae Armeniacae 4), Roma 2013. Vgl. Hans-Jürgen Feulner, Zu den Editionen orientalischer Anaphoren, in: Ders. u. a. (ed.s), Crossroad of Cultures: Studies in Liturgy and Patristics in Honor of Gabriele Winkler (OCA 260), Roma 2000, 251–282, hier: 261–274. Vgl. Johannes Madey, Syrisch-katholische Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 477 f. Vgl. Handbuch der Ostkirchenkunde 2 (s. Anm. 27), 114–117; Michel Hayek, Liturgie Maronite. Histoire et textes eucharistiques, Tours 1964; Pierre-Edmond Gemayel, Avant-Messe Maronite. Histoire et structure (OCA 174), Roma 1965; Louis Khawand, Le Pardon dans la Messe Maronite (Bibliothèque de l’Université Saint-Esprit 15), Kaslik 1988 ; Hans-Jürgen Feulner, Der maronitische Ritus, in: Groen/Gastgeber, Die Liturgie der Ostkirche (s. Anm. 2), 185–203, 264 f. u. a. Vgl. Johannes Madey, Maronitische Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 340–342.
Liturgische Vielfalt in den Ostkirchen Österreichs im Lichte von lex orandi und lex credendi
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1942 findet man erste Anzeichen einer Rückwendung zur authentischen maronitischen Überlieferung. Seit 1992/2005 gibt es ein neues Messbuch, das sich der syrischen Tradition stärker verbunden weiß, wenngleich die arabische Sprache die altsyrische weiterhin stark verdrängt hat.63 Die Mehrzahl der Anaphoren, die in den verschiedenen Ausgaben des maronitischen Missales aufgeführt werden, haben die Maroniten mit den Westsyrern gemeinsam. Mit der Liturgiereform von 1992/2005 kam es aber auch zu einer freiwilligen und neuen „Latinisierung“ z. B. bei der Übernahme der celebratio versus populum. 3.2.2.4 Der malankarische Ritus64 Zum westsyrischen Liturgiezweig gehört auch der malankarische Ritus in Kerala. Im 17. Jahrhundert vereinigte sich an der Südwestküste Indiens ein Teil der ostsyrischen SyroMalabaren, die keine Union mehr mit Rom wollten, mit dem „miaphysitischen“ Patriarchat von Antiochien und übernahm die westsyrische Liturgie. 1930 schlossen sich mehrere Bischöfe wieder an Rom an; man nennt sie auch „Malankaren“. Sie behielten ihren westsyrischen Typus der Liturgie bei, den sie in der Volkssprache Malayalam feiern.65 3.2.3 Der armenische Ritus66 Der armenische Ritus ist eine Liturgie eigener Ordnung, obwohl sie in den Rahmen der antiochenischen Überlieferung gehört. Der armenische Ritus ist eine bemerkenswerte und 63
64
65 66
Vgl. Andreas Heinz, Liturgiereform bei den Maroniten, in: Liturgisches Jahrbuch 43 (1993) 204– 206; ders., Die Heilige Messe nach dem Ritus der Syrisch-maronitischen Kirche (Sophia 28), Trier 1996. Diesem Ritus folgt neben der katholischen syro-malankarischen Kirche auch die Malankara orthodox-syrische Kirche. – Vgl. Johannes Madey/Georg Vavanikunnel, Qurbana oder die Eucharistiefeier der Thomaschristen Indiens, Kerala 1968; dies., Die göttliche Liturgie der syrischen Kirche von Antiochien und der Indischen Syro-Malankara-Kirche mit der Anaphora der Zwölf Apostel, Paderborn 1979; Baby Varghese, West Syrian Liturgical Theology (Liturgy, Worship and Society Series), Aldershot 2004. Vgl. Johannes Madey, Syro-malankarische Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 486 f. Vgl. Handbuch der Ostkirchenkunde 2 (s. Anm. 27), 117–120; Gabriele Winkler, Der armenische Ritus: Bestandsaufnahme und neuere Erkenntnisse sowie einige kürzere Notizen zur Liturgie der Georgier, in: Robert F. Taft (ed.), The Christian East: Its Institutions & Its Thought. A Critical Reflection […] (OCA 251), Roma 1995, 265–298; dies., A Decade of Research on the Armenian Rite 1993–2003, in: Robert F. Taft (ed.), The Formation of a Millennial Tradition: 1700 Years of Armenian Christian Witness (301–2001) […] (OCA 271), Roma 2004, 183–210; Hans-Jürgen Feulner, Der armenische Ritus, in: Groen/Gastgeber, Die Liturgie der Ostkirche (s. Anm. 2), 105–132, 259–261 etc.
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originelle Synthese von Elementen, die aus verschiedenen Quellen aufgenommen worden sind, sogar – zur Zeit der Kreuzfahrer – von der lateinischen Kirche. Der (ost-)syrische Einfluss von Edessa auf den armenischen Ritus zeigt sich besonders in der Aufstellung des Kalenders. Dieser ist heute der einzige, der fast keine unbeweglichen Feiertage kennt. Außer armenischen werden nur noch einige syrische und persische Heilige verehrt. Das einzige Formular, das gegenwärtig zur Feier der Eucharistie, Surb Patarag, verwendet wird, ist die Athanasius-Anaphora.67 Von allen Ostkirchen unterscheidet sich die armenisch-apostolische68 von alters her durch den Gebrauch von ungesäuertem Brot. Desgleichen verzichtet die armenische als einzige aller christlichen Kirchen auf die Beimengung von Wasser zum Wein, obwohl dieser Brauch bereits im 2. Jahrhundert allgemein bezeugt ist.69 Die armenisch-apostolische Kirche ist die einzige Kirche, die keine Trennung von Weihnachten und Epiphaniefest kennt und beides als Doppelfest am 6. Januar feiert. Abgesehen von diesen Besonderheiten wurde die armenische Liturgie im Verlauf der Jahrhunderte weitgehend von der byzantinischen und mit den Kreuzzügen auch von der römischen Liturgie beeinflusst.70 Das zeigt sich bei der Mitra der Bischöfe, dem Altar-Retabel (= Altaraufbau mit Bildern), den Ordinationssalbungen und den Einfügungen römischer Gebete (Ankleidungsgebete, Stufengebet und Confiteor) sowie des Schlussevangeliums (meist Joh 1) in die armenische Eucharistiefeier (auch in der armenisch-katholischen Kirche71). 67
68 69
70
71
Vgl. Hans-Jürgen Feulner, Die Armenische Athanasius-Anaphora. Kritische Edition, Übersetzung und liturgievergleichender Kommentar (Anaphorae Orientales 1 – Anaphorae Armeniacae 1), Roma 2001. – Zu den anderen armenischen Anaphoren vgl. J. Catergian, Die Liturgien bei den Armeniern. Fünfzehn Texte und Untersuchungen, hg. v. J. Dashian, Wien 1897 [in armenischer Sprache]; Gabriele Winkler, On the Formation of the Armenian Anaphoras: A Completely Revised and Updated Overview, in: Studi sull’Oriente Cristiano 11/2 (2007) 97–130; dies., Die armenische Liturgie des Sahak […] (Anaphorae Orientales 3 – Anaphorae Armeniacae 3), Roma 2011 u. a. Vgl. Julius Aßfalg, Armenisch-apostolische Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 39–41. Vgl. nun Hayk Smbatyan, Christologische Dimensionen der armenischen Liturgietradition – unter besonderer Berücksichtigung der Eucharistiefeier (Սռւրբ Պատարագ) [unveröffentl. Dissertation, Universität Wien], 2020. Vgl. dazu die übersichtliche Zusammenstellung bei Daniel Findikyan, L’influsso latino sulla liturgia armena, in: Claude Mutafian (ed.), Roma – Armenia. Salone Sistino, Biblioteca Apostolica Vaticana 25 Marzo–16 Luglio 1999, Roma 1999, 340–344; Hans-Jürgen Feulner, On the ,Preparatory Rites‘ of the Armenian Divine Liturgy: Some Remarks on the Ritual of Vesting, in: Roberta R. Ervine (ed.), Worship Traditions in Armenia and the Neighboring Christian East […] (AVANT Series 3), New York 2006, 93–117. Vgl. Johannes Madey, Armenisch-katholische Kirche, in: KWCO (s. Anm. 34), 61 f.
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4. Schlussbemerkungen
Durch die gegenwärtige Flüchtlingsmigration kommt man in ganz West- und Zentraleuropa zunehmend auch in Kontakt mit arabischen Christen aus dem Nahen Osten, die einer uns wenig oder gar nicht bekannten östlichen Kirche angehören. Österreich, und besonders Wien, ist mit seiner Fülle an verschiedenen orientalischen Kirchen und deren Vielfalt an liturgischen Riten seit langem ein beredtes Beispiel für den Reichtum des großen Schatzes des östlichen Christentums. Aber auch in den westlichen Liturgien hat es – besonders im ersten Jahrtausend der liturgischen Ausformung und Entwicklung – immer wieder Übernahmen aus den östlichen Liturgien gegeben. Dies wird im Ökumenismusdekret „Unitatis Redintegratio (UR)“ (21. November 1964) des II. Vatikanischen Konzils ausdrücklich erwähnt, wenn es dort in Art. 14 heißt: „… Es darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben, daß die Kirchen des Orients von Anfang an einen Schatz besitzen, aus dem die Kirche des Abendlandes in den Dingen der Liturgie, in ihrer geistlichen Tradition und in der rechtlichen Ordnung vielfach geschöpft hat …“.72 Lex orandi – lex credendi, dieser Grundsatz oder dieses alte Prinzip der kirchlichen Liturgie bezeugt die höchste Wichtigkeit, dass zwischen dem Glauben einer Kirche und deren liturgischen Handlungen volle Übereinstimmung bestehen muss. Erweitern müsste man dieses Axiom noch mit der lex vivendi: Die Liturgie ist selber Gebet, und der Ausdruck des Glaubens hat daher seinen angemessenen Platz in der Feier des Gottesdienstes. Die Gnade, also die Frucht der Sakramente, ist die unabdingbare Voraussetzung des christlichen Tuns (lex vivendi), so wie die Teilnahme an der Liturgie der Kirche den Glauben erfordert. Und da die Sakramente die Gemeinschaft im Glauben der unterschiedlichen Kirchen zum Ausdruck bringen und entfalten, ist die lex orandi eines der wesentlichen Kriterien des ökumenischen Dialogs, der die Einheit der Christen in einer Vielfalt der liturgischen Feierformen wiederherzustellen versucht.73 Gerade in Österreich mit der Stiftung Pro Oriente werden seit ihrer Gründung im Jahre 1964 sehr erfolgreiche Bemühungen durchgeführt.74
72 73
74
DEL I, Nr. 370b. Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1126. – Siehe außerdem UR 2 und bes. UR 15 (DEL I, Nr. 366 u. 371). – Siehe auch Regina Augustin u. a. (Hgg.), Liturgie als Chance und Herausforderung für die Ökumene. Beiträge der Liturgiewissenschaft zur Einheit der Kirchen (Pro Oriente 41), Innsbruck 2018. Vgl. https://www.pro-oriente.at/?site=st20180122123505 [Abruf: 19.3.2020].
Der Islam und die Zukunft Europas Michael H. Weninger
Mit der jahrelangen Debatte um den „Brexit“ wurde in vielen Denkfabriken, wissenschaftlichen und politischen Institutionen, aber auch in breiten Bevölkerungskreisen auf je unterschiedliche Art die Frage nach dem Wesen der Europäischen Union und damit nach deren Zukunft gestellt. Eines ist gewiss: Die Europäische Union ist eine politische, eine währungs-, wirtschafts- und finanzpolitische, in mancher Hinsicht auch eine sicherheitsund verteidigungspolitische Organisation. Sie ist all dies, aber sie ist darüber hinaus noch viel mehr. Die Europäische Union besitzt eine spirituelle, eine religiöse Dimension und erfreut sich eines durch Jahrtausende gewachsenen spirituellen Erbes.1 Dieses spirituelle, religiöse Erbe Europas ruht bekanntlich auf drei Säulen, die alle einen konkreten Namen tragen. Sie heißen Jerusalem, Athen und Rom. Jerusalem, die heilige Stätte der drei abrahamitischen Religionen, Athen, der Geburtsort der Demokratie, und Rom, jener des Römischen Rechts, das heute noch an den juridischen Fakultäten der Universitäten gelehrt wird. Gleichzeitig kann es keinen Zweifel geben, dass im Verlaufe der zweitausendjährigen europäischen Geistesgeschichte noch weitere geistige Strömungen und ideelle Konzepte hinzugekommen waren, beispielsweise byzantinische, jüdische und muslimische Einflüsse, philosophische und laizistische sowie verschiedene politische Konzepte. Trotz der Vielfalt an Einflüssen kann jedoch nicht geleugnet werden, dass die Geistesgeschichte Europas mit ihren zahlreichen Emanationen grundlegend eben eine christliche Geistesgeschichte ist. Selbst Übelmeinende können die Tatsache nicht ignorieren, dass Europa in einem sehr hohen, ja essenziellem, Maß christlich grundiert ist. Es ist keine Phantasie vonnöten, um ein lehrreiches Gedankenspiel durchzuführen. Wenn man vom Europa der Gegenwart all das subtrahieren würde, was christlichen Ursprungs ist oder in einem christlichen Zusammenhang steht, in der Wissenschaft, in den vielfältigsten Sparten der Kunst, besonders auch in der Musik, in der Bildhauerei, Malerei, wenn man sich die herrlichen Abteien, Klöster, Dome und Kathedralen usw. als Zentren von Gelehrsamkeit, Bildung, ja von Kul1
Einer der Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften, aus denen später die Europäische Union entsprossen ist, formulierte dieses Faktum auf seine Art: „Vor allem kann die Demokratie nicht improvisiert werden; Europa hat über ein Jahrtausend Christentum benötigt, um sie heranzubilden“ (Robert Schuman, Für Europa, 2. Auflage, Verlag Nagel 2010).
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tur und Wissenschaft jeglicher Art vor Augen führt, wenn man also dies alles und noch viel mehr vom Europa der Gegenwart subtrahieren würde, was wäre dann noch übrig? Gewiss herzlich wenig!2 Auf der Grundlage des eben Ausgeführten ist gleichzeitig klar, dass die verschiedenen europäischen Institutionen – und hier beispielhaft jene der Europäischen Union – zweifelsohne säkulare Einrichtungen sind. Als solche verhalten sie sich jedoch den Religionsgemeinschaften und Kirchen gegenüber nicht religionsfeindlich. Tendenziell sind sie sogar im Konzert der vielfältigen europäischen Stimmen den Religionen und Kirchen gegenüber positiv eingestellt. Dies hat zum einen mit dem reichen christlichen Erbe Europas zu tun und zum anderen, dass sich die konkreten politischen Interessen der europäischen Institutionen in vielen Bereichen mit den Interessen der Religionsgemeinschaften und Kirchen treffen. Aus diesem Grund wurde mit Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), eingeführt mit dem Vertrag von Lissabon, erstmals eine Rechtsgrundlage für einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog der EU mit Kirchen, religiösen Vereinigungen und weltanschaulichen Gemeinschaften eingeführt. Art. 17 AEUV bestimmt: 1. Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. 2. Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen. 3. Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.3
Während die ersten beiden Absätze dieses Artikels den Schutz des besonderen Status gewährleisten, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften sowie weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen, werden die Organe der EU in Absatz 3 aufgefordert, einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit diesen Kirchen und Gemeinschaften zu pflegen. Was aus der Sicht vieler Europäer, vor allem auch aus der Perspektive der Religionsgemeinschaften und Kirchen nottut, das ist, die politische, wirtschafts- und finanzpoliti2
3
Der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Prof. Romano Prodi, hat dies dergestalt formuliert: „Der Europäischen Union als Union der Staaten und Bürger Europas wohnt wesensgemäß eine religiöse, eine spirituelle Dimension inne“ (Ansprache an die Mitglieder der Arbeitsgruppe über die ‚spirituelle und kulturelle Dimension Europas‘, Brüssel, 21. Mai 2003). Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung des Vertrages von Lissabon.
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sche, aber auch sicherheits- und verteidigungspolitische Union um die religiös-spirituelle Dimension in concreto zu bereichern, also zu versuchen, ein Europa zu schaffen, welches sein reiches spirituelles Erbe ernst nimmt und in welchem Profangeschichte und Heilsgeschichte einander durchdringen.4 Dieses Vorhaben zu realisieren, gilt zweifelsohne auch vor dem Hintergrund eines Europas der Gegenwart, das von Einheit in Vielfalt geprägt sein müsste und gleichzeitig eine Pluralität in Einheit sicherzustellen hätte. Freiheit und Ordnung gehören als Begriffspaar unmittelbar zueinander. Bekanntlich bedeutet Freiheit ohne Ordnung Anarchie, Ordnung hingegen ohne Freiheit Diktatur. Vor dem Hintergrund des soeben Dargelegten gilt es nun die Frage nach dem Islam in Europa und dessen Verortung für ein zukünftiges gedeihliches Zusammenleben einer nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft mit einer muslimischen Minderheitsgesellschaft zu thematisieren. Ein aufgeklärter säkularer Rechtsstaat muss dem Selbstbestimmungsrecht seiner Bürger im Rahmen des Gesellschaftsvertrages Raum geben. Dies setzt eine offene Mehrheits-Gesellschaft voraus, die ihrerseits den Islam nicht als „feindlich“, schädlich“ usw. betrachtet und erfährt, sondern sich auf die Herausforderungen durch die islamischen Traditionen einlässt. Ein solcher darf von der Minderheitengesellschaft nicht als Bedrohung empfunden werden, oder gar als Gegner, den es zu bekämpfen gilt. Sie muss ihn vielmehr als Chance erfahren, sich auf Grundlage der fundamentalen Freiheitsrechte als Muslime verwirklichen zu können. Es ist aber auch die dialogbereite Minderheits-Gesellschaft Voraussetzung, welche die Probleme, die eine Diaspora mit sich bringt, konstruktiv annimmt, den Mut aufbringt, das Leben als Minderheit zu akzeptieren und aktiv nach geeigneten Formen des Zusammenlebens zu suchen, einschließlich der Möglichkeit, sich in die Mehrheits-Gesellschaft zu integrieren oder gar zu assimilieren. Ein fundamentales Problem tut sich in diesem Zusammenhang darin auf, dass die Europäische Union selber sich ständig in einem Integrations- und Transformationsprozess mit einem ergebnisoffenen Ausgang befindet und der von der Mehrheitsgesellschaft geforderte muslimische Integrationsprozess, der selber auch wieder durch einen Experimentiercharakter mit einem nach vorne offenen Ausgang charakterisiert ist, sich in diesem verwirklichen soll. Die politische, gesellschafts- und religionspolitische Wirklichkeit in Europa sieht sich daher zwei experimentellen Prozessen gegenüber, die verschränkt sind und sich ein Stück des Weges auch bedingen.5 4 5
Vgl. für hier und das Folgende den Abschnitt: Der Islam als europäische Herausforderung, in: Michael H. Weninger, Europa ohne Gott?, von kultureller Vielfalt, Nomos 2007, 228–272. „Es gilt, die faktisch erfahrene Pluralität in ein neues Zusammenspiel der Kulturen umzuformen und das Spannungsverhältnis von kultureller Vielfalt und globaler Einheit für die Zukunft fruchtbar zu machen“ (Gabriel. Ingeborg, Kirche und Kultur. Überlegungen zum Thema Inkulturation, in: Freistetter, Werner und Weiler, Rudolf [Hrsg.], Die Einheit der Kulturethik in vielen Ethosformen, Berlin 1993, 127).
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Die Muslime in Europa sehen sich vor die fast paradoxe Aufgabe gestellt, als Minderheit ihre Identität in einem Kontext zu finden, der selber durch einen Mangel an Identität gekennzeichnet ist. Diesbezüglich spitzt sich die Frage, wie man Muslim und gleichzeitig Europäer sein kann, in doppelter Weise zu.6 In diesem Zusammenhang muss auf einen weitverbreiteten Irrtum im Gebrauch des Terminus der Islam vorsorglich hingewiesen werden, denn den Islam gibt es im genannten Kontext nicht. Es muss stets die Vielfalt der islamischen Traditionen im Auge behalten und solcherart differenziert werden. In Europa leben Angehörige sämtlicher islamischer Traditionen: Sunniten, Schiiten, Wahhabiten, Salafiten, Ismailiten usw. Und im Übrigen sind sämtliche Lehrtraditionen und Richtungen, welche die jeweils einzelnen Traditionen in sich herausgebildet haben, ebenfalls vertreten. Je nach Herkunftsland sind die Muslime, die nach Europa kamen7, auch durch ihr jeweiliges politisches System geprägt, so durch Monarchie, ein theokratisches Herrschaftsmodell, Demokratie und verschiedene Mischformen. Parallel zu dieser besonderen Vielfalt ist auch die große Vielfalt an Sprachen zu berücksichtigen, welche die Muslime als Migranten in Europa als Muttersprache sprechen. Da durch die Sprache auch kulturelle, gesellschaftliche, politische, religiöse und andere Identitäten vermittelt werden, stellt sie einen wichtigen Faktor im öffentlichen Leben und im Hinblick auf die Integration in den Alltag dar. Dies hat eine besondere Bedeutung, vor allem, wenn man bedenkt, dass die erste und oft auch die zweite Generation von Einwanderern an ihrer Muttersprache festhalten und die Sprache ihres Wohnsitzlandes (vor allem bei älteren Menschen) nicht oder nicht ausreichend sprechen. Auch in Bezug auf die tatsächliche religiöse Praxis scheint ein differenzierender Blick geboten. So melden einzelne Moscheen und Islamverbände im Verhältnis zur Zahl der wohnhaften Muslime eine mitunter stark reduzierte Anzahl an religiös Praktizierenden. Beobachter haben die folgende (grobe) Einteilung vorgeschlagen: integriert und gläubig praktizierend; integriert und nicht praktizierend (agnostisch/Kulturmuslime); nicht integriert und praktizierend; religiöse Fanatiker (Islamisten) und natürlich Mischformen. Oft wird bei der Forderung nach der Integration der Muslime in die europäische rechtsstaatliche Wirklichkeit, wie sie im Grunde von den allermeisten politischen Parteien gefordert 6
7
Der Islam in Europa ist in einem sehr hohen Ausmaß von Migration geprägt, welche seit Jahrhunderten bis – im Gefolge des Arbeitsmangels – nach dem Zweiten Weltkrieg und den kriegerischen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit im Nahen Osten, aber auch in anderen Ländern der muslimischen Welt (Stichwort z. B. „Arabischer Frühling“) in Wellen erfolgt ist. Die Auswirkung dieser Migration auf die europäische Bevölkerung hat jüngst das PEW Research Center untersucht. Siehe https://www.pewforum.org/2017/11/29/europas-wachsende-muslimische-bevolkerung/. Zu diesem Thema immer noch ein Referenzwerk: Balić, Smail, Das unbekannte Bosnien. Europas Brücke zur islamischen Welt, Köln-Weimar-Wien 1992.
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wird, übersehen, dass es die Mehrheitsgesellschaft nicht nur mit Migranten unterschiedlicher Generationen zu tun hat, sondern es genuin europäische Muslime gibt, und diese seit Jahrhunderten. Ein besonders signifikantes Beispiel bieten hierfür die Muslime Südosteuropas, z. B. in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, Sandschak und in verschiedenen anderen Regionen des ehemaligen Jugoslawien sowie in Albanien. Seit der Herrschaft des Osmanischen Reiches sind ethnische Serben oder Kroaten, manchmal gewaltsam, manchmal durch Steuervorteile und einige Privilegien motiviert, zum Islam konvertiert. Nur eine Sache unterschied sie von den anderen. Die Katholiken waren als Kroaten, die Orthodoxen als Serben identifiziert. Aber die Muslime? Sie wurden weder als Kroaten noch als Serben angesehen. Erst im späten Habsburgerreich erhielten die Muslime einen Namen. Die kaiserliche Verwaltung nannte sie Bosniaken und gab ihnen damit einen Namen und eine Identität. Die Bosniaken sind genuine europäische Muslime. Sie waren immer Europäer und sind dies bis zum heutigen Tag.8 Der politische Alltag zeigt zweifellos, dass die muslimische Minderheitsgesellschaft in Europa in einem hohen Ausmaß vom Phänomen der Migration geprägt ist. Unter den Muslimen mit Migrationshintergrund findet sich eine gar nicht so kleine Zahl an muslimischen Mitbürgern, die ausschließlich die Staatsbürgerschaft des Wohnsitzstaates besitzen, mitunter schon seit mehreren Generationen im jeweiligen Staat leben und integriert, gelegentlich auch assimiliert sind und ein gesellschaftliches wie staatsbürgerliches Leben wie all die übrigen Mitbürger eben auch praktizieren. Dann findet sich die Gruppe jener Muslime, die sowohl die Staatsbürgerschaft des Wohnsitz- als auch ihres Herkunftsstaates besitzen, was in vielen Fällen zu einer sowohl nationalstaatlichen als auch völkerrechtlichen Rechtsunsicherheit führen kann, etwa in einer Notlage eines Betroffenen, in der der Wohnsitzstaat seinem Bürger konsularische Hilfe angedeihen lassen will, der Herkunftsstaat eine solche jedoch mit dem Verweis auf die noch vorhandene und gültige Staatsbürgerschaft verweigert. Muslime mit Migrationshintergrund begnügen sich aus verschiedenen Gründen oft genug auch mit der Staatsbürgerschaft ihres Herkunftsstaates und pflegen eine starke Rückbindung an die Glaubenspraxis, Kultur, Tradition und politischen Verhältnisse des Herkunftssystems. Flüchtlinge, Asylanten und der eine oder andere illegal Aufhältige vervollständigen die sehr heterogene Wirklichkeit. Die Konversionen der von welcher Religion und Weltanschauung auch immer zum Islam übergetretenen Bürger, oft genug durch eine strenge Glaubenspraxis charakterisiert, runden die Realität ab. Die Wirklichkeit des Islam im Alltag ist durch eine Vielzahl von muslimischen Organisationen und Institutionen geprägt. Muslime versammeln sich in ihren Moscheen, in ihren Verbänden und treffen sich in ihren Vereinen, haben aber relativ wenige Institutionen, die 8
Die deutsche Bertelsmann Stiftung hat zu diesem zentralen Thema eine umfassende Studie veröffentlicht: Halm, Dirk und Sauer, Martina, Muslime in Europa integriert, aber nicht akzeptiert?, Gütersloh 2017.
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es ihnen erlauben würden, in größerem zahlenmäßigen Umfang, gar länderübergreifend vertreten zu sein. Dachverbände sind zwar vorhanden, deren Repräsentativität nach Zahl und politischer Gestaltungskraft ist jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Die muslimischen Gemeinschaften sind institutionell je nach religiösen Traditionen, Sprachgruppen, ethnischer, kultureller und staatlicher Herkunft in viele Vertretungskörperschaften geteilt. Diese Vielfalt und Fragmentarität erlaubt auch keine verbindende hierarchische Ordnung, wie sie beispielsweise in der katholischen Kirche durch Papst und Bischöfe gegeben ist. Gerade die Vielfalt horizontaler Vertretungskörperschaften und der Mangel an vertikalen erschweren mitunter den Dialog mit eben diesen. Eine Frage wird im Zusammenhang mit der Herausforderung der Integration der muslimischen Minderheitsgesellschaft in die nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaft immer gestellt: Wie groß ist die Zahl der in Europa lebenden Muslime? Die Antwort: Niemand kennt die genaue Zahl. Die Ursachen dafür sind im Wesentlichen drei: Zum einen erheben die allermeisten statistischen Befragungen der Regierungen aufgrund einer politischen Korrektheit die religiöse Orientierung der Bevölkerung nicht mehr. Wenn Regierungen – oder wer auch immer – wissen will, wie viele Muslime in einer Gemeinde oder einem Staat leben, ist man auf Informationen angewiesen, die von den muslimischen Organisationen selbst geliefert werden, die manchmal gewollte Daten anbieten. Andererseits gibt es in vielen Ländern keine Verpflichtung mehr, den Wohnortwechsel zu melden. Mangels nationaler Melderegister ist die Mobilität der Bevölkerung zumindest mit diesem Instrument nicht mehr exakt verfolgbar. Drittens existieren innerhalb der Grenzen der Mitgliedstaaten im Schengen-Raum keine Grenzkontrollen mehr. Einmal wohnhaft im Schengen-Raum ist der Wechsel von einem Mitgliedstaat in den anderen ohne interne Kontrolle jederzeit möglich, was die administrative Erfassung „internationaler“ Mobilität ebenfalls erschwert. Folglich sind aus diesen und weiteren Gründen auch keine genauen Angaben darüber verfügbar, wie viele muslimische Bürger sich in Europa aufhalten. Deshalb arbeiten die Regierungsbehörden mit Schätzungen. Diese belaufen sich für die EU auf 6–8 % der Gesamtbevölkerung! Die muslimische Realität in Europa stellt sich also als ein höchst komplexes Geschehen dar. Die Kernfrage im europäischen Dialog mit dem Islam lautet: Wie kann Muslim-Sein und Europäer-Sein im Zueinander von beiden Identitäten gelingen? Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) hat sich mit diesem grundlegenden Problem befasst und bereits im Februar 2002 die sogenannte „Islamische Charta“ (Grundsatzerklärung des Zentralrats der Muslime in Deutschland zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft) veröffentlicht.9 Dieses Dokument hatte damals 9 Siehe: Islamische Charta. Grundsatzerklärung des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft, Köln, 3. Februar 2002; http://www. zentralrat.de/3035.php (zuletzt aufgerufen am 17.04.2020).
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bereits geradezu einen prophetischen Charakter, der von der heutigen Wirklichkeit eingeholt wurde. Es bietet gerade zu den gegenwärtigen Problemstellungen eine hervorragende Handlungsanweisung. Es lohnt sich in der Tat, auf das Wesentliche hinzuweisen: Der 15. Absatz dieser „Charta“ stellt klar, dass „die Bildung einer europäischen muslimischen Identität notwendig ist“, dass sich das „Zentralkomitee (ZMD) für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verantwortlich fühlt“ (Abs.18), dass „die von ihm vertretenen Muslime die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik, einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven und passiven Wahlrechts der Frau sowie die Religionsfreiheit bejahen“ (Abs. 11), dass „zwischen den im Koran verankerten, von Gott gewährten Individualrechten und dem Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung kein Widerspruch besteht“ (Abs. 12), dass „die Herausbildung einer eigenen muslimischen Identität in Europa notwendig ist“ (Abs. 14) und dass „eine Integration der muslimischen Bevölkerung in die Gesellschaft unter Bewahrung der islamischen Identität möglich ist“ (Abs.19). Diese in vielerlei Hinsicht bedeutende „Islamische Charta“ hat bedauerlicherweise über die akademische Welt hinaus nie das verdiente und notwendige öffentliche Interesse gefunden. Ein Jahr vor der Verabschiedung der „Islamischen Charta“ bereicherte ein ökumenisches Papier die (öffentliche) Debatte. Der damalige französische Metropolit Jéromie, Präsident der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), und Kardinal Miloslav Vlk von Prag, der damalige Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE), unterzeichneten am 22. April 2001 in Straßburg ein ebenfalls zukunftsweisendes Dokument: die „Charta Oecumenica“10, das unter anderem auch Leitlinien für die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Kirchen in Europa mit dem Islam bietet. Im Art. 11 heißt es unter der Überschrift „Beziehung zum Islam pflegen“: „Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen sowie den christlich-islamischen Dialog wollen wir auf allen Ebenen intensivieren. Insbesondere empfehlen wir, miteinander über den Glauben an den einen Gott zu sprechen und das Verständnis der Menschenrechte zu klären. Wir verpflichten uns, den Muslimen mit Wertschätzung zu begegnen und bei gemeinsamen Anliegen mit Muslimen zusammenzuarbeiten.“ Die Resonanz auf dieses Dokument war überwältigend positiv, heute ist dieses historische Papier außer in akademischen Kreisen im Grunde vergessen. Wie stellt sich in Anbetracht der Migrationsströme in Richtung EU seit 2015 und der verschärften Auseinandersetzung im öffentlichen Diskurs um den Migrationshintergrund die Frage der Integration der Muslime in die europäischen Gesellschaften dar? Es lag und liegt auf der Hand, dass sich in Anbetracht der Gegebenheiten nicht nur ein 10 Siehe: Charta Oecumenica. Leitlinie für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, Straßburg, 22. April 2001; https://www.oekumeneack.de/fileadmin/user_upload/Charta_ Oecumenica/Charta_Oecumenica.pdf (zuletzt aufgerufen am 17.04.2020).
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einziges, sozusagen allgemeingültiges Modell ausprägen wird, sondern mehrere, gleichzeitig neben- und vielleicht auch gegeneinander existierende Varianten in Europa sichtbar werden und fließende Übergänge sowie zahlreiche Zwischenformen erkennen lassen. Die Pole oder extremen Alternativen, zwischen denen sie changieren, heißen in der gängigen Terminologie: „Islamisierung Europas“ oder „Europäisierung des Islams“. Politische Beobachter haben die folgenden Phänomene konstatiert: • die Säkularisierung: Muslime werden weitgehend von Säkularisierungsprozessen mitgerissen, in dessen Verlauf die religiöse Dimension abnimmt und in einer „verweltlichten“ islamischen Kultur- und Zivilisationsform aufgeht; in diesem Zusammenhang könnte auch von einer islamischen Zivilgesellschaft gesprochen werden, bzw. von „Kulturmuslimen“; • die Assimilation: Muslime bekennen sich zwar weiterhin und weitgehend zum Islam als dominantem religiösen Faktor, sie praktizieren Religion jedoch im Rahmen der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit im Europa des 3. Jahrtausends mit der Tendenz, in einer europäischen Gesellschaft „aufzugehen“; • die Integration: Auch in dieser Hypothese finden wir die Anerkennung einer genuin westlich-europäischen gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Muslime, wobei sie sich im Unterschied zur Assimilation einen Freiraum für ihre religiöse und kulturelle Identität bewahren; dies wäre möglicherweise eine Spielart des „europäisierten Islams“; • die Ghettoisierung: Die muslimischen Gemeinschaften, so zahlreich sie im Einzelnen in Bezug auf ihre Mitglieder auch sein mögen, ziehen sich als „Moscheen-Gemeinschaften“ in ihre Wände zurück, isolieren sich von der nicht-muslimischen Gesellschaft, leben – vor allem in den Großstädten und sonstigen Ballungszentren – in moslemisch dominierten Wohnbereichen und sind versucht, etwa auf Gemeinde- und regionaler Ebene, mit eigenen politischen Parteien, Kulturvereinen und sonstigen Vertretungskörperschaften ihre Interessen zur Geltung zu bringen; auch diese Hypothese lässt noch einen gewissen Spielraum für einen „europäisierten Islam“; im Wesentlichen werden sich diese Muslime jedoch in gewisser Weise in ihrer Existenz als Fremdkörper, als Teil einer Diaspora, verstehen; • die partielle Integration: Die Muslime anerkennen die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen der europäischen Zivilisation, versuchen in dieser ihre religiöse Identität aufrechtzuerhalten und aktiv zu leben unter gleichzeitiger Rückbindung an den Islam als weltweitem, globalem Faktor und/oder an die Traditionen und Variationen ihrer Herkunftsländer; hier spielen auch die Fragen der Doppelstaatsbürgerschaft und der politischen Rückbindung der Muslime an ihre Herkunftsländer eine besondere Rolle;
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• die Kontestation, bei der der Islam gänzlich in Separation lebt, mit starker Nähe und fließendem Übergang zu • der Islamisation: Die Muslime engagieren sich aktiv – gelegentlich im Untergrund und unter Verletzung bestehender Rechtsnormen – im Hinblick auf eine „Islamisierung Europas“; solche Tendenzen sind in nahezu allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union festzustellen, konstituieren gelegentlich eine echte Bedrohung für den herrschenden Rechtsstaat, provozieren sehr häufig gesellschaftlichen Widerstand, geben Anlass zu gesellschaftlicher Unruhe und rufen nicht selten extreme politische Reaktionen hervor; dieses Modell sieht den Islam konfrontativ. Das klassische Rechtssystem der „Scharia“ kennt die Unterscheidung zwischen „Gebiet des Islam“ (arab. dar al-islam), faktisch den islamischen Staat, der mit dem islamischen Gemeinwesen zusammenfällt, und „Gebiet des Krieges“ (arab. dar al-harb) als Inbegriff für das nicht-islamische und daher zu bekehrende Territorium. Die praktische Lebenserfahrung der Muslime als Angehörige einer Minderheit in einer nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft hat jedoch zur Herausbildung eines dritten Begriffes geführt: „Gebiet des Vertrages“ (arab. dar al-ahd). „Wenn ein Muslim in einem nicht-islamischen Land lebt und dort Rechtssicherheit genießt und seinen Glauben frei praktizieren kann, dann ist das Land nicht islamfeindlich.“ Der säkulare Rechtsstaat wird von den („aufgeklärten“) Verfechtern dieses Standpunktes also nicht als Bedrohung empfunden oder gar als Gegner, den es zu bekämpfen gilt, er wird vielmehr als Chance erfahren, sich auf Grundlage der fundamentalen Freiheitsrechte als Muslime verwirklichen zu können.11 Was sind die Lehren, die aus den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Islam in Europa zu ziehen sind? Zuvorderst muss allen Betroffenen klar sein, dass nur ein Dialog zu einem erwünschten und möglichen Ergebnis führen kann. Diese Erkenntnis setzt allerdings die Fähigkeit 11
Das Konzept des dar al-islam thematisiert die Welt als im Dualismus von der Welt des Islams und dem Rest der Welt und dient der Legitimation von Herrschaftsansprüchen. Es kennt eine Reihe von Zwischen- und Nebeneinstufungen, die sich teilweise überschneiden, zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind und sich mitunter auch widersprechen können. So finden wir zusätzlich zu den oben genannten Begriffen beispielsweise auch solche wie dar al-sulh (Haus des Friedens[vertrags]), dar al-kufr (Haus des Unglaubens), dar al-hudna (Haus der Ruhe“), dar al-dawa (Haus der Einladung) und dar al-amn (Haus der Sicherheit). Wissenschaftlich ist nicht gesichert, zu welchem Zeitpunkt und von wem diese Unterscheidungen in die islamische Begriffswelt eingeführt wurden. Wirklich durchgesetzt hat sich dieses Konzept in den großen islamischen Traditionen nicht wirklich, die schiitische lehnt ihn fast vollständig ab und die sunnitische zu einem nicht unbeträchtlichen Prozentsatz.
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und den Willen zu einem solchen voraus.12 Beide Bedingungen sind bedauerlicherweise oft genug nur rudimentär ausgebildet. Hier sind die politischen und weltanschaulichen Gesinnungsträger gefragt, entsprechend Abhilfe zu schaffen. Ein realistischer und von Argumenten getragener interreligiöser Dialog wird einen weiteren unverzichtbaren Moment darstellen. Ein solcher Dialog ist jedoch nur dann mit Aussicht auf Verständigung zu führen, wenn die präsumtiven Gesprächspartner erstens ein über ihre eigene Religion und ihren Glauben entsprechendes Wissen und auch über eine in der Praxis bewährte Überzeugungskraft sowie zweitens ein zumindest für ein vernünftiges Gespräch auch ausreichendes Wissen über den Glauben des Anderen verfügen. Im Zeitalter eines vertrocknenden Glaubenswissens und mit diesem einhergehend einer religiösen Sprachlosigkeit ist dies ein nicht leicht zu bewerkstelligendes Unterfangen.
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Zur Orientierung für eine mögliche gelingende Praxis kann – neben den beiden bereits oben genannten Dokumenten – das Dokument über Die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt dienen, welches von Papst Franziskus und dem Großimam von Al- Azhar, Ahmad Al-Tayyeb, am 4. Februar 2019 in Abu Dhabi unterzeichnet wurde.
Volksfeste, Schaustellerei & Geisterbahn: Lebendiges Kulturgut Steve Kayser
Warum gehen wir zur Kirmes? Oder besser gefragt, was ist es, das uns zum Festplatz zieht? Es ist wohl das Außeralltägliche1, das uns hier bezirzt. Da wird ein öffentlicher Ort – ein Platz, eine Wiese, ein Gelände oder gar eine Halle – temporär zu einer mehr oder weniger großen Amüsierfläche umfunktioniert. Wir sagen auch noch: Der Platz wird bespielt. Damit der Spaß beginnen kann, wird eine eigene und dem Anlass angepasste Infrastruktur implantiert. Verkaufs-, Spiel- und Fahrgeschäfte werden gemäß einem vorher vom Organisator abgesegneten Plan aufgebaut. Wir sagen: Standplätze werden vergeben und bebaut. So entsteht ein besonderer Raum, ein besonderer Ort mit seinem besonderen Ambiente, mit seiner besonderen Dynamik. Das Ereignis schreibt sich in den lokalen Jahreskalender ein. Jedes Volksfest blickt auf seine eigene Geschichte zurück. Meistens liegen die Ursprünge im Mittelalter.
1. Volksfeste & Schaustellerei, historisch gewachsenes Kulturgut
Lokale Feste schrieben sich in den Lebenszyklus der stark religiös geprägten mittelalterlichen Agrargesellschaft Europas ein. Aus diesem Grunde spielten auch die Kirchweihfeste eine wichtige Rolle innerhalb der Dorfgemeinschaften. Man nannte sie Kirmes, Kiermes, Kerwa, Kirbe, Messti, kermesse, ducasse, foire, Foor, Dult, Chilbi oder vogue. Dies hing von den sprachlichen Gegebenheiten der verschiedenen Austragungsorte ab2. Es gibt viele Verbindungen zu den heidnischen Riten, welche direkt aus der Antike stammten, wie z. B. Karneval oder die Schadfeuer.3 Diese Bräuche wurden oft in der Folgezeit vom Christen1 2 3
Szabo, Sacha: Rausch und Rummel. Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks – Eine soziologische Kulturgeschichte; transcript Verlag, Bielefeld 2006, S. 49–65 Sommer-Hasenstein, Monika (éd.): Vie familiale, dimanches et jours de fêtes – Coutumes et traditions en Sarre-Lor-Lux, Gollenstein 2007, S. 56–69 Remoortere, Julien van: Le Guide Ippa des Fêtes et du Folklore en Belgique, Editions Lannoo, Tielt 1995
Volksfeste, Schaustellerei & Geisterbahn: Lebendiges Kulturgut
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tum übernommen und angepasst. Aber auch andere kirchliche Feste beeinflussten das Leben, wie z. B. Tauffeiern oder Hochzeiten. Diese Dorffeste haben allerdings nur sehr wenig mit den heutigen Volksfesten zu tun. Es waren eher Wallfahrten einerseits, Jahrmärkte und Handelsmessen andererseits, welche es den reisenden Gauklern – im Französischen auch noch saltimbanques oder banquistes genannt – ermöglichten, Menschen am Rande der Handelstätigkeit zu belustigen. Von den sogenannten Komödianten, Artisten, Akrobaten über den Bärenführer und Bänkelsänger bis hin zum Glücksspieler und Scharlatan – die Schausteller wurden nun zu den Machern der Feste, im Französischen auch noch fêteux oder gar bateleurs genannt. Sie lebten meist am Rande der Gesellschaft und zählten zu den sogenannten unehrlichen Berufen4 und den Ausgestoßenen, wie die Prostituierten, die übrigens auch während der Märkte und Messen auftauchten. Sie wurden schnell zu Zielscheiben schlimmster Vorurteile und Verdächtigungen. Der Grat zwischen Volksbelustigung und existenzieller Not war oft sehr schmal. Im 16. und 17. Jahrhundert wirkten sowohl Kriege als auch das aufblühende Städtewesen nachhaltig auf die Gesellschaft ein. Der Handel wurde sesshafter. Damit hielt das Belustigungselement verstärkt Einzug auf den Märkten und Messen. Die Schausteller traten in den Vordergrund. Neben den bereits genannten Darbietungen und Raubtieren wurden nun die ersten Abnormitäten, körperlich entstellte Menschen, zur Schau gestellt.5 Unter dem Einfluss der commedia dell’arte verzückten wandernde Puppenspieler ein breites Publikum. Damals entstand in Paris anlässlich der foire de Saint-Germain und der foire de Saint-Laurent auch das Genre des théâtre forain, des Jahrmarkttheaters, das sogar mit der Comédie française in Konflikt geriet. Auf den Jahrmärkten stellten Speis und Trank, kombiniert mit Musik und Tanz in jenen Tagen häufig einen potenziellen Unruhefaktor für die politischen und religiösen Obrigkeiten dar. Ausschweifungen waren gar an der Tagesordnung.6 Der Impakt der Handelsmessen ging im 18. Jahrhundert definitiv zurück. Der Rückgang des ancien régime und die Säkularisierung der europäischen Gesellschaft führten zu einer zum Teil gewaltsamen Umwälzung des sozialen Gewebes durch die Französische Revolution. Mit dem neuen Zeitgeist sowie den neuen Besitzverhältnissen fanden viele, einst exklusive aristokratische Vergnügungen in bürgerliche Sphären.
4 Im Dictionnaire de Cas de Conscience von 1724 lesen wir, S. 227–230: „Le batelage est une profession méprisable & indigne d’un honnête homme et surtout d’un homme chrétien ; (…)“ 5 Wallonne, Musée de la Vie (éd.) : Foires et Forains en Wallonie – Magie foraine d’autrefois, Pierre Mardaga, Liège, 1989, S. 11–47 6 Sommer-Hasenstein (éd.): op.cit., S. 60–67
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In Städten wie Paris erblickten so die ersten Lustgärten, die jardins-spectacles, mit zahlreichen Unterhaltungsangeboten – vom ausgelassenen Ball, prächtigen Feuerwerken, animierten Vorführungen technischer Neuerungen bis hin zu den ersten Luftschaukeln – das Licht der Welt. Bald nannte man sie die tivolis, nach dem Beispiel des 1795 gegründeten gleichnamigen Vorreiters. Es sollten die Vorfahren der späteren Freizeitparks werden. 1798/99 zählte die französische Hauptstadt bereits sechs bis sieben solcher Orte. Zur gleichen Zeit schien der Mensch bereit, endlich die eigenen Grenzen und Fertigkeiten zu überschreiten und seinen größten Traum zu verwirklichen: den Traum vom Fliegen. Seit 1783 ermöglichte die Montgolfière dem ersten mutigen Aeronauten, einen künstlich erzeugten Perspektivwechsel im Heißluftballon zu erleben. Ikarus ließ grüßen! Diese Art von Spektakel zog die Menschen in die tivolis.7 Noch konnten diese sich jedoch gegenüber den immer beliebter werdenden Jahrmärkten nicht durchsetzen. Die Idee, Kuriositäten auszustellen, wanderte von den exquisiten Salons des Adels und des gehobenen Bürgertums auf die Jahrmärkte. Wachsfiguren waren ebenfalls sehr beliebt. Mit ihnen verbunden auch das Streben, bedeutende oder erschütternde Ereignisse, d. h. Realität nachzustellen und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Es war auch die Zeit der Lichteffekte und Illusionen, der im vorigen Jahrhundert erfundenen laterna magica, welche im besonderen Maße in der Phantasmagorie zum Einsatz kam.8 Parallel zu diesen Entwicklungen schritt die Mechanisierung des Lebens munter fort. Mechanische Musikinstrumente wie etwa die Drehorgel tauchten auf.9 Zwischen 1733 und 1741 schuf der Grenobler Mechaniker und Uhrmacher Jacques de Vaucanson seine ersten Automaten, darunter zwei musizierende Androiden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte sich die allgemeine Maschinisierung des Lebens in Gang. Sollten die Visionen eines gewissen Da Vinci nun wahr werden? Schließlich revolutionierte die Industrialisierung die Welt. Das Alltagsleben mechanisierte sich nach und nach. Freizeit nahm Gestalt an.10 Alles um die Menschen herum wurde schneller. Diese Steigerung des Lebensrhythmus schwappte auch auf das Jahrmarktswesen über. Die bestehenden Jahrmärkte wandelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Erlebnisorten. So entstanden die ersten reinen Volksfeste. 7 8
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Langlois, Gilles-Antoine: Folies, tivolis et attractions – les premiers parcs de loisirs parisiens, Délégation de l’action artistique de la Ville de Paris, Paris 1991 Wellner, Hermann: Menagerie, Karussell und Kinematograph – Öffentliche Festkultur im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert am Beispiel des Gillamoosmarktes in der Stadt Abensberg, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2013, S. 64–68 Jüttemann, Herbert: Waldkircher Dreh- und Jahrmarktsorgeln – Geschichte, Aufbau und Fertigungsprogramme, Kaufmann Verlag, Waldkirch 1991 Ad „Freizeitentwicklung“ bis ins 20. Jahrhundert siehe Opaschowski, Horst W.: Einführung in die Freizeitwissenschaft, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, S. 28–36
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Nach den Schützenfesten zeugte eine Reihe von Neugründungen, wie das Münchner Oktoberfest (1810), der Cannstatter Wasen (1818) oder die fête à Neu-Neu in Neuilly (1815), vom Bedürfnis der Menschen nach Unterhaltung. Interessanterweise wurden die Linzer Urfahraner Märkte 1818, in einer Frühlings- und einer Herbstausgabe, aus rein wirtschaftlichen Erwägungen gegründet. Dennoch konnten die Gemeindeverantwortlichen Urfahrs auch hier nicht verhindern, dass sich die Märkte zu Vergnügungsorten entwickelten.11 Der Begriff der Freizeit bekam eine neue Dimension. Künftig sollte es das Angebot kulinarischer, spielerischer oder sensorieller Erfahrungen sein, welche die Menschen auf die Volksfeste zog. Man sprach nun von Attraktionen. Die Mobilität wuchs. Die Menschen rückten zusammen. Dampfmaschine und Eisenbahn veränderten auch die Schaustellerei nachhaltig. Die ehemaligen Gaukler beglückten ihr Publikum nach wie vor mit ihren Darbietungen. Allerdings passten sie sich der Neugierde der Menschen in einer sich beschleunigenden Welt an. Die Vorstellung, Bewegungen automatisch zu reproduzieren, dabei mit einer mechanisierten Animation eine Geschichte zu erzählen, gelangte durch die mechanischen Theater (théâtres mécaniques) auf die Festplätze. Den menschlichen Körper darstellen, den Menschen darstellen, seine Geschichte, seine Geschichten, die Realität so gut wie möglich nachempfinden: Dies inspirierte sowohl die Wachsfigurenkabinette (Panoptika) als auch – besonders nach 1880 – die neuartigen Panoramas, Dioramas, Stereoramas, Georamas, Uranoramas und Cosmoramas (Planetarium). Wir befanden uns an der Schwelle gewaltiger technologischer Umwälzungen: Photographie, Phonographie, Kinematographie und Telegraphie. Ohne die Elektrizität zu vergessen! Immer schneller, immer weiter und immer höher, so steigerte sich die Gesellschaft in allen Bereichen. Es kam zur Ausbreitung einer besonderen Form der Kultur, welche sich immer stärker nach der Masse orientierte und aus welcher im kommenden Jahrhundert die Populärkultur erwuchs. Natürlich veränderte sich auch die Welt der Lustbarkeiten. Der Zuschauer suchte die Illusion. So lockten ab den 1830er-Jahren Stroboskopen, Zoetropen, Stereoskopen, ab 1861 Mutoskopen und ab 1891 Kinetoskopen die Abenteuerlustigen an. Der Geist der Weltausstellungen trug wesentlich zum Strukturieren der Freizeit bei.12 Die Welt stellte sich aus. Und jedes Mal wurde dies zu einem großen Fest. Man griff auf Maschinen zurück, die keine 11
Altrichter, Maria: Der Wandel des Urfahraner Marktes seit seiner Entstehung, in: Linz, NORDICO Stadtmuseum (Hrsg.): Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten, Verlag Anton Pustet, 2017, S. 57–68 12 „Die Welt als Erlebnisraum“ in: Hollweg, Brenda: Ausgestellte Welt – Formationsprozesse kultureller Identität in den Texten zur Chicago World’s Columbian Exposition (1893), Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2000, S. 126–184
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Gegenstände produzierten, sondern Bewegung. Mensch-Maschine. Ein ganz besonderes Zusammenspiel.13 So die trottoirs volants, Vorläufer der Förderbänder, oder das maréorama, ein gigantischer Simulator, oder das mit seinen 100 Metern damals höchste Stahlriesenrad der Welt, das Grande Roue de Paris auf der Pariser Weltausstellung 1900.14 Apparaturen, welche manche geschwind, andere etwas später auch die Volksfeste beeinflussen sollten. Hier brachten sie reine Unterhaltung. Die Schausteller blieben am Puls der Zeit und verschlossen sich diesen Neuerungen nicht. Die ersten reisenden Karussells tauchten verstärkt in den 1830er und 1840er Jahren auf den Kirmesplätzen auf.15 Der zur Zeit älteste Hinweis auf „Bauformen von sogenannten Volksbelustigungen“16 reicht bis in das Jahr 1620 auf einem türkischen Fest im heutigen Bulgarien zurück. Stationäre Anlagen gab es bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts in den Kurparks und Lustgärten größerer Städte, wie z. B. das 1779 errichtete Karussell in HanauWilhelmsbad, das heute älteste erhaltene feststehende Karussell der Welt.17 Anfang des 19. Jahrhunderts baute so mancher Schankwirt eine solche Belustigungsmaschine bei seinem Lokal auf. Dies war besonders am hiesigen Kirmes- oder Jahrmarktstermin ein wahrer Eyecatcher und Publikumsmagnet. Auf der Passauer Maidult ist 1830 die Präsenz eines der ersten ambulanten Karussells überhaupt überliefert: der „Pferdeprater mit Ringelstechen“ von Schumacher Englbert Zirnkittl, auch später von den Einheimischen liebevoll „Pemperlprater“ genannt.18 Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen die Karussells und Schaukeln, welche ursprünglich eher aus dem Vergnügungskatalog der gehobenen Gesellschaft stammten, wuchtigere und prächtigere Formen an. Die Nachfrage nach diesen Maschinen wuchs. So spezialisierten sich Werkstätten in England, Belgien, Frankreich und Deutsch13 „Jahrmärkte und Vergnügungsparks“ in: Poser, Stefan: Glücksmaschinen und Maschinenglück – Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels, transcript, Bielefeld 2016, S. 153–245 14 „Bilanz eines Jahrhunderts: Paris 1900“ in: Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen, Campus Verlag, Frankfurt/Main, New York 1999, S. 140–154; Mabire, Jean-Christophe: L’Exposition Universelle de 1900, L’Harmattan, Paris 2000, S. 81–90 und 137–145 Faber, Michael H.: „Von jedem Caroussel pro vierzig Quadratfuss zwei Silbergroschen“ – Die Ent15 wicklung der Schaustellungen auf rheinischen Landkirmessen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Weimarer Republik, in: Faber, Michael H.; Harzheim, Gabriele; Jopp, Heinke; Mesenhöller, Peter; Thomas-Ziegler, Sabine: Kirmestreiben – Ein Rhein-Landfest, Rheinland-Verlag Gmbh, Köln 1990, S. 87–132 Ramus, Margit: Entstehung der Bauformen, in: Digitales Archiv der Schaustellerei, www.kultur16 gut-volksfest.de 17 www.karussell-wilhelmsbad.de 18 Wimmer, Constanze; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Der Pemperlprater – ältestes Karussell der Welt mit Ringelstechen, SüdOst Verlag Gmbh, Waldkirchen 2004
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land auf die Herstellung von Karussells, deren Besatzungen, Wohnwagen und anderen Schaustellerfahrzeugen. Die ersten Dampfkarussells kamen übrigens aus England. Es entstand eine regelrechte Industrie. Aus den Werkstätten wurden bald Fabriken. Die Dekoration der Geschäfte trug wesentlich zu ihrer Attraktivität bei. Hier werkelten talentierte Holzschnitzer und Maler und gestalteten aus Holz, Glas, Spiegeln, Messing, Kupfer und künstlichem Licht wahre „Mikrokosmen“19 einer ganz eigenen Kunst. Das art forain, die Kunst der Schausteller, entfaltete sich in drei Schulen: einer englischen – Merkmal: der Überfluss (Savage, Spooner, Anderson), einer deutschen – Merkmal: das Fabelhafte (Heyn, Müller, Schneider, Schulze, Poeppig, Hübner, Hitzig, Thümmel, Lengle, Bothmann, Mack, Gundelwein), einer belgisch-französischen – Merkmal: die Genügsamkeit (Alexandre Devos, Moulinas, van Guyse; Bayol, Coquereau et Maréchal, Henri De Vos, Barasse, Limonaire, Chanvin). 20 Es sei erwähnt, dass sich mit Dentzel, Herschell-Spillmann und Parker ein besonderer amerikanischer Stil bildete, der nach dem Ort der ersten Vergnügungsparks Coney-IslandSchule benannt wurde.21 Alle hatten etwas gemeinsam: Sie trugen das Sublime in sich. Vom Jugendstil beeinflusst, sich an die mächtigen Pavillons der Weltausstellungen anlehnend, erhaben beleuchtet, hinter reich verzierten Holzfassaden, in der Mitte eines opulent eingerichteten Zeltbaus präsentierten sich die Prachtkarussells, die sogenannten carrousels-salons, als Meisterstücke des art forain. Diese „weltlichen Kathedralen“ waren reisende Veranstaltungsorte mit integrierter Bar und Tanzfläche.22 Der magic mirror, auch noch Spiegeltent genannt, reihte sich in die gleiche Gattung ein. Hierzu gesellten sich nebst Live-Orchestermusik auch die wuchtigen Melodien der Jahrmarktsorgeln. Gefeiert wurde mit Champagner, Tanz und Konfetti! Ein Hauch von music hall (1852), wie das Eldorado (1858), das Ba-Ta-Clan (1865), das Gaîté Rochechouart (1867), das Folies Bergères (1869), das Moulin Rouge (1889) oder das Olympia (1893), herrschte in verkleinerter Form und nur temporär auf den damaligen Festplätzen. Noch blieben die Fahrgeschäfte den Erwachsenen vorenthalten. 19 20
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Gourarier, Zeev: Manèges d’autrefois, Flammarion, Paris 1991, S. 181–199 Saint Cyr, Cornette de (éd.) : Chefs d’œuvre de l’art forain – la fabuleuse collection de Fabienne et François Marchal, Paris 2011, S. 6–12; Marchal, Fabienne et François : L’art forain – les animaux de manège, Les éditions de l’Amateur, Paris 2002; Arts, Connaissance des Art Forain, numéro spécial, Société française de promotion artistique, Paris 1995 ; Stadler, Andrea : Karussell-Künstler und Künstler-Karussells – Eine kleine Karussellgeschichte. Eine Frage des Blickwinkels, in: Szabo, Sacha (Hrsg.): Kultur des Vergnügens – Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte – Facetten nicht-alltäglicher Orte, transcript Verlag, Bielefeld 2009, S. 159–186 Gourarier, Zeev: op.cit., S. 141–165 Favand, Jean-Paul: Trois regards sur le Carrousel Salon Demeyer, in: Grodwohl, Marc: La fantastique épopée des carrousels-salons – quand le bonheur ne tenait qu’à … un tour de cochons, Editions Ecoparc et Oberlin 1991, S. 11; Gourarier, Zeev: op.cit., S. 167–178
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Mit dem Auftauchen der Russischen Rutschen, den Pariser montagnes russes (ab 1804),23 den switchback-Bahnen, wie den Pariser promenades aériennes (ab 1817) und nach 1870 den ersten roller coasters, gewaltigen Holzachterbahnen, gelang es, das einzigartige Gefühl der Höhe, des Schwindels und der Geschwindigkeit zu kombinieren.24 Zunächst gab es nur stationäre Anlagen in Großstädten, wie z. B. Paris, und um die Jahrhundertwende auch mobile Anlagen.25 Vom Geist der damals neuartigen Eisenbahn-Technologie getragen, führte die dynamische Reise in einem schlittenähnlichen Wagen auf einem Schienenstrang eigentlich nirgendwohin, es sei denn zum Ausgangspunkt. Aber nun war es möglich, sich selbst, seinen Körper herauszufordern und bis an die eigenen Grenzen zu treiben, in der Gewissheit wohlbehalten wieder zum ursprünglichen Bahnhof zurückzugelangen.26 Die Architektur der ersten Weltausstellungen – der legendäre Londoner Crystal Palace – wirkte sich direkt und nachhaltig auf die Schaustellerei aus:27 durch ihren temporären Charakter einerseits, ihre Fähigkeit, das Nützliche mit der von einer Dekoration generierten Ästhetik zu kombinieren, andrerseits. Rundbauten, Hallenbauten, Skelettbauten oder Pavillonbauten wurden zu den Grundlagen für die Konstruktion der künftigen Schaustellergeschäfte. Es war die Geburtsstunde der sogenannten fliegenden Bauten. Das Prinzip integrierter Fahrzeuge mit zusammenklappbaren Deko-Elementen gelangte aus England herkommend auf das Festland.28 Mobilität und Dynamik erfassten ab sofort sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. So auch bei den Schaustellern.
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Langlois, Gilles-Antoine: op.cit.; Poser, Stefan: Glücksmaschinen und Maschinenglück – Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels, transcript, Bielefeld 2016, S. 162–210 Throgmorton, Todd H. and Samantha K.: Roller Coasters – United States and Canada, Mc Farland, Jefferson, 2015, S. 1–21; Poser, Stefan: Heiraten auf der Achterbahn! Jahrmarktsvergnügen aus sozial- und technikhistorischer Perspektive, in: Poser, Stefan; Zachmann, Karin (Hrsg.): Homo faber ludens – Geschichten zu Wechselbeziehungen von Technik und Spiel, Peter Lang, Frankfurt/ Main 2003, S. 113–133 Dehring, Florian: Volksbelustigungen – Eine bilderreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom achtzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart, Greno Verlag, Nördlingen 1986, S.119–127; Langlois, Gilles-Antoine: op.cit., S. 173–186; Gourarier, Zeev: Il était une fois la fête foraine de 1850 à 1950, exposition au Parc et Grande Halle de la Vilette 18 septembre 1995 au 14 janvier 1996, Editions de la Réunion des musées nationaux, Paris 1995, S. 116–118 Szabo, Sacha: Airtime – Die Geschichte der Achterbahn aus der Sicht der Wissenschaft, amazon, 2014 Ramus, Margit: Kulturgut Volksfest – Architektur und Dekoration im Schaustellergewerbe, JP Bachem Verlag, 2013, S. 44–75 Weedon, Geoff: L’industrie foraine anglaise, in: Arts, Connaissance des Art Forain, op.cit., S. 35–41
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Neueinsteiger, meist gewiefte Tüftler, fanden nun den Weg in die Welt der Schaustellerei. Viele bauten ihre Buden oder Belustigungsmaschinen selbst. Es war die Geburtsstunde der industriels forains. Einige von ihnen, wie der Maschinenbauer Hugo Haase, wurden zu Pionieren einer neuen Branche: des modernen Karussellbaus und der Freizeitindustrie.29 Zunächst bei der Firma Hövermann & Jürgens angestellt, welche in den 1880ern den ersten Auftrag eines in Deutschland hergestellten Dampfkarussells bekam, heiratete Haase in eine Schaustellerfamilie ein und baute 1888 sein eigenes Karussell. Er wurde in den kommenden Jahrzehnten zum „Karussellkönig“. Auf- und Abbau der Geschäfte wurden kompakter. Die Ausweitung des Eisenbahnnetzes ermöglichte den Eigentümern größerer Anlagen ein geschwindes Umsetzen von Platz zu Platz zwischen den Städten. Die Schausteller organisierten sich nun bald in Berufsgenossenschaften, den Schaustellervereinen und -verbänden. Logistik und Mut zur Innovation wurden zur eigentlichen Herausforderung des sich bildenden Schaustellergewerbes. Der Schausteller selbst entwickelte sich zum Generalisten, der vieles beherrschen musste, vom Handwerker zum Elektriker, vom Unternehmer zum Entertainer, seinem eigentlichen core business. Da er mit seinem Material lebte und sich samt seinem mobilen Wohnsitz, seinem Wohnwagen – auch noch Verdine genannt – fortbewegte, entwickelte er eine ganz eigene Identität – die einer transnationalen ambulanten Gemeinschaft im Herzen einer sesshaften Gesellschaft, welche bis ins 21. Jahrhundert mit Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber ihren reisenden Mitmenschen reagiert.30 Auch wenn es einstweilen noch Akrobaten gab, welche ihre Kunststücke, wie Drahtseilakte und andere Artistik, sogenannte jeux icariens, im Freien aufführten, jene direkten Nachfahren der saltimbanques , die sogenannten Komödianten, verlagerten bald ihre Darbietungen ins Innere von Schaubuden. Manche traten aber auch in festen Bauten am Rande der Jahrmärkte auf oder wechselten zu den neuartigen Wanderzirkussen über. Andere wiederum betrieben nun Karussells und diverse Kirmesgeschäfte. Aufgrund ihrer Ursprünge blieben die Komödianten wohl auch eine „soziale Sondergruppe“ innerhalb der Schaustellerei.31 Die Jahrmärkte der Belle Époque waren auch Spiegel der sozialen Realitäten in einer Gesellschaft, die sich in ständiger Bewegung und im Aufbruch befand.32 Zwischen 1863 und 29 30
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Ramus, Margit: op.cit., S. 87–88 Kayser, Steve: Die Schausteller. Menschen und Traditionen. in: Kayser, Steve (coord.): Schueberfouer nos cahiers numéro spécial, 2/3, Editions Saint-Paul, Luxembourg 2018, S. 139–177; Kayser, Steve: Das Bad Hersfelder Lullusfest, Volksfeste: Orte europäischen und universellen Kulturerbes, in: Rauche, Reinhard (Hrsg.): Ältestes Heimatfest Deutschlands 852/2012 – Lullusfest – 1160 Jahre, Bad Hersfeld 2012, S. 41–52 Faber, Michael H.: op.cit., S. 87–132 Ferenczi, Cécile; Py, Christiane: La fête foraine d’autrefois – les années 1900, La Manufacture, Lyon 1987.
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1913 nahm die Zahl, aber auch die Vielfalt der Belustigungsgeschäfte zu.33 Die Menschen mochten die Jahrmärkte. Sie kamen, um sich zu amüsieren, sich abzulenken, sich zu entspannen und auch um sich zu informieren und mit den neuesten Technologien in Kontakt zu kommen. Das Wechselspiel zwischen Wissenschaft und Phantasie, Natürlichem und Künstlichem34, zwischen Fortschritt und Spektakel – dieses Spannungsfeld war die eigentliche Attraktion, welche der Volksfestbesucher gierig aufsuchte. Da war was, etwas zwischen „Rausch und Vermittlung“.35 Der Festplatz der Belle Époque hatte bis zu einem gewissen Punkt eine volksbildende Dimension und übte einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Gesellschaft aus – es sei an dieser Stelle besonders auf die Kinematographen hingewiesen.36 Das Expo-Syndrom wirkte sich, wie bereits erwähnt, nachhaltig auf die Schaustellerei aus. Die Welt feierte ihren Fortschritt. Das Fest wurde zum Ausdruck gigantischer Schaustellungen der Nationen. Dabei gab es stets einen Bereich mit attractions, Belustigungsmaschinen, wie z. B. aufwendigen Fahrgeschäften. Die Chicago Fair von 1893 setzte neue Maßstäbe im Massenvergnügen.37 Walt Disneys Vater Elias wirkte übrigens bei der Gestaltung dieses Mega-Events mit. Zum Clou gehörten sowohl Edison’s kinetoscope, dem wohl ersten Filmbetrachter der Welt in der Electricity Hall,38 und am Rande des Ausstellungsgeländes die komplett von elektrischem Licht durchflutete, neueste Buffalo Bill’s Rodeo Show von Cody und Salisbury39. Die zentrale Allee, den sogenannten Midway, konzipierte man bewusst als abwechslungsreiche Unterhaltungs- und Amüsiermeile. Hier stand auch das erste Stahl-Riesendrad der Welt, das 80,40 Meter hohe Ferris Wheel.40 Es wurde namensgebend für diesen beson33
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Eine interessante Schilderung der Entwicklung zum Rummelplatz am Fallbeispiel Cannstatter Wasen: Wager, Wulf: Cannstatter Volksfest – Vom Landwirtschaftsfest zum Mega-Event, Belser, Stuttgart 2018, S. 54–75 Poser, Stefan: Heiraten Sie auf der Achterbahn!, op.cit., S. 113–133 Stoff, Julia; Sturm, Martin (Hrsg.): Höhenrausch – Kunst in die Stadt. Art into the City, OÖKulturquartier, Verlag für moderne Kunst, Linz 2016, S. 236–238 Garncarz, Joseph: Jahrmarktkino – Eine europäische Institution, in: Szabo, Sacha (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 123–144 Bolotin, Norman; Laing, Christine: The World’s Columbian exposition – The Chicago World’s Fair of 1893, University of Illinois Press, Champaign, 1992, 2002, S. 127–153; The Chicago World’s Fair of 1893 – a photographic record – Dover Publications, New York, 1980, S. 95–102 Philips, Deborah: Fairground attractions – A Genealogy of the Pleasure Ground, BloomsburyLondon-New York 2012, S. 19–26 Faucheux, Michel: Buffalo Bill, Gallimard 2017, S. 228–249 Auf das Chicagoer Rad folgten noch andere. Das Roue de Paris von 1900 war das derart grösste Projekt seiner Zeit. Das 1897 im Wiener Prater errichtete Riesenrad ist das einzige noch existierende Exemplar dieser Stahlgiganten aus der Belle Époque. in: Anderson, Norman: Ferris Wheels –
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deren, anfangs stationären und ein paar Jahrzehnte später auch reisenden Fahrgeschäftstypus. Man wollte Spektakel und Spaß erfahren. Der Reiz des ungewöhnlichen Perspektivwechsels und Fahrgefühls zog die Menschen in den Bann. Man wurde plötzlich selbst zum Aeronauten. Dieses immersive41 Empfinden übertrug sich auch auf die Jahrmärkte. Sogar die räumliche Auslegung der Weltausstellungen inspirierte wohl die künftige Festplatzgestaltung der Jahrmärkte. Die Illusion, spannende Abenteuer und Reisen, wie jene aus der Feder von Jules Verne42, erleben zu können, schien hier zum Greifen nah. Der Kinematograph und die Elektrizität trugen wesentlich zu diesem Ambiente bei. Das klassische Holzpferd musste schon bald modernen Fortbewegungsmitteln weichen, den Velozipeden, d. h. Fahrrädern ab 1869 und Automobilen ab 1905. In den Fahrgeschäften konnte die breite Masse sich mit diesen neuartigen Vehikeln vertraut machen. Flugkarusselle, sogenannte Flieger, boten ab 1907 den waghalsigen Passagieren das Gefühl des Fliegens in Luftschiffen, den Zeppelinen und Aeroplanen. Seit 1904 kannten Unterseeboot-Karussells grossen Zuspruch beim deutschen Publikum.43 Seit 1900 stellte übrigens der französische Konstrukteur Bayol auch spezifische Kinderkarussells her, die sogenannten caroussels-bijoux.44 Der Jugendstil, das Art nouveau beeinflusste, wie bereits erwähnt, das äußere Erscheinungsbild der Geschäfte:45 Zum Teil pompös wirkende, aber oftmals thematisierte Fassaden lockten das Publikum zum Eintritt in einen funktionell gestalteten, schlichten, meist mit Zeltplanen abgedeckten Innenraum, der sich der Natur der Darbietung anpasste. Im Außenbereich dieser Schaubuden, wie z. B. Museen, Theatern, Sportpalästen oder Kinematographen, bemühte sich der Schausteller mit einer möglichst spektakulären Parade, die Schaulustigen, im Französischen badauds genannt, an seinen Laden locken und „heranzuziehen“ und für die nächste Vorstellung zu gewinnen. Dies machte die Anziehungskraft, Attraktivität, eines Geschäftes aus. Geschicklichkeitsspiele wie Kraftmesser, Wurfbuden und Schießstände gesellten sich zu den Vergnügungen hinzu. Mit den Labyrinthen, Lach-
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An illustrated History, Bowling Green State University Popular Press, Bowling Green Ohio, 1992, S. 102–107 Lukas, Scott A.: The immersive worlds handbook – Designing theme parks and consumer spaces, Routledge, London and New York 2013; Lukas, Scott A.: A reader in themed and immersive spaces, Carnegie Mellon: ETC Press, Pittsburgh 2016 Es seien nur einige Werke hier hervorgehoben: Cinq semaines en ballon (1863), Voyage au centre de la Terre (1864), De la Terre à la Lune (1865), Vingt Mille Lieues sous les mers (1869), Autour de la Lune (1869), Le Tour du monde en quatre-vingt jours (1872), L’île mystérieuse (1874/5) Dehring, Florian: op.cit., S. 81–96 Gourarier, Zeev: Il était une fois la fête foraine de 1850 à 1950, op.cit. Dohet, Claude: Les spectacles à la Belle Époque – Un album de cartes postales illustrées – la rue, la foire, le cirque, SODIM, Bruxelles 1976
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kabinetts, aber auch den Toboggans (1906), den Cake-Walks (1909) und den Teufelsrädern (1910) kündigten sich die späteren Laufgeschäfte an.46 Der während der Belle Époque allgemein verbreitete Exotismus kam an vielen Orten der Vergnügungswelten zum Vorschein, so z. B. in den Tiermenagerien und den phantasievollen Tierbesatzungen auf den Karussells. Allerdings blieb er vom überheblichen Kolonialgeist und aggressiven Imperialismus der europäischen Großmächte geprägt. Auf den Jahrmärkten fand der neuartige Voyeurismus der Massen vor allem in den Völkerschauen, aber auch bei anderen Unterhaltungsdarbietungen in den Schaubuden seinen von Diskriminierungen und Rassismus gezeichneten Ausdruck.47 Bis 1914 entwickelte sich die Schaustellerei in großen Schritten weiter. Der Elan wurde durch den Ersten Weltkrieg jäh unterbrochen. Nach dem Konflikt kamen die Dinge nur langsam wieder ins Lot. Auf unseren Festplätzen änderte sich bis Mitte der 1920er zunächst nicht viel. Dann aber entwickelten sich die Schaustellergeschäfte weiter. Zwischen 1920 und 1940 kam es vor allem bei den Rundfahrgeschäften zu einer bemerkenswerten Evolution: Aus der Bergund Talbahn entsprossen Raupenbahn (1925), Libelle (1931), See-Sturm-Bahn (1936), Schlickerbahn (1938) und Walzerfahrt (1939). Die Raketenfahrt (1936) bot mit ihrem geneigten Podium ein intensives Geschwindigkeitserlebnis in einer völlig neuen Dimension. Neue Reize versprachen auch innovative Attraktionen, wie The Whip (1924), die Schrägflieger (1925, Vorfahren der Wellenflieger), der Zeppelin (1930, eines der ersten Hochfahrgeschäfte) und die Spinne (1938).48 Bei den Schaukeln innovierte man mit dem Looping the Loop (1933). Es war aber auch die Epoche der Wasserrutschen, der sogenannten water chutes, der Toboggans und der gewaltigen Holzachterbahnen. Hier seien die von Mack, im Auftrag von Siebold&Herhaus gebaute, erste transportable Szeneriebahn der Welt (1921)49 sowie wohl die für den gleichen Kunden ausgelieferte Turmbahn (1925)50 und die von Schausteller Heinrich entwickelte Teufelskutsche (1934), später Wilde Maus genannt, erwähnt. Ende 46 47
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Dehring, Florian: op.cit., S. 138–162 Bancel, Nicolas; Blanchard, Pascal; Boëtsch, Gilles; Deroo, Eric; Lemaire, Sandrine: MenschenZoos – Schaufenster der Unmenschlichkeit, deutsche Erstausgabe, Les éditions du Crieur Public, 2012; Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde – Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940, Campus Verlag, Frankfurt-New York 2005; Klunkert, Gabriele: Schaustellungen und Volksbelustigungen auf Leipziger Messen des 19. Jahrhunderts – Eine wirtschaftsund sozialgeschichtliche Untersuchung, Cuvillier Verlag, Göttingen 2010, S. 170–272 Köpp-Fredebeul, Susanne: Vom Karussellpferd zur Raketenbahn – Die Geschichte der deutschen Karussellindustrie in Thüringen, Ahlen 2019; Dehring, Florian: op.cit., S. 96–113 Ramus, Margit: op.cit., S. 96. Aktuell wird über Szeneriebahn und Turmbahn weiter recherchiert Thoma, Willi: Faszination Karussell- und Wagenbau – 200 Jahre Heinrich Mack Waldkirch, Waldkircher Verlagsgesellschaft, Waldkirch 1988, S. 242–246
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der zwanziger Jahre baute man gezielt Kindergeschäfte, wie z. B. das Kindersportkarussell aus dem Atelier Hennecke.51 Russenräder, bis zu 12 Meter hoch, wie jene der Firma Bruch,52 gehörten nach wie vor zum Repertoire, auch wenn sie inzwischen alle auf Elektromotor umgestellt hatten. Die Elektrifizierung der Geschäfte kam nun richtig in Gang. Es bedeutete das Ende der Dampfkarussells. Mit der Verbreitung sogenannter Selbstfahrer-Geschäfte Ende der 1920er begann ein neues Kapitel der Jahrmarktgeschichte. Der Triumph des Automobils war unbestritten. Die bereits seit 1921 in den USA, aber auch in Großbritannien beliebten Dodgems – ab 1939 als Auto-Skooter bezeichnet – gelangten 1926 auf das europäische Festland. Im deutschen Raum war es wohl Ingenieur und „Karussellkönig“ Hugo Haase53 und in Frankreich die Schausteller-Brüder Gaston und Francis Camors – daher auch die besonders in der Normandie geläufige Bezeichnung autos-camors –, welche hier Pionierarbeit leisteten. Etwa zeitgleich lief auch die Produktion dieser Geschäfte in Deutschland und Frankreich an. Firma Bothmann war schon seit 1923 mit dem neuen Fahrgeschäftstypus beschäftigt. Bei Bothmann hießen der Autoskooter ElektroSelbstfahrer. Es gab aber Patentstreitigkeiten mit den Amerikanern. Der Franzose Gaston Reverchon gründete seinerseits 1927 ein Werk zur Herstellung der auto-tamponneuses. In Italien baute Bacchiega ebenfalls Autoskooter. Abweichend boten Schausteller sogar elektrisch betriebene Motorboote (1929) an. Die Wasserbecken waren in die Skooter-Säulenhallen integriert. Daneben gewannen auch Benzinautos (1927) – die späteren go-karts – an Beliebtheit.54 Hier spezialisierte sich in den kommenden Jahren besonders die Firma Ihle aus Bruchsal als Hersteller von Benzinautos, Autoskooter- und später auch Geisterbahnund ganz allgemein Fahrgeschäft-Chaisen. In die gleiche Zeit schrieb sich auch die Erfindung der ersten Geisterbahnen ein. Die ersten mobilen dark rides, inspiriert von den Grottenbahnen55, wie im Wiener Prater, erzählten vom Hang des Menschen zum Spiritismus. Im Folgekapitel werden wir ausführlich auf die Historie dieser Kirmesattraktion eingehen. Während die Schaubuden, in Frankreich entresorts, in England und den USA sideshows 51 52 53 54 55
www.hennecke.de Stahlriesenräder mit über 20 Metern Höhe folgten erst in den 1960ern. Familie Bruch betreibt seit 1896 Riesenräder: www.riesenrad.info Dehring, Florian: op.cit., S. 127–131; Schmitz, Olaf: Mythos Autoscooter – Die Geschichte eines besonderen Fahrgeschäfts, Der Komet, Pirmasens 2018 Poser, Stefan: Glücksmaschinen und Maschinenglück, op.cit., S. 210–245 Nicht zu verwechseln mit den Tunnel- und Grottenbahnen (1896), Rundfahrgeschäften, in welchen zweisitzige Wagen auf einem kreisförmigen Schienenstrang nach dem Berg- und Talbahn-Modell in einem abgedunkelten Tunnel verschwinden. Lediglich das Prinzip der plötzlichen Verdunklung wurde bei den Geisterbahnen übernommen.
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genannt, nach wie vor mit Erfolg Illusionsshows, Abnormitäten, Kampfsportdarbietungen (z. B. die Boxbuden) oder Striptease anboten, verloren die anatomischen Museen, die Theater, die magic mirrors und die Prachtkarussells definitiv an Triebkraft. Das Kino war sesshaft geworden und hatte die Festplätze bereits verlassen. Hier sollte es erst Ende der 1970er und in den 1980er Jahren mit dem 180°-Bildschirm und den 3D-Effekten erneut auftauchen. Ende der 1990er setzte mit den Simulatoren, mit 4D- und sogar 6D-Kinos bis hin zum Einsatz von VR-Technologie (virtual reality) auf Fahrgeschäften eine neue Dimension des multisensoriellen Erlebnisses ein. Während der Zwischenkriegszeit hatte es die Schaustellerei nicht leicht, sich zu behaupten. Neue Medienwelten, ein neues Freizeitverhalten, getragen von einer urbanen Massenkultur, wirkten auf die Menschen ein. Sie suchten das mehrdimensionale Erlebnis. 56 In den 1920er Jahren boten so die Lustgärten, Lunaparks, oder Tivolis in den Großstädten Belustigungen an, welche direkt von den Schaustellergeschäften inspiriert waren. Im Laufe der Jahre entstanden hier Konzepte für eigens thematisierte künstliche Erlebniswelten. So ebnete sich der Weg für die späteren Freizeit- und Themenparks. 1952 läutete Walt Disney mit der Schaffung von Disneyland in den Vereinigten Staaten eine neue Ära in der Freizeitindustrie und im Freizeitverhalten der Menschen ein. Noch konnte sich die ambulante Festkultur auf den Rummelplätzen durchsetzen, schrieb sie sich doch meistens in den sozio-kulturellen Jahreszyklus der Städte und Dörfer ein. Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg erlebte sie eine neue Blütezeit. In Luxemburg feierte die Bevölkerung mit Begeisterung, wenn auch bescheiden, ihre erste Nachkriegs-Schueberfouer. Der Jahrmarkt bekam bis 1948 eine quasi nationale, patriotische Dimension.57 Mitte der fünfziger Jahre zog der Karussellbau erneut an. Die Fortschritte in der Pneumatik erlaubten neue Bewegungsabläufe. In den 1950ern und 1960ern griffen die Konstrukteure verstärkt auf Stahl für die tragenden Strukturen sowie den neuartigen Polyester, um Dekor und Aufmachung der Geschäfte zu gewährleisten, zurück. Holz schied als Baustoff aus. Damit taten sich völlig neue Horizonte für die Herstellung gewagter, immer wuchtigerer Belustigungsmaschinen auf. Der Konstrukteur Heinrich Mack aus Waldkirch ist ein Paradebeispiel dieser Entwicklung.58 Das von ihm 1958 konstruierte Rundfahrgeschäft Calypso wurde zu einem Kassenschlager und galt als „Wirtschaftswunderkarussell“.59 56
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Niedbalski, Johanna: Die ganze Welt des Vergnügens – Berliner Vergnügungsparks der 1880er bis 1930er Jahre, be.bra wissenschaft Verlag, Berlin 2018, S. 229–399; Szabo, Sacha: Lunaparks – Auf den Spuren einer vergessenen Vergnügungskultur, Büchner Verlag, 2017 Kayser, Steve: Die Nachkriegs-Schueberfouer – Rückkehr und Einkehr, in: ALEH (éd.): Du Luxembourg à l’Europe – Hommages à Gilbert Trausch à l’occasion de son 80e anniversaire, éditions saint-paul, Luxembourg 2011, S. 381–402 Thoma, Willi: op.cit., S. 247–267 Ramus, Margit: op.cit., S. 458–463
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Besonders in den 1980er und 1990er Jahren, aber auch danach bis über die Jahrtausendwende hinaus, trieben die nun generierten Sinneserlebnisse ins Extreme: Motorik, Hightech, Geschwindigkeit, Höhe ... – die Anlagen wuchsen. Das Aufkommen der transportablen Kräne ermöglichte einen rapiden Auf- und Abbau imposanter Fahrgeschäfte. Dabei verlagerte man die Transporte von der Schiene auf die flexiblere Straße. So wurde so mancher Schausteller vom Generalisten und Entertainer zum Unternehmer und Manager eines mittelständischen Familienbetriebs, stets auf Achse, auf Reisen, im dichten und zur Jahrtausendwende übersättigten Straßennetz Europas. Heute muss der Schausteller erneut beweisen, dass er flexibel ist und sich auch hinsichtlich des Klimawandels energiesparenden und ökologisch nachhaltigen Technologien öffnen kann. Eine kulturelle Leistung: vom Karussell und der Raupenbahn, den „Ikonen der Jahrmarktskultur“60, bis hin zum Freifallturm und dem Riesenkettenflieger, stets angetrieben von der gleichen Philosophie – wie einst seine Vorfahren –, seinem Publikum spektakuläre Spiele zu bieten, um aus dem Alltag ausbrechen zu können. 60
Meiners, Uwe: Pferdekarussell und Raupenbahn – Historische Ikonen der Jahrmarktskultur, in: Meiners, Uwe; Ziessow, Karl-Heinz (Hrsg.): Zur Schau gestellt – Ritual und Spektakel im ländlichen Raum, Arbeit und Leben auf dem Lande, Bd. 8, Museumsdorf Cloppenburg, 2003, S. 325–349
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2. Geisterbahn – das Spiel mit der Angst
Beim Festplatzbesuch vereinnahmt uns das Sinnliche auf Schritt und Tritt. Meistens gibt es ein Eingangsportal. Der Besucher durchschreitet es und betritt symbolisch einen Bereich, in welchem er sich selbst überwinden kann. Es ist laut, es ist bunt, es riecht nach Bratwurst, gebrannten Mandeln und so manch anderer Köstlichkeit. Rationalität schwindet in mehr oder weniger kontrolliertem Ausmaß. Sie weicht vor allem dem genüsslichen Wohlwollen.61 Beim Rundgang werden sämtliche Sinne angesprochen. Verschwendung, Kräftemessen, Nervenkitzel, aber auch Gelassenheit nehmen überhand. Es sind in dieser Optik die gleichen Umstände wie beim Karneval. Kontrolliertes Andersrum: der uralte Trieb des Menschen nach Alterität. Hier kann er diese erfahren und erleben, ohne dabei seine Komfortzone unwiederbringlich zu verlassen. Dies ist es, was uns auf dem Volksfest erwartet: Beschleunigung und Entschleunigung, ob kinetisch oder emotional, wirken fast pausenlos auf uns ein.62 Darüber hinaus ist scheinbar alles um uns herum in Bewegung. Genau solch ein Spiel verspricht uns die Geisterbahn. In einem ersten Schritt werden wir diesen Fahrgeschäftstypus in seiner historischen Perspektive definieren. In einem gerne zitierten Münchner Zeitungsartikel vom 18. September 1933 beschrieb der Autor die Geisterbahnfahrt mit folgenden Worten: „Durch eine knallende Doppeltür bricht der kleine Wagen mit uns. Wird im Wirbel gefasst und saust in tiefe Finsternis hinein. Da, ein Gerippe leuchtet auf, langt mit hagerer Hand zu uns her. Weiter wirbelt der Wagen. Aus einem schwarzen Sarg tritt eine weiße Totengestalt. Eine grauslige [sic] Teufelsfratze grinst uns an. Ein Mann am Galgen lässt seine Glieder schlenkern. Ein nasser Lappen fährt aus der Dunkelheit heraus an unserer Nase vorbei. Eine Laterne blinkt auf. Ein anderer Wagen saust auf uns zu (Gottlob nur eine Spiegelung!) ... Abermals knallt eine Doppeltür. Und der helle Schein der tausend Lichter nimmt uns wieder auf.“ 63
Geisterbahnen sind mobile oder stationäre Vergnügungsmaschinen auf Jahrmärkten oder in Freizeitparks. Sie gehören zu der Kategorie der Themenfahrgeschäfte.64 Der Historiker und Jahrmarktexperte Florian Dering definiert diese als „geschlossene Anlagen, durch die die Fahrgäste in meist zweisitzigen Wagen auf einem Schienenweg gefahren werden. Entlang 61 62 63 64
Szabo, Sacha: Rausch und Rummel, op.cit., S. 205–221 Szabo, Sacha: Chillrides, in: Szabo, Sacha: (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 275–287 Zitiert bei Dehring, Florian: op.cit., S. 133, und bei Thoma, Willi: op.cit., S. 256 Latozki, Ralph: Themenfahrt-Philosophie, in: Szabo, Sacha (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 199–208
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des Schienenverlaufs sind figürliche Szenen und Einzelobjekte aufgebaut, die dem Publikum beim Vorbeifahren mit Geräusch- und Beleuchtungseffekten präsentiert werden. Die Fassadengestaltung und die Innenausstattung dieser Geschäfte bezieht sich jeweils auf ein bestimmtes „Thema“, das sich meist schon im Namen ausdrückt, bei der Geisterbahn etwa ist es die phantastische Welt der Geistererscheinungen und verwandter Schreckensfiguren.“65 Hier werden Menschen bewegt, um sie zu amüsieren. Die Anlage besteht aus einem rechteckigen Körper, welcher von einem mehr oder weniger geneigten Pultdach geschlossen wird.66 Durch einen Wartebereich, der oftmals mit einem Flugdach überzogen wird, auf welchem bereits animierte Gruselszenerien plastisch dargestellt sind, gelangt man zum eigentlichen Bahnhofsbereich und zu den zwei- bis viersitzigen Chaisen, die über Schienen ins verborgene und verdunkelte Innere führen. Die Schienen verlaufen sei es am Boden klassisch als Führungsschiene, sei es als geschlossenes Schienensystem oder aber als suspended ride. Der Innenraum ist von der Außenwelt durch meist zweiflügelige Klapptore abgetrennt. Die Dekoration besteht aus einer Vorhangfassade, welche mehr oder weniger opulent ausfallen kann.67 Das Fahrvergnügen kann auf mehreren Stockwerken stattfinden. Manchmal geleitet der Streckenverlauf die Chaisen zeitweilig wieder ins Freie, um dann erneut in den Korpus einzudringen. Die Beschallung erfolgt durch eine moderne Lautsprecheranlage. Die Beleuchtung ist meist klassisch mit Kappbirnen gehalten. Ein überdimensionierter Leuchtschriftzug an oder über der Fassade verkündet den Namen des Geschäftes, an dessen Seitenflügeln oder eben als integrierter Bestandteil der Fassade heute verstärkt interaktive Puppen, sogenannte animatronics, oder gar LED-Bildschirme das Publikum anlocken.68 Bei der Fahrt geht es darum, auf einer begrenzten Bodenfläche durch starke Kurvenführung eine möglichst lange Wegstrecke zu ermöglichen und dabei durch das Prinzip des Überwältigens, durch abrupte Richtungswechsel ausgelöst, den Blick der Passagiere auf gewisse eigens gestaltete Szenerien des Grauens zu fokussieren. Durch einen Elektrokontakt an der Schiene werden diverse Leucht-, Ton- oder Bewegungseffekte ausgelöst. Historisch gesehen entstanden die Geisterbahnen aus diversen Ausrichtungen des Vergnügens der letzten Jahrhunderte.69 Da wären die Panoramen des 16. Jahrhunderts, die 65 66 67 68
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Dehring, Florian: op.cit., S. 132–135 Ramus, Margit: op.cit., S. 48–51 Ramus, Margit: op.cit., S. 280–298 Einen informativen und bilderreichen Einblick in die Welt der Geisterbahnen, z. B. auch über Details, wie die einzelnen Chaisen-Typen: Freundeskreis Kirmes und Freizeitparks (Hrsg.): Geisterbahnen, Düsseldorf 2016 Szabo, Sacha: Rausch und Rummel, op.cit., S. 205–221
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Automaten der Neuzeit, wie jene des Jacques Vaucanson, die Wachsfiguren der Madame Tussaud70 im 17. Jahrhundert, die Darbietungen der Schausteller und Gaukler im 18. und 19. Jahrhundert, mit ihren Geistervorführungen in den Schaubuden, den Kuriositätenkabinetten, den Moritatengesängen, den Völkerschauen und Abnormitäten, ohne den Kinematographen zu vergessen. Wir sind hier im Bereich der menschlichen Neugierde, der Schaulust, des Voyeurismus. Mit der Industrialisierung änderte sich die Gesellschaft grundlegend. Auch die Vergnügungen demokratisierten sich. Es war die Geburtsstunde der modernen Freizeit. Insgesamt erlebten die Menschen eine Epoche der Dynamik. Die Fortbewegungsmittel, sprich die Eisenbahn – in Korrelation mit der Dampfmaschine –, versprachen, sich immer schneller und weiter fortbewegen zu können. Damit entstand ein völlig neues Zeit- und Raumempfinden. Exotik war „in“. Man begann zu reisen, wenn auch nur in der Phantasie, auf dem Jahrmarkt, wo nun verstärkt Fahrgeschäfte Menschen in Bewegung setzten, allerdings nicht um sie von A nach B zu bringen, sondern um sie aus dem Alltag abheben zu lassen. Anno 1900 war die Geisterbahn noch nicht geboren. Obwohl! – Ihre Vorläufer waren unter den stationären Anlagen in den Lustgärten Ende des 19, Jahrhunderts zu suchen. Die erste elektrisch betriebene Grottenbahn Europas von Hugo Pilz, „Zum Walfisch“, wurde 1898 im Wiener Prater eröffnet. Mit einem elektrisch von einem Drachenkopf angezogenen Zug ging es durch eine phantasievoll gestaltete Bergwerkswelt, in der mechanische Kunst und mechanische Orgelmusik zu einem Erlebnis der für damalige Verhältnisse besonderen Art einluden. 1899 kam die Grottenbahn „Zum Lindwurm“ von Karl Pretscher hinzu.71 Da wären zum einen das Thema (Eisenbahn- / Fern-) Reise und zum andern das Thema Grotte (Bergwerk). Eine tricky Fahrt ins Unbekannte, Unheimliche, in die sich öffnende Welt, vielleicht aber auch in das romantisch Verklärte. Tricky, weil man sich damals schon neuester Technik bediente, um den Passagier in die Illusion erlebter Wirklichkeit zu entführen. Die künstlich erzeugte Hintergrundmusik – wohl der erste soundtrack des ersten dark rides72 der Geschichte – schuf ohne Zweifel ein besonderes Ambiente. In diesem Sinne führt die konzeptuelle Herkunftslinie sicherlich auch zu der 1875 auf Schloss Linderhof in Betrieb genommenen Venusgrotte73 König Ludwigs II mit ihren verblüffenden mechanischen und optischen Spezialeffekten, Vorläufer der special effects des 70 71
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BBC-Dokumentation: „Madame Tussaud: a legend in wax“, https://youtu.be/_ocG5ioKEXs Dehring, Florian: op.cit., S. 132–135; Kaldy-Karo, Robert; Marschall, Clemens: Der Wiener Prater – Eine Kultur-und Sittengeschichte, Klever Verlag, Wien 2017, S. 185–187; Storch, Ursula (Hrsg.): In den Prater! Wiener Vergnügungen seit 1766, Residenz Verlag, Wien 2016, S. 37–42 Younger, David: Theme Park Design & the art of themed entertainment, Inklingwood Press, 2016, S. 401–402 Kulturpfad Ludwig II – Ein Projekt des Staffelsee Gymnasiums Murnau, www.ludwig.cmswp.de
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damals anbrechenden Kinozeitalters. In einem Muschelkahn konnte der technikbegeisterte Monarch den künstlichen unterirdischen „Königssee“ durchqueren. Die verdunkelte Bootsfahrt, die rivière enchantée im 1909 eröffneten Lunapark an der Porte Maillot in Paris, kann man in diesem Bezug durchaus als artverwandt bezeichnen.74 Von den Grottenbahnen bis zu den ersten mobilen Anlagen sollten noch mehr als zwei Jahrzehnte vergehen. Die Literatur des gothic Genre – siehe Mary Shelleys „Frankenstein“ (1818) –, an welches das fantastic Genre anknüpfte, und der neugeborene Film, besonders der Stummfilm, spielten ganz offensichtlich eine eminente Rolle in der Entstehungsgeschichte der Geisterbahnen.75 Zwischen 1890 und 1930 entstanden die wesentlichen Vorgaben für die Geister-Thematik: das Spukhaus oder -schloss, seine unheimlichen Bewohner, verrückte Wissenschaftler, Vampire, Monster, Untote, Geheimgänge und grausige Kellergewölbe. Da waren: Bram Stokers Gruselroman Dracula (1897), die ersten Gruselfilme Le Manoir du Diable (1896), La Caverne Maudite und Le Cabinet de Méphistophélès (1897) von Georges Méliès, die ersten Horror-Schocker, wie Nosferatu (1922), der Geisterzug (1927) oder Frankenstein (1931). Walt Disneys Zeichentrick-Kurzfilm The Skeleton Dance (1929) aus der Serie der Silly Symphonies inspirierte grundlegend die künftige Geisterbahn-Dekoration. Chronologisch gesehen situieren wir uns quasi exakt zwischen den Grottenbahnen und den ersten Geisterbahnen.76 Inwiefern der Erste Weltkrieg mit seinem unbeschreiblichen Grauen und der Omnipräsenz des Todes dies beeinflusste, bleibt momentan noch offen. Der 1923 von Arnold Ridley veröffentlichte und 1931 zum ersten Mal verfilmte Theater-Komödien-Thriller The Ghost Train dürfte bei der Namensgebung des künftigen Fahrgeschäftstypus Pate gestanden haben. Die 1925 gebaute Elektro-Höllenbahn vom deutschen Schausteller Hitzig galt als Prototyp. Hier wurde in einer kreisförmigen Schienenführung (Doppelschiene) eine sich beschleunigende Fahrt durch eine Felsentür zwischen aufleuchtenden Lampen und Schreckgestalten entlang eines, mit furchterregendem Sirenengeheul untermalten Höllenkessels bis hin zur Ausgangstür angeboten.77 Die erste regelrechte Geisterbahn auf europäischem Boden, im Sinne der „ambulatorischen Vergnügungen“78, war wohl die oft zitierte, von Carl Böhm auf dem Hamburger Dom 1931 präsentierte Geisterbahn. Vergebens versuchte der Schausteller seine Erfindung 74 75 76 77 78
Langlois, Gilles-Antoine: op.cit., S. 60–61 Philips, Deborah: op.cit., S. 101–123 Toth, Alfred Dr.: Eine kurze Geschichte der Geisterbahnen, www.wiener-prater-geisterbahn.ch Dehring, Florian: op.cit., S. 132–135 Maase, Kaspar: Die Menge als Attraktion ihrer selbst. Notizen zu ambulatorischen Vergnügungen, in: Szabo, Sacha: (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 13–27
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urheberrechtlich zu schützen. Ein Jahr später zählte man bereits vier solcher Anlagen auf dem Münchner Oktoberfest, unter der Regie der Schausteller Haase, Eckert, Kretschmar und Ruprecht. 1934 dann zwei weitere, eine unter Stössner & Heraus in Kooperation mit Riefers & Siebold, welche sich die Original Geisterbahn hatten patentieren lassen; die zweite war die Phantom-Geisterbahn unter Stahlmann.79 Über die in diesen frühen Anlagen verbaute Technik ist jedoch wenig bekannt. Auch in den USA tüftelte man an dark rides. Die Unternehmer Leon Cassidy und Marvin Rempfer bauten 1927 zunächst eine stationäre Anlage in einem Freizeitpark. Im Februar 1929 patentierten sie dann eine Erfindung, welche bald in die ganze Welt exportiert werden sollte: die amusement railway.80 Amtlich hieß es: „In an amusement railway, a floor, a track extending along the same, the upper side of said track being spaced above said floor, and a car over the track and provided with a passenger seat, said car embodying rear wheels supported by said floor in laterally spaced relation with said track, and a front wheel guided by said track and swivelled on a vertical pivot, said floor being substantially free of encumbrances which would prevent lashing of the rear portion of the car transversely of the track, said rear wheels being adapted to abut said track to limit such lashing of the car.“81 Nach derzeitiger Wissenslage kann man davon ausgehen, dass das Grundprinzip der reisenden Geisterbahn hier geboren wurde. Boden, Schiene, Chaise sind die wichtigsten Elemente. Das Innovative lag in der Tatsache, dass eine dreirädrige Passagierchaise mit Elektromotor mittels eines mobilen Vorderrads über eine stromführende Einzelschiene (monorail) durch einen möglichst kompakten und kurvenreichen, verdunkelten Parcours mit geringer Fläche geführt wurde und dabei mechanisch Kontakte auslöste, welche diverse Gruselszenerien in Bewegung setzten. Da die schwungvolle Rundfahrt bretzelartig verlief, nannte man die neue Attraktion auch noch Pretzel-Ride. Die Bretzel wurde sogar zum Emblem an den künftigen Chaisen. Anfangs griffen die Erfinder übrigens auf einen 79 80
81
Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 1, in: Kirmes&Park Revue 9/99, S. 34–38 https://books.google.lu: Leach, Sarah Amy; Sebold, Kimberly R., Historic Themes and Resources within the New Jersey Coastal Heritage Trail: Southern New Jersey and the Delaware Bay: Cape May, Cumberland and Salem Counties, US Department of the Interior, National Park Service, Historic American Buildings Survey/Historic American Engineering Record, Washington DC 1966, S. 161–164; Office, United States Government Printing Office: Index of Patents issued from the United States Patent Office, Washington 1932, S. 714; https://laffinthedark.com; https://patents.google.com: USRE1844E Amusement Railway 26. Juli 1932; www.academia.edu: Baker, Greame Stanley: Archaeology of a Dark Ride – A prehistory of „Transformers: The ride 3D“, Graeme S. Baker, January 2013, S. 19–22; www.collectorsweekly.com: Hix, Lisa: Jeepers Creepers! Why dark rides scare the pants off us, October 2013 https://books.google.lu: Official Gazette of the United States Patent Office, Vol. 420, Washington, 1932, S. 846
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umgebauten Autoskooterwagen zurück. Der Erfolg war enorm. Seit Anfang der dreißiger Jahre konstruierten Cassidy und Rempfer unter dem Namen Pretzel Amusement Ride Company mobile Geisterzüge. In England konnte man bereits 1930 eine solche Bahn fahren. Alsbald bot ein englischer Konstrukteur seinen Kunden den neuen Fahrgeschäftstyp an. Von England her dürfte die neue Technik dann auf das europäische Festland gelangt sein.82 Anfangs waren die Puppen sehr einfach gestaltet und erinnerten an die ersten Automaten, die automatons.83 Der Fahrgeschäftstypus hatte kaum Zeit sich zu etablieren, da brach der Zweite Weltkrieg los. Dokumente und Zeugnisse über diese Zeit sind in Bezug auf unser Interessensgebiet sehr spärlich. Den eigentlichen Entwicklungsschub erfuhren die Geisterbahnen erst Ende der 1940er Jahre. Die Historie der Gestaltungsmöglichkeiten reichte bis zur 5-stöckigen Bahn. Holzfassaden und Holzgerippe wurden im Laufe der Jahre durch Leichtmetallplatten und Stahlgerüste ersetzt. 1958 griff man in der Fassadengestaltung erstmals auf plastische Figuren mit Bewegungsmechanismen zurück. Die leuchtenden Schriftzüge setzten sich in den 1960er Jahren durch. In den 1970ern erreichte man schließlich neue Dimensionen durch experimentierfreudige Schausteller wie Renoldi (Kingdom of Magic, 1978), Fellerhoff (Mammut Höhle, 1971; Gozillas Monster,1982) und Lehmann (Geisterschlange, 1980).84 Die Thematisierungen kreisten meist um die Geister, Kobolde oder andere Unterweltbewohner. Monster aus der Filmwelt gesellten sich dann dazu. Burg, Schloss, Grotte oder Urwald waren beliebte inszenierte Schauplätze des Jahrmarkt-Grusels. Piraten-Grotte (Zocher, vor 1960) und Geister-Rikscha (Löffelhardt, 1970) galten als Exoten. Science-Fiction, wie in Flug zum Mars (Löffelhardt, 1956) oder Düsenspirale (Löffelhardt, 1957), oder Orientabenteuer, wie Orient Express (Doreff, um 1958) oder Fliegender Teppich (Löffelhardt, 1958), setzten sich nicht durch. Oft wurden diese nach kurzer Zeit erneut auf Gespenster-Storys zurückgebaut.85 Ein höchst interessantes Objekt unserer Forschung ist die 1934 unter Heinrich Stahlmann an den Start gegangene Geisterbahn. Die Bausubstanz, inklusive der Holzfront, stammte von einem 1903 gebauten Geister-Panoptikum, welches in den dreißiger Jahren in eine Geisterbahn umgewandelt wurde. Seit 1968 befindet sich das Fahrgeschäft in der 82
83 84 85
www.sheffield.ac.uk: Orton&Spooner Collection; Auslieferungen nach Frankreich sind in der Literatur ebenfalls erwähnt. Über die Verbindung zur deutschen Schaustellerei ist bis dato quellentechnisch nichts Stichhaltiges veröffentlicht worden Dehring, Florian: op.cit., S. 132–135 Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 1, in: op.cit., S. 34–38 Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 1, op.cit.; Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 2, in: Kirmes&Park Revue 10/99, S. 38–42
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Hand der Schaustellerfamilie Eckl, die es noch immer erfolgreich betreibt.86 Von der interaktiven Schaubude zum dark ride: eine spannende Reise! An dieser Stelle ist es interessant, einen kurzen Abstecher zu den Laufgeschäften zu unternehmen. Sogenannte haunted houses gab es eigentlich seit der Jahrhundertwende. Ein gutes Beispiel war auch das Verwunschene Schloss von Schausteller Richter (um 1910). Die Geister- und Spukthematik, angehaucht von den spiritistisch geprägten, sogenannten wissenschaftlichen Schaustellungen mit Geistererscheinungen, ähnlich der Ghost Show von Parker87 (um 1904), wurde hier aufgegriffen und mit dem Prinzip der Belustigungsanlagen, etwa der seit den 1890ern gängigen Labyrinthen oder der sich Anfang des 20. Jahrhunderts ausbreitenden cake walks, kombiniert.88 Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre bauten Mack und anschließend Dietz eine Reihe solcher Laufgeschäfte, welche mit dem Unheimlichen und Schreckelementen operierten, ohne allerdings Geisterbahnen im eigentlichen Sinne zu sein. Da wären z. B. Fluch des Pharao (Finnendahl, 1979, umgestaltet in Das Omen unter Pluschies/Hempen, 1986) oder auch noch Nosferatu (Schütze, 1981, dem späteren Nightmare). Die damaligen Horror- und Katastrophenfilme inspirierten ganz offensichtlich die Branche.89 Interessant war auch das Integrieren eines Irrgartens. Da denken wir doch gleich an Stephen Kings Shining (1980), in welchem es nur so von Labyrinthen wimmelte. Eine besonders markante Anlage bleibt in diesem Sinne das Laufgeschäft Psycho, 1984 von Dietz für Schausteller Manfred Pluschies gebaut. Die Aufmachung ist kolossal. Ein Südstaatenhaus das Augen besitzt, davor ein sprechender Baum … Der Baum der Weisheit? Eine beeindruckende Fassade mit vielen special effects. Damals warb man mit dem Aufhänger: „Die erste Katastrophensimulationsanlage der Welt. Alles, was Sie hier sehen, erleben Sie live.“ Besser konnte man wohl kaum zum Spiel mit der Illusion einladen, einem abstürzenden Fahrstuhl, einem Erdbeben oder einem kollabierenden Bergwerksstollen zu entkommen. Etwa zeitgleich mit den Horror -Freakshows zog 2013 Dr. Lehmanns Horror-Lazarett auf die Jahrmärkte. Dieses Geschäft, das in Eigenregie gebaut wurde, steht aktuell im Freizeitpark Geiselwind. Das voyeuristische gore-Erlebnis, dem der Besucher von Raum zu Raum entgegengeht und das ihm dann, wie beim escape room, schnell wieder zu entrinnen versucht, rückte hier in den Vordergrund. Und doch: Es fehlte die für die Geisterbahn typische, rasante und mechanische Beförderung durch das inszenierte Grauen. In vielen 86 87 88 89
Freundeskreis Kirmes und Freizeitparks (Hrsg.): op.cit., S. 46 Weedon, Geoff; Ward, Richard: Fairground Art – The art forms of travelling fairs, carousels and carnival midways, New Cavendish Books, London 1981, S. 124 Dehring, Florian: op.cit., S. 138–141 Ramus, Margit : op.cit., S. 574–578 und S. 620–624
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Bahnen zogen in den beiden letzten Jahrzehnten übrigens verstärkt lebende Akteure ein, Live-Erschrecker! Im zweiten Schritt unserer Analyse konzentrieren wir uns auf die architektonische Entwicklung der Geisterbahnen. Auch hier gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Fahrgeschäftstypus und der Architekturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die dark rides lehnten sich an die Hallenbauten der industriellen Revolution an.90 Vom Geist der großen Weltausstellungen getragen, entstanden damals funktionale Gebäude aus vorgefertigten Bauelementen, welche beliebig wieder abgebaut werden konnten, um an einem anderen Standort wieder aufmontiert zu werden. Der Londoner Crystal Palace von 1851 stand hier, wie bereits erwähnt, Modell. Seit Ende des 19. Jahrhunderts tauchten dann die Vorhangfassaden auf. Der „rechteckige Baukörper mit Pultdach und Vorhangfassade“91 wurde schließlich bei der Konstruktion von Schaubuden, Laufgeschäften und Geisterbahnen übernommen. Im Gegensatz zur stationären Architektur wurde die Geschoßeinteilung bei Geisterbahnen bereits in den Vorhangfassaden sichtbar. So entstanden um 1950 die Stockwerkbahnen. Die erste ihrer Gattung stand wahrscheinlich auf dem Wiener Prater und gelangte 1952/1953 in den Besitz der Schaustellerfamilie Löffelhardt. In den 1950er und 1960er Jahren integrierten die Fahrgeschäftskonstrukteure Flugdächer und Bogenöffnungen, wie bei Kinos, Theatern und Geschäftshäusern, in den Frontbereich der Geisterbahnen. Mit dem Aufkommen des neuen Werkstoffes Polyester Ende der 1950er kam es zu einer Revolution in der Karussellindustrie, insbesondere bei den Geisterbahnen. In der Fassadengestaltung und Ausstattung setzten sowohl Betreiber als auch Maler völlig neue Maßstäbe.92 Schaustellermaler Josef Wallner zierte 1958 Rudi Doms Geisterbahn zum ersten Mal mit beweglichen Figuren. Schaustellermaler Günter Stritzel fertigte dazu – neben dem Fahrzeugbauer Wilhelm Peter – die ersten Polyester-Chaisen. Aber auch die Firma Mack griff nun verstärkt auf den neuen, leicht zu handhabenden Werkstoff zurück. So entstanden Meisterleistungen, wie etwa die opulenten mehrstöckigen Bahnen der Firmen Renoldi und Fellerhoff.93 Hier sei Lehmanns Geisterschlange, 1979 von Heinrich Mack gebaut, mit ihrer 36-Meter-Front und dem überdimensionierten Totenschädel hervorgehoben. Sie gilt 90 91 92
93
Ramus, Margit: op.cit., S. 48–51 und S. 280–298 Ramus, Margit: op.cit., S. 48–51 Ramus, Margit: op.cit., S. 280–298; siehe ibidem auch zu den Malern: Josef Wallner, S. 130–133; Herbert Sommer, S.134; Heinz und Heinz-Werner Opitz, S. 135–137; Fritz Laube, S. 138–146; Günter Stritzel und Sohn, S. 148; Maciej Bernhardt, S. 154–159; Jacques Courtois, S. 164–167 Dehring, Florian: op.cit., S. 206–210; Weedon, Geoff; Ward, Richard: Fairground Art, op.cit., S. 266–267 und S. 276–278; Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 1, op.cit.; Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 2, op.cit.
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bis heute als handwerkliche Meisterleistung. Von einem etwa 50 cm hohen Modell ausgehend wurde an einer Wand der Werkshalle in Waldkirch die Original-Fassade aufgebaut und nachher in transportable Teile geschnitten. Hier signierten die Malermeister und Kunsthandwerker, Heinz und Heinz-Werner Opitz, Vater und Sohn.94 Aber auch technische Innovationen hielten stets ihren Einzug in die Welt der Geister und Dämonen. Der Schausteller Rudolf Schütze (sen.) baute 1947 seine eigene Bahn Orbit – dann recht schnell in Geisterschlange umbenannt –, deren Fahrerlebnis mittels Kettenanzügen mehrere Berg- und Talfahrten, bei welchen die Wagen einfach ausrollten, schon etwas Besonderes war. 1955 präsentierte Schausteller Karl Judenhofer bei seiner Geisterfahrt die erste bewegliche Figur: einen Affen. 1958 entstand für die Firma Löffelhardt, Mitbegründer des Phantasialands (1967), der wohl erste suspended dark ride in den Ateliers der Firma Mack, Gründer des Europa-Parks (1975). Der sogenannte Fliegende Teppich bereiste in erstmals hängenden Gondeln die Orient-Thematik, welche bereits einige Jahre zuvor für den französischen Schausteller Doreff in seinem Orient-Express aufgegriffen worden war. Ein Prinzip, das Konstrukteur Anton Schwarzkopf zehn Jahre später für die Firma Schäfer mit der Bahn Geister bitten zur Kasse nochmals umsetzte.95 1970 bot Löffelhardt in seiner durchthematisierten Geister-Rikscha aus dem Hause Mack chinesisches Gruselerlebnis. 1972/73 bauten Franz Judenhofer und Alexander Kunz, zum Teil in Eigenregie, eine neue Stahlgeisterbahn. Die neue Geisterfahrt wartete mit den ersten programmgesteuerten beweglichen Figuren auf dem Podium auf. Die Chaisen hatten zudem Luftreifen und lösten bei der Durchfahrt von Lichtschranken die Gruseleffekte im Inneren aus. Der Schausteller Klaus Renoldi brachte Mitte der 1970er die Holographie, welche „den Besucher absolut dreidimensional gruseln lässt“ in das Gruselrepertoire der Geisterbahnen.96 1979 innovierte Klaus Renoldi mit seiner dreistöckigen Mack-Bahn Kingdom of Magic (aktuell: Daemonium, unter Blume) mit drehbaren Gondeln, die im Verbund über ein geschlossenes Schienensystem führten.971982 setzten Judenhofer-Kunz in ihrem Geister-Schloss zum ersten Mal Lasertechnologie um und zeigten 1987 mit McMurphy zum ersten Mal eine interaktive Figur vor dem Geschäft. In den 1990er und 2000er Jahren kamen verstärkt ausgefeiltere animatronics sowie auch Computereffekte im Bereich der 3D- oder gar 4D-Illusion bis hin zum perfekten Hologramm zum Einsatz. Es sind italienische Hersteller, wie Gosetto oder Effel Rides, und unlängst auch 94 95 96 97
Thoma, Willi: op.cit., S. 259–266 Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 1, op.cit.; Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 2, op.cit.; Ramus, Margit: op.cit., S. 280–298 Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 1, op.cit.; Jantkowski, Michael: Geisterbahnen/Teil 2, op.cit. Ramus, Margit: op.cit., S. 280–298 und S. 606–609
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tschechische, welche sich dem Segment mobiler Geisterbahnen in der Freizeitindustrie angenommen haben. Der jahrelange Marktleader Mack konzentrierte sich seit den achtziger Jahren auf sein wachsendes Europa-Park-Ressort sowie den Bau stationärer großer Vergnügungsanlagen und die weltweite Entwicklung neuer Technologien auch für andere Freizeitparks. In Frankreich reist zurzeit die Schaustellerfamilie Camors mit interessanten Anlagen. Milko Camors betreibt das selbst gebaute Kamak mit drehenden Gondeln und einer integrierten LED-Wand. Stéphane Camors präsentiert seit 2013 die mehrstöckige kompakte, aber besonders originell als verlassenes Kino aufgemachte Geisterbahn Thriller aus dem Hause Effel Rides: eine verblüffende Hommage an den legendären Musikclip von Michael Jackson.98 Familie Maury betreibt eine Reihe klassischer Mack-Bahnen, die ständig erneuert und dem Geschmack des Publikums angepasst werden. In den letzten zwei Jahrzehnten konnte man, wie bereits angedeutet, ein gesteigertes Aufkommen von freakshows mit gore-Effekten beobachten. Dies gilt auch für das Innenleben der Geisterbahnen, in welchen so manche Szenerie eher ins Blutbad mit sadistischen Praktiken abdriftet. Der Kettensägen-Mann, der plötzlich neben der Gondel auftaucht, ist eigentlich schon kalter Kaffee. Dagegen sind die Fassaden „braver“, als sie es einmal in den 1960er und 1970er Jahren waren, als Sex und Horror oft unverblümt dargestellt worden sind.99 Wir werden etwas weiter kurz auf diesen Punkt eingehen. Immersion und Interaktivität spielen jedenfalls eine betont größer werdende Rolle. Wir beobachten dies vor allem bei den stationären Anlagen in den Freizeitparks. Dies ist oft sehr aufwendig und für die Reise nur schwer und mit hohen Unkosten verbunden umsetzbar. Einige wagen es. Schausteller Oliver Jehn vollzog 2016/17, im Verbund mit dem Konstrukteur Dietz, den Umbau einer, ursprünglich 1953 von Gundelwein gebauten Geisterbahn in eine interaktive Erlebnisfahrt durch eine Laser-Schießhalle: das Laser Pix. In den kommenden Jahren wird der Einsatz von VR-Technologie auch für die Geisterbahnen interessant werden. Mack (Mack Media, Mack Solutions, Mack Next) spielt hier aktuell eine weltweit führende Rolle, wie es das jüngste mobile Achterbahn-Projekt Wilde Maus XXL von Schausteller Max Eberhard zeigt.100 Dabei wird verstärkt auf das storytelling, das eigentliche theming gesetzt werden. Die rezenteste Entwicklung im Geisterbahn-Bereich ist der 2017 in Eigenregie vollzogene Umbau einer ehemaligen Mack-Stockwerkgeisterbahn (Mammut-Höhle, 1971, Fellerhoff) in die imposante Abenteuerbahn Dr. Archibald von Patrick Greier.101 Bei dieser Fahrt kommt es einzig und allein auf die VR-Brille an. Real gesehen verläuft die Fahrt durch eine leere Halle! Schließlich verspricht auch Schausteller 98 99 100 101
Freundeskreis Kirmes und Freizeitparks (Hrsg.): op.cit., S. 101, S. 104 und S. 106 Weedon, Geoff; Ward, Richard: Fairground Art, op.cit., S. 268–280 www.wildemaus-xxl.de www.dr-archibald.de; www.macknext.com & www.yullbe.com (2020)
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Rico Rasch in seiner neuartigen, 2019 vorgestellten Geister Fabrik eine spannende interaktive Gespensterjagd mit Achterbahn-Feeling.102 Allerdings müssen wir feststellen, dass wir uns von der ursprünglichen Geisterbahn entfernen und das eigentlich Triebhafte103, das wohl eher regressiv einzustufende thrillseeking, das direkt auf unseren Körper einwirkt, hinter uns lassen. Man könnte es auch anders formulieren: Der Mensch erfährt während der Reise durch die Geisterhöhle Zustände, die ihn an ähnliche, als Bedrohung empfundene Situationen in seiner Kindheit erinnern.104 Dies gehört vielleicht damit zu den sogenannten kleinen Dingen, oft abschätzend als niedere Dinge abgestempelt, welche uns das Leben erst richtig lebenswert machen. Dabei scheint sich die Freizeitindustrie in einer Spirale zu befinden, aus der ein Ausstieg unmöglich ist: Damit das Fest den Menschen noch ansprechen kann, muss es sich den rasanten technischen und soziokulturellen Entwicklungen anpassen und sein Angebot auf die immer intensiver werdende Sinnesreizung des Alltags ausrichten. Historiker Stefan Poser weist auf dieses Phänomen hin: „Hier spielen nicht mehr wir mit der Technik, sondern die Technik spielt mit uns.“105 Die Spielregeln riskieren sich zu ändern ... Geisterbahnfahren können wir auf Jahrmärkten, in Vergnügungs- und Themenparks. Aufgrund des Wesens des jeweiligen Spielortes gibt es reisende oder stationäre Anlagen. Manchmal kommt es aber auch vor, dass, wie z. B. 2015 und 2016 während der Halloween-Saison im Europa-Park Rust oder seit 2019 permanent im Skylinepark, mobile Fahrgeschäfte in die inszenierten Themenwelten der Freizeitparks integriert werden. Wir wollen uns bei unseren Überlegungen nach wie vor auf die Geisterbahn innerhalb des Erlebnisraumes Jahrmarkt konzentrieren. Foucault sieht die Jahrmärkte als „reale Orte, jenseits aller Orte“.106 Solche Orte sind Heterotopien. Sie erlauben es uns, zeitweilig aus dem Alltag auszubrechen. Sie faszinieren uns. Der Kulturwissenschaftler Kaspar Maase führt diesen Umstand auf zwei Dinge zurück: den technischen Fortschritt einerseits, die Lust nach Sinnlichkeit andererseits. Technik und Spiel.107 Blicken wir noch einmal zusammenfassend zurück: Anno 1900 war, wie bereits gesehen, die Zeit der Weltausstellungen. Viele bahnbrechende technische und technologische Er102 103
Bonhoff, Michael: Geister Fabrik, in: Kirmes- und Parkrevue, 07/2019, S. 6–11 Szabo, Sacha: Außeralltägliche Welten – Oktoberfest, Disneyland, Computerspiele. Sozioanalyse des Vergnügens, Büchner Verlag, Marburg 2018, S. 41–46 104 Szabo, Sacha: Rausch und Rummel, op.cit., S. 201–203 105 Poser, Stefan: Heiraten Sie auf der Achterbahn!, op.cit., S. 133; Poser, Stefan: Glücksmaschinen oder Mechanismen des gestörten Gleichgewichts?, op.cit., S. 101–121 106 Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin 2013, S. 10 107 Maase, Kaspar: Die Menge als Attraktion ihrer selbst. Notizen zu ambulatorischen Vergnügungen, in: Szabo, Sacha (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 13–27
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rungenschaften, allen voran die Elektrizität, wirkten von nun an auf die fliegenden Bauten ein. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Schaustellergeschäfte wie Bausätze aufgeklappt, zusammengesteckt und verschraubt. Man musste möglichst mobil sein, schnell auf- und abbauen, verpacken und weiterreisen können, denn die Jahrmärkte boomten. Gigantische Holzachterbahnen, aufwendige Wasserbahnen, schwere Dampfkarussells und mächtige Schaukeln sprossen hervor. Es war die Zeit der Träume von fernen Welten, exotischen Wesen, langen Reisen und vom Fliegen! Dieser Perspektivwechsel erlaubte es den Menschen, sich vom Irdischen loszulösen, wenn nicht physisch, dann zumindest in der Phantasie. Bewegung wurde zu einem zentralen Begriff beim Rummelplatzvergnügen. Die Kinematographen brachten bewegte Bilder in die Köpfe der Festplatzbesucher. Alles drehte sich im Grunde genommen um Bewegungsabläufe bei den Fahr-, Lauf- und Geschicklichkeitsgeschäften und sogar bei den kulinarischen Vergnügungen, wo Tanz und Musik nicht fehlen durften. Nicht zu vergessen sei aber auch die Tatsache, dass die Macher der Kirmes und die eigentlichen Träger des Kulturgutes, die Schausteller selbst, stets in Bewegung waren. Geschichtlich gesehen hat die Industrialisierung die Gesellschaft entscheidend gewandelt: Das Tempo des Alltagslebens wurde hochgeschraubt und der Freizeitbegriff trat ins Rampenlicht. Der Jahrmarkt wandelte sich nun zur Erlebnis- und Amüsiermeile, auf welcher der Besucher bereit ist, seine Sinne bezirzen und somit sich täuschen zu lassen. Der menschliche Körper steht nun im Mittelpunkt des Geschehens. Schwerkraftgesetze sollen mit kinetischer Energie geknetet werden, wie das Ebenbild des Betrachters im Zerrspiegel des Spiegelkabinetts. Es ist ein Spiel. Der Mensch willigt in das Spiel ein, das in einem eigens dafür abgegrenzten Raum, dem Festplatz, nach bestimmten Regeln, der sogenannten Marktordnung, abläuft, ohne allerdings einem strikten Plan zu folgen. Bei dieser Tätigkeit ist der Konsument eigentlich unproduktiv, da er sich nicht zuletzt einem transzendenten Erlebnis in einer abgewandelten Realität aussetzt.108 Genau hier entspringt auch der Reiz, eine erotische Stimmung, die dem Besucher, der in das Kirmesambiente abtaucht, Vergnügen bereitet. Es ist die Lust auf temporäre Orientierungslosigkeit! Dieses Erleben trägt rauschhafte Züge. Ich und Umwelt verschmelzen zeitweilig. Körpererfahrung und Sinneserfahrung gehen ineinander über. Von Wohlbehagen über Angst bis hin zum Wahrnehmungsverlust kann man die Attraktivität einer solchen Erfahrung aber nur an dem überlieferten Sinnesordnungssystem der Normalität messen. Man vermag so manchen Rummelrausch auch als volkstümliche, para-religiöse Jenseitserfahrung und als Jenseitserlebnis, bei welchen wir bis an die Grenzen unseres Wesens vorstoßen, einzustufen.109 108 109
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Der Mensch setzt sich diesem Spiel aus freiem Willen aus. Er folgt seinem Spieltrieb. Die Triebhaftigkeit gehört zum Wesen des bunten und lauten Kirmesplatzes. Sie stimuliert den Menschen, der hier ein Ganzheitserlebnis haben kann, welches ihm sogar ein Gefühl der Freiheit vorgaukelt. Hier kann er verschwenden, unvernünftig sein, unvernünftig handeln. Es ist eine kontrollierte Abkehr oder Umkehr vom Alltag. Aber eigentlich werden der Konsumgedanke und das Konsumverhalten in die Freizeit mitübernommen und weitergelebt, nur eben etwas anders. Interessant ist es zu erfassen, mit welchen Mitteln der Mensch aus seinem Alltag, seiner Komfortzone herausmanipuliert wird. So können wir je nach Sinnesreiz auch die Belustigungsanlagen eines Volksfestes in verschiedene Kategorien einteilen, die nichts mit der eher technischen Kategorisierung laut Dering – in Schaugeschäfte; Verkaufsgeschäfte; Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäfte110 – gemein haben: agon für Kampf- und Wettbewerbspiele; alea für Glücksspiele; mimicry für Rollen- und Verkleidungsspiele; illinx für Rauschspiele.111 Von der Huizinga-Cailloisischen Spieltheorie ausgehend reiht der Soziologe Sacha Szabo die Geisterbahnen in den Bereich der mimicry, d. h. der Schauspiele ein.112 Sich an das englische Wort anlehnend geht es hier um Nachahmung, aber auch um Angleichung. Die Artverwandtschaft mit den Schaubuden, in welchen mit der Neugierde und Schaulust des Publikums gespielt wurde, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber auch die Jahrmarktheater und -kinos gehören wohl zum gleichen Stammbaum. Denn hier geht es im erhöhten Sinne um Schauspiel und Rollenspiele. Geisterbahnfahren ist eine immersive Erfahrung, ein richtiges Erlebnis.113 Hier liegt auch das gewisse Etwas, das den Reiz dieses Unterfangens ausmacht: Der Reisende verschwindet für einige Augenblicke hinter einer Fassade und taucht in eine unheimliche, eine ungewohnte Geschichte ein. Er wird Teil dieser Inszenierung, welche sich darüber hinaus im Dunkeln abspielt. Das eigentlich Irreale wird zur augenblicklich gelebten Realität, welche die eigentliche Realität, sprich den Alltag um uns herum vergessen lässt. Doch alles beginnt schon beim Annähern an diese Belustigungsanlage.114 Eine suggestiv gestaltete Fassade mit furchterregenden Malereien, beweglichen Großfiguren, einem überdimensionierten Schriftzug, welcher den Namen des Geschäftes trägt und das Thema an110 111 112
113 114
Dehring, Florian: op.cit., S. 9–10 Szabo, Sacha: Rausch und Rummel, op.cit., S. 63–65 Huizinga, Johan: Das Spielelement der Kultur – Spieltheorien nach John Huizinga von Georges Bataille, Roger Caillois und Eric Vögelin, Mathes&Seitz, Berlin 2014; Szabo, Sacha: Rausch und Rummel, op.cit., S. 91–96 Lukas, Scott A.: The immersive worlds handbook, op.cit., S. 135–162 Szabo, Sacha: Außeralltägliche Welten, op.cit., S. 57–58
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kündigt, zieht uns fast schon magisch in ihren Bann. Aus der Lautsprecheranlage ertönen Geräusche, Schreie, bedrückende finstere Melodien. Dazu der Krach der Chaisen, welche die nächsten Wagemutigen in den Schlund der Finsternis befördern. Manchmal spricht eine Geisterpuppe auch direkt die Passanten an. Oder es taucht gar eine leibhaftige Schreckensgestalt in einem Türrahmen auf. Soll ich? Oder soll ich nicht? Das Spiel hat längst begonnen. Erster Akt: Das Spiel des Schaustellers, der wie einst mit einer Parade in sein Geschäft lockt. Mein eigenes Spiel wird darin bestehen, mich aus eigenem Willen zeitweilig in einen anderen Raum der Wahrnehmung zu begeben, wissend, dass ich zum Ausgangspunkt der bevorstehenden Reise schadensfrei zurückkehren werde. Zweiter Akt: Ich entscheide mich, mich der eigenen Prüfung zu stellen. Dies verlangt das Einhalten gewisser Rituale: an der Kasse einen Fahrchip115 einlösen; sich in den Wartebereich begeben und anstehen innerhalb der Gruppe von Probanden. Hier steigt dann auch schon die Spannung, da man den anderen bei der Abfahrt beobachten kann. Man vernimmt nun auch kreischende Laute aus dem Inneren der Höhle. Ist es eine Höhle? Was erwartet mich, uns? Dann folgt der dritte Akt: in der Gondel Platz nehmen, den Fahrchip abgeben, zum Aufpasser aufblicken, dessen Finger irgendwann auf den auslösenden Knopf drücken wird … oder ist es ein Pedal? Im Kopf schwirren beruhigende Gedanken um einen sicherlich guten Ausgang dieser Expedition. Mit dem Ruck und dem Knallen des meist doppelflügeligen Tors habe ich meine Rolle im Alltag hinter mir gelassen. Expedition. Etymologisch stammt dies aus dem Lateinischen: Ex-pedere, was so viel wie hinausschicken, entsenden heißt. In der Tat – ich entsende mich in eine Hyperrealität. Die Fahrt ist eher rasant, die Kurvenführung abrupt. Es kommt zum Orientierungsverlust, gesteuert vom Schausteller, dem Aufseher, dem Schamanen dieser eigenartigen Zeremonie.116 Plötzliche, grelle Lichteffekte, sich jäh aufbäumende Kreaturen, schrille Geräusche oder herumhängende Texturen zerreißen das Diesseitsbefinden der Reisenden. Eine Portion illinx, Rausch- und Ekstase-Erfahrung klingt auch in der Geisterbahn mit.117 Einige Passagiere klammern sich an den Sicherheitsbügel und würden am liebsten ein schützendes Dach über die Gondel ziehen. Das sind die Oknophilen, die Angstmeider. Andere wiederum, die Philobaten, stellen sich der Herausforderung völlig offen und schauen der Gefahr entgegen.118 Ja, es ist eine Höllenfahrt von Szenerie zu Szenerie, von Raum zu Raum. Eine „volkstümliche Jenseitserfahrung“, wie der Soziologe Sacha Szabo es passend zum Ausdruck 115 Szabo, Sacha: Fahrchips – Das Spielgeld der Kirmes, dvg, Grossrosseln 2006 116 Szabo, Sacha: Rausch und Rummel, op.cit., S. 144–146 117 Poser, Stefan: Glücksmaschinen und Maschinenglück, op.cit., S. 157–161 118 „Jahrmarkt und Nervenkitzel (Thrill)“: Balint, Michael: Angstlust und Regression (1959), KlettCotta, Stuttgart, 4. Auflage,1994, S. 17–22
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bringt.119 Eine Konfrontation mit der menschlichen Endlichkeit, nahe an der mythologischen Wirklichkeit: Zerberus (Schausteller), Obolus (der eingelöste Fahrchip), Barke (die Chaise) und Styx (der Schienenparcours) inklusive. Dann wäre da auch noch der Erschrecker. Man erinnere sich an die Werbefahne am Flugdach. Der Betreiber wirbt oftmals mit lebenden Geistern oder lebenden Akteuren. Oder auch nicht. Dann ist er trotzdem da, der Geist … Aber der Chaisen-Insasse ist in seiner ganzen Aufregung – oder sagen wir auch noch Erregung – auf das Unheimliche, die unheimliche Erscheinung oder den unheimlichen Handgriff und damit den Körperkontakt fixiert. Sämtliche Sinnessensoren sind nun höchst empfindlich und höchst empfänglich. Hieraus resultiert eine extreme Stresssituation, welche sich wie eine Batterie selbst auflädt. Da der Bestreiter des Parcours weiß, dass der Ablauf des Höllentrips kontrolliert, also geregelt ist, empfindet er diese Angst insgeheim als angenehm. So definiert sich schließlich die Angstlust. Dieser thrill ist die Grundvoraussetzung des gewollten Abtauchens in eine fiktive Wirklichkeit.120 Dann krachen erneut Türflügel. Das Tageslicht bereitet unserer Rolle in der nun hinter uns liegenden, zum Teil grotesken Inszenierung der Vanitas ein jähes Ende. Der Wagen bremst ab. Noch ganz von unseren emotionalen Höhenflügen gezeichnet, steigen wir aus. Die einen lachen, die anderen sind noch aufgewühlt. Ende gut, alles gut. Die Probe ist bestanden. Für den einen so, für den anderen so. Die Fahrt wird nun analysiert, das heißt, man transkribiert die Erfahrungswerte in einen sozio-kulturellen Diskurs. Der Alltag hat uns wieder.121 Während der Fahrt kommt es zu einer äußerst intensiven Aufwertung des eigenen Körpers. Deshalb saugt dieser auch ein Maximum an Eindrücken der unmittelbaren Umgebung – in diesem Falle der arrangierten Horrorwelt – auf. Diese wird als wahr empfunden und erlebt. Dabei verdrängt der Fahrgast sein eigentliches Umfeld, sprich das Eigentliche. Er ist in einer weiteren Heterotopie unterwegs. Auf dem Jahrmarkt erlebt er so drei Heterochronien:122 die Festzeit, d. h. den Jahrmarkt, die Fahrzeit auf der Geisterbahn und die Erlebnisgegenwart, in anderen Worten den totalen Moment, in welchem seine Körperlichkeit ihm höchstes Gefühl beschert oder, noch anders ausgedrückt, die Illusion, Akteur innerhalb eines richtigen Abenteuers zu sein! Eine Geisterbahnfahrt ist also eine Begegnung mit der Sinnlichkeit. Erotik liegt in der Luft. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass eine Reihe der Dekorationsmalereien an den Geisterbahnfassaden der späten 1960er und der 1970er Jahre durchaus im heutigen Verständnis 119 120 121 122
Szabo, Sacha: Rausch und Rummel, op.cit, S. 91–101 Szabo, Sacha: Außeralltägliche Welten, op.cit., S. 21 und S. 41–51; Klopp, Tina: Die Geisterbahn als Modell und Mode in der zeitgenössischen Kunst, Dissertation, Hamburg 2014, S. 67–125 Szabo, Sacha: Außeralltägliche Welten, op.cit., S. 58 Szabo, Sacha: Außeralltägliche Welten, op.cit., S. 59–62
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obszöne, sexuell freizügige Motive aufwies. Wir erwähnten dies bereits. Heute wäre dies nicht mehr denkbar. Und trotzdem! Das in der Bahn potenzierte Körpergefühl steigert zugleich die Suche nach Körperkontakt. Geisterbahnkonstrukteur Franz Mack sah das so: „Wenn die Geister kommen, kann der junge Mann zu seiner Gefährtin, die bei ihm Schutz sucht, rüberlangen.“123 Vielleicht ist es ja genau dies, was wir wieder in Zeiten einer digitalisierten, kontrollierten und übersicherten Gesellschaft suchen: die Lust an schlichter Körperlichkeit? Und weshalb nicht in der Geisterbahn!? Die Spieletheorie von Caillois trifft jeden Falls auf die Geisterbahnfahrt zu: Freiwilligkeit; Unproduktivität; räumliche und zeitliche Begrenzung; geregelter Ablauf; Erleben als fiktive Realität; offener Ablauf; offenes Ende. Darüber hinaus ist die Geisterbahn selbst eine Heterotopie innerhalb der Heterotopie Jahrmarkt. Dies alles Theoretische gehört für den Geisterbahn-Besitzer einfach dazu. Mit den Geisterbahnen bleiben namhafte Schaustellerfamilien in ganz Europa verbunden. In den kommenden Zeilen werfen wir einen kurzen Blick in das Leben eines der wohl markantesten deutschen Schausteller der Geisterbahn-Branche: Ronny Schütze.124 Ronny Schütze wird am 7. 4. 1965 auf dem Aachener Ostersend geboren. Das erste Geräusch, das er hörte, war eine Geisterstimme. Er entspringt einer Schaustellerfamilie, welche von sich behaupten kann, in der 6. Generation, seit den 1920er Jahren, Geisterbahnen zu betreiben. Mütterlicherseits – Bärbel Schütze, eine gebürtige Roemer, verstarb am 10. Mai 2016 – war der Großvater Puppenspieler, ein richtiger Komödiant also, der mit einer Schaubude reiste. Väterlicherseits – Rudolf Schütze verstarb am 6. Oktober 2019 – blickt man da vor allem auf die Geisterbahn, eine Raupenbahn und einen Kettenflieger zurück. Übrigens trägt bei Schützes seit jeher stets ein männlicher Stammhalter den Vornamen Rudolf. Es ist die älteste reisende „Geisterbahnfamilie“ Deutschlands. Familie Schütze betreibt aktuell drei Bahnen: eine Nostalgiebahn, Baujahr 1946 (ehemals Orbit, Geisterschlange, dann zuletzt Schloss Dracula getauft); eine neu gekaufte Bahn Schloss Dracula (später in Geister-Schloss umbenannt), Baujahr 1975 von Mack mit Opitz-Malerei; schließlich die Mack-Bahn Die Große Geisterbahn, Baujahr 1977, 2000 gebraucht erworben. Die Große Geisterbahn mit ihren 30-x-15-m-Grundmaßen und dem 185 m langen Schienenparcours, ist die größte Doppelstockbahn auf Reisen. Die Gespensterfiguren aus dem Hause Hofmann laden förmlich zum Geisterritt ein. Besonders stolz ist man hier auf das grüne Zottelmonster und die Geisterkutsche. Jede Figur trägt einen Namen. Bei Schützes geht es persönlich zu: Da wäre der nette Bastallion oder der böse Dr. Plupfl oder auch La123 124
Dehring, Florian: op.cit., S. 132 Die Informationen entnahmen wir einer Reihe von Interview-Gesprächen mit Ronny Schütze, August/September 2006, anlässlich der Luxemburger Schueberfouer.
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pron, der Geist, der ab 19 Uhr keine Gnade aufkommen lässt, wenn ein Passagier von einer Frau begleitet wird. Madame von Sausen erscheint ganz in Weiß und Madame Courtrö spukt auch munter mit. Den Fragart in seinem Sarg sollte man besser auch nicht stören. Das Fahrgeschäft ist arbeitsintensiv. Jeden Tag steht Wartung ins Haus. Dafür gibt es eine eigene, ins Geschäft integrierte Werkstatt. Der Chef ist omnipräsent. Nichts entgeht seinen gewieften Augen. Die vier Mann Personal sind permanent am Werkeln. „Der Chef ist für alles da. Er muss auch aufs Dach steigen können und den Jungs jeden Handgriff vormachen können. Er kuckt sich jeden Tag alles an, auch die Fahrzeuge und Rollen.“, so Ronny Schütze. Das obligate Wartungsbuch hat er selbst eingeführt. Jeder Arbeitsvorgang wird hier vermerkt und vom Chef unterschrieben. Da wartet man nicht auf den TÜV. Präzision und Disziplin sind wichtig. Die Sicherheit der Fahrgäste genießt absolute Priorität. „Ich bin stolz, Schausteller zu sein!“, sagt er, ohne mit der Wimper zu zucken. Ernst, sehr ernst. Seine Lebensphilosophie. Seine Familie liegt ihm am Herzen. Dabei zwingt er keines seiner Kinder in den Betrieb mit hinein. Die Chefin, Ehefrau Maryline, kümmert sich um die ganze Büroarbeit, hält die Kasse und führt den Haushalt. Auch sie kennt ihre Fahrgeschäfte. Die Töchter Maria und Emilie sowie Sohn Rudolf sind mit ihren Partnern und ihren Kindern selbst auf der Reise. Schützes halten jedes Jahr um die 20 Plätze – früher waren es 30! Von Dezember bis Ostern bedeutet dies, die Bahnen in Schuss zu halten. Da kümmert man sich auch um die Figuren. „Dies ist eine unkostenintensive Zeit. Ende Dezember bis Ostern, da brauchst du Geld! Da ist nichts!“, kommentiert der Chef. Allein mit dem Auto ist Ronny etwa 80.000 km pro Jahr unterwegs. Die Große Geisterbahn umfasst sieben Transporter und drei Zugmaschinen: in einem Transporter ist die Front miteingebaut, dann gibt es den Mannschaftswagen und den Mack-Wohnwagen, Baujahr 1978. Wohnwagen, Wohnwagenplatz, das braucht Ronny zum Leben. Hier ist er groß geworden. Das ist sein Leben. Schützes sind überzeugte und treue Kunden bei Mack Rides. Allein der Neubau einer Bahn und auch die Umbauten waren einzigartig. Eine solche Bahn ist nicht von der Stange. Der Schausteller lässt sie nach seinen Wünschen in enger Kooperation mit dem Konstrukteur entstehen. Der Kontakt zur Firma Mack, insbesondere zu Franz Mack (1921– 2010), war sehr eng. Mack verstand es, die Ideen der Schausteller umzusetzen. Jedes Teil, jedes Geschäft, jeder Wohnwagen war handgefertigt. Im Waldkircher Werk arbeiteten spezialisierte Handwerker an den einzelnen Komponenten. Kein Geschäft, kein Wagen ging vom Werkshof, ohne dass der Kunde zufrieden war. Und auch heute noch zeigt man sich bei Mack-Rides, trotz der enormen Expansion des Betriebes, hilfsbereit: „Mack ruft zurück!“, lautet der Zauberspruch. Der Schausteller investiert sein Vermögen in Reisen. Heutzutage würde der Bau einer Geisterbahn dieser Größenordnung weit mehr als 1,5 Millionen Euro verschlingen.
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Neben seiner Familie schätzt Ronny Geselligkeit. Er mag es zuzuhören. „Ohne Zuhören kannst du ja nichts lernen!“, so seine Einstellung. Ronny ist ein lebensfroher und humorvoller Mensch. Auf drei Dinge hat er Lust: 1. Volksfeste mit ihren vielen Besuchern; 2. Familienfreundliche Geisterbahnen mit Animation durch Rekommandieren, Puppenspiel und lebende Akteure; 3. Das Wohlbefinden seiner Geisterfiguren. Er ist sich vor allem aber auch seines Beitrages zur Populärkultur bewusst: „Mir liegt daran, lustig zu erschrecken, Spaß zu vermitteln, keine Gore-Effekte, aber netten Grusel mit auf den Weg zu geben.“ Unsere Volksfeste sind im wahrsten Sinne des Wortes außergewöhnliche Begegnungsorte in se und zugleich Orte der Begegnung mit dem Außergewöhnlichen. Sie erlauben es uns, während des Besuches aus unserem Alltagstrott auszubrechen. Diese Eigenschaft und Fähigkeit haben wir anhand des Beispiels der Geisterbahnen hervorheben können. Sacha Szabo bezeichnet dies auch noch als „dynamisches Wurmloch“.125 Nur allzu oft prägen diese besonderen Räume, welche physisch (Festplatz mit Eingangsportal) und zeitlich (Kalender und Öffnungszeiten) abgegrenzt sind, unser individuelles und kollektives Gedächtnis. Deswegen erlaubt es uns jeder Besuch, in ein Universum der Sinne einzutauchen, das uns nicht mehr loslässt: die Geräusche, optischen Reize, Berührungen, kalt oder warm, die Ängste, der Gleichgewichtssinn, ohne aber auch die Geschmacksreize zu vergessen. Dies alles ist da, um uns bei der Suche nach Spaß zu befriedigen. Jeder tut dies auf seine Weise. Diese Erfahrung ist, wie man es in der Wissenschaft zu sagen pflegt, immersiv, beruht aber alles in allem auf unserer Zustimmung. Dies und anderes mehr. Eigentlich viel mehr. Denn auf die Kirmes gehen bedeutet, zugleich auch auf Zeitreise zu gehen. Jeder von uns tut dies, meistens ohne sich dessen so richtig bewusst zu sein. Die lebendige Kultur der Jahrmärkte und der schaustellerischen Künste halten ihren ganz besonderen Platz sowohl im individuellen als auch im kollektiven Gedächtnis.126 Die Erinnerungen an Karussellfahrten, die stets klebende Zuckerwatte, der Geruch von Waffeln, gebrannten Mandeln, Bratwurst und Frittiertem, die Geräuschkulisse, das obligate Bild vom Fotoschießen, der Wilden Maus oder der Wildwasserbahn, ja vielleicht noch ganz andere persönliche Eindrücke, wie z. B. die erste heimliche Umarmung oder der erste Kuss, vielleicht sogar in der Geisterbahn, lassen wohl niemanden unberührt. Strahlende 125
Szabo, Sacha: Außeralltägliche Welten, op.cit., S. 62; Szabo, Sacha: Sozioanalyse des Alltags. Kulturelle Wurmlöcher & gesellschaftliche Seismographen. Trends und Traditionen aus Sicht der Cultural Studies, Tectum Verlag, Marburg 2015, S. 10 und S. 18–22 126 Dafft, Gabriele: Zwischen Gottesdienst und Geisterbahn. Pützchens Markt als Erinnerungsort und Erlebnisraum, in: Erdmann, Karl-Heinz und Faber, Michael H. (Hrsg.): Pützchens Markt 650 Jahre in Bonn am Rhein, Bouvier, Bonn 2017, S. 193–206
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Kinderaugen, jauchzendes Gelächter und lusterfüllte Schreie sind Ausdruck von Wohlgefühl und Lebensfreude auf dem Rummel.127 Ist eine Runde Karussell nicht einfach eine wunderbare Reise? Für Jung und Alt. Da steige ich auf ein Pferd und reite los. Einfach so. Unbezwungen. Abgehoben. Ich und mein Pferd sind unterwegs nach irgendwohin, in mein persönliches Abenteuerland, wie in dem Song von Pur, zwischen Phantasie und Verstand, Traum und Realität, Nostalgie und Zeitgeschehen. Ich bin in meinen Erinnerungen unterwegs und tauche in meine persönliche Genusswelt ein und ab! Hier stimmt einfach alles. Die Bewegung, die Musik, die Düfte. Ja, ich genieße die Fahrt. Ich schalte ab. In diesem Sinne ist eine historische Bodenmühle nichts anderes als eine Zeitmaschine. Sie entführt uns in andere Dimensionen, wie im 4D-Zeichentrickabenteuer um Maskottchen Ed Euromaus und das Zeit-Karussell im Europa-Park Rust.128 Auf vielen Festplätzen, z. B. dem Oldenburger Kramermarkt, kann der Besucher eine materialisierte Zeitreise erleben. Wie ein Fenster in längst vergangene Tage empfindet er den ganz besonderen Rundgang: Da sind historische Fotos von Festplätzen, Schaustellern und deren Geschäften. Häufig reagieren die Leute mit funkelnden Augen: „Damit bin ich schon gefahren!“; „Kannst du dich noch an das Karussell erinnern?“; „Kuck mal! Das ist doch der Bubi Ludewigt an seiner Raupenbahn!“ Da sind Besatzungs- oder Dekorteile und sogar komplette historische Fahrgeschäfte. Auch Konzertorgeln, Wohnwagen, Packwagen und Trecker fehlen nicht. Sie alle erzählen von einst, von den Schaustellern, von uns. So mancher wird wieder zum Kind. Ohne die Schausteller129 wären solche „Augen-Blicke“ nicht möglich. In den letzten Jahrzehnten engagierten sich viele von ihnen verstärkt für den Erhalt ihres überlieferten Kulturgutes. Das ist mit dem Mode-Wort Vintage nicht zu beschreiben. Schausteller haben ein sehr emotional geprägtes Geschichtsbewusstsein. Einige greifen sogar zur Feder und schreiben Bücher. So z. B. der französische Schausteller Marcel Campion. In seinem letzten Werk veröffentlichte er ein Manifest, in welchem er die junge Generation dazu aufrief, die Tradition der Schaustellerei weiterzuführen und sich für die Anerkennung des Gewerbes und der kulturellen Leistung der Schaustellerei einzusetzen.130
127 Eberstaller, Gerhard: Schön ist so ein Ringelspiel – Schausteller, Jahrmärkte und Volksfeste in Österreich – Geschichte und Gegenwart, Verlag Christian Brandstätter, Wien 2004, S. 32–41 128 MackMedia: Das Zeitkarussell – Le Carrousel du Temps, DVD, MackMedia, 2016 129 Cuneo, Anne; Dering, Florian; Messen-Jaschin, Youri; Sidler, Peter: Die Welt der Schausteller vom XVI. bis zum XX. Jahrhundert – Les monde des forains du XVIe au XXe siècle, Editions des Trois Continents, Lausanne 1986 130 Campion, Marcel: Fêtes et merveilles du monde forain, le cherche midi, Paris, 2016, S. 134
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Die Schausteller greifen auch immer häufiger auf außenstehende Fachleute (Historiker, Soziologen, Restauratoren …) und wissenschaftliche Einrichtungen, wie z. B. die Freilichtmuseen in Kommern oder in Cloppenburg, die Dauerausstellung Puppentheater und Schaustellerei des Münchner Stadtmuseums oder das National Fairground and Circus Archive der Universität Sheffield, zurück. Die Schaustellerin Margit Ramus promovierte in Kunstgeschichte und widmet ihre wissenschaftliche Arbeit der Aufarbeitung der Historie der Schaustellerei mit der Schaffung eines digitalen Archivs, Kulturgut Volksfest – wissenschaftliche Enzyklopädie – digitales historisches Archiv.131 Wunderbare Orte, wie Nostalgiejahrmärkte132, private Sammlungen der Schausteller und Schaustellermuseen133 entführen geschichtsinteressierte Menschen in längst vergangene Zeiten des Vergnügens. Pützchens Historischer Jahrmarkt, von der Bonner Schaustellerfamilie Markmann initiiert und betrieben, illustriert auf bemerkenswerte Weise die Verbundenheit der Schausteller mit ihrer Historie, mit der Historie der Menschen.134 Den Schausteller erfüllt dies mit Stolz, den Besucher mit Erstaunen. Sozialgeschichte und Kulturgeschichte, Industriegeschichte und Wirtschaftsgeschichte zum Anfassen, auf einer indoor-NostalgieKirmes! Eine regelrechte Einkehr zu unseren gesellschaftlichen Wurzeln: ad fontes. Mir geht es beim Volksfestbesuch nicht anders. Bei mir sitzen beim Kirmesrundgang der Kirmesgeck und der Historiker im selben sprichwörtlichen Boot. Während der eine sich einfach freut und genießt, hinterfragt der Wissenschaftler das Fahrgeschäft, auf dem er gerade unterwegs ist. Er macht sich Gedanken über den Aufbau, die Mechanik, die Aufmachung und die Verarbeitung. Jeder dieser Bereiche trägt die Merkmale seiner Zeit. Das ist genau das Prickelnde am Festplatzbesuch: Mein Augenmerk gilt den Dingen, welchen der Festplatzbesucher in der Regel keine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Eine Kirmes ist ein offenes Geschichtsbuch. Hier lese ich: die Revolution in der Kinetik Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre, gekoppelt mit der Verbreitung des Stahlbaus; die Revolution in der Dynamik durch das Disco-Ambiente der 1970er und damit verbunden, die Suche nach großer und bunter Beschleunigung in großzügig dekorierten Anlagen, für deren Auf- und Abbau verstärkt Mobilkräne zum Einsatz kamen; die Revolution in der Statik der spektakulären, wuchtigen Hochfahr- und Schienengeschäfte 131 132
www.kulturgut-volksfest.de Cloppenburg, Museumsdorf (Hrsg.): Kirmesbeilage – Vergnügen hat Geschichte, Warum eine Kirmes im Museumsdorf?, Cloppenburg 2015; siehe auch: Historische Gesellschaft Deutscher Schausteller, www.die-historischen.de; Rasch’s Jahrmarktsmuseum: Facebookseite Rasch’s Jahrmarktsmuseum @Jahrmarktsmuseum, 133 Das Rasteder Karussell- und Schaustellermuseum: www.historische-karussells.de; das Musée des Arts forains in Bercy (Paris): www.arts-forains.com; das Markt- und Schaustellermuseum Essen: www. schaustellermuseum.de 134 www.jahrmarktshalle.de
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in den 1980ern und 1990ern, mit ihrer aufwendigen Beleuchtung und Beschallung; die Revolution in der Logistik seit der Jahrtausendwende, durch kompaktes, kostensparendes Verladen und Betreiben der völlig technologisierten fliegenden Bauten, welche verstärkt nach extremem Fahrerlebnis streben. In unserem Jahrzehnt beobachten wir aber auch ein zunehmendes Interesse an sogenannten classic-rides, wie der Petersburger Schlittenfahrt, dem Calypso, dem Hully-Gully, der Bayern-Kurve , dem Super Railway, der Enterprise oder dem Ranger. Wenn möglich, in einer dem Original so nah wie möglich kommenden Aufmachung. Authentizität ist gefragt. Wenn man heute in Geisterbahnen unterwegs ist, wie dem Shocker (Eckl), Baujahr 1938. oder der Geisterstadt (Fellerhoff), Baujahr 1954, wird man sich der historischen Dimension dieses Vergnügens bewusst.135 In dem Sinn war auch die im Rahmen von Linz 2009 – Kulturhauptstadt Europas kreierte Ausstellung Höhenrausch – Kunst über den Dächern von Linz mit dem, auf einem zum Lunapark umgestalteten Parkdeck aufgebauten, nostalgischen Riesenrad der Familie Rieger, ein kulturelles Schlüsselereignis.136 Dem Geschichtsdetektiv fallen bei historischen Anlagen (Schiffsschaukel, Russenrad, Raupenbahn, Bodenmühle, Kettenkarussell, Geisterbahn, Schießbude, Mandelwagen) die edlen Baustoffe auf: Holz und Messing. Da sind auch die Malereien. Manche wirken üppig andere wiederum barockartig verschnörkelt, verspielt oder gar kitschig. Frivolität und Ironie prägen oftmals die Abbildungen. Schnitzereien zieren so manches Dekorationsteil. Dazu kommen Glas und Spiegel, welche im Zusammenspiel mit klassischen Lichtleisten das gewisse Etwas ausmachen. Sie zeugen von menschlichem Erfindergeist, handwerklichem Können, artistischer Begabung und ausgelassener Freizeitgestaltung. Es sind Zeugnisse populärer Kunst und Ausdruck populärer Kultur.137 Aus Träumen erwachen Ideen, aus Ideen wachsen Visionen. Aus Visionen gedeihen Projekte. Aus Projekten wird inszenierte und erlebte Wirklichkeit. Das war früher die Quintessenz der Schaustellerei und insbesondere der Karussellbauindustrie auf ihrer Bühne, dem Volksfest; das ist sie noch heute und das soll sie auch in Zukunft bleiben: lebendiges Kulturgut.
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Freundeskreis Kirmes und Freizeitparks (Hrsg.): op.cit., S. 90–91 und S. 66–67 Oberösterreich, Offenes Kulturhaus (Hrsg.): Höhenrausch, OK Books, Linz, 2009, S. 56–65 Kayser, Steve: Das Bad Hersfelder Lullusfest, Volksfeste – Orte europäischen und universellen Kulturerbes, in: Rauche, Reinhard (Hrsg.): Ältestes Heimatfest Deutschlands 852/2012 – Lullusfest – 1160 Jahre, Bad Hersfeld 2012, S. 41–52
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Bibliographie Bücher, Kataloge, Zeitschriften
Arts, Connaissance des : Art Forain, numéro spécial, Société française de promotion artistique, Paris, 1995 Balint, Michael: Angstlust und Regression (1959), Klett-Cotta, Stuttgart, 4. Auflage,1994 Bancel, Nicolas; Blanchard, Pascal; Boëtsch, Gilles; Deroo, Eric; Lemaire, Sandrine: MenschenZoos – Schaufenster der Unmenschlichkeit, deutsche Erstausgabe, Les éditions du Crieur Public, 2012 Bolotin, Norman; Laing, Christine: The World’s Columbian exposition – The Chicago World’s Fair of 1893, University of Illinois Press, Champaign 1992 Campion, Marcel: Fêtes et merveilles du monde forain, le cherche midi, Paris 2016, S. 134 Cloppenburg, Museumsdorf (Hrsg.): Kirmesbeilage, Vergnügen hat Geschichte, Warum eine Kirmes im Museumsdorf?, Cloppenburg 2015 Cuneo, Anne; Dering, Florian; Messen-Jaschin, Youri; Sidler, Peter: Die Welt der Schausteller vom XVI. bis zum XX. Jahrhundert – Les monde des forains du XVIe au XXe siècle, Editions des Trois Continents, Lausanne 1986 Dehring, Florian: Volksbelustigungen – Eine Bilderreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom achtzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart, Greno Verlag, Nördlingen 1986 Dohet, Claude : Les spectacles à la Belle Époque – Un album de cartes postales illustrées – la rue, la foire, le cirque, SODIM, Bruxelles 1976 Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde – Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940, Campus Verlag, Frankfurt-New York 2005 Eberstaller, Gerhard: Schön ist so ein Ringelspiel – Schausteller, Jahrmärkte und Volksfeste in Österreich – Geschichte und Gegenwart, Verlag Christian Brandstätter, Wien 2004 Erdmann, Karl-Heinz, und Faber, Michael H. (Hrsg.): Pützchens Markt – 650 Jahre in Bonn am Rhein, Bouvier, Bonn 2017 Faber, Michael H.; Harzheim, Gabriele; Jopp, Heinke; Mesenhöller, Peter; Thomas-Ziegler, Sabine: Kirmestreiben – Ein Rhein-Landfest, Rheinland-Verlag Gmbh, Köln 1990 Faucheux, Michel: Buffalo Bill, Gallimard, 2017 Ferenczi, Cécile; Py, Christiane: La fête foraine d’autrefois – les années 1900, La Manufacture, Lyon 1987 Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin 2013 Freundeskreis Kirmes und Freizeitparks (Hrsg.): Geisterbahnen, Düsseldorf 2016
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Gourarier, Zeev: Manèges d’autrefois, Flammarion, Paris 1991 Gourarier, Zeev: Il était une fois la fête foraine de 1850 à 1950, exposition au Par cet Grande Halle de la Vilette 18 septembre 1995 au 14 janvier 1996, Editions de la Réunion des musées nationaux, Paris 1995 Grodwohl, Marc: La fantastique épopée des carrousels-salons – quand le bonheur ne tenait qu’à … un tour de cochons, Editions Ecoparc et Oberlin, 1991 Hollweg, Brenda: Ausgestellte Welt – Formationsprozesse kultureller Identität in den Texten zur Chicago World’s Columbian Exposition (1893), Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2000 Huizinga, Johan: Das Spielelement der Kultur – Spieltheorien nach John Huizinga von Georges Bataille, Roger Caillois und Eric Vögelin, Mathes&Seitz, Berlin 2014 Jüttemann, Herbert: Waldkircher Dreh- und Jahrmarktsorgeln – Geschichte, Aufbau und Fertigungsprogramme, Kaufmann Verlag, Waldkirch 1991 Kaldy-Karo, Robert; Marschall, Clemens: Der Wiener Prater – Eine Kultur-und Sittengeschichte, Klever Verlag, Wien 2017 Kayser, Steve (coord.): Schueberfouer, nos cahiers numéro spécial, 2/3, Editions Saint-Paul, Luxembourg 2008 Klopp, Tina: Die Geisterbahn als Modell und Mode in der zeitgenössischen Kunst, Dissertation, Hamburg 2014 Klunkert, Gabriele: Schaustellungen und Volksbelustigungen auf Leipziger Messen des 19. Jahrhunderts – Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung, Cuvillier Verlag, Göttingen 2010 Köpp-Fredebeul, Susanne: Vom Karussellpferd zur Raketenbahn – Die Geschichte der deutschen Karussellindustrie in Thüringen, Ahlen 2019 Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen, Campus Verlag, Frankfurt/MainNew York 1999 Langlois, Gilles-Antoine: Folies, tivolis et attractions – les premiers parcs de loisirs parisiens, Délégation de l’action artistique de la Ville de Paris, Paris 1991 Linz, NORDICO Stadtmuseum (Hrsg.): Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten, Verlag Anton Pustet, 2017 Lukas, Scott A.: The immersive worlds handbook – Designing theme parks and consumer spaces, Routledge, London and New York 2013 Lukas, Scott A.: A reader in themed and immersive spaces, Carnegie Mellon : ETC Press, Pittsburgh 2016 Mabire, Jean-Christophe (dir.): L’Exposition Universelle de 1900, L’Harmattan, Paris 2000 Marchal, Fabienne et François: L’art forain – les animaux de manège, Les éditions de l’Amateur, Paris 2002
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Meiners, Uwe; Ziessow, Karl-Heinz (Hrsg.): Zur Schau gestellt – Ritual und Spektakel im ländlichen Raum, Arbeit und Leben auf dem Lande, Bd. 8, Museumsdorf Cloppenburg 2003 Anderson, Norman: Ferris Wheels - An illustrated History, Bowling Green State University Popular Press, Bowling Green Ohio, 1992 Niedbalski, Johanna: Die ganze Welt des Vergnügens – Berliner Vergnügungsparks der 1880er bis 1930er Jahre, be.bra wissenschaft Verlag, Berlin 2018 Oberösterreich, Offenes Kulturhaus (Hrsg.): Höhenrausch, OK Books, Linz 2009 Opaschowski, Horst W.: Einführung in die Freizeitwissenschaft, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006 Philips, Deborah: Fairground attractions – A Genealogy of the Pleasure Ground, BloomsburyLondon-New York 2012 Pontas, Jean: Dictionnaire des cas de conscience ou décisions par ordre alphabétique des plus considérables difficultés touchant la morale et la discipline ecclésiastique, Le Mercier, 1726 Poser, Stefan/Zachmann, Karin (Hrsg.): Homo faber ludens – Geschichte zu Wechselbeziehungen von Technik und Spiel, Peter Lang, Frankfurt/Main 2003 Poser, Stefan: Glücksmaschinen und Maschinenglück – Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels, transcript, Bielefeld 2016 Ramus, Margit: Kulturgut Volksfest – Architektur und Dekoration im Schaustellergewerbe, JP Bachem Verlag, 2013 Remoortere, Julien van: Le Guide Ippa des Fêtes et du Folklore en Belgique, Editions Lannoo, Tielt 1995 Saint Cyr, Cornette de (éd.): Chefs d’œuvre de l’art forain – la fabuleuse collection de Fabienne et François Marchal, Paris 2011 Schmitz, Olaf: Mythos Autoscooter – Die Geschiche eines besonderen Fahrgeschäfts, Der Komet, Pirmasens 2018 Sommer-Hasenstein, Monika (éd.): Vie familiale, dimanches et jours de fêtes – Coutumes et traditions en Sarre-Lor-Lux, Gollenstein 2007 Stoff, Julia; Sturm, Martin (Hrsg.): Höhenrausch – Kunst in die Stadt. Art into the City, OÖKulturquartier, Verlag für moderne Kunst, Linz 2016 Storch, Ursula (Hrsg.): In den Prater! Wiener Vergnügungen seit 1766, Residenz Verlag, Wien 2016 Szabo, Sacha: Fahrchips – Das Spielgeld der Kirmes, dvg, Grossrosseln 2006 Szabo, Sacha: Rausch und Rummel – Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte, transcript Verlag, Bielefeld 2006 Szabo, Sacha (Hrsg.): Kultur des Vergnügens – Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte – Facetten nicht-alltäglicher Orte, transcript Verlag, Bielefeld 2009
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Szabo, Sacha: Airtime – Die Geschichte der Achterbahn aus der Sicht der Wissenschaft, Sacha Szabo Amazon, 2014 Szabo, Sacha: Sozioanalyse des Alltags. Kulturelle Wurmlöcher & gesellschaftliche Seismographen. Trends und Traditionen aus Sicht der Cultural Studies, Tectum Verlag, Marburg 2015 Szabo, Sacha: Lunaparks – Auf den Spuren einer vergessenen Vergnügungskultur, Büchner Verlag, 2017 Szabo, Sacha: Außeralltägliche Welten – Oktoberfest, Disneyland, Computerspiele. Sozioanalyse des Vergnügens, Büchner Verlag, Marburg 2018 The Chicago World’s Fair of 1893 – a photographic record – Dover Publications, New York 1980 Thoma, Willi: Faszination Karussell- und Wagenbau – 200 Jahre Heinrich Mack Waldkirch, Waldkircher Verlagsgesellschaft, Waldkirch 1988 Throgmorton, Todd H. and Samantha K.: Roller Coasters – United States and Canada, Mc Farland, Jefferson, 2015 Wager, Wulf: Cannstatter Volksfest – Vom Landwirtschaftsfest zum Mega-Event, Belser, Stuttgart 2018 Wallonne, Musée de la Vie (éd.): Foires et Forains en Wallonie – Magie foraine d’autrefois, Pierre Mardaga, Liège 1989 Weedon, Geoff; Ward, Richard: Fairground Art – The art forms of travelling fairs, carousels and carnival midways, New Cavendish Books, London 1981 Wellner, Hermann: Menagerie, Karussell und Kinematograph – Öffentliche Festkultur im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert am Beispiel des Gillamoosmarktes in der Stadt Abensberg, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2013 Wimmer, Constanze; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Der Pemperlprater – ältestes Karussell der Welt mit Ringelstechen, SüdOst Verlag Gmbh, Waldkirchen 2004 Younger, David: Theme Park Design & the art of themed entertainment, Inklingwood Press, 2016 Beiträge, Artikel Altrichter, Maria: Der Wandel des Urfahraner Marktes seit seiner Entstehung, in: Linz, NORDICO Stadtmuseum (Hrsg.): op.cit., S. 57–68 Bonhoff, Michael: Geister Fabrik, in: Kirmes- und Parkrevue, 07/2019, S. 6–11 Dafft, Gabriele: Zwischen Gottesdienst und Geisterbahn. Pützchens Markt als Erinnerungsort und Erlebnisraum, in: Erdmann, Karl-Heinz, und Faber, Michael H. (Hrsg.): op.cit., S. 193–206 Faber, Michael H.: „Von jedem Caroussel pro vierzig Quadratfuss zwei Silbergroschen“ – Die Entwicklung der Schaustellungen auf rheinischen Landkirmessen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Weimarer Republik, in: Faber, Michael H.; Harzheim, Gabriele; Jopp, Heinke; Mesenhöller, Peter; Thomas-Ziegler, Sabine: Kirmestreiben, op.cit., S. 87–132
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Favand, Jean-Paul: Trois regards sur le Carrousel Salon Demeyer, in : Grodwohl, Marc : op.cit., S. 11 Garncarz, Joseph: Jahrmarktkino – Eine europäische Institution, in: Szabo, Sacha (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 123–144 Kayser, Steve: Die Schausteller. Menschen und Traditionen. in: Kayser, Steve (coord.): Schueberfouer, op.cit., S. 139–177 Kayser, Steve: Die Nachkriegs-Schueberfouer – Rückkehr und Einkehr, in: ALEH (éd.): Du Luxembourg à l’Europe – Hommages à Gilbert Trausch à l’occasion de son 80e anniversaire, éditions saint-paul, Luxembourg 2011, S. 381–402 Kayser, Steve: Das Bad Hersfelder Lullusfest, Volksfeste: Orte europäischen und universellen Kulturerbes, in: Rauche, Reinhard (Hrsg.): Ältestes Heimatfest Deutschlands 852/2012 – Lullusfest – 1160 Jahre, Bad Hersfeld 2012, S. 41–52 Latozki, Ralph: Themenfahrt-Philosophie, in: Szabo, Sacha (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 199–208 Maase, Kaspar: Die Menge als Attraktion ihrer selbst. Notizen zu ambulatorischen Vergnügungen, in: Szabo, Sacha: (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 13–27 Meiners, Uwe: Pferdekarussell und Raupenbahn – Historische Ikonen der Jahrmarktskultur, in: Meiners, Uwe/Ziessow, Karl-Heinz (Hrsg.): Zur Schau gestellt – Ritual und Spektakel im ländlichen Raum, Arbeit und Leben auf dem Lande, Bd. 8, Museumsdorf Cloppenburg, 2003, S. 325–349 Poser, Stefan: Heiraten auf der Achterbahn! Jahrmarktsvergnügen aus sozial- und technikhistorischer Perspektive, in: Poser, Stefan; Zachmann, Karin (Hrsg.): Homo faber ludens, op.cit., S. 113–133 Stadler, Andrea: Karussell-Künstler und Künstler-Karussells – Eine kleine Karussellgeschichte. Eine Frage des Blickwinkels, in: Szabo, Sacha (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 159–186 Szabo, Sacha: Chillrides, in: Szabo, Sacha (Hrsg.): Kultur des Vergnügens, op.cit., S. 275–287
Mediathek
Abenteuerland: Pur: Abenteuerland, CD mit Songtext, Intercord, 1995 Archiv: Digitales Archiv der Schaustellerei, www.kulturgut-volksfest.de Rasch’s Jahrmarktsmuseum: Facebookseite Rasch’s Jahrmarktsmuseum @Jahrmarktsmuseum, Geisterbahn: Toth, Alfred Dr.: Eine kurze Geschichte der Geisterbahnen, www.wienerprater-geisterbahn.ch
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Historischer Verein: Historische Gesellschaft Deutscher Schausteller, www.die-historischen.de Jahrmarkt: Pützchens Historischer Jahrmarkt, Markmann, www.jahrmarktshalle.de Karussell: Historisches Karussell Wilhelmsbad, www.karussell-wilhelmsbad.de Kindersportkarussell: Hennecke, www.hennecke.de Mack: MackMedia: Das Zeitkarussell – Le Carrousel du Temps, DvD, MackMedia, 2016 Museum: Rasteder Karussell- und Schaustellermuseum, www.historische-karussells.de; Musée des Arts forains, Bercy-Paris, www.arts-forains.com; Markt- und Schaustellermuseum Essen, www.schaustellermuseum.de Orton&Spooner: Orton&Spooner Collection, www.sheffield.ac.uk: Pretzel Rides: https://books.google.lu: Leach, Sarah Amy; Sebold, Kimberly R.: Historic Themes and Resources within the New Jersey Coastal Heritage Trail: southern New Jersey and the Delaware Bay: Cape May, Cumberland and Salem Counties, US Department of the Interior, National Park Service, Historic American Buildings Survey/ Historic American Engineering Record, Washington DC 1966, S. 161–164; Office, United States Government Printing Office: Index of Patents issued from the United States Patent Office, Washington, 1932, S. 714; Offcial Gazette of the United States Patent Office, Vol. 420, Washington, 1932, S. 846; https://laffinthedark.com: Léon Cassidy; https://patents.google.com: USRE1844E Amusement Railway 26. Juli 1932; www. academia.edu: Baker, Greame Stanley: Archaeology of a Dark Ride – A prehistory of „Transformers: The ride 3D“, Graeme S. Baker, January 2013, S. 19–22; www.collectorsweekly.com: Hix, Lisa: Jeepers Creepers! Why Dark rides scare the pants off us, october, 2013 Ramus, Margit: Entstehung der Bauformen, in: Digitales Archiv der Schaustellerei, www. kulturgut-volksfest.de Riesenräder: Oscar Bruch jr., Riesenräder, www.riesenrad.info Tussaud: Madame Tussaud: A legend in wax, https://youtu.be/_ocG5ioKEXs Venusgrotte: Kulturpfad Ludwig II. – Ein Projekt des Staffelsee Gymnasiums Murnau, www.ludwig.cmswp.de Virtual Reality (VR): Dr. Archibald, (VR), www.dr-archibald.de und Wilde Maus XXL (VR), www.wildemaus-xxl.de, MACK (VR), www.macknext.com & www.yullbe.com (2020)
Die Perspektiven der Autonomie für Kirchen, religiöse Vereinigungen und Gemeinschaften in der Europä ischen Union im Lichte des Art. 91 DSGVO Irena Lipowicz
Das Leben und das Werk von Wolfgang Bandion ist untrennbar mit den Fragen nach dem Platz der Kirche im öffentlichen Leben, der Rolle des Staates im gesellschaftlichen Leben, aber auch mit der Freiheit, der Würde und der Achtung der Grundrechte verbunden. Dieses Problem bleibt ein ständiges Anliegen, und die Suche nach einem Gleichgewicht in diesem Bereich erfordert in jeder neuen Phase des gesellschaftlichen und rechtlichen Lebens einen neuen Ansatz. Für die demokratische Verfassungsordnung und die Menschenrechte ist es äußerst wichtig, die Autonomie der Kirchen, religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften zu bewahren. Wenn wir über die historische Unterdrückung und Versklavung von Kirchen nachdenken, gehen wir meist zurück in die Zeiten des Totalitarismus – Zeiten, mit denen sich auch Wolfgang Bandion intensiv beschäftigte. Heute jedoch können die neuen Informationstechnologien, wie das Beispiel Cambridge Analytica zeigt, zur Versklavung führen, mit dem Anschein, die Autonomie und die verfassungsmäßigen Rechte weiter zu respektieren. Auch der Schutz personenbezogener Daten und seine rechtliche Regelung auf europäischer Ebene, die immerhin dem Grundrechtsschutz dient, könnten zu einer Einschränkung der vielfältigen Autonomie führen, die in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten vorgesehen ist. Es muss daher analysiert werden, wie der europäische Gesetzgeber mit diesen Problemen umgegangen ist. Die Autonomie der Kirchen, religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften ist eines der Themen, die in der Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union (DSGVO)1 behandelt wurden. Die Autonomie der Kirche im modernen Staat hat viele Dimensionen. Jahrelang schien es unbestritten, dass sie im demokratischen Rechtsstaat entweder mit einer Trennung zwischen Staat und Kirche gleichzusetzen ist oder – wie in dem gemischten Modell in Deutschland und Polen – eine Art der Zusammenarbeit vorsieht. Die Wahl des Modells 1
Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 1–88, mit Änderungen)
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lag im Kompetenzbereich der einzelnen Nationalstaaten. Mit der Entwicklung der digitalen Technologien und den damit verbundenen Problemen des Datenschutzes wurde deutlich, dass neue Formen dieser Autonomie entstehen werden und diese wiederum neue Rechtsformen brauchen werden. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die neue Gestalt der Autonomie der Kirche als Folge der Europäisierung zu betrachten ist und dieser auch unterliegt. Infolge der rasanten Entwicklung der Digitalisierung wurde das entsprechende Datenschutzrecht nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auch auf der Ebene der Europäischen Union verändert. Damit wurde die Debatte über die Relationen Staat und Kirche auf der europäischen Ebene immer lebhafter. Es ist sehr interessant, dass trotz gewisser Spannungen das europäische Recht in dieser Hinsicht sich als sehr fortschrittlich und zukunftsorientiert erwiesen hat. Mit dem Art. 91 DSGVO2 konnte dieser Entwicklungsprozess abgeschlossen werden. Die Ausgestaltung des kirchlichen Datenschutzes ist stark vom Gedanken der Harmonisierung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen in der EU geprägt. Am Anfang hat man von drei verschiedenen staatskirchenrechtlichen Systemen gesprochen. Z. B. hat Griechenland seine Staatskirche, in Frankreich herrscht eine starke Trennung von Staat und Kirche, in anderen Ländern etablierten sich wiederum gemischte Systeme, in denen Staat und Kirche ihre Autonomie pflegen, gleichzeitig aber in wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eng zusammenarbeiten. Wie Ansgar Hense betonte, wurde die europäische Landschaft des Datenschutzrechts durch die Datenschutz-Grundverordnung, die im Jahr 2018 in Kraft getreten ist, stark verändert3. Früher waren es nur die europäischen Richtlinien, die den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Eckpunkte des Datenschutzrechts fest vorschrieben4, die nationalen Rechtsordnungen ansonsten aber nicht antasteten. Jetzt ist die DSGVO ein Teil des unmittelbar geltenden europäischen Rechts. 2
3 4
Art. 91 DSGVO: Bestehende Datenschutzvorschriften von Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften (1) Wendet eine Kirche oder eine religiöse Vereinigung oder Gemeinschaft in einem Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung umfassende Regeln zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung an, so dürfen diese Regeln weiter angewandt werden, sofern sie mit dieser Verordnung in Einklang gebracht werden. (2) Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften, die gemäß Absatz 1 umfassende Datenschutzregeln anwenden, unterliegen der Aufsicht durch eine unabhängige Aufsichtsbehörde, die spezifischer Art sein kann, sofern sie die in Kapitel VI niedergelegten Bedingungen erfüllt. A. Hense, Der Schutz personenbezogener Daten in der Kirche im deutschen Recht, [In:] Ochrona danych osobowych w Kościele, red. nauk. S. Dziekoński i P. Drobek, Warszawa 2016, S. 122–123 Vor allem die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. L 281 vom 23.11.1995, S. 31–50, mit Änderungen)
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Eine wichtige Veränderung ist auch im Bereich der Regulierung der Rechtslage der Kirchen, religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften getreten. Die „stabile Landschaft“ der Regulierung hat sich jetzt stark verändert, wobei einen besonders großen Einfluss auf die neue europäische Regulierung die Erfahrungen und Methoden der Regulierung im deutschsprachigen Raum hatten. Nach dem deutschen Modell hat man vor allem auf Seite des Staates eine Gewährleistungspflicht im Bereich der informationellen Selbstbestimmung eingeführt. Der Staat realisiert diese Pflicht durch das Datenschutzgesetz auf der Bundesebene wie auch durch entsprechende Landesgesetze. Wie Marie-Theres Tinnefeld betonte, garantiert das deutsche Grundgesetz den Religionsgemeinschaften, ihre Angelegenheiten – innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes – selbständig zu ordnen und zu verwalten5. Das institutionelle kirchliche Selbstbestimmungsrecht beruht zum einen auf dem individuellen Grundrecht der Religionsfreiheit, zum anderen auf der historischen Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts6. Ein wichtiger Teil dieser Infrastruktur ist auch die Schaffung der entsprechenden Organe, wie Bundesdatenschutzbeauftragte und Landesdatenschutzbeauftragte. Diese effiziente Infrastruktur hat schon früher die Fragen hervorgerufen, ob man auch auf Kirchenebene einen Datenschutzbeauftragten berufen sollte, wenn im Rahmen der Kirchenautonomie der entsprechende verfassungsrechtlich verankerte Standard gewährleistet werden soll. Diese Frage wurde positiv beantwortet. Zwar gelten die gesetzlichen Regelungen nicht unmittelbar für die Kirchen, sie basieren aber auf „stillschweigenden Voraussetzungen“, dass auch im Rahmen der Kirchen ein genauso effizienter Datenschutz gewährleistet wird. Die Kirche wie auch andere religiöse Gemeinschaften sind von Anfang an, seit 1949, befugt, ihre eigenen Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze zu regeln und auch eine organisatorische Selbstbestimmung zu genießen. Dieses Vertrauen und ein hoher Grad an Autonomie haben zu einer neuen Selbstbindung des Staates geführt. Die Form dieser Selbstbindung korrespondierte auch mit der Verantwortung auf der Seite der Kirchen und religiösen Gemeinschaften. Es sollte sichergestellt werden, dass die Standards des Datenschutzes von der Kirche weitgehend beachtet werden. In der Literatur wird mehrheitlich angenommen, dass die Regulierung eine Inspiration für die EU wurde. Wie Giovanni Buttarelli, der ehemalige Europäische Datenschutzbeauftragte, bereits 2016 betonte, gibt es drei wesentliche Aspekte der Datenschutzverarbeitung der Kirchen und religiösen Vereinigungen: Erstens ist es anzunehmen, dass sich die Verarbeitung personenbezogener Daten in den Kirchen im Anwendungsbereich des Europäischen Datenschutzrechts befindet. Zweitens braucht man klare und präzise Rechtsakte in diesem Be5
M.-T. Tinnefeld, E. Ehmann, R. W. Gering, Einführung in das Datenschutzrecht, München 2005, 174 ff. 6 Ibidem
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reich, die die Anwendungsfolgen der Datenschutzvorschriften vorzusehen ermöglichen. Drittens bedarf es einer unabhängigen Aufsichtsbehörde, die die Datenverarbeitungsvorgänge überwacht und die ordnungsgemäße Anwendung des Gesetzes gewährleistet.7 In Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten in der Kirche betont Giovanni Buttarelli weiter, dass die wichtigsten Prinzipien des Datenschutzrechts, die sich aus der DSGVO ableiten, Rechenschaftspflicht und Transparenz sind8. Transparenz zu gewährleisten bedeutet, den betroffenen Personen mitzuteilen, was mit ihren Daten geschieht, und ihnen mehr Kontrolle zu ermöglichen. Dies ist wichtig, weil Daten, die von Kirchen und religiösen Verbänden verwaltet werden, sensibel sind. Buttarelli weist darauf hin, dass die DSGVO in dieser Hinsicht eine Ausnahme vom allgemeinen Verbot der Verarbeitung sensibler Daten, die einen religiösen Glauben offenbaren, für Kirchen und religiöse Vereinigungen gemacht hat. Die Kirchen sind dafür verantwortlich, wie sie mit sensiblen Informationen über Einzelpersonen, einschließlich Informationen über Kinder – abhängige Mitglieder der Gesellschaft – umgehen. Der Europäische Datenschutzbeauftragte begrüßt die Einführung von Artikel 91 DSGVO, der die Verbindung zwischen dieser Frage und den Schlüsselwerten der Europäischen Union, wie sie insbesondere in den Artikeln 8 und 10 der EU-Charta der Grundrechte festgelegt sind, reguliert9. Darüber hinaus ist es wichtig, den Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU zu beachten, der sicherstellt, dass die Europäische Union den Status der Kirchen nach nationalem Recht achtet. Die Schlussfolgerung ist, dass Erwägungsgrund 165 und Artikel 91 DSGVO den Vertrag hinsichtlich der Achtung der Rechte von Kirchen, religiösen Verbänden und anderen religiösen Gemeinschaften unbeschadet des nationalen Rechts wiedergeben10. Die wichtigste Frage für die Autonomie der Kirchen zum Zeitpunkt der Umsetzung der Verordnung war daher die Frage nach der Möglichkeit, von Artikel 91 DSGVO Gebrauch zu machen, und die Zulässigkeit der weiteren Anwendung der bereits bestehenden kirchlichen Vorschriften, solange sie mit der DSGVO vereinbar sind. Buttarelli erinnert jedoch nachdrücklich daran, dass die DSGVO in vollem Umfang gilt, wenn die Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung nicht über solche umfassenden Bestimmungen verfügten. Darüber hinaus müssen diese Bestimmungen „klar und präzise“ sein, sodass das Recht gemäß der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs 7
8 9 10
G. Buttarelli, Ochrona danych osobowych w kościołach i związkach wyznaniowych w świetle ogólnego rozporządzenia o ochronie danych, [w:] Ochrona danych osobowych w Kościele, red. nauk. S. Dziekoński i P. Drobek, Warszawa 2016, S. 11 Ibidem, S. 12 Ibidem, S. 13 Ibidem, S. 14
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in Straßburg für den Adressaten vorhersehbar ist. Etwaige Unterschiede hingegen sollten im öffentlichen Recht genau definiert werden, insbesondere wenn sie in die Grundrechte eingreifen. Es ist auch äußerst wichtig, dass es offiziell nicht nur eine unabhängige kirchliche Datenschutzbehörde gibt, sondern dass sie auch effektiv funktioniert. Aus polnischer Sicht konzentrierte sich die Diskussion in der Rechtslehre auf die Frage, ob die wenigen polnischen kirchlichen Regelungen, die kurz vor Inkrafttreten der DSGVO erlassen und ergänzt wurden, für die Anwendung von Artikel 91 DSGVO ausreichen. Wie gespalten die polnische Rechtswissenschaft in diesem Bereich war, lässt sich am Beispiel der DSGVOKommentare beobachten. In der ersten offiziellen Stellungnahme der nationalen Datenschutzbehörde hieß es, dass die kirchlichen Regulierungen in Polen diese Bedingungen nicht erfüllen. In der nächsten Ausgabe des Kommentars hat sich – bei einem ähnlichen Autorenkreis – diese Ansicht geändert. Interessant ist auch der Standpunkt der Kirchen zu der neuen Regelung. Wir finden sie in der Studie von Piotr Mazurkiewicz, dem ehemaligen Vertreter bei der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union während der Arbeit an der DSGVO11. Unter Bezugnahme auf Erwägungsgrund 4 der DSGVO-Präambel stellt P. Mazurkiewicz fest, dass „aus der Sicht der Kirchen zwei Fragen wesentlich erscheinen. Die erste betrifft die Frage, wie tief die EU in die inneren Angelegenheiten der Kirchen im Bereich des Schutzes personenbezogener Daten eingreifen kann. Die zweite ist die Definition der Kategorien von Personen, deren Daten von den Kirchen verarbeitet werden können“12. Der Autor stellt ferner fest, dass die Verordnung zweifellos der Herausforderung einer vollständigen Harmonisierung des EU-Rechts entspricht. Gleichzeitig spiegelt sie aber auch die Spannung zwischen dem Respekt vor der Vielfalt der Traditionen der Mitgliedstaaten, in denen ihre Identität zum Ausdruck kommt, und dem Streben nach Harmonisierung, um sie stärker zu vereinheitlichen. Vergleicht man den Inhalt der verschiedenen Erwägungsgründe der Verordnung, insbesondere der Erwägungsgründe 4 und 165, so kommt der Verfasser zu dem Schluss, dem man zustimmen kann, dass die oben genannten Spannungen im Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Kirche besonders deutlich werden13. Der Autor definiert die rechtliche Institution des Artikels 91 DSGVO als die Möglichkeit für die Kirchen, das bestehende System des Schutzes personenbezogener Daten 11
P. Mazurkiewicz, Ochrona danych osobowych w kościołach i związkach wyznaniowych w świetle rozporządzenia Parlamentu Europejskiego i Rady (UE) 2016/679 z dnia 27 kwietnia 2016 r. w sprawie ochrony osób fizycznych w związku z przetwarzaniem danych osobowych i w sprawie swobodnego przepływu takich danych oraz uchylenia dyrektywy 95/46/WE (ogólne rozporządzenie o ochronie danych) [w:] op. cit., S. 26–27 12 Ibidem 13 Ibidem, S. 28
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„weiterzuführen“, vorausgesetzt, es wird an den Inhalt der DSGVO angepasst. Es ist auch wichtig, sich an die zweite Option zu erinnern, nämlich die Akzeptanz der direkten Anwendung der DSGVO auf den Schutz personenbezogener Daten in der Kirche. Der Autor führt auch eine Kategorie von „Window of opportunity“ ein, d. h. die Möglichkeit, das System nur bis zum Inkrafttreten der DSGVO zu wählen. Bernard Łukańko betont hingegen, dass Art. 91 Abs. 1 – schon während der Geltungsdauer der Richtlinie 95/46/EG – vor allem Ausdruck der Akzeptanz des EU-Gesetzgebers für die Existenz kirchlicher Vorschriften autonomer Art war. Nur selten aber war die Regulierung schon früher – wie in Deutschland – von einem komplexen Charakter14. Łukańko betont, dass die Adressaten von Art. 91 Abs. 1 DSGVO Kirchen und religiöse Vereinigungen sind und nicht die Mitgliedstaaten15. Diese Aussage lässt jedoch Zweifel aufkommen. Das sind doch die Mitgliedstaaten, die in erster Linie für die Umsetzung ihrer Verpflichtungen aus dem EU-Recht, einschließlich der Verordnungen, verantwortlich sind. Verstöße durch Kirchen führen also auch zu staatlicher Verantwortung. Die Diskussionen in der Literatur haben auch die Frage aufgeworfen, ob Art. 91 Abs. 1 keine subjektiven Beschränkungen für die Verarbeitung personenbezogener Daten enthält und ob es daher nicht notwendig ist, den Anwendungsbereich kirchlicher Rechtsakte des internen Rechts nur auf Fragen zu beschränken, die eng mit dem Auftrag der Kirche zusammenhängen. Es überwiegt jedoch die Auffassung, dass nur die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgenommen ist16. Auch die Frage, wie die Erfüllung der Verpflichtungen nach Art. 91 überwacht wird, wird geprüft. Die Widersprüchlichkeit der Annahme, dass die Kirchen der einzige Adressat dieser Bestimmung sind, liegt auf der Hand, da die Auffassung vertreten wird, dass die Europäische Kommission bei Zweifeln an der Erfüllung der Bedingungen von Art. 91 Abs. 1 ein Verfahren wegen Verletzung der Verträge durch die Mitgliedstaaten einleiten wird. Zu den Überlegungen, ob die „sparsame“ Regelung, die bis zum Inkrafttreten der DSGVO in der polnischen Kirche bestand, ausreicht, um die Privilegien des Art. 91 Abs. 1 in Anspruch zu nehmen, gehört die vorherrschende Meinung, dass es sich um eine mosaikartige und unvollkommene Regelung handelt, die aber alle konstitutiven, notwendigen Elemente enthält17.
14 B. Łukańko, Kościelne modele ochrony danych osobowych, Warszawa 2019, S. 299 15 Ibidem 16 Ibidem, S. 300 17 P. Fajgielski, Ogólne rozporządzenie o ochronie danych. Ustawa o ochronie danych osobowych. Komentarz, Warszawa 2018, S. XXX. Vergl. P. Kroczek, Kilka uwaga dotyczących dekretu KEP z 13 marca 2018 r. w sprawie ochrony osób fizycznych w związku z przetwarzaniem danych osobowych w Kościele Katolickim na podstawie kazusu przedszkola, Annales Canonici 2018/1, S. 149–151
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Es stellt sich die Frage nach den Schlussfolgerungen, welche aus der Autonomie der Datenschutz-Grundverordnung für Kirchen und religiöse Verbände nach dem Art. 91 Abs. 1 gezogen werden können. Am wichtigsten scheint hier die Beachtung der im EUVertrag allgemein erklärten Autonomie der Kirchen und religiösen Vereinigungen für die Identität dieser Kirchen in den betreffenden Mitgliedstaaten zu sein. Bislang wurde dies als allgemeiner Grundsatz, als Richtlinie betrachtet. Seit dem Inkrafttreten dieser Rechtsverordnung, für die eine Übergangszeit von zwei Jahren für die Anpassung der Normen eingeplant war, kann von einer glaubwürdigen Anwendung dieses Prinzips in der Praxis gesprochen werden. Es gibt auch eine Akzeptanz für die bisherige Arbeit der Kirchen an ihren eigenen Regelungen, wenn auch nicht alle so umfassend waren, wie die in der deutschen katholischen und evangelischen Kirche. Einige Fortschritte sind auch bei der Ausweitung des Geltungsbereichs der Verordnung zu verzeichnen. Es ist nicht mehr notwendig, sich auf einen engen Bereich – wie z. B. Kirchenmitglieder – zu beschränken. Unter strengen gesetzlichen Bedingungen wird auch die Verwaltung personenbezogener Daten von Personen möglich, die keine Mitglieder der Kirche sind, aber gelegentlich mit ihr okkasionell Kontakt haben, zum Beispiel durch die Teilnahme an einem Konzert. Dies ist eine positive Entwicklung. Es ist eine wahre Zäsur in der Regulierungsautonomie, die derzeit besteht, vor allem wenn Kirchen und religiöse Vereinigungen Geschäfte machen. Die autonome Regelung ist in dieser Hinsicht nicht anwendbar. Auch die Verpflichtung zur Veröffentlichung des internen Rechts der Kirche, das die Verarbeitung personenbezogener Daten regelt, war enorm wichtig – dies gilt als Konsequenz der Anwendung von Art. 91 Abs. 1. Dies ist eine logische Lösung, die die Transparenz gewährleistet. Da die Kirchen Daten von Personen verarbeiten können, die nicht ihre Mitglieder sind, müssen auch die internen Daten für sie offengelegt werden. Die Verpflichtung zur Rechtstransparenz ist Teil der europäischen Rechtskultur. Es ist auch ein spezifisches Merkmal der Regulierung, dass die gewünschte Standardisierung auf eine „weiche und nicht zu träge“ Weise erreicht wird. Der Standard ist einheitlich, obwohl Kirchen und religiöse Vereinigungen gewisse Freiräume für ihre Gesetzgebung beibehalten. Die schwächere Seite der bestehenden Regelung ist die Tatsache, dass für die Nicht-Umsetzung des Artikels 91 die einzelnen Staaten direkt verantwortlich bleiben. Die Norm richtet sich unmittelbar an Kirchen und religiöse Vereinigungen und nicht an staatliche Organe, und doch wird der Staat für Verstöße zur Rechenschaft gezogen. Positiv zu bewerten ist aber die Tatsache, dass die Nutzung der Autonomie der Verordnung eine Erweiterung, eine Möglichkeit, eine Wahl und nicht eine Verpflichtung des EU-Gesetzgebers darstellt. Die weiterführende Institutionalisierung ist im Gange. Zum ersten Mal gibt es innerhalb der Kirchen, wenn auch mit deren Zustimmung, eine Aufsichtsbehörde, die eigentlich durch die europäische Gesetzgebung geschaffen wurde. Und die gesamte, umfangreich diskutierte Problematik ist ein Element
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eines umfassenderen Prozesses des Benchmarking, d. h. des Setzens von Maßnahmen, von Standards, auf die man sich bei seinen eigenen Handlungen beziehen kann. Sämtliche Standards sind in der gegenwärtigen Verwaltung sehr hilfreich. Sie können auch die in der Literatur analysierten Gefahren mit sich bringen, wie z. B. den Verlust der Handlungsflexibilität und die Neigung, notwendige Risiken einzugehen. Aus der Sicht des Vertrags und der Datenschutz-Grundverordnung ist die Anwendung dieser Bestimmungen durch Kirchen und religiöse Vereinigungen ein kleines Detail. Für sie ist der Ansatz der EU in dieser Frage zu einem wichtigen Test für die Achtung ihrer in den Verträgen erklärten Autonomie geworden. Die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten von Mitgliedern von Kirchen und religiösen Vereinigungen ist untrennbar mit dem religiösen Auftrag der Kirchen, der Seelsorge und den karitativen Aktivitäten verbunden. Die Besonderheit der Tätigkeit der Kirchen besteht auch darin, dass sie unter Menschen arbeiten, die nicht Mitglieder der Kirchen sind, aber an karitativen, kulturellen oder missionarischen Aktivitäten dieser Kirchen beteiligt sind. Der Einflusskreis ist daher oft viel breiter, als er sich aus einem formalen Ansatz ergeben würde. Zugleich hat der europäische Datenschutz für viele Kirchen und Religionsgemeinschaften eine wichtige Veränderung bedeutet. Die Kirche hat Informationen seit Jahrhunderten geschützt, und Offenheit war nicht ihr Hauptmerkmal, aber die Rechte der Betroffenen in vielen Ländern wurden nicht angemessen geschützt. Der Eingriff von EU-Recht in diesen sensiblen Bereich könnte daher in einem ernsten Konflikt enden. Für die Kirchen in einigen Ländern, z. B. in Skandinavien, die an der Spitze der Offenheit und Transparenz stehen, stellte die direkte Anwendung der neuen Bestimmungen der DSGVO keine wesentliche Änderung dar. Für andere, wie z. B. Polen, könnte dies ein Vorwand gewesen sein, um antieuropäische Gefühle zu schüren. Diese Länder haben auch bereits einige interne kirchliche Regelungen zum Schutz personenbezogener Daten entwickelt, doch in organisatorischer und rechtlicher Hinsicht könnte sich die direkte Anwendung der DSGVO als zu große Herausforderung für sie erwiesen haben. Auch das spezifische Problem der Kirchen in den mittel- und osteuropäischen Ländern sollte nicht außer Acht gelassen werden. Während der Jahre des Kommunismus waren die Kirchen in diesen Ländern einer starken staatlichen Unterdrückung ausgesetzt, die zum Teil die Information über die Gläubigen, die Mitglieder der Kirche, übernehmen sollte. Trotz der vielen Jahre blieb eine gewisse allergische Reaktion auf die Einmischung der Regierung in die Verarbeitung personenbezogener Daten bestehen. Dies erforderte vom EU-Gesetzgeber viel Vorsicht und Sensibilität bei der Regelung der in Schweden, Polen und Griechenland so unterschiedlichen Probleme. Der gewählte Weg sollte positiv bewertet werden. Statt eines Konflikts haben wir ein verstärktes Gefühl der Autonomie und vor allem die Möglichkeit zu wählen: die Regeln der DSGVO direkt anzuwenden oder
Die Perspektiven der Autonomie
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die traditionelle Regelung, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der DSGVO bestand, mit den notwendigen Änderungen zur Erreichung des grundlegenden europäischen Standards beizubehalten. Dies ist ein wichtiger Punkt. Die Union hat hier nicht vor höheren Standards für den Schutz der Privatsphäre „kapituliert“, sondern die Autonomie der kirchlichen Einrichtungen respektiert und die Zeit und Wahl des Weges ihnen überlassen. So könnten sich sowohl die deutschen Kirchen mit ihrer äußerst ausgereiften, umfangreichen Regelung als auch die polnischen Kirchen in der neuen Regelung wiederfinden. Es scheint, dass die gewählte Methode des Art. 91(1) DSGVO eine tiefere theoretische Reflexion verdient. In einer Zeit, in der antieuropäische Stimmungen aufkommen, kann es sich als nützlich erweisen, die Methode auch in anderen Bereichen zu nutzen, die – in Bezug auf die Notwendigkeit der Wahrung von Autonomie und Subjektivität – ähnlich sensibel sind. Dies kann ein unerwarteter Vorteil sein, um ein besseres Gleichgewicht in den Beziehungen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten zu erreichen. Es ist wichtig zu beachten, dass es keinen Verzicht auf den Vorrang des EU-Rechts gibt. Die Kohärenz wird aufrechterhalten. Es wurden jedoch bestimmte regulierungsbedürftige Bereiche identifiziert, die zeitlich (Zeitpunkt des Inkrafttretens) und inhaltlich streng begrenzt sind. Es sollte nachdrücklich betont werden, dass die bevorzugte Methode der Regulierung – im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip – Richtlinien bleiben sollten, die den Mitgliedstaaten die Freiheit lassen, die Regulierungsziele des EU-Rechts zu verfolgen. Wenn jedoch einzigartige Bedrohungen aufkommen, wie die, die mit modernen Informationstechnologien verbunden sind, ist eine einheitliche Regulierung durch die Methode der Verordnung erforderlich. Es ist bezeichnend, dass ein derart schwieriger Bereich der Regulierung seit 2016 keine Einwände mehr erhoben hat, auch wenn es einer der Kirchen – entgegen den ursprünglichen Absichten – nicht gelang, die sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Gerade deshalb erfordert der angewandte Regulierungsmechanismus eine sorgfältige wissenschaftliche Beobachtung und Analyse, auch im Hinblick auf die Effizienz der unabhängigen kirchlichen Aufsichtsorgane im Bereich des Schutzes personenbezogener Daten. Der endgültige Erfolg der gewählten Regulierungsmethode, gemessen an der Verbesserung der kirchlichen Datenschutzstandards und der Verbesserung der Beziehungen zwischen den Kirchenmitgliedern und sogar ehemaligen Kirchenmitgliedern mit der Kirchenverwaltung, wird ein Erfolg für die gesamte EU und ein wichtiger Wegweiser für die Zukunft sein.
Staatliche Ehrenzeichen im diplomatischen System Andreas Pacher
1. Einleitung
Theorien internationaler Beziehungen gehen üblicherweise von einem Primat militärischen oder ökonomischen Kalküls aus. Der „animus dominandi“, also die Begierde nach Machtgewinn, determiniert demnach das immerdar strategische Verhalten von Staaten. Zentralisierte Gewaltkapazitäten und wirtschaftliche Ressourcen fungieren somit als unabdingbare Variablen für das Verständnis zwischenstaatlichen Handelns. Umso mehr ist es dann überraschend, dass jener soziale Bereich, der als „Diplomatie“ firmiert, eine allgegenwärtige Nutzung scheinbar harmloser Objekte aufweist. Nicht Waffen werden eingesetzt, sondern Kunstwerke und Ehrenzeichen. Solche Artefakte dienen als Vehikel internationaler Beziehungen sowohl in positiver (z. B. diplomatische Geschenke oder staatlich organisierte Kunstausstellungen) als auch in negativer Hinsicht (z. B. das Verbrennen von Flaggen, die Demolierung politisierter Monumente). Eine allmählich im Entstehen begriffene Subdisziplin der Internationalen Beziehungen (IB), „diplomatic studies“ genannt1, setzt sich sporadisch mit der Nutzung solcher Objekte und sonstiger „nonhumans“2 auseinander – etwa im Hinblick auf Reliquien, Königsporträts, Pandabären oder digitale Artefakte.3 Allerdings bleibt die diesbezügliche Literatur kasuistisch, die Suche nach übergreifenden Theorien absent. Vielleicht ist dies so, weil das Feld der IB keine angemessene Begrifflichkeit bereithält, um solche diplomatisch eingesetzte, nicht-militärische und nicht-ökonomische Objekte konzeptuell zu integrieren.
1 Die International Studies Association (ISA) kennt seit 1997 eine „Diplomatic Studies Section“; 2006 wurde das Hague Journal of Diplomacy gegründet, im Jahr 2019 folgte das Journal Diplomatica. 2 Braun, B., & S. J. Whatmore. 2010. Political Matter. University of Minnesota Press Für Beispiele siehe etwa Osborne, J. 1999. „Politics, Diplomacy and the Cult of Relics in Venice 3 and the Northern Adriatic in the First Half of The Ninth Century.“ Early Medieval Europe 8 (3): 369–386; Hartig, F. 2013. „Panda Diplomacy: The Cutest Part of China’s Public Diplomacy.“ The Hague Journal of Diplomacy 8 (1): 49–78; Sowerby, T. A. 2014. „,A Memorial and a Pledge of Faith‘: Portraiture and Early Modern Diplomatic Culture.“ English Historical Review 129 (537): 296–331; Sevin, E., & I. Manor. 2019. „From Embassy Ties to Twitter Links: Comparing Offline and Online Diplomatic Networks.“ Policy and Internet 11 (3): 324–343
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Die Disziplin bleibt daher nicht in der Lage, folgende Forschungsfragen zu beantworten: Wieso benutzen Staaten scheinbar nicht-instrumentelle Objekte in ihren externen Beziehungen? Wie ist ihre Bedeutung innerhalb des Staatensystems zu verstehen, d. h. ohne sie sogleich als exogen abzuwerten? Was sind die Mechanismen ihrer grenzüberschreitenden Nutzung, und wie wirken sie sich auf zwischenstaatliche Beziehungen aus? Im Folgenden soll knapp auf die Theorie selbstreferenzieller Systeme, zu einem gewissen Grad aber auch auf ritualtheoretische und semiotische Überlegungen eingegangen werden, um mit diesem Instrumentarium eine vorläufige Theorie über die Nutzung „diplomatischer Objekte“ zu generieren. Zusammengefasst resultieren aus den theoretischen Ausführungen zwei normative Prinzipien: Zum einen betrachten Staaten ihre diplomatischen Objekte in auswärtigen Territorien als Extensionen ihrer selbst (Instrumentalisierungsprinzip); und zum anderen reagiert der Empfängerstaat auf fremde diplomatische Objekte strukturell mit Misstrauen (Misstrauensprinzip). Juristische Regelungen über staatliche Auszeichnungen bieten eine vorläufige empirische Illustration dieser abstrakt deduzierten Prinzipien. Es sei vorab kurz darauf eingegangen, inwiefern der hier dargestellte Gegenstand theoretische und praktische Relevanz aufweist. In der Theoriebildung geht das hier vorgestellte Konzept des diplomatischen Systems weit über die in der IB-Literatur kolportierten Prämissen hinaus. Statt eines „agent-and-structure“-Schemas, das unter wenig fruchtbringenden Debatten etwa über Ontologie leidet (sind Staaten ontisch? Gilt „public opinion“ als Macht, also ist x als y zu sehen?), geht die neuere Systemtheorie von der System/UmweltDifferenz aus und postuliert auf dieser Basis grundsätzlich eine immens hohe Kontingenz in allen Sinndimensionen: Derart also, dass im Prinzip alle Objekte, und nicht bloß eine halb-offene Taxonomie von Militär- und Wirtschaftsressourcen, endogenisierbar sind. Darüber hinaus tangiert das hiesige Thema eine seit Jahrhunderten und Jahrtausenden weitverbreitete Praxis, für die in der IB-Literatur (anders als in der anthropologischen) nur wenig theoretisches Verständnis aufgebracht werden kann: Die diplomatische Nutzung von Geschenken, Ehrenzeichen, Kunstwerken und anderen Objekten ist wahrhaft ubiquitär und bleibt doch im Hinblick auf weltpolitische Mechanismen unverstanden. Im Gegensatz dazu vermag die hier vorgestellte Perspektive (etwa das Misstrauensprinzip) einen in der Komplexitätstheorie lange bekannten Satz aufzuzeigen, nämlich wie sehr scheinbar banale Begebenheiten großdimensionale Konsequenzen stimulieren können.4
4
Vgl. Kavalski, E. 2007. „The Fifth Debate and the Emergence of Complex International Relations Theory.“ Cambridge Review of International Affairs 20 (3): 435–454
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2. Theoretische Überlegungen
Wie kann das Staatensystem scheinbar harmlose Objekte5 integrieren? Traditionelle Theorien der IB konzeptualisieren ein sogenanntes System, das zwei Komponenten aufweist, und zwar eine Struktur auf der einen Seite sowie Akteure auf der anderen Seite.6 Als Akteure dienen politische Gemeinschaften (hauptsächlich Staaten), deren Identität und Verhalten von der Struktur des Systems eingeschränkt werden. Diese Struktur besteht aus materiellen Gütern, sie drückt sich in Militär- und Wirtschaftszahlen aus.7 Jüngere, sogenannte konstruktivistische Perspektiven sprechen hingegen von einer ideellen (und nicht materiellen) Struktur, wobei sich etwa die ideelle Rollenaufteilung von „Freund“ und „Feind“ determinierend auf die Akteure auswirkt.8 In einem dergestalt definierten System haben scheinbar harmlose Objekte ex definitione keinen konzeptuellen Platz. Sie sind im Staatensystem weder als Akteure noch als Struktur zu betrachten, und tertium non datur. Sie sind exogen, bloß ein Rauschen („noise“) in der vom System ausgeschlossenen, ungeordneten Umwelt.
2.1 Moderne Systemtheorie
Die traditionelle, bis heute vorherrschende Sichtweise der IB geht von einem geschlossenen System mit einem starren Akteur-Struktur-Schema aus. Außerhalb der Politikwissenschaften ist jedoch ein solches Konzept vom System überholt. Vielmehr analysiert die (moderne) Systemtheorie (MST) spätestens seit den 1950er Jahren nicht nur geschlossene, sondern auch offene Systeme, d. h. solche, die laufend ihre Umwelt zu beobachten imstande sind. Später kamen, etwa unter dem Stichwort Kybernetik, Theorien der Autopoiesis (Selbstreproduktion) und der Selbstreferenz hinzu, mit deren Hilfe verschiedene wissenschaftliche Richtungen ihren Zugang adaptierten. Dieser Paradigmenwechsel ging zwar von der Thermodynamik und der (Zell-)Biologie aus9, fand aber bald interdisziplinäre Resonanz mit 5
Der Begriff „Objekt“ referenziert nicht nur auf materielle Artefakte, sondern auch auf Menschen, Tiere, Ereignisse und Ideen. Er ist somit weit zu fassen und umfasst letztlich alles, worüber kommuniziert werden kann. Der Begriff der „Harmlosigkeit“ bezieht sich auf Objekte, die weder einen offenkundig militärischen noch einen offenkundig strategisch-wirtschaftlichen Wert aufweisen und somit von den üblichen „rational choice“-Zugängen ausgeblendet werden. 6 De locus classicus dafür ist Waltz, K. N. 1979. Theory of International Politics. McGraw-Hill 7 Mearsheimer, J. J. 2001. The Tragedy of Great Power Politics. W. W. Norton & Company 8 Wendt, A. 1999. Social Theory of International Politics. Cambridge University Press; vgl. auch Keohane, R. O. 2000. „Ideas Part-Way Down.“ Review of International Studies 26: 125–130 9 Vgl. Maturana, H. R., & F. J. Varela. 1980. Autopoiesis and Cognition. D. Reidel Publishing Company; Prigogine, I., & I. Stengers. 1984. Order Out of Chaos. Bantam
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universalem Anspruch10, lappte daher auch auf die Sozialwissenschaften über11, fand hier Bewährung, und konnte mit einem komplexeren Theorieaufbau traditionelle Inkonsistenzen, etwa in Bezug auf die Metaphysik der Ontologie, abbauen, sodass man zu Recht behaupten mag, dass auch der Literatur der IB eine systemtheoretische Rekonzeptualisierung wohltun mag.12 Dies soll im Folgenden kurz versucht werden. Systeme sind offen und geschlossen zugleich. Sie sind offen in Bezug auf Stimuli aus der Umwelt, müssen diese aber operationell verarbeiten, wobei diese Verarbeitung nur systeminternen Strukturen folgt; insofern sind sie umweltoffen, aber operationell geschlossen. Jeder Umweltbezug muss systemintern wahrgenommen, produziert, gefiltert, koordiniert und verstanden werden. Zudem sind Systeme autopoietisch oder selbstreproduzierend, d. h. systeminterne Operationen reproduzieren die systeminternen Elemente und Strukturen selbst, die wiederum weitere systeminterne Operationen ermöglichen. Jede Operation ist anschlussfähig für weitere Operationen. In organischen Systemen mag es sich dabei um biochemische Operationen handeln (z. B. Stoffwechsel), in psychischen Systemen um Bewusstseinsvorgänge13; in sozialen Systemen aber handelt es sich um Kommunikation. Ein soziales System – und das diplomatische System soll als solches verstanden werden – reproduziert sich somit über Kommunikation. Gemäß dem „Order from noise“-Prinzip vermögen Systeme das „Rauschen“ (noise) in der Umwelt in Information umzuwandeln. Die immense Komplexität der Welt, also die Unmöglichkeit, alle in der Welt als „Elemente“ beobachtbaren Einheiten gleichzeitig miteinander zu verbinden, wird reduziert, indem ein Höchstmaß an Kontingenz auf einige systemintern produzierte Optionen eingeengt wird.14 Das diplomatische System mag beispielsweise über das Ereignis einer Tierbewegung als ein bloßes Rauschen hinwegsehen; so bleibt das Tier exogen, d. h. das Diplomatiesystem wird es einfach ignorieren. Kommen jedoch bestimmte, systemintern wahrgenommene Konditionen hinzu, so kann die Tierbewegung nicht bloß als „noise“, sondern als relevante Information beobachtet werden, wonach etwa das Tier mit „Souveränität“ und „China“ assoziiert und systemintern dem generalisierten Symbol von „panda diplomacy“ unterstellt wird. Das Tier wird mit einem systeminternen Sinn durchflutet, in Information transformiert, darüber wird eine Mit10
11 12 13 14
Von Bertalanffy, L. 1950. „An Outline of General System Theory.“ British Journal for the Philosophy of Science 1: 134–165; Ashby, R. 1960. Design for a Brain: The Origin of Adaptive Behaviour. Chapman and Hall; von Foerster, H. 1984. Observing Systems. Intersystems Publications Von Glasersfeld, E. 1997. Radikaler Konstruktivismus. Suhrkamp; Luhmann, N. 1984. Soziale Systeme. Suhrkamp Albert, M., & L. Hilkermeier, eds. 2014. Observing International Relations: Niklas Luhmann and World Politics. Routledge; Albert, M. 2016. A Theory of World Politics. Cambridge University Press Husserl, E. 2013. Logische Untersuchungen. Felix Meiner Verlag Luhmann, N. 1997. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp
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teilung getätigt, deren Verstehen eine systeminterne Kommunikation konstituiert, wobei diese Kommunikation das System der Diplomatie autopoietisch reproduziert und Anschlüsse für weitere systeminterne Kommunikationen offenhält. Der Pandabär fungiert nun als „diplomatisches Objekt“, das generalisierte Symbol von „panda diplomacy“ wird konfirmiert (und somit als eine Identität für den Wiedergebrauch in einer Vielzahl von Situationen im Gedächtnis des Systems festgehalten). Dasselbe gilt für metallene Artefakte, die unter Hinzukommen bestimmter Bedingungen als „staatliche Ehrenzeichen“ in das diplomatische System endogenisiert werden. Diese theoretische Perspektive eröffnet zwei Fragen, nämlich welche Bedeutung das diplomatische System den endogenisierten Objekten beimisst und unter welchen Bedingungen das System einen Umweltstimulus als systeminterne Information wahrnimmt.
2.2 Die semiotische Sicht auf diplomatische Objekte
Das diplomatische System operiert wie jedes soziale System mit Generalisierungen, die die Identität einer Vielheit von Ereignissen für den Wiedergebrauch sicherzustellen vermag. Solche Generalisierungen erlauben Komplexitätsreduktion. Eine der Generalisierungen des diplomatischen Systems besteht in der Attribution von Kommunikationen auf bestimmte soziale Träger in der Form souveräner Staaten, wobei unter Souveränität der Anspruch auf alleinige Machtausübung innerhalb eines räumlich begrenzten Territoriums verstanden wird.15 Die Endogenisierung führt also dazu, dass diplomatische Objekte systemintern einem souveränen Staat attribuiert werden. Es handelt sich dabei um eine semiotische Verweisung; die diplomatischen Objekte sind somit semiotische signifiants bzw signifiers16 souveräner Staaten gegenüber anderen Staaten.17 Eine staatliche Auszeichnung ist somit aus der Perspektive des Diplomatiesystems kein kunsthistorisch interessantes Artefakt, ein Pandabär ist nicht von zoologischem Interesse, sondern sie sind beide mit einer diplomatischen Signifikanz investiert. Die Selbstreferenz ist darin zu sehen, dass das Diplomatiesystem ausschließlich diplomatische, also systeminterne Signifikanz beobachtet. 15 16 17
Spruyt, H. 1996. The Sovereign State and Its Competitors. Princeton University Press; Krasner, S. D. 2001. Sovereignty: Organized Hypocrisy. Princeton University Press Saussure, F. de. 1959. Course in General Linguistics. Philosophical Library; Baudrillard, J., 2001. Selected Writings. Stanford University Press Vgl. die konzeptuelle Affinität zur Definition eines rezenten Standardwerks, wonach Diplomatie the „claim to represent a given polity to the outside world“ darstelle: Sending, O. J., V. Pouliot, & I. B. Neumann. 2015. Diplomacy and the Making of World Politics. Cambridge University Press
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Für den gegenständlichen Zweck ist wesentlich, dass gemäß dieser semiotischen Prämisse die Bewegung eines Objekts vom Staat A (SA) nach Staat B (SB) semiotisch eine zwischenstaatliche Penetrierung bzw. eine „semiotische Invasion“18 von SA in SB bezeichnet.
2.3 Die rituelle Konstruktion diplomatischer Objekte
Nicht jedes Umweltrauschen wird durch das diplomatische System semiotisiert. Kein System hat genug Kapazität, um die gesamte Weltkomplexität Punkt für Punkt in sich aufnehmen zu können. Eben deshalb muss zwangsläufig jedes System Selektion üben. Auch aus Sicht des diplomatischen Systems bleibt daher der größte Teil der Welt exogen.19 Der Mechanismus systeminterner Selektion kann der Einfachheit halber anhand der Interaktionsritualtheorie illustriert werden.20 Im Kern dieser Theorie liegt ein Schema, das in drei Sequenzen unterteilt werden kann: (1.) Die Ko-Präsenz von Individuen mit einem gemeinsamen Fokus wirkt emotional und kognitiv anregend; (2.) die während des Beisammenseins gefühlten Emotionen und die dabei aufkommenden kognitiven Inhalte tendieren, momenthaft aufzutauchen und momenthaft zu verschwinden – allerdings wird jenes Objekt, auf das gemeinsam fokussiert wird, zu einem Symbol des Beisammenseins, das mit ebendiesen emotionalen und kognitiven Inhalten aufgefüllt wird; (3.) auf diese Weise bündelt und perpetuiert das Symbol den emotional-kognitiven Kontext der Situation.21 Die Verleihung staatlicher Ehrenzeichen kann daher ritualtheoretisch derart verstanden 18 19
20
21
Lotman, J. 2005. „On the Semiosphere.“ Sign Systems Studies 33 (1): 205–229 Forschungsleistungen im Bereich der „Actor-Network-Theory“ oder des „New Materialism“ übersehen dies regelmäßig. Vgl. Latour, B. 2005. Reassembling the Social: An Introduction to ActorNetwork-Theory. Oxford University Press; Bennett, J. 2010. Vibrant Matter: A Political Ecology of Things. Duke University Press; Salter, M. B. 2015. Making Things International (2 Bd.). University of Minnesota Press Siehe v. a. Collins, R. 2004. Interaction Ritual Chains. Princeton University Press. Anregung bezog er vor allem von Durkheim und Goffman. Vgl. Durkheim, É. 1995. The Elementary Forms of the Religious Life. Free Press; Goffman, E. 1967. Interaction Ritual. Doubleday Die Ritualtheorie ist zwar systemtheoretisch nicht sauber, hält aber dafür eine einfachere, eine für das Alltagsverständnis zugänglichere Terminologie bereit, die für den Zweck dieses Beitrags genügen mag. Systemtheoretisch wäre zu sagen, dass auch Rituale bloß systeminterne Produkte sind und einerseits als Generalisierungen beobachteter Handlungen fungieren, andererseits als Konditionierungen des systeminternen Selektionszwangs, indem sie den Raum der Anschlussmöglichkeiten einer Kommunikation einengen, d. h. Kontingenz verringern. Konzepte wie „KoPräsenz“, „Emotionen“, „Kognitionen“ usw. sind freilich nicht als ontisch zu verstehen, sondern als systeminterne Konstrukte.
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werden, dass das „metallene Ding“, worauf der Fokus der Ritualteilnehmer unmittelbar gerichtet ist, sich in ein diplomatisches Objekt transformiert. Als Symbol speichert es, vor allem für den Rezipienten des Ordens, die während der Zeremonie aufkommenden Gefühle und Kognitionen über die bloße Momenthaftigkeit hinweg.22 Zugleich wird das diplomatische Objekt semiotisch einem souveränen Staat, dem Geberstaat, attribuiert, da auch darauf der Fokus der Teilnehmer gerichtet ist – erkennbar etwa an den räumlichen Dimensionen der Zeremonie (Botschaftsgebäude) und den dortigen Exponaten (Flaggen, Porträts), die allesamt aus der Beobachterperspektive des diplomatischen Systems eine ebensolche Semiotik aufweisen.
3. Prinzipien und Hypothesen
Neben der Semiotikprämisse lassen sich aus den theoretischen Überlegungen zwei normative Prinzipien ableiten. Zunächst das Instrumentalisierungsprinzip: Wenn SA seine Objekte im Territorium des SB als eigene „signifiers“ betrachtet, wird er seine diplomatischen Objekte als Erweiterung seines Selbst instrumentalisieren. Aus der systeminternen Souveränitätskultur erfolgt ein zweites, nämlich das Misstrauensprinzip: SB reagiert auf fremde diplomatische Objekte standardmäßig mit Misstrauen. Diese drei Prinzipien sind normativ zu verstehen, d. h. als Erwartungen, die auch im Falle faktischer Enttäuschungen aufrechterhalten werden.23 Eine Konsequenz dieser normativen Qualität der Prinzipien ist, dass beispielsweise Misstrauen auch dann herrscht, wenn das diplomatische Objekt aufgrund evidenten, jahrhundertelangen Nicht-Missbrauchs als überaus „harmlos“ gelten kann. Um einige schematische Beispiele zu nennen: SA könnte behaupten, ein Objekt in SB sei sein eigenes, sodass er die Herausgabe des Objekts oder eine Kompensation dafür verlangt; SA wird gegen SB etwa politische Ressourcen zur Erlangung des diplomatischen Objekts mobilisieren. Umgekehrt kann SA proklamieren, dass bestimmte Objekte auf seinem Territorium semiotische Extensionen von SB seien (z. B. „russische“ Denkmäler, „japanische“ Autos, „ausländische“ Bücher), sodass diese zuweilen unter Gewaltanwendung wegzubringen oder zu demolieren seien; Souveränität bedeute nämlich, dass kein ausländisches diplomatisches Objekt das Recht habe, ohne Erlaubnis das Territorium zu „invadieren“. Handelsboykotts, brennende Fahnen, demolierte Denkmäler, die Schließung 22 23
Pacher, A. 2018. „The Ritual Creation of Political Symbols: International Exchanges in Public Diplomacy.“ British Journal of Politics and International Relations 20 (4): 880–897 Luhmann, N. 2015. Ausdifferenzierung des Rechts. Suhrkamp
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von Konfuzius-Institutionen oder das Verbot bestimmter sozialer Medien exemplifizieren solche Fälle. In vielen Fällen dieser Art können Staaten strategisch Rituale in Gang setzen, um die Semiosis zu generieren, d. h. um das diplomatische System dahingehend zu konditionieren, dass es bestimmte Umweltereignisse als diplomatische Objekte und somit als semiotische Zeichen (signifiers) souveräner Staaten endogenisiert. Es sei auch erwähnt, dass empirisch freilich beobachtbar ist, mit welcher Leichtigkeit diplomatische Objekte Grenzen überqueren, mit welcher zur Schau gestellten Freude sie dabei vom Empfängerstaat angenommen werden, sodass sie zuweilen weniger strukturelles Misstrauen auszulösen scheinen, als vielmehr positive Gefühle der Dankbarkeit und Gemeinsamkeit. Man mag daher zumindest tentativ das Misstrauensprinzip modifizieren und zwar derart, dass Verdachtsmomente dann nicht aufkommen, wenn die „semiotische Invasion“ bzw. der diplomatische Objekttransport normgerecht erscheint (oft indiziert durch das Auslösen positiver Emotionen).
4. Präliminare Antworten und ihre theoretische Reichweite
Die Frage: Warum verwenden Staaten diplomatische Objekte? würde mit Referenz auf die Autopoiesis des diplomatischen Systems beantwortet werden. Die Reichweite dieser theoretischen Formulierung ist nicht bloß auf Objektnutzung beschränkt, sondern insofern universal, als dass damit Diplomatie im Allgemeinen als selbst-reproduzierend und selbst-referenziell und somit in ihren Operationen als geschlossen verstanden wird. Eine Folge dessen ist etwa, dass der Diplomatie keine Teleologie, kein extern gegebenes Ziel mehr eigen ist.24 Sie ist nicht mehr einem „foreign policy goal“ subordiniert, sondern kann vielmehr, so paradox dies klingen mag, auch ohne jegliche Außenpolitik operieren. Außenpolitische Ziele sind vielmehr strukturelle Kopplungen zwischen dem diplomatischen und dem innenpolitischen System, während die Semantik von abstrakten „national interests“ (wie Machtgewinn, Überleben oder Weltfrieden) bloß als Symbol für die ewigwährende Autopoiesis des diplomatischen Systems steht.25 Dank dieser Theorieper24
25
Anders etwa bspw. Watson, A. 1982. Diplomacy: The Dialogue Between States. Eyre Methuen; Putnam, R. D. 1988. „Diplomacy and Domestic Politics: The Logic of Two-Level Games.“ International Organization 42 (3): 427 Morgenthau, H. J. 1948. Politics Among Nations: The Struggle for Power and Peace. McGraw-Hill; Der Derian, J. 1987. „Mediating Estrangement: A Theory for Diplomacy.“ Review of International Studies 13 (2): 91–110; Constantinou, C. M. 1996. On the Way to Diplomacy. University of Minnesota Press
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spektive ist daher grundsätzlich zu bemerken, dass Diplomatie von jeder Außenpolitik unabhängig ist. Die Frage: Welche Mechanismen operieren hinter der Nutzung diplomatischer Objekte? würde uns zu Ritualen und zur Souveränitäts-Semiotik führen. Auch diese Erkenntnis ändert grundlegend das Verständnis von Diplomatie im Rahmen üblicher IB-Theorien. Denn die dominanten IB-Sichtweisen reduzieren Diplomatie auf ein temporales Minimum, das inmitten einer Vorher-Nachher-Sequenz versteckt gehalten wird. „Vorher“ wird etwa ein „national interest“ postuliert, während „nachher“ als Output ein bilateraler Vertrag festgestellt wird, wobei die Differenz zwischen dem „Vorher“ und dem „Nachher“ – eine unendlich dünne Grenzlinie – semantisch als „Diplomatie“ bezeichnet wird. Erst wenn ersichtlich wird, dass die Verbindung zwischen den beiden temporalen Seiten nicht-linear ist, wird die dünne Linie, also Diplomatie, verdickt und etwa mit Taxonomien von Verhandlungsstrategien gefüllt.26 Sie bleibt aber als bloße Differenz ontologisch externen Zielen unterstellt. Die systemtheoretische Perspektive würde jedoch jede Irritation, die aus dem temporalen Minimum hervorgeht, ernst nehmen, und diese auf ein dauernd operierendes, eigenständiges System zurückführen. Diplomatie ist demnach nicht mehr bloße Differenz oder konzeptueller Platzhalter, sondern eine autonome soziale Domäne, die permanent, und nicht bloß punktuell, operiert und ebendeshalb irritiert. Die hier vorgeschlagenen Aspekte von Ritualen und der damit verbundenen Semiotik dienen eben diesem Perspektivenwechsel. Die Frage: Welche strukturellen Auswirkungen weist die Bewegung diplomatischer Objekte auf? würde auf das Instrumentalisierungs- sowie auf das Misstrauensprinzip hinweisen. Dieses Misstrauen ist als normativ zu verstehen, d. h. als eine Erwartung, die nicht von empirischen Gegenbeispielen „lernt“, sondern auch gegen Fakten aufrechterhalten wird. Die Folge davon ist, dass aufgrund systeminterner Erwartungsstrukturen letztlich jeder diplomatische Objekttransport potenziell zu Konflikten neigt. Diese systemische Konfliktneigung wird intuitiv in vielen Fällen spürbar, wobei prominente Beispiele in Bezug auf den Kalten Krieg sowie auf China vorhanden sind: Die im Kalten Krieg praktizierte „public diplomacy“ sowie die Ping-Pong-Diplomatie, aber auch die heute proliferierenden Praktiken der Panda-Diplomatie oder der Konfuzius-Institute sind nicht ohne das dahintersteckende strukturelle, normative Misstrauen zu analysieren. Das Trojanische Pferd steht exemplarisch für diese systeminterne Erwartungsstruktur. Da sich jedes noch so banale Objekt konfliktträchtig immens ausweiten kann, nähert sich die hier vorgestellte Perspektive chaos- und komplexitätstheoretischen Grundsätzen.27 26
27
George, A., and G. A. Craig. 1983. Force and Statecraft: Diplomatic Problems of Our Time. Oxford University Press; Kornprobst, M. 2019. Co-Managing International Crises: Judgments and Justifications. Cambridge University Press Rosen, R. 1977. „Complexity as a System Property.“ International Journal of General Systems 3 (4): 227–232
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5. Staatliche Ehrenzeichen – eine empirische Illustration
Staatliche Ehrenzeichen sind ein im weltpolitischen System ubiquitäres Instrument, dessen Wurzeln mindestens bis in die Antike reichen. Von scheinbar harmlosen Objekten macht die Diplomatie zuhauf Gebrauch, aber staatliche Ehrenzeichen weisen insofern Besonderheiten auf, als dass sie heute weltweit vertreten und rechtlich geregelt sind. Ihre Verrechtlichung sowohl auf verfassungsrechtlicher als auch auf einfachgesetzlicher Ebene erlaubt es, sie zur empirischen Illustration des Instrumentalisierungs- und des Misstrauensprinzips heranzuziehen. Als Einheiten dieser empirischen Illustration fungieren Staaten, wobei alle UN-Mitgliedstaaten sowie einige zusätzliche, teils umstrittene Gemeinwesen, die Souveränität für sich beanspruchen28, umfasst sind. Insgesamt handelt es sich um 203 Staaten (de iure und de facto). Die Analyse folgt in zwei Schritten. Einleitend werden ihre Verfassungen in englischer Sprache nach den Stichworten „award“, „honor“, „honour“, „bestow“, „confer“, „medal“, „merit“ usw. gescreent, um einen deskriptiven Überblick über das Vorkommen staatlicher Ehrenzeichen zu erlangen. Als Quellenmaterial für diese verfassungsrechtlichrechtsvergleichende Analyse dient allen voran The Constitute Project29, das fast alle geltenden Verfassungen dieser Welt in englischer Sprache zusammensammelt. In einem zweiten Schritt wird sohin die einfachgesetzliche Ebene betrachtet. Dabei werden alle offiziellen Rechtsdatenbanken dieser Welt nach ebendenselben Schlagwörtern, teils mithilfe von Google Translate30 durchsucht. Die genaue methodologische Vorgehensweise ist bei Open Science Framework niedergelegt; nach all dem dienen insgesamt 203 Verfassungen sowie nationale Gesetze bezüglich staatlichen Ehrenzeichen aus 104 Ländern31 als Empiriematerial. Dieses wird einer Inhaltsanalyse unterzogen, das Normentypen clustert und quantifiziert, also letztlich eine deskriptive Statistik liefert. 28
29 30
31
Bei den Nicht-UN-Mitgliedstaaten handelt es sich neben dem Hl. Stuhl auch um Abchasien, Donezk, Kosovo, Lugansk, Nagorno-Karabakh, Somaliland, Südossetien, und Transnistrien – zur Diplomatie solcher De-facto-Staaten siehe auch Pacher, A. 2019. „The Diplomacy of Post-Soviet De Facto States: Ontological Security under Stigma.“ International Relations 33 (4): 563–585. Elkins, Z., T. Ginsburg, J. Melton, R. Shaffer, J. F. Sequeda, and D. P. Miranker. 2014. „Constitute: The World’s Constitutions to Read, Search, and Compare.“ Journal of Web Semantics 27: 10–18 Zur wissenschaflich überraschend hohen Brauchbarkeit von Google Translate siehe de Vries, E., M. Schoonvelde, and G. Schumacher. 2018. „No Longer Lost in Translation: Evidence That Google Translate Works for Comparative Bag-of-Words Text Applications.“ Political Analysis 26 (4): 417–430 Nationale Rechtsdatenbanken vieler Länder erlauben leider keinen effizienten Zugang zu Rechtsquellen, da sie etwa unvollständig oder kostenpflichtig sind; dies erklärt das eher kärgliche Resultat von bloß 104 nationalen einfachgesetzlichen Rechtstexten.
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Aus dieser „leximetrischen“ Analyse werden folgende Erkenntnisse sichtbar: • Ubiquität: 195 von 203 (oder 96 % der) Staaten verwenden staatliche Ehrenzeichen.32 • Politische Signifikanz: In allen diesen Fällen stellen staatliche Ehrenzeichen ein Prärogativ der höchsten politischen Ebene, also des Staatsoberhaupts (bzw. in „sozialistischen“ Rechtsfamilien: einer kollektiven Körperschaft) dar.33 Folgende relevante Normen sind in den 104 einfachgesetzlichen Regelungswerken besonders auffällig: • Das Recht zum Widerruf verliehener Ehrenzeichen: 65 Staaten (oder 62,5 %) behalten sich im Falle (eines weitformulierten) „staatsfeindlichen“ Handelns vonseiten des Rezipienten ein Recht zum Widerruf verliehener Ehrenzeichen vor. • Das Verbot zur Annahme ausländischer Ehrenzeichen: 39 Staaten (oder 37,5 %) stipulieren Regeln, wonach es ihren Staatsangehörigen untersagt sei, Ehrenzeichen fremder Staaten anzunehmen (es sei denn, ihr eigenes Staatsoberhaupt stimmt zu). Das Recht zum Widerruf verliehener Ehrenzeichen erweitert die Macht des Geberstaates über den (ausländischen) Rezipienten, sodass darin das Instrumentalisierungsprinzip sichtbar wird. Das Verbot zur Annahme ausländischer Ehrenzeichen illustriert das Misstrauensprinzip. Die Prinzipien sind normativ, d. h. es handelt sich um Erwartungen, die „auch im Enttäuschungsfalle kontrafaktisch festgehalten“ werden.34 Staaten mögen jahrhundertelang ihre Ehrenzeichen niemals missbraucht haben – das Objekt mag sich in der Empirie als 32
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Bei den acht Staaten, die keine staatlichen Auszeichnungen zu haben scheinen, handelt es sich traditionellerweise um die Schweiz, aber auch um die pazifischen Inselstaaten der Marschallinseln, Mikronesien, Nauru, Palau und Tuvalu (Letzteres bedarf jedoch noch der Klärung – angeblich wurde kürzlich ein „Tuvalu Order of Merit“ gegründet, allerdings sind dazu nur private Medienberichte und keine offiziellen Quellen auffindbar); ferner um die Seychellen im Indischen Ozean sowie um Libyen (ein gewisser „Orden der Republik“ scheint seit den 1970er Jahren nicht mehr in Verwendung zu sein; nach der libyschen „Kulturrevolution“ unter Gaddafi ist dessen legale Existenz fraglich). Um dies beispielhaft aufzuzeigen: 114 Verfassungen bemerken, dass es sich bei der Vergabe von staatlichen Auszeichnungen um eine Aufgabe bzw. ein Recht des Souveräns handelt – in 92 Fällen ist dies der Präsident, ansonsten ein monarchischer Herrscher (König, Sultan, Emir etc.); nur in einigen lateinamerikanischen Ländern (Bolivien, Kuba, Dominikanische Republik, El Salvador, Honduras und Uruguay) sowie in Nordkorea sind es kollektive Körperschaften, denen diese Aufgabe verfassungsmäßig obliegt. Dabei handelt es sich jeweils um das Parlament oder zumindest um ein leitendes Gremium innerhalb des Parlaments. Luhmann, N. 1984. Soziale Systeme. Suhrkamp, S. 437
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wahrhaft harmlos herausstellen. Aufgrund der normativen Natur der Souveränitätserwartung bleibt das strukturelle Misstrauen dennoch bestehen.
6. Schluss
Der Beitrag konnte die theoretische Ausführung der diplomatisch-systemischen Signifikanz staatlicher Ehrenzeichen nur knapp skizzieren. Gleichwohl kann der Wert der modernen Systemtheorie darin gesehen werden, dass die Analyse deduktiv eine systeminterne Rationalität für den diplomatischen Gebrauch harmloser Objekte fand, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die im Text beanspruchte Perspektive mehr Sensibilität für die diplomatische Praxis aufweist als die üblichen, militär- und ökonomiezentrierten Theorien der IB. Die Komplexität des diplomatischen Systems erlaubt es offenbar nicht, mit einer einfachen Typologie angeblich relevanter Materien der Weltpolitik zu beginnen; vielmehr müssen zunächst die Autopoiesis und die Selbstreferenz des Systems selbst in den Blick genommen werden, um zu bestimmen, was als Umweltrauschen und was als systeminterne Information fungiert. Ehrenzeichen und andere scheinbar harmlose Objekte gehören offenbar zur letzteren Kategorie.
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„Stätten“ der Wissenschaft, der Lehre und der Künste in der Österreichischen Bundesverfassung1 Teresa Schön
1. Vorwort
Das Wort „Universität“ stammt vom lateinischen Terminus „universitas“ und bedeutet übersetzt „Gesamtheit“. Während die Wurzeln der Universität, wie wir sie heute kennen, weit ins Mittelalter zurückreichen, steht die Bezeichnung symbolisch nach wie vor für die Werte, die die Universität bis zum heutigen Tage verkörpert. Sie umfasst in ihrer Gesamtheit die Wissenschaften und Künste und mit ihnen die Lehrenden und Lernenden dieser Institution. Die Bedeutung der Universitäten als Zentren des Wissens und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Politik und Gesellschaft sind unbestritten. Der vorliegende Beitrag soll die Universitäten in ihrer organisatorischen Funktion im österreichischen Staatsgefüge vorstellen und auf die Besonderheiten ihrer juristischen Ausgestaltung hinweisen. Nachdem die Universitäten erst 2008 explizit in den Verfassungstext des B-VG2 aufgenommen wurden, ist für das Verständnis der heute in Geltung stehenden juristischen Fasson der Universität ein historischer Rückblick für eine rechtsdogmatische Analyse unerlässlich. Gleichzeitig bietet er einen interessanten Einblick in die österreichische Grundrechtsgeschichte. Von diesem ausgehend sollen zentrale Wesensmerkmale der Universitäten näher beleuchtet werden. Der Fokus dieser Untersuchung liegt dabei auf der Autonomie der Universitäten gegenüber dem Staat. Im Rahmen eines allgemeinen Überblicks werden die Eigenschaften der Universitätsautonomie ergründet, um anschließend 1
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Dieser Beitrag versteht sich als Hommage an den Jubilar, dessen Leben und Wirken stets von der Wissenschaft, der Lehre und den Künsten geprägt und begleitet wurde. Seine langjährige, internationale Lehrtätigkeit in den Bereichen der Kunst, Geschichte, Kultur und Religion sowie seine zahlreichen Verdienste als Vorstandsmitglied der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen zeugen von gelebter Wissenschaft in ihren unterschiedlichen Facetten. Aus diesem Grund ist es der Autorin ein Anliegen, Prof. Wolfgang Bandion mit einem Beitrag zu ehren, der sich mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Universitäten in der Österreichischen Bundesverfassung beschäftigt. Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz) BGBl 1920/1 idF BGBl I 2019/57.
„Stätten“ der Wissenschaft, der Lehre und der Künste in der Österreichischen Bundesverfassung
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ihre Auswirkungen auf die Universitätsorganisation nach dem Universitätsgesetz 20023 zu untersuchen. Schließlich soll ein Blick auf die Grundrechte die gesellschaftspolitische Relevanz der Materie betonen und das Verständnis für die einzigartige juristische Gestalt der Universitäten abrunden. In Anbetracht der komplexen verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Beschaffenheit universitärer Vorschriften ist es nicht die Absicht dieses Beitrags sich in den Tiefen verfassungsrechtlicher Kontroversen zu verlieren, sondern ein Gerüst für das Verständnis der zentralen Themenkomplexe zu errichten.
2. Die Grundlagen des österreichischen Universitätsrechts vom Stiftbrief Herzog Rudolfs IV. bis zur Verankerung der Universitäten im B-VG
Die Geschichte der einzigartigen Position der Universität im österreichischen Staatsgefüge geht auf die Gründungsurkunde beziehungsweise den Stiftbrief der Universität Wien aus dem Jahr 1365 zurück. Als Errichtungsakt gilt die landesfürstliche Stiftung des Habsburger Herzogs Rudolf IV. von Österreich. Die päpstliche Konfirmation durch Papst Urban V. verlieh der Universität den staatlich und kirchlich geprägten Charakter einer „Corporation“. Das allgemeine Privilegium, bestehend aus der Stiftung und der päpstlichen Lehrerlaubnis, brachte der Universität weitreichende autonome Befugnisse in den Bereichen Organisation und Haushalt. Neben dem eigenen Satzungsrecht und der öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Vermögensfähigkeit verfügte die Universität über Maut- und Steuerfreiheit. Universitätsangehörige genossen Immunität. Die körperschaftlich in Gesamtuniversität und vier Fakultäten4 sowie vier Nationen5 gegliederte Universität unterstand mit ihren weitreichenden Privilegien lediglich kirchlicher und weltlicher Aufsicht.6 Nach und nach folgten 1585 die Gründung der Karl-Franzens-Universität Graz, 1669 die Gründung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und 1692 die Errichtung der Aka3 4
Universitätsgesetz 2002 (UG) BGBl I 2002/120 idF BGBl I 2019/3. Die vier Fakultäten gliederten sich in die artistische, juridische, medizinische und theologische Fakultät. Da die Zustimmung von Papst Urban V. zur Errichtung der theologischen Fakultät erst später erfolgte, wurde die Universität Wien erst 1384 zur „Volluniversität“. Vgl Mühlberger, Anfänge der Alma Mater Rudolphina, geschichte.univie.ac.at (Stand 01.10.2018). Zur Kontinuität der Fakultäten siehe Strejcek, Wirtschaft, Welthandel und Recht (2017) 38 f. Die vier Akademischen Nationes konstituierten sich aus den Natio Australium, Rhenensium, Un5 garorum und Saxonum. 6 Vgl. Strejcek, Erlerntes Recht. Zur Ausbildung von Juristinnen und Juristen an der Wiener Universität 1365–2015 (2015) 21 ff.; Winkler, Die Rechtspersönlichkeit der Universitäten (1988) 5–9; Mühlberger, Anfänge der Alma Mater Rudolphina, geschichte.univie.ac.at.
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demie der bildenden Künste in Wien. Speziell im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden weitere bedeutende Einrichtungen für die österreichische Universitäten-Landschaft errichtet.7 Über die einzelnen Epochen hinweg war die Universität als Ort der geistigen Auseinandersetzung und des wissenschaftlichen Fortschritts stets Schauplatz eines Kräftemessens zwischen kirchlichem und weltlichem Einfluss. Einen historischen Einschnitt in Richtung organisatorische Selbständigkeit stellten ab 1749 die Reformen Maria Theresias im Rahmen der Unterstellung der Universitätsorganisation unter die Staatsverwaltung dar. Der Gedanke der Universitätsautonomie, wie er heute verstanden wird, wurde erstmals im Zuge der Reorganisation des Universitätswesens durch den Unterrichtsminister Leo Graf von Thun-Hohenstein ab 1848 verwirklicht.8 Dem Professorenkollegium wurde die „unmittelbare Leitung“ in allen Unterrichtsangelegenheiten übertragen. Der akademische Senat wurde als „oberste akademische Behörde“ eingerichtet und war für alle allgemeinen Angelegenheiten zuständig, die das Disziplinarrecht, die Verwaltung und den Unterricht betrafen.9 Erstmals frei von staatlicher und kirchlicher Kontrolle konnten die Universitäten in „unmittelbarer Wissenschaftsverwaltung“ bestimmte autonome Befugnisse wahrnehmen. Sie erstreckten sich auch auf die Verleihung der Habilitation und die Erteilung von Berufungsvorschlägen. Bei der Ausübung dieser Befugnisse unterlagen die akademischen Organe keiner Weisungspflicht. Daher wird von diesem Zeitpunkt an erstmals von der Autonomie der Universität in Wissenschaft und Lehre gesprochen.10 Vollendet wurde der liberale Gedanke der Wissenschaftsfreiheit mit Art. 17 des Staatsgrundgesetzes vom „21. December 1876, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder“ (StGG)11: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“ Das anlässlich der Verankerung der Wissenschaftsfreiheit durch das StGG erlassene Gesetz betreffend die Organisation der Universitätsbehörden von 187312 unterband vollständig den kirchlichen Einfluss auf die Universitätsverwaltung.13 Mit seiner einfachen, doch be7
Zu den vielen bedeutenden Einrichtungen zählt insbesondere die Universität für angewandte Kunst in Wien, an welcher auch der Jubilar als Vortragender lehren durfte. Sie wurde 1867 ursprünglich als k.k. Kunstgewerbeschule gegründet und residiert noch heute in dem von Heinrich von Ferstel entworfenen Gebäude an der Wiener Ringstraße. Siehe dazu ausführlich Werkner, Geschichte der Angewandten. Von der k.k. Kunstgewerbeschule zur heutigen „Angewandten“, dieangewandte.at (abgefragt am 02.02.2020). Vgl. Provisorisches Gesetz über die Organisation der akademischen Behörden RGBl 1848/401. 8 9 Vgl. Kucsko-Stadlmayer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht I/3 (10. EL 2011) Art. 81c Rz 1. 10 Vgl. Berka in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (22. EL 2019) Art. 81c, 3. 11 RGBl 1857/142. 12 RGBl 1873/63. 13 Gleichzeitig einher ging damit eine zunehmend finanzielle Abhängigkeit der Universitäten
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deutungsschweren Formulierung spielt der bis heute in Geltung stehende Art. 17 StGG seit jeher eine zentrale Rolle im System der Grundrechte und ist ein wesentliches Element der Universitätsautonomie. Bemerkenswert ist, dass die Universitäten im Verfassungstext des B-VG 192014 zunächst keine Erwähnung gefunden haben. Dies führte zu einer Vielzahl zersplitterter universitätsrechtlicher Verfassungsbestimmungen, welche die Rufe nach einer Verfassungsrechtsbereinigung lauter werden ließen.15 Eine eigene Bestimmung iSe „Universitätsartikels“, die explizit die Universität als Institution normiert, wurde erst im Jahr 2008 mit Art. 81c B-VG16 in den Text der Stammverfassung aufgenommen. Obwohl dieser Artikel zwar lediglich das geltende Verfassungsrecht zusammenfassen sollte,17 gingen mit ihm einige Abweichungen von der bisherigen Rechtslage einher. Auch wenn die Wortfolge des Art. 81c B-VG „Stätten freier wissenschaftlicher Forschung, Lehre und Erschließung der Künste“ ein Novum im Vergleich zum Stil der bisherigen Verfassungsbestimmungen darstellt, erinnert sie dennoch an den Wortlaut des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 17 StGG18 und schließt damit den Kreis zu den Anfängen der Universitätsautonomie.
3. Die Rechtsnatur der öffentlichen Universitäten 3.1 Die autonome Beschaffenheit der Universität und deren Rechtsgrundlagen
Die Bundesverfassung definiert seit 2008 die öffentlichen Universitäten gemäß Art. 81c B-VG als „Stätten“. Die Wahl dieses Begriffes ist durchaus bemerkenswert und verdient genauere Betrachtung: Das B-VG erwähnte bis zur B-VG-Novelle 2008 weder den Ausdruck der „Stätte“, noch regelte es den Begriff der „Universität“ selbst.19 Während die Universität als Institution des tertiären Bildungssektors einfachgesetzlich schon lange Zeit in vom Staatshaushalt. Vgl. Kucsko-Stadlmayer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), B-VG I/3 Art. 81c Rz 1. 14 Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz) BGBl 1920/1. 15 Vgl. hierzu die Diskussionen des Österreich-Konvents von 2003–2005. Für genaue Informationen zur Tätigkeit des Österreich-Konvents und die Quellensammlung Verfassungsreform siehe konvent.gv.at (abgefragt am 02.02.2020). BGBl I 2008/2. 16 17 Vgl. Ministerialentwurf Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz, 94/ME 23. GP Erläut 11. 18 Vgl. Berka in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), B-VG Art 81c, 8 f. 19 Lediglich die Kompetenzbestimmungen der Art. 14 Abs. 10 bzw. Art. 14a Abs. 1 B-VG erwähnten schon vor 2008 das Universitäts- und Hochschulwesen.
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der österreichischen Rechtsordnung besteht, ist bis dato das Wort „Stätte“ kein allgemein gebräuchlicher juristischer Terminus. Der Verfassungsgesetzgeber vermied also bewusst, eine etablierte juristische Bezeichnung für die Universitäten zu wählen und damit eine klare Einordnung in das bereits bestehende Verfassungsgerüst vorzunehmen.20 So wurde auch dem Vorschlag des Österreich-Konvents21 nicht gefolgt, ein Recht der Universitäten auf Selbstverwaltung in den Verfassungstext explizit aufzunehmen. Der Gesetzgeber zog es konsequenterweise vor, den „Universitätsartikel“ nicht in das Fünfte Hauptstück „Selbstverwaltung“, sondern in das Dritte Hauptstück „Vollziehung des Bundes“ einzugliedern.22 Die Unterschiede klaffen besonders in Hinblick auf die Organisationsregelungen auseinander. Selbstverwaltungskörper unterstehen überdies einer Rechtsund Zweckmäßigkeitsaufsicht und es können ihnen Aufgaben der staatlichen Verwaltung übertragen werden. Die Universitäten nehmen infolgedessen eine spezielle verfassungsrechtliche Sonderstellung im österreichischen Verfassungsgefüge ein. Die herrschende Lehre spricht von „selbständigen Anstalten des öffentlichen Rechts“, die lediglich eine der Selbstverwaltung verwandte Einrichtung darstellen.23 Nach der Kompetenzverteilung der Bundesverfassung fallen die Angelegenheiten der Universitäten und Hochschulen unter den Tatbestand des Art. 14 Abs. 1 B-VG „Schulwesen“ und unterliegen in Gesetzgebung und Vollziehung dem Bund. Die Kompetenz des Bundes umfasst die Errichtung, Organisation und Anerkennung von Institutionen des postsekundären Bildungssektors. Er erlässt studienrechtliche Vorschriften, regelt die generellen Rechte und Pflichten der Studierenden und ist außerdem zuständig für die Errichtung der gesetzlichen Studierendenvertretung.24 Die öffentlichen Universitäten werden von Art. 81c B-VG ermächtigt, „autonom“ zu handeln. Die Mitglieder der universitären Kollegialorgane sind weisungsfrei gegenüber dem Staat.25 In Universitätsangelegenheiten darf der Instanzenzug nicht an staatliche Organe im Sinne des Art. 20 Abs. 1 B-VG und damit auch nicht an die zuständige Bundesministerin oder den zuständigen Bundesminister führen.26 Die autonome Handlungsfähigkeit beinhaltet insbesondere die Satzungs20
Strejcek spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „reichlich diffusen Begriff“. Vgl. Strejcek, Bildungsgrundrechte – einst und heute, in FS Ebert (2019) 905 (913). Vgl. FN 14. 21 22 Vgl. Kucsko-Stadlmayer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), B-VG I/3 Art. 81c Rz 19 f. 23 Vgl. Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht12 (2019) Rz 563 f.; Berka, Verfassungsrecht7 (2018) Rz 1244; Eberhard, Die Garantien für Selbstverwaltung und Universität, JPR 2007/15, 350 (362); Kucsko-Stadlmayer in Perthold-Stoitzner, UG3.01 § 81c Rz 4 (Stand 1.12.2018, rdb.at). 24 Vgl. Hammer/Perthold, Hochschulrecht, in Kolonovits/Muzak/Perthold/Piska/Strejcek (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht2 (2017) 585 (586). 25 Vgl. auch § 20 Abs. 3 UG. 26 Vgl. Kucsko-Stadlmayer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), B-VG I/3 Art. 81c Rz 49.
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autonomie, innerhalb derer die Universitäten selbst generelle Rechtsakte im Rahmen der Gesetze erlassen dürfen. Diese Rechtsakte erscheinen in Form von „universitätsautonomen Verordnungen“; als solche ist die Satzung der Universität, welche die universitätsinternen Regelungen enthält, zu qualifizieren.27 Seit dem Universitätsgesetz 2002 sind Universitäten juristische Personen des öffentlichen Rechts.28 Sie sind daher rechtsfähig und können Träger von Rechten und Pflichten sein. Damit ist nicht nur eine – im gesetzlich vorgegebenen Umfang – zivil- und öffentlich-rechtliche Handlungsfähigkeit gewährleistet, sondern auch die Fähigkeit, Träger von Grundrechten zu sein.29 Das UG 2002 enthält Bestimmungen zum Organisationsrecht, zum Studienrecht, zum Recht der Angehörigen der Universität bzw. zum Personalrecht sowie Regelungen zu den Liegenschaften und Räumlichkeiten der Universität. Darüber hinaus enthält es Strafbestimmungen, welche Delikte im Zusammenhang mit der Führung unberechtigter akademischer Grade, von Titeln oder sonstigen dem Hochschulwesen eigentümlichen Bezeichnungen sanktioniert.30 Die Aufsicht über die Universitäten, die aufgrund der weitreichend autonomen Stellung als bloße Rechtsaufsicht ausgestaltet ist, liegt beim Bund.31 Sie erstreckt sich auf die Einhaltung der Gesetze und Verordnungen sowie auf die Einhaltung der Satzung der Universität selbst. Setzen die Organe der Universität rechtswidrige individuelle Akte oder erlassen eine gesetzwidrige Verordnung (VO), so hat die zuständige Bundesministerin oder der zuständige Bundesminister gegen diese Akte vorzugehen. Individuelle Akte (Wahlen, Entscheidungen und Beschlüsse) kann die zuständige Bundesministerin oder der zuständige Bundesminister mittels Bescheid und VO mittels VO aufheben. Im Rahmen behördlicher Angelegenheiten haben die Universitäten das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG)32 anzuwenden. Gegen Bescheide der Universität kann Bescheidbeschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) erhoben werden.33 In Hinblick auf die tatsächliche Ausgestaltung der autonomen Befugnisse ist festzuhalten, dass Art. 81c B-VG das Legalitätsprinzip des Art. 18 B-VG in der Hinsicht modifiziert, sodass die Gesetze nicht Grundlage des hoheitlichen Handelns sein müssen, sondern lediglich als Grenze zu verstehen sind.34 Wie weit der Spielraum der Universitäten bei der 27 § 5 UG; vgl. auch Art. 81c B-VG. 28 § 4 UG. 29 Vgl. Huber, Rechtsfragen der vollrechtsfähigen Universität (2003) 25 ff. 30 § 116 UG. 31 Vgl. § 9, 45 UG; vgl. auch Art. 17 Abs. 5 StGG. 32 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG), BGBl 1991/51 idF BGBl I 2018/58. 33 §§ 9, 45ff UG; vgl. Hammer/Perthold in Kolonovits/Muzak/Perthold/Piska/Strejcek (Hrsg.), 585 (589 f.). 34 Vgl. die gleichartige Formulierung des Art. 120b Abs. 1 B-VG für die Körperschaften der sonstigen Selbstverwaltung. Berka in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), B-VG Art. 81c, 25.
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Satzungsautonomie tatsächlich reicht, ist insbesondere aufgrund der unscharfen Formulierungen des § 19 UG nicht immer eindeutig. Diese Fragen sind besonders bei rechtspolitisch sensiblen Themen kritisch; so gab es beispielsweise zahlreiche Diskussionen zur Regelung des Hochschulzugangs oder zur Festsetzung von Studienbeiträgen.35 Eine weitere Besonderheit innerhalb der Universitätsautonomie stellt das Recht auf „Selbstergänzung“ dar. Es beinhaltet die Personalhoheit und die Befugnis, die Lehrbefugnis (venia docendi) für ein ganzes wissenschaftliches oder künstlerisches Fach gem § 103 UG zu erteilen. Über die Verleihung der venia docendi entscheidet eine vom Senat entscheidungsbevollmächtigte Habilitationskommission.36 Art. 81c Abs. 2 B-VG sieht auch eine Ausnahme im Hinblick auf den im Art. 3 StGG vorgesehenen Staatsbürgervorbehalt für „öffentliche Ämter“ vor und verwirklicht das rechtspolitische Ziel der „Internationalisierung der Wissenschaft“.37 Die Finanzierung der öffentlichen Universitäten erfolgt gemäß § 12 Abs. 1 UG durch Mittel des Bundes; damit ist die finanzielle Autonomie sehr eingeschränkt. Die Festsetzung von Studienbeiträgen fällt nach herrschender Ansicht nicht unter die verfassungsrechtlich geschützten autonomen Befugnisse.38 Die Universitäten erhalten vom Bund ein Globalbudget, über welches sie im Zuge der jeweils ausgehandelten Leistungsvereinbarungen frei verfügen können. Die Leistungsvereinbarungen sind öffentlich-rechtliche Verträge, die von den einzelnen Universitäten und dem Bund für einen Zeitraum von drei Jahren abgeschlossen werden (§ 13 UG). Der Inhalt der Leistungsvereinbarung umfasst die von der Universität zu erbringenden Leistungen einerseits und die Finanzierungszusage des Bundes andererseits. Innerhalb der Universität werden die Verpflichtungen gegenüber dem Bund mithilfe von Zielvereinbarungen verwirklicht.39
3.2 Das Organisationsrecht nach dem UG 2002
Art. 81c B-VG geht von der Existenz öffentlicher Universitäten aus. Seinem Wortlaut nach lässt sich eine verfassungsrechtliche Bestandsgarantie für die Errichtung mindestens zweier öffentlicher Universitäten ableiten.40 Unter den Begriff der „öffentlichen Universität“ im 35 Gamper, Was ist die Satzung der Universität? zfhr 2012, 107 (114 ff.). 36 Vgl. Kucsko-Stadlmayer in Perthold-Stoitzner, UG3.01 § 81c Rz 4. 37 Vgl. Berka in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), B-VG Art. 81c, 30. 38 Vgl. Kucsko-Stadlmayer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), B-VG I/3 Art. 81c Rz 64 ff. 39 Vgl. Hammer/Perthold in Kolonovits/Muzak/Perthold/Piska/Strejcek (Hrsg.) 585 (591 f.). 40 Diese Absicht des Gesetzgebers ist aus der Verwendung des Plurals abzuleiten. Vgl. dazu Stöger, Universitäten und Hochschülerschaften, in: Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft (Hrsg.), Selbstverwaltung in Österreich (2009) 227 (247 f.).
„Stätten“ der Wissenschaft, der Lehre und der Künste in der Österreichischen Bundesverfassung
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Sinne des Art. 81c B-VG fallen derzeit 21 Universitäten, auf die das UG 2002 ausdrücklich seinen Geltungsbereich erstreckt.41 Nicht von dieser Bestimmung erfasst sind Privatuniversitäten im Sinne des Privatuniversitätengesetzes42, Fachhochschulen und Pädagogische Hochschulen.43 Einer Veränderung innerhalb der universitären Landschaft würde Art. 81c B-VG prinzipiell nicht entgegenstehen.44 Das UG sieht im zweiten Abschnitt des ersten Teils Vorschriften zur Leitung und zum inneren Aufbau der Universität vor. § 20 UG bestimmt für alle Universitäten zu den obersten Organen den Universitätsrat, das Rektorat als Kollegialorgan, die Rektorin/den Rektor und den Senat. Der Universitätsrat bekleidet die Rolle des Aufsichtsorgans und soll gemäß § 21 UG seine Aufgaben „begleitend und vorausschauend“ wahrnehmen. Bei seiner Zusammensetzung wird der Bund eingebunden: Dem Universitätsrat können fünf, sieben oder neun Mitglieder angehören. Jeweils gleich viele sind einerseits von der Bundesregierung auf Vorschlag der zuständigen Bundesministerin oder des zuständigen Bundesministers zu bestellen und andererseits vom Senat zu wählen. Ein weiteres Mitglied ist im Einvernehmen mit den jeweiligen Mitgliedern gemeinsam zu bestellen. Unvereinbarkeitsbestimmungen sollen die Unabhängigkeit der Mitglieder sowohl gegenüber dem Bund als auch gegenüber der Universität selbst gewährleisten. Die Aufgaben des Universitätsrats sind großteils strategischer Natur. Neben anderen organisatorischen Tätigkeiten ist er für die Genehmigung des Entwicklungsplans, des Organisationsplans und für den Entwurf der Leistungsvereinbarung zuständig. Er wählt die Rektorin/den Rektor aus einem Dreiervorschlag des Senats bzw. die Vizerektorinnen und Vizerektoren auf Vorschlag der Rektorin/ des Rektors. In der Regel wird der Universitätsrat nicht selbständig tätig, sondern handelt aufgrund eines Vorschlags oder im Zusammenwirken mit einem anderen obersten Organ. Das Rektorat ist das Leitungsorgan der Universität und vertritt diese nach außen. Als Kollegialorgan besteht es aus der Rektorin/dem Rektor und den Vizerektorinnen und Vizerektoren. Neben einem umfassenden Aufgabenkatalog (§ 22 Abs. 1 UG) ist es darüber hinaus subsidiär für alle Aufgaben zuständig, die nicht einem anderen Organ zugewiesen sind. Die Rektorin/der Rektor ist Vorsitzende/r bzw. Sprecher/in des Rektorats. Die Vizerektorinnen und Vizerektoren sind jedoch in ihrer Funktion an keine Weisungen oder Aufträge der Rektorin/des Rektors im Sinne des Artikels 81c Abs. 1 B-VG gebunden. Während das UG einzelne Aufgaben direkt der Rektorin/dem Rektor überträgt, enthält 41 42 43
Vgl. § 6 UG. Privatuniversitätengesetz (PUG) BGBl I 2011/74 idF BGBl I 2018/31. Zu Abgrenzungs- und Strukturfragen der öffentlichen Universität zur Privatuniversität, der öffentlichen und privaten Pädagogischen Hochschule sowie Fachhochschulen siehe Strejcek, Zur Neuordnung des postsekundären Bildungssektors, JPR 2016/3, 209. 44 Vgl. Berka in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), B-VG Art. 81c, 17 f.
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die Geschäftsordnung des Rektorats nähere Ausführungen, von welcher Person welche Agenden innerhalb des Rektorats zu besorgen sind. Für die Genehmigung der Geschäftsordnung des Rektorats, welche bei ihrer erstmaligen Erlassung mit Stimmenmehrheit bei Anwesenheit aller Vizerektorinnen und Vizerektoren zu beschließen ist,45 ist wiederum der Universitätsrat zuständig. Die Geschäftsordnung selbst kann sodann für weitere Beschlüsse besondere Konsensquoren festlegen. Eine weitere Säule der obersten Universitätsorgane bildet der Senat. Die Zusammensetzung des Senats beruht auf dem Prinzip der Mitbestimmung der Universitätsangehörigen.46 Zu diesen zählen, grob zusammengefasst, Vertreterinnen und Vertreter der Universitätsprofessoren, der Universitätsdozenten, des allgemeinen Universitätspersonals und der Studierenden. Der Senat ist in alle wichtigen Entscheidungen der Universität eingebunden und ist das zentrale Organ in Studien- und Studienrechtsangelegenheiten.47 Zu seinen bedeutendsten Aufgaben zählen die Erlassung und Änderung der Satzung gemäß § 25 Abs. 1 Z 1 UG, die Mitwirkung an Habilitations- und Berufungsverfahren (Z 8 und 9) und die Erlassung und Änderung von Curricula für Studien (Z 10). Seit der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 201248 hat der Senat im Rahmen des Beschwerdevorentscheidungsverfahrens gemäß § 14 VwGVG49 bei Beschwerden in Studienangelegenheiten Gutachten zu erstellen. Die weitere Gliederung der Universität in Fakultäten, Institute, Zentren etc. wird von den Universitäten selbst im Organisationsplan festgelegt. Der Organisationsplan wird vom Rektorat nach Stellungnahme des Senats erstellt und vom Universitätsrat genehmigt.50 Er ist, genauso wie die Satzung der Universität, als Verordnung im Sinne des Artikels 81c Abs. 1 BVG zu qualifizieren. Es handelt sich jedoch um Verordnungen verschiedener Rechtsformen, da sie verschiedenen Erzeugungsregelungen unterliegen. Der jeweils zulässige Inhalt ist unterschiedlich und erfordert eine genaue Abgrenzung.51 Der Organisationsplan wird daher als „reguläre Durchführungsverordnung“ betrachtet. Er ist folglich in seiner Regelungskompetenz weniger frei als die Satzung und unterliegt einer stärkeren Gesetzesbindung.52 Für alle nach dem UG sowie nach dem Organisationsplan, oder der Satzung eingerichteten Kollegialorgane der Universität gilt grundsätzlich gemäß § 20a UG, dass mindestens 45 Vgl. Perthold-Stoitzner in Perthold-Stoitzner, UG3.01 § 22 Rz 11 (Stand 1.12.2018, rdb.at). 46 Vgl. Perthold-Stoitzner in Perthold-Stoitzner, UG3.01 § 25 Rz 1 (Stand 1.12.2018, rdb.at). 47 Vgl. Hammer/Perthold in Kolonovits/Muzak/Perthold/Piska/Strejcek (Hrsg.) 585 (593). 48 BGBl I 2012/51. 49 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl I 2013/33 idF BGBl I 2018/57. 50 § 20 Abs. 4 UG. 51 Vgl. Perthold-Stoitzner in Perthold-Stoitzner, UG3.01 § 20 Rz 6 (Stand 1.12.2018, rdb.at). 52 Vgl. Novak, Universitätsautonomie und Regelungshoheit, zfhr 6/2016, 169 (174).
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die Hälfte der Mitglieder Frauen sein müssen. Dies entspricht den in § 2 Z 9 UG festgesetzten Aufgaben der „Gleichstellung von Frauen und Männern und Frauenförderung“ sowie dem allgemeinen verfassungsgesetzlichen Ziel der Gleichstellung der Geschlechter gemäß Art. 7 B-VG.53 Das Verhältnis der Studierenden zur Universität wird durch die Zulassung zum Studium begründet, welche gemäß § 60 UG auf Grundlage eines Antrags mit Bescheid erfolgt. Allfällige Zugangsbeschränkungen werden ebenfalls auf einfachgesetzlicher Ebene im UG 2002 vorgesehen. Diese fallen nicht in den Bereich der Autonomie der Universität.54 Bei der Vollziehung studienrechtlicher Vorschriften werden die Universitäten gemäß § 51 UG hoheitlich tätig. Damit sind die von der Universität gesetzten Akte dem Staat zuzurechnen und werden entweder als Bescheid oder als Verordnung qualifiziert. Auf diese Weise stellt der Gesetzgeber klar, dass das Verhältnis zwischen Universität und Studierenden nicht auf einem zivilrechtlichen Vertrag beruht.55 Das UG 2002 enthält im Rahmen der Vorschriften der Rechte und Pflichten der Studierenden das Recht als Vertreter/in der Studierenden in den Kollegialorganen der Universität nach Maßgabe des Hochschülerinnen- und Hochschülerschaftsgesetzes (HSG) 201456 mitzuwirken. Auch Art. 81c Abs. 2 B-VG geht in seinem Wortlaut ausdrücklich von einem Bestand der „Studierendenvertretung“ aus.57 Die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH) ist die gesetzliche Interessensvertretung aller Studierenden auf Bundesebene; gleichzeitig bestehen jeweils Hochschulvertretungen58 bzw. Universitätsvertretungen an den Universitäten. Die HochschülerInnenschaften sind gemäß § 3 HSG Körperschaften öffentlichen Rechts und werden als sonstige Selbstverwaltungskörper im Sinne des Art. 120a B-VG qualifiziert. Ihre Mitglieder sind als Pflichtmitglieder gemäß § 38 Abs. 2 HSG beitragspflichtig.59 Die Organkreation innerhalb der Organisationen der HochschülerInnenschaft erfolgt zum Teil durch Wahlen und zum Teil durch Entsendungen. 53 Vgl. Holzleithner/Benke in Perthold-Stoitzner, UG3.01 § 20a Rz 2 (Stand 1.12.2018, rdb.at); vgl auch zu den Auswirkungen der Anerkennung einer dritten Geschlechtskategorie, welche die bestehenden Frauenmindestquoten allerdings nicht berührt. So auch der VfGH in VfSlg 17.101/2004. 54 55 ErläutRV 1134 BlgNR 21.GP 89. 56 BGBl I 2014/45. 57 Ob damit eine verfassungsrechtliche Bestandsgarantie für die HochschülerInnenschaften an den Universitäten geschaffen wurde, bleibt strittig. Vgl. Stöger in Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft (Hrsg.) 227 (274 ff.); Kucsko-Stadlmayer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), B-VG I/3 Art. 81c Rz 17. 58 Die Hochschulvertretungen sind auch an Privatuniversitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen einfachgesetzlich vorgesehen. 59 Vgl. Elhenický, Sonstige Körperschaften öffentlichen Rechts, in Elhenický, Körperschaften öffentlichen Rechts (2015) 250 (267).
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Die Universitätsvertretung ist oberstes Organ der Studierendenvertretung einer Universität und wird alle vier Semester von allen im Wahlsemester wahlberechtigten Studierenden direkt gewählt. Die Wahl erfolgt in Form einer Listenwahl nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Gleichzeitig werden von den Studierenden die Studienvertretungen für die jeweilige Studienrichtung nach dem Grundsatz der Persönlichkeitswahl gewählt.60 Die Wahlen der Organe der ÖH fallen weder auf Bundes-, noch auf Universitätsebene unter den Tatbestand der Wahlgerichtsbarkeit des VfGH gemäß Art. 141 B-VG und sind daher mittels Bescheidbeschwerde im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit bekämpfbar.61 Durch die gesetzlich vorgesehene Vertretung der Studierenden mit Sitz und Stimme in den Kollegialorganen – auf universitärerer Ebene speziell im Senat und in den Berufungsund Habilitationskommissionen – wird den Studierenden die Möglichkeit eingeräumt, auf die Ausrichtung und Entwicklung der Universität Einfluss zu nehmen.
4. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit als Garant der Universitätsautonomie
Die Wissenschaftsfreiheit findet ihre Wurzeln zunächst in der von der Aufklärung getragenen Denkfreiheit, welche als „Gedanken-, Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit“ Eingang in die republikanischen Verfassungstexte des 18. Jahrhunderts fand.62 Die libertas philosophandi oder libertas academica umfasst sowohl die Freiheit der Lehrenden, als auch die Freiheit der Lernenden.63 Die verfassungspolitische Forderung nach einer Verankerung der Wissenschaftsfreiheit entsprang der Sorge die allgemein verstandene Meinungsfreiheit würde die akademische Freiheit nicht ausreichend schützen können. So fürchtete man, diese könne etwa keinen Schutz gegen die Degradierung von Universitäten zu niedrigeren Lehranstalten bieten oder die Lernfreiheit abseits von staatlich approbiertem Lernmaterial nicht gewährleisten. Die universitäts- und studienrechtlichen Reformen von 1848 zielten erstmals darauf ab, die Prinzipien der Lehr- und Lernfreiheit im Sinne der Wissenschaftsfreiheit zu verwirklichen. Sie mündeten in die Gewährleistung der Freiheit der Wissenschaft und Lehre durch das Grundrechtspatent vom 4. März 184964, welches in 60 Vgl. Stöger in Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft (Hrsg.) 227 (266 f.). 61 Vgl. Grimberger, Das Verfahren der Wahlanfechtung von ÖH Wahlen, in: Huber, Studierendenvertretung, Jahrbuch Hochschulrecht (2011) 355 (370). 62 Vgl. Hammer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht II/2 (12. EL 2016) Art. 17 StGG Rz 1. 63 Vgl. Zenker, Denkfreiheit: Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung (2012) 11. 64 Kaiserliches Patent vom 4. 3. 1849 über die „durch die constitutionelle Staatsform gewährleisteten politischen Rechte“ RGBl 1849/151.
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Zusammenhang mit der oktroyierten März-Verfassung65 erlassen wurde. Der Wortlaut des Art. 17 StGG 1867 wurde von diesem Grundrechtspatent übernommen und ist bis heute auf verfassungsrechtlicher Ebene als Menschenrecht66 verankert.67 Die historischen Hintergründe sind aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung für die Interpretation des Grundrechts von herausragender Relevanz. Die Freiheit der Kunst blieb zunächst im Grundrechtekatalog unerwähnt. Erstmals enthielten die parlamentarischen Beratungen zur konstituierenden Nationalversammlung im Jahr 1920 einen Entwurf auf ein Grundrecht auf Kunstfreiheit, welches dem Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit nachgebildet war. Nachdem jedoch keine Einigung über einen Grundrechtekatalog für die Erste Republik erzielt werden konnte, wurde der Grundrechtekatalog aus der Monarchie in seiner ursprünglichen Fassung rezipiert.68 Ergänzt wurde das StGG schließlich im Jahr 1982 um einen Art. 17 lit a,69 welcher die Kunstfreiheit ausdrücklich verankert. Explizit werden das künstlerische Schaffen, die Vermittlung und die Lehre von Kunst durch das Grundrecht geschützt. Damit sollen der Schöpfungsprozess, der sich im Künstler bzw. der Künstlerin selbst abspielt, und das in der Außenwelt in Erscheinung tretende Werk geschützt werden.70 Bei diesen beiden Grundrechten handelt es sich um Abwehrrechte gegen den Staat. In der allgemeinen Grundrechtslehre wird von „liberalen Grundrechten“ bzw. „Freiheitsrechten“ gesprochen.71 Es ist bemerkenswert, dass auf europäischer Ebene der Vertragstext der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)72 kein eigenes Recht auf Wissenschaftsfreiheit oder Kunstfreiheit enthält, sondern auf die Bestimmungen der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK zurückgreift. Die Europäische Union hat sich hingegen entschieden, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft in Art. 13 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC)73 aufzunehmen, und nor65
Kaiserliches Patent vom 4. 3. 1849, die „Reichsverfassung für das Kaiserthum Österreich enthaltend“ RGBl 1849/150. 66 Sein Schutz erstreckt sich nicht nur auf Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, sondern auf jedermann (vgl. dazu VfSlg 13.978/1994). 67 Vgl. Hammer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), B-VG II/2 Art. 17 StGG Rz 3ff; Hengstschläger/Leeb, Grundrechte (2019) Rz 20/7. 68 Vgl. Art. 139 in 904 der Beilage der Stenographischen Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung StProt 904 BlgKNV Art. 139. 69 BGBl 262/1982. 70 AB 978 BlgNR 25. GP 1. 71 Vgl. Hengstschläger/Leeb, Grundrechte3 (2019) Rz 1/27. 72 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) BGBl 1958/210 idF BGBl III 2018/139. 73 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) ABl 2010/C 83/02.
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miert ausdrücklich die Achtung der akademischen Freiheit.74 Der VfGH hat das Recht auf Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 17 StGG als einen „Sonderfall des Rechts auf freie Meinungsäußerung“ qualifiziert.75 Analog kann diese Aussage auf die Kunstfreiheit des Art. 17a StGG umgelegt werden. Die Besonderheit dieser beiden Grundrechte liegt – im Gegensatz zur in Art. 10 EMRK gewährleisteten Meinungsfreiheit – darin, dass der Schutz ohne Gesetzesvorbehalt gelten soll. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie keinerlei gesetzlichen Einschränkungen unterliegen („immanente Grundrechtsschranken“). Sie sollen allerdings vor „intentionalen“ Eingriffen geschützt werden, die gerade darauf abzielen, die durch das Grundrecht gewährleisteten Freiheiten einzuschränken. Allgemeine Gesetze, die einen Eingriff darstellen, müssen im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung gerechtfertigt sein.76 Bei einer genauen Untersuchung des Grundrechts auf Wissenschaftsfreiheit stößt man schnell auf die Frage, was unter dem Begriff „Wissenschaft“ zu verstehen ist. Während im Zuge der höchstgerichtlichen Rechtsprechung von Verfassungsgerichtshof (VfGH), Verwaltungsgerichtshof (VwGH) und Oberstem Gerichtshof (OGH) und im Rahmen des rechtswissenschaftlichen Diskurses zahlreiche Definitionsansätze zum formellen Wissenschaftsbegriff zu finden sind, ist der materielle Wissenschaftsbegriff besonders heikel. Es besteht zumindest weitgehend Einigkeit darüber, dass jedenfalls gerade der Wesensgehalt der Norm des Art. 17 StGG darin liegt, dass eben nicht der Staat entscheiden soll, ob eine Tätigkeit inhaltlich (materiell) als wissenschaftlich zu qualifizieren ist. Diese Kompetenz soll bei den Fachvertreterinnen und Fachvertretern der jeweiligen Wissenschaft selbst liegen. Damit wird der Norm der Gedanke der Autonomie zugrunde gelegt.77 Die Universitäten nach dem UG 2002 verpflichten sich in ihren Zielen (§ 1), ihren leitenden Grundsätzen (§ 2) und ihren Aufgaben (§ 3) zur Verwirklichung der Prinzipien, die den Art. 17 und 17a StGG entspringen, und sind von deren Schutzbereich umfasst. Während Art. 81c B-VG für die öffentlichen Universitäten zusätzlich eine verfassungsrechtliche Schutzvorschrift normiert, erstreckt sich der Schutz der Wissenschafts- und Kunstfreiheit des StGG direkt auf private Bildungseinrichtungen des tertiären Bildungssektors; dies gilt vor allem für die Privatuniversitäten nach dem PUG78 und die Fachhochschulen79. Insgesamt leitet die herrschende Lehre eine institutionelle Garantie aus Art. 17 StGG ab. 74 75 76 77 78 79
„Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet“ (Art. 13 GRC). VfSlg 13.978/1994. Vgl. VfSlg 11.567/1987; vgl. Hengstschläger/Leeb, Grundrechte3 Rz 1/58ff. Kröll in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (13. EL 2014) Art. 17 Abs 1, 5 StGG, 35–45. Vgl. § 2 Abs 2 Z PUG. Vgl. § 3 Abs 2 Z 1 Fachhochschul-Studiengesetz (FHStG), BGBl 340/1993 idF BGBl I 2018/31.
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Demnach ist der Staat verpflichtet die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Universitätsorganisation so zu gestalten, dass die freie und unbeeinflusste Ausübung ihres Grundrechts gewährleistet ist.80 Art. 81c B-VG kann insofern zusätzlich eine selbständige normative, grundrechtliche Bedeutung zugemessen werden, als er die „institutionellen Komponenten“ von Art. 17 und Art. 17a StGG verstärkt.81 Das Grundrecht der individuellen Wissenschaftsfreiheit entfaltet sich auch zwischen der autonomen Universität als Teil der Vollziehung des Bundes und den einzelnen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern in Ausübung ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit. In diesem Kontext ergeben sich grundrechtliche Konflikte, wenn es sich um Fragen der Qualitätssicherung und des Wissenschaftsmanagements handelt. Der in den vergangenen Jahren durch den Bologna-Prozess angestoßene internationale Trend in Richtung Leistungsorientierung und der Erlassung von Vorschriften zur internen und externen Qualitätssicherung82 steht in einem Spannungsverhältnis zur Freiheit des einzelnen Grundrechtsträgers. Diese Entwicklungen lassen die ewige grundrechtliche Frage der Balance zwischen Freiheit und Regulierung im Hochschulrecht nicht ruhen.83 Neben dem Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit darf im universitätsrechtlichen Kontext nicht auf das Recht auf Bildung gemäß Art. 18 StGG bzw. Art. 2 1.ZPEMRK84 vergessen werden. Es wird im Zusammenhang mit Universitäten vor allem bei der Zulassung zum Studium geltend gemacht. Es ist allerdings nach herrschender Ansicht sowohl nach StGG als auch nach der EMRK grundrechtlich unbedenklich, den Zugang zu tertiären Bildungseinrichtungen an gleichheitskonforme und sachliche Anforderungen zu knüpfen.85 Zum Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Sinne des Art. 14 StGG sieht § 105 UG als lex specialis vor, dass kein/e Universitätsangehörige/r verpflichtet werden darf, gegen das eigene Gewissen an wissenschaftlichen oder künstlerischen Arbeiten mitzuwirken.86 80 81 82
Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht11 (2015) Rz 1506. Berka in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), B-VG Art. 81c, 27. Zur Erlassung des Qualitätssicherungs-Rahmengesetzes (QSRG) und des Hochschul-Qualitätssicherungsgesetzes (HS-QSG), jeweils BGBl I 2011/74; vgl Kohler, Qualitätssicherung im Hochschulbereich, in: Berka/Brünner/Hauser, Handbuch des österreichischen Hochschulrechts2 (2012) 91. 83 Berka, Die Quadratur des Kreises: Universitätsautonomie und Wissenschaftsfreiheit, zfhr 2008/7, 45 ff. 84 1. Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention (ZPEMRK), BGBl 1958/210 idF BGBl III 2018/139. 85 Hammer/Perthold in Kolonovits/Muzak/Perthold/Piska/Strejcek (Hrsg.) 585 (587). Für nähere Erläuterungen zu Art. 2 1.ZPEMRK siehe Strejcek in FS Ebert 905 (914 ff.). 86 Vgl. Novak, Universitäten, in: Berka/Brünner/Hauser, Handbuch des österreichischen Hochschulrechts2 (2012) 127 (195).
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5. Conclusio
Der Verfassungsgesetzgeber konnte bei der Formulierung des Art. 81c B-VG auf die jahrhundertealte Geschichte und Tradition einer Institution zurückblicken, die seit der Monarchie eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der Gesellschaft eingenommen hat. Die Inkorporation der Universitäten in die Stammfassung der Verfassung mit dem BGBl I 2008/2 hatte nicht den Zweck eine vollkommen neuartige Einrichtung zu schaffen. Das einem Evolutionsprozess entsprungene geltende Recht auf verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Ebene und das bestehende Organisationsrecht gaben dem Verfassungsgesetzgeber den Rahmen für die Formulierung dieser Bestimmung.87 Auch wenn die Intensität der Auswirkungen im rechtswissenschaftlichen Diskurs durchaus unterschiedlich bewertet wird,88 so verfolgte die verfassungsrechtliche Verankerung der Universitäten jedenfalls die Absicht, diese für die Gesellschaft bedeutende Institution und ihre Signifikanz im Staatsgefüge hervorzuheben.89 Eine inhaltliche Debatte, ob die in Geltung stehende Formulierung des Art. 81c B-VG tatsächlich im Sinne des Inkorporationsgedankens sinnvoll scheint, mag durchaus zulässig und berechtigt sein. Umso mehr ist diese gerechtfertigt, als der Begriff der „Stätte“ keine Antwort auf bestehende rechtswissenschaftliche Fragestellungen zu geben versucht, ja sogar mit seinem bildhaften Charakter einer konkreten Lösung bewusst aus dem Weg geht. Das Postulat der Autonomie der Universität ist in vieler Hinsicht durchbrochen und steht andererseits im Spannungsverhältnis zur Freiheit der Lehre des Individuums. Zweifellos sehen sich die Universitäten sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene stets mit neuen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, sei es im nationalen und internationalen wissenschaftlichen Wettbewerb, sei es als Dienstleister oder als Arbeitgeber.90 Die Universität erscheint in den unterschiedlichsten Facetten und ist ein lebendiger Organismus, der von den Gedanken und dem Schaffen seiner Angehörigen lebt. Aus diesem Grund war und bleibt die konkrete Ausgestaltung der Autonomie und die Gewährleistung der „Freiheit“ wissenschaftlicher Forschung, Lehre und die Erschließung der Künste in Zukunft eine verfassungspolitische Grundsatzfrage.
87 Vgl. Berka, Autonomie und Freiheit der Universität: Ein neuer Verfassungsartikel (Art. 81c B-VG) für die öffentlichen Universitäten, ZÖR 2008/63, 293 (302). 88 Vgl. Stöger in Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft (Hrsg.) 227 (241 ff). 89 Vgl. Eberhard, JPR 2007/15, 350 (363). 90 Vgl. dazu Berka, zfhr 2008/7, 37 ff.
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Quellen Berka in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (22. EL 2019) Art. 81c. Berka, Autonomie und Freiheit der Universität: Ein neuer Verfassungsartikel (Art. 81c B-VG) für die öffentlichen Universitäten, ZÖR 2008/63, 293. Berka, Die Quadratur des Kreises: Universitätsautonomie und Wissenschaftsfreiheit, zfhr 2008/7, 37. Berka, Verfassungsrecht7 (2018). Eberhard, Die Garantien für Selbstverwaltung und Universität, JPR 2007/15, 350–363. Elhenický, Sonstige Körperschaften öffentlichen Rechts, in Elhenický, Körperschaften öffentlichen Rechts (2015) 250. Gamper, Was ist die Satzung der Universität? zfhr 3/2012, 107. Grimberger, Das Verfahren der Wahlanfechtung von ÖH-Wahlen, in Huber, Studierendenvertretung, Jahrbuch Hochschulrecht (2011) 355. Hammer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht II/2 (12. EL 2016) Art. 17 StGG. Hammer/Perthold, Hochschulrecht, in: Kolonovits/Muzak/Perthold/Piska/Strejcek (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht2 (2017) 585. Hengstschläger/Leeb, Grundrechte3 (2019). Holzleithner/Benke in Perthold-Stoitzner, UG3.01 § 20a (Stand 1.12.2018, rdb.at) Huber, Rechtsfragen der vollrechtsfähigen Universität (2003). Kohler, Qualitätssicherung im Hochschulbereich, in: Berka/Brünner/Hauser, Handbuch des österreichischen Hochschulrechts2 (2012) 91. Kröll in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (13. EL 2014) Art. 17 Abs. 1, 5 StGG. Kucsko-Stadlmayer in Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht I/3 (10. EL 2011) Art. 81c. Kucsko-Stadlmayer in Perthold-Stoitzner, UG3.01 § 81c (Stand 1.12.2018, rdb.at). Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht11 (2015). Mühlberger, Anfänge der Alma Mater Rudolphina, https://geschichte.univie.ac.at/de/themen/ anfaenge-der-alma-mater-rudolphina (Stand: 01.10.2018). Novak, Universitäten, in Berka/Brünner/Hauser, Handbuch des österreichischen Hochschulrechts2 (2012) 127. Novak, Universitätsautonomie und Regelungshoheit, zfhr 6/2016, 169. Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht12 (2019). Perthold-Stoitzner in Perthold-Stoitzner, UG3.01 (Stand 1.12.2018, rdb.at).
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Stöger, Universitäten und Hochschülerschaften, in Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft (Hrsg.), Selbstverwaltung in Österreich (2009) 227. Strejcek, Bildungsgrundrechte – einst und heute, in FS Ebert (2019) 905. Strejcek, Erlerntes Recht. Zur Ausbildung von Juristinnen und Juristen an der Wiener Universität 1365–2015 (2015). Strejcek, Wirtschaft, Welthandel und Recht (2017). Strejcek, Zur Neuordnung des postsekundären Bildungssektors, JPR 2016/3, 209. Werkner, Geschichte der Angewandten. Von der k.k. Kunstgewerbeschule zur heutigen „Angewandten“, https://www.dieangewandte.at/universitaet/profil/geschichte (abgefragt am 17.1. 2020). Winkler, Die Rechtspersönlichkeit der Universitäten (1998). Zenker, Denkfreiheit: Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung (2012).
II. TEMPERANTIA Jerusalem, Rom und andere lieux de mémoire christlicher Erinnerung
Hannes Scheucher, Temperantia, Acryl auf Papier, 2020
Ein Prestigebau auf der Kippe Neue Quellen zur Gründungs- und Baugeschichte des Österreichischen Pilger-Hospizes in Jerusalem Helmut Wohnout
„Ein Haus aus Stein für Jahrhunderte“ – Franz von Reyer, seines Zeichens Legationssekretär der Österreichischen Botschaft (oder wie es damals hieß: Internuntiatur) in Konstantinopel, gebrauchte Ende Juni 1857 in einem Schreiben an Kardinal Joseph Othmar von Rauscher diese pointierte Formulierung für das halbfertige Österreichische Pilger-Hospiz in Jerusalem.1 Er wählte seine Worte mit Bedacht, warb er doch trotz eines dramatischen finanziellen Engpasses bei der ein Jahr zuvor begonnenen Errichtung des Pilgerhauses für eine relativ kostspielige Umsetzung des Hospizprojektes. Die Geschichte sollte ihm recht geben: Heute, mehr als 160 Jahre später, bilden die solide Bausubstanz und die Lage des Hauses ein unschätzbares historisches Kapital. Der markante Steinbau gehört zu den architektonisch bemerkenswertesten Gebäuden entlang der berühmten Via Dolorosa. Zugleich war es gerade die aufwendige und besondere Bauausführung, welche die Fertigstellung des Hauses mehrmals gefährdete und die relativ lange Bauzeit bewirkte. Genau darum, um die Gründungs- und Baugeschichte des Pilgerhauses in den zehn Jahren zwischen 1853 und 1863, soll es in den folgenden Ausführungen gehen.
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Diözesanarchiv Wien (DA), Bestand Präsidialia (Präs.) J 6. Österreichisches Pilgerhaus in Jerusalem (Kommissariat des Heiligen Landes), o. Z., (26. 6. 1857), vgl. auch: Helmut Wohnout: Das österreichische Hospiz in Jerusalem. Geschichte des Pilgerhauses an der Via Dolorosa, Wien-KölnWeimar 2000, 40f. Der hier vorgelegte Beitrag baut auf die zitierte Monographie des Verfassers aus dem Jahr 2000 auf und ergänzt diese um einige neue Quellenfunde sowie um eine Reihe mittlerweile erschienener Studien im Kontext der sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten mehr und mehr vernetzt habenden internationalen Forschung zu den Aspirationen der europäischen Mächte im Hinblick auf ihre diplomatischen und kirchlichen Niederlassungen in Jerusalem seit dem 19. Jahrhundert.
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1. Der politische Hintergrund
Bei der Gründung des Hospizes müssen zwei unterschiedliche Entwicklungsstränge berücksichtigt werden: ein weltlicher und ein kirchlicher – oder vielleicht besser: ein kirchenpolitischer. Beide trafen sich an der in Österreich während der Jahre des Neoabsolutismus engen Schnittstelle zwischen Thron und Altar. Seit dem Wiener Kongress setzte die von Staatskanzler Klemens Wenzel Lothar Fürst Metternich formulierte Außenpolitik der Habsburgermonarchie auf den Fortbestand des Osmanischen Reiches als Stabilitätsfaktor in der Levante und als Barriere gegen russische Expansionsbestrebungen auf dem Balkan. Metternich sah im Osmanischen Reich, ungeachtet dessen innerer Schwächen („der kranke Mann am Bosporus“), einen gleichberechtigten Partner. Darin unterschied sich seine Politik von der aller anderen europäischen Großmächte. Selbst das britische Empire, das ebenfalls pro-osmanisch agierte, sah im schwächelnden Sultanat keinen Verbündeten auf gleicher Augenhöhe mehr.2 Überhaupt hatte es das Osmanische Reich der Heiligen Allianz unter der Führung Metternichs zu verdanken gehabt, ab den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wieder die volle Souveränität über Palästina ausüben zu können. 1831/32 war der ägyptische Statthalter Muhammad Ali (Mehmed Ali Pascha) vom Sultan abgefallen und seine, unter dem Oberbefehl seines Sohnes Ibrahim Pascha stehenden Truppen hatten ganz Syrien unter Einschluss Palästinas erobert. Im Zuge der Orientalischen Krise von 1839 bis 1841 stand das Osmanische Reich vor seinem Zerfall. Erst das militärische Eingreifen eines britisch-österreichischen Flottenverbandes im Herbst 1840 stabilisierte die Osmanische Herrschaft des Sultans wieder und stellte dessen Herrschaft über die syrische Provinz – zu der auch Palästina zählte – aufs Neue her.3 Metternich beabsichtigte den Prestigegewinn durch diesen militärischen Erfolg auch politisch zu nutzen. Österreich sollte ein festes Standbein in der Levante erhalten. Dabei spielten für den Staatskanzler von Anfang an neben wirtschaftlichen auch religionspolitische Überlegungen eine Rolle. Metternich ging es darum, im Heiligen Land kultuspolitisch ein Gegengewicht zu Frankreich zu schaffen. Letzteres nahm traditionell das Protektorat über die Katholiken im Heiligen Land wahr und berief sich dabei auf seine, 2
3
Vgl. zusammenfassend dazu: Miroslav Šedivý: Österreichs Beziehungen mit dem Osmanischen Reich im Vormärz: Eine alternative Politik in der Orientalischen Frage, in: Barbara Haider-Wilson/Maximilian Graf (Hg.): Orient & Okzident. Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten, Wien 2016, 353–374, sowie im Detail: Miroslav Šedivý: Metternich, the Great Powers and the Eastern Question, Pilsen 2013 Vgl. dazu: Robert-Tarek Fischer: Österreich im Nahen Osten. Die Großmachtpolitik der Habsburgermonarchie im Arabischen Orient 1633–1918, Wien-Köln-Weimar 2006, 91–123
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bis in das 16. Jahrhundert zurückreichenden Verträge mit der Hohen Pforte, die sogenannten Kapitulationen. Die Habsburgermonarchie leitete ihre Ansprüche von den zwischen Kaiser Matthias und dem Sultan in den Friedensschlüssen des frühen 17. Jahrhunderts erstmals festgeschriebenen Schutzrechten ab. In allen völkerrechtlichen Verträgen mit dem Sultan seit dem Frieden von Karlowitz (1699) wurde dann neuerlich die Schutzfunktion gegenüber den Katholiken im Osmanischen Reich festgeschrieben.4 Gewohnheitsrechtlich nahm die Habsburgermonarchie diese Schutzfunktion vor allem für die Katholiken in den osmanischen Gebieten am Balkan und in Ägypten wahr. Metternich wollte diese nun auch in der Levante aktivieren, agierte dabei aber zurückhaltender als die anderen europäischen Mächte.5 Dies zeigte sich deutlich, als Frankreich bei den Konsultationen nach dem Krieg von 1840 den Plan vorbrachte, in Jerusalem, unter Einschluss seiner Umgebung, eine Art kirchlich-religiösen Staat unter internationalem Protektorat zu errichten. Es gelang dem österreichischen Staatskanzler, das französische Vorhaben genauso wie einen ähnlich gelagerten preußischen Vorschlag zu verhindern. Jedoch war er willens, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der osmanischen Souveränität über Palästina den österreichischen kirchlichen und politischen Einfluss in Jerusalem zu verstärken. Als Vehikel, um ihr Protektorat in religiösen Belangen geltend zu machen, dienten den europäischen Staatskanzleien die in Jerusalem ab den späten 1830er Jahren eröffneten Konsulate. Die europäischen Diplomaten besaßen einen beträchtlichen Aktionsradius und konnten Nichtmuslime mittels konsularischen Schutzes dem Zugriff der lokalen Macht nahezu vollständig entziehen. Diese unter der Oberhoheit von Muhammad Ali eingeleitete Öffnung der Region setzte sich auch fort, als Jerusalem wieder unter der Herrschaft der Hohen Pforte stand. Die Tatsache, dass England (seit 1839), Preußen (seit 1842), Frankreich (seit 1843), Sardinien (seit 1843) und die Vereinigten Staaten (seit 1844) bereits kon4
5
Barbara Haider-Wilson: Das Kultusprotektorat der Habsburgermonarchie im Osmanischen Reich. Zu seinen Rechtsgrundlagen und seiner Instrumentalisierung im 19. Jahrhundert (unter besonderer Berücksichtigung Jerusalems), in: Marlene Kurz/Martin Scheutz/Karl Vocelka/Thomas Winkelbauer (Hg.): Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 22.–25. September 2004 (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 48) Wien 2005, 121–147, hier 126–130 Miroslav Šedivý bringt die diesbezügliche Haltung Metternichs treffend auf den Punkt: „He always wanted to solve existing problems and not pointlessly cause new ones, which is also evident in his religious policy in the Near East through which he wanted to prevent the European Powers from misusing the religious problems of the Ottoman Empire for their own egoistic interests; his approach to the religious affairs of the East clearly differed from the more imperialistic aims of France and Russia. In brief, Metternich’s Near Eastern policy based upon his respect for the existing international law, the sovereignty of the state and its independence, that is to say upon his desire to maintain order as created at the Congress of Vienna.“ Šedivý: Metternich, 979
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sularische Vertretungen besaßen, trug dazu bei, dass Metternich ebenfalls beabsichtigte, eine Neuordnung und Intensivierung des Konsularwesens in der Levante herbeizuführen. Bereits 1841 kam es zur Einrichtung eines Generalkonsulats für ganz Syrien, das durch ein Vizekonsulat in Jerusalem ergänzt werden sollte. Es dauerte bis Juni 1846, ehe Kaiser Ferdinand seine Zustimmung zur Gründung der konsularischen Vertretung in Jerusalem gab.6 Österreich wollte bei der längst einsetzenden Europäisierung der Stadt nicht länger zurückstehen.7 Die Bestrebungen der Diplomatie nach einer festeren politischen Verankerung in Jerusalem trafen sich mit jenen der österreichischen Kirche. So war es bereits 1843 zur Wiedererrichtung des ursprünglich 1633 gegründeten, allerdings unter Joseph II. aufgehobenen Generalkommissariats des Heiligen Landes in Wien als Verbindung zur Kustodie in Jerusalem gekommen. Franziskaner aus den Ländern der Habsburgermonarchie gingen zur Betreuung der mehr werdenden heimischen Pilger nach Jerusalem.8 Dies darf – in absoluter Zahl betrachtet – jedoch nicht überschätzt werden. Ende der 1840er Jahre fanden jährlich etwa 30 Pilger aus der Monarchie Aufnahme bei den Franziskanern. Aufsicht und Leitung darüber lagen seit der Wiedererrichtung des Generalkommissariats als Protektor beim jeweiligen Erzbischof von Wien. Zudem durften die aus der Monarchie kommenden Sammelgelder nur für bestimmte, von Wien festzulegende Zwecke der Mission verwendet werden. Doch waren die Franziskaner ab 1847 nicht mehr die alleinigen Repräsentanten der katholischen Kirche in Jerusalem. Denn in diesem Jahr errichtete Papst Pius IX. das Patriarchat in Jerusalem wieder. Kirchengeschichtlich ging dies auf das fünfte Jahrhundert zurück. Seit 1291, als nach dem Fall Akkons das Heilige Land für die Christen verlorengegangen war, war es nur mehr als Titularwürde verliehen worden. Der unmittelbare Anlass für die 1847 erfolgte Wiedererrichtung des Patriarchats war von katholischer Seite ein kirchenpolitischer, nämlich die Gründung des protestantischen Bistums St. James seitens Englands und Preußens. Dazu kam das verstärkte Auftreten der unter russischem Schutz agierenden Orthodoxie. Der Heilige Stuhl erblickte darin eine Herausforderung, auf die er glaubte, reagieren zu müssen. Sehr bald – und wohl auch unvermeidlicherweise – kam es zu Konflikten zwischen Patriarchat und der Kustodie, wobei hinter der Einrichtung des Patriarchats der Einfluss Frankreichs und das Bestreben der Schwächung der Franziskaner gesehen wurden. Dazu 6 7 8
Mordechai Eliav unter Mitarbeit von Barbara Haider: Österreich und das Heilige Land. Ausgewählte Konsulatsdokumente aus Jerusalem 1849–1917. Wien 2000, Dok. Nr. 3 Zum Prozess der Modernisierung und Europäisierung Jerusalems zusammenfassend: Roberto Mazza: Jerusalem. From the Ottomans to the British, London-New York 2009, 75–80 Für das Folgende: Wohnout: Hospiz, 13–19, 25–36
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trug auch bei, dass der erste Patriarch, der zum Zeitpunkt seiner Ernennung erst 33-jährige Genuese Joseph Valerga, einen betont frankreichfreundlichen Kurs zu steuern schien. So war es nicht weiter verwunderlich, dass sich die Franziskaner der österreichischen Unterstützung bedienten. Aus diesem Spannungsverhältnis entstand österreichischerseits der Plan, ein Haus zu gründen, das in erster Linie den aus der Monarchie kommenden Pilgern zur Verfügung stehen sollte. Außerdem ließ sich auf diesem Wege ein sichtbares Zeichen österreichischer Präsenz in Jerusalem schaffen. Der umtriebige österreichische Vizekonsul Josef Pizzamano griff einen Plan der Franziskaner auf, ein unter der Leitung der Kustodie stehendes Spital für österreichische Wallfahrer zu errichten.
2. Das Projekt einer österreichischen Niederlassung in Jerusalem
Dass Pizzamanos Amt Anfang 1852 zu einem Konsulat und einige Jahre später, 1857, zu einem Generalkonsulat aufgewertet wurde, lässt erahnen, wie sehr das Heilige Land in den Fokus der österreichischen Politik gerückt war. Gemeinsam mit dem General-Kommissär des Heiligen Landes in Wien trat der nunmehrige Konsul am 2. September 1852 mit einem konkreten Vorschlag für den Bau an Fürst-Erzbischof Vinzenz Eduard Milde heran, der, angetan von Pizzamanos Ideen, die entsprechenden Vorbereitungen beauftragte. Nach dem Tod von Erzbischof Milde im März 1853 trieb sein Nachfolger Joseph Othmar von Rauscher die Angelegenheit mit derselben Energie weiter voran. Zu Schwierigkeiten kam es allerdings mit dem Patriarchat. Patriarch Valerga hatte seinerseits ein Spital gegründet, das nicht nur Pilger, sondern auch die in Jerusalem ansässige Bevölkerung medizinisch versorgte. Er trachtete nunmehr mit allen Mitteln zu verhindern, dass seitens der Franziskaner ein, wie er es sah, Gegenprojekt realisiert würde. Dabei wandte er sich an die Congregatio de Propagande Fide in Rom. Vor allem das Argument, dass in seinem Spital jeder Pilger ohne Ansehen der Nation aufgenommen würde, stieß in Rom auf Zustimmung. Wie offen der Streit zwischen Kustodie und Patriarchat ausgetragen wurde, zeigt sich anhand folgender Passage aus den Missions-Notizen der Franziskaner: „[…] die Gründung eines Krankenhauses ward aber hintertrieben. Wem die in Jerusalem obwaltenden Ränke kein Geheimnis sind, den nimmt es nicht wunder, dass dort bis zur Stunde so manches Gute verhindert wird.“9 Um die verfahrene Situation zu bereinigen, entstand österreichischerseits der Plan, anstelle des Spitals ein nationales Pilgerhaus mit einigen Krankenzimmern zu errichten. 9
Missions-Notizen aus dem heiligen Lande, Heft 6, Wien 1852, „Vorbericht“
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Dagegen sollte dann kein Einwand bestehen. Die Planung und Durchführung des Baus selbst lag großteils in den Händen von Konsul Pizzamano. So sollten offene innerkirchliche Rechtsfragen über allfällige Mitspracherechte des Patriarchen bei einem Ankauf durch die Kustodie umgangen werden. Pizzamano beabsichtigte ursprünglich, ein Objekt in der Nähe des Franziskanerkonvents zu erstehen, doch scheiterten die Verhandlungen, als der Verkäufer begann, den Kaufpreis in letzter Sekunde in die Höhe zu treiben. Pizzamano suchte weiter und fand schließlich einen Baugrund an der Via Dolorosa oder arabisch alWad-Straße. Die al-Wad-Straße gehörte zu jenem moslemischen Teil der Altstadt, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts nur dünn besiedelt und teilweise leerstehend war. Daher bot sie günstige Voraussetzungen für mehrere katholische Niederlassungen. Den Anfang machte der Sohn Muhammed Alis, Ibrahim Pascha, der für seinen Vater Syrien und Palästina nicht nur eroberte, sondern auch bis 1840 verwaltete. 1838 schenkte er den Franziskanern jenes verfallene Grundstück bei der zweiten Kreuzwegstation, auf dem in der Kreuzfahrerzeit die erste Geißelungskapelle (Flagellatio) errichtet worden war. 1856 bezogen die Schwestern der Kongregation Notre dame de Sion den Ecce-homo-Konvent. Im selben Jahr schenkte der Sultan Frankreich als Dank für dessen Unterstützung im Krimkrieg das Gelände der St. Anna Kirche. Der damals verfallene Gebäudekomplex unweit des Löwentors, dessen Ursprünge ebenfalls bis in die Kreuzfahrerzeit zurückreichten, stand ebenfalls leer.10 Am anderen Ende der al-Wad-Straße befand sich jene unbebaute Anhöhe, die Pizzamano im Auge hatte. Was die Attraktivität des Bauplatzes ausmachte, war neben der Hügellage folgender Umstand: Er lag an der Ecke der zum Damaskustor verlaufenden Straße zur Via Dolorosa und somit einerseits direkt entlang des Leidensweges Christi, unmittelbar neben der Dritten Kreuzwegstation, und andererseits an einer zentralen Weggabelung der Stadt. Anlässlich einer Reise nach Jerusalem besuchte der jüngere Bruder Franz Josephs, Ferdinand Maximilian, der nachmalige unglückliche Kaiser von Mexiko, im Juli 1855 den projektierten Bauplatz. Der damals 23-jährige Erzherzog zeigte sich vom Grundstück angetan und wurde zum vehementen Befürworter des Erwerbs. Diesmal klappte der Grundstückskauf. Am 13. September 1855 konnte der kaiserliche Gesandte von Konstantinopel aus den vollzogenen Erwerb der Liegenschaft nach Wien melden. Der Kaufpreis betrug für den 3.956 Quadratmeter großen Grund 5.700 Gulden.
10
Ruth Kark/Michal Oren-Nordheim: Jerusalem and its Environs. Quarters, Neighborhoods, Villages 1800–1948, Jerusalem-Detroit 2001, 58; Martin Gilbert: Jerusalem. Rebirth of a City, London 1985, 87 f.
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3. Planung und Baubeginn für das Pilgerhaus
In der Zwischenzeit machte Kardinal Rauscher am Rande der Konkordatsverhandlungen in Rom auch beim Heiligen Stuhl positive Stimmung für den Bau. Mehrfach betonte er, dass es sich beim geplanten Vorhaben um kein Spitalsprojekt handle, sondern vielmehr um ein Haus für Pilger, das sich allerdings um diese auch im Krankheitsfall kümmern würde. Den Argumenten des Patriarchen nahm er auf diese Art und Weise gekonnt den Wind aus den Segeln. Für die Ausführung des Baus hatte Konsul Pizzamano den zu diesem Zeitpunkt führenden europäischen Architekten in Jerusalem, Ermete Pierotti, im Auge. Der mit den lokalen Verhältnissen vertraute italienische Architekt war seit 1854 in der Stadt tätig.11 Zu Recht, wie sich später zeigen sollte, wies Pizzamano darauf hin, dass die örtlichen Bauverhältnisse, das Klima und die im Vergleich zu Europa unterschiedliche Art des Bauens zumindest die Begleitung des Vorhabens durch einen mit den Örtlichkeiten vertrauten Architekten geraten scheinen lassen.12 Solange die Frage der Beauftragung noch offen war, ließ Pizzamano durch Pierotti einen ersten Plan erstellen und Erdgrabungsarbeiten auf dem abschüssigen Gelände durchführen, um eine geeignete Baufläche zu schaffen. Kardinal Rauscher war eines Sinnes mit der österreichischen Diplomatie, ein Gebäude errichten zu lassen, das „der Würde des Kaisertums entsprechend“ sein sollte und meinte nonchalant, dass es ihm dabei auf einige tausend Gulden nicht ankommen solle.13 Zugleich wollte er allerdings das Haus auf seinen eigentlichen Widmungszweck beschränkt wissen, womit er weitergehenden Plänen Pizzamanos eine Absage erteilte. Dieser hatte unter anderem vorgeschlagen, zusätzlich einen eigenen Kirchenbau unmittelbar an der dritten Kreuzwegstation zu errichten.14 In der Frage des Architekten entschied sich Kardinal Rauscher in der zweiten Jahreshälfte 1855 gegen den Vorschlag Pizzamanos. Rauscher wollte einem österreichischen Architekten die alleinige Bauleitung übertragen. Die Wahl fiel auf Anton Endlicher, einen jungen Ingenieur-Assistenten der k.k. niederösterreichischen Landes-Baudirektion in Wien, die ihrerseits dem Handelsministerium unterstand. Der 1826 geborene Endlicher hatte an der Akademie der bildenden Künste bei den beiden Architekten der Wiener Staatsoper Eduard van der Nüll und August Sicard 11 12
13 14
Zu Pierottis Tätigkeit in Jerusalem: Gilbert: Jerusalem, 108f. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Haus- Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Bestand Konsulatsarchiv Jerusalem (Kons. Jer.), Mappe Österreich-ungarisches Pilgerhaus 1853–1870, o. Z., (K 130, fol.592–600, Pizzamano an Baron von Roller, 3. Juni 1855) ÖStA, HHStA, Bestand Administrative Registratur (AR), F 27, Zl. 13 028 D.I.–praes., vgl. auch: Wohnout: Hospiz, 37 ÖStA, HHStA, Kons. Jer., Mappe Österreich-ungarisches Pilgerhaus 1853–1870, o. Z., (K 130, fol.592–600, Pizzamano an Baron von Roller, 3. Juni 1855)
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Der großzügige Entwurf des Architekten Anton Endlicher für das Pilgerhaus aus dem Jahr 1856
von Sicardsburg sowie dem vor allem im Sakralbau ausgewiesenen Carl Roesner studiert. Er war früh dem um zwei Jahre jüngeren Heinrich Ferstel begegnet, der ihn künstlerisch beeinflusst zu haben scheint.15 Endlicher war zweifelsohne ein begabter und engagierter junger Architekt, hatte aber zum damaligen Zeitpunkt noch keinen umfangreicheren Bauauftrag geleitet. Und was ihm gänzlich fehlte, war die von Pizzamano urgierte Erfahrung im Umgang mit den örtlichen Verhältnissen. Der Forderung Kardinal Rauschers nach einem repräsentativen Gebäude entsprechend, erstellte Endlicher einen Bauplan für ein großzügiges, mit zwei Obergeschoßen und mit zwei Seitenflügeln versehenes Gebäude im Stil des frühen Historismus. Er glaubte, das Haus bis Ostern 1857 errichtet zu haben. Wie vom Kardinal gewünscht, beendete Pizzamano Anfang 1856 die Zusammenarbeit mit Pierotti. Mit Dekret vom 23. Jänner 1856 ordnete Rauscher den Bau des Pilgerhauses nunmehr auch formell an. Am 4. März 1856 traf Endlicher in Jerusalem ein und nahm seine Tätigkeit unverzüglich auf.16 15
16
Zur Biographie Endlichers: Dagmar Redl: Das österreichische Hospiz in Jerusalem – Ein „Kunstexport“ des Historismus, in: Bernhard A. Böhler (Hg.): Mit Szepter und Pilgerstab. Österreichische Präsenz im Heiligen Land seit den Tagen Franz Josephs, Wien 2000, 89–127, hier 91–93 ÖStA, HHStA, AR, F 27, Zl. 4963 D.I. – praes. Redl schreibt von einer „Unklarheit“ über das
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Bald zeigte sich, dass der Bau viel schwieriger und langwieriger war als ursprünglich angenommen. Man fand anstatt eines festen Untergrunds Unmengen von Schutt, Geröll und dergleichen vor. Aufgrund dieser Bodenbeschaffenheit mussten die Fundamente besonders tief ausgehoben und riesige Schuttmassen mühsam aus der Stadt gebracht werden. Zu dieser Zeit waren allein am Bauplatz zwischen 400 und 500 Arbeiter beschäftigt. Für den Abtransport des Bauschutts und das Herbeischaffen des Baumaterials durch die engen Gassen der Altstadt waren noch einmal an die 3000 Personen als Hilfsarbeiter und Handlanger tätig, die sich teils der Hilfe von Eseln und Kamelen bedienten. Es war dem Entgegenkommen Kiamil Paschas zu danken, dass der Abtransport der aus der Stadt zu schaffenden Unmengen an Erdreich nicht, wie eigentlich vorgeschrieben, durch das relativ weit entfernt gelegene Jaffator erfolgen musste, sondern auch durch das näher gelegene, leicht abschüssig zu erreichende Löwentor (Stephanustor) erfolgen durfte.17 Ein Teil des Erdreichs wurde unweit des Löwentors abgelagert. Auf der daraus entstandenen kleinen Anhöhe entstand später ein muslimischer Friedhof.18 Allein die Erdabgrabungs- und Aushubarbeiten im Frühjahr 1856 nahmen bereits die Hälfte der ursprünglich für den gesamten Bau vorgesehenen Kosten in der Höhe von 66.000 Gulden in Anspruch. Überdies stieß man auf antike Mauerreste, Gewölbe und Mosaike. Neben Zisternen kamen vor allem ein Gewölbe mit einem Mosaikpflaster und eine in den Felsen gehauene Grotte zum Vorschein. Letztere plante Endlicher durch eine Stiege mit dem Keller zu verbinden. Ihm schwebte vor, sie als stimmungsvolle Kapelle zu nutzen. Der Plan wurde jedoch bald fallengelassen, wären doch die Kosten nochmals in die Höhe geschnellt. Bis heute wird über die unterirdische Grotte spekuliert, gerade als anlässlich des Baus der „Casa Austria“ in den vergangenen Jahren bei Grabungsarbeiten wieder archäologische Funde zutage traten. Eine recht präzise Schilderung der Grotten findet sich in den umfangreichen Reiseerinnerungen des Sekretärs der jüdischen Gemeinde Wiens, Ludwig August Frankl. Auf ihn und den eigentlichen Zweck seiner Reise wird noch zurückgekommen. Jedenfalls befand sich Frankl gerade in der Stadt, als die Entdeckung der Grotten gemacht wurde, und berichtet über deren Begehung:
17 18
exakte Ankunftsdatum Endlichers und bezieht sich dabei auf eine Zeitungsmeldung, die von einer Ankunft bereits am 19. Februar 1856 spricht. Das Ankunftsdatum 4. März 1856 erscheint allerdings auf Grund der sonstigen Archivquellen und der sich daraus ergebenden Bauabläufe als schlüssig. Dagmar Redl: Die Reise von Erzherzog Ferdinand Maximilian ins Heilige Land 1855, in: Böhler (Hg.): Mit Szepter und Pilgerstab, 141–159, hier 143, 158 (FN 4) ÖStA, HHStA, Kons. Jer., Mappe Österreich-ungarisches Pilgerhaus 1853–1870, o. Z., (K 130, fol.518–523, Pizzamano an Internuntius Prokesch-Osten, 3. 1. 1856) Freundliche Mitteilung Rektor Hon. Prof. MMag. Markus Bugnyár an den Verfasser
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„Wir befanden uns da in einer mannhohen Grotte mit fünf aus dem Felsen gemeißelten, mit ihm zusammenhängenden Säulen, davon zwei viereckig sind, drei wie versteinerte Baumstämme aussehen. Zwei Fenster und eine Thüre waren mit Steinen verlegt. Im steinigten Fußboden, nahe den Wänden, sind runde Löcher, wie zum Durchzuge von Stricken bestimmt, ausgemeißelt, daher die Araber die Grotte für einen Pferdestall hielten. Uns schienen es vielleicht die Behältnisse für wilde Thiere, die für den Zirkus eines römischen Imperators hier gehalten worden sind. Die Kosten einer weiteren Ausgrabung, so anreizend sie war, durften nicht gewagt werden, und so ist eine vielleicht sehr interessante Entdeckung für Jahrhunderte wieder verloren; […] Eine zweite, dem Damaskusthore nähere Grotte ist höher, aber kleiner, der Boden mit zollgroßen Steinen mosaikartig gepflastert; auf demselben lagen zwei Stück prächtig weißen Marmors, davon ich, wie auch ein Mosaikfragment, durch die Güte des Herrn Endlicher mit in die Heimat brachte.“19
Um an genügend Baumaterial zu kommen, mussten zwei Steinbrüche im Umkreis von Jerusalem angekauft werden. Einer von beiden befand sich bei den Resten einer alten Mauer nördlich der Stadt, aus der sich große Steine gewinnen ließen. Endlicher ließ den Bau nicht aus kleinen Bausteinen aufführen, sondern aus großen behauenen Quadern. Dieser Umstand bedeutete einen weiteren Grund für die Explosion der Baukosten. Der junge Architekt setzte diesen Schritt im Vertrauen auf den Wunsch Rauschers nach einem repräsentativen Gebäude, jedoch ohne die notwendige Zustimmung des Bauherrn. Endlichers Fehleinschätzung sollte noch wesentlich zum späteren Vertrauensverlust des Kardinals gegenüber seinem Architekten beitragen.
4. Die Grundsteinlegung am 31. Dezember 1856
Im Laufe der zweiten Jahreshälfte 1856 erreichten die Grundmauern, zumindest an der Stelle der Hauskapelle, Sockelhöhe. Dies nahm der Generalkommissär des Heiligen Landes in Wien, P. Joseph Matzek, zum Anlass, in der Frage der Grundsteinlegung initiativ zu werden.20 Es dürfte an der Zeit sein, so formulierte er gegenüber Kardinal Rauscher, den bereits vorhandenen und von einem Wiener Steinmetzmeister gespendeten Grundstein aus Mauthausener Granit – „rein gearbeitet, fein geschliffen und poliert“ – nach Jerusalem zu senden.21 Als Datum für die Grundsteinlegung wurde der 2. Dezember als Jahrestag 19 20 21
Ludwig August Frankl: Nach Jerusalem! Teil II: Palästina, Leipzig 1858, 15 DA, Präs. J 6, Zl. 905/P/1856 Beim Donator des Grundsteins handelte es sich um den k.k. Steinmetzmeister Anton Wasserburger. Jahrbuch des österr.- ungar. Pilgerhauses „Zur heiligen Familie“, Jg.1, Wien 1905, 14
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des Regierungsantritts Kaiser Franz Josephs ausgewählt. Auch Rauscher zeigte sich mit diesem symbolträchtigen Zeitpunkt einverstanden. Vor die Frage gestellt, ob die Grundsteinlegung in feierlicher Form, eingebettet in einen festlichen Gottesdienst erfolgen sollte, entschied sich der Kardinal für einen bescheidenen Rahmen, um angesichts der latenten Spannungen mit dem Patriarchen „jede Collision zu vermeiden“.22 Doch verzögerte sich der Transport des Grundsteins, sodass der Termin am 2. Dezember 1856 nicht gehalten werden konnte. Es sollte bis zum 31. Dezember 1856 dauern, bis der Stein in Jerusalem eintraf und in einer binnen weniger Stunden improvisierten und – dem Wunsch des Kardinals entsprechend – schlicht gehaltenen Feier eingesetzt wurde. Neben dem relativ kurzen, publizierten Bericht von Konsul Pizzamano über die Grundsteinlegung23 existiert eine bislang unveröffentlichte, detailliertere Schilderung aus einem Schreiben Endlichers. Der Text des Architekten ist insoweit von Interesse, als er präzise Auskunft über den Ablauf der Zeremonie, den Teilnehmerkreis und den genauen Ort, an dem der Grundstein eingemauert wurde (unter der Schwelle des Hauptportals), gibt. Deshalb soll im Folgenden der Bericht Endlichers über den 31. Dezember 1856 in seinem Wortlaut wiedergeben werden: „[…] Denn der genannte Tag war durch Gottes Fügung ausersehen zur Legung des von Sr Eminenz gesandten Grundsteines. Am Morgen jenes Tages langte nähmlich der solange erwartete Stein hier an, und da der Befehl zu seiner Legung, die Aufschrift des Steines so wie die Urkunde sich noch auf das Jahr 1856 bezogen, so entschloß sich H Consul von Pizzamano, diese Feierlichkeit noch am selben Tage vorzunehmen. Von fremden Personen glaubte der Herr Konsul einzig allein Se Excellenz Ismail Kiamil Pascha, Gouverneur von Palästina, als Landeschef einladen zu müssen, umso mehr, als derselbe durch den Besitz des Franz-Josef-Großkreuzes einem österreichischen Orden angehört und durch seine bereitwillig gewährte Unterstützung in Allem und Jedem für den Bau schon viel Gutes gewirkt hat. Außer demselben waren unsere österr. Patres Andreas und Heribert (Pater Ildefons befand sich eben in Betlehem), P. Hugo aus Bayern, Fra Ugolino aus Venedig, Fra Antonio aus Lucca und Fra Carlo aus Modena zugegen, welch letzterer als gelernter Spengler bei der Verlöthung der Kapsel fungirte. Von den in Jerusalem eben anwesenden Fremden war nur Pfarrer und Dechant Schiferle aus Bayern geladen; da die in meinem früheren Schreiben erwähnten kk-Offiziere bereits am 14. Dezember abgereiset waren. 22 23
DA, Präs. J 6, Zl. 905/P/1856 Eliav/Haider: Österreich und das Heilige Land, Dok. Nr. 33
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Als Ort der Steinlegung wählte ich nach dem Auftrag des hochw. P. General-Comissär`s die Mitte der vorderen Hauptmauer, 3 ½ Fuß unter dem Schweller der Haupteingangsthüre; bei welcher Stelle wir mit den Mauern gerade angekommen waren. Um ½ 3 Uhr NM, nachdem alle Geladenen erschienen waren, begaben sich H Consul von Pizzamano und ich, in Staats-Uniform, vom kk Konsulat aus, in Begleitung der genannten Herren auf den Bauplatz, wo der Stein zur Legung bereits vorbereitet war und die Poliere Wenz u Wiltner und sämtliche Arbeiter unser harrten. P. Andreas las mit lauter Stimme die von Sr. Eminenz gesandte Urkunde; worauf sämtliche Anwesende auf einem breit gehaltenen Tische die Unterzeichnung vornahmen. Zur Vervollständigung der in den Stein zu legende Gegenstände hatte ich den Grundriss und die Totalansicht unseres Pilgerhauses auf Pergament gezeichnet; und diese Zeichnungen wurden nun samt den gesendeten Gold-, Silber- und Kupfermünzen und der Urkunde vom H Consul in die vergoldete Kapsel gelegt, und der Deckel derselben durch Fra Carlo zugelöthet. Hierauf bereiteten der H Consul und nach ihm alle Anwesenden durch je 3maliges Auftragen des Mörtels mit der Kelle (im Nahmen Gottes, 1. des Vaters, 2. des Sohnes und u 3. des heil. Geistes) die für den Stein nöthige Mörtel-Unterlage; der Stein wurde auf selbe gelegt; nach Einlegung der Kapsel mit dem Deckel geschlossen; und hierauf führten der H Consul und nach ihm alle Anwesenden die üblichen 3 Hammerschläge auf den Stein. Nachdem sämtliche Gäste sich in das kk Konsulat zurückbegeben hatten, wurde der Stein alsogleich vermauert, welcher vor kaum 6 Stunden in Jerusalem angekommen war. […]“24
Lohnenswert ist auf jeden Fall ein Blick auf die Anwesenden bzw. Abwesenden bei der Grundsteinlegung – jedoch immer mit dem Aspekt der Kurzfristigkeit vor Augen, unter dem das Ereignis zustande kam. Dass mit dem Lateinischen Patriarchen der in Jerusalem höchste katholische Würdenträger nicht eingeladen wurde, überrascht nicht weiter, war dieser doch ein absoluter Gegner des Hospizprojekts. Und auch auf persönlicher Ebene lässt sich sein Verhältnis zu Konsul Pizzamano aus heutiger Sicht bestenfalls mit mehr als unterkühlt beschreiben. Umso bemerkenswerter war jedoch die Anwesenheit des Repräsentanten des Sultans, des osmanischen Statthalters von Jerusalem, Kiamil Pascha. Schon der Bericht Endlichers erwähnt die wohlwollende Haltung des Statthalters dem Hospizprojekt gegenüber. Tatsächlich half er bereits bei der Abwicklung des Grundstückskaufs und gewährte auch während des Baues Erleichterungen wo er nur konnte. Kiamil Pascha hatte Anfang 1855 seinen Posten in Jerusalem angetreten. Der erst knapp über zwanzigjährige Statthalter war anglophil und den Europäern gegenüber aufgeschlossen, ganz im Sinne der Tanzimatspolitik der Hohen Pforte. Diese trieb eine Öffnung des Landes voran und hatte erst kurz zuvor mit 24
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dem Handschreiben des Sultans vom 18. Februar 1856 einen Höhepunkt erreicht.25 Kiamil Pascha verband mit Pizzamano ein amikales Verhältnis, das angesichts der Tatsache, dass das Osmanische Reich nach dem Krimkrieg in der Habsburgermonarchie – noch mehr als in den Jahrzehnten zuvor – einen befreundeten Staat sah, verstärkt wurde.26 Nach Ende seiner Amtszeit in Jerusalem sollte Kiamil Pascha zahlreiche wichtige Funktionen auf Regierungsund Verwaltungsebene bekleiden und viermal das Amt des Großwesirs innehaben. Die Zeremonie der Grundsteinlegung selbst verlief, wie der Bericht zeigt, abgesehen von der Anrufung der Dreifaltigkeit beim Auftragen des Mörtels, in Form einer säkularen Zeremonie. Auf den ersten Blick mag dies überraschend erscheinen, doch ist zu berücksichtigen, dass der geistliche Teil der Steinlegung, die sogenannte Konsekration des Grundsteins, von Kardinal Rauscher bereits in Wien vorgenommen worden war. Dadurch sollte seine Funktion als Bauherr des Unternehmens nochmals unterstrichen werden. Dennoch enthielt der Ablauf wesentliche Versatzstücke aus dem Kanon der Grundsteinlegungen, wie er sich seit dem Hochmittelalter entwickelt hatte.27 Eine tiefere symbolische Bedeutung ist auch im Umstand zu sehen, dass ein aus Österreich stammender Stein dem Pilgerhaus grundgelegt wurde. Dies sollte einmal mehr die Identität des Hauses als österreichische Gründung betonen. Der Umstand ist auch unter einem anderen Gesichtspunkt bemerkenswert, wurden doch zur selben Zeit bei zwei großen Sakralbauten in Wien Grundsteine, die aus Jerusalem stammten, gelegt, um deren Bedeutung unter Hinweis auf ihre direkte Verbindung zu Jerusalem zu unterstreichen. Es zeigt sich daran, wie sehr um die Mitte des 19. Jahrhunderts Jerusalem als heiliger Boden im öffentlichen Bewusstsein der Habsburgermonarchie präsent war.
5. Exkurs: Grundsteine aus Jerusalem in Wien
Acht Monate vor der Steinlegung auf der Baustelle des Pilgerhauses in Jerusalem erfolgte am 24. April 1856 in Wien im Rahmen eines feierlichen Festaktes die Grundsteinlegung 25
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Vgl. dazu: Barbara Haider-Wilson: Tanzimat revisited: Über den Einfluss des Verhältnisses von Orient und Okzident auf die völkerrechtliche Stellung des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert, in: Haider-Wilson/Graf (Hg.): Orient & Okzident, Wien 2016, 405–447 Vgl. dazu: Helmut Wohnout: Das Österreichische Hospiz – Gründung vor dem Hintergrund machtpolitischer Rivalitäten, in: Markus St. Bugnyár/Helmut Wohnout (Hg.): Im Orient zu Hause. Das Österreichische Hospiz in Jerusalem, Wien 2015, 27–57, hier 32–36 Bei einer wissenschaftlichen Tagung im Österreichischen Pilgerhospiz aus Anlass des 160. Jahrestages der Grundsteinlegung hielt Ulrike Seeger 2016 unter dem Titel „Grundsteinlegung als Programm – Jerusalem, Silvester 1956“ einen instruktiven Vortrag zur historischen Tradition des Ablaufs von Grundsteinlegungen, dessen Veröffentlichung noch aussteht.
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der Votivkirche. Sie wurde zum Dank für den glimpflichen Verlauf des Attentats auf Kaiser Franz Joseph vom 18. Februar 1853 errichtet. Der junge Kaiser hatte den Anschlag auf sein Leben nahezu unverletzt überstanden. Neben dem Arsenal handelte es sich bei der Votivkirche um das zweite frühe Großprojekt des Historismus in der Reichshaupt- und Residenzstadt. Das Datum der Steinlegung war bewusst gewählt: Es handelte sich um den zweiten Hochzeitstag des Kaiserpaares. Der Grundstein, den Kaiser Franz Joseph gemäß dem damals üblichen Kanon mit einem dreimaligen Schlage versenkte, stammte vom Ölberg in Jerusalem. Bildete ein Stein aus der Heimat den symbolischen Ausgangspunkt des Baues des Österreichischen Hospizes in Jerusalem, so sollte umgekehrt ein Stein aus Jerusalem am Anfang des patriotischen Sakralbaues der Votivkirche stehen. Der enge Zusammenhang mit dem in Gründung befindlichen Hospiz wird schon durch die handelnden Protagonisten offensichtlich: Es war Erzherzog Ferdinand Maximilian, der wenige Tage nach dem gescheiterten Attentat auf Kaiser Franz Joseph im Februar 1853 den Bau einer Dankes- bzw. Votivkirche anregte und als Schirmherr des Vorhabens fungierte. 28 Während seiner zwei Jahre später stattgefundenen Reise ins Heilige Land verfügte er, dass der Grundstein der neu zu bauenden Kirche am Ölberg in Jerusalem gebrochen werden sollte. Als Verantwortlicher zur Durchführung des Vorhabens fungierte der Architekt des Pilgerhauses, Anton Endlicher. Gleich nach seiner Ankunft in der Heiligen Stadt im März 1856 fertigte er einen Entwurf an und sorgte für die Brechung des Steines auf Gethsemane und dessen fachgerechte Bearbeitung in zwei Stücken. Diese erfolgte durch einen jüdischen Künstler russischer Herkunft, Reb Mosche Mordechai Schnitzer.29 Der Stein trug auf ausdrücklichen Wunsch Erzherzog Ferdinand Maximilians die Inschrift „Wo Christi Herz brach, brach man mich“ und galt mit seiner „gehöhlten Unterlage und einem Decksteine“ bei Zeitgenossen als „Prachtstück“.30 Knapp, aber gerade noch rechtzeitig traf der Stein eine Woche vor der Grundsteinlegung am 18. April 1853 in Wien ein. Der Bau der Votivkirche fungierte als ein erstrangiges Prestigeprojekt des Kaisertums. Es sollte nach den Erschütterungen der Revolution 1848/49 sichtbar die Einheit der – vom Kaiser angeführten – Völker des Reiches unter dem Schutz und Schirm der katholischen Kirche demonstrieren. Bei der Grundsteinlegung griff das Kaisertum erstmals während der langen Regierungszeit Franz Josephs bewusst auf die Symbolik des irdischen und himmlischen Jerusalems zurück. Wolfgang J. Bandion hat dargelegt, wie die Habsburger die Kontextualisierung ihres Herrschaftsanspruchs mit dem Heiligen Land seit der frühen Neuzeit sehr bewusst gepflegt hatten. Wie schon seine Vorgänger 28 29 30
Doris Fahrngruber: Die Wiener Votivkirche als Gedächtnisort, Dipl.-Arbeit, Wien 2012, 24–37 Frankl: Jerusalem, 124 Arthur Breycha-Vauthier: Österreich in der Levante. Geschichte und Geschichten einer alten Freundschaft, Wien-München 1972, 110 (FN 12); Redl: Reise, 143
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führte bekanntlich auch Franz Joseph unter seinen Herrschertiteln jenen des Königs von Jerusalem.31 In den Monaten zwischen den Steinlegungen der Votivkirche und des Hospizes wurde noch für ein weiteres Gotteshaus in Wien der Grundstein in Jerusalem besorgt. Es handelte sich hierbei um die große jüdische Synagoge in der Wiener Leopoldstadt, und auch hier wurden wechselseitige Bezüge sichtbar. Der 1858 fertiggestellte Bau fasste bis zu 4000 Gläubige. Der Grundstein des Leopoldstädter Tempels wurde in derselben Art und von denselben Künstlern entworfen, gebrochen und bearbeitet wie sein Pendant der Votivkirche. Als Spiritus rector des Unternehmens fungierte der jüdische Arzt und Schriftsteller Ludwig August Frankl. Er war eine der führenden intellektuellen Persönlichkeiten der Wiener jüdischen Gemeinde, als deren Sekretär er fungierte.32 1848 setzte er sich mit der von ihm begründeten Zeitung Sonntagsblätter für die Ziele der Revolution ein. Später widmete er sich verstärkt philanthropischen Projekten. Darunter befand sich die Realisierung eines von Elise Herz-Lämel in Erinnerung an ihren Vater, den böhmisch-jüdischen Großkaufmann Simon von Lämel, initiierten Schulprojektes in Jerusalem.33 Unter der aschkenasischen Bevölkerung Jerusalems erregte das vom Geist der Aufklärung getragene Vorhaben Missfallen. Pizzamano befürwortete es vehement. Frankl reiste nach Jerusalem, wo dank der tatkräftigen Unterstützung des Konsuls die Gründung der Schule gelang. Sie wurde am 29. Juni 1856 eröffnet.34 Im Zuge der Reise besorgte Frankl auch den Grundstein für den Leopoldstädter Tempel. Als mit dem jüdischen Glauben eng konnotierter Ort, von dem der Stein stammte, wurde der Berg Zion ausgesucht.35 Es war – wie im Fall der Votivkirche – der Architekt des Pilgerhauses, Anton Endlicher, von dem die Entwurfzeichnung für die künstlerische Bearbeitung des Steins stammte. Frankl und Endlicher hatten 31
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34 35
Vgl. dazu: Wolfgang J. Bandion: König von Jerusalem. Zur Genese eines Titels, in: Markus Bugnyár/Helmut Wohnout (Hg.): Im Orient zu Hause. Das Österreichische Hospiz in Jerusalem, Wien 2015, 75–99. Luise Hecht: Aneignung „jüdischer“ Räume. Das Palais Schey und seine Bewohner, in: Gabriele Kohlbauer-Fritz (Hg.): Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard, Wien 2015, 243–268, hier 259–261. Darüber hinaus zur Biographie Frankls: Louise Hecht: Eine polyphone Biographie – Einleitung, in: Dies. (Hg.): Ludwig August Frankl (1810–1894). Eine jüdische Biographie zwischen Okzident und Orient, Köln-Weimar-Wien 2016, 11–45 Nikolaus Vielmetti: Der Wiener jüdische Publizist Ludwig August Frankl und die Begründung der Lämelschule in Jerusalem 1856, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, Bd. 4, Tel Aviv 1975, 167–204; ders.: Das Wirken des österreichisch-ungarischen Konsulats in Jerusalem zugunsten der jüdischen Bewohner, in: Böhler (Hg.): Mit Szepter und Pilgerstab, 41–53, hier 46–48. Eliav/Haider: Österreich und das Heilige Land, Dok. Nr. 31, Nr. 32 und Nr. 35 Vgl. dazu: Gabriele Kohlbauer-Fritz: Ludwig August Frankl und das Jüdische Museum, in: Louise Hecht (Hg.): Ludwig August Frankl (1810–1894). Eine jüdische Biographie zwischen Okzident und Orient, Köln-Weimar-Wien 2016, 323–338, hier 333 f.
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sich in Jerusalem kennengelernt und offensichtlich angefreundet. Der von Endlicher entworfene Grundstein für den Leopoldstädter Tempel wurde wiederum von Reb Mosche Mordechai Schnitzer gebrochen und gemeißelt. In den Worten Frankls formte Schnitzer den Stein „in wirklich vollendeter Weise zu einem sarkophagartigen Kästchen“ um. Frankl setzt fort: „Ich ließ in erhabener Gold-Quadratschrift den Längsseiten die Psalmverse einmeißeln: ‚Von Zion aus, der Schönheit Inbegriff strahlt Gott einher.‘ und ‚Deine Knechte lieben jeden Stein von Zion und jedes Erdstäubchen davon, finden sie anmutig.‘ Die schmalen Seiten zeigen die Jahrzahl, den Namen der heiligen Stadt, mit der Notiz, woher der Stein gekommen ist. Den Deckel ziert erhaben das Wappen Davids und Weintrauben, die Symbole der Fruchtbarkeit.“ 36 Im Umstand, dass diese beiden großen Sakralbauten, die im Vorfeld der wenig später mit dem Schleifen der Stadtmauern beginnenden Wiener Ringstraßenarchitektur entstandenen sind, ihren Grundstein aus Jerusalem erhielten, liegt wohl eine noch tiefere Symbolik. Jedenfalls hatte der Wiener Rabbiner Max Grunwald 50 Jahre später auf die gemeinsame Geschichte der beiden Gotteshäuser Bezug genommen, als er formulierte: „Erinnert sich einer, dass dieser Judentempel als ein Mahnwort auf Wiener Boden steht? Dass der Grundstein zu diesem Wahrzeichen längst entschwundener Blütezeit von ein und demselben Stück gebrochen ist, wie der Stein, der in den Grund der Votivkirche gelassen ist?“37 Seine Worte stammen aus dem Kriegsjahr 1917, als der Leopoldstädter Tempel durch einen Brand schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie stimmen noch nachdenklicher angesichts der Tatsache, dass der große Tempel in der Leopoldstadt 1938 im Zuge des Novemberpogroms zerstört wurde. Noch eine weitere Grundsteinlegung einer Wiener Kirche sollte in einem engen Kontext zu Jerusalem und zum Pilger-Hospiz erfolgen. Es ist abermals Wolfgang J. Bandion, der in seinem Standardwerk „Steinerne Zeugen des Glaubens“ auf diesen Umstand hinweist. Diese Steinlegung erfolgte allerdings erst einige Jahrzehnte später. Es handelte sich dabei um die Canisiuskirche im neunten Wiener Gemeindebezirk. Am 15. Oktober 1899 wurde der Grundstein zum Bau versenkt. Neben der Schmerzhaften Mutter Gottes sollte das zu errichtende Gotteshaus den Göttlichen Heiland am Ölberg zum Patrozinium haben. Dementsprechend wurde dem Bau als Grundstein ein kostbarer Stein aus der Grotte der Todesangst im Garten Gethsemane eingefügt und mit einem Stück roten Marmor belegt, der beim Bau des Österreichischen Hospizes in Jerusalem in einer Tiefe von sechs Metern gefunden worden war. Dieser, so die Annahme, stammte noch aus dem alten Jerusalem. Das Stück war vor seinem Transport nach Wien noch zusätzlich in der Grabeskir36 37
Frankl: Jerusalem, 125 Zit. nach: Gabriele Kohlbauer-Fritz: Prolog, in: Dies. (Hg.), Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard, Wien 2015, 17–22, hier 18
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che mit der Felsöffnung, in der nach der Überlieferung das Kreuz Christi eingesenkt war, und mit dem Heiligen Grab in Berührung gebracht worden.38
6. Der Hospizbau gerät ins Stocken
Kehren wir zurück zum Bau des Pilgerhauses in Jerusalem: Bis Jahresende 1856 waren die letzten Fundamentgrabungen des Hauptgebäudes abgeschlossen. Wie bereits erwähnt, hatten die Grundmauern zumindest an der Stelle der Hauskapelle Sockelhöhe erreicht. Doch bald traten gravierende finanzielle Engpässe auf, die den gesamten Weiterbau gefährdeten. Die ursprünglich für das Bauvorhaben veranschlagten 66.000 Gulden waren bereits im Frühjahr 1857 verbraucht. Während in Jerusalem Pizzamano Kredite aufnahm, um den Weiterbau zu ermöglichen, schrillten in Wien die Alarmglocken. Das Generalkommissariat musste seine gebundenen Mittel auflösen. Um das Projekt nicht in halbfertigem Zustand sistieren zu müssen, wies Kardinal Rauscher seinen Architekten Endlicher an, vom ursprünglichen Bauplan Abstriche zu machen.39 Die beiden Seitengebäude sowie das zweite Stockwerk fielen weg. Letzteres wurde erst in der Zwischenkriegszeit errichtet. Anton Endlicher jedoch, vom Ehrgeiz beseelt, sein Projekt durchzuziehen, hielt sich nicht an die Vorgaben des Kardinals und setzte die Arbeiten entsprechend seinem ursprünglichen Bauplan fort. Daraufhin kam es zum Eklat. Kardinal Rauscher löste Endlicher im Juli 1857 ab und übertrug die Bauführung dessen Polier Josef Wenz. Anton Endlicher kehrte nach Wien zurück. Es war ihm nicht mehr vergönnt, ein anderes, größeres Bauvorhaben als Architekt zu realisieren. Er erkrankte an Wassersucht und verstarb bereits Ende 1859, im Alter von nur 32 Jahren, in Wien.40 Dem neuen Bauleiter wurde eingeschärft, keinesfalls mehr oder anders zu bauen als von Wien aus angewiesen. Mit lediglich 12.000 Gulden, die nochmals genehmigt wurden, sollte er den Bau der Kapelle und zweier Zimmer abschließen. Davon abgesehen war gerade das Erdgeschoß bis Anfang 1858 fertiggestellt. Immerhin konnte einige Monate später, 38 39
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Wolfgang J. Bandion: Steinerne Zeugen des Glaubens. Die heiligen Stätten der Stadt Wien, Wien 1989, 194 Denn der Bau hatte bis Juli 1857 bereits mehr als 103.000 Gulden verschlungen, und weitere 150.000 bis 200.000 Gulden wären erforderlich gewesen, um den ursprünglichen Bauplan Endlichers zu finalisieren. Jahrbuch des österr.- ungar. Pilgerhauses „Zur heiligen Familie“, Jg. 1, Wien 1905, 14–20 Anton Endlicher starb am 7. 12. 1959, er wurde am Schmelzer Fredhof begraben. ÖStA/HHStA, SB Partezettelsammlung, Zl. 23-544; http://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/wien/08-alservorstadtpfarre/03-014/?pg=405, abgerufen am 6. 3. 2020 (Alservorstadtpfarre, Sterbebuch 1859, Eintrag 1020). Für die Nachschau in Matricula dankt der Verfasser Herrn David Fliri, MA.
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am 20. Oktober 1858, der Schlussstein gelegt werden. Dies konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Bau vorläufig unvollendet bleiben musste. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 160.000 Gulden, also das Doppelte der ursprünglich veranschlagten Summe, in den Bau des Pilgerhauses geflossen. Zwischenzeitlich meldeten sich verschiedene Fürsprecher, um das ursprüngliche Vorhaben doch noch zu einem Ende zu bringen. Vor allem die österreichischen diplomatischen Vertreter bei der Hohen Pforte wiesen wiederholt auf den immensen Imageschaden für die Monarchie im gesamten Osmanischen Reich hin, wenn dieses Prestigeprojekt im Sand verlaufen würde; beispielhaft sei nochmals aus dem bereits eingangs erwähnten Schreiben des Freiherrn Franz von Reyer zitiert: „Jetzt steht das Gebäude bis zum ersten Stocke dar, so fest und schön gebaut, daß ich glaube es wird nicht nur das schönste Hospiz, sondern auch das solideste Gebäude weit und breit im Orient seyn, würdig des mächtigen katholischen Staates, der es errichtet; […] Eine Einstellung des Baues wäre aber ein solcher Skandal, daß es besser wäre, man hätte nie begonnen – ein Skandal, der den Einfluß Oesterreich’s in Jerusalem zerstören und bei der französischen Partei, welche jene des Patriarchen ist, wahren Jubel hervorrufen würde.“41
Als prominentester Fürsprecher für eine Weiterführung des Vorhabens engagierte sich abermals Erzherzog Ferdinand Maximilian, der jüngere Bruder Franz Josephs. Nägel mit Köpfen machte jedoch einmal mehr Konsul Pizzamano. Er errechnete einen Betrag von weiteren 85.000 Gulden, der für die Fertigstellung notwendig war. Dabei berücksichtigte er nicht nur die von Kardinal Rauscher angeordneten Redimensionierungsvorgaben, sondern nahm selbst noch weitere Kostenreduktionen vor. Etwa verzichtete er auf die ornamentale Ausschmückung der Fassade. Etwas übereifrig schlug Pizzamano bei Außenminister Buol-Schauenstein vor, die Kirche sollte bei der Regierung um ein Darlehen von 80.000 Gulden ansuchen, rückzahlbar in acht Jahren aus dem Erlös der jährlichen Sammlungen des Generalkommissariats. Kardinal Rauscher reagierte zwar ungehalten, stimmte aber immerhin dem reduzierten Projekt Pizzamanos zu. Was die Finanzierung anlangte, erhoffte Rauscher den von Pizzamano errechneten Betrag zur Fertigstellung als zinsenloses Darlehen von der Regierung zu erhalten, und zwar aus den Mitteln des sogenannten bosnischen Religionsfonds, der seinerseits Teil des ungarischen Religionsfonds war.42 Dies lehnten die betroffenen Ministerien unisono mit der Begründung ab, dass der 41 42
DA, Präs. J 6, o. Z., (26. 6. 1857), vgl. auch: Wohnout: Hospiz, 40 f. Die Religionsfonds gingen auf Joseph II. zurück, wobei neben den Erlösen aus den vom Kaiser aufgelösten Klöstern auch Gelder eingeflossen waren, die aus älteren Fonds stammten. Dass die Erträge kirchlichen Zwecken dienen sollten, war unstrittig. Was die Frage der Verfügungsberech-
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ungarische Religionsfonds dazu nicht in der Lage sei und damit erst recht das Staatsbudget belastet worden wäre. Sie waren nur bereit, ein verzinsliches Darlehen zu gewähren. Dafür schlugen sie den einzigen Religionsfonds vor, der über Überschüsse verfügte – den griechisch-orientalischen (auch als griechisch-orthodoxen oder griechisch-nichtunierten bezeichneten) Religionsfonds der Bukowina.43 Nach einigem Hin und Her einigten sich der Kardinal und die Minister auf ein mit 5 Prozent verzinsliches Darlehen mit einer Laufzeit von 15 Jahren, inklusive einer möglichen Fristerstreckung.
7. Der Bau als innenpolitisches Konfliktthema
Die beabsichtigte Finanzierung via Religionsfonds schlug in Wien hohe Wellen, wie ein Aktenfund im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, genauer gesagt im Bestand der kaiserlichen Kabinettskanzlei bzw. des Reichsrates zeigt. Die Dokumente legen plausibel dar, weshalb der Bau des Pilgerhauses zu Ende des Jahrzehnts fast völlig zum Erliegen kommen musste. Kaiser Franz Joseph befasste den Reichsrat mit der Angelegenheit einer Dotierung des Weiterbaus mit öffentlichen Mitteln aus dem griechisch-orientalischen Religionsfonds der Bukowina; ein bereits für sich genommen interessanter Vorgang. Wir schreiben das Jahr 1858, drei Jahre nach dem Abschluss des Konkordats, das die enge Allianz von Thron und Altar auch völkerrechtlich festschrieb. Der Reichsrat, wie er seit dem Rückbau des Konsti-
43
tigung anlangte, so stellte diese, wie es Stefan Schima formuliert, „ein langlebiges Konfliktthema dar, das je nach Vorzeichen der gerade maßgeblichen Staat-Kirche-Beziehung zu behandeln war.“ Zwar wurde staatlicherseits im Konkordat von 1855 das ursprüngliche Eigentumsrecht der Kirche anerkannt. Bis zur einvernehmlichen Regelung hatte allerdings die staatliche Verwaltung fortzubestehen. Da eine solche Regelung nie zustande kam, wurden die Religionsfonds als eine Art Stiftung betrachtet, über deren Erträge weiterhin der Staat entscheiden konnte. Stefan Schima: „Wiederaufbau“ auf rechtlicher Ebene: Die Behandlung der Frage der Weitergeltung des Konkordats seit dem Jahr 1945 unter besonderer Berücksichtigung des Vermögensvertrages von 1960, in: Hans Paarhammer/Alfred Rinnerthaler (Hg.): Kirchlicher Wiederaufbau in Österreich, Frankfurt a. M. 2016, 287–375, hier 298. Zur Thematik der Religionsfonds insgesamt: Dieter A. Binder: Religionsfonds, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8, Freiburg-Basel-Rom-Wien 1999, Sp.1047; Max v. Hussarek: Religionsfonds, in: Ernst Mischler/Josef Ulbrich: Österreichisches Staatswörterbuch, Bd. 4, Wien, 2. Aufl., 1909, 92–103 Der griechisch-orientalische Religionsfonds der Bukowina galt als einer der reichsten Religionsfonds. Er unterschied sich von den katholischen Religionsfonds dadurch, dass er auf staatliche Zuschüsse nicht angewiesen war, über beträchtliches Vermögen verfügte und daraus kontinuierlich Gewinne erwirtschaftete. Kurt Scharr: Der griechisch-orientalische Religionsfonds der Bukowina 1873–1949. Kontinuitäten und Brüche einer prägenden Institution des Josephinismus, Wien-KölnWeimar 2020, 86
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tutionalismus im Laufe des Jahres 1851 – gipfelnd in den sogenannten „Sylvesterpatenten“ – bestand, verfügte über keine klassischen parlamentarischen Kompetenzen. Er war seit August 1851 nur mehr ein „Rat der Krone“ und konnte vom Kaiser als Konsultativorgan herangezogen werden.44 Und genau das geschah im Falle des Finanzierungsvorschlags für das Hospiz. Noch interessanter ist aber Folgendes: Bei den unter dem Vorsitz Erzherzog Rainers im Juli 1858 stattgefundenen Beratungen stieß der Vorschlag der Ministerien des Kaisers auf scharfen Gegenwind.45 Die Abgeordneten, die allesamt vom Kaiser ernannt wurden und nicht aus einer Wahl hervorgegangen waren, sparten nicht mit herber Kritik, teilweise mit durchaus antiklerikalen Untertönen, so als wäre bereits die liberale Ära nach 1866 angebrochen. Offen war davon die Rede, dass die Bischöfe und Prälaten wohl über genug eigene Mittel verfügen würden, um den Bau selbst zu finanzieren. Auf herbe Kritik stieß auch die Rolle Pizzamanos, dem man eine zulasten des Staates gehende Kompetenzüberschreitung vorwarf. Es sei nicht seine Aufgabe, sich an die Spitze eines privaten Bauvorhabens im Ausland, als das das Pilgerhaus bezeichnet wurde, zu stellen und damit ob der entstandenen Probleme dem Ansehen des Staates schwer zu schaden. Auch die Vorgehensweise, das Darlehen aus dem griechisch-orientalischen Religionsfonds der Bukowina zu entnehmen, wurde kritisch hinterfragt, umso mehr, als dies das Außenministerium blauäugig damit begründet hatte, das Pilgerhaus würde Untertanen des Kaisers aus allen Konfessionen zur Verfügung stehen.46 Dies ging schon insofern völlig an der Realität vorbei, als angesichts der bestehenden Rivalitäten an den Heiligen Stätten ein katholisches Haus für griechischorthodoxe Pilger nicht in Betracht kam. Die im Reichsrat geäußerte Kritik ging aber noch weiter. Angesichts der konfliktbeladenen Situation zwischen den Konfessionen im Heiligen Land wurden bei einer Fertigstellung des katholischen Pilgerhauses mit Mitteln aus dem griechisch-orientalischen Religionsfonds mögliche diplomatische Komplikationen mit dem Zaren als Schirmherrn der Orthodoxie in den Raum gestellt. Als Minimum wurde von mehreren Reichsräten verlangt, das Einvernehmen mit der griechisch-orthodoxen Kirche in der Bukowina herzustellen und vor einer Gewährung des Darlehens die Zustimmung des griechisch-orthodoxen Bischofs einzuholen.
44
45 46
RGBl. 196/1851. Siehe zum Reichsrat und der schrittweisen Beschneidung seiner Zuständigkeiten im Zuge des Abbaus des Konstitutionalismus: Wilhelm Brauneder: Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, Teilband 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, 69–237, hier 128–141 Für das Folgende vgl: ÖStA, HHStA, Bestand Reichsrat, Zl. 755/1858 ÖStA, HHStA, Bestand Kabinettskanzlei, Zl. 2086/1858
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Letzteres unterbreitete auch Erzherzog Rainer im August 1858 dem Kaiser als mögliche alternative Vorgehensweise.47 Es entsprach der Verwaltungspraxis des Fonds, den Bischof und das Konsistorium in Czernowitz vor der staatlicherseits zu treffenden Letztentscheidung einzubinden, wenngleich es in der Frage der Verfügungsgewalt über den Fonds unterschiedliche Sichtweisen gab.48 Franz Joseph griff den Vorschlag Erzherzog Rainers auf, als ihm der Akt mit dem Darlehen zur Genehmigung seitens des Außenministers vorgelegt wurde. Er bewilligte das Darlehen vorderhand nicht, sondern wies den Cultusminister an, sich mit dem griechisch-orthodoxen Bischof in Czernowitz, Eugen Hackmann, ins Einvernehmen zu setzen und ihm danach die Sache neuerlich vorzutragen.49 Bei Bischof Hackmann, einem an sich gesamtstaatlich gesinnten Kirchenmann, stieß das Ansinnen keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Er verlangte eine staatliche Garantie für die Rückzahlung des Darlehens, welche das Cultusministerium nicht übernahm. Die ganze Angelegenheit hatte sich mittlerweile bis in das Jahr 1860 hingezogen. Nunmehr hatten sich auch die Rahmenbedingungen nachteilig verändert. Denn nach der Niederlage im Krieg von 1859 schlitterte Österreich in eine schwere Krise der Staatsfinanzen, die letztlich ausschlaggebend dafür war, den Neoabsolutismus schrittweise zurückzunehmen.50 An einen Zuschuss für das Hospiz durch die öffentliche Hand war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken. Im Jänner 1861 entschied Franz Joseph endgültig, kein Darlehen zu gewähren.51 Dies wohl auch deshalb, da der griechisch-orientalische Religionsfonds angesichts der angespannten Budgetsituation einen beträchtlichen Geldbetrag direkt an die leeren Staatskassen leistete.52 Vermutlich war sich Kardinal Rauscher zu diesem Zeitpunkt schon längst darüber im Klaren, auf diese Weise nicht zu den benötigten Geldern kommen zu können. Einmal mehr zerschlugen sich die Hoffnungen auf einen raschen Bauabschluss, selbst wenn der Kardinal nunmehr Mittel aus seinem Privatvermögen hinzuschoss.
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51 52
ÖStA, HHStA, Bestand Reichsrat, Zl. 755/1858 Scharr: Religionsfonds, 51–59; Hussarek: Religionsfonds, 102 ÖStA, HHStA, Bestand Kabinettskanzlei, Zl. 2086/1858. Zu Bischof Eugen Hackmann vgl.: Scharr: Religionsfonds, 116–150 Die Staatsschuld betrug am Ende des Neoabsolutismus drei Milliarden Gulden. Wie hoch diese Verschuldung war, wird daran deutlich, dass die jährlichen Einnahmen des Staates aus Steuern und sonstigen Einkünften damals gerade einmal 300 Millionen Gulden betrugen. Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 243 ÖStA, HHStA, Bestand Kabinettskanzlei, Zl. 4231/1860, Exp. 11.1.1861 Scharr: Religionsfonds, 141 f.
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8. Fertigstellung und Eröffnung des Pilgerhauses
Seitens des bereits verschuldeten Generalkommissariats flossen seit geraumer Zeit nur mehr kleinere vierstellige Guldenbeträge nach Jerusalem. Es dauerte nochmals Jahre, bis wenigstens die notwendigste Innenausgestaltung geschaffen werden konnte. Der Außenbau wurde 1859 zumindest einigermaßen abgeschlossen. Ende 1859/Anfang 1860 wurde die Ausgestaltung der Kapelle in Angriff genommen. 1861 wurden der von Heinrich von Ferstel entworfene Altar und das Altarbild von Leopold Kupelwieser nach Jerusalem gebracht. So tastete man sich recht langsam und nur mehr Schritt für Schritt in Richtung einer zumindest rudimentären Fertigstellung vor. Die Franziskaner waren von Anfang an davon ausgegangen, dass die Seelsorge des Hospizes in den Händen des österreichischen Generalkommissariats und damit bei ihnen liegen würde. Dies trachtete wiederum der Patriarch mit allen Mitteln zu verhindern. Dazu kam, dass auch vonseiten der österreichischen Regierung Wert darauf gelegt wurde, dass die „Schutzgewalt“ der Monarchie über das Haus eindeutig sein solle. Nach einem zähen Ringen und der Befassung der Congregatio de Propaganda Fide in Rom einigten sich Kardinal Rauscher und Patriarch Valerga darauf, die Seelsorge durch Weltpriester aus der Monarchie besorgen, die Administration aber über das Wiener Generalkommissariat laufen zu lassen. Dies fand sowohl die Zustimmung des Heiligen Stuhls als auch die der politischen Stellen in Wien. Mit der Entscheidung, das Haus mit Weltpriestern zu besetzen, war aber der Keim eines neuen Konflikts gelegt: Denn der zwischen Kardinal Rauscher und Patriarch Valerga gefundene Kompromiss war auf Kosten der Franziskaner vor Ort zustande gekommen. Ab nun standen die Franziskaner dem Pilgerhaus mehr als zurückhaltend gegenüber, und es sollte in den kommenden Jahrzehnten zu wiederholten, teils schweren Konflikten kommen. Ende 1862 entsandte Kardinal Rauscher die ersten beiden Geistlichen nach Jerusalem. Das Pilgerhaus nahm folglich Anfang 1863 seinen Betrieb auf. Mit dem 19. März 1863, als der mit dem Hospiz nunmehr versöhnte Patriarch die Kapelle weihte und damit das Haus endgültig seiner Bestimmung übergab, begann der eigentliche Pilgerbetrieb zu laufen. Noch im angebrochenen Jahr 1863 kamen 73 Pilger ins Hospiz, im darauffolgenden sollten es bereits mehr als doppelt so viele sein. Dabei war das Innere des Hauses anfangs nur spartanisch ausgestattet. Der zweite Rektor des Hospizes, Hermann Zschokke, schrieb dazu rückblickend: „Die innere Einrichtung bestand aus 12 eisernen Betten, einigen gelb angestrichenen Tischen, Sesseln und Kästen ohne Rückwand aus weichem Holze. Die Kapelle besaß einen Altar von Marmor mit den allernotwendigsten Kirchengeräten. Die Zimmer des ersten Stock-
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werkes waren mit weichen weißen Platten belegt, während die Zimmer im Parterre und die Korridore mit rohen Steinen gepflastert waren.“53
Zu den Hauptaufgaben der ersten Vorsteher gehörte also, die Bettenkapazität zu erhöhen, da der Pilgerstrom stetig zunahm. Sukzessive erfolgte eine einigermaßen adäquate Ausstattung des Hospizes, wobei es in der Verwaltung des Hauses immer wieder zu Problemen zwischen den als Rektor und Vizerektor eingesetzten Weltpriestern und der Kustodie, über die die finanziellen Mittel bezogen wurden, kam. Einen markanten Einschnitt in der Geschichte des Pilgerhauses stellte der Besuch Kaiser Franz Josephs 1869 dar, bezog der Monarch doch während seines Aufenthalts in der Heiligen Stadt darin sein Quartier.54 Für die weitere Entwicklung des Hospizes, aber dar53 54
ÖStA, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Bestand Neuer Kultus, Zl. 1848-Pr./1902 – 65 Pal. Vgl. auch: Wohnout, Hospiz, 51 Vgl. dazu den Beitrag von Markus St. Bugnyár in dieser Festschrift
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über hinausgehend des Pilgerwesens aus der österreichisch-ungarischen Monarchie insgesamt, besaß die explizit den Charakter einer Pilgerfahrt tragende Anwesenheit des Kaisers eine enorme Signalwirkung: In Hinkunft wusste sich jeder Wallfahrer aus der Donaumonarchie auf den Spuren seines Kaisers. Damit war der religiöse Charakter der Wallfahrt endgültig auch mit einer patriotischen Note verbunden und eine neue Phase in der Geschichte des Pilgerwesens aus der Monarchie zu den Heiligen Stätten in Jerusalem eingeläutet. Sie sollte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 andauern.
Franz Joseph im Orient. Motive und Stationen der Reise zur Eröffnung des Suez-Kanals Franz Joseph: Politiker, Pilger, Privatier Markus St. Bugnyár
Seit Jahrtausenden hat die Stadt Jerusalem einen ganz besonderen, einen mystisch-magischen Klang in den Ohren der Menschen. In den Tagen der Propheten war die alte Königsstadt Davids der Ort des Tempels, in dem Gott Wohnung nehmen wollte (etwa Ex 15,17) und zu dem das Volk Israel seine Blicke und Schritte lenkt. Damals schon, lange vor dem Erscheinen Jesu Christi, sprengte eine frohe Kunde aus Jerusalem nationale Grenzen und erreichte Fromme anderer Kulturkreise (etwa 2 Kön 5). Heute ist der Strom der Pilger dank moderner Technik zwar nicht unzählbar, sondern vielmehr Anlass zu gläubigem Staunen. Die alten Verheißungen der Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2; Mi 4) erfüllen sich in unseren Tagen und werden es auch weiterhin tun, lediglich unterbrochen durch die Wirrnisse politischer Entwicklungen. Auch daran hat sich im Laufe der Geschichte dieser Region wenig geändert. Jerusalem betört. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein solches Zeitfenster, in dem Jerusalem wieder gesteigerte Aufmerksamkeit und mehr Besucher zuteilwurden. Nach dem Ende des Kreuzfahrerreiches war es erst Napoleons Expedition 1798–1801 und deren wissenschaftliche Entdeckungen, die Europa in eine regelrechte Ägyptomanie1 versetzten und sich auf den gesamten Nahen Osten beziehen sollten. Für spezifischere österreichische Interessen war die 1840 mit Preußen und England akkordierte Hilfe für die Hohe Pforte bei der Zerschlagung des ägyptischen Vorstoßes die entscheidende Initialzündung.2 Wobei das konkrete, physische Jerusalem und seine Gegebenheiten sehr realistisch als wirtschaftlich we1 2
Siehe Assmann J., Ägypten passim Siehe Fischer R. T., Österreich, 122 f.: „In den kommenden Jahren sollte es zu einer Reihe religiöser, politischer und wirtschaftlicher Initiativen Österreichs im Nahen Osten kommen, wobei sich auch Wien in starkem Maß auf die Kapitulationsverträge stützte. […] Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Krieg des Jahres 1840 und dessen Ausgang für die Präsenz der Donaumonarchie im Nahen Osten einen bedeutsamen Einschnitt darstellte und eine Intensivierung kaiserlicher Orientpolitik nach sich zog. Neue Chancen und Herausforderungen, aber auch neue Konflikte warteten auf Österreich in den arabischen Ländern.“ Ähnlich Haider B., Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, 59 f.
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nig gewinnbringend eingestuft wurden. Das imaginierte, das idealisierte, das Emotionen und Potenziale mobilisierende Jerusalem war und ist von Belang.3 Jenes, von dem jeder schon einmal gehört hat und seither oftmals ein sakral-verbrämtes, jedenfalls aber kein indifferentes Bild in sich trägt. Wir dürfen davon ausgehen – auch Franz Joseph. Der Kaiser begreift sich bei seiner Reise in den Orient 1869 in Jerusalem primär als Pilger, der auf sein eigenes Seelenheil und jenes seiner Frau und Kinder bedacht ist. Sobald das Erzhaus als solches in seiner Gesamtheit zum Inhalt der Andacht wird, gewinnt die Reise eine öffentliche, eine politische Dimension, die vollends zutage tritt, wenn das fromme Tun des Kaisers unmittelbar und bis zum Ende der Monarchie in Wort und Bild seinen Untertanen als Vorbild zur Nachahmung empfohlen wird. Sei es durch den alsbald publizierten Bericht seiner Reise durch den mährischstämmigen Historiker und Priester P. Beda Dudík oder aber durch die Bildprogrammatik der Kapelle des österreichischen Pilger-Hospizes an der Via Dolorosa.
1. Anlässe zur Reise
Vordergründiger Anlass zur Reise des Kaisers in den Orient war die hochoffizielle Einladung des Khediven Ismail von Ägypten zur feierlichen Eröffnung des Suez-Kanals, die eine Vielzahl europäischer Würdenträger auf persönlichem Wege im Frühjahr 1869 erreichte.4 Das Land am Nil wollte sich mit diesem bestaunten und akklamierten Projekt nicht nur der Welt öffnen, sondern sich mit ihr dauerhaft verbinden und sich als der 3
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Metternich an Kaiser Ferdinand, am 24. 2. 1846, bei Eliav M./Haider B., Österreich, 102 f.: „Allerdings kann nicht in Abrede gestellt werden, daß der commerzielle Verkehr der österreichischen Monarchie mit Palästina nur von geringem Belange ist. Alleine dieses ist auch der Fall bei jenen auswärtigen Mächten, die demungeachtet zu Jerusalem eigene Agenten besolden und eine solche, an sich wenig bedeutende Auslage nicht scheuen, um ihre anderweitigen Zwecke zu verfolgen. Soll nun das österreichische Kaiserhaus, dessen angestammte Frömmigkeit weltbekannt ist, hierin allein zurückstehen und den nachtheiligen Schein von Theilnahmslosigkeit auf sich laden? […] Die Beachtung finanzieller Rücksichten dürfte in den Hintergrund treten, wo politische und religiöse Interessen so laut, so unbezweifelt das Wort führen.“ Siehe dazu Böhler B. A., Kaiser, 163. Kaiserin Eugénie war mit Graf Ferdinand von Lesseps verwandt; gemeinsam mit ihrem Gatten, Napoleon III., unterstützte sie dessen Projekt zur Errichtung des Suez-Kanals auch in schwierigen Phasen der Planung. Schon Napoleon I. ordnete erste Landvermessungen für einen solchen Bau an, wie auch die Eroberung Ägyptens insgesamt darauf abzielte, England von seinen Besitzungen in Indien abzuschneiden; vgl. Rothkopf C. Z., Opening 19. zur österreichischen „Vorgeschichte“ dieses Suez-Kanals, die mit den Namen Alois Negrelli von Moldelbe, Carl Ludwig Freiherr von Bruck und Pasquale di Revoltella verbunden ist, siehe ausführlich Agstner R., 125 Jahre, 16–30.
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Moderne gewachsen präsentieren. „Das Land am Nil, so seine [des Khediven Ismails] Auffassung, gehörte nun nicht mehr zu Afrika, sondern zum modernen Abendland.“5 – „Die festliche Eröffnung eines Opernhauses in Kairo sollte das Ereignis entsprechend abrunden.“6 Der Kanal galt den Zeitgenossen als historische Leistung von geostrategischer Bedeutung. 160 Kilometer lang, erbaut 1859 bis 1867 unter der Ägide des französischen Generalkonsuls in Ägypten, Ferdinand von Lesseps,7 verband er die wirtschaftlichen Interessen Europas, Afrikas und Asiens.8 Der Seeweg zwischen Bombay und Triest verkürzte sich durch diesen neuen Seeweg um für den Handel bedeutsame 37 Tage.9 Österreich allen voran musste an dieser Pioniertat Interesse haben, war doch der adriatische Hafen sein Tor zur Welt, aus der Seide, Tee, Gewürze, Wolle, Farbe, Zinn und andere Rohstoffe hereinströmten.10 Einfach einen habsburgischen Erzherzog zu entsenden, mag dem wenig reiseaffinen Franz Joseph anfänglich opportun erschienen sein,11 verbot sich aber aus dynastischen Gründen. Keinesfalls wollte man nach dem Krieg von 1866 dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm diese internationale Bühne überlassen.12 Es musste nun mehr denn je darum gehen, allerhöchste Präsenz und außenpolitische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren;13 auch bereits auf dem Weg in den Orient, durch die entlegenen Ostgebiete der Monarchie, die erstmalig ihres Kaisers in persona ansichtig werden sollten.14 5
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Fischer R.-T., Österreich, 209. Insofern hatte Ismail nicht nur Politiker und Staatenlenker (die Könige von Schweden, Norwegen und Griechenland lehnten eine Teilnahme ab; der König der Niederlande entsandte seinen Bruder; Russland und Großbritannien begnügten sich mit einer Repräsentanz durch ihre Botschafter an der Hohen Pforte) eingeladen, sondern auch Wissenschaftler und Künstler: Zu den bekannteren Persönlichkeiten der Eröffnung zählen Henrik Ibsen, Émile Zola, Théophile Gautier, Alexandre Dumas und Thomas Cook; siehe Rothkopf C. Z., Opening 5., 33 ff. Ebd., 210. Ferdinand von Lesseps kam zuerst 1832 nach Alexandria, als Entsandter des französischen auswärtigen Dienstes, vgl. Rothkopf C. Z., Opening, 21. Vgl. Zenker W., Suez, 7–24; Fischer R.-T., Österreich, 209 f. Vgl. Herrmann J. F., Eröffnung, 6. Vgl. Böhler B. A., Kaiser, 164. Vgl. Fischer R.-T., Österreich, 199. In: Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 102, offenbart Franz Joseph zudem seine Abneigung gegenüber Seereisen: „das Wasser ist nicht mein Element“. Rothkopf C. Z., Opening, 5: „According to contemporary gossip, Franz Josef agreed to come only when he learned that the king of Prussia was sending his son the crown prince as his delegate.“ Vgl. Fischer R.-T., Österreich, 199 f. Franz Joseph hatte zu Beginn seiner Reise einer Ministerratssitzung in Pest vorgestanden, und hernach führte ihn sein Weg von Bazias (Rumänien) über Widdin, Rustschuk, teils per Bahn, teils per Dampfer, nach Varna (Bulgarien) ans Schwarze Meer.
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Das Ende seiner Präsidentschaft im Deutschen Bund erzwang den machtpolitischen Umbau der Donaumonarchie und die Verlagerung ihres Schwerpunktes zu den nichtdeutschsprachigen Völkern und Gebieten. Als Gegenpol im Westen pochte Wien auf ein stärkeres Bündnis mit Frankreich als Stillhaltepakt in einem Anlassfall gegen Preußen.15 Seit der kurzen Regentschaft Ferdinand Maximilians in Mexiko (gekrönt 1864, hingerichtet 1867), vermittelt durch Frankreich, war auch ein emotionales Band zwischen den beiden Kaiserpaaren Napoleon III. & Eugénie und Franz Joseph & Elisabeth fortan von privaterer Natur.16 1867 fand die Weltausstellung in Paris statt, zu deren Besuchern auch Sultan Abdülaziz (1861–1876) zählte. Das erste Mal machte sich ein osmanischer Sultan in friedlicher Absicht auf den Weg nach Europa; er besuchte Paris, London und Wien.17 Eine Freundlichkeit und Auszeichnung, die bei guter Gelegenheit zu erwidern war. Als Architekt der Reise in den Orient in Ausrichtung und Verlauf gilt Graf Friedrich Ferdinand Beust.18 Er identifizierte die vier Stationen des Weges. Ägypten direkt anzusteuern, verbot das Decorum; den reüssierenden Vasall in Kairo konnte man seinem eigentlichen Herren in Konstantinopel nicht vorziehen. Athen lag gleichsam am Weg und entsprach den persönlichen Interessen des Kaisers an den Zeugnissen hellenischer Kultur. Das Heilige Land hatte eine nicht zu überbietende religiöse Komponente, zumal man seit 1849 über ein eigenes Generalkonsulat und ab 1863 auch über ein Pilgerhaus in Jerusalem verfügte. Und wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm ebenso Stadt und Land in seinem Itinerarium führte. Das Ziel der Reise blieb Ismailia, Kairo, Gizeh und der Suez-Kanal. An all diesen Orten fanden sich österreichische Untertanen, die in Franz Joseph ihren Landesherren erkannten,19 von seinen Gesandten vor Ort Schutz vor den Osmanen erwarteten und von ihm selbst finanzielle Zuwendungen während seines Besuches, die er auch großzügig gewährte.20 Auch in diesem Aspekt galt es, die Deutschen zu übertrumpfen. 15 16 17 18 19
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Vgl. Wohnout H., Das österreichische Hospiz, 53; Fischer R.-T., Österreich, 200. Vgl. Böhler B. A., Kaiser, 163. Vgl. Fischer R.-T., Österreich, 200. Vgl. Fischer R.-T., Österreich, 199. Im ägyptischen Ismailia lebten 1869 rund 5000 Einwohner, die hier eigens als Arbeiter zur Errichtung des Suezkanals angesiedelt worden waren. „Mit Erstaunen vernahm Reichskanzler Beust hier von Ferdinand de Lesseps, in welch starkem Ausmaß sich Österreicher am Bau des Kanals beteiligt hatten und dies immer noch taten: Allein in der Stadt lebten rund 800, im Bezirk Ismailia etwa 2.000 vor allem aus Dalmatien stammende Staatsbürger der Donaumonarchie.“ Fischer R.-T., Österreich, 211. Herrmann J. F., Eröffnung, 24, spricht von 52.000 Francs, die Franz Joseph in Istanbul an Arme und Bedürftige verschenkt hätte, zusätzlich zu 4.200 Dukaten für die Dienerschaft des Palastes
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In Franz Josephs langer Regentschaft war diese Reise in den Orient die am weitesten entfernte und die zeitlich anspruchsvollste: Sie dauerte vom 25. Oktober bis zum 6 Dezember 1869. Nie wieder wollte der Kaiser seinem Reich so lange so fern entzogen sein.21
2. Quellen zur Reisebeschreibung
An Quellen zu den Begebenheiten dieser historisch einmaligen Reise des Kaisers aus Anlass einer geostrategischen Veranstaltung von globaler Bedeutung stehen uns der Reisebericht des mährischen Nationalhistorikers und Benediktinerpaters Dr. Beda Dudík, erschienen 1870, zur Verfügung, die 1889 aufgelegte wesentlich kürzere Darstellung von J. F. Herrmann und aus dem Jahr 1909 jene von Feldmarschall J. Groller von Mildensee. Nicht zu vergessen und das persönliche Erleben des erlauchten Reisenden am treffendsten beschreibend die Briefe, die Franz Joseph an seine Gemahlin Elisabeth während dieser Reise expedierte. Der Kaiser geht sehr akribisch vor und will ein kohärentes Bild seiner Eindrücke vermitteln; wo er in seinen Erzählungen in Verzug ist, aufgehalten in seinem Schreiben durch ihn langweilende Empfänge und diverse Lustbarkeiten wie etwa die Jagd,22 die er frisch und tagesaktuell zu Papier bringen möchte, kehrt er zum fallengelassenen Faden der vorausgehenden Erzählung zurück und setzt neu ein. Das Schriftbild der späteren Veröffentlichung bei Nostitz-Rieneck erleichtert das Verständnis der Zusammenhänge ungemein.23 Franz Joseph tritt diese Reise (so erfahren wir von ihm selbst) nur widerwillig an, zeigt sich aber alsbald zunehmend interessiert: „Ich möchte wohl noch immer lieber zu Hause sein, aber l’apétit vient en mangeant und ich muß schon gestehen, daß ich anfange Geschmack an derselben zu finden, wozu wohl auch der glänzende Humor meiner ganzen Suite beitragen mag.“24
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und weiteren 1.000 Dukaten für die Besatzung der Yacht Sultanie; ebd., 30, von 60.000 Francs, die der Kaiser in Jerusalem und Bethlehem gespendet haben soll. Die Reise „hatte 42 Tage gedauert, und ein Weg von 7520 km war zurückgelegt worden, davon 2070 zu Land und 5450 zu Wasser“; so in der Berechnung von Böhler B. A., Kaiser, 168 f. Für Verwunderung sorgte der Kaiser, als er im Garten des Khediven Ismail plötzlich ihm unbekannte Vögel erblickte, umgehend sein Gewehr herbeischaffen ließ und zu feuern begann. Die Aufregung bei der Dienerschaft war groß; dennoch erlegte Franz Joseph zwei Tiere, die er ausgestopft nach Wien verbringen ließ; vgl. Fischer R.-T., Österreich, 213. Bei Hummel R., Imperial Pilgrim, 168, findet sich der Hinweis, es gäbe auch einen zeitgenössischen Bericht eines D. Felice Valerga, Neffe des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, der den Kaiser bereits von Wien an begleitet habe und seine Notizen zu Papier brachte. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 82.
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Zur Entourage des Kaisers gehört der ungarische Ministerpräsident Gyula (Julius) Andrássy, Reichskanzler und k.u.k. Außenminister Friedrich Ferdinand Beust als auch der schon zu Lebzeiten legendäre Admiral Wilhelm von Tegetthoff, der Sieger von Lissa.25 Franz Joseph kommentiert froher Erwartung über seine Begleiter: „Kuriose Leute haben wir mit, z. B. einen sehr geschickten Doktor, der aber so wenig nobel aussieht, daß ich und der elnök26 der Ansicht sind, daß man ihn nirgends vorstellen kann, während Bellegarde ihn charmant findet; dann ist der Pater Beda Dudík, der sehr aufgeregt ist, mit seiner Bagage immer Konfusionen macht und schon eine Menge für Zeitungen geschrieben hat, was er schon überall auf die Post geben wollt, bis man ihn damit beruhigte, daß er es Morgen dem Kurier in Rustschuk mitgeben kann. Ich glaube wir werden auf dieser Reise noch viel Lachen über unsere Begleiter.“27 Seine Briefe an Elisabeth erweisen den Kaiser als belesen und wissbegierig. Er zitiert antike Schriftsteller und Sagen;28 er ergeht sich stilgewandt in Beschreibungen der Athener Akropolis und bezeichnet deren Besuch und die Besteigung der Pyramiden von Gizeh als Höhepunkte seiner Reise – und nicht etwa seine Andacht in der Grabeskirche oder die Jagd am Jordan: „Die Acropolis interessierte mich sehr, durch die vielen, noch unglaublich erhaltenen Bauten, die man dort sieht und die wir im Detail besichtigten“.29 Seine Gedanken eilen nach Jerusalem, und vor seinem geistigen Auge wähnt er sich bereits an der zentralen Stätte seiner frommen Andacht: „Ich werde an diesem Tage in Gedanken bei Dir sein und recht für dich beten. Auch am heiligen Grabe werde ich recht inbrünstig für Euch Alle beten.“30 25
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Herrmann J. F., Eröffnung, 12: „Mit Ehrfurcht und Hochachtung, ja mit Liebe blickte ich zu diesem Manne auf, der nicht blos um seiner Thaten willen groß und verehrungswürdig, sondern auch durch sein freundliches, wohlwollendes Wesen im Verkehr alle Herzen gewann.“ Franz Joseph nennt in seinen Briefen an Elisabeth den ungarischen Ministerpräsidenten Gyula (Julius) Andrássy durchgehend nicht bei seinem Namen, sondern elnök – ungarisch für Präsident. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 83. Vgl. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 96. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I 99. Herrmann J. F., Eröffnung, 25: „Am 4. November besuchte Se. Majestät der Kaiser in Begleitung des Königs von Griechenland und der hervorragendsten Reisebegleiter die Akropolis, das Pantheon und das Erechtheion, dann den Theseustempel und den Aeolustempel (Tempel der Winde). Se. Majestät zeigte für Alles das lebhafteste Interesse. Seine Aufmerksamkeit erstreckte sich sogar auf die Trümmer des Pantheon-Frieses und die Statuen-Fragmente, welche in den Säulenhallen der Propyläen untergebracht sind. Besonders lange hielt sich der Kaiser bei den Karnatiden auf.“ Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 100. Ebd., 102, ist es Franz Joseph eine Erwähnung mit zwei Ausrufezeichen wert, dass sogar der elnök – Graf Gyula (Julius) Andrássy – am heiligen Grabe die Kommunion empfangen habe; offenbar erschien er dem Kaiser als ansonsten nicht besonders fromm.
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Wir werden im Detail noch auf die Ereignisse bei der Ein- und Ausschiffung Seiner Majestät vor Jaffa zu sprechen kommen (gerüchteweise meinte man den Kaiser bereits verloren; die Legendenbildung zu diesem Thema sollte noch lange den Anekdotenschatz in der Monarchie zum Topos heroischer Kaiser bestimmen31); insgesamt war der Wellengang der hohen Reisesuite durchgehend nicht allzu hold.32 „Gestern und Vorgestern wäre es rein unmöglich gewesen, zu schreiben, so bewegt war die See, auch war ich ziemlich miserable, wenngleich immer auf, und den ganzen Tag auf Deck. Ich habe täglich zweimal gespien, aber immer nur gleich nach dem ich etwas gegessen hatte; dann war mir immer viel besser, wenn nemlich Alles glücklich heraus war und ich nahm an Allem Antheil. Im Bett bin ich die letzten Nächte vom 8 Uhr bis 6 Uhr gelegen und habe recht gut geschlafen. Heute nacht hat sich das Meer sehr beruhigt und heute ist es recht angenehm. Wir konnten aber doch keine Messe haben, da es noch zu viel schwankt und auch Pater Dudík noch nicht wohl genug ist.“33
3. Konstantinopel
Der Sultan betrachtete sich als Gastgeber Franz Josephs, nicht nur in den engen Grenzen seiner Residenzstadt am Bosporus bei ihrer unmittelbaren Begegnung, sondern ebenso in Palästina und Ägypten. Straßen wurden aufbereitet, Zelte und Betten versandt, Mundschenke beordert, Diener bestellt, Spezereien importiert, Eskorten aufgeboten34 – Franz Joseph sollte die gesamte Fülle orientalischer Prachtentfaltung und Gastfreundschaft nachhaltig beeindrucken. „Beschreiben kann ich es nicht, wie es immer und immer schöner wird, immer wärmer und südlicher, die Häuser immer hübscher, bis die kaiserlichen Paläste anfangen, deren es hier sehr viele gibt, so wie unzählige schöne Kasernen und man 31
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Vgl. Herrmann J. F., Eröffnung, 28; und ebd., 71: „Se. Majestät der Kaiser hat während dieser Reise sehr viel Muth und Entschlossenheit in gefahrvoller Zeit bewiesen und besonders bei Jaffa, bei der Aus- und Einschiffung war der Entschluß, bei dem damaligen Wetter eine Fahrt im Boot zu machen, wahrhaft heroisch.“ Glaise-Horstenau E. v., Franz Josephs Weggefährte, 160: „Der Kaiser, um seine Umgebung wie ein Familienvater besorgt, ließ vom ‚Greif‘ den auf der ‚Kaiserin Elisabeth‘ nachfahrenden Beust fragen, wie es den dort eingeschifften Herren ginge. Die Antwort lautete: ‚Ave Caesar, morituri te salutant!‘ – worauf der Kaiser ‚requiescant in pace‘ zurücksagen ließ. Auch er war seekrank, rief aber vergebens nach seinem völlig aktionsunfähig gewordenen Reisearzt.“ Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 100. Herrmann J. F., Eröffnung, 20, weiß sogar von einem Bäcker, den der Sultan eigens aus Wien habe kommen lassen. Vgl. dazu Fischer R.-T., Österreich, 205; Kuratorium, Jahrbuch 1909, 48; Hummel R., Imperial Pilgrim, 165.
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endlich um eine Ecke biegend Stambul liegen sieht mit der Aja Sofia und den zahllosen anderen Moscheen und Minarets, den herrlichen Cypressen.“35 Einzug und Empfang des österreichischen Kaisers und apostolischen Königs von Ungarn riefen in der gesamten Stadt Interesse hervor und folgten einer vorbereiteten Choreographie: „Eine große Volksmenge begleitete diese seltsame Matrosencolonne und lauschte den Melodien der österreichischen und ungarischen Marschweisen. Auch hier fehlte es nicht an originellen Straßenfiguren, welche lebhaft an die Burgmusik in Wien erinnerten. Der vor der Musik einherspringende orientalische Schusterjunge wurde von einem reitenden Polizisten durch einen Ruthenstreich über den Rücken zurechtgewiesen, und ein stämmiger Negerbursche gab durch Geberden seine Bereitwilligkeit zu erkennen, dem Tambour die große Trommel zu tragen. Die österreichische Marine-Musik marschierte, umgeben von zwei Reihen Lloyd-Matrosen mit Fackeln, dann von türkischen Polizeisoldaten als Schutzmannschaft, durch die vornehmsten Straßen von Pera in der Richtung nach dem Winterpalast des Sultans. Mehrere Herren der österreichisch-ungarischen Colonie führten diesen Zug. Es war jedoch in Folge des großen Gedränges nicht möglich, den projectirten Marsch ohne Unterbrechung fortzusetzen. Alles drängte sich heran, um die fremde Musik nicht blos zu hören, sondern auch deren Spieler zu sehen und so mußte öfter die Marschrichtung geändert werden. Es wurden hiebei die Fackeln gelöscht und die ganze zusammengehörige Gruppe verschwand allmälig, von ihren Führern geleitet, durch ein Durchhaus oder durch eine Seitengasse, um bald an einer anderen Stelle wieder zum Vorschein zu kommen. Dieses wiederholte sich noch einige Male, da oft das Gedränge zu stark wurde. Vor dem Palast des Sultans angelangt, öffnete die Wache nach kurzer Unterredung mit den Herren, welche den Zug führten, ein eisernes Gitterthor, worauf die Musikcapelle in den Garten des Palastes eintrat, um hier den beiden Herrschern ein Ständchen zu bringen. Se. Majestät der Kaiser erschien mit dem Sultan und mehreren hohen Persönlichkeiten auf einem Balcon und hörten beide Souveräne einige der vorgetragenen Musikstücke an.“36 Im Hafen der Hauptstadt steht dem christlichen Monarchen die persönliche Jacht des Sultans zur Verfügung37 und am Festland sogar die Räumlichkeiten des Gastgebers höchstselbst, der sich über die Ungemach des Appartementwechsels in seinem Harem hinwegtrösten lässt.38 35 36 37 38
Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 86. Herrmann J. F., Eröffnung, 21 ff. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 85: „Die Yacht ist unglaublich groß und luxuriös eingerichtet und läuft sehr schnell.“ Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 87: „Das Bett ist auf wenigstens 3 Personen berechnet und man
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Auch dem heutigen Besucher der Türkei und der Levante bleibt eine stets präsente orientalische Leichtigkeit nicht verborgen; es muss offenbleiben, ob Franz Joseph (andernorts stets als sehr arbeitsam beschrieben) sie ironisch kommentiert oder sich ihr aber (als willkommene Abwechslung) tatsächlich gerne hingibt. „Bald darauf machte ich dem Sultan meine Visite, dann ging ich in mein Zimmer, setzte mich auf den Divan, ließ mir türkischen Kaffee und Tschibuk reichen und machte gar nichts, eine herrliche orientalische Beschäftigung! Um 4 Uhr fuhr ich in Civil mit Prokesch und Bellegarde im Kaik ins goldene Horn, der eigentliche Hafen. Der Abend, die Beleuchtung, der Anblick laßt sich wieder nicht beschreiben. Ich schweige daher.“39 Der Sultan wird der legendären muslimischen Großzügigkeit in überschwänglichem Maße gerecht; die Informanten der Hohen Pforte haben neben dem Kaiser auch treffsicher die bedeutsameren Teilnehmer der Reisegruppe zur Auszeichnung empfohlen: „Der Sultan hat mir Gestern 4 Pferde und Beust, dem elnök, Hohenlohe und Bellegarde je eines geschenkt. Ich werde sie Heute ansehen und höre, daß besonders einer der für mich bestimmten Hengste sehr gut ist. Überhaupt ist der Sultan der charmanteste Hausherr, den man sich denken kann.“40 Allerdings bleiben den Besuchern aus dem Westen auch die Schattenseiten des Morgenlandes nicht gänzlich verborgen; an der Außenansicht, dem schönen Schein, wurde propagandistisch gefeilt, an den Details allerdings lässt sich erahnen, wie es um das Sein hinter den Kulissen bestellt ist.41 Franz Joseph benennt den Widerspruch ganz offenherzig; zu Hilfe kommen ihm dabei Vergleichsorte aus der heimatlichen Erfahrung, die dem Leser verdeutlichen, dass es auch in Wien offenbar nicht um so viel besser bestellt war – wenngleich auch nicht in den kaiserlichen Domizilien. „In Folge des schlechten, fetten Essens und des schlechten Wassers waren schon mehrere meiner Herren unwohl; mir hat es bis jetzt nichts gemacht. Ich war aber doch Recht froh, hier am Greif wieder eigene Küche zu finden. Das Schiff ist sehr voll und Alles ziemlich eng untergebracht, außerdem am Vordertheil eine Menge Lebensmittel, lebendige Hühner, Enten und Pokerln, es sieht aus wie auf der Seilerstätte in Wien.“42
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muß immer daran denken, was in demselben schon Alles vorgegangen sein muß. Ich wohne nemlich in den Zimmern des Sultans, während er sich in den Harem zurückgezogen hat. Der Palast ist feenhaft schön und sinnlos luxurios, aber recht unbequem zu bewohnen.“ Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 86. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 91. Herrmann J. F., Eröffnung, 16: „So schön und imposant der Eindruck Constantinopels von außen ist, so enttäuscht wird man beim Betreten der Stadt. Die engen, oft schmutzigen Gassen, das fast durchwegs schlechte Straßenpflaster, wo überhaupt ein solches ist und die unfreundlichen Wohnhäuser erregen in uns nicht den Wunsch, sich hier dauernd niederzulassen.“ Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 95. Ebd., 92: „Wir nahmen dann noch ein vortreffliches Déjeu-
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Anderes Untier zeigte sich ob des hohen Ranges der Besucher wenig beeindruckt: „So prächtig vieles hier ist, besonders was den äußeren Glanz betrifft, so elend ist doch auch wieder vieles Andere. Hier im Palais mußte Minister Plener in der Nacht das Bett verlassen, weil er es vor Flöhen nicht aushielt, während einige unserer Herren es vor Ratten nicht aushalten konnten, die in ihren Zimmern herum liefen und sogar über ihr Gesicht sprangen.“43
4. Athen
Athen musste nach den imposanten Eindrücken, die das alte Konstantinopel und die Stadt des Sultans wachgerufen haben, beinahe eine nur durch ihr antikes Erbe wieder versöhnlich stimmende Enttäuschung darstellen.44 Griechenland war eine noch junge und zudem instabile Monarchie, die vor kurzem erst einen Dynastiewechsel verarbeiten musste. Für das junge Königspaar Georg von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg (er war 24 zu diesem Zeitpunkt) und Olga, eine russische Großfürstin,45 war die Ehre des Besuches des Souveräns eines alteingesessenen und historischen Geschlechtes ein willkommener Propagandacoup. Franz Joseph schreibt nüchtern und sehr detailliert an Elisabeth, deren eigene Familie mit der Geschichte und Kultur Griechenlands eng verwoben war und denen sie in ihren Reiseambitionen und Stilempfinden stets treu bleiben sollte.46 „Die Stadt ist klein, der Theil durch den ich fuhr, ganz neu, mit geraden Gassen und kleinen hübschen Häusern. Alles sehr rein gehalten und einen freundlichen Anblick darbietend. Die Gegend ist bergig und ganz kahl und nur durch die auf einem Berge ober der Stadt liegende Acropolis, mit ihren Tempeln und Ruinen aus altgriechischer Zeit, etwas aufgeputzt. Im Ganzen ein trostloses Land! Das Schloß ist nicht groß, aber hübsch, mit einem herrlichen
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ner, das uns Prokesch gab, und das nach dem vielen schlechten Hoffressen, das wir jetzt genießen mußten, sehr wohl tat. Dann fuhren wir nach Haus durch viele enge Straßen, mit den buntesten, interessantesten Menschengewoge.“ Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 89. Ähnlich Herrmann J. F., Eröffnung, 16. Herrmann J. F., Eröffnung, 14, beschreibt die Gegend um den Hafen in Pyräus als nur aus der Ferne betrachtet schön; auf Dauer wolle sich hier niemand niederlassen. Aus dem Haus Romanow-Holstein-Gottorp, eine Enkelin des russischen Zaren Nikolaus I. Sie war die Tochter des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch Romanow und dessen Gemahlin Alexandra von Sachsen-Altenburg. Georgs Vorgänger als erster König der Hellenen war Otto, wie Elisabeth aus der Pfälzer Linie des Hauses Wittelsbach.
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grünen Garten voll Palmen und Orangen. Die Königin kam mir auf der Stiege entgegen und war, so wie der König, herzlich und freundlich. Sie ist sehr gewachsen und embellirt; wirklich ausnehmend schön.47 Sie führte mich in ihr Appartement, das sehr élégant eingerichtet ist, wo ich mit beiden Majestäten eine Zeit lang saß, dann stellte mir die Königin ihre 3 Damen vor und ich ihr mein Gefolge, worauf mich die Majestäten durch ihr Schlafzimmer und das Toilette Zimmer zu ebener Erde führten. Es ist dies die sehr freundliche Wohnung des Königs, die er mir abgetreten hat. Der Garten vor meinen Fenstern und hinter demselben sieht man die Acropolis. Gleich wird mich der König zum déjeuner holen, das ich allein mit den Majestäten einnehmen soll und ich muß daher schliessen, indem ich Dich und die lieben Kinder mit der größten Sehnsucht umarme und küsse.“48
Die Worte, die Franz Joseph im nächsten Brief zur Beschreibung des königlichen Nachwuchses finden wird, befremden ein wenig. Wenn man bemerkt, wie unproblematisch er sie seinen anderen, neutralen Beobachtungen und Empfindungen des Abends beigesellen kann, scheint hier weder Ironie noch Sarkasmus mitzuschwingen. Offenbar konnte diese Zeit noch so formulieren, ohne beleidigend zu sein. „Gestern, nachdem ich dir geschrieben hatte, holte mich der König zum déjeuner, das ich um 1 Uhr allein mit den Majestäten einnahm, während die beiden Kinder mit den englischen Kinderfrauen uns umgaben. Die Kinder sind sehr dick, ohne schön zu sein, der Ältere geht schon ganz gut und lallt etwas, ist dabei sehr lustig und gar nicht schön, der Zweite ist eigentlich horrible, ohne Haare und eine unbewegliche Fleischmasse. Es war ein freundliches Familienbild und ich fühlte mich recht heimlich, denn beide Majestäten sind so ganz einfach und natürlich. Nach dem kurzen déjeuner saß ich noch lang mit ihnen, schwätzend und rauchend und zog mich dann zurück. Ich ging allein in den Garten und lustwandelte dort im Schatten der Palmen, Orangen und anderen südlichen Bäumen und weidete mich am Anblick des Meeres, der Acropolis und des Tempels des Jupiter.“49
Lediglich die Zeugen antiker Blüte wecken in Franz Joseph Gefühle entspannter, versöhnter Zufriedenheit.
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Vgl. Glaise-Horstenau E. v., Franz Josephs Weggefährte, 160. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 97. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 98.
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5. Jaffa – Einschiffung
Die Hafeneinfahrt von Jaffa bildet eine natürliche Bucht, die selbst erfahrenen Matrosen bei heftigem Wellengang gehörigen Respekt einflößt.50 Schiffe bleiben in offenem Gewässer vor Anker, und ihre Besatzung lässt sich seit Menschengedenken in kleinen Booten an Land bringen. Nicht wenige Menschen der lokalen Bevölkerung verdienen mit derlei Schutzmaßnahmen ihren Lebensunterhalt. Sowohl bei der Ankunft am 8. November 1869 als auch bei der Abreise gen Ägypten am 15. November 1869 war das Wetter der allerhöchsten Suite nicht wohlgesonnen. Franz Joseph musste mit einem Seil um die Hüften gesichert werden. Seine Einschiffung sollte regelrecht spektakulär verlaufen. „Wir waren im eigentlichen Oriente mit seiner Bauart, seiner Vegetation. Vor den Mauern der Stadt, die senkrecht ins Wasser gehen liegt 100 Schritte eine Klippenreihe an der sich die Brandung der See hoch aufthürmt und bricht und um die man herumfahren muß, wenn man im Boote landen will. Es führt auch ein einige Fuß breiter Weg mitten durch die Klippen, doch den können nur eingeborene Schiffer mit einiger Sicherheit passieren, was sie unter Allahgeschrei später mit den Ministern thaten. Soll aber recht unheimlich gewesen sein.“51
Allzu lange hielt man sich in der Hafenstadt nicht auf; der österreichische Generalkonsul Graf Caboga-Cerva und die osmanische Vorhut nahmen die hohen Gäste und Herren in Empfang, und alsbald formierte sich eine beeindruckende Karawane für den Pferderitt nach Jerusalem. Beduinen der Umgebung in pittoresker Gewandung bildeten das Ehrengeleit und vollführten halsbrecherische Schaukämpfe, um den Ankömmlingen landesübliche Unterhaltung zu bieten und sich als Söhne der Wüste zu profilieren. „Der Kaiser ergötzte sich viel an den kühnen Reiterspielen dieser wilden Volksstämme.“52 Woher auch immer Franz Joseph das furchteinflößende Detailwissen über biographische Hintergründe und Herkünfte seiner aktuellen Leibwache bezog (von Caboga womöglich), die arabischen Stammesnomaden hatten ihre intendierte Wirkung erreicht: „Jeder von diesen Leuten hat eine Menge Morde und Verbrechen auf dem Gewissen, es sind aber sehr noble und einflußreiche Leute.“53 Wiederum klingen Franz Josephs Worte für 50
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Hier vermutet die fromme Legende jenen Ort, an dem der Wal den alttestamentlichen Propheten Jona wieder ausspie und die griechische Sage von Perseus’ Rettung der Andromeda angesiedelt wird; vgl. Hummel R., Imperial Pilgrim, 160. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 103. Herrmann J. F., Eröffnung, 30. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 107.
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den heutigen Leser ein wenig zynisch; für ihn selbst scheinen Blutrünstigkeit und Nobilität durchaus keine Gegensätze zu formulieren. Just in diesem Moment kreuzt sein Weg jenen des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, der bereits auf dem Rückweg von Jerusalem nach Jaffa und weiter nach Ägypten ist. Die Begegnung ist kurz, die Freundlichkeiten enden wollend, doch dem Protokoll entsprechend. Niemand konnte es Franz Joseph verübeln, wenn ihm die Erinnerung an Königgrätz 1866 noch wach vor Augen stand. „Nachdem wir die Preußen überstanden hatten, setzten wir unseren Marsch, immer im Schritt fort.“54
6. Jerusalem
Wenn auch Ägypten, Suez und der Kanal Ziel und Anlass dieser Expedition sind, Jerusalem übertrifft alles. Je näher man der Stadt rückt, desto feierlicher werden Ausdruck und Gefühl. Franz Joseph ist seit dem Ende des lateinischen Kreuzfahrerreiches der erste christliche Imperator, der wiederum – an jenem denkwürdigen 9. November 1869 – den Boden der Heiligen Stadt betritt.55 Ein Umstand, der in seiner Bedeutung und Folgewirkung schwerlich zu überschätzen ist. Erst gut 30 Jahre später sollte es ihm Wilhelm II. gleichtun. Das Glasmosaik in der Kapelle des Österreichischen Pilger-Hospizes inszeniert Franz Joseph als jenen Feldherren und Pilger, der seine Völker durch die Jahrhunderte in kriegerischer und friedlicher Absicht nach Jerusalem führte.56 Für das Pilgerwesen bedeutete dieser Besuch einen ungeheuren Aufschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den erst der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Erliegen brachte.57 Auf den Fußspuren Jesu, des Sohnes Gottes, dem Vorbild und Beispiel des irdischen Herren zu folgen und hierin alle Unterschiede der Geburt, des Standes und der Nation hinter sich zu lassen und zu nivellieren. Eine Pilgerfahrt in das Heilige Land und das gemeinsame Wohnen unter dem einigenden Dach des Pilgerhauses, das allen Völkern der Monarchie gleichermaßen offenstand, hatten zur Zeit entstehender Nationalismen eine unleugbar politische Implikation. 54 55
56
57
Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 106. Vgl. Fischer R.-T., Österreich, 200; ähnlich der Vorstand des Vereines zum Besten des heiligen Landes (Hg.), Das heilige Land, 242f; Hummel R., Imperial Pilgrim, 167. Herrmann J. F., Eröffnung, 56, nimmt diesen Gedanken auf, als Franz Joseph „als erster abendländischer Herrscher“ das Rote Meer erblickt und in der Ferne den „gewaltigen Gottesberg“ im Süd-Sinai. Vgl. Kuratorium (Hg.), Jahrbuch 1911, 7 f.; Böhler B. A., Franciscus Iosephus, 129ff; ders., Kaiser, 161. V. a. Arad L., The Crown of Jerusalem. Franz Joseph’s Dream of an Ideal Empire, Jerusalem 2012. Vgl. Wohnout H., Das österreichische Hospiz, 53 f., 55; Fischer R.-T., Österreich, 206 f.
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Ohne Ansehen der Person und ihrer Verfasstheit im Gebet gemeinsam vor Gott zu stehen, diente einem befriedigenden und die inner-österreichisch-ungarischen Spannungen kalmierenden Projekt. Franz Joseph wechselt in Paradeuniform und kniet nieder bei jeder sich bietenden Gelegenheit, um Jesus seine Reverenz zu erweisen. Für ihn selbst und seine Begleiter wie Biographen ist dies eine Herz und Sinne erhebende Szene, von der der Kaiser selbst betont, er werde immer von ihr ergriffen bleiben. „Bei dem Triumpfbogen erblickten wir zuerst die heilige Stadt: wir stiegen von den Pferden und ich kniete mich auf der Straße nieder und küßte den Boden, Ich werde diesen Augenblick nie vergessen. Die anwesenden Geistlichen wurden mir vorgestellt und wir stiegen wieder zu Pferd.“58
Der Weg wird entlang des Suks fortgesetzt, der zu beiden Seiten von unzähligen Schaulustigen gesäumt war, die den deutschen Kaiser durch Zurufe willkommen heißen wollten.59 Soldaten der Garnison mussten für Platz und Ordnung sorgen. Der Klang der Glocken der Grabeskirche vermischte sich mit Salutschüssen von der nahen Davidzitadelle.60 „Vor dem Thore stiegen wir ab und gingen zu Fuß durch dasselbe. Innen an der Stadtseite des Thores fanden wir die gesammte katholische Geistlichkeit, Franziskaner und Weltgeistliche, in Kirchengewändern versammelt, ich kniete wieder nieder61 und küsste das Crucifix, das mir der Weihbischof reichte, der dann eine recht schöne italienische Rede an mich hielt. Der Patriarch ist in Rom beim Concilium und der Weihbischof vertritt ihn. Nun ging es in der Procession unter Vortritt der gesammten, zahlreichen, Psalmen singenden Geistlichkeit, sehr langsamen Schrittes, durch enge schmutzige Gassen zur heiligen Grabkirche, die am Ende eines kleinen Platzes liegt. Türkische Soldaten bildeten Spalier. Gleich wenn man in die große, schöne, von einer hohen Kuppel überwölbte Kirche tritt, sieht man am Boden eine lange Steinplatte, auf welcher Christus nach dem Tode gesalbt wurde. Ich kniete mich mit dem Bischof vor derselben zu kurzem Gebete nieder, küßte den Stein und dann ging der Zug durch die Kirche zum heil. Grabe, das sich in der Mitte derselben, in einem eigenen 58 59 60 61
Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 108. Ebd. 104: „Unter den Mönchen fand ich, zu meiner Freude, einen Tiroler.“ Franz Joseph wurde 1869 noch mancherorts als deutscher Kaiser wahrgenommen. Vgl. Vorstand des Vereines zum Besten des heiligen Landes (Hg.), Das heilige Land, 242. Einige Quellen sprechen davon, dass Franz Joseph in dieser Position verharrte und die versammelte Menschenmenge ein „achtungsvolles und sympathetisches Stillschweigen“ ergriff; vgl. Vorstand des Vereines zum Besten des heiligen Landes (Hg.), Das heilige Land, 243.
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gedeckten kleinen Kirchlein befindet. In diesem kleinen Bau ist ein kleines Vorgemach mit dem Stein, auf welchem Maria Magdalena saß und dann ein noch kleinerer Raum, in den man durch eine ganz niedere Pforte tief gebückt gelangen kann, in dem sich der Stein und die Höhlung des heiligen Grabes befindet. Alles ist mit vielen Lampen und anderen Verzierungen geschmückt. Ich wurde hineingeführt und betete recht inbrünstig am Grabe unseres Erlösers und küßte den Ort, wo sein Leichnam gelegen.“62
Noch heute bilden Wächter in osmanischen Uniformen, mit dem roten, runden Fes auf ihrem Haupt, das Ehrenspalier der Kirchenhäupter auf ihrem Weg von der jeweiligen Re62
Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 109. Lesen wir zum Vergleich die Schilderung bei Herrmann J. F., Eröffnung, 30 ff.: Auch für ihn ist das Absteigen des Kaisers vom Pferd und sein andächtiges Küssen des geheiligten Bodens Jerusalems ein unauslöschlicher Moment; allerdings bezeichnet er den ortsansässigen Weihbischof Vincenzo Bracco als Patriarchen (der er erst 1873 wird), während der damalige Patriarch Erzbischof Giuseppe Valerga gar nicht selbst anwesend sein konnte, weilte er doch zum Ersten Vatikanischen Konzil just zu jenem Zeitpunkt in Rom. Auch in diesem Punkt ist Franz Josephs Darstellung zuverlässiger als der 20 Jahre spätere Bericht eines Militärs, dem andere Aspekte offenkundig wichtiger sind. „Am 9. November um 7 Uhr Vormittags setzte sich der großartige Zug wieder in Bewegung, um den dreistündigen Ritt nach Jerusalem anzutreten. Nach zwei Stunden wurde bei einem Hang in engem Thale Halt gemacht, um sich zum Einzuge in die heilige Stadt auch äußerlich vorzubereiten. Se. Majestät der Kaiser legte die Marschallsuniform an und nahm das Band des Maria-Theresienordens um die Brust. Alle Mitglieder der allerhöchsten Suite legten gleichfalls die Galauniform an. Noch war der steile Abhang des Plateaus zu ersteigen, auf welchem Jerusalem liegt. Auf der Höhe desselben erschien die erste Deputation: die ungarischen Juden Jerusalems mit einer ungeheuren Tricolore, auf welcher sich mit goldenen Buchstaben eine Aufschrift befand. Von nun an folgte Empfang auf Empfang. Tausende von Menschen säumten die Straßen zu beiden Seiten ein und erfüllten die Luft mit donnernden Zurufen. Beim ersten Triumphbogen, von welcher Stelle man den ersten vollen Blick auf Jerusalem hat, harrte der nicht katholische christliche Clerus des Kaisers, Allerhöchstdemselben als apostolischem Könige huldigend. Se. Majestät stieg vom Pferde und küßte andächtig den Boden, um dem höchsten Herrn in Ehrfurcht zu dienen. Niemand vermochte ohne tiefe innere Bewegung der einfachen und doch so ergreifenden Handlung beizuwohnen. Durch einen zweiten Triumphbogen nahten wir jetzt dem Jaffathor, wo Alles von den Pferden und Maulthieren stieg, um zu Fuß den Einzug in die Stadt zu halten. Eine starke türkische Wache hielt das Thor besetzt und wehrte der nachdrängenden Menge. Hier empfing den Kaiser der katholische Clerus; Erzbischof Bracco hielt eine längere italienische Ansprache, welche Se. Majestät erwiederte, um sodann in feierlicher Procession, unter Vorantragung des apostolischen Kreuzes, in die Kirche des heiligen Grabes geleitet zu werden, wo ein Tedeum abgehalten und der Segen Gottes über den kaiserlichen Besucher herabgefleht wurde. Es waren hochfeierliche Momente, die diesen Einzug verherrlichten; ihr Andenken hat sich tief und unauslöschlich in die Herzen Aller gesenkt, die ihm beiwohnten. Der Kaiser war hier im neuen österreichischen Hospiz abgestiegen.“ Siehe auch Dudík B., Kaiser-Reise, 180 ff.; Kuratorium Jahrbuch 1909, 45 ff.
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sidenz zur Liturgie in die Grabeskirche. Zahl und Farbenpracht dieser Kawassen versinnbildlichen den Rang des die Prozession abschließenden Kirchenfürsten, dem periodisches Aufschlagen am unteren Ende metallbewährter Zeremonialstäbe den Weg zur Grabeskirche freidröhnen sollen; in unserer Zeit ein Effekt, den die nicht minder beeindruckende israelische Polizei ihrerseits durch frenetisches Winken erreicht. Wenn Franz Joseph die Grabeskirche groß und schön nennt, überrascht das auch heute noch (zumal er in einem Brief an Elisabeth festhält, dass in Jerusalem die Omar-Moschee das in ästhetischer Hinsicht sehenswerteste – wenn auch schon ein wenig heruntergekommene – Gebäude bleibt63). Das Ineinander verschiedenster Bauetappen und Epochen, das Übereinander antiker Reste, zerstörter und fallweise mangels Ressourcen schlecht rekonstruierter Brocken, der unterschiedliche Geschmack der Jahrhunderte: beeindruckend, mystisch, erhebend – ja; doch schön? Die vielen Winkel, die zufällige Orientierungslosigkeit und Anordnung der Altäre der Riten und Konfessionen? Womöglich muss dem frommen Gemüt der Ursprungsort der Auferstehungshoffnung einfach als groß und schön erscheinen, zumindest sollte es den lieben Daheimgebliebenen so beschrieben werden. „Nachdem ich aus dem heil. Grab herausgekrochen war, wurde ein Te Deum gesungen und dann verließ ich die Kirche und wir gingen zu Fuß in das österreichische Hospiz, wo mich die 2, dasselbe leitende österreichischen Geistlichen empfingen und ich in freundlichen, reinen Zimmern sehr gut untergebracht war.“64
Unserem hohen Gast war vermutlich der Kontrast zu den ungeziefergeplagten Gemächern in Istanbul in schauerlicher Erinnerung. In den nachfolgenden Jahren kehrten noch weitere Habsburger im Hospiz ein: 1870 die Erzherzöge Ernst und Rainer, Kronprinz Rudolf 1881, 1885 Erzherzog Franz Ferdinand, der spätere Thronfolger. 2019 hat das Pilgerhaus schließlich die schon 1855 intendierte Zahl an Räumen und Betten erreicht. Wiederum wurde in unseren Tagen Geschichte geschrieben. Casa Austria – so der Name des neuen Gästehaustraktes. Ein Schelm, wer hier an reinen Zufall denkt. „Nachdem die offiziellen Empfangsfeierlichkeiten vorüber und die ermüdenden Zeremonien des Orients überwunden waren, frühstückte der Kaiser, und nachdem er die Uniform 63 64
Vgl. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 115. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 110. Die Hauschronik notiert für den 9. November 1869, die Ankunft des Kaisers wäre wohl „der glücklichste Moment für das Pilgerhaus“; vgl. Wohnout H., Das österreichische Hospiz, 54. Hummel R., Imperial Pilgrim, 169, nennt die Nacht vom 9. auf den 10. November 1869, eine „restless night of heat and mosquitoes“, ohne dafür eine Quelle zu nennen/nennen zu können.
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abgelegt, kleidete er sich wie der einfachste Tourist. Er stieg zu Pferde, um das Thal Josaphat und den Garten Gethsemane, den Oelberg, Siloah, den Berg Zion, das Coenaculum etc. zu besuchen.“65
Franz Joseph kehrt am folgenden Tag, dem 11. November, zur Hl. Messe in die Grabeskirche zurück; zur Erinnerung an seinen kaiserlichen Bruder Maximilian von Mexiko werden dessen Geschenke an die Franziskaner-Kustodie aus dem Jahr 1854 ausgestellt: Leuchter und Messbuch tragen das Wappen Maximilians, das Altartuch jenes seiner bedauernswerten belgischen Gemahlin Charlotte.66 „Wenn Du Néné schreibst, so sage ihr, daß ich am heil. Grab recht für unseren armen Max gebetet habe.“67 Um noch die von seinen Vorfahren gestiftete Tapisserie mit dem österreichischen Doppeladler in der Geburtsgrotte zu Bethlehem zu sehen, kam der Kaiser allerdings um einige Monate zu spät ins Heilige Land: Sie war dem Brand vom 7. Mai 1869 zum Opfer gefallen.68
7. Jaffa – Ausschiffung
Die Weiterreise am 14. November 1869 zur Eröffnung des Suez-Kanals wurde im Hafen von Jaffa zu einem lebensbedrohlichen Unterfangen; Wellen und Stürme türmten sich noch gewaltiger auf als schon bei der Ankunft.69 „Männer, welche das Meer an dieser Küste kennen, widerriethen auf das Entschiedenste die Ueberfahrt zu unseren, ziemlich weit in offener See liegenden Schiffen. Se. Majestät aber entschied sich, nachdem Vice-Admiral Tegetthoff auf die bestimmte Frage des Kaisers erklärt hatte, er, für seine Person allein, würde die Einschiffung wagen, für dieselbe und bestieg, gefolgt von Fürst Hohenlohe, Graf Bellegarde, Staatsrath Braun und Tegetthoff, eine mit sechs einheimischen Ruderern bemannte und von einem arabischen Steuermann geleitete Barke und wagte sich hinaus […]“,70 „[…], da er pünktlich am 15. November in Port Said erscheinen wollte. Um nicht von Bord geschwemmt zu werden, musste er sich an die Sitzbank der für ihn bestimmten Barke festbinden lassen. Danach nahmen die arabischen Ruderer 65 66 67 68 69
70
Vorstand des Vereines zum Besten des heiligen Landes (Hg.), Das heilige Land, 243. Vgl. Kuratorium, Jahrbuch 1909, 47. Ausführlicher zu Franz Josephs Memento an seinen Bruder Ferdinand Maximilian in Jerusalem, siehe Böhler B. A., Kaiser, 180 f. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 105. Nach Böhler B. A., Kaiser, 184. Beust, F. F. v., Aus drei Viertel-Jahrhunderten II, 310: „Tags darauf entkam der Kaiser nur haarscharf dem Tod. Als er sich in Jaffa einschiffen lassen wollte, kam ein Sturm auf, der die Wellen haushoch aufpeitschte.“ Herrmann J. F., Eröffnung, 33.
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den Kampf mit den Elementen auf. Inmitten der entfesselten Brandung war das Boot mehrmals nahe daran zu kentern oder an den tückischen Klippen vor Jaffa zerschellen. Für diejenigen, die dem waghalsigen Unternehmen vom Ufer aus zusahen, dehnte sich die halbstündige Überfahrt des Kaisers zu einer Ewigkeit.71 Einige Momente schien es, wie Beust notierte, als ob das Schicksal des Bootes und seiner Insassen besiegelt sei: „Auf einmal sehen wir es senkrecht aufgerichtet und in demselben Moment war es verschwunden. Ich höre noch heute die Worte des alten Lootsen (sic!), die mir durch Mark und Bein gingen: ,Il est perdu‘.“72 Auch der Kaiser war sich der ernsten Gefahr bewusst. „Nach der überstandenen, sehr ernsten Gefahr bekreuzte sich Se. Majestät und dankte Gott für die glückliche Rettung.“73 Die ortskundigen Ruderer nutzten die verdrießliche Lage der Reisenden, um mitten auf stürmischer See ihr Bakschisch nachzubessern.74 Die Krüge voll des Jordanwassers, das beim Besuch des Flusses für den Heimtransport geschöpft worden war, gingen bei diesem Abenteuer allerdings zu Bruch.75 Diese Episode findet einen Nachhall im Anekdotenschatz der Reisebeschreibung des Kronprinzen Rudolf, der 1881 das Heilige Land besuchte. „Als das Boot, in welchem der Kaiser überfuhr, schütternd auf den Küstenfelsen stieß, rief der arabische Steuermann dem Monarchen zu: ‚Non abbia paura, gran sultano, sono Mustapha con ti‘! (Nicht haben Furcht, großer Kaiser, bin Mustapha mit Dir!) Wirklich rettete er durch seine Kraft und Geschicklichkeit dem kühnen Fürsten vielleicht das Leben, und als ein Christ ihn später fragte, was der Kaiser ihm gegeben, sagte er: ‚Hundert Zechinen und che tu creder (was du glauben)‘, indem er auf sein Knopfloch wies. Er meinte damit einen Orden, der die Gestalt des Kreuzes hatte.“76
71 72 73 74
75
76
Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 110.120; ferner Beust, F. F. v., Aus drei Viertel-Jahrhunderten II, 309 f; Dudík B., Kaiser-Reise, 234 f. Fischer R. T., Österreich, 208; hier Beust, F. F. v., Aus drei Viertel-Jahrhunderten II, 310. Herrmann J. F., Eröffnung, 33. Herrmann J. F., Eröffnung, 34: „Einem Theile der allerhöchsten Suite, welche auf die ,Elisabeth‘ oder den ,Gargnano‘ zu kommen suchte, ging es gleichfalls schwierig, nur mit dem Unterschied, daß die unverschämten Ruderer mitten in der gefahrvollen Fahrt um ihren Bakschisch feilschten, um so die größtmögliche Summe zu erpressen.“ Vgl. Böhler B. A., Kaiser, 186. Wie die Geschichte um Erkrankung und Tod von Erzherzog Carl Ludwig 1896 zeigt, war es vielleicht auch besser so. Auch Ignaz Seipels Bad im Jordan könnte seiner Gesundheit abträglich gewesen sein. Rudolf von Österreich, Orientreise, 292.
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8. Suez
Die pompösen Feiern zur Eröffnung des Suez-Kanals nahmen die Tage 16. bis 20. November 1869 in Anspruch.77 Ein gestaffeltes Durchfahren des neuen Handelsweges zwischen Asien und Europa reihte Schiffe und Barken der Staatsgäste nicht etwa nach deren Größe und Tauglichkeit, sondern vielmehr nach Prestige und Staatsräson.78 Streckenweise werkten zu diesem Moment noch monströse Baggerschaufeln im Flussbett;79 immer wieder musste die Prozession haltmachen, bis gestrandete Teilnehmer wieder einsatzfähig gemacht werden konnten.80 Religiösen Pomp verliehen der Zeremonie die Repräsentanten der anwesenden Religionsgemeinschaften; jeder hatte für sich seine eigene Tribüne. „Es waren zwei große Pavillons errichtet. In dem einen, vom Halbmonde überragt und grün ausgeschlagen, waren die Priester des Islam versammelt. In dem andern, vom Jerusalemer fünf-Wunden-Kreuz gekrönt, mehr östlich, aber mit der Front gegen Südwest gerichtet, prangte, von reichem, christlichem Schmucke umgeben, der vor einem herrlichen Crucifix erbaute Altar, vor welchem in prunkendem Ornate der Erzbischof von Alexandrien mit zahlreicher Geistlichkeit kniete. Zwischen diesen Tempeln war ein dritter, kleinerer erbaut, auf welchem koptische, griechische, armenische und evangelische Priester, sowie ein Rabbiner an der Weihe des großen Culturwerkes in Eintracht Antheil nahmen, so daß man unwillkürlich an die Geschichte Nathans mit den drei Ringen erinnert wurde. Den Hintergrund dieser Pavillons bildete das spiegelglatte Mittelmeer, dessen unübersehbare Fläche die goldenen Strahlen der Sonne beschienen. Eine eigene, großartige und prächtig geschmückte Halle nahm die fürstlichen Gäste und deren Gefolge auf. In den ersten Reihen nahmen Platz: Ismail Pascha, die Kaiserin Eugénie und Kaiser Franz Josef, Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, Prinz Wilhelm von Hessen, Prinz und Prinzessin Heinrich von Holland, Herzog von Coburg, Kronprinz Tewfik Pascha, Prinz Hussein Pascha, Prinz Murat, Abd-el-Rader (sic!), Ferdinand Graf Lesseps, Graf Beust, Graf Andrássy, der egyptische Hofstaat, ferner auf den übrigen Plätzen die Botschafter und andere hohe Persönlichkeiten, Gesandte, Admirale und Generale als Vertreter der verschiedenen europäischen Mächte, sowie eine fast zahllose Menge der berühmtesten Män77 78 79 80
Vgl. Vgl. Rothkopf C. Z., Opening, 6 ff., Agstner R., 125 Jahre, 31–41. Herrmann J. F., Eröffnung, 40: „Am 17. November um 9 Uhr Vormittags begann die eigentliche Eröffnung des Canales. Ungefähr 45 Schiffe traten die Fahrt nach Suez an.“ Vgl. Herrmann J. F., Eröffnung, 43. Vgl. Fischer R.-T., Österreich, 211.
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ner der Politik, der Wissenschaft, der Kunst und Literatur.[81] Den Mittelpunkt alles Interesses bildeten die Kaiserin Eugénie, von Kaiser Franz Josef am Arme geführt, Ismail Pascha, dem man die freudigste Erregung vom Gesichte ablesen konnte, und der gefeierte Erbauer des Suez-Canales, Graf Lesseps. Die eigentliche Feier begann mit einem kurzen Gebete, welches der Scheik ul Islam von Cairo mit halblauter Stimme, gegen Mekka gewendet, ablas.82 Hierauf hielt der katholische Erzbischof von Alexandrien eine kurze Vesper in lateinischer Sprache, während welcher auch die übrigen Priester ihre Gebete verrichteten. Sonach folgte in französischer Sprache eine wahrhaft glänzende Festrede des in Wien durch seine gediegenen Kanzelvorträge bekannten Convertiten, späteren apostolischen Proto-Notarius, Monsignore Bauer. Mit weit hörbarer Stimme sprach der begeisterte Redner von den Leistungen der abendländischen Cultur und in einer Apostrophe an die anwesende Kaiserin, an den Kaiser und apostolischen König, von den Mitteln, die zur christlichen Civilisation führen müssen. Der Redner wurde trotz des feierlichen Characters der Scene mehrmals von lebhaften Beifallsrufen unterbrochen. Es waren wahrhaft feierliche, erhebende Momente, deren Bedeutung an der Scheide des Orients und des Abendlandes das Denken und Fühlen aller Anwesenden gar mächtig ergriff und Ismail Pascha, die Kaiserin Eugénie und Kaiser Franz Josef sichtlich bewegten, Lesseps sogar zum Schluchzen brachten. Zum Schlusse flehte der Abbé zum Himmel um seine Gnade und seinen Segen für das Volk, das von nah’ und fern herbeigekommen war, sowie für das Gedeihen des großen Werkes, welches nun beendet sei und dem allgemeinen Verkehr übergeben werde. Mit einem Te Deum und unter dem Donner einer Feld-Batterie und der Geschütze aller im Hafen liegenden Schiffe, unter den Klängen aller Musikcorps zu Lande und zu Wasser, unter dem von Hüte- und Tücherschwenken einer zahllosen, von der Erhabenheit des Augenblickes exaltierten Menge, schloß die feierliche Handlung, die jedem Theilnehmer unvergeßlich bleiben wird.“83
In den darauffolgenden Tagen bereiste Franz Joseph – in „tiefstem incognito, daher im einfachsten Reiseanzuge eines Touristen“84 – in Begleitung von Fürst Hohenlohe die Arbeiter81
82
83 84
Franz Joseph verhehlt in seinen Briefen an Elisabeth nicht seinen Widerwillen, als er bemerkt, wer sich alles auf den Weg nach Ägypten gemacht hatte, Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 125: „Auch Riciotti Garibaldi, des berühmten Garibaldi Sohn, war anwesend, wie das Fest überhaupt eine Menge Gesindel nach Egypten gelockt hatte.“ Sheikh Ibrahim es Sakka eröffnet sein Gebet mit den Worten, vgl. Rothkopf C. Z., Opening 1: „Allah! Bestow thy Benediction upon Europa who, as Thou seest, has come among us today. Bestow thy benediction upon the enterprise which promises to enrich our poor nation. Bestow thy benediction upon our master and father Ismailm who has presided over these great labors. Bestow thy benediction upon all peoples. And we prostrate ourselves at thy feet, O Allah!“ Herrmann J. F., Eröffnung, 40 ff. Herrmann J. F., Eröffnung, 52.
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stadt Ismailia und die Umgebung von Kairo; ein Beduinenscheich bewirtete seine Gäste mit Kaffee und Rauchwaren, ohne ahnen zu können, wer hier in seinem Zelt Einkehr gefunden hatte.85 Den 24. November bezeichnet Franz Joseph als einen der interessantesten Tage der ganzen Reise; „denn wir bewegten uns großentheils auf einem Boden, wo vor 6 bis 7 Tausend Jahren die erste Kultur begann und einen hohen Grad erreichte und zwischen den Bauten aus jener, nun durch die Forschung der Wissenschaft ziemlich genau bekannten Vorzeit.“86 Franz Joseph soll den ihn begleitenden preußischen Konsul Heinrich Karl Brugsch, einen bekannten Ägyptologen, gefragt haben, ob denn der Aufstieg zur Pyramidenspitze lohnend sei. Dessen Antwort, lohnend zwar nicht, doch habe seit Barbarossa kein deutscher Kaiser mehr die Pyramiden erklommen, war mehr als ein hinlänglicher Ansporn für den Habsburger.87 Nun galt es erst recht, die Cheopspyramide zu erkunden. „Der einzige Eingang zu diesem Grab ist eine Art senkrechten Kamin ohne Stufen, in welchen die Beduinen wie Affen, ohne Strick die 70 Fuß hinunterklettern. Es ist haarsträubend! Im Schatten der großen Pyramide ruhten wir ein wenig, bis unsere ganze Karawane nach und nach eintraf und nahmen Obst und Wein, um uns für die bevorstehenden Strapazen zu stärken und dachten mit einiger Befangenheit daran, daß wir diese so hohe und steile Pyramide besteigen sollten. Endlich setzten wir uns in Bewegung und als wir dem Punkte kamen, wo man die Besteigung beginnt, stürtzten 30 bis 40 Beduinen auf uns und besonders auf mich los, denn Jeder wollte mich führen. Ich war in Gefahr zerrissen zu werden und wir machten uns durch ausgiebige Benutzung unserer Stöcke Luft, bis es gelang in so weit Ordnung in die Sache zu bringen, daß Jedem von uns 2 bis 3 Beduinen zugeteilt wurden, um uns hinauf zu helfen. Nun begann die Ascension in ziemlich scharfen Tempo, indem je ein Beduine eine meiner Hände ergriff, während der dritte folgte, um bei den höheren zu ersteigenden Steinblöcken, hinten nachzuschieben, was bei mir aber nur 5 bis 6 mal notwendig war. Meine Übung im Bergsteigen kam mir sehr zu gut und es sind die Beduinen sehr geschickt, stark und sicher. Sie haben meist nur ein Hemd an, so daß man beim Steigen viel sieht, was der Grund sein soll, daß die Engländerinen [sic!] die Pyramiden so gerne und viel besteigen. Anfangs frappiert die Expedition etwas, besonders wenn man über die steile Fläche und die Leute und Gegenstände immer kleiner erscheinen, bald gewöhnt man es aber und bei der immer zunehmenden Geschwindigkeit des Steigens ist man zu sehr mit dem richtigen Auftreten beschäftigt, um an Schwindel denken zu können. Am halben Weg ist ein kleiner Raum von Steinblöcken freigemacht, wo wir einige Minuten ausruhten und die Frage diskutierten, ob wir weiter steigen sollten. Ich entschied dafür und erreichte mit meinen 85 86 87
Vgl. ebd. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 137. Vgl. Böhler B. A., Kaiser, 168.
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Beduinen unter Hurrahgeschrei derselben, in rasender Geschwindigkeit, der erste […] die Spitze. Die ganze Besteigung hatte 17 Minuten gedauert.“88 Mit Eugénie, der Kaiserin der Franzosen, unterhielt sich der Kaiser prächtig; er nutzt Gelegenheiten, mit ihr aufzutreten und Ausflüge zu unternehmen. „Ich führte die Kaiserin am Arme und wir kehrten wieder in den kleinen Salon zurück, wo wir im Gespräche und mit einigen Leuten, die in demselben noch Platz fanden, recht bleiben mußten, um die Zeit bis zum Souper zu erwarten. Uns Alle erfüllte nur ein Gedanke: ,Aussi möchte ich‘ und die Kaiserin und ich, wir wendeten alle Mittel an um den Beginn des Soupers zu beschleunigen, das wir absolut noch mitmachen mußten, weil für dasselbe die großartigsten Vorbereitungen getroffen waren, und das Menu über 30 Speisen enthielt.“89
9. Jerusalem und die Baggerschaufeln
So epochal den Zeitgenossen die Fertigstellung und Eröffnung des Suez-Kanals auch erschienen sein mag, seltsamerweise verklingen die Jubelrufe über dieses Ereignis in den Quellen alsbald, das vielen als Beginn einer neuen Ära dünkte.90 Ein erster offensichtlicher Grund für diesen Perspektivenwechsel mag bereits bei der Eröffnungsfeier selbst registriert worden sein: Das Bauwerk war noch nicht vollendet. Für die Fertigstellung mussten weitere Anleihen aufgelegt werden, und die Einnahmen aus dem Warenverkehr sprudelten weit weniger als erhofft. In wirtschaftlicher Hinsicht wurde das Suez-Projekt als Flop betrachtet. Die Briten, dem Kanal-Projekt von Anfang an wenig wohlgesinnt, kauften unter Premierminister Benjamin Disraeli die ägyptischen Anteile des Khediven, für die sich kein französischer Interessent mehr fand.91 Bei näherer Betrachtung konnte auch kein Leitmotiv dieser österreichischen Reiseunternehmung einem glücklichen Ergebnis zugeführt werden. Wenn es für die Neukonstituierung der Donaumonarchie darum gehen sollte, Präsenz zu zeigen und neue Bündnisse zu festigen, so ließen sich diese Vorhaben nicht dauerhaft erreichen. Die großen politischen Rahmenbedingungen in Europa änderten sich schnell und nachhaltig.92 Aus dem deutschfranzösischen Krieg ging schon zwei Jahre später ein neues Deutsches Kaiserreich hervor, die französische Monarchie wich einer Republik, mit der Österreich seine Beziehungen 88 89 90 91 92
Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 140 f. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 126. Beda Dudík hatte sich grundlegend geirrt, wenn er am Ende seines Berichtes Ägpyten noch als Land der Zukunft und Ismail als dessen Propheten beschreiben konnte; Dudík B., Kaiser-Reise, 337. Vgl. Rothkopf C. Z., Opening, 58 ff. Vgl. Fischer R.-T., Österreich, 214 ff.
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gänzlich neu definieren musste. Auf dynastischen und familiären Banden war hier kein Erfolg mehr einzufahren. Auch in Ägypten kam es zu einem politischen Umsturz, und das osmanische Reich offenbarte sich immer als jener kranke Mann am Bosporus, der später noch zu einem geflügelten Topos werden sollte. Wiens außenpolitische Ambitionen von 1869 waren samt und sonders gegenstandslos geworden.93 Die öffentliche Rezeption der Kaiser-Reise in den Orient spiegelt diese Entwicklung wider: Fast scheint es, die Reiseberichte werden zunehmend um in der Retrospektive peinlich anmutende Episoden und Begegnungen gekürzt, bis am Ende „nur“ die Pilgerfahrt in das Heilige Land – die Reise nach Jerusalem – übrig bleibt.94 „Vierzig Jahre sind verflossen, seit die Orientreise Sr. Majestät des Kaisers stattgefunden hat; während dieses langes Zeitraumes ist die Erinnerung an die Einzelheiten der Reise bei der älteren Generation wohl schon einigermaßen verblaßt – der jüngeren aber dürften selbe überhaupt nicht bekannt sein, da (außer längst verwehten Zeitungsberichten und einer, wenig bekannten Schilderung) noch nichts über diese hochinteressante Reise veröffentlich worden ist.“95 Über den Suez und die Osmanen schweigt man betreten, auch die Einkehr bei dem mit seinen Kindern scheinbar hart geprüften Königspaar in Athen entfällt. Im Gegenzug tritt der Topos des frommen kaiserlichen Pilgers zu den Heiligen Stätten immer mehr in den Vordergrund; im ganzen Reich führt die Initiative des pensionierten k.u.k. Oberst Heinrich Himmel von Agisburg zu den ersten Blüten des Massentourismus in den Orient. Jeder sollte sich, gleich welchen Standes, eine solche Reise seines Lebens auch leisten können, Adlige wie Bauern, Soldaten wie Handwerker. Die Bilder aus Kindheitstagen sollten sich mit den Realitäten vor Ort vermengen und so den Glauben, aber auch den österreichischen Patriotismus stärken.96 Franz Josephs höchstpersönliche Eindrücke dienten als Vorbild: „Es frappierte uns Alle, wie Alles, besonders aber der Ölberg und das Thal Josaphat, so ganz so sind, wie man es sich seit der Kindheit und dem Unterrichte in der heiligen Schrift vorstellt.“97 Eine beinahe typisch zu nennende österreichische Volte schlägt der allerhöchste Besuch des Kaisers am Suez dann aber doch noch: Jene Baggerschaufeln, die den ägyptischen Kanal schufen, folgten Franz Joseph kurze Zeit später an die Donau und regulierten auch deren Flussbett.98 93 94 95 96 97 98
So mit Fischer R.-T., Österreich, 215 f. So auch Fischer R.-T., Österreich, 216. Groller von Mildensee J., Vorrede. Vgl. Fischer R.-T., Österreich, 207. Nostitz-Rieneck G. (Hg.), Briefe I, 112. Siehe Agstner R., 125 Jahre 15; https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Donauregulierung (aufgerufen um 5. März 2020); Herrmann J. F., Eröffnung, 64.
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Markus St. Bugnyár
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Christliche Pilgerfahrten und Pilgersouvenirs aus dem Heiligen Land bis 1917 Paul Rachler
1. Pilgern von der Spätantike bis in das 19. Jahrhundert
Heilige Orte definieren sich für das Christentum dadurch, dass an ihnen das Handeln Gottes in der Welt sichtbar wird. Dadurch entsteht ein besonderer Ort, dessen spirituell motivierter Besuch sich positiv auf den gläubigen Besucher auswirkt. Auf dieser Vorstellung gründet die Idee der Pilgerfahrt. Es entwickelte sich auch die Hoffnung, dass das an diesen heiligen Stätten erfahrene Heil nicht auf diesen Ort begrenzt ist, sondern auf den Besucher „erstreckt wird“, sozusagen mitgenommen werden kann. Der Ort an dem Jesus wirkte, der Fluss in dem er getauft wurde, die Mauer die er berührte, tragen sozusagen das Heilbringende auch nach Jahrhunderten als ewige „Berührungsreliquie“ in sich, dadurch wird jedes Sandkorn und jeder Wassertropfen und jedes Blatt Träger des Heils.1 Dieser Aspekt der Pilgerfahrt liegt dem Wesen der Pilgersouvenirs zugrunde.
1.1 Helena, die erste Pilgerin
Die ersten Reisenden an die heiligen Stätten des Christentums, die in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts aufbrachen waren in erster Linie Geistliche und Gelehrte, weniger einfache Gläubige.2 Der Beginn des christlichen Pilgerns kann formal mit der Jerusalemreise der Mutter von Kaiser Konstantin, Helena, im Jahr 326 angesetzt werden. Die Auffindung des heiligen Kreuzes, der Kreuznägel und der INRI-Inschrift des Pilatus und deren teilweise Verbringung nach Europa ist letztlich auch der Beginn der Geschichte der Pilgersouvenirs. Ab Mitte des 4. Jahrhunderts setzte eine starke Wallfahrtbewegung ein, schon 333 entsteht das älteste lateinische Schriftzeugnis über eine Pilgerfahrt ins Heilige Land. 3 Im 1 2 3
Penth, S. 12 Penth, S. 17 Penth, S. 51, Es ist dies der Bericht des „Pilgers von Bordeaux“
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Karte des Heiligen Landes mit eingezeichneten Ereignissen des Alten und Neuen Testaments. Beachtenswert ist das Seemonster im Mittelmeer. Ende 18. Jhdt.
Früh- und Hochmittelalter finden durchgehend Reisen an die heiligen Stätten statt, üblich ist der Weg über das Mittelmeer, ab der Christianisierung Ungarns und der Slawen um das Jahr 1000 wird auch zunehmend der Landweg genommen.4 In dieser Zeit waren die Pilgersouvenirs noch „echte“ Reliquien. Beliebt waren aber auch Steine oder Teile der originalen heiligen Stätten, was durchaus zu Kritik und Befürchtungen führte, dass diese dadurch beschädigt oder für immer verschwinden würden. Als Andenken wurde mitgenommen, was leistbar und greifbar war. Es entstehen erste Pilgerführer, und das Wallfahrtswesen entwickelte sich zu einem wesentlichen Wirtschaftsfaktor für die Region.5 Anfang des 7. Jahrhunderts ist diese erste Blütezeit des Wallfahrtswesens zu Ende. In der neu aufkommenden Religion, dem Islam, gilt Jerusalem als drittwichtigster heiliger Ort der Muslime. Ab dem 8. Jahrhundert wurde die spätrömische Verwaltung endgültig von der muslimischen abgelöst. Christliche Pilger mussten Genehmigungen und Aufenthaltserlaubnisse erwerben und waren zunehmend abhängig von der Toleranz des jeweiligen Herrschers. Ab dem 11. Jahrhundert häuften sich die Behinderungen und Überfälle auf Pilgergruppen. Darin lag einer der Gründe für die große Kreuzzugsbewegung in das 4 5
Penth, S. 46 Penth, S. 67 f.
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Heilige Land.6 Durch die Gründung des Königreichs Jerusalem 1099 und die Kreuzzüge vom 11. bis ins 13. Jahrhundert ergab sich ein weiterer Höhepunkt der Jerusalemfahrt. Kurzfristig, nach dem Fall Jerusalems 1187, gab es für Christen keine Möglichkeit, Jerusalem zu bereisen. Mit Ausnahme dieser kurzen Unterbrechung rissen die Pilgerfahrten nie vollständig ab. Im frühen 14. Jahrhundert blühte das Pilgerwesen wieder auf. Venedig wurde zur Drehscheibe und zum Anbieter der Reisen für Pilger aus ganz Europa, die schon damals auf hohem organisatorischen Niveau durchgeführt wurden.7 Gegen Ende des Spätmittelalters wandelte sich die Wallfahrt langsam zur Bildungsreise.8 In der napoleonischen Zeit kam es durch die militärische Kampagne in Ägypten, während der zwar nicht Jerusalem, aber Gaza, Jaffa und Akko Schauplatz waren, zu der sogenannten Ägyptomanie, die den Orient wieder mehr in das Bewusstsein der Europäer rückte. Zunehmend wurde die Fahrt nach Palästina als Bildungs- oder Forschungsreise gestaltet, verblieb aber bis Mitte des 19. Jahrhunderts in der Form der individuellen Reise, die oft Teil einer geographisch weiter gefassten „Jung-Herren-Tour“ war und in erster Linie dem Sammeln von Erfahrungen diente.
2. Pilgervereine und Volkspilgerzüge
Um 1880 setzen, vor allem aus Frankreich und Italien kommend, große katholische Massenpilgerzüge ein, die zunehmend professionell organisiert wurden. So gab es 1888 bereits die „VII. Pèlerinage Populaire de Pénitence“9 aus Frankreich und 1890 die „XIII. Deutsche Karawane“.10 Aus Italien ist von 1895 der „IV Pellegrinaggio italiane a Gerusalemme“ anlässlich der 700-Jahr-Feier des ersten Kreuzzuges bekannt.11 Im deutschsprachigen katholischen Raum beginnt dies auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit sogenannten „Volkspilgerzügen“. Diese waren in Form des modernen Tourismus als „All-inclusive-Reisen“ gestaltet und hatten das Ziel, vor allem ärmeren Volksschichten die Pilgerfahrt zu ermöglichen. Sie wurden bis zum Ersten Weltkrieg durchge6 7 8 9 10 11
Penth, S. 80 ff. Penth, S. 112. Die Venezianer „erfanden“ sozusagen die Pauschalreisen mit Überführ, Proviant und Führungsangebot vor Ort. Penth, S. 127 f. Lafargue, En Terre Sainte, 1889 Geiger, Hermann, Pilgerfahrt, 1890 Abzeichen für Teilnehmer des Pilgerzuges in Form eines Jerusalemkreuzes aus der Sammlung des Autors
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329 Eine von einem lokalen Photographen in Jerusalem getätigte Atelieraufnahme von Pilgerrreisenden in orientalischer Tracht
führt. Die Reisen wurden von Pilgervereinen, die als Teil des aufkommenden Verbandskatholizismus mit Abzeichen, Ausweisen und Pilgerfahnen organisiert waren, durchgeführt.12 Bis 1914 gab es großflächig organisiert eine „Kaiser-Jubiläumspilgerfahrt“ (1898), drei Tiroler (1898, 1901), drei oberösterreichische (1901,1904,1910), drei bayerische, zwei Schweizer (1903, 1908, die dritte 1925), eine württembergische (1904) und eine steirische (1908) Heiliglandfahrt, die aus den nach der Rückkehr verlegten Pilgerbüchern in Ablauf und Erlebnissen detailliert bekannt sind.
12
Wohnout, Hospiz, S. 88 ff.
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Die letzte dieser Volkspilgerungen war die dritte bayerische aus dem Jahr 1914, die erst nach Ausbruch des Krieges im August 1914 zurückkam. Das Erinnerungsbuch erschien erst 1915, und das Umschlagbild war bereits im Stil der Kriegspropaganda gestaltet.13 Damit endete die Zeit der großen Volkspilgerzüge. Pilgerfahrten waren wegen des Krieges nicht mehr möglich, dafür waren deutsche und österreichisch-ungarische, im Osmanischen Reich stationierte Soldaten die neuen Besucher der heiligen Stätten. Dies blieb so bis zur Einnahme der Stadt Jerusalem 1917 durch die Briten, welche das Land bis zur Gründung des Staates Israel 1948 im Rahmen eines „Völkerbundmandates“ verwalten sollten.
2.1 Organisationsstruktur der Pilgervereine
Die Vereine waren hochgradig organisiert. Eine Vielzahl von Elementen spiegelt das hohe Niveau dieser Organisationen wider. Als Basis für die Vereinsarbeit sind der behördlich und kirchlich genehmigte Verein an sich, Statuten, Wappen, Drucksorten und Stempel festzumachen. Abzeichen gab es in Form von einfachen Mitgliedsabzeichen und besonderen Funktionärsabzeichen, in den meisten Fällen emailliert und mit dem roten Jerusalemkreuz versehen. Nach außen wirkten auch die Vereinsfahnen, Werbemarken, Informationsblätter, Zeitungsinserate und Publikationen. Diese wurden meist als Dokumentation der einzelnen Pilgerzüge gestaltet, konnten aber auch Periodika sein. Eine eigene Pilgermadonna, die bei allen drei Pilgerzügen mitgeführt wurde, gab es zumindest bei dem oberösterreichischen und bayerischen Verein.
2.2 Leistungen während der Reise
Die Reisen wurden komplett durchorganisiert, wie das Ende des 19. Jahrhunderts auch schon bei der professionellen Tourismuswirtschaft üblich war. Die gesamte Organisation der Reise – Anreise aus dem Heimatort, Zug und Schiffspassagen, Verpflegung, Unterkünfte, organisierte Ein- und Auszüge aus Jerusalem, Führungen und Messen – war geschäftsmäßig geplant. Folgende physische Objekte kamen dabei zum Einsatz: ein Pilgerausweis mit Pilgernummer, eine weiße Pilgerarmbinde mit rotem Jerusalemkreuz und Nummer, in manchen Fällen ein eigens für den jeweiligen Pilgerzug gestaltetes Pilgerabzeichen, fallweise 13
Kirchberger, Volkswallfahrt, 1915
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Fotografie einer Pilgergruppe bei der Rückkehr aus dem Zeitraum 1901 bis 1913. Die Teilnehmer tragen noch die Pilgerarmbinde mit Pilgernummer, alle Abgebildeten haben das päpstliche Ehrenkreuz für Pilger als äußeres Zeichen der Pilgerfahrt erworben, und sie halten einen Palmenzweig als Souvenir in der Hand
Souvenirbilder mit aufgeklebtem Holz von Bäumen aus dem Garten Gethsemane und Blumen aus dem Hl. Land, mit dem Hinweis: „Berührt auf d. hl. Grabe“
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ein Pilgerbecher (davon sind zwei emaillierte Exemplare bekannt14), eine Pilgerflasche für Jordanwasser, der Pilgerführer mit Stadtplan von Jerusalem, der meist eigens für die jeweilige Reise gedruckt wurde, und vorgedruckte Postkarten mit Ansichten des Heiligen Landes und den Daten der Reise. Die historischen und häufig dargestellten Objekte, die einen Pilger definierten, waren Pilgerhut, Pilgerumhang (Pelerine), Pilgermuschel und Pilgerstab. Muschel und Stab wurden auch als Miniaturen von Abzeichen auf den Hüten oder Umhängen aufgenäht. Daraus entwickelten sich im Laufe der Zeit eigene Pilgerabzeichen aus Metall, meist aus Blei oder Zinn gegossen, die als äußeres Zeichen dem Pilger, zumindest theoretisch, Schutz und Recht einräumten. 15 Die „modernen“ Volkspilgerzüge greifen sowohl das Element des Pilgerabzeichens als auch das der Pilgerflasche, möglicherweise auch das der Muschel in Form des Pilgerbechers, historisierend als Massenprodukt wieder auf und integrieren sie in das Reiseangebot. Interessanterweise finden der Pilgerstab, der Hut und der Umhang, die ebenso wichtige Erkennungszeichen waren, keine Berücksichtigung. Möglicherweise hätte sich die Abfertigung, Ein- und Ausstieg bei Schiff und Bahn von 500 bis 1000 Reisenden, die alle mit einem Pilgerstab „bewaffnet“ waren, als zu umständlich gestaltet.
2.3 Leistungen nach der Reise
Üblicherweise wurde nach der Rückkehr ein umfassendes, bis ins Detail die Ereignisse und Abläufe der Reisen beschreibendes, mit vielen Fotografien versehenes Pilgerbuch gestaltet und an die Teilnehmer der Reise verteilt. Diese Bücher enthalten auch eine Liste aller Teilnehmer, oft mit Berufsbezeichnung und Herkunftsorten. Diverse, während der Reise von einem die Gruppe begleitenden Berufsfotografen angefertigte, offizielle Gruppen- und Reisefotos waren ebenfalls nach der Rückkehr erhältlich.
2.4 Graffiti und Pilgertafel
Eine Besonderheit, die es, soweit bekannt, nur im österreichischen Hospiz gab, waren die Pilgertafeln. Gruppen oder Einzelreisende konnten eine bunt lackierte Tafel mit ihrem Namen und, wenn vorhanden, Wappen zur Erinnerung an ihre Anwesenheit in Jerusalem für das Hospiz anfertigen lassen. Sozusagen ein umgekehrtes Pilgersouvenir – ein Souvenir 14 15
„Papst und Kaiser Jubiläums Pilgerfahrt 1889“ und „Erster oberösterreichischer Pilgerzug 1900“ Wallfahrt kennt keine Grenzen, 1984, S. 41 ff.
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für den „bepilgerten“ Ort. Diese Souvenire knüpfen an die Tradition des Anbringens, Aufmalens oder Einritzens von Wappen, Initialen oder Namen der Reisenden an den Heiligen Stätten, bevorzugt in der Grabeskirche, an. Diese „Tradition“ der Verewigung setzte im 6. Jahrhundert ein und wurde bis in die Neuzeit fortgeführt. Die Einritzungen – man denke an die zahlreichen Kreuze auf der Stiege zur Helenakapelle – und Graffitis der Pilger finden sich heute noch u. a. an den Wänden der Grabeskirche.16
3. Pilgersouvenirs
Die ersten und prominentesten „Pilgersouvenirs“ waren, wie bereits erwähnt, vermeintliche Originalobjekte, Reliquien aus der Zeit Jesu, besonders die Leidenswerkzeuge Jesu: Kreuz, Nägel, Dornenkrone, Kettenglieder etc. und andere „Berührungsreliquien“. Auch Objekte aus dem Besitz oder „Berührungsreliquien“ und Leidenswerkzeuge von Protagonisten des Alten und Neuen Testaments und der christlichen Heiligen fallen in diese Kategorie. Die Reliquien waren als Prestigeobjekte teuer gehandelt und befinden sich heute in den Schatzkammern und Sammlungen europäischer Herrscher, kirchlicher Institutionen und staatlicher Museen. Die Franziskaner organisierten vom 17. bis in das 20. Jahrhundert mit der einheimischen Bevölkerung die Produktion von Artefakten aus Olivenholz (vor allem Jerusalem), Perlmutter (Bethlehem), Glas (Hebron) und Stein (Totes Meer). Zum einen, um für die nicht besonders wohlhabenden Bewohner des Heiligen Landes eine Einkommensquelle zu schaffen, zum anderen, um die steigende Nachfrage nach Erinnerungsobjekten zu befriedigen. Damit begann eine professionell organisierte Produktion von Pilgersouvenirs in hoher Stückzahl vor Ort im Heiligen Land. Gesteigert wurde der Wert dieser Objekte durch Weihen und Berühren diverser heiliger Stätten, besonders beliebt zum Beispiel, bis heute, der Salbungsstein im Eingangsbereich der Grabeskirche. Neben Kreuzen und Objekten mit religiösem Bezug und Schnitzereien aus Perlmutter wurden auch Objekte des täglichen Gebrauchs wie Eierbecher und Serviettenringe gefertigt. Man passte sich dem Geschmack der Kundschaft an und das Souvenir aus dem Heiligen Land verlor langsam seinen spirituellen Charakter. Abgebildet werden zunehmend auch nicht-christliche Stätten und Motive, wie z. B. die Klagemauer oder der Felsendom. Dass Letztere für Muslime gefertigt wurden, ist nicht auszuschließen, aber nicht sehr wahrscheinlich, da der Jerusa16
Krüger, Grabeskirche, S. 180 ff.; Wohnout, Hospiz, S. 96.
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lem-Tourismus aus muslimischen Ländern generell nicht besonders entwickelt war. Nach Jerusalem reisende Juden, die es ebenso wie die christlichen Pilger schon immer gab, waren jedoch eine große Käufergruppe. Abbildungen und Darstellungen jüdischer Heiligtümer und jüdischer Ritualgegenstände aus Olivenholz, Keramik, Stein oder Silber waren die häufigsten Themen. Nicht in diesem Beitrag behandelt wird das große Gebiet der zionistischen Souvenirs, die seit dem 19. Jahrhundert aufkamen, die jüdischen religiösen Andenken werden nur bei Überschneidungen mit den christlichen erwähnt. Als „neutrales“, nicht-religiöses Objekt war vor allem das Kamel sehr beliebt. Das Hauptarbeitstier der Region war für Europäer ein wenig vertrautes Wesen und wurde in allen Varianten und Größen, aus Olivenholz geschnitzt, dargestellt. Die meisten Produkte aus Olivenholz wurden mit der Aufschrift „Jerusalem“, teilweise mit Frakturschrift, teilweise mit hebräischen Buchstaben versehen. Mit der hebräischen Schrift wird eine Verbindung zum Alten Testament und der Zeit Jesu hergestellt, zusätzlich wirkte sie orientalisch und exotisch. Mit dem Aufkommen von Post- bzw. Ansichtskarten und Fotografien Ende des 19. Jahrhunderts finden sich diese schnell in der Reihe der beliebten Andenken, da damit das selbst Gesehene physisch aufbewahrt werden konnte. Zunehmend kamen auch andere Materialien zum Einsatz, vor allem Produkte aus Metall in Form von Pilgeranhängern, Schalen oder Sammellöffeln. Die jeweiligen mehr oder weniger geschmackvollen Moden der Gesellschaften spiegeln sich in der Art der Souvenirs wider. Im Folgenden werden die Souvenirkategorien beschrieben, die sich im Laufe der Zeit bis zum 19. Jahrhundert herauskristallisierten.
3.1 Von Institutionen vergebene Pilgerandenken
Organisationen und Stätten vor Ort beteiligten sich am allgemeinen Souvenirhandel und verkauften Pilgerzertifikate und -urkunden, die sozusagen von höherer berufener Stelle die Pilgerfahrt schriftlich bestätigten. Pilgerurkunden oder -zertifikate waren eine wichtige Bestätigung für die Anwesenheit im Heiligen Land und die Absolvierung der Wallfahrt und hatten vor allem zu Zeiten, als die Wallfahrt ein Instrument der Justiz, eine Sühnemaßnahme war, eine hohe Bedeutung. Ausgestellt wurden diese Urkunden von allen in Jerusalem vertretenen christlichen Kirchen, für die katholische Kirche von den Franziskanern, aber auch von den Pilgerhospizen. Vom österreichischen Hospiz sind zwei Arten dieser Urkunden bekannt. Auch das deutsche Johanniterhospiz stellte Bestätigungen aus. Die in Europa angesiedelten Pilgervereine bestätigten ebenfalls die Teilnahme am Pilgerzug.
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Das 1901 von Papst Leo XIII. gestiftete „Ehrenkreuz für die katholischen Pilger des Heiligen Landes“ in Form eines metallenen Jerusalemkreuzes am Bande ist dann der Höhepunkt dieser Entwicklung, sozusagen die päpstliche Bestätigung der Pilgerreise durch einen „Orden“. Die ursprüngliche Bedeutung der Abstufung war: Bronze für die erste Pilgerreise, Silber für Priester bzw. die zweite Pilgerreise und Gold für hochrangige geistliche und weltliche Würdenträger. Dieses Pilger-Erinnerungskreuz wurde von der Kustodie des Heiligen Landes gegen eine Geldspende vergeben und hat als päpstliche Auszeichnung Eingang in die Europäische Phaleristik gefunden. Organisatorisch waren es die Franziskaner, die anfänglich den Souvenirhandel aufbauten: daher erfolgte ein Teil des Vertriebes über sie, und die Andenken waren oft mit einem Stempel der Kustodie versehen, quasi als Echtheitszertifikat. Mit Aufkommen des Massentourismus schalteten sich Reiseorganisationen und Hotels in den Handel ein. Bekannt ist zum Beispiel das Hotel American Colony, das einen eigenen Souvenirhandel und eine eigene Fotoproduktion betrieb.
3.2 Individuell beschaffte Souvenirs
Die Pilgersouvenirs hatten, neben der ökonomischen Bedeutung für die einheimische Bevölkerung, einen validen und spirituellen Hintergrund: Für wenig Geld konnte jedermann ein reales authentisches Stück des doch immerhin weit entfernten Heiligen Landes in Form von Holz, Perlmutter, Stein oder Pflanze erwerben und als sichtbares Zeichen der Pilgerfahrt mit nach Hause nehmen. Die Gruppe der individuell beschafften Souvenirs teilt sich in Objekte, die einen spirituellen Aspekt haben, und in solche, die den allgemeinen, weltweit üblichen Reiseandenken entsprechen.
3.3 Souvenirs mit religiösem Aspekt
Die ursprünglichen Objekte, die spirituellen Charakter hatten, waren aus den Materialien, die unkompliziert zu bekommen waren: Erde, Stein, Wasser, Pflanzen und Öl.
3.4 Materielle religiöse Andenken
Steine und Erde sind bis heute ein gängiges Andenken aus dem Heiligen Land. Es reichte der Stein oder die Erde an sich, je bedeutender die Stelle, von dem sie angeblich stammten,
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desto gewichtiger. Sand oder Erde aus dem Heiligen Land – oder auch von bestimmten wichtigen Orten – wurde in Stoffsäckchen, Holzkästchen oder Papierbriefchen mit rotem Sigel und Jerusalemkreuz vertrieben. Später wurde schwarzer Bitumen oder Naturasphalt (auch als Mosesstein bezeichnet) aus der Gegend um das Tote Meer und weißer Kalkstein aus der Gegend um Jerusalem verwendet, um diverse Reliefs und Gegenstände (Becher, Vasen, Architekturmodelle) aus ihnen zu schnitzen oder zu drechseln. Die Objekte wurden zusätzlich durch Schnitzereien und Einritzungen verziert. Fallweise wurde der weiße Kalkstein auch schwarz gefärbt, um Bitumen zu imitieren. Besonders selten sind Architekturmodelle und verkleinerte Reproduktionen von Ausgrabungs- und Alltagsgegenständen aus weißem Kalkstein. Steine der Stationen des Kreuzweges an der Via Dolorosa wurden in Vertiefungen auf den Rückseiten der Holzkreuze eingearbeitet oder auf Andenkenbildchen und Karten geklebt. Damit war in einem einfachen Holzkreuz ein ganzer Kreuzweg angelegt. Oft waren die Steine auch in Holzkreuze eingearbeitet, die auf den Rahmen der Kreuzwegbilder angebracht wurden. Für Jordanwasser, im optimalen Fall von der Taufstelle Jesu genommen, gab es bei den organisierten Volkspilgerzügen des 19. Jahrhunderts eigene, mit der Aufschrift „Jordanwasser“ bedruckte oder geprägte Flaschen. Schon aus byzantinischer Zeit sind Pilgeramphoren bekannt, was auf eine durchgehende Nutzung des Jordanwassers als Pilgersouvenir und die historisierende Wiederaufnahme alter Pilgerelemente hinweist. Jordanwasser wurde vor Ort getrunken – was, wie man weiß, nicht ungefährlich war – oder als Andenken oder Segnungs- und Taufwasser mit nach Hause genommen.17 Ebenso wie Erde und Wasser waren Blumen und Zweige zu jeder Zeit leicht verfügbar. Aus gepressten Blumen aus dem Heiligen Land wurden aufwendige Herbarien in Albumform mit Olivenholzdeckeln hergestellt. Teilweise waren die Herbarien mit Ansichten des Heiligen Landes kombiniert, oft mehrsprachig (deutsch, französisch, englisch, russisch, hebräisch), um mit einem Produkt möglichst viele Interessenten anzusprechen. Schon ganz früh waren Palmenzweige durch den Bezug zum Neuen Testament eine wichtige Erinnerung an die Pilgerreise. Viele frühe Jerusalemfahrer ließen sich mit einem Palmzweig in der Hand darstellen. Zu dieser Objektgruppe zählen auch Blätter, Zweige oder das Holz der an die 2000 Jahre alten Olivenbäume aus dem Garten Gethsemane, die besonderen Wert hatten und in allen Varianten, immer mit Hinweis auf den Ort, verarbeitet wurden. Auch das Öl der Oliven von den Bäumen aus Gethsemane wurde als Besonderheit vertrieben. Eine Verwendung der, doch vermutlich in großer Menge anfallenden Olivenkerne dieser Bäume ist nicht bekannt. 17
Kriss-Rettenbeck, Volksglaube, S. 91
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Pilgerausweis mit Pilgernummer eines Teilnehmers der I. deutschen Männer-Wallfahrt 1900 nach Jerusalem
Öl wurde auch in anderer Form, vor allem in der byzantinischen Zeit verwendet18: Man goss Öl über heilige Stätten oder Gräber von Heiligen und fing es wieder auf. Damit wurde diesem Öl besondere Bedeutung zugeschrieben. Ebenso nahm man Öl aus den Lampen, die an den heiligen Stätten brannten, als Andenken mit. Um das Öl zu transportieren, wurden kleine Amphoren und Lampen aus Ton hergestellt. Das vor Ort vorhandene, günstig zu beschaffende Holz war das der Olivenbäume. Daraus wurden alle vorstellbaren Objekte geschnitzt und gefertigt: religiöse Gegenstände und Objekte mit jüdischen Motiven für jüdische Kundschaft, Gegenstände mit allen Arten christlicher Symbolik für christliche Pilger, in erster Linie Kreuze und Rosenkränze, Krippen und figürliche Szenen des Neuen Testaments und Briefbeschwerer mit religiösen Motiven. Nicht-religiöse Objekte waren u. a. Objekte des täglichen Gebrauchs, wie Schreibtischgarnituren, Tintenfässer, Briefmarkenbehälter, Lineale, Federhalter, Bücherhalter, 18
Herimitage, Pilgrim treasures, S. 75 f.
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Kerzenleuchter und Dosen und Schatullen. Kamelfiguren waren, wie bereits erwähnt, ein weiteres häufiges Motiv. Hebron war seit der Antike ein Zentrum der Glasproduktion. Für Pilger und als Reiseandenken wurden vor allem Armreifen, Glasperlen in allen Größen und Glasgefäße hergestellt. Ab dem 19. Jahrhundert wurde zunehmend auch das bekannte blaue Glas verwendet. Aus Bethlehem stammen die christlichen Familien der Perlmuttschnitzer. Perlmutter wurde seit dem 17. Jahrhundert genutzt, um religiöse Gegenstände, Kreuze, Rosenkränze, Anhänger und extrem fragile und verzierte religiöse, reliefartige Schnitzereien aus der ganzen Muschel zu fertigen. Perlmutter wurde auch als Auflage oder Intarsie für die oben beschriebenen Objekte aus Olivenholz verwendet. Kerzen und Wachs aus den Kirchen an den heiligen Stätten wurden vor allem für die orthodoxen Christen als Pilgererinnerung hergestellt. Für sie gilt, was über das Öl gesagt wurde. In Ermangelung von Originalobjekten setzt sehr früh die Reproduktion der Leidenswerkzeuge Christi als Pilgersouvenir ein. Anfänglich waren es Dornen oder Dornenzweige aus dem Heiligen Land, die an die Dornenkrone Christi erinnerten. Bis zum Beginn der großen Pilgerzüge vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Produktion von geflochtenen Dornenkränzen in allen Größen. Die Hersteller arbeiteten wohl in enger Abstimmung mit den Reiseveranstaltern und Pilgervereinen, da Dornenkränze erhalten sind, an denen ein kleines Kartonstück mit dem Jerusalemkreuz in Siegellack und der deutschen Aufschrift „Dornenkrone Christi“ befestigt ist. Neben der Dornenkrone wurden Kopien der Kreuznägel als Souvenir vertrieben. Diese wurden mit Zertifikaten versehen, die bestätigten, dass es sich um genaue Kopien der Kreuznägel handelte. Dornenkrone und Kreuznägel wurden nach der Wallfahrt häufig in Fassungen und Rahmungen, die Klosterarbeiten oder Reliquienschreinen ähnelten, eingearbeitet. Das fünfteilige Jerusalemkreuz fand als aus allen Materialien hergestelltes Abzeichen und als auf alle Objekte applizierbares Symbol Verwendung. Hervorzuheben sind die Architekturmodelle aus dem Heiligen Land. Zuerst zu nennen sind die Darstellungen des Heiligen Grabes und der Grabeskirche, die im 17. und 18. Jahrhundert gefertigt wurden. Die Modelle waren aus Olivenholz, zerlegbar und auch innen originalgetreu und maßstabgerecht gestaltet und mit Perlmutteinlagen verziert. Aus Gips gegossen wurden im 19. und 20. Jahrhundert Modelle und Reliefs aller relevanten Bauten von Jerusalem; diese Motive wurden auch aus Kalkstein und Bitumen als Modell oder Relief geschnitzt. Von Conrad Schick (1822–1901), dem evangelischen Architekten und Forscher, sind zahlreiche großformatige Modelle des antiken Jerusalem und des Tempelbergs, die für In-
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Fotografie eines Modells der Grabeskirche aus dem 18. Jhdt., gefertigt aus Olivenholz mit Perlmutteinlagen
stitutionen gefertigt wurden, bekannt. Er produzierte aber auch für den Andenkenmarkt kleinere, aus Gips gegossene Modelle der Heiligen Stadt, oft in hölzernen Schächtelchen zum schonenden Transport. Ein weiter Hersteller von Architekturmodellen war Meir Rosin (1886–1917), der für jüdische Kundschaft Modelle der alttestamentarischen Denkmäler, aber auch der aktuellen jüdischen Bauten herstellte. Seine Modelle waren aus Holz und Papier gestaltet und auch innen sehr detailliert gearbeitet.19
3.5 Immaterielle religiöse Souvenirs
In diesem Zusammenhang soll die Pilgertätowierung erwähnt werden. Wenn auch kein physisches Objekt und fast der Pilgerurkunde näher ist sie doch eindeutig ein Pilgersouvenir. Sie existiert mindestens seit dem 17. Jahrhundert.20 Abgebildet waren meist ein Jerusalemkreuz oder biblische Szenen, oft mit dem Jahr der Reise. Mitte des 19. bis Mitte des 20. 19 20
Yishuv Court Museum, Meir Rosin 1876–1917 Krüger, Grabeskirche, S. 176
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Jahrhunderts für Europäer eher aus der Mode gekommen, bekommt die Pilgertätowierung mit der Renaissance der Tätowierungen in den letzten zwanzig Jahren wieder ein bedeutenderes Gewicht. In den orientalischen Gesellschaften und deren christlichen Kirchen hingegen wurde die Tätowierung von christlichen Symbolen durchgehend gepflegt. Eine wirklich immaterielle Form des Pilgersouvenirs waren Proportionen und Maße. Die Maße des vermeintlichen Fußabdrucks Jesu aus der Himmelfahrtskapelle am Ölberg wurde abgenommen und aus Leinen oder Leder ausgeschnitten und beschriftet. Dem Fußabdruck beziehungsweise seinem Maß wurde schützende Wirkung zugeschrieben. Die Maße und Proportionen der Kapelle des Heiligen Grabes in der Grabeskirche wurden „mitgenommen“ und in Europa in diesen Proportionen als Heilige-Grab-Kirchen oder -Kapellen nachgebaut. Der Ritterschlag für Angehörige des Ordens vom Heiligen Grab in der Grabeskirche mit dem Schwert und den Sporen des Gottfried von Bouillon, der zumindest bis Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurde, kann ebenso als immaterielles Pilgerandenken gewertet werden.
3.6 Andenken ohne religiösen Aspekt
Neben den Erinnerungsstücken, denen eine spirituelle Bedeutung gegeben wurde, gab es auch eine Reihe von anderen Objekten, die keinen spirituellen Aspekt aufwiesen, jedoch von den Jerusalem-Reisenden als Souvenir mitgenommen wurden. Industriell gefertigte Sammelgegenstände und Souvenirobjekte waren Reisesouvenirs, die speziell seit dem Aufkommen des Tourismus und industrieller Fertigungen Ende des 19. Jahrhunderts weltweit und auf die jeweilige Region abgestimmt produziert wurden. So auch für Jerusalem und Palästina. Diese Gruppe umfasste schon von Anfang an unter anderem die damals sehr verbreiteten und beliebten Sammellöffel, Fingerhüte, Anhänger für Bettelarmbänder, Andenkentassen. Die Objekte waren entweder mit der Aufschrift Jerusalem oder dem Jerusalemkreuz versehen. Seit dem Aufkommen der Fotografie waren Fotos ein wichtiger Bestandteil der Reiseerinnerung und hielten sofort Einzug in den Souvenirhandel. Fotografien lassen sich wie folgt kategorisieren: vor Ort gekaufte, von lokalen Fotografen für den Tourismus bereits vorab gefertigte Abzüge (Landschaften, heilige Stätten, regionale Typen, etc.); vor Ort bei lokalen Fotografen angefertigte Personenfotos in Pilger- oder Landestracht/-kostüm; vor Ort von professionellen mitreisenden Fotografen angefertigte Abzüge (Reise- und Gruppenfotos, Sehenswürdigkeiten, regionale Typen, Landschaften) und die vor Ort vom Pilger individuell angefertigten Fotos. Die Unterscheidung ist notwendig, da die unterschied-
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lichen Fototypen natürlich unterschiedliche Bedeutungen haben. Ein Foto, das vom Pilger selbst gemacht wurde, ein Sujet, das er also selbst gesehen hat, hat einen ganz anderen Aussagewert als die vorgefertigte, vor Ort beim Fotografen gekaufte Aufnahme, die ein Massenprodukt war und den damals aktuellen Zustand der abgebildeten Landschaft oder des Gebäudes möglicherweise gar nicht mehr darstellte. Eine Folge der Entstehung der Fotografie ist die Ansichtskarte. Diese wurden meist überhaupt in Europa hergestellt und dann zum Verkauf in die jeweiligen Länder gebracht. In Bezug auf das Pilgerwesen ist zu bemerken, dass europäische Pilgervereine oder Hospizunterstützungsvereine auch als Ansichtskartenhersteller auftraten und dieses Medium sowohl als Einnahmequelle als auch als Werbemittel verwendeten. Die Karten wurden vor Ort in den jeweiligen Niederlassungen oder Hospizen vertrieben. Wie schon erwähnt, wurden für die großen Volkspilgerzüge eigene Auflagen mit der Bezeichnung des Pilgerzuges und den Reisedaten aufgelegt, die dann vor Ort geschrieben und aufgegeben wurden. Die Karten waren vermutlich schon vor oder zu Antritt der Reise zu erwerben. Auch wenn es keinen zwingenden religiösen Bezug gab, waren antike Objekte, Objekte aus Ausgrabungen, in späterer Zeit deren Kopien, die traditionell beliebtesten Mitbringsel aus dem Mittelmeerraum. Man musste kein Archäologe oder Wissenschaftler sein, um Gegenstände (Öllampen, Mosaiksteine, Gefäße, Statuen, Grabbeigaben etc.) der griechischen, römischen, jüdischen, frühchristlichen oder einer anderen antiken Kultur interessant und mitnehmenswert zu finden. Einen speziellen Bereich stellten Münzen dar, die aus Ausgrabungen stammten, aber auch in regionalem Schmuck verarbeitet wurden. In Ermangelung einer unbegrenzten Anzahl an antiken Stücken wurden bald Kopien angeboten, die als solche ausgewiesen waren oder auch nicht. Volkskundliche Objekte, wie Trachten, Kleidung, Textilien, Schmuck, Münzen, Tonund Keramikobjekte, Glas und Objekte des täglichen Gebrauchs und Arbeitsgeräte aus der Region. ergänzen die Gruppe der allgemeinen Reisesouvenirs. Obwohl sie nicht notwendigerweise einen spirituellen Aspekt hatten, war die Nähe zu der Zeit des Neuen Testaments in Bezug auf Materialien, Herstellung und Formgebung jedenfalls bis Anfang des 20. Jahrhunderts doch ein interessanter Aspekt dieser Objekte. Dazu zählen, vor allem aus Jerusalem stammend, die Objekte der bekannten armenischen Kunsttöpfereien.
3.7 Pilgersouvenirs, die nach der Rückkehr entstanden
Beliebt, aber wohl eher kostspielig war die individuelle Fassung oder Rahmung der Souvenirs, meist Steine, Andenkenbilder, getrocknete Blumen, Zweige und Reproduktionen der Leidenswerkzeuge Christi, in einer Art Wandvitrine. Diese, nach der Reise in Europa
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angefertigten Objekte waren teilweise sehr aufwendig gestaltet und erinnern an Klosterarbeiten oder mittelalterliche Reliquienschreine. Fotoalben, die auch erst nach der Reise entstehen konnten, waren individuell gestaltete, private Alben mit selbst gefertigten oder gekauften Abzügen. Es gab aber auch mit echten Abzügen versehene Alben, die bereits fertig gestaltet erworben werden konnten. Die Fotos in diesen Alben beschränkten sich auf Aufnahmen von Sehenswürdigkeiten, Landschaften, regionalen Typen und allgemeinen Reise- und Pilgerszenen – Sujets, die auch im Fotohandel und bei Ansichtskarten verwendet wurden. Auch die Pilgerliteratur entstand erst nach der Rückkehr von der Reise. Anfangs gab es nur die individuellen Pilgerberichte aus der Frühzeit der Pilgerreisen; diese sind heute als wertvolle Handschriften in den Bibliotheken aufbewahrt. Im Laufe der Zeit entstand eine Menge an Literatur über das Heilige Land. Teilweise handelt es sich um Mischungen aus detailliertesten Pilger- bzw. Abenteuerberichten, um Landeskunde und spirituelle Anleitungen, reich mit graphischen Darstellungen und Fotografien ausgestattet, um möglichst genau das Gesehene und Erlebte mitzuteilen. Die Pilgerliteratur lässt sich in individuelle Pilgerberichte, kollektive Pilgerberichte (Berichte der Volkspilgerzüge), Reiseführer, spirituelle Literatur und landes- und volkskundliche Literatur zur Region einteilen.
3.8 Andenken an die Einnahme Jerusalems durch die Engländer 1917 und Souvenirs unter englischer Verwaltung bis 1948
Diese Objekte passen inhaltlich zwar nicht zur Thematik der Pilgersouvenirs – sie sind Kriegssouvenirs –, sollen aber wegen ihrer Einzigartigkeit und ihrem Bezug zum Heiligen Land als Abschluss hier kurz beschrieben werden. Nach der friedlichen Einnahme Jerusalems durch General Edmund Allenby im November 1917 wurden die gängigen Souvenirs sofort für die neue Kundschaft adaptiert und mit Aufschrift oder Aufdruck wie „In Rememberance of the British Army conqueror of the Holy Land 9th December 1917“ oder Ähnlichem versehen. Die Aufschriften, auch auf den Pilgersouvenirs, wurden ab 1917 zunehmend in Englisch abgefasst. Eine Besonderheit war die Verwertung von Artilleriegeschoßhülsen, die bei den Kampfhandlungen angefallen waren, als Souvenirs aus dem Heiligen Land. Im Ersten Weltkrieg begannen Soldaten in den Schützengräben, vor allem an der Westfront, aus Kriegsmetall sogenannte Grabenarbeiten herzustellen. Das waren Objekte des täglichen Gebrauchs aus Eisen, Messing oder Kupfer zur Dekoration oder zur Erinnerung an den Weltkrieg. Aus Jerusalem und Bethlehem haben sich verzierte und gravierte Geschoßhülsen englischer, deutscher und österreichischer Provenienz aus Messing aus den Jahren 1917 und 1918, er-
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halten, auf denen der Einnahme Jerusalems durch britische Truppen gedacht wird. Die verwendete Symbolik ist größtenteils die der religiösen Souvenirs: Jerusalemkreuz, der Stern von Bethlehem, die Heilige Familie, St. Georg, Darstellung des Heiligen Grabes. Diese Hülsen wurden als Vasen, Ständer für Tischlampen oder nur als Erinnerungsobjekte verwendet. Auch aus der Kunstschule Bezalel in Jerusalem sind Arbeiten aus Kriegsmaterial mit Bezug auf 1917 bekannt. Ebenso aus Damaskus, das ebenfalls Ende 1918 von den Alliierten eingenommen wurde, sind diese Geschoßhülsen bekannt. Sie wurden in der dort üblichen, wesentlich reicheren Verzierung mit Kupfer- und Silbereinlagen ausgeführt. Eine weitere Kuriosität ist die Anfertigung von britischen Regimentsabzeichen als Broschen aus Perlmutter in Bethlehem. Die Perlmuttschnitzer aus Bethlehem haben das Sortiment der religiösen Andenken um den militärischen Aspekt erweitert und diese Abzeichen über 20 Jahre lang, bis 1948, produziert.
Gedruckte Quellen und Literatur Bayerisches Nationalmuseum München (Hg.), Wallfahrt kennt keine Grenzen. Ausstellungskatalog. München 1984. Fishof, Iris/Noam Bar’am-Ben Yossef (Hg.), Kostbarkeiten aus dem Heiligen Land. Die Souvenirs für Pilger im 19. und 20. Jahrhundert. Jerusalem – Israel Museum 1996. Geiger, Hermann, Pilgerfahrt über Loreto und Rom nach Jerusalem, München 1890. Generalkommissariat des Heiligen Landes in Wien (Hg.), Andenken an die Pilgerfahrt ins Heilige Land, Wien o. D. Grün, Helene, Perlmutterkunst in alter und neuer Zeit. Katalog der 73. Sonderausstellung des Niederösterreichischen Landesmuseums, Wien o. D. Haider-Wilson, Barbara, „Wir zieh’n dahin ins Heilige Land“. Zur Entwicklung des Pilgerwesens in der Habsburgermonarchie. In: Bugnyar, Markus/Wohnout, Helmut (Hg.), Im Orient zu Hause. Das österreichische Hospiz in Jerusalem, Wien 2015. Herimitage Amsterdam (Hg.), Pilgrim treasures from the Herimitage: Byzantium – Jerusalem. Ausstellungskatalog, Zwolle 2005. The Isaak Kaplan Old Yishuv Court Museum (Hg.), Souvenirs from The Holy Land. Meir Rosin 1876–1917, Jerusalem 2009. Kirchberger, Sebastian/ Schmitzberger, Josef (Hg.), Die dritte bayerische Volkswallfahrt ins Heilige Land im Jahre 1914, München 1915. Kriss-Rettenbeck, Lenz, Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens, München 1971. Krüger, Jürgen, Die Grabeskirche zu Jerusalem. Geschichte – Gestalt – Bedeutung, Regensburg 2000.
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Lafargue, A.-J., En Terre Sainte. Journal d’un Pelerin, Bordeaux 1889. Pawlin, Otfried, Tirol an des Erlösers Grab. Tiroler Pilgerfahrt nach Jerusalem (1898). In: Virger Heimatblätter, Sonderausgabe der Virger Zeitung, Nummer 14, Jahrgang 2018. Penth, Sabine, Die Reise nach Jerusalem. Pilgerfahrten ins Heilige Land, Darmstadt 2010 Stiegler, Bernd/Thürlemann, Felix (Hg.), Orientbilder. Fotografien 1850–1910, Frankfurt 2015. Uitbeverij Waanders i.s.m. Bijbels Museum, Amsterdam (Hg.), From Jerusalem with love. Art, photos and souvenirs, 1799–1948, Amsterdam 2010. Wieczorek, Alfried; Sui, Claude W.; Tellenbach, Michael (Hg.), Ins Heilige Land. Pilgerstätten von Mekka und Medina bis Jerusalem. Photographien aus dem 19. Jahrhundert aus den Sammlungen der Reiss-Engelhorn-Museen. Ausstellungskatalog, Mannheim 2008 Wohnout, Helmut, Das österreichische Hospiz in Jerusalem. Geschichte des Pilgerhauses an der Via Dolorosa, Wien 2000
Österreichische und deutsche Forscher im Vatikanischen Archiv und in der Vatikanischen Bibliothek1 Christine Maria Grafinger
Mit dem gesteigerten Interesse an der historischen Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging eine Hinwendung zum Quellenstudium einher. Historiker suchten nicht nur in den bedeutendsten europäischen Archiven nach Dokumenten und Urkunden, sie bemühten sich auch, den Zugang zu kirchlichen Archiven zu erlangen. Eine besondere Anziehungskraft hatten auf jeden Fall die Vatikanische Bibliothek und das Geheimarchiv. Mitglieder der Kurie und von Ordensgemeinschaften konnten seit Sixtus IV. (1471– 1484) Handschriften der Vatikanischen Bibliothek studieren, ja sogar entlehnen2. Sixtus V. (1585–1590) legte dann in einer Bibliotheksorder die Benutzung der Manuskripte genau fest; der Erlass wurde in den folgenden Jahren eigentlich nur durch einige Ergänzungen etwas gelockert3. Clemens XIII. (1758–1769) erließ in der Verordnung vom 4. August 1761 Anorché i Summi Pontefici strengere Richtlinien, z. B. musste jeder Antrag an den Papst oder das Staatssekretariat gestellt werden, und die Einsicht in die Inventare war von nun an untersagt4. Pio IX. (1846–1878) bezog sich im Motu proprio vom 20. Oktober 18515 auf die Order von Clemens XIII., das bedeutete, dass Gesuche zum Studium von Handschriften, Druckwerken und in der Bibliothek verwahrten Medaillen, Münzen und Kunstschätzen erforderlich waren und Forscher nur unter Aufsicht des Bibliothekspersonals arbeiten durften; außerdem war das Abschreiben von Passagen aus Manuskripten streng verboten. 1 2 3 4
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Der Beitrag ist Wolfgang J. Bandion – einem Mitglied und Gönner der Erzbruderschaft zur Schmerzhaften Mutter Gottes beim Campo Santo Teutonico – zu seinem Festtag gewidmet Maria Bertolà, I due registri di prestito della Biblioteca Apostolica Vaticana. I codici vaticani latini 3964, 3966 (Codices e Vaticanis selecti 27), Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 1942 Christine Maria Grafinger, Die Ausleihe vatikanischer Handschriften und Druckwerke (1563– 1700) (Studi e Testi 360), Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 1993, XXVII Christine Maria Grafinger, Die Ausleihe vatikanischer Handschriften und Druckwerke im 18. Jahrhundert (Studi e testi 406, 407), Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 2002, VII–VIII Biblioteca Apostolica Vaticana (künftig BAV), Archivio Biblioteca (künftig Arch. Bibl.) 7, ff. 213r– 218v
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Solche Bedingungen fanden die Wissenschaftler in der Vatikanischen Bibliothek ab der Mitte des 19. Jahrhunderts vor. Um dem Ansuchen mehr Nachdruck zu verleihen, schlossen die Gelehrten oft ein Empfehlungsschreiben einer hochgestellten Persönlichkeit bei: eines Kardinals, des Botschafters oder des Rektors der deutschen Nationalkirche S. Maria dell’Anima oder des Campo Santo Teutonico. Der für die Übersetzung von Ephraem Syrus bekannt gewordene Südtiroler Benediktiner und Orientalist Pius Zingerle, den Pius IX. 1862 auf den Lehrstuhl für Orientalistik der römischen Universität Sapienza berief, studierte für sein monumentales Werk zur syrischen Literatur6 in römischen Privatsammlungen, aber auch in der Vatikanischen Bibliothek einschlägige Handschriften. Zingerle schickte am 12. September 1861 ein entsprechendes Gesuch mit einem Empfehlungsschreiben des österreichischen Botschafters beim Heiligen Stuhl an das Staatssekretariat. Die Bewilligung erfolgte nach drei Monaten, und auf dem Antrag vermerkte der Präfekt der Bibliothek Commissione per la revision e correzione dei libri della Chiesa orientale.7 Unmittelbar vor dem Erscheinen des Bandes richtete der Mitarbeiter des Orientalisten, der Professor für alttestamentliche Bibelstudien und orientalische Dialekte der Universität Salzburg, Georg Mösinger, eine Supplik an den Papst und bat ihn, während der zwei Ferienwochen wegen seiner Lehrverpflichtung die letzten Korrekturen durchführen zu dürfen8. Mitte Februar 1878 wandte sich der Rektor der Anima, Carl Janig, direkt an den ersten Kustos der Vatikanischen Bibliothek, Pio Martinucci, und bat ihn im Namen des Wiener Erzbischofs Johann Rudolf Kutschker, dem Altphilologen und Begründer des Corpus der lateinischen Kirchenväter, Pius Knoll, die Arbeitszeit in der Bibliothek um zwei Stunden zu verlängern, weil er durch die wegen des Todes von Pius IX. bedingte vorausgegangene Schließung wertvolle Arbeitszeit verloren habe9. Doch im Herbst stellte der Wiener Universitätsprofessor ein neuerliches Gesuch an die Bibliothek, vermutlich hat er im März das Arbeitspensum nicht bewältigen können10. Im Herbst desselben Jahres setzte sich der Rektor des Campo Santo Teutonico für Ludwig von Pastor ein; im Empfehlungsschreiben umriss er das Vorhaben des Schülers des Frankfurter Historikers Johannes Janssen, denn Pastor wollte der Papstgeschichte des Protestanten Leopold von Ranke eine objektive und umfangreiche Darstellung von katholischer Seite entgegenstellen. Zu diesem Zweck war eine Einsicht in die Akten von Paul 6 7 8 9 10
Pio Zingerle, Monumenta Syriaca ex Romanis codicibus collecta, Oeniponti: Libraria Wagneriana, Parisiis: Maison neuve & Cie, Londini: Williams & Norgate 1869 BAV, Arch. Bibl. Prestito dei manoscritti Registro 2 (M-Z): Antrag vom 12. September 1861 BAV, Arch. Bibl. Prestito dei manoscritti Registro 2 (M-Z): Schreiben vom August 1868 BAV, Arch. Bibl. Prestito dei manoscritti Registro 1 (A-K): Brief vom Februar 1878 BAV, Ach. Bibl. 84 (Registro della licenza agli estranei per studiare nella Biblioteca Vaticana), f. 24v: Sig. Prof. Pio Knoll incaricato dall´Academia delle scienze di Vienna per ristampare i Padri della Chiesa
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III. (1534–1549), Paul IV. (1555–1559) und Pius V. (1566–1572) erforderlich11. Pastor hatte den Romaufenthalt gut geplant, denn er hatte Informationen bei Gelehrten wie Hugo Laemmer, der die römischen Verhältnisse im Zuge seiner Publikationen gut kennengelernt hatte, eingeholt, und verschiedene Empfehlungsschreiben wie etwa vom Wiener Nuntius Ludovico Jacobini erbeten. Als passende Unterkunft wurde ihm empfohlen, sich an den Campo Santo Teutonico zu wenden. Das dortige Kolleg wurde von Anton de Waal vorzüglich geleitet, und er konnte dort neben dem Zimmer auch Verpflegung haben12. Daher schrieb Pastor sofort an den Rektor des Priesterkollegs und bat um die Reservierung eines Zimmers für die Zeit seiner Studien in Rom13. So berichtet er in seinem Tagebuch, dass sich de Waal besonders für sein Vorhaben eingesetzt hat, da zur exakten Ausführung des groß angelegten Projektes die Einsicht in die Akten der Päpste des 16. Jahrhunderts wie auch in die Nuntiaturberichte aus dieser Zeit erforderlich wäre14. Der junge Historiker ließ aber nichts unversucht, um sein Ziel zu erreichen, und wandte sich an verschiedene Persönlichkeiten um Unterstützung, z. B. den Kardinalbibliothekar Jean Baptist Pitra oder den Rotarichter Giovanni de Montbel15. Mit Nachdruck arbeitete er an der Realisierung seines Vorhabens und schrieb gleich nach der Ankunft in Rom ein Gesuch an den Kardinalstaatssekretär, für seine Forschungen auch die Handschriften der Bibliothek studieren zu dürfen16. Während seines Romaufenthaltes wohnte Pastor fünf Monate im Priesterkolleg des Campo Santo Teutonico, und im Jahresbericht von 1879 wird er als „lieber Haus- und Tischgenosse“ geschildert, dessen „reiche geschichtliche Kenntnisse und dessen persönliche Liebenswürdigkeit ihm eine dankbare Erinnerung im Collegium hinterlegt haben“17.
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Archivio Segreto Vaticano (künftig ASV), Segr. Stato 1878, R. 47, f. 3r: undatiertes Schreiben von de Waal BAV, Lascito Pastor 107, unfoliiert: Schreiben vom 20. Oktober 1878 Campo Santo Teutonico, Archiv der Erzbruderschaft, ACST 16 100 934: Brief vom 29. August 1878 an Anton de Waal. Pastor beschreibt darin sein Forschungsvorhaben Christine Maria Grafinger, Anfänge der österreichischen Forschung im Archivio Segreto Vaticano und in der Biblioteca Apostolica Vaticana, in: Römisch Historische Mitteilungen (künftig RHM) 49 (2007), 429–455. bes.432–433 Christine Maria Grafinger, Ludwig von Pastor und der Vatikan – Forschung und Nachlass, in: Akten der Tagung Ludwig von Pastor (im Druck) BAV, Arch. Bibl. 205, f. 50r: Gesuch vom 12. Januar 1879 Ignaz Philipp Dengel, Ludwig Freiherr von Pastor †. Ein Nachruf, in: Historisches Jahrbuch 49 (1929), 1–32, bes. 12
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1. Exkurs Campo Santo Teutonico
Der Campo Santo Teutonico – campo santo (heiliges Feld) – ist eine deutsche Enklave an der Südseite der Petersbasilika und blickt auf eine lange Geschichte zurück. Teutonico weist auf den deutschen Kulturkreis hin. Seine Anfänge reichen bis in die Spätantike und ins Frühmittelalter zurück. Dieser privilegierte Ort wird 799 erstmals im Liber Pontificalis (chronologisch geordnete Sammlung von Papstbiographien) erwähnt. Die „Schola Francorum“18 steht im engen Zusammenhang mit dem Entstehen von Pilgerzentren, d. h. Unterkunft und Versorgung von Pilgern in unmittelbarer Nähe des Apostelgrabes als wichtiges Pilgerziel. Unter Scholen sind landsmannschaftlich ausgerichtete Institutionen, die sich um Pilger kümmerten, zu verstehen. Daher fanden in dieser Herberge unmittelbar neben St. Peter alle Pilger aus dem Frankenreich Aufnahme. Daneben fand sich in unmittelbarer Nähe ein Hospiz für Kranke, eine dem Erlöser geweihte Kirche und ein Friedhof; alle diese Einrichtungen waren dem Kapitel von St. Peter unterstellt. Die Lokalisierung des gesamten Areals gestaltet sich schwierig. In Urkunden aus dem 9. und 11. Jahrhundert wird überliefert, dass Karl der Große der Salvatorkirche Reliquien und liturgisches Gerät schenkte und ihr ein jährliches Einkommen gewährte. Obwohl die Stiftungsurkunde Karls des Großen vom 22. Dezember 797 als Fälschung nachgewiesen werden konnte, sind darin wesentliche, in päpstlichen Dokumenten zugesicherte Rechte angeführt, wie Gründung der Schola, reiche Ausstattung der Salvatorkirche, deren Leitung durch drei Priester und eine finanzielle Unterstützung aus dem Frankenreich. Vor allem die Salvatorkirche und ihr zugehöriger Friedhof, der für die Bestattung der Pilger aus dem Frankenreich vorgesehen war, wurden seit dem 9. Jahrhundert in päpstlichen Dokumenten immer wieder angeführt19. Der Platz wurde erstmals im 14. Jahrhundert mit „deutsch“ (alamannorum) bezeichnet, und bis 1390 wurden Verstorbene meist in großen Gruben – einer Art Massengrab – bestattet. In der Zeit, als sich der Papsthof in Avignon befand, war nicht nur in Rom ein Niedergang zu verzeichnen, auch der deutsche Friedhof südlich der Peterskirche verfiel zusehends. Bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts bemühten sich Unbekannte, Geldmittel zum Wiederaufbau der verwahrlosten Kirche und des Hospizes, einschließlich des Friedhofs zu beschaffen. Doch erst 1440 erhielt der Magdeburger Friedrich Frid vom Kapitel von S. Peter die Erlaubnis, gegen eine geringe jährliche Abgabe ein Gebäude zu errichten und sich um die Bestattung von Pilgern und Fremden als Werk der christlichen 18
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Franz Ehrle, L´Oratorio di San Pietro sul sito dell’antica „Scuola dei Franchi“, in: L’Oratorio di San Pietro, Roma: Tipografia Poliglotta Vaticana 1924, 25–43. Ehrle widmete im Rahmen der Forschung der alten Stadtpläne von Rom diesem Platz ein besonderes Interesse Albrecht Weiland, Die Frühgeschichte, in: Der Campo Santo Teutonico. Eine deutschsprachige Enklave im Vatikan, Regensburg: Schnell & Steiner 2016, 18–19
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Barmherzigkeit zu kümmern. Die Bemühungen Frids und einiger Gleichgesinnter führten schließlich im Jubeljahr 1450 zur Gründung einer Bruderschaft. Solche organisierten Vereinigungen von Männern verfolgten religiöse Ziele wie Armenbetreuung, Pflege und Versorgung kranker Mitmenschen etc. Diese neue Gemeinschaft verstand sich als ArmeSeelen-Bruderschaft, griff Bestimmungen der Schola der Franken auf und machte sie zu ihrem Programm. Die im Gründungsdokument vom 29. Dezember 1454 festgelegten Richtlinien bezogen sich auf das christliche Totengedenken, die Bestattung von Armen und Fremden als Werk der christlichen Barmherzigkeit, wie auch die Betreuung von Pilgern aus dem Deutschen Reich. Außerdem sind in dieser Urkunde organisatorische Bestimmungen, etwa die Verwaltung durch den Vorstand oder die geistliche Leitung durch den Rektor, festgelegt sowie einige erste Mitglieder genannt. Ob der oft als erster Kirchenrektor bezeichnete Augustinereremit und Beichtvater in St. Peter, Johannes Golderner, tatsächlich diese Funktion innehatte, bleibt dahingestellt, auf alle Fälle stiftete er bei seinem Abschied einen Messkelch, der von der Bruderschaft bei besonderen Gelegenheiten, z. B. beim Hauptfest am 8. Dezember verwendet wird. Der Gemeinschaft gehörten vor allem deutsche, in Rom ansässige Handwerker und Gewerbetreibende an. Nach gut einem halben Jahrhundert bestätigte Leo X. (1513–1521) in der Bulle vom 22. Oktober 1513 der Bruderschaft die alleinige Zuständigkeit für den Campo Santo und das Recht der Bestattung der Pilger und der Bruderschaftsmitglieder20. Bald nach der Gründung der Bruderschaft entschloss sich der Vorstand statt der Renovierung der ruinösen Kirche ein neues Gotteshaus zu errichten, das der „Schmerzhaften Muttergottes (S. Maria della Pietà)“ geweiht sein sollte. Doch der Bau zog sich wegen fehlender finanzieller Mittel fast 25 Jahre hin. Erst ein von Alexander VI. (1492–1503) gewährter Ablassbrief ermöglichte den Abschluss des Baus, und die Kirche wurde am 8. Dezember 1500 eingeweiht. Die Bruderschaft nannte sich nun nach ihrer Kirche „Bruderschaft zur Schmerzhaften Mutter Gottes“21. Sie wurde im Jahre 1579 von Gregor XIII. (1572–1585) zur Erzbruderschaft mit dem offiziellen Namen „Arciconfraternità di Santa Maria della Pietà“ erhoben22. Im Laufe der Jahrhunderte nahmen die Bestattungen von Pilgern am Deutschen Friedhof ab und wurden durch solche von Mitgliedern der Bruderschaft ersetzt. Aus der Frühzeit sind einige Grabplatten mit Inschriften erhalten, die sich an der Kirchenwand befinden. Im Friedhof fanden aber auch Mitglieder der Kurie und bekannter Adelsfamilien wie auch Künstler, z. B. die Gestalter der 14 Kreuzwegstationen, die Maler Christoph Unterberger und Friedrich Overbeck, die in Rom wirkten, ihre letzte Ruhestätte23. 20 21 22 23
Albrecht Weiland, Die Erzbruderschaft, in: Der Campo Santo Teutonico (wie Anm. 18), 25–29 Albrecht Weiland, Die Kirche, in: Der Campo Santo Teutonico (wie Anm. 18), 43 Führer „Campo Santo Teutonico Rom“, Regensburg: Schnell & Steiner 2006, 4–5 Albrecht Weiland, Der Friedhof, in: Der Campo Santo Teutonico (wie Anm. 18), 71–78; Albrecht Weiland, Bestattungen, in: Der Campo Santo Teutonico (wie Anm. 18), 79–99
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Wie andere kirchliche Stiftungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Erzbruderschaft für die Studienförderung von Geistlichen aus den deutschsprachigen Ländern ein. Im Jahre 1876 wurde ein Priesterkolleg für den Aufenthalt von Priestern aus Deutschland und den angrenzenden deutschsprachigen Gebieten, die von ihrem Bischof zum Weiterstudium nach Rom geschickt wurden, eingerichtet. Dem ersten Rektor, Anton de Waal, gelang es, sowohl das Bruderschaftsleben zu reaktivieren und deutsche Katholiken für den Campo Santo zu interessieren, als auch die Studienförderung zielstrebig voranzutreiben. Sein besonderes Interesse galt der christlichen Archäologie und der Kirchengeschichte, und in kurzer Zeit stand den Kollegiaten eine umfangreiche Bibliothek zur Verfügung. Außerdem legte er eine bedeutende Sammlung frühchristlicher Kleinkunst an; viele Gegenstände stammten von Ausgrabungen an der Via Appia, die er selbst beaufsichtigte und betreute24. Da ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein vermehrtes Interesse und eine Wertschätzung der Geschichtsforschung und des Quellenstudiums zu verzeichnen war, richtete der Rektor des Priesterkollegs Anton de Waal 1880 ein wöchentliches Treffen, den sogenannten „Historiker-Zirkel“ der deutschsprachigen Kirchenhistoriker in Rom ein, denn er wollte ein Netzwerk von Fachleuten aufbauen. Neben den Kollegiaten nahmen auch auswärtige Forscher teil, etwa der Jesuit Franz Ehrle und der Dominikaner Heinrich Denifle. Leider schliefen de Waals Bemühungen nach fünf Jahren wieder ein25. Im Rahmen der Förderung historischer Interessen gründete der Rektor 1887 die „Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte“, eigentlich als Hauszeitschrift des Priesterkollegs, doch noch heute veröffentlichen angesehene Forscher einschlägige Beiträge in dieser Fachzeitschrift. Im folgenden Jahr wurde im Priesterkolleg als Niederlassung der Görres-Gesellschaft in Rom das Römische Institut der Görres-Gesellschaft eingerichtet. Der Schwerpunkt der Forschung lag vor allem auf dem Gebiet der christlichen Archäologie und Kirchengeschichte, dazu kamen dann die Erforschung des Konzils von Trient und die Aufarbeitung der Berichte der Kölner Nuntiatur26. Der deutsche Jesuit Franz Ehrle, seit 1895 Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, war dem Campo Santo sehr verbunden und unterstützte die Kollegiaten bei ihren wissenschaftlichen Arbeiten. Mit der Ernennung zum Kardinalprotektor am 9. September 1930 fühlte er sich dem Priesterkolleg und der Erzbruderschaft besonders verbunden und setzte 24 25
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Hans Peter Fischer, Das Priesterkolleg, in: Der Campo Santo Teutonico (wie Anm. 18), 103–111 Stefan Heid, Ein Blick auf Kardinal Ehrle als Protektor des Campo Santo Teutonico, in: Franz Kardinal Ehrle (1845–1934), Jesuit, Historiker und Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, hrsg. v. Andreas Sohn/Jacques Verger, Rom: École français de Rome 2018, 175–184, bes. 175–176 Stefan Heid, Das Römische Institut der Görres-Gesellschaft, in: Der Campo Santo Teutonico (wie Anm. 19), 113–123
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all seine Kräfte zum Wohle der Institution ein. In der heiklen Frage, einen geeigneten Rektor für das Kolleg zu finden, bemühte er sich in schwierigen Verhandlungen eine befriedigende Lösung zu finden27.
2. Forschungsschwerpunkte nach der Öffnung des Geheimarchivs und der Bibliothek für die historische Forschung
Ehrle hatte zusammen mit dem österreichischen Dominikaner Heinrich Denifle 1885 das „Archiv für Literatur und Kirchengeschichte des Mittelalters“ gegründet, und bis 1900 erschienen sieben, ausschließlich dem 14. Jahrhundert gewidmete Bände, deren Wert in einer gerechten Beurteilung des kirchlichen Niedergangs diese Epoche und einer Erforschung der mittelalterlichen Scholastik nach einer streng wissenschaftlichen Methode liegt28. Der aus Imst gebürtige Dominikaner war wegen der umfangreichen Studien, die er im Rahmen der von Leo XIII. (1878–1903) 1879 gegründeten „Commissione Leonina“ zur Herausgabe der Werke von Thomas von Aquin in den bekanntesten europäischen Bibliotheken durchgeführt hatte, am 1. Dezember 1884 zum Unterarchivar des Vatikanischen Archivs ernannt worden. Die Nominierung des gelehrten Geistlichen wurde von den Forschern mit Freude aufgenommen. Denifle scheute sich nicht, Ratschläge bei Fachleuten einzuholen und aus gemeinsamen Projekten neue Einsichten zu gewinnen. Zusammen mit Johann Peter Kirsch, dem Direktor des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft, erstellte er ein Inventar der päpstlichen Finanzen und eines der Nuntiatur während des Pontifikats von Sixtus V.29. Der Unterarchivar stand den Gelehrten, vor allem jenen aus Deutschland, hilfreich zur Seite, aber er setzte auch die eigenen wissenschaftlichen Recherchen auf dem Gebiet der mittelalterlichen Universitätsgeschichte fort und erlangte für sein Hauptwerk, das Chartular der Universität von Paris, großes Ansehen in Frankreich; er wurde dafür von einigen wissenschaftlichen Akademien ausgezeichnet30.
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Johannes Pohl, Um die Ernennung eines neuen Rektors im Campo Santo Teutonico in Rom. Erlebnisse aus den Jahren 1930/31 – Maschinschriftlich im Archiv des Campo Santo Teutonico 20 010 Christine Maria Grafinger, Der deutsche Jesuit Franz Ehrle als Präfekt der Vatikanischen Bibliothek. Seine Projekte und Neuerungen, in: Franz Kardinal Ehrle (wie Anm. 24), 125–146, bes. 126 Christine Maria Grafinger, Heinrich Denifle et ses recherches aux Archives du Vatican et à la Bibliothèque Vaticane, in: Heinrich Denifle (1844–1905). Un savant dominicain entre Graz, Rome et Paris, éd. Andreas Sohn, Jacques Verger, Michel Zink, Paris: Académie des Inscription et BellesLettres 2018, 67–78, bes. 70–71 Jacques Verger, Heinrich Denifle et le projet du Chartularium Universitatis Parisiensis, in: Heinrich Denifle (wie Anm. 29), 115–135
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Die meisten Empfehlungsschreiben für die Benutzung von Dokumenten und Handschriften aus dem Archiv und der Bibliothek des Vatikans wurden jedoch vom Botschafter beim Heiligen Stuhl verfasst, manchmal auch im Auftrag des Kultusministeriums. Einige Wissenschaftler wollten auch Kunstgegenstände und Fresken in den der Bibliothek angeschlossenen Museen studieren. Für den Architekten Adolf Schill richtete der Botschafter ein Gesuch an den Maggiordomo Bartolomeo Pacca, mit der Bitte, von den Fresken im Appartamento Borgia Skizzen anfertigen zu dürfen31. Mit einem ähnlichen Begleitschreiben wandte sich der Architekt der Wiener Votivkirche, Heinrich Ferstel, an das Staatssekretariat, das den Antrag zwar bewilligte, doch der österreichische Professor wurde an den Kustos der Bibliothek verwiesen32. Leo XIII., dem die Erneuerung der theologischen und philosophischen Wissenschaften am Herzen lag, bemühte sich unmittelbar nach seiner Wahl um eine Neuorganisation der Bibliothek. 1880/81 wurden auf seine Anordnung die Bestände des Vatikanischen Archivs der historischen Forschung zugänglich gemacht. Darüber hinaus richtete er im August 1883 eine Kommission zur Organisation der historischen Studien ein33. Zur einfacheren Benutzung der Druckschriften wurde auf Wunsch des Papstes ein neuer großer Lesesaal, die sog. „Sala Leonina“, eingerichtet, in dem 100.000 Bände zur freien Verfügung aufgestellt werden sollten. Den Transport organisierte der deutsche Jesuit Franz Ehrle, der seit 1895 ein Mitglied des Verwaltungsrates der Bibliothek war, und es gelang ihm, die 185.000 Bücher aus dem Appartamento Borgia, wo sie seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts aufgestellt waren, mithilfe von 15 Arbeitern in zwei Wochen an den neuen Standort bringen zu lassen34. Diese nach bestimmten Sachbereichen geordnete Nachschlagebibliothek wurde ein Vorbild für alle bedeutenden Bibliotheken. Die Öffnung von Archiv und Bibliothek bewirkte einen Aufschwung der historischen Forschung. Gelehrte aus allen europäischen Ländern bemühten sich um eine Erlaubnis, vatikanische Dokumente und Handschriften konsultieren zu dürfen. Der Andrang der Historiker war enorm, und die Staaten wollten diesen durch die Einrichtung von Forschungsinstituten den Romaufenthalt ermöglichen. Als erstes nationales Institut wurde noch vor der zukunftsweisenden 31 32 33
34
BAV, Arch. Bibl. Prestito dei manoscritti Registro 2 (M–Z): Schreiben des Botschafters Paar vom 4. Februar 1875 ASV, Segr. Stato 1876, R. 260, f. 24r. Schreiben Paars vom 29. Januar 1876; f. 25r: Minute des Schreibens des Kardinalstaatssekretärs vom 11. Februar 1876 Leonis XIII. Pontificis Maximi Acta. Bd. 3, Romae: ex Typographia Vaticana 1884, 259–273; Ludwig von Pastor, Tagebücher – Briefe – Erinnerungen, hrsg. v. Wilhelm Wühr, Heidelberg: F. H. Kerle 1950, 172: „Dadurch wurde die Vatikanische Bibliothek der gesamten Forschung freigegeben.“ Franz Ehrle, „Die Überführung der gedruckten Bücher der Vaticana aus dem Appartamento Borgia in die neue Leoninische Bibliothek und ihre Neuordnung“, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen, 8 (1891), 504–510
Österreichische und deutsche Forscher im Vatikanischen Archiv und in der Vatikanischen Bibliothek
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Entscheidung Leos XIII. bereits im Jahre 1876 die École Français gegründet, und unmittelbar nach der Veröffentlichung der päpstlichen Order, wodurch Archiv und Bibliothek der historischen Forschung zugänglich gemacht wurden, wurde 1881 das Österreichische Historische Institut eingerichtet, das ab 1886 polnischen Gelehrten und im folgenden Jahr auch böhmischen Studierenden offen stand. Durch private Initiative und mit finanzieller Unterstützung der Kirche öffnete das Ungarische Historische Institut 1882. Diesem folgten dann weitere wissenschaftliche Einrichtungen, z. B. das Römische Institut der Görres-Gesellschaft sowie die Königlich Preußische Historische Station (1886), das 1890 den Namen in Preußisches Historisches Institut änderte35.
3. Die Anfänge des Österreichischen Historischen Instituts in Rom
Der österreichische Geschichtsforscher und Diplomatiker Theodor von Sickel war im März 1876 im Rahmen eines Forschungsprojekts der deutschen Herrscherurkunden nach Rom gekommen, um das im Vatikanischen Archiv verwahrte Diplom Ottos I. aus dem Jahr 962 genauer zu untersuchen36. Eine Benutzungsgenehmigung für die Bibliothek hatte er auf Empfehlung durch den bekannten Herausgeber der historischen Quellen zur deutschen Geschichte und Mitglied der Monumenta Germaniae Historica, Georg Waitz, bekommen, und für das Archiv erhielt er ein Empfehlungsschreiben des österreichischen Botschafters37. Vermutlich hat Sickel das Privileg Kaiser Otto I. nicht gesehen, weil keine Benutzererlaubnis in den Akten nachzuweisen ist und weil er aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig abreisen musste. Er kehrte erst einige Jahre später wieder zurück, denn unmittelbar nach der Eröffnung des Vatikanischen Archivs 1881 brach er mit einem Mitarbeiter nach Rom auf. Gleich nach der Ankunft begab sich Sickel zum Kardinalpräfekten des Archivs, Joseph Hergenröther, der ihm nicht nur das heiß ersehnte Privileg Ottos I. zeigte, sondern ihm volle Unterstützung bei seinen Arbeiten zusicherte. Der Kardinal hatte außerdem beim Papst eine Sondererlaubnis bewirkt, in der dem österreichischen Historiker ein Betreten der Archivräume in Begleitung eines Beamten gestattet wurde, 35
36 37
Werner Maleczek, Zwei Tiroler Mittelalter-Historiker am Vatikanischen Archiv in den Jahren nach der Öffnung durch Papst Leo XIII: Emil von Ottenthal und Hans von Voltelini, in: Incorrupta Monumanta Ecclesiam Defendunt. Studi offerti a mons. Sergio Pagano, prefetto dell’Archivio Segreto Vaticano. 2. Archivi, Archivistica, Diplomatica, Paleografia a cura die Andreas GottsmannPierantonio Piatti-Andreas E. Rehberg (Collectanea Archivi Vaticani 107), Città del Vaticano: Archivio Segreto Vaticano 2018, 549–597, bes, 549–550 Theodor von Sickel, Römische Erinnerungen. Nebst ergänzenden Briefen und Aktenstücken, hrsg. v. Leo Santifaller, Wien: Universum 1947, 33–34 ASV, Segr. Stato 1876, R. 260, f. 55vr. Schreiben Paars vom 7. April 1876
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ja es wurde ihm sogar ab und zu ein Einblick in die Inventare erlaubt. Daher konnte er sich ein Bild über die Bestände und ihre Aufstellung verschaffen. Darüber hinaus hatte er Kontakte zu Forschern der École Français geknüpft. Als er nach zwei Monaten nach Wien zurückkehrte, unterbreitete er dem Minister für Cultus und Unterricht und dem Kaiser den Plan, in Rom ein österreichisches Institut zur historischen Forschung zu gründen. Das Projekt wurde vom Ministerium abgelehnt, aber der Kaiser konnte dafür interessiert werden. Durch Petitionen an verschiedene öffentliche und private Geldgeber konnte Sickel die erforderlichen Mittel für die Finanzierung von zwei Stipendien aufbringen, und im Herbst konnten Ferdinand Kaltenbrunner und Adolf Fanta mit einem Forschungsauftrag nach Rom aufbrechen38. Aufgrund des Empfehlungsschreibens der österreichischen Botschaft für das Forschungsvorhaben zur mittelalterlichen Geschichte des Hauses Habsburg39 erhielten die beiden bald eine Arbeitsbewilligung für die Bibliothek. Für die Erlaubnis im Archiv war eine Intervention, d. h eine detaillierte Erklärung des wissenschaftlichen Vorhabens von Kardinal Hergenröther im Staatsekretariat notwendig. Die Genehmigung wurde dann Mitte November erteilt40. Kaltenbrunner konnte sich bei der Suche nach Briefen von Rudolf von Habsburg in den Registerbänden aus dem 13. Jahrhundert einen guten Überblick über das päpstliche Registerwesen dieser Epoche verschaffen. Nach zwei Monaten intensiver Arbeit gewannen die österreichischen Stipendiaten das Vertrauen der Archivbeamten, und es gelang ihnen, Kopien von wichtigen Dokumenten anfertigen zu lassen41. Am Schluss des Studienjahres im Juni legten die beiden unerwartete Resultate vor; das war wiederum die Voraussetzung, dass vom Kaiser 500 Gulden für Forschung in Rom bewilligt wurden, diese waren jedoch nicht thematisch – nur auf die Geschichte der Habsburger beschränkt – gebunden42. Da von der Botschaft für die beiden Stipendiaten schon im Voraus die entsprechenden Genehmigungen eingeholt worden waren, konnten Kaltenbrunner und Emil von Ottenthal nach ihrer Ankunft Anfang November sofort mit ihrer Arbeit im Vatikanischen Archiv und in der Bibliothek beginnen. Ottenthal sichtete die Papstregister von 1304 bis 1308, doch sein Interesse galt auch der Funktion und Entwicklung der päpstlichen Kanzlei seit dem Pontifikat Eugens IV. (1431–1447). Kaltenbrunner setzte dagegen die im vorigen Studienjahr begonnenen Recherchen zur Geschichte der Habsburger fort; er durchforstete die Register von 38 39 40 41 42
Grafinger, Anfänge (wie Anm. 14), 434, 436 ASV, Segr. Stato 1881, R. 260, ff. 121rv., 123rv: Schreiben des Legationsrates Alois von Seiller vom 8. Oktober 1881 ASV, Segr. Stato 1881, R. 260, f. 122r: Minute der Anweisung an Hergenröther vom 14. November 1881 Sickel, Römische Erinnerungen (wie Anm. 36), 343–348 Karl, Rudolf, Geschichte des Österreichisch Historischen Instituts in Rom von 1881 bis 1938, in: RHM 23 (1981) 5–6
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Gregor X. (1271–1276) und Bonifaz VIII. (1294–1303), kontrollierte schon vorhandene Exzerpte wie auch einige Handschriften mit Texten von Bernardus de Napoli für die geplante Drucklegung der Acta Habsburgica43. Ende Februar 1883 kam Sickel im Auftrag des Ministeriums nach Rom, um mit den zuständigen Stellen die Bedingungen zur Einrichtung des Österreichischen Instituts zu erörtern und zu verhandeln. In einer an das Staatssekretariat gerichteten Denkschrift legte er die Ziele des geplanten Forschungsprojekts dar. Schwerpunkt der Forschung sollte die Geschichte Österreichs und der Habsburger, aber auch die Papstgeschichte und die Geschichte des päpstlichen Kanzleiwesens sein. Zu diesem Zweck sollten jährlich vier, ja maximal fünf Stipendiaten die vatikanischen Handschriften und die Urkunden und Dokumente zu diesen Themenbereichen sichten. Eine wesentliche Erleichterung für die Stipendiaten wäre, wenn diese, mit einem Empfehlungsschreiben von Wien ausgestattet, sofort nach ihrer Ankunft in Rom mit ihren Studien beginnen könnten, ohne wertvolle Arbeitszeit durch unnötiges Warten auf die Genehmigung zu verlieren. Vorteilhaft wäre außerdem, wenn von Mitte September bis zur Öffnung des Archivs Mitte Oktober eine Bibliotheksbenutzung möglich wäre, denn im November, wenn die Bibliothek normalerweise für Besucher nicht zugänglich war, konzentrierten sich die Recherchen ohnedies auf die Bestände des Vatikanischen Archivs44. In der Audienz vom 10. April 1883 konnte Sickel dem Papst nicht nur seine Studie über das Privileg Otto I.45 überreichen, sondern ihm auch das österreichische Anliegen in entsprechender Weise vor Augen führen. Der Heilige Vater erteilte der vorgebrachten Petition seine Zustimmung und ließ die Präfekten von Archiv und Bibliothek von seiner Entscheidung in Kenntnis setzen. Kurz darauf erbat der österreichische Botschafter im Staatssekretariat, dieselben Bedingungen auch ungarischen Wissenschaftlern zu gewähren46. Kurz nach der Rückkehr nach Wien wandte sich Sickel direkt an den ersten Kustos der Bibliothek Stefano Ciccolini, um den österreichischen Stipendiaten weitere Vergünstigungen zu gestatten, wie die Erlaubnis für die Recherchen im Archiv nicht nur österreichische Publikationen, sondern jedes beliebige Buch aus der Bibliothek verwenden zu dürfen. Der Bibliothekskustos stimmte dem zu und wollte den Österreichern, falls sie neben den offiziellen Öffnungszeiten (9–13 Uhr im September und bis 14 Uhr ab Oktober) eine zusätzliche Stunde benötigten, gern entgegenkommen47. Ende September gab der Legationsrat dem Staatsekretariat die für 43 44 45 46 47
Rudolf, Geschichte (wie Anm. 42), 14 f. ASV, Segr. Stato 1883, R. 47, f. 96rv: Promemoria vom 2. April 1883 mit einer Notiz der päpstlichen Zustimmung vom 5. April am oberen Rand Theodor von Sickel: Das Privilegium Ottos I. für die römische Kirche vom Jahre 962, Innsbruck: Wagner 1883 ASV, Segr. Stato 1883, R. 47, ff. 99r, 102r: Schreiben Paars vom 17. April 1883 ASV, Segr. Stato 1883, R. 47, f. 107r: Konzept des Schreibens von Ciccolini an Sickel vom 9. Juli 1881; eine Kopie wird in BAV, Arch. Bibl. Prestito dei manoscritti Registro 2 (M–Z) verwahrt.
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das nächste Studienjahr vorgesehenen Stipendiaten bekannt und beantragte die entsprechenden Benutzergenehmigungen für Bibliothek und Archiv. Bereits im Frühjahr 1883 hatte die österreichische Akademie der Wissenschaften beschlossen, der Vatikanischen Bibliothek jeweils ein Freiexemplar von jeder Veröffentlichung zukommen zu lassen, und im Tausch dazu erhielt die Akademie die vatikanischen Publikationen48. Im Dezember beschloss der Vorstand der Zentralkommission für Kunstund historische Denkmale, je ein Exemplar der 135 bereits erschienenen wie auch aller künftigen Veröffentlichungen der Vaticana zu schenken49. Wie schon erwähnt, setzte sich der Unterarchivar und Tiroler Dominikaner Denifle für die Anliegen der Wissenschaftler ein. Anfang 1884 benötigte Ferdinand Kaltenbrunner Fotos von zwei Dokumenten: dem Wormser Konkordat (A.A.Arm. I-XVIII 50) und einem Privileg Rudolfs I. (A.A.Arm. I-XVIII 46). Die Bilder wurden nach einer Rücksprache mit Denifle und in Anwesenheit des Archivars in einem eigens dafür vorgesehenen Raum angefertigt50. Weil sich die Koordination der Forschungsvorhaben von Wien aus schwierig gestaltete, kam Sickel Anfang November 1884 persönlich nach Rom; außerdem wollte er selbst einige bislang noch nicht erforschte Bestände im Archiv einsehen. In einem direkten Schreiben an Leo XIII. dankte er diesem für das Wohlwollen und die Unterstützung der österreichischen Forschungsprojekte. Darüber hinaus wies er den Papst auf das Fehlen von zwei Registerserien aus dem 15. Jahrhundert im Archiv hin. Die fehlenden Bände aus der päpstlichen Kanzlei stellten eine wahre Forschungslücke dar. Hergenröther hatte aber in seinem Buch über die Register Leos X. darauf hingewiesen, dass diese vom Archivar Gaetano Marini im Bestand der Dataria nachgewiesen worden waren, und dieser Bestand werde zurzeit noch im Archiv des Laterans verwahrt. Die umfassenden Quellenstudien zur Habsburgergeschichte erforderten eine Durchsicht dieser Bände, und er ersuchte daher um die entsprechende Erlaubnis. Auch bei den Brevenregistern schienen einige aus der Zeit nach dem Schisma nicht auffindbar zu sein, und diese enthielten ab Eugen IV. auch politische Korrespondenz. Bislang konnten 60 Bände im Bestand Armadio XXXIX – teilweise auch mit Originalbreven aus der Zeit Calixtus III. (1455–1458) bis Pius II. (1458–1464) – nachgewiesen werden. Da positive Ergebnisse von Nachforschungen auch in anderen Archiven zu erwarten waren, erklärte er sich bereit, einen Mitarbeiter des Instituts für solche Nachforschungen zur Verfügung zu stellen51. 48 49 50 51
ASV, Segr. Stato 1883, R. 47, f. 51rv: Schreiben des Generalssekretärs der Akademie, Heinrich Siegel, an den Kardinalstaatssekretär vom 19. Juni 1883 ASV, Segr. Stato 1884, R. 47, ff. 14r–15r: Schreiben Paars vom 27. Dezember 1883 ASV, Segr. Stato 1884, R. 47, f. 71r: Minute des Schreibens Hergenröthers an das Staatssekretariat vom 9. März 1884 ASV, Segr. Stato 1885, R. 67, f. 4rv: undatiertes Schreiben Sickels an Leon XIII., ff. 3r, 6r: Gesuch
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Mitte November begann Sickel zusammen mit Vilmos Fraknoi, der Anfang des Monats direkt vom Prodatar Kardinal Carlo Sacconi, der für die Dokumente in der Dataria zuständig war, eine Erlaubnis erhalten hatte, im Lateranarchiv zu arbeiten. Fraknoi hatte schon 1881 versucht, für das Projekt Monumenta Vaticana Historiae mit einigen Empfehlungsschreiben ungarischer Bischöfe den Zutritt zum Archiv der Dataria zu bekommen, da er dort wichtige Dokumente zur ungarischen Geschichte vermutete. Nachdem vom Staatssekretariat eine positive Antwort an die Bischöfe ergangen war, begann Fraknoi zuerst in Ungarn mit der Realisierung seines wissenschaftlichen Vorhabens, z. B. mit dem Auftreiben notwendiger finanzieller Mittel52. Er traf Mitte Mai 1884 in Rom ein, wo er einige Kontakte zu Vertretern der Kurie hatte. Im Vatikanischen Archiv unterbreitete er dem Unterarchivar Denifle sein Forschungsvorhaben, und dieser sicherte ihm seine volle Unterstützung zu. Sickel schloss sich dann Mitte November mit vier Mitarbeitern der ungarischen Gruppe an. Die Arbeitsbedingungen waren alles andere als angenehm, das Archiv war vollkommen ungeordnet, es fehlten Leitern, Tische und Sesseln, außerdem war die Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt, weil die Tätigkeiten nur unter der Aufsicht eines alten Archivars stattfinden konnten. Bevor die Wissenschaftler mit der eigentlichen Durchsicht der 1200 Registerbände von Bonifaz VIII. bis zum Jahr 1500 beginnen konnten, mussten sie zuerst die nach Pontifikaten aufgestellten Bände von den unteren Regalen bis zur Decke in chronologischer Reihenfolge ordnen. Den anderen Forschern im Vatikanischen Archiv war die Anwesenheit der Österreicher und Ungarn aufgefallen, darüber hinaus sprachen sich einige Vertreter der Kurie, die davon Kenntnis erhalten hatten, vehement gegen die Tätigkeit der Forschergruppe im Lateran aus. Daher verweigerte ihnen der Archivar des Laterans in der folgenden Woche mit dem Argument, dass sich dort die auf päpstliche Anordnung nicht zugänglichen Register aus dem Pontifikat von Alexander VI. befänden, den Zutritt. Der Archivpräfekt Kardinal Hergenröther nahm sich schließlich der Sache an und konnte einen Kompromiss finden. Er holte beim Papst die Erlaubnis für eine vorübergehende Transferierung der durchzusehenden Bände ins Archiv ein. Schließlich wurden dann während des Pontifikats von Leo XIII. alle im Lateran verwahrten Archivalien ins Vatikanische Archiv gebracht, und somit waren alle Registerserien an einem Ort vereinigt53. Sickel widmete sich aber auch seinen persönlichen Forschungen und griff die Idee, sich mit der päpstlichen Formelsammlung Liber Diurnus zu beschäftigen, wieder
52
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des Botschafters, den Österreichern den Zutritt zu anderen päpstlichen Archiven zu gestatten. Christine Maria Grafinger, Ricerche die Vilmos Fraknoi nel Vaticano, in: Gli Archivi della Santa Sede e il Regno d’Ungaria (secc. 15–20). In memoria di Lajos Pasztor a cura die Gaetano Platania, Matteo Sanfilippo, Peter Tusor, Budapest, Roma: Università Cattolica Péter Pázmány, 2008, 247–254, bes. 250–251 Grafinger, Anfänge (wie Anm. 14), 443–444
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auf. Zum ersten Mal hatte er 1855 davon gehört. Die Handschrift war erstmals vom deutschen Gelehrten und Bibliothekar von Kardinal Francesco Barberini und späteren ersten Kustos der Vatikanischen Bibliothek, Lukas Holstenius, eingehender studiert worden und nach 1870 immer mehr in den Mittelpunkt der historischen Forschung gerückt. Der Plan, sich eingehender mit diesem Thema zu beschäftigen, stieß beim Archivpräfekten Kardinal Hergenröther auf wenig Gehör. Doch der Zufall wollte es, dass Sickel bei der Schriftanalyse des Privilegs von Otto I. im Mai 1881 ein Vergleichsexemplar benötigte. Als sich im Archiv anfänglich keine Urkunden aus dieser Zeit fanden, bat er, ein entsprechendes Manuskript aus der Vatikanischen Bibliothek ins Archiv bringen zu lassen, was aus administrativen Gründen abgelehnt wurde. Ein Beamter suchte schließlich nach Vergleichsexemplaren und legte sie dem österreichischen Historiker vor. Dieser erkannte sofort, dass sich darunter das Liber Diurnus befand, doch eine eingehende Untersuchung des Kodex wurde ihm nicht gestattet. Als ihm Leo XIII. bei der Übergabe der Edition des Privilegs Ottos I. im April 1883 die Unterstützung bei den geplanten Forschungsvorhaben zusagte, wollte Sickel die Gelegenheit zu einer eingehenden Untersuchung der päpstlichen Formelsammlung nutzen. Die Archivbeamten behaupteten zwar, dass der Kodex unauffindbar wäre, erklärten sich aber bereit, dem Institutsvorstand die Repertorien zu einer Kontrolle auszuhändigen. Diesem gelang es nicht nur, das Manuskript zu finden, sondern bei dieser Gelegenheit konnte er darüber hinaus brauchbare Notizen zu anderen Beständen in den Findbüchern entdecken54. Auf Fürsprache des Unterarchivars Denifle, der überzeugt war, dass Sickel der Geeignetste zur Bearbeitung der wertvollen Handschrift war, setzte sich nun auch Kardinal Hergenröther für eine Realisierung des Projektes ein. Mithilfe einiger Stipendiaten, die während des Studienaufenthalts in Rom das Material sichteten und die Quellen prüften, konnten im Studienjahr 1888/89 die eingehenden Untersuchungen zur Vorbereitung der Drucklegung des Liber Diurnus abgeschlossen werden55. Im Februar 1889 war nun der Augenblick der Überreichung der Neu-Edition des Liber Diurnus56 an den Papst gekommen, die nur aufgrund der auf päpstliche Anordnung gewährten Vergünstigungen realisiert werden konnte57. Mit Nachdruck setzte Sickel alles daran, dass den Stipendiaten möglichst viele Quellen für ihre Projekte zur Verfügung standen. Er bemühte sich um einen Zutritt zum Archiv der Sacra Rota Romana, zu den Beständen der Propaganda Fide, dem von Gregor XV. (1621–1623) 1622 gegründeten Missionsinstitut und dem Zeremonial-Konsistorial-Archiv. 54 55 56 57
Sickel, Römische Erinnerungen (wie Anm. 36), 184 Rudolf, Geschichte (wie Anm. 42), 25 Theodor von Sickel, Liber diurnus romanorum pontificum ex unico codice vaticano denuo edidit … Vindobonae: apud C. Geroldi filium 1889 Grafinger, Anfänge (wie Anm. 14), 445–447
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Die Suche nach Dokumenten zu Kaiser Maximilian I. hatte wenig Ergebnisse gebracht, und daher hoffte Sickel, in anderen päpstlichen Archiven fündig zu werden, vor allem von den Diarien im Zeremonialarchiv versprach er sich einiges. Ausführlich erläuterte er Kardinal Hergenröther seine Ideen und bat ihn, sich für die österreichischen Historiker beim Papst zu verwenden und eine Erlaubnis für die Benutzung dieses Bestandes zu bekommen58. Außerdem sollte sich der Archivpräfekt beim Zeremonienmeister dafür einsetzen, dass die Diarien für eine bestimmte Zeit zur Benutzung ins Archiv gebracht werden, damit der Leiter des Österreichischen Instituts und seine Mitarbeiter diese durchsehen konnten. Mit dem Aufschwung der historischen Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging ein gesteigertes Interesse an der Kirchen- und Papstgeschichte einher. Rom, aber vor allem die päpstlichen Archive und die Vatikanische Bibliothek wurden Anziehungspunkte für Geschichtswissenschaftler aus aller Welt. Nach der Öffnung von Archiv und Bibliothek durch Leo XIII. richteten die einzelnen europäischen Staaten wissenschaftliche Institute ein, die den Forschern einen längeren Studienaufenthalt in Rom ermöglichten. Unter den ersten Gründungen dieser Art waren das Institut der Römischen GörresGesellschaft, das Preußische Historische Institut und das Österreichische Historische Institut. Diese wissenschaftlichen Einrichtungen waren Vorreiter der historischen Forschung und sollten zukunftsweisend sein. Wer längere Zeit seines Lebens in Rom verbracht hat, wird sich der Anziehungskraft dieser Stadt nicht entziehen können. Vergil nennt sie zum ersten Mal „ewige Stadt“. Die besondere Atmosphäre des Campo Santo Teutonico fokussiert diese emotionale Bindung noch einmal mehr. Wolfgang J. Bandion hat dies in einer berührenden Sentenz59 festgehalten und erinnert: Fern von Rom, doch im Herzen nahe, höre ich die Glocken von St. Peter, unter uns das wogende Grün des Campo Santo und vor uns die heimatlich gewordene Kuppel des Michelangelo.
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ASV, Segr. Stato 1891, R. 67, f. 48rv: Schreiben Sickels vom 4. März 1889 Wolfgang J. Bandion, Begegnungen, in: Festschrift 20 Jahre Capitolina: Römische Fragmente, Rom 2006, 114
Der Staat der Vatikanstadt Bausteine seiner Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart1 Harald Tripp
1. Hinführung
Das Phänomen der Globalisierung mit der ihm innewohnenden Herausforderung an die Rechtsordnungen in Richtung einer Dynamik der Offenheit und des Wandels hat auch den Staat der Vatikanstadt beeinflusst. In diesem Fall handelte es sich jedoch um einen Prozess, der sich vor allem nach der Wahl von Jorge Mario Bergoglio zum Papst, der auch der Souverän des Staates ist, verstärkt hat. Ein Jesuit aus Argentinien, der Erste vom amerikanischen Kontinent, der den Namen Franziskus I. annahm (obwohl er bekanntlich nicht nach der Ordnungszahl genannt werden will), wollte seit der Wahl des päpstlichen Namens sofort den Sinn seiner Sendung in der Welt aufzeigen, nämlich diejenige Sendung als Monarch bzw. Staatsoberhaupt zu verwirklichen, die besonders außerhalb der engen Mauern einer typisch staatlichen Souveränität gelebt und verwirklicht wird2. Der Wandel, der die Welt geprägt hat, führte dazu, dass der Staat der Vatikanstadt dank der Wahl von Papst Franziskus besser gerüstet ist, um die dichte Logik der Staatlichkeit durchzuhalten, die andererseits bei einigen jüngeren Päpsten (und bei vielen ihrer Mitarbeiter) sichtbar war, nicht selten verbunden mit der Idee, einen Staat „wie jeden anderen“ zu besitzen, der nur etwas kleiner sei und daher einfach in allen Einzelheiten seiner Gestalt zu verkleinern wäre. Die von Papst Franziskus gegebene Interpretation, auch in Bezug auf die vatikanische Rechtsordnung, auch wegen der gewaltigen Einwirkung dynamischer Prozesse der Globalisierung, zielt darauf ab, vor allem das Wesen und die Natur dieses eigentümlichen 1
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Dieser Beitrag ist Prof. Wolfgang Bandion in dankbarer Verbundenheit und Freundschaft zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Durch viele Jahre besucht er Rom und vermittelt vielen jüngeren wie älteren Menschen das Beziehungsgeflecht von Kunst, Kultur, Geschichte und christlichem Glauben. Dabei kommt er stets mit dem Vatikan und den Einrichtungen des Heiligen Stuhls in Kontakt. Danke für diesen Einsatz und für sein Zeugnis! Siehe dazu M. Hesemann, Papst Franziskus. Das Vermächtnis Benedikts XVI. und die Zukunft der Kirche, München 2013, 37 ff.
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Staates und seine ursprüngliche Funktion in den Mittelpunkt zu stellen: die des dienenden und helfenden Rechtssubjekts des Heiligen Stuhls. Die Vatikanstadt und ihr Gebiet haben ihre eigene Geschichte, die erst nach 1929, dem Jahr der Gründung des Staates Vatikanstadt, als „verfassungsmäßig“ zu bezeichnen ist3. Das historische Ereignis einer staatlichen Einheit, das am Ende der sogenannten „Römischen Frage“ realisiert wurde, vermischte und überlagerte sich notwendigerweise mit anderen unterschiedlichen historischen Entwicklungen, ausgehend von der christlichen Religion und deren missionarischer Kraft innerhalb der katholischen Kirche sowie deren geistlichen wie weltlichen Institutionen bis hin zur Ausgestaltung eines Territoriums (Rom und Italien) und den Ereignissen, die Städte und Landstriche historisch geprägt haben. Daher kann man nicht genau von der „Verfassungsgeschichte“ des Staates der Vatikanstadt sprechen, wenn man nicht zunächst die historische Bedeutung, die in gewisser Weise immer noch seinen Hintergrund ausmacht, und das zusammengesetzte und vielfältige Substrat, das ihn zur gegenwärtigen Stunde immer noch charakterisiert, im Auge behält. Dieser Mangel an historischer Homogenität erfordert daher einerseits die Rekonstruktion der wichtigsten historischen Passagen von den „Besitzungen bzw. Ländern des heiligen Petrus“ bis zum Ende des Kirchenstaates, die das grundlegende Szenario umreißen, auf dem der Staat der Vatikanstadt geboren wurde und sich entwickelt hat. Andererseits ist eine Betonung des Umstandes notwendig, wie die Kirche mit den Strukturen und ihren Rechtsinstituten, die sie im Laufe der Zeit konsolidiert hat (insbesondere durch das Papsttum), die Frage des Dilemmas zwischen geistlicher und weltlicher Macht angegangen ist4.
2. Vom heiligen Petrus zur Konsolidierung der weltlichen Herrschaft
Vor fast zwanzig Jahrhunderten war das Gebiet des heutigen Staates nur der ager vaticanus, ein ungesundes Gebiet am rechten Ufer des Tibers, das zur Zeit der Etrusker und der ersten Römer für Riten (vaticinii) bestimmt war, die Fragen um die Zukunft klären sollten. Davon ist der Name „Vatikan“ abzuleiten5. Ausgeschlossen von den Mauern, die der antike König Servius Tullius errichtete, war dies in römischer Zeit ein Gebiet, das noch außerhalb der Stadt Rom lag und dessen Land oft vom Tiber überflutet wurde. Wäh3 4 5
Vgl. dazu die Ausführungen über die atypische Staatsform des Vatikans bei G. Barberini, Chiesa e Santa Sede nell’ordinamento internazionale. Esame delle norme canoniche, Torino 2003, 103 ff. Vgl. dazu die bislang einzig in deutscher Sprache erschienene Gesamtdarstellung zur Thematik von B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates. Cäsaren mit der Tiara, Wien 2012 Siehe dazu R. Cassanelli (Hrsg.), Der Vatikan. Allgemeiner Führer zur Vatikanstadt, Mailand 2012, 33 ff.
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rend der Kaiserzeit wurden jedoch dank der bedeutenden Landgewinnung im Zuge der Stadterweiterung nach und nach Villen und Gärten gebaut, darunter das Anwesen von Agrippina, der Mutter des Kaisers Caligula (37–41 n. Chr.), die ein kleines Stadion für die Ausbildung von Streitwagenlenkern errichtete, das dann von Kaiser Nero (54–68 n. Chr.) renoviert und umfassend genutzt wurde. Und genau dort fand während der ersten großen Christenverfolgung, die Nero 64 n. Chr. befahl, der Fischer aus Kafarnaum in Galiläa, der erste Jünger Jesu Christi, den Tod, wie uns die Tradition erzählt. Tatsächlich wäre Petrus, in Neros Zirkus auf dem Kopf stehend, am dritten Tag vor den Kalenden des Julis, dem 29. Juni 67 n. Chr., an den Hängen des Vatikanischen Berges in der Nähe des heutigen Obelisken auf dem Petersplatz gekreuzigt worden. Der Tod von Petrus und der des anderen Apostels, Paulus, der nach der Überlieferung während der gleichen Verfolgung durch Nero entlang der Via Ostiense enthauptet wurde, wird den alten Vatikan und die Stadt Rom für immer mit der Religion Christi vereinen. Als Ort des Gebetes und der Pilgerfahrt wurde das Gebiet des Vatikans schnell zu einem Ort, an dem sich Christen versammelten und an dem sie begraben wurden, gerade um dem Grab Petri möglichst nahe zu sein. Obwohl die Christen zwischen dem ersten und dritten Jahrhundert sowohl im Osten als auch im Westen des Römischen Reiches unter schwerer Verfolgung litten, verbreitete sich das Christentum und wurde stärker6. Während des gesamten ersten Jahrtausends (d. h. bis mindestens zu Papst Gregor VII.) nahmen die aufkeimenden Institutionen der Kirche langsam Gestalt an, indem sie sich um drei Punkte strukturierten: 1. die fortschreitende Stärkung des päpstlichen Primats, verstanden als „Bindung“ an den Bischof der christlichen Gemeinschaft Roms mit den umstrittenen Entwicklungen und Diskussionen zu den Wahlmodalitäten auf Grundlage der Worte des Evangelisten Matthäus: „Du bist Petrus, und auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen“; 2. die fortschreitende Heranbildung einer kirchlichen „Bürokratie“, parallel zur Entwicklung des Klerus; und 3. schließlich die Rolle der Konzilien bei der Festlegung der Grundprinzipien der kirchlichen Lehre7. Der Wendepunkt, der die Stärkung der entstehenden institutionellen Struktur der Kirche und die Erweiterung der Möglichkeiten zur Verbreitung der christlichen Botschaft begünstigte, erfolgte mit Kaiser Konstantin (285–337 n. Chr.), der eine „kaiserliche“ Kirche gründete und damit eine neue Ära in der Geschichte der Kirche einleitete. Dem Christen6
7
Vgl. dazu L. Prieti/J. Flamant/G. Gottlieb, Die Krise des Römischen Reiches und die Frage der Religion, in: J. M. Mayeur (Hrsg.), Geschichte des Christentums, Bd. 2: Das Entstehen der einen Christenheit (250–430), Freiburg 2010, 9 ff. Siehe H. Fuhrmann, Von Petrus zu Johannes Paul II. Das Papsttum: Gestalt und Gestalten, 22 ff., verweist auf die materiellen Grundlagen des Papsttums, die Rolle der Konzilien sowie das Aufkommen und die Entwicklung einer Konklaveordnung.
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tum als bekämpfter und verfolgter Religion wurde so im Staat 313 durch die Mailänder Vereinbarung die freie Religionsausübung zugesichert8. Kaiser Konstantin näherte sich dem Christentum und setzte sich entschieden für dessen Belange ein, indem er eine offen positive Gesetzgebung erließ. Er führte den Sonntag als festlichen Feiertag ein, erließ ein Verbot im Hinblick auf Weissagungspraktiken, verstärkte die Stellung der Geistlichkeit durch Immunitäten, die Testament annehmen konnten und von persönlichen öffentlichen Steuern befreit waren. Die Kirche, die anfangs aus relativ wenigen Gläubigen bestand, die im Stillen und oft auf die Gefahr hin praktizierten, für ihren Glauben zu sterben, wuchs und verwandelte sich und wurde allmählich zu einer „Großkirche“, an die man sich nicht nur wegen einer persönlichen Glaubensentscheidung, sondern wohl auch aus Bequemlichkeit angliederte. Um den neuen Bedürfnissen gerecht zu werden, ließ Kaiser Konstantin vor allem in Rom zahlreiche Gotteshäuser errichten. Innerhalb der aurelianischen Mauern, neben dem Lateranpalast, der wahrscheinlich schon seit früherer Zeit Sitz des Bischofs von Rom gewesen ist, ließ er die heutige Lateranbasilika und außerhalb der Stadt das Grab Petri errichten, ein über drei Jahrhunderte stetig erweitertes Gotteshaus, auf dem er 326 den Petersdom erbauen ließ9. Ein großer Teil des Vatikanischen Hügels wurde eingeebnet, während die sumpfigen Gebiete zurückgewonnen und minimale Formen des Schutzes der Basilika geschaffen wurden. Die Verherrlichung des heiligen Petrus ist das Ziel des Kaisers, damit verbunden auch die Glorifizierung Konstantins, auf dessen Initiative besonders die neue Reichshauptstadt Konstantinopel (330 n. Chr.) im antiken Hafen von Byzanz gegründet wurde. Gleichzeitig begann Roms christliche Gemeinschaft, gerade weil sie auf dem petrinischen Ursprung gegründet wurde, Vorrang vor anderen christlichen Gemeinschaften zu beanspruchen, vor allem im Blick auf Jerusalem, Antiochien und Alexandria. Der Kirchenbau symbolisierte auf diese Art und Weise mit der auf den Resten des Petrus errichteten Basilika den Vorrang vor den anderen Kirchen und wurde mit der Zeit unter den vielen frühchristlichen Orten des Christentums zum einzigen „Heiligen“ Stuhl. Die Primatialfunktion des Bischofs von Rom wurde auch in rechtlicher Hinsicht zunehmend gestärkt, und sie glich immer mehr dem Erbe einer Reihe von Befugnissen, dem die Gewaltenfülle in Form der plenitudo potestatis (so definiert in den folgenden Jahrhun8
9
Zur Bedeutung Konstantins und dieser Entwicklung vgl. P. Bordin, 1700 Jahre Mailänder Vereinbarung – von Carnuntum über Nikomedia bis Mailand, in: C. Wagnsonner/K. R. Trauner/A. Lapin (Hrsg.), Kirchen und Staat am Scheideweg? 1700 Jahre Mailänder Vereinbarung (= Ethica Themen), Wien 2015, 9 ff. Siehe zum Lateran H. Brandenburg, Die frühchristlichen Kirchen in Rom. Vom 4. bis zum 7. Jahrhundert. Der Beginn der abendländischen Kirchenbaukunst, Regensburg 2013, 16 ff.
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derten) des Petrus an die Bischöfe von Rom übertragen wurde10. Ab dem 4. Jahrhundert, während der Pontifikate von Papst Damasus und Papst Leo I., wurde die institutionelle Organisation der Kirche und deren Strukturen von Rom in den Provinzen des Reiches gefestigt. Dabei kam dem Sitz des Bischofs von Rom auch die Bezeichnung „Apostolischer Stuhl“ und später „Kathedra Petri“ zu. Nachdem die christliche Kirche dank des Ediktes von Thessaloniki von 380 durch Kaiser Theodosius I. zur offiziellen Religion im Römischen Reich geworden ist, sieht sich die Glaubensgemeinschaft in ihrer neuen Rolle mit dem komplexen, nuancierten und zweideutigen Verhältnis zwischen geistlicher Macht und weltlicher Obrigkeit konfrontiert, einer Entwicklung, die auf dem Weg vom Überleben in schwierigen Tagen über eine Zeit der Akzeptanz bis zur endgültigen Freiheit der Expansion im Reich geführt hatte11. Die Kirche sieht sich auf die Grundlage der Theorie der beiden Gewalten, die Papst Gelasius I. (492–496) am Ende des fünften Jahrhunderts eingeführt hatte, gestellt. Nach dieser Theorie gibt es „zwei Gewalten“, von denen diese Welt hauptsächlich regiert wird: die Weihegewalt der Päpste und die Herrschergewalt der Könige. Von diesen beiden überwiegt die Bedeutung der Priester sehr stark, da selbst die Könige und Herrscher vor dem göttlichen Gericht Rechenschaft ablegen müssen12. Mit der Krise und dem Untergang des Weströmischen Reiches 476 und aufgrund der in den ersten Jahrhunderten der Freiheit erhaltenen und erworbenen Güter werden die Kirche von Rom und die Bischöfe des Westens nach und nach gezwungen sein, nicht nur ihre pastorale Verantwortung zu übernehmen, sondern auch für die materiellen Aspekte des Lebens ihrer Gläubigen zu sorgen, indem sie sich angesichts der Invasionen der Barbaren verpflichten, die Verteidigung zu stärken oder Abkommen auszuhandeln, um Zerstörung und Plünderung zu vermeiden. Man denke hier etwa nur an das Werk von Papst Leo dem Großen oder Papst Gregor dem Großen, um die Plünderung Roms zu verhindern. All dies stellt nicht nur eine erste Form der politisch-administrativen Erfahrung für die kirchlichen Hierarchien dar, sondern trägt auch zur Entstehung dessen bei, was später die territoriale Grundlage des zeitlichen Besitzes des Apostolischen Stuhls, des sogenannten Patrimonium beati Petri, werden wird13. Die römische Kirche hat beim Tod von Papst Gregor dem Großen (590–604) nachhaltige Turbulenzen erfahren. In etwas mehr als einem Jahrhundert wechselten sich zwanzig kürzere Pontifikate ab, während vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Rom und Konstantinopel, dem „zweiten Rom“, und der expansionistischen Politik der Langobarden unter Liutprand der Bischof von Rom und seinen Territorien bedroht wur10 11 12 13
Vgl. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die Katholische Kirche, 5. Auflage, Wien 1972, 56–64 Idem., 68 Idem., 94 B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 18 f.
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den. Es war diese Krise, die die Päpste am Ende des achten Jahrhunderts zu dem Schritt bewegte, durch den Appell an den katholischen Frankenkönig Pippin eine neue Entwicklung in der europäischen Geschichte einzuleiten14. Durch die Franken erhielt der Papst Schutz vor der lombardischen Bedrohung, aber auch Genugtuung über das seit langem empfundene Bedürfnis nach einer unabhängigen Territorialherrschaft, die dem Pontifex die volle und vollständige Ausübung seines Amtes garantieren sollte. Im Gegenzug verpflichtete er sich gemäß der sogenannten „Schenkung der Sutri“ (den Burgen und Gebieten von Sutri, Bomarzo, Orte und Amelia), die fränkische Dynastie der Karolinger durch die aus der Heiligen Schrift abgeleitete königliche Salbung gegenüber der königlichen Familie der Merowinger zu legitimieren15. Und so kam es zur „Pippinischen Schenkung“. Als Pippin III. 751 zum König der Franken gewählt wurde, ließ er sich von Papst Zacharias die Wahl bestätigen. Dadurch wurden die Karolinger als Königsgeschlecht bestätigt. Die Expansionsbestrebungen des Langobardenkönigs Aistulf in Italien bewogen Papst Stefan II. 754 dazu, sich von Byzanz abzuwenden und die Franken als Gegenleistung für deren Legitimierung um Schutz zu bitten16. Als katholischer König versprach Pippin, die von den Langobarden zurückeroberten Gebiete dem Nachfolger Petri zu übereignen. In der Urkunde von Quierzy 754 garantierte er dem Papst das Dukat Rom, das Exarchat Ravenna, die Pentapolis Tuszien, Venetien, Istrien und die Herzogtümer Spoleto und Benevent als kirchliche Territorien. Der Frankenkönig übergab dem Bischof von Rom im Jahr 756 durch die „Pippinische Schenkung“ oder „Schenkung von Quierzy“ (754) einige der eroberten Gebiete, die sich über den größten Teil Mittelitaliens bis nach Ancona, Jesi und Gubbio erstreckten. Diese Zusage gilt als Grundlage des Kirchenstaates17. Der genaue Text ist nicht bekannt und die Schenkungsurkunde nicht erhalten, sodass die genauen Umstände der Schenkung von Historikern kontrovers diskutiert werden18. Zwischen „Zusagen“ und „Schenkungen“ ist somit das Patrimonium beati Petri, von der Armee der Franken geschützt, nach und nach enorm gewachsen, auch wenn wir bewusst von einem „päpstlichen Staat“ erst seit dem 15. Jahrhundert sprechen können. So kann der päpstliche Staat heute souveräne Rechte über viele Gebiete außerhalb der Diözese Rom ausüben19. 14 15 16 17 18 19
Idem, 25 f. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 236 B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 27–29 H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 233 ff. Siehe dazu B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 41, und die am Ende des Buches angeführte Literatur, 303 ff. Siehe dazu die Ausführungen in G. Arnaldi, Le origini dello Stato della Chiesa, Torino 1987
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Das endgültige Siegel der Vereinigung des fränkischen Königreichs mit der Kirche von Rom erfolgte unter Kaiser Karl dem Großen, dem Novus Christianissimus Dei Costantinus Imperator. Im Gefolge Konstantins trat er mehr und mehr als „König und Priester“ in Erscheinung und griff schwer in die innere Führung der Kirche ein. Er wies Bischofssitze und Klöster zu, verwaltete kirchliche Güter, engagierte sich in Fragen der Religionslehre und setzte sogar die Regel des heiligen Benedikt in allen Klöstern des karolingischen Reiches durch. Dies führte zu einer effektiven Erweiterung, die dann viele aufeinanderfolgende Klosterreformen und auch die Regeln der Militär- und Hospitalorden beeinflusste20. In der Zwischenzeit wurde der ursprüngliche Kern der kirchlichen Bürokratie stark vergrößert: Neue Ämter wurden ausdrücklich für wirtschaftliche Aktivitäten geschaffen, wie der Schatzmeister (arcarius) und der Ausgabenkontrolleur (sacellarium), während neue Beamte und Würdenträger dem Papst bei der Regierung halfen. Nach und nach wurde ein System der päpstlichen Finanzen, der Fiscus, strukturiert. Im Jahr 800 wurde Kaiser Karl der Große zu Weihnachten im Petersdom in einer nicht ganz unproblematischen Zeremonie durch Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt. Aus dem Imperium christianum wurde das karolingische Reich, das neue Imperium Romanum, welches viel später das Heilige Römische Reich genannt wurde. Die Kaiser wurden so zu Hütern des Friedens und Verteidigern der Kirche. Gerade in der karolingischen Zeit entstand das Constitutum Constantini, die „Konstantinische Schenkung“, der berühmte gefälschte Text, der die weltliche Macht der Päpste rechtfertigen sollte und der durch seine visuellen Darstellungen und ikonographischen Feiern in Basiliken, Kirchen und Kapellen sehr erfolgreich war21. Mit dem Ende der Unterstützung des karolingischen Reiches wurde das offenbar, was als das „dunkle Jahrhundert“ oder das „eiserne Jahrhundert“ der Kirche definiert wurde. Erschüttert durch die Simonie, d. h. den Kauf und Verkauf kirchlicher Ämter, und durch die Tendenz des Klerus, mit Konkubinen zu leben, wird es in kurzer Zeit viele Päpste und wütende Auseinandersetzungen zwischen den römischen Familien geben, die stets versuchten, ein Familienmitglied oder einen bekannten Favoriten zum Papst wählen. Wie die anderen kirchlichen Institutionen befindet sich die Papstwahl während des gesamten ersten Jahrtausends in einer kontinuierlichen und dynamischen Entwicklung, auch deshalb, weil die Wahl des Papstes kein echtes Verfahren ist, sondern abwechselnd entweder den Einfluss der Hierarchie oder des Volkes zeigt, da grundsätzlich erwartet wurde, dass der Papst vom Klerus und vom Volk gemeinsam gewählt wird22. 20 21 22
B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 35 ff. Zur Konstantinischen Schenkung, idem. 41–44. Auch A. Läpple, Report der Kirchengeschichte, München 1968, 140 f. Siehe zur Entstehung und Entwicklung der Papstwahl H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 317–321
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Der Sitz des Papstes genießt das Privileg der Immunität (prima sedes a nemine iudicatur), und seit 955 n. Chr. ändert derjenige, der den päpstlichen Thron besteigt, seinen Namen in einen Ad-hoc-Namen23. Der Prozess der Verflechtung mit der politischen Macht erreichte seinen Höhepunkt mit dem Ende der karolingischen Dynastie, als der Sachse Otto I. (962) nach der Absetzung des Papstes, der ihn gekrönt hatte, es nicht mehr für ausreichend hielt, dass der gewählte Pontifex dem kaiserlichen Delegierten die Treue schwört, sondern feststellte, dass der gewählte Papst die kaiserliche Zustimmung erhalten muss. Inmitten des moralischen und spirituellen Verfalls erfolgte unter Kaiser Heinrich III. die direkte Ernennung des Papstes durch den deutschen Kaiser24. Von dieser allgemeinen Krise war auch die Stadt Rom nicht ausgenommen, die 846 von den Sarazenen angegriffen wurde. Der Vatikan und der Petersdom selbst sowie der Petersdom außerhalb der Mauern wurden trotz des Eingreifens der Milizen geschändet und geplündert. In demselben Jahr 846 wurde wegen eines Erdbebens mit nachfolgendem Brand durch Papst Leo IV. in nur vier Jahren eine Mauer zum Schutz des Vatikanischen Hügels und des Petersdoms errichtet. Am 27. Juni 852 wurde mit großer Feierlichkeit die Civitas Leonina geboren, eine von der übrigen Stadt getrennte Einheit, die bis 1586 von ihren eigenen Magistraten und Gouverneuren verwaltet wurde, als Papst Sixtus V. mit der Erweiterung Roms dieses Gebiet endgültig zu einem Teil der Stadt Rom machte und ihm als 14. Bezirk den Namen Borgo gab25. Das Papsttum im Mittelalter konsolidierte sich durch eine progressive Erweiterung der Verwaltung, der Rechtsprechung und der Gesetzgebung der Territorien des Patrimoniums und sicherte sich die geistliche Macht gegenüber der weltlichen Herrschaft, was eine gewisse Unklarheit im Blick auf die Institutionen zur Folge hatte. Mit Papst Gregor VII. beanspruchte die Kirche im 11. Jahrhundert die Anerkennung eines absoluten Primats für das Papsttum von Rom26. In dieser Zeit wurde gerade in der Trennung, Konkurrenz und Interaktion zwischen geistlicher und weltlicher Rechtsprechung die „Hauptquelle der westlichen Rechtstradition“ geboren. Papst Gregor VII. skizzierte ein neues hierarchisches Organisationsschema, und die päpstliche Monarchie wurde eingerichtet. Es ist dieser Papst, der das Dekret von Papst Nikolaus II. über die Wahl des Papstes, die den Kardinälen vorbehalten ist, bestätigt. Gleichzeitig stellte sich Papst Gregor VII. im Kampf um die Investitur der politischen Autorität bei der Zuweisung kirchlicher Ämter entgegen, und zwar durch das 23 24 25 26
Vgl. dazu S. Vacca, Prima sedes a nemine iudicatur: Genesi e sviluppo storico dell’assioma fino al Decreto di Graziano (=Miscellanea Historiae Pontificiae, Band 61), Roma 1993 B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 52 f. Siehe dazu R. Cassanelli (Hrsg.), Der Vatikan, 33 ff. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 265 f.
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Dokument Dictatus Papae von 1075, in dem er im Grunde erklärt, dass der Papst die höchste geistliche Autorität sei und dass nur er kirchliche Ämter zuweisen, die Diözesen verändern, Bischöfe ernennen, absetzen oder versetzen und Konzilien und Synoden einberufen könne27. Und all dies geschah deshalb, weil das Papsttum den anderen Mächten überlegen, deshalb universell und heilig war und daher nur der Papst das Recht hatte, die kaiserlichen Insignien zu benutzen. Es war eine authentische Revolution, die nicht umhin konnte, Konflikte zu provozieren. Diese Konflikte stärkten jedoch den Papst und die Kirche. Das Papsttum von Innozenz III. (1198–1216) markierte den Höhepunkt einer Periode der Wiedergeburt. Der päpstliche Primat wurde vor allem im Hinblick auf die Leitung der Kirche hervorgehoben28. Diese Zeit verbesserte den bürokratischen Apparat der Kurie, insbesondere die für die Verwaltung und Kontrolle der Einnahmen zuständigen Stellen, und zwar mit der Einrichtung der Apostolischen Kammer unter der Leitung des Kardinalskämmerers. Auch die päpstliche Besteuerung der Ortskirchen wurde verstärkt, mit Instrumenten wie der Auferlegung und Einziehung des Zehnten für die Kreuzzüge sowie der Institutionalisierung des Peterspfennigs. Dieser ursprünglich spontane Obolus, den die englischen Gläubigen dem Papst nach seiner Bekehrung anboten, diente der Vorsorge der verschiedenen Bedürfnisse der christlichen Gemeinde. Papst Innozenz III. eroberte Land und Territorien zurück, indem er seine vertrauten Verwalter in die Regierung brachte und die wichtigsten normativen Texte des kanonischen Rechts, die die zuvor erstellten inoffiziellen Dokumente ergänzten, erstmals offiziell sammeln ließ; außerdem wurde die Macht der römischen Aristokratie bei den Papstwahlen stark eingeschränkt. Nicht weniger intensiv war sein Engagement bei dem Versuch, sich in der engen Konfrontation zwischen der päpstlichen auctoritas und der kaiserlichen potestas durchzusetzen29. Tatsächlich begann trotz zunehmender Bedeutung der berühmten Bulle Unam Sanctam (1302) durch Papst Bonifaz VIII. der Niedergang der weltlichen Kirche im Vergleich zum Aufstieg der Nationalstaaten30. Die universelle Position der Kirche war in der westlichen Politik immer weniger zentral, bis zu der sogenannten „Ohrfeige von Anagni“, die den Umzug der Päpste nach Avignon einleitete (1309)31. 27 28 29
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B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 57 H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 299 ff. Siehe zur Problematik der Neubegründung des Kirchenstaates auch B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 94 ff. Vgl. zur Entstehung des Decretum Gratiani L. Kéry, Das Kirchenrecht als Instrument päpstlichen Führungsanspruchs, in: B. Scheidmüller u. a. (Hg.), Die Päpste, Amt und Herrschaft in Antike, Mittelalter und Renaissance, Regensburg 2016, 275–298. Auch H. Hattenauer, Europäische Rechtsgeschichte, Heidelberg 1992, 258 f. Auch C. Fantappiè, Introduzione storica al Diritto Canonico, Bologna 1999, 103 ff. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 297 f. B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 131 ff. Siehe zur Bedeutung des Papsttums in Avignon S. Cassagnes-Brouquet, Sur les pas des Papes d’Avignon, Rennes 2018
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Die Stadt Rom trat in eine schwierige Zeit ein, die von einer sehr starken sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Depression betroffen war, die dann durch die Pest und ein heftiges Erdbeben im Jahr 1349 noch verschärft wurde. Es gab heftige Machtkämpfe zwischen den Adelsfamilien um die Kontrolle über die Stadt, die der Auslöser für den Versuch von Cola di Rienzo im Jahr 1347 waren, Rom zu einer von Kirche und Reich unabhängigen Gemeinde zu machen. Nach großen Turbulenzen, die auch eine gewisse Zeit lang die gleichzeitige Anwesenheit von drei Päpsten und die Rückkehr des Papsttums nach Rom mit sich brachten, wurde am 11. November 1417 Kardinal Oddone Colonna, Papst Martin V., der alle päpstlichen Länder befrieden und seine eigene Autorität durchsetzen wollte, auf den päpstlichen Thron gewählt32. Dies war die endgültige Geburt dessen, was wir als Kirchenstaat bezeichnen.
3. Der Kirchenstaat: Bestätigung, Entwicklung und Niedergang
In den fast fünf Jahrhunderten, die von Papst Martin V. bis Pius IX. vergehen, wurde der Kirchenstaat entlang eines Prozesses, der im Wesentlichen in drei Schritte unterteilt ist konsolidiert, entwickelt und dann endgültig seinem Untergang zugeführt. In einem ersten Schritt entfaltete sich die Bestätigung der endgültigen Herrschaft der Kirche über die Ländereien des sogenannten „Patrimonium Petri“ zeitgleich mit einer sich entwickelnden institutionellen, administrativen und juristischen Konsolidierung und der Gestaltwerdung eines aus Regionen vereinigten Staates regionalen Typs; sodann erfolgte zweitens die vollständige Zentralisierung eines päpstlichen Staates monarchischer Prägung, bevor in einem dritten Schritt die allmähliche Aufteilung und der endgültige Untergang des päpstlichen Staates sowie die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht eingeleitet wurde33. Der päpstliche Staat nimmt nach und nach die Konturen eines richtig „staatstypischen“ Rechtssubjekts an, ähnlich den anderen europäischen Staatsstrukturen. Dies ist auch den Constitutiones Sanctae Matris Ecclesiae zu verdanken, den sogenannten „Ägidianischen Konstitutionen“, einer Sammlung von Gesetzen, die von 1357 bis 1816 in Kraft waren. Diese wurden in Fano nach Einberufung des Parlaments am 29. April 1357 von Kardinal Egidio Albornoz, Legat und Generalvikar des Kirchenstaates, verkündet. Sie sind in sechs Bücher unterteilt, in denen die von den Päpsten im Laufe der Zeit erlassenen Bestimmungen angeführt, die Beziehungen zu den Feudalherren geregelt und die Angelegenheiten 32 33
B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 164 f. Auch H. Fuhrmann, Von Petrus zu Johannes Paul II., 143 ff. M. Caravale/A. Caracciolo, Lo Stato pontificio, Da Martino V a Pio IX, Torino 1978. Auch P. Prodi, Il sovrano pontefice: un corpo e due anime. La monarchia papale nella prima età moderna, Bologna 1982
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der inneren Rechtsprechung und der ausländischen Staaten näherhin bestimmt wurden34. Im 15. Jahrhundert erholte sich das Papsttum, auch aufgrund der Notwendigkeit, die kirchlichen Einnahmen zu vergrößern, die in der Zeit zwischen dem Exil in Avignon und der Spaltung stark zurückgegangen waren, und der päpstliche Staat verstärkte die Kontrolle über die Gebiete des Patrimonium beati Petri, wobei er versuchte, jede partikulare regionale Forderung zu unterdrücken, sodass die Päpste, die die alten kommunalen Freiheiten und oligarchischen Überreste zerschlagen wollten, nicht zögerten, auf den Einsatz militärischer Truppen zurückzugreifen. Während also einerseits die päpstliche Besteuerung artikuliert und verschärft wurde, boten die Entwicklung der kirchlichen Verwaltung und der Verkauf der kurialen Ämter, die mit Papst Sixtus IV. zu echten vakanten käuflichen Ämtern, den Vacabilia, wurden, andererseits zwei weitere Instrumente, um die Finanzierungsquellen des Heiligen Stuhls zu erweitern. Dabei handelte es sich um eine Entscheidung, die so wichtig war, dass auf das Instrument der öffentlichen Verschuldung als Hebel für Wachstum und Entwicklung zurückgegriffen wurde35. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Renaissance in Rom mit Papst Nikolaus V. (1447), dem Begründer der Vatikanischen Bibliothek, der die Stadt mit neuen Denkmälern verschönerte, die seiner Rolle als Hauptstadt der christlichen Welt würdig waren. Das Ziel war die Konstruktion von Prestige und päpstlicher Macht auch in Bezug auf das Bild als der Grundlage der Annahme, dass eben die figurative Kunst die Biblia pauperum ist und dass die Stadt des Papstes von den Städten anderer europäischer Herrscher unbedingt unterschieden werden muss36. Im Zuge dieser tief greifenden Renovierung wurde auch der Bereich innerhalb des Vatikans und auf der anderen Seite der Sant’Angelo-Brücke, dem sogenannten Ponte-Kanal, dem Scharnierbereich, der die beiden Bereiche verbindet, verbessert. Die Mauern der Leoninischen Stadt wurden durch den Bau von drei neuen Bastionen um die Engelsburg herum weiter befestigt, und die Vatikanpaläste wurden um einen neuen Flügel erweitert. Das Straßennetz und die Verbindungen zur Zitadelle der Città Leonina wurden stark verbessert37. So beauftragte Papst Sixtus IV. eine Gruppe von Malern (Pietro Perugino, Sandro Botticelli, Domenico Ghirlandaio, Cosimo Rosselli und Pier Matteo d’Amelia, der das Ge34 35 36
37
B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 146 ff. Idem., 174. Zur Problematik des gesteigerten Fiskalismus siehe H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 484 f. Siehe dazu C. Mörtl, Zwischen Reformdiskurs und Finanzbedarf. Zur Organisation der römischen Kurie des 15. Jahrhunderts, in: B. Scheidmüller u. a. (Hg.), Die Päpste, Amt und Herrschaft in Antike, Mittelalter und Renaissance, Regensburg 2016,403–430, hier 425 Siehe dazu R. Cassanelli (Hrsg.), Der Vatikan, 36–37
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wölbe mit einem Sternenhimmel bemalte) mit der Renovierung der alten Magna-Kapelle. 1508 setzte sein Neffe Papst Julius II. die Dekoration fort und vertraute diese Aufgabe Michelangelo Buonarotti an, der das berühmte Jüngste Gericht malte. Viele Verbesserungen betrafen auch einen anderen Ort der römischen Prachtentfaltung, das Kapitol, das Symbol der zivilen Regierung der Stadt wurde, wo Papst Nikolaus V. seinen Vizecamerlengo zum zuständigen Richter ernannte38. Aufgrund der Unmöglichkeit, das dynastische Prinzip anzuwenden, und der Notwendigkeit, die Macht zu erhalten und die Gebiete zu regieren, nutzten die Päpste die Vetternwirtschaft als Regierungsinstrument, beginnend mit Papst Alexander VI. (1492) aus der Familie Borgia, der eine stärker zentralisierte Regierung der territorialen Bereiche der Kirche initiierte39. Die päpstliche Monarchie, die sich dadurch auch zu festigen wusste, wurde nach und nach zu einem zentralisierten Regionalstaat, der durch Papst Julius II. weiter gestärkt wurde, der sich entschieden für die Wiederherstellung, Verteidigung und Vergrößerung der Staatsgebiete einsetzte. Wie sein Onkel Papst Sixtus IV. kultivierte Papst Julius II. als großer Mäzen sein Streben nach Macht durch die Künste und begann mit dem Bau, und nicht, wie ursprünglich gewünscht, mit einer einfachen Rekonstruktion des heutigen Petersdoms, dessen Realisierung dann Donato Bramante anvertraut wurde. Und gerade die Notwendigkeit, entsprechende Mittel für den Bau der Basilika zu finden, veranlasste die Päpste, die Praxis des Ablasshandels, die in den Thesen Martin Luthers und von der evangelischen Reformation kritisiert wurde, zunehmend zu forcieren40. Die Konfrontation entwickelte sich in alle Richtungen und führte dazu, dass Papst Clemens VII. in den Konflikten um die Vorherrschaft in Europa endgültig Partei gegen den habsburgischen Kaiser Karl V. ergriff. Dieser drang in die päpstlichen Territorien ein, und so kam es am 6. Mai 1527 zur berühmten Plünderung Roms (Saccho di Roma), als germanische Truppen meuterten und dann vom Kaiser im Stich gelassen wurden. Rom blieb dadurch sieben Monate lang besetzt41. Gleichzeitig führte auf der Welle der Schriften der Reformatoren und des politischwirtschaftlichen Strebens auch in England die Weigerung von Papst Clemens VII., die Ehe Heinrichs VIII. mit Katharina von Aragon zu annullieren, zum Bruch der Beziehungen zwischen der englischen und der römischen Kirche. Mit der Suprematsakte von 1535 (Supremacy act) verlieh sich der König schließlich den Titel des obersten Oberhauptes der Kirche von England. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war die katholische Kirche damit in ihrer zeitlichen, vor allem aber in ihrer geistlichen Gewalt gedemütigt worden, 38 39 40 41
Idem, 385–391 B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 176 ff. Idem, 180 ff. Idem, 185 ff.
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und so reagierte die Kirche auf zwei Ebenen42: Auf der Ebene der Lehre skizzierte das Konzil von Trient, das mit Unterbrechungen von 1545 bis 1563 stattfand, die Reform der Kirche und leitete – insbesondere nach Papst Pius V. (1566) – einen sehr tief greifenden Prozess der Gegenreformation ein43. In diesem Rahmen setzte Papst Sixtus V. die Kongregationen ein, ein Instrument der zeitlichen und geistlichen Regierung der katholischen Kirche44. Auf der weltlichen Ebene wurde an der Schwelle zum 17. Jahrhundert der starke Prozess der Zentralisierung eines Staatstyps wieder aufgenommen, und diese Strategie wurde eindeutig von Papst Paul V. verfolgt, der vielen als absoluter Souverän erschien, da das Kardinalskollegium immer mehr an Bedeutung und Einfluss verloren hatte, bis zu dem Punkt, an dem der Papst den Kardinälen verbot, sich ohne seine ausdrückliche Genehmigung von Rom zu entfernen45. Obwohl es also noch keine einheitliche Regierungsform gab, hatte sich die Verbindung zwischen den Territorien der Kirche und Roms, welches als Hauptstadt lange Zeit sein besonderes ius und damit seine besondere Vorrangstellung beibehalten hatte, zunehmend gefestigt, und die hierarchische Beziehung begann, auch dank der Steuerregelung, viel homogener zu werden. Dabei wurden eine Zentralisierung und die Suche nach administrativer Einheitlichkeit immer stärker betont, so zum Beispiel mit der administrativen Neuordnung der Stadt Rom im Jahr 1742 oder mit der Verwaltungsreform der Zölle und Abgaben im Jahr 177646. Doch der Kirchenstaat litt sofort unter den Auswirkungen der Französischen Revolution, zunächst auf seinem Territorium durch Aufstände in Fano, Bologna und Rom und dann ab 1796 durch den ersten napoleonischen Feldzug in Italien und in der Folge durch die Ausrufung der Cispadanischen Republik, zu der die Kirchenstädte Bologna, Ferrara, Modena und Reggio Emilia gehörten47. Vor diesem Hintergrund verstarb Papst Pius VI. als Gefangener in Frankreich, und das anschließende Konklave, das weder in Rom noch an anderen Orten des Kirchenstaates abgehalten werden konnte, fand in Venedig unter österreichischem Schutz statt. Institutionell zerbrechlich, ohne eine echte Armee und politisch dem Willen der Großmächte ausgesetzt, gerät der päpstliche Staat ins Wanken, und seine Geschichte wird im Wesentlichen zur Geschichte der Beziehungen mit der italienischen Politik Napoleons48. 42 43 44 45 46 47 48
Idem, 186 ff; auch H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 505 ff. B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 194 Idem, 200 f; zur Entstehung der Kurienverwaltung vgl. ausführlich bei H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 521–524 Zu den Zentralisierungsbestrebungen in dieser Zeit und zum kirchenrechtlichen Prinzip der Potestas indirecta unter Papst Paul V., siehe H.E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 549 B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 213–215 Idem, 237 ff. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 604 ff.
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Trotz der anschließenden Restauration und der Einführung wichtiger Reformen, wie der Einführung des Finanzsystems mit der Abschaffung der jährlichen Steuer49 oder der Einrichtung einer zentralen und peripheren Verwaltung durch Papst Pius VII. mithilfe seines fähigen Staatssekretärs Ercole Consalvi, wurde der Kirchenstaat zweimal, zwischen 1830 und 1849, von den revolutionären Aufständen erschüttert. Trotzdem konnte er als Territorialstaat dank der Hilfe ausländischer Waffenmächte, allen voran Frankreich, wiedererstehen und steuerte unter den Pontifikaten von Papst Gregor XVI. und Papst Pius IX., dem letzten „Papstkönig“, auf seinen Untergang zu50.
4. Das Ende des Kirchenstaates und die Entstehung der „Römischen Frage“
Mit den Annexionen und Volksabstimmungen, die nach dem Krieg von 1859 den Kirchenstaat, der seine Teilregionen Umbrien, Marken, Romagna und Bologna verlor, auflösten, trat der Prozess der nationalen Einigung Italiens in seine entscheidende Phase. Diese endete nach der Expedition des Zuges der Tausend unter der Führung von Garibaldi im Jahre 1860 mit der Annexion Siziliens und des Südens und der feierlichen Ausrufung des neuen Königreichs Italien am 17. März 1861 in Turin51. Besonders heikel blieb, verbunden mit dem Problem des österreichischen Anteils im Veneto , die „römische Frage“, d. h. die Kontroverse über die Rolle Roms wegen ihrer internen und internationalen Auswirkungen, denn Rom wurde nach der Einigung als natürliche Hauptstadt angesehen, galt aber eben auch stets als Sitz der weltlichen Macht des Papstes. Die Stadt bekräftigte ihre Autonomie und Unabhängigkeit, die vor allem durch den Schutz Frankreichs von Napoleon III. garantiert wurde, welcher auch der wichtigste Verbündete und Beschützer des neugeborenen Königreichs Italien war52. Das Problem war daher für die Vereinigung des Königreichs von größter Bedeutung, und von 1859–1860 wurden viele geheime Verhandlungen vom italienischen Premierminister Cavour aufgenommen. Italien zeigte, dass es die Unabhängigkeit des Kirchenstaates respektieren wollte, 49
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Im Kirchenstaat wurde eine Liberalisierung in diesem Sinne erstmals von Pius VII. mit dem Motu proprio „Le più culte“ von 1801 angekündigt. Auch hier wurde mit der Freiheit des Binnengetreidehandels und der Abschaffung der Annona (Jahresertrag) das Exportverbot aufrechterhalten. B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 244–250 Eine umfassend rechtshistorische Analyse der Zeit vor den Lateranverträgen bietet jüngst M. Nacci, La fase della preconciliazione, 79–93, hier 82 f.. Siehe auch J.-D. Durand, Die Kirche auf der Suche nach dem verlorenen Italien, in: J. Gadille/J.-M. Mayeur, Die Geschichte des Christentums Bd. 11: Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830–1914), 595–620 Vgl. zur dritten Römischen Republik und der französischen Intervention B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 268–270
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indem es Garibaldi 1862 bei seinem Vorstoß von Sizilien nach Rom auf dem Aspromonte stoppte. Diese Episode gab dem Königreich Italien die Gelegenheit, mit Frankreich das September-Abkommen (1864) zu schließen, das den Rückzug der französischen Truppen aus Rom innerhalb von zwei Jahren vorsah53. Doch Garibaldi ging 1867, auch nach den Siegen im dritten Unabhängigkeitskrieg, durch den das Veneto zu Italien kam, im Vertrauen auf einen nicht stattgefundenen Volksaufstand nach Rom. Erneut von der italienischen Regierung desavouiert und in der Schlacht von Mentana mit französischen Truppen zusammengestoßen, die sofort zurückkehrten, um die päpstlichen Truppen zu unterstützen, zog sich Garibaldi auf die Insel Caprera zurück. Die Hauptstadt wurde inzwischen von Turin nach Florenz verlegt54. Um seine Macht zu festigen, hielt Papst Pius IX. zwischen 1869 und 1870 in Rom das Erste Vatikanische Konzil ab, das nicht nur das bestätigte, was bereits im Syllabus von 1864 zum Ausdruck kam (ein Katalog von zu verurteilenden Fehlern, beginnend mit dem Liberalismus), sondern auch mit der Dogmatischen Konstitution Pastor Aeternus die Unfehlbarkeit des Papstes sanktionierte, als dieser feierlich eine Lehre in Glaubens- und Sittenfragen definierte55. In der Zwischenzeit entwickelten sich die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich sehr schlecht, und unter Ausnutzung der französischen Isolation nach dem Angriff Preußens durch Bismarck und der französischen Niederlage in der Schlacht von Sedan (1870) besetzte die italienische Regierung den Kirchenstaat und ließ zwei Infanterie- und Bersaglieri-Bataillone unter dem Kommando von General Raffaele Cadorna durch einen Durchbruch entlang der Aurelianischen Mauern bei Porta Pia in Rom eindringen. Es war etwa 9 Uhr morgens am 20. September 1870, und die päpstlichen Truppen ergaben sich nach einem symbolischen Widerstand, entsprechend den bereits vom Papst erteilten Anweisungen56. Rom trat de facto in das Königreich Italien ein, und durch eine Volksabstimmung wurde die Stadt wenige Tage später offiziell annektiert, womit gleichzeitig die jahrhundertealte Geschichte des Kirchenstaates endete. Die europäischen Staaten erkannten die italienische Vorgehensweise nicht an, akzeptierten sie jedoch, während Papst Pius IX. sich sofort zum „Gefangenen des italienischen Staates“ erklärte57. So wurde im Februar 1871 das Gesetz für die Verlegung der Hauptstadt von Florenz nach Rom verabschiedet und im Mai desselben Jahres das „Garantie-Gesetz“ (Legge delle Guarentigie) im Geiste Cavours pro53 54 55 56 57
Idem, 278 f. Idem, 282 Idem, 285 f. Auch H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 661–666 B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 284 Idem, 287–289
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mulgiert, das die Beziehungen zwischen dem italienischen Staat und dem Heiligen Stuhl jedoch einseitig definierte58. Das Gesetz wurde in zwei Teile gegliedert. Der erste betraf die Vorrechte des Papstes, d. h. die Rechte, die „garantiert“ waren: die Unverletzlichkeit seiner Person, die souveränen Ehren, die Freiheit der postalischen und telegraphischen Kommunikation, das Recht auf diplomatische Vertretung und schließlich das Recht, bewaffnete Wachen zur Verteidigung des Vatikans, des Laterans, der Cancelleria nächst dem Campo de’ Fiori und der Villa von Castel Gandolfo in seinen Diensten zu haben, weiters einige Immobilien, die der Exterritorialität unterworfen waren. Gleichzeitig erhielt der Papst ein jährliches Einkommen von 3.225.000 Lire für den Unterhalt des Pontifex, des Heiligen Kollegiums und der Apostolischen Paläste. Da der Heilige Stuhl dieses Garantie-Gesetz nicht anerkannte, wurde die von der italienischen Regierung jährlich zugewiesene Summe nicht eingezogen und bis 1929 auf einem Sonderkonto verwahrt. Im zweiten Teil dieses Gesetzes wurden stattdessen die Beziehungen zwischen dem italienischen Staat und der katholischen Kirche geregelt. Dieses Gesetz wurde jedoch niemals von Pius IX. akzeptiert, auch nicht als einseitiger Akt des Königreichs Italien, sondern als Ergebnis von Verhandlungen zwischen den beiden Parteien angesehen. Diese Umstände eröffneten eine sehr schwierige Zeit, in der die beiden Mächte in ständiger Spannung zueinander an den gegenüberliegenden Ufern des Tibers standen59. Die Stadt Rom wurde unterdessen einem neuen Status als Hauptstadt des Königreichs zugeführt und „italianisiert“. So wurden einerseits zahlreiche fromme Werke und Kongregationen der Nächstenliebe säkularisiert, das Vermögen kirchlicher und religiöser Einrichtungen enteignet, Klöster und Baugebiete beschlagnahmt, und große Bauspekulationen und Finanzunternehmen entstanden in der neuen Hauptstadt Rom. Der italienische Staat zeigte selbst auf diese Weise, dass er nicht die Absicht hatte, sich der Unnachgiebigkeit von Papst Pius IX. zu beugen; umso mehr verpflichtete er sich nicht einmal, den weitverbreiteten Antiklerikalismus in der Bevölkerung einzudämmen. Ebenso hatte der Papst zwar mit der Enzyklika Ubi nos von 1871 bekräftigt, dass die geistliche Macht nicht isoliert von der weltlichen Macht betrachtet werden kann, aber 1874 verbot er den Katholiken über Vermittlung der Römische Kurie ausdrücklich mit der Formel Non expedit („es ist nicht angemessen“) an den Wahlen des neuen Staates teilzunehmen. Die römische Frage – abgeschlossen, aber nicht gelöst – wurde eindeutig zu einem relevanten Problem für den neuen italienischen Staat60. 58 59 60
H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 744 f. Siehe dazu besonders auch J.-D. Durand, Die Kirche auf der Suche nach dem verlorenen Italien, 605–606 Hier besonders zur römischen Frage und zu Italien bei H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 669–675
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5. Die Lateranverträge von 1929 und die Entstehung des Staates der Vatikanstadt
Die Beziehungen zwischen der Kirche und dem liberalen Staat verschlechterten sich nach und nach, mit einer fortschreitenden Verschärfung der Positionen, bis mit einem neuen Papst – Leo XIII. (1810–1903) – und einem neuen König – Umberto I. (1844–1900) – zaghafte Tauwetterzeichen auftraten. Einerseits begann das Interessen- und Geschäftsnetzwerk die Beziehungen zwischen Katholiken und Konservativen zu festigen, die dann zwischen 1882 und 1886 in ortsgebundenen Gewerkschaften entstanden61. Auf der anderen Seite drängte das Papsttum die Katholiken, auch in Italien die verschiedenen, von den liberalen Staaten proklamierten Freiheiten zu nutzen, um ihre Ansprüche zu unterstützen und die Prinzipien der Religion und der Kirche zu verteidigen. Trotz anfänglicher Hoffnungen blieben jedoch einige Versuche, den Streit zwischen der Kirche und dem italienischen Staat zu lösen, erfolglos, und ab 1887 verschärfte sich die antiliberale Kontroverse, vor allem dank der Arbeit des Parlaments62. Nach dem Tod von Papst Leo XIII. im Jahre 1903 wurde im letzten Konklave, in dem der österreichisch-ungarische Kaiser Franz Joseph das alte kaiserliche Vetorecht gegen einen wählbaren Kardinal – im Fall des ehemaligen Staatssekretärs Mariano Rampolla del Tindaro – effektiv ausnutzte, Papst Pius X. (1835–1914) gewählt. Der neue Papst hatte angesichts der sozialistischen Wahlkampfansagen, die sowohl von der Kirche als auch von der liberalen Welt als Bedrohung empfunden wurden, das Klima der Beziehungen zum italienischen Staat verbessert, auch durch eine klerikal-moderate politische Einigung63. Gleichzeitig legte Papst Pius X. neue Regeln für die Wahl des Papstes fest, so die Abschaffung des Vetorechts und die Einführung des absoluten Wahlgeheimnisses, und reformierte die römische Kurie, die noch nach den Regeln von Papst Sixtus V. von 1588 regiert wurde64. Sein Reformwerk hörte aber hier nicht auf. Aus rechtlicher Sicht hat Papst Pius X. neben der offiziellen – und nicht mehr wie seit 1865 nur provisorischen – Einrichtung des Bulletins „Acta Apostolica Sedis“, dem offiziellen Amtsblatt des Heiligen Stuhles, auch die grundlegende Arbeit der Kodifizierung des kanonischen Rechts eingeleitet, die es erlaubt, alle Gesetze und Bestimmungen der Kirche in einem einzigen Textkorpus zusammenzufassen und anzupassen, ohne dabei die Offenheit gegenüber dem öffentlichen Recht, d. h. den aus den allmählich mit den Staaten resultierenden und klar definierten Rechtsbeziehungen zu vernachlässigen65. 61 62 63 64 65
Siehe dazu G. Verucci, La Chiesa cattolica in Italia, dall’Unità ad oggi, Roma-Bari 1999. B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 292–293 auch J.-D. Durand, Die Kirche auf der Suche nach dem verlorenen Italien, 611–620 H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 701 C. Fantappiè, Introduzione storica al Diritto Canonico, 266–274
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In der Zwischenzeit begannen das Misstrauen gegenüber der Vergangenheit und die gegenseitigen Verurteilungen zu schwinden, während der Erste Weltkrieg dazu beitrug, Katholiken und ihre Versammlungen in der europäischen Gesellschaft aufgehen zu lassen, den Antiklerikalismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden und die Zusammenarbeit und Teilnahme der Katholiken am politischen Leben zu verstärken. So wurde in einem völlig veränderten Szenario und mit der starken Unterstützung des neuen Ministerpräsidenten Giolitti während der italienischen Parlamentswahlen von 1913 der Gentiloni-Pakt, ein Abkommen, das die Katholiken zur Unterstützung liberaler Kandidaten gegen antiklerikale Maßnahmen verpflichtete, unterzeichnet, und Papst Benedikt XV. (1914–1922) förderte die Versöhnung mit dem italienischen Staat, indem er die „Non expedit“-Regelungen aufhob66. Es schien ein neues Klima in den Beziehungen zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl angebrochen zu sein, und 1919 wurden im Hotel Ritz in Paris am Rande der Friedenskonferenz von Versailles vertrauliche Gespräche über die mögliche Lösung der „Römischen Frage“ zwischen dem Nuntius Monsignore Bonaventura Cerretti und dem italienischen Premierminister Vittorio Emanuele Orlando geführt, der sich für einen territorialen Zusammenhalt mit dem Heiligen Stuhl aussprach. Diese Gespräche, die in einem günstigen Klima begannen, wurden jedoch nicht fortgesetzt67. In der Zwischenzeit wurde die Italienische Volkspartei (1919) geboren, und die Katholiken wurden, auch dank des Proporzgesetzes, als Wähler und Abgeordnete in die italienische Politik einbezogen. Mit der Wahl von Papst Pius XI. (1922–1939) ist der Prozess der Annäherung an den italienischen Staat abgeschlossen. So hat Papst Pius XI. zur fortschreitenden Entwicklung des Projekts einer Renaissance des Christentums in der italienischen Zivilgesellschaft, begünstigt auch durch die zahlreichen Maßnahmen der faschistischen Regierung zur sozialen Aufwertung des Katholizismus und der Kirche, die Aufnahme von Verhandlungen zur Revision des Garantiegesetzes und zur Lösung der „Römischen Frage“ gefördert und stets unterstützt. Seit 1923 trafen sich daher Pietro Gasparri, der Kardinalstaatssekretär von Papst Pius XI., und Benito Mussolini privat im Haus des Grafen Santucci, wobei er 1925 direkt ein Projekt zur Reform der Legge delle guarentigie vorschlug, das jedoch nicht weiterverfolgt wurde. Dabei hätte der Papst die volle Souveränität über den Vatikan, die Extraterritorialität, den Besitz patriarchalischer Basiliken und anderer Gebäude in Rom und die Möglichkeit diplomatischer Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien zugesprochen bekommen68. 66 67 68
B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 297 A. Riccardi, Alle origini dello Stato della Città del Vaticano, in: B. Jatta, 1929–2009. Ottanta Anni dello Stato della Città del Vaticano, Città del Vaticano 2009, 31–38, hier 32 L. Carboni, I Patti Lateranensi, in: B. Jatta, 1929–2009. Ottanta Anni dello Stato della Città del Vaticano, Città del Vaticano 2009, 73–88, hier 74
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Doch erst 1926 begannen die direkten Verhandlungen zwischen dem Heiligen Stuhl unter der Leitung des Rechtsanwalts Francesco Pacelli, Bruder von Eugenio, dem späteren Papst Pius XII., und Kardinal Pietro Gasparri und der italienischen Regierung, vertreten durch den Staatsrat Domenico Barone. Die Verhandlungen dauerten etwa dreißig Monate, und nach dem Tod von Staatsrat Barone leitete Benito Mussolini die Verhandlungen in deren letzter Phase selbst, die am 11. Februar 1929 zur Unterzeichnung der Lateranverträge zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl führte69. Diese Verträge oder Vereinbarungen bestanden aus zwei verschiedenen Dokumenten: erstens dem Vertrag mit vier Anhängen und zweitens dem Konkordat. Der Vertrag erkannte die katholische, die apostolische und die römische Religion als einzige Religion des italienischen Staates an, sodann die Unabhängigkeit und Souveränität des Heiligen Stuhls, dazu auch im Blick auf die Person des Papstes deren sakrale Bedeutung und Unverletzlichkeit. Darüber hinaus wurde garantiert, dass die unbeweglichen Besitzungen des Heiligen Stuhls (von denen eine detaillierte Liste vorgelegt wurde) von zahlreichen Ausnahmen, insbesondere in steuerlicher Hinsicht, profitieren würden. Schließlich sah der Vertrag in den Anhängen eine finanzielle Vereinbarung und einen detaillierten Plan der Vatikanstadt vor70. Das Konkordat definierte zweitens die Beziehungen zwischen der Kirche und dem italienischen Staat. Die greifbarste Konsequenz ist nach der Präambel und Artikel 3 des Vertrags die Entstehung des Staates der Vatikanstadt, einer voll handlungsfähigen Rechtspersönlichkeit, die gerade geschaffen wurde, um „die absolute und sichtbare Unabhängigkeit des Heiligen Stuhles zu gewährleisten, ihm eine unbestreitbare Souveränität auch auf internationaler Ebene zu garantieren“ und ihm „volles Eigentum sowie die ausschließliche und absolute souveräne Macht und Rechtsprechung“ über die Vatikanstadt zu übertragen71. Mit der italienischen Ratifizierung durch das Gesetz vom 27. Mai 1929, Nr. 810, und der Ratifizierung durch Papst Pius XI. vom 30. Mai 1929 wird die Versöhnung zwischen der katholischen Kirche durch den Heiligen Stuhl und durch das Königreich Italien endgültig sanktioniert72. Nach dem feierlichen Austausch der Ratifikationsurkunden am 7. Juni 1929 um 12 Uhr mittags traten die Verträge in Kraft, und ab Mitternacht des folgenden Tages traten die sechs von Pius XI. verkündeten Grundgesetze des neuen Staates in Kraft, an denen der jü69 70 71
72
Idem, 77 f. B. Rill, Die Geschichte des Kirchenstaates, 299–300 Die Bedeutung der Lateranverträge für die Konkordatspraxis des Heiligen Stuhles unterstreicht auch der Beitrag von R. Regoli, I Patti Lateranensi e la prassi concordataria, in: B. Ardura (ed.), I Patti Lateranensi in occasione del XC anniversario (1929–2019), Città del Vaticano 2019, 17–40. L. Carboni, I Patti Lateranensi, 84 f.
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dische Jurist Federico Cammeo zwischen Februar und Mai 1929 arbeitete. Nun wurde der Staat der Vatikanstadt verfassungsmäßig auch im Blick auf das Recht materiell geboren73. Eine erste Auswirkung davon war der Abriss der sogenannten Spina di Borgo und des Gebäudes der Via della Conciliazione, das wegen des Zweiten Weltkriegs nur zum Jubiläum 1950 fertiggestellt wurde. Alle Gebäude im Bezirk südlich des Passetto wurden abgerissen, und die meisten Einwohner, deren Familien seit Jahrhunderten im Borgo lebten und arbeiteten, wurden aufs Land umgesiedelt. Selbst im Innern der Vatikanstadt war es still. Und Pius XI. wurde mithilfe des Ingenieurarchitekten Giuseppe Momo, der alle wichtigen Bau- und Stadtplanungswerke der Stadt entwarf, und des Baumeisters Pietro Castelli sofort zum päpstlichen Bauherrn berufen, indem er das innere Gesicht der Stadt veränderte und auch eine Art Zonierung für die Anordnung der neuen Gebäude vorzog, sodass sowohl eine Idee der funktional rationalen inneren Stadtplanung als auch jeder einzelne Teil des kleinen Territoriums so weit wie möglich aufgewertet wurde. Papst Pius XI. bestätigte jedoch die volle Akzeptanz einer reduzierten territorialen Dimension und damit einer Entscheidung, die ohne Reue getroffen wurde, da es ein gewisses Maß an territorialer Souveränität braucht und damit eine allgemein anerkannte Bedingung, die für jede wahre jurisdiktionelle Souveränität unerlässlich ist74.
6. Neunzig Jahre und acht Pontifikate
Seit dem Ende des Pontifikats von Papst Pius XI. im Jahr 1939 haben die sieben aufeinanderfolgenden Päpste an der Spitze des Staates der Vatikanstadt der Welt die Entstehungsgründe und die besonderen Merkmale dieses souveränen, neutralen und unantastbaren Staates, der zu Rom gehört, reichlich bestätigt75. Mit dem Zweiten Weltkrieg begann sich die vatikanische Staatsidentität zu formen und zu behaupten, die insbesondere durch die neun Monate der deutschen Besatzung Roms geprägt wurde, als die Kirche unter dem Pontifikat des Römers Eugenio Pacelli, Papst Pius XII., allen, vor allem den Römern, die Bedeutung ihrer Präsenz auch als „Staat“ zeigte und das Staatsgebiet auch als Asyl und Zufluchtsort für die Verfolgten anbot. Der Schutzschirm vom Typ „Staat“ fand manchmal eine Darstellung in einfachen Kar73
74 75
Idem, 86. Siehe auch G. Dalla Torre, L’Ordinamento costituzionale vaticano nel suo sviluppo storico, in: F. Cammeo, Ordinamento giuridico dello Stato della Città del Vaticano. Ristampa anastatica dell’edizione del 1932, Città del Vaticano 2005, 483–517, hier besonders 490–493 H.E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 745 f. Vgl. die Päpste Pius XII. (1939–1958); Johannes XXIII. (1958–1963); Paul VI. (1963–1978); Johannes Paul II. (1978–2005); Benedikt XVI. (2005–2013); Franziskus seit 2013
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tonschildern, wie zum Beispiel an den kirchlichen Gebäuden Roms, wo es hieß, dass dieses Gebäude religiösen Zwecken dient und direkt vom Staat der Vatikanstadt abhängig ist. Alle Durchsuchungen und Beschlagnahmungen waren verboten. Die Existenz des Staates erlaubte daher auch Schutz und Asyl für ausländische Diplomaten, anders als während des Ersten Weltkrieges, als Benedikt XV. in Abwesenheit einer vatikanischen Staatsstruktur nicht dasselbe tun konnte76. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Approbation der italienischen Verfassung von 1948 wurden die Lateranverträge angenommen und in der italienischen Rechtsordnung verfassungsmäßig festgelegt, trotz der Überzeugung vieler Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung, diese zu revidieren, um sie an die erneuerte Form des italienischen Staates anzupassen. In der Zwischenzeit verwurzelte sich der Vatikanstaat immer stärker in seinen eigenen rechtlichen und institutionellen Grundlagen, auf die sich seine Rechtsordnung stützt, vor allem dank der Tätigkeit der Päpstlichen Kommission für den Staat, die 1939 mit einer einfachen Weisung durch Papst Pius XII. eingerichtet wurde77. Gleichzeitig förderte Papst Pius XII. die Stärkung der Wirtschaftsstruktur des Staates der Vatikanstadt durch die Mitarbeit von Persönlichkeiten wie dem Bankier Bernardino Nogara, seit 1929 Treuhänder des Vatikans, Direktor der Sonderverwaltung des Heiligen Stuhles und Vizepräsident der italienischen Handelsbank, sowie den Finanziers Massimo Spada und Luigi Mennini bei der Umstrukturierung der Sonderverwaltung für religiöse Werke, die 1942 mit einer Erweiterung ihres Namens und einer eigenständigen Rechtspersönlichkeit zum Institut für religiöse Werke umgeformt wurde78. Institutionell und wirtschaftlich gestärkt, erlebte durch Papst Johannes XXIII. der Staat der Vatikanstadt keine besonderen Momente, außer dass er auf einer anderen Ebene, nämlich auf der Ebene des religiösen Lebens, die Auswirkungen der Verkündigung (1959) und dann der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils am 11. Oktober 1962 verspürte, dessen Abschluss 1965 unter das Pontifikat von Papst Paul VI. fällt, der im Juni 1963 zum Papst gewählt wurde79. Und es war Papst Paul VI., der mit persönlicher Sorgfalt und Aufmerksamkeit die Regierung des Staates der Vatikanstadt übernahm, einerseits nach innen mit der Verkündigung des neuen Gesetzes über die Regierung des Staates am 24. Juni 1969, das die Verfahren für die Ausübung der legislativen und exekutiven Befugnisse reformierte und der Rolle der Päpstlichen Kommission eine große Bedeutung verlieh, und andererseits durch die 76 77 78 79
A. Riccardi, Il potere del papa: da Pio XII a Paolo VI, Roma-Bari 1988 G. Dalla Torre, L’Ordinamento costituzionale vaticano, 494–495 Siehe dazu ausführlich die Bände von P. V. A. Braida, Le finanze del papa, Roma 2016 Idem, 500–501
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ständige Aufmerksamkeit bei der Entstehung von Normen in der vatikanischen Gesetzgebung80. Nach außen zeigte sich die neue Regierung mit einer großen Partizipation am internationalen Parkett, die den Papst dazu veranlassen wird, am 4. Oktober 1965 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu sprechen, die zu diesem Anlass in einer Sondersitzung zusammengekommen ist. In diesen Jahren verliefen die offiziellen Beziehungen mit dem italienischen Staat gut, auch wenn um die Mitte der 1960er Jahre, also zwanzig Jahre nach der Verfassung, die Revision des Konkordats wirklich offen diskutiert wurde. Die verschiedenen Versuche führten zu einer Reform, bis dann, auch wegen des Ergebnisses des Referendums über die Scheidung 1974, erst 1976 eine paritätische Kommission für eine moderne Revision des Konkordats eingerichtet wurde, die durch das Ergebnis des Referendums über die Abtreibung 1981 weiter unterstützt werden sollte. Diese Debatte führte im Februar 1984 zum Vertrag von Villa Madama, dem sog. neuen Konkordat, das von Premierminister Bettino Craxi und Staatssekretär Agostino Cardinale Casaroli festgelegt wurde81. Dieser Vertrag hebt das Konkordat von 1929 auf und formuliert die Voraussetzungen und Bedingungen für das Miteinander von Religion und der Kirche in Italien, indem es beispielsweise die Klausel, die den Katholizismus als Religion des italienischen Staates vorsah, aufhebt, aber der italienischen Bischofskonferenz (Conferenza Episcopale Italiana) eine neue Rolle durch deren Aufwertung zuweist82. Dieses große Rahmenabkommen wurde durch das Gesetz Nr. 121 vom 25. März 1985 ratifiziert und umgesetzt und gelangte unter dem Pontifikat von Papst Johannes Paul II., der am 16. Oktober 1978 nach dem plötzlichen Tod von Papst Johannes Paul I. in der Nacht vom 28. September 1978, nur 33 Tage nach seiner Wahl, gewählt wurde, zu seinem Abschluss. Das sehr lange währende Pontifikat von Papst Johannes Paul II. gilt als eine Periode bedeutender institutioneller Anpassungen des Vatikanstaates, die ihren Höhepunkt mit der Verkündigung eines neuen Staatsgrundgesetzes (Legge fondamentale dello Stato) am 26. November 2000 hatte, welches jenes von 1929 vollständig ersetzte83. Diesem Text, der einen neuen Aufriss der Staatsstruktur bot, folgte das Regierungsgesetz von 2002 (Legge sul Governo), das in gewisser Weise die Modalitäten der Artikulation der legislativen und exekutiven Befugnisse im Vatikanstaat festlegte84. 80 Vgl. AAS Suppl. 41 (1969), Nr. 5, 24. Juni 1969, 29–32 81 Siehe dazu die Ausführungen bei G. Dalla Torre, Da Patti Lateranensi all´Accordo di Villa Madama, in: B. Ardura (ed.), I Patti Lateranensi in occasione del XC anniversario (1929–2019), Città del Vaticano 2019, 95–106 82 Dazu L. De Gregorio, Conferenza Episcopale Italiana. Potere normativo e ruolo pastorale, Lecce 2012, 41 ff. 83 Siehe AAS Suppl. 71 (2000), 75 f. 84 Darauf verweist ausführlich in seinem Beitrag C. Cardia, La nuova legge fondamentale della Città del Vaticano. Il rapporto tra potestà legislativa e potestà esecutiva, in: Ius Ecclesiae 13 (2001) 311–346.
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Ein wichtiger Schritt in diesem Prozess der institutionellen Anpassung war die Promulgation und das Inkrafttreten des neuen Gesetzes über die Rechtsquellen (Legge sulle fonti di Diritto) durch Papst Benedikt XVI. im Jahr 2009, ein Text, der den Prozess der Stärkung und Konsolidierung der vatikanischen Staatsidentität nach sich zog85. Doch nach dem plötzlichen und überraschenden Rücktritt von Papst Benedikt XVI. am 28. Februar 2013, der nicht ohne große Bitterkeit über die Schwierigkeiten, die Kirche von innen heraus zu verändern, stattfand, hat das Pontifikat von Papst Franziskus zweifellos eine neue Phase in der Geschichte des Staates der Vatikanstadt eingeleitet86. Papst Franziskus verheimlichte in der Tat kein Problem, umso mehr angesichts des Skandals des sogenannten Vatileaks 1 (2012). Er wollte sich sofort an die vielschichtige Regierung des Heiligen Stuhls wenden, um die Qualität der internen Standards zu verbessern, vor allem in Bezug auf wirtschaftliche und finanzielle Fragen, und sollte sich damit selbst für eine Verwaltungsreform des Staates der Vatikanstadt, einem zentralen Pfeiler der Neuorganisation des gesamten Heiligen Stuhls, einsetzen87. Es war dies wohl eine Entscheidung in einer Situation, die stark für eine Vereinfachung und Rationalisierung der bestehenden Einrichtungen sprach und eine sorgfältigere Planung der wirtschaftlichen Aktivitäten aller Vatikanverwaltungen wünschenswert erschienen ließ. Dieser entschiedene Wunsch und das Vorhaben des Papstes wurden auch nach dem Chirographen vom 18. Juli 2013 umgesetzt, was die Einrichtung einer Päpstlichen Kommission zur Untersuchung und Anleitung der Organisation der wirtschaftlich-administrativen Struktur des gesamten Heiligen Stuhles, eines Organismus, der dann am 22. Mai 2014 aufgelöst wurde, veranlasste. Doch selbst innerhalb dieses Gremiums gab es einen neuen Fall des Diebstahls vertraulicher Informationen über den Staat der Vatikanstadt, was direkt die Informationen über wirtschaftliche Ausgaben des Heiligen Stuhls betraf. Dies führte zu einem Skandal, der in den Medien unter dem Namen Vatileaks 2 (2015) bekannt wurde, bei dem es um 85
86 87
Siehe dazu die kompakten und übersichtlichen Ausführungen bei W. Hilgeman, L´Ordinamento giuridico dello Stato della Città del Vaticano. Origine ed evoluzione (=Corona Lateranensis 54), Città del Vaticano 2012, 199–245, hier 210 ff. Einen umfassenden Gesamtüberblick bietet dazu A. Sarais, Le Fonti del Diritto vaticano (=Quaderni di Apollinaris 17), Roma 2011 A. Riccardi, Franziskus. Papst der Überraschungen. Krise und Zukunft der Kirche, Würzburg 2014, 206 ff. Vgl. dazu die allgemein von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Darstellungen, zusammengefasst bei G. Nuzzi, Seine Heiligkeit: Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Benedikt XVI., 2. Aufl. (10. September 2012), München 2012. Dies veranlasste Papst Franziskus zu einer umfassenden Neuordnung der Wirtschafts- und Finanzverwaltung des Heiligen Stuhles. Vgl. dazu A. Kowatsch, Die Reform der Wirtschafts- und Finanzverwaltung des Heiligen Stuhles durch Papst Franziskus, in: C. Ohly, W. Rees, L. Gerosa (Hrsg.), Theologia Iuris Canonici. Festschrift für Ludger Müller zur Vollendung des 65. Lebensjahres, Berlin 2017, 199–221
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einen Haftbefehl ging und einige der Mitglieder verurteilt wurden, weil sie vertrauliche Dokumente des Heiligen Stuhls offengelegt hatten88. Es handelte sich dabei um ein Vergehen, das in das Gesetz Nr. IX des Staates der Vatikanstadt vom 13. Juli 2013 einzuordnen ist. Auf jeden Fall führte der Weg des Wandels und der Erneuerung des regierenden Papstes Franziskus aus der Sicht des Heiligen Stuhls nicht nur zur Gründung neuer Dikasterien wie dem Wirtschaftsrat, dem Wirtschaftssekretariat, dem neuen Sekretariat für Kommunikation, sondern ermöglichte auch eine sorgfältige Revision der Funktionsweise des Verwaltungsapparates des Staates selbst, gerade in dem Bemühen, die besondere institutionelle Zielsetzung des Staates Vatikanstadt noch deutlicher zu machen, die von ihrem Wesen her dazu aufgerufen ist, die absolute und sichtbare Unabhängigkeit des Stuhls Petri zu gewährleisten, wie der Chirograph vom 22. Februar 2017 unterstreicht. Mit diesem Dokument überträgt Papst Franziskus dem Präsidenten des Governatorates des Staates der Vatikanstadt, Kardinal Giuseppe Bertello, die Befugnis und alle notwendigen Fakultäten, ein neues Gesetz in Bezug auf die Regierung des Staates der Vatikanstadt zu erstellen und die damit zusammenhängenden, für das Funktionieren des Verwaltungsapparates des Staates notwendigen Vorschriften zu entwerfen89. So wurde auch im Lichte der Vorschläge der am 16. Oktober 2015 von Kardinal Bertello eingesetzten Beratungsgruppe das neue Gesetz CCLXXIV über die Regierung (Legge sul Governo) entworfen, das am 7. Dezember 2018 durch Veröffentlichung in der Tageszeitung L’Osservatore Romano verkündet wurde und am 7. Juni 2019 durch Aufhebung der bisherigen Regelungen in Kraft trat. Es ist ein Text, aus dem wir die Absicht von Papst Franziskus erkennen können, die Funktion der Regierung zu stärken, die Struktur des Staates nach Funktionalität und Effizienz neu zu organisieren, die Transparenz der Verfahren und die Bewertung der Effizienz und Effektivität der Aktivitäten der Organe selbst zu verfolgen, auch durch eine Kontroll- und Inspektionseinheit innerhalb des Governatorates90. In diesem Sinne erfolgt eine Reform der Regierung, die genau am neunzigsten Jahrestag seit Entstehen des Staates in Kraft tritt und den Willen des gegenwärtigen römischen Papstes bestätigt, die innere Ordnung zu zentralisieren und zu vereinheitlichen, die einzelnen Organe zu rationalisieren und die Inhaber der Direktionen oder Ämter klarer verantwortlich zu machen, d. h., sie für einzelne Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Hinblick auf den Daten- und Informationsschutz des Staates sollte mehr Sicherheit erreicht werden. Somit zeigt sich der Staat der Vatikanstadt trotz seines neunzigjährigen 88 89 90
E. Fittipaldi, Avarizia: I documenti segreti sull’impero economico del Vaticano, Milano 2015 Vgl. dazu die Ausführungen und Darstellung bei F. Vecchi, Il denaro di Pietro. Forme canoniche e dinamiche finanziarie per la carità del papa, Cosenza 2019 Siehe dazu V. Buonomo, Annotazioni sulla nuova Legge sul governo dello Stato della Città del Vaticano, in: Ius Ecclesiae 31/2 (2019) 647–659
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Bestehens immer noch als aktiver „Motor des Wandels“, weil Flexibilität und Dynamik, die eine staatliche innere Rechtsordnung im Vergleich zu anderen ähnlichen Rechtsordnungen bestimmt, auch und vor allem zur inneren Reform des Heiligen Stuhls beiträgt, indem dieser an die realen und konkreten Entwicklungen, die Gesellschaft und Geschichte ihm vorgeben, anknüpft. Mit 16. März 2020 erneuerte Papst Franziskus die Justizrechtsordnung für den Staat der Vatikanstadt. Das neue Gesetz CCCLI hebt das seit 1987 geltende Gesetz auf und ersetzt es. Die neuen Normen ersetzen das bisherige Gesetz, das ursprünglich 1987 von Papst Johannes Paul II. erlassen und 2008 von Benedikt XVI. geändert wurde. Laut einer Erklärung der Pressestelle des Heiligen Stuhls soll das neue Gesetz den Anforderungen an eine größere Effizienz gerecht werden, die der „gegenwärtige historische und institutionelle Kontext“ erfordert91. Das neue Gesetz sieht insbesondere eine größere Unabhängigkeit der vom Papst abhängigen Justizorgane und Richter vor. Es legt die Anforderungen für die Ernennung von Richtern fest und vereinfacht das Justizsystem bei gleichzeitiger Aufstockung des Gerichtspersonals. Darüber hinaus sieht es einen Leiter für das Amt des Promotors iustitiae (Staatsanwaltschaft) vor und legt ein standardisiertes Verfahren für mögliche Disziplinarmaßnahmen gegen zugelassene Rechtsanwälte fest. Die vatikanische Staatsanwaltschaft muss heute Gesetze anwenden, die in vielerlei Hinsicht sehr modern sind – eine Frucht der Globalisierung –, die aber gleichzeitig in Kodizes ihre Wurzeln haben, welche viele Jahrzehnte alt sind. Das neue Gesetz lässt die Überzeugung durchschimmern, dass die Unabhängigkeit der Staatsanwälte und ihre Professionalität unabdingbar sind, um gerechte Resultate zu erreichen. Die Normen regeln unter anderem das Recht der Angeklagten auf Verteidigung. Das geht sehr klar aus einem Artikel des neuen Gesetzes hervor; es nennt das Recht auf Verteidigung „in jedem Moment des Verfahrens unverletzlich“ und betont das Prinzip der Unschuldsvermutung. Dabei regelt es auch im Detail, welche Voraussetzungen ein Verteidiger haben muss. In der Erklärung des Pressebüros wird erläutert, dass das neue Gesetz im Zuge der ordnungspolitischen Reformen im Vatikan in Bezug auf Wirtschafts- und Finanzfragen sowie das Strafrecht verabschiedet wurde. Es ist auch eine Antwort auf den Beitritt des Staates Vatikanstadt zu verschiedenen internationalen Konventionen. Gleichzeitig bewahren die neuen Gesetze die Einzigartigkeit des vatikanischen Rechts, das das kanonische System als primäre normative Quelle der Gesetzgebung und als Hauptkriterium für ihre Auslegung anerkennt. 91 Siehe dazu http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2020/03/16/0162/ 00351.html [eingesehen am 16.03.2020]
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7. Abschließende Bemerkungen
In der Tat haben die Reformen der Rechtsordnung des letzten Jahrzehnts, beginnend mit Papst Benedikt XVI. und endend mit den neueren Reformen von Franziskus bezüglich der Reform der Regierung im Juni 2019 sowie jüngst mit der neuen Ordnung für das Justizsystem im März 2020 des vor neunzig Jahren geborenen und gegründeten Staates Vatikanstadt, die Bedeutung verstärkt, dass der Vatikanstaat als ein vorwiegend symbolisches staatliches Instrument der Kirche und ihrer Aufgaben und Sendung in der Welt zu sehen ist. Dies erklärt sowohl die Reformen, die stattgefunden haben und diejenigen, die im Begriff sind, umgesetzt zu werden und sich auf die interne Organisation der Kurie beziehen, als auch diejenigen, die sich auf die Reformen der einzelnen kurialen Organe und der wirtschaftlichen Prozesse beziehen. Schließlich denke man an diejenigen Reformmaßnahmen, die die Rechtsordnung des Vatikans im engeren Sinne des Wortes, seine Normen und ihre Auslegung berührt haben, die immer mehr darauf ausgerichtet sind, in erster Linie offen und transparent konzipiert und durchgeführt zu werden, in einem Prozess der gegenseitigen Anerkennung und der Vernetzung, die für die Europäische Union und die internationalen Rechtssubjekte, die mit ihr arbeiten, typisch ist. Papst Franziskus übt seine Leitungsgewalt innerhalb der Kirche durch einen ebenso globalen universalen – man denke nur an die Tatsache, dass die von Papst Franziskus ernannten Kardinäle an vielen Orten der Welt den Schwerpunkt der Kirche von Rom ad extra verschoben haben – wie dezentralisierten Leitungsstil aus, und diese Vision findet man ebenfalls in der Gesetzgebung von Papst Franziskus, auch in Bezug auf den Staat der Vatikanstadt. Dadurch entsteht eine Sichtweise, die darauf abzielt, mehr und mehr jene staatlichen Funktionen hervorzuheben, die durch die Formen und weltlichen Regeln des Rechts der Staaten sinnvoll zu verstärken sind, und vor allem einen Prozess der Weitergabe und Anpassung der Religion auch in sozialen, kulturellen und verfassungsmäßigen Kontexten, die sich in Geschichte und Tradition unterscheiden, anzustoßen98. Das Wirken des Pontifikats von Papst Franziskus im Vatikan liegt also darin, dass sein großes persönliches Handeln auf struktureller Ebene in eine starke Rationalisierung und Vereinfachung jener Wege und Formen übersetzt werden will, die einer Zeit angehören, die noch mit den Erinnerungen an eine weltliche Gewalt der Kirche verbunden ist, die heute mehr und mehr aus dem Kontext der Geschichte heraustritt93. Und doch tut Papst Franziskus dabei paradoxerweise nichts anderes, als durch Transparenz und mit Autorität die Motivationen 98 93
Vgl. über den primatialen Dienst des Papstes im Rahmen der Verfassung und Organisationsstruktur der Kirche besonders J. I. Arrieta, Diritto dell’organizzazione ecclesiastica, Milano 1997, 219 ff. Vgl. dazu die Beiträge im Sammelband bei J. Erbacher (Hrsg.), Entweltlichung der Kirche? Die Freiburger Rede des Papstes (=Theologie kontrovers), Freiburg 2012
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und Gründe auszumachen, die vor neunzig Jahren die Geburt des Staates der Vatikanstadt bestimmten. Dabei sollten wir jene Gründungsmotive nicht vergessen, die uns dazu antreiben sollten, mit vernunftbegabter Aufmerksamkeit auf das Innere seiner ordnungsmäßigen und rechtlich institutionellen Strukturen zu schauen, die zwar einerseits alt, aber andererseits immer offen für das Heute der Moderne sind.
Stift Stams und die Tiroler Landesfürsten1 German Erd
1. Meinhard II. und die Gründung von Stams
Wenn der Besucher sich dem Stift Stams nähert, gleitet sein Blick auf die wehrhaften Zwiebeltürme auf der Südseite des Stiftes und auf eine mächtige Reiterstatue, die den Giebel des Bernardisaales krönt. Es ist ein Standbild des Tiroler Grafen Meinhard II., der 1273 das Stift gegründet hat. Hoch zu Ross reitet er gleichsam selbstbewusst die Mieminger Kette entlang in das Inntal hinein. Er war viel unterwegs, hat das Land vergrößert, geeint und nachhaltig geformt wie kein anderer vor ihm. Graf Meinhard hat den Einfluss des Adels zurückgedrängt, das Bürgertum gestärkt und eine kluge Verwaltungsstruktur etabliert. Dabei hatte seine Karriere keineswegs so hoffnungsvoll begonnen. Gerade erst 15 wurde er gemeinsam mit seinem Bruder Albert für sechs Jahre auf Schloss Hohenwerfen bei Salzburg vom Salzburger Erzbischof inkarzeriert. Waren doch damals viele Bischöfe in Mitteleuropa mehr Machthaber als Seelenhirten. Es waren lange und einsame Jahre für den energiegeladenen Jungspross, der sich gerne in der wilden Natur seines Landes bewegt und ausgetobt hätte. Meinhard entstammte dem Geschlecht der Görzer, die vor allem durch die Heirat Meinhards III. von Görz mit Adelheid, einer der Erbtöchter Albert III. von Tirol, zu einer Einheit mit dem Geschlecht der Grafen von Tirol verschmolzen sind. Zum Zeitpunkt dieser Hochzeit konnte man jedoch noch nicht ahnen, was diese Heirat für die territoriale Umgestaltung des Landes an der Etsch und im Gebirge für Folgen haben sollte. Noch blühten die Geschlechter der Andechser, der Hirschberger und der Ultener, noch bestand die Macht der Bistümer Brixen und Trient ziemlich ungeschmälert. Dass diese Heiratsverbindung die Einheit des Landes begründen würde, konnte damals noch niemand vorhersehen. 1
Der Autor dankt den beiden langjährigen emeritierten Professoren des Stiftsgymnasiums, Meinhardinum in Stams, Stiftsarchivar Ober-StR. Prof. Mag. Karl Palfrader Fam.OCist sowie dem langjährigen Tiroler Landeschronisten Ober-StR. Prof. Mag. Helmut Hörmann Fam.OCist, für wichtige Anregungen und Hilfestellungen beim Verfassen dieses Beitrages.
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An der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert reichten die Görzer Grafschaften, Herrschaften und Rechte in nahezu geschlossener Kette vom oberen Drautal, Mölltal und Gailtal über den karnischen und julischen Kamm ins Isonzotal und über den Karst hinweg an Triest vorbei nach Inner-Istrien bis gegen die Spitze von Pola und von Görz westwärts in einzelnen Stützpunkten bis an den Lauf des Tagliamento. Das Gebiet der Grafen von Tirol war ursprünglich klein und umfasste vorwiegend den Vinschgau. Von dieser Kernstellung aus vermochten sie sich auf drei Seiten über die angrenzenden Stiftsländer von Trient, Brixen und Chur auszubreiten und innerhalb eines Jahrhunderts das ganze Land an der Etsch und im Gebirge zu gewinnen. Meinhard II. (als Görzer IV.) wurde 1238 auf Schloss Tirol geboren. Er wurde nach seinem Vater benannt, sein Bruder Albert nach dem Großvater und seine Schwester Adelheid nach ihrer Tirolischen Mutter. Getauft wurde der Knabe nicht vom Bischof von Trient, sondern von Bischof Boppo von Bamberg, einem Andechser. Meinhards Jugendjahre fielen in eine unruhige Zeit. Tiefe Eindrücke stürzten auf ihn ein: Der Kampf zwischen Papst und Kaiser gewann eben damals apokalyptische Gestalt. Der Bannstrahl des Papstes hatte mit dem Kaiser auch sein Elternhaus getroffen. Fürchterlich und strahlend zugleich wütete Ezzelino in der Lombardei und in Friaul. Der große Khan, der Herrscher der asiatischen Welt, erschien an den Grenzen des Reiches. Das bedeutende Geschlecht der Babenberger erlosch und Meinhards Vater zog als Statthalter des Kaisers in die Steiermark und nach Krain. König Ottokar von Böhmen rückte nach Österreich vor. Die Ungarn besetzten die Steiermark. Das Reich und die alten Herzogtümer lösten sich teilweise in ihre kleinsten Bestandteile auf. Insbesondere die geistlichen Territorien entlang der Grenzen Italiens schienen rettungslos der Säkularisation zu verfallen. Die Herrschaften unterlagen steten Veränderungen, und alles erschien in ständigem Fluss. Den Klugen und Mächtigen standen alle Möglichkeiten offen. Die eindrucksvollen Beispiele hemmungslosen Machtstrebens – wie im Verhalten von Ezzelino und Ottokar sichtbar – stachelten offensichtlich den Ehrgeiz des jungen Meinhard an. Auch den Grafen von Görz und Tirol war rücksichtsloses und machtbestimmtes Handeln nie fremd gewesen. Das Vorbild seines Großvaters, Albert von Tirol, stand wie ein Leitstern über dem jugendlichen Meinhard. Aufgrund des selbstbewussten Handelns der Grafen gehörte der Görzer Hof schon unter dem alten Meinhard zu den glänzendsten seiner Zeit. Der Graf soll selbst in der Gesellschaft des wohlhabenden Königs Ottokar II. durch seinen reichen Aufwand aufgefallen sein. Auch der Liechtensteiner weiß zu berichten, dass sich Meinhards Vater höfischen Prunk und Ritterspiele etwas kosten ließ. Diese Neigung des Vaters wird wohl auch das Verhalten des jugendlichen Prinzen zunächst bestimmt haben. Die Mutter Adelheid jedoch, welche die Quellen übereinstimmend als überaus fromme und wohltätige Dame rühmen, pflanzte dem jungen Meinhard wohl jene selbstsichere Werkfrömmigkeit
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ins Herz, die ihr selber stets zu eigen war und worin auch der Sohn in den Zeiten seines Kirchenbanns seine Rechtfertigung suchte. Der eigentliche Unterricht des jungen Meinhard lag jedoch bei der Hofgeistlichkeit, jenen deutschen und italienischen Notaren, die nächst der Schlosskapelle auch die Schriftlichkeit der Verwaltung und das diplomatische Geschäft zu besorgen hatten. So war Meinhard von Jugend an mit der deutschen, der romanischen und mit der lateinischen Welt, welche die beiden verband, völlig vertraut und hat auch den Gegensatz weltlicher und geistlicher Ansprüche früh kennengelernt. Die weltliche Macht erschien dem jungen Meinhard als unteilbares Fürstenrecht von Gottes Gnaden. Kaum war es Meinhard gelungen, sich und seinen Bruder aus der Haft zu befreien, griff er entschieden nach der Macht und forderte von Bischof Egno von Trient die Übertragung der Hochstiftslehen und anderer Territorien. Im Weiteren vollzog Meinhard seinen Anschluss an die staufischen Unternehmungen und signalisierte so seinen Eintritt in die große Reichspolitik. Am 5. Oktober 1259 heiratete er Elisabeth von Bayern, die Witwe des letzten Stauferkönigs Konrad IV. und Mutter des letzten Staufer-Sprösslings Konradin, dessen Stiefvater Meinhard nun wurde. Durch die Heirat mit der einstigen Königsgemahlin Elisabeth konnte Meinhard sein persönliches Prestige vermehren, und es kam durch das staufische Heiratsgut auch zu einer beträchtlichen Vergrößerung des Landes im oberen Inntal, im Vinschgau und im Passeier Tal. Schon Konrad IV. war mit einem Feldzug nach Italien gezogen; blieb aber in seinem Vorhaben, die staufischen Erbländer im Süden gegen die Interessen des französischen Königs zu schützen, nur teilweise erfolgreich. Er verstarb bereits 1254. 1268 entschloss sich der noch junge Konradin zu einem neuerlichen Italienfeldzug, um die Machtverhältnisse in den ehemaligen Staufischen Erblanden endgültig zu seinen Gunsten zu klären. Unterstützt wurde er dabei von seinem Stiefonkel Albert und dem Babenberger Friedrich, nicht aber von seinem Stiefvater Meinhard. Bei der entscheidenden Schlacht von Tagliacozzo, 70 km östlich von Rom, kam es am 23. August zur Niederlage des staufischen Heeres gegen Karl von Anjou, den Vasall und Bruder des französischen Königs. Konradin wurde gefangen genommen und am 29. Oktober 1268 am Marktplatz von Neapel enthauptet. Sein Grab befindet sich in der Kirche Santa Maria del Carmine in Neapel.
2. Die Gründung des Stiftes Stams
„Mors Conradini vita Stamsii“ Elisabeth war von dem innigen Wunsch beseelt, zum Gedächtnis an ihren Sohn Konradin ein Kloster zu erbauen – als Stätte des Gebetes und Gedenkens. Obwohl Meinhard
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Stiftskirche, Fürstengruft
diesen Wunsch seiner Frau wegen seiner offensichtlichen Spannungen mit Konradin in den letzten Jahren nicht teilte, so wollte er ihr dieses Anliegen auch nicht abschlagen. Er wollte damit aber auch seine eigenen Pläne verwirklichen. Die fürstliche Grablege auf Schloss Tirol war sehr beengt, und so konnte er mit diesem neuen Kloster eine kunstvoll ausgestattete und repräsentative Grablege für die Landesfürsten schaffen. So reifte in ihm der Gedanke, zu „Stambs“, am Ort der Wallfahrt zu Johannes dem Täufer, dieses Kloster zu errichten. Zudem gab ihm diese Gründung Gelegenheit, auch für sich selbst im nördlichen Teil von Tirol, jenseits des Brenners eine persönliche Bleibe zu schaffen, um auch sichtbar in diesem, durch seine Heirat mit Elisabeth nun sehr gewachsenen Teil des Landes präsent zu sein. Die Wahl des Ortes dürfte wohl auch auf Elisabeth zurückgehen. Die Burg Petersberg bei Silz, nur wenige Kilometer westlich von Stams, war ein staufischer Ansitz, und Elisabeth soll dort als staufische Königin gelegentlich ihre Sommerfrische verbracht und dadurch die Wallfahrt in Stams kennengelernt haben. Bereits im Oktober 1274 verstarb Elisabeth und wurde zunächst in der Stamser Johanneskirche, dann zehn Jahre später am Tag nach der Kirchweihe im November 1284 als erste Tote in feierlicher Weise in der neuen Gruft in der Stiftskirche beigesetzt. Im Stamser Totenbuch wird sie ausdrücklich als die „Prima fundatrix“ bezeichnet und Meinhard als der Fortsetzer ihres Werkes gerühmt. Die Gründungsurkunde des Klosters wurde jedoch erst 1275 ausgestellt und deshalb nur vom Landesfürsten unterzeichnet und besiegelt.
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Für die Besiedlung des neuen Klosters wurden Zisterziensermönche aus Kaisheim bei Donauwörth eingeladen. Vieles sprach für die Zisterzienser. Im Jahr 1270 langte das Ansuchen Meinhards dort ein, im darauffolgenden Jahr erteilte das Konventkapitel seine Zustimmung, und im Jänner 1272 waren die Vorbereitungen schon so weit gediehen, dass die Äbte von Lützel und Raitenhaslach im Auftrag des Generalkapitels den Ort besichtigten und seine Eignung prüfen konnten. In der Chronik heißt es dazu: „Meinhard hat es dabei an Gefälligkeiten und großzügigen Versprechungen nicht fehlen lassen, auch angesichts gewisser kirchlicher Widerstände, vor allem vonseiten der Bischöfe von Brixen und Trient, mit denen Meinhard wegen der Gebietsansprüche ständig im Konflikt war und die ihn dafür mit dem Kirchenbann bestraften.“ Im März 1273 kamen unter der Leitung des noch in Kaisheim gewählten Abtes Heinrich von Honstätten zwölf Patres und fünf Conversen nach Stams. Die Zisterzienser hatten damals in Mitteleuropa eine sehr große Präsenz, waren wegen ihrer straffen geistlichen Lebensweise sehr geschätzt, in ihrer Arbeitsweise sehr effizient und verfügten innerkirchlich über den entsprechenden Einfluss, den Meinhard dringend brauchte. Ein weiterer Grund für die Einladung an die Mönche aus Kaisheim waren wohl auch die Sympathien, die Konradin für die Kaisheimer hatte. Noch vor seinem Italienfeldzug verfasste er ein Testament, in dem er neben anderen Klöstern vor allem das Kloster Kaisheim reich bedachte. Noch im Laufe des gleichen Jahres übertrug Bischof Bruno von Brixen dem Kloster die Pfarre Silz (wohl wegen Petersberg). Ebenso erhielt das Kloster die Pfarren Gratsch und Mais zugeteilt. Diese beiden Pfarren waren insofern von Bedeutung, als sie die Nachbarpfarren der fürstlichen Residenz waren und gleichzeitig die Grenzpfarren zwischen den Diözesen Trient und Chur. Offenbar war es dem Landesfürsten ein Anliegen, die Mönche in seine unmittelbare Hofhaltung und Verwaltung mit einzubinden. Das Wohlwollen des Landesfürsten zeigte sich etwa darin, dass 1291 der Landesfürst dem Stift versprach, ihm jährlich 30 Fuder Salz aus den Salinen zu Hall zukommen zu lassen. Zudem erwartete sich Meinhard von den Mönchen fruchtbare Hilfe für die landwirtschaftliche Erschließung seiner verbliebenen Gebiete im oberen Inntal und im Vinschgau. Als unmittelbare provisorische Unterkunft ließ Meinhard den Konventualen südlich der Wallfahrtskirche ein Holzblockkloster errichten. Nach elfjähriger Bauzeit wurde die Kirche am 5. November 1284 feierlich geweiht. Dazu waren von Meinhard sieben Bischöfe eingeladen, die diese Feier leiten sollten. Er wählte dazu den Tag des Zisterzienserbischofs Malachias am 5. November aus, der in diesem Jahr auf einen Sonntag fiel. Meinhard nahm die Kosten für alle anreisenden Bischöfe und für das gesamte Fest auf sich. Der erste Bischof war Bruno von Brixen, des Weiteren Bischof Hartmann von Augsburg, Bischof Martin von Ceneda, Bischof Bernhard von Pedena, Bischof Jakob von Milopotamo, Bischof Nikolaus von Carole sowie Bischof Heinrich von
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Regensburg. Zu diesem feierlichen Akt kamen viele Menschen aus der Umgebung, vor allem aus dem Ötztal, und sie mussten in dieser kalten Jahreszeit auf den Feldern nächtigen. Anwesend war auch die gesamte Familie des Landesfürsten, also auch seine Tochter Elisabeth, die die Ehefrau von König Rudolfs Sohn Albert war. Diese Tochter Meinhards ist durch diese Heirat die Stammmutter aller Habsburger geworden. Sie alle wohnten am nächsten Tag der feierlichen Beisetzung der Königin Elisabeth und der zwölf Verstorbenen bei – unter ihnen auch der Vater von Meinhard –, die aus der Gruft von Schloss Tirol nach Stams überführt worden waren. Als Meinhard II. am 31. Oktober 1295 zu Greifenburg in Kärnten starb, war er wegen seiner Streitigkeiten mit dem Bischof von Trient immer noch mit dem Kirchenbann belegt. So reiste Abt Friedrich (1280 erwählt) nach Rom, um von Papst Cölestin V. die Lösung des Banns zu erwirken, was erst eine Bestattung in der Stiftskirche ermöglichen konnte. Nach seiner erfolgreichen Rückkehr wurde dann „die Leiche des Stifters, welche man indessen nach Innsbruck gebracht hatte, nach Stams überführt“ und an der Seite seiner Gemahlin Elisabeth beigesetzt. Das Stift Stams nahm von Anfang an einen bedeutenden Platz in Tirol ein. Fast immer waren Stamser Mönche in Schloss Tirol anwesend. Oft traten sie als Zeugen in den landesfürstlichen Urkunden auf. Meinhard selbst war öfter zu Besuch in Stams. Er wird dort in den Gesprächen mit den Äbten nicht nur über religiöse Dinge, sondern auch über Politik gesprochen haben. Die Stamser hatten das Vertrauen des Landesfürsten. Das änderte sich auch unter Meinhards Nachfolgern nicht. In der Regierungszeit von Graf Heinrich, dem Sohn von Meinhard II., erhielt das Kloster Stams von Bischof Friedrich von Augsburg 1311 durch Tausch den See in Mieming und das Patronatsrecht über die Pfarre Mieming. Ebenso unter Heinrich erbauten die Herren von Mülser (Milser) unmittelbar anschließend an die Stiftskirche die Blutskapelle „für die von Abt Konrad erworbene kostbare Reliquie des wahren Blutes unseres göttlichen Erlösers, das Maria Magdalena am Fuß des Kreuzes gesammelt haben soll“. Die Blutskapelle wurde 1306 fertiggestellt und von Bischof Bartlmä von Trient eingeweiht. 1313 ließ Herzog Heinrich am Ort der kleinen Johanneskirche eine neue und größere Wallfahrtskirche zum heiligen Johannes dem Täufer erbauen. 1318 konnte sie durch Bischof Johannes von Brixen im Beisein von Abt Hermann und des Konvents in festlicher Weise eingeweiht werden. Auch das weist auf das Interesse des Landesfürsten an Stams hin. Graf Heinrich von Tirol, der keine männlichen Nachfahren hatte, schloss 1330 mit Kaiser Ludwig dem Bayern einen Vertrag, der ihm für seine Töchter die weibliche Erbfolge garantierte, wenn sie mit Genehmigung des Kaisers verheiratet würden.
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3. Margarethe „Maultasch“
Die 1318 geborene Margarethe war schon 1327 mit Johann Heinrich von Böhmen, dem jüngeren Bruder des späteren Kaisers Karl IV., verlobt worden und wurde am 16. September 1330 in Innsbruck vermählt. Der um vier Jahre jüngere Johann Heinrich wurde bereits im Alter von fünf Jahren von seinem Vater mit großem Gefolge nach Tirol geschickt. Die beiden Kinder waren sich von Anfang an unsympathisch, und auch der inzwischen herangewachsene Johann Heinrich war ein nicht gerade freundlicher Ehemann, der nicht gewillt war, Deutsch zu lernen. Gegenüber seiner Ehefrau gebärdete er sich wild und schikanierte sie, und allmählich wurde aus der gegenseitigen Antipathie regelrechter Hass. Im Jahre 1341 führten Tiroler Adelige einen Putsch gegen Johann Heinrich durch, wohl mit Einverständnis Margarethes, und vertrieben Johann Heinrich aus dem Land. Das dürfte die Mönche in Stams weniger berührt haben als die dann erfolgte Heirat Margarethes mit Ludwig dem Brandenburger aus dem Geschlecht der Wittelsbacher. Der damalige Abt Ulrich war ein Gegner dieser Verbindung. Dies wohl nicht so sehr aus Aversion gegen die Wittelsbacher, als vielmehr aus Loyalität gegenüber dem Papst, der diese Verbindung nicht anerkannte und deswegen sogar das Land mit dem Bann belegte. Es gibt aber keine Anzeichen dafür, dass das Herrscherpaar deswegen dem Kloster seine Gunst entzogen hätte. Bemerkenswert ist, dass nach dem Tode Kaiser Ludwigs des Bayern die Reichsreliquien – und nach Meinung mancher Autoren auch die Reichskleinodien – nach Stams gebracht wurden, um sie vor dem Zugriff des Luxemburgers zu schützen. Man hielt sie im Inntal für sicher. Nach der Übergabe der Reichsreliquien an Kaiser Karl IV., der sie nach Prag bringen ließ, wurden Stamser Mönche als Wächter des Reichsschatzes nach Prag berufen. Für das Kloster Stams ist das deswegen von Bedeutung, weil mit den Reichsreliquien das „Caput Zachariae“, also das Haupt des heiligen Zacharias, des Vaters von Johannes dem Täufer, nach Stams gekommen war. Es war das Gastgeschenk des byzantinischen Kaisers Johannes Paläologus an Kaiser Karl und wurde so ein Teil des Reichsschatzes. Der Abt hat bei der Verlegung des Reichsschatzes den Kaiser gebeten, das Haupt des Zacharias wegen der Wallfahrt zu Johannes dem Täufer in Stams zu belassen. Der Kaiser hat diesen Wunsch erfüllt und mit der am 31. Dezember 1377 in Prag gefertigten Urkunde diese wertvolle Reliquie dem Stift geschenkt, wo sie über Jahrhunderte Gegenstand großer Verehrung war und in einem kunstvoll gestalteten Reliquienschrein bei der jährlichen großen Prozession der Johannesbruderschaft immer mitgetragen wurde. Obwohl Stams als Begräbnisstätte der Landesfürsten gegründet wurde, ist doch Margarethe, die letzte Gräfin aus dem alten Tiroler Geschlecht, nicht in Stams begraben. Der neue Landesherr, Rudolf der Stifter, nahm sie mit nach Wien, wohl auch um sicher zu sein, dass sich nicht mit ihrer Hilfe neue Verbindungen ergeben könnten, die die Einheit
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Tirols mit Österreich gefährden würden. Sie starb in Wien und ist in der Minoritenkirche begraben, wo eine Gedenktafel an sie erinnert. Der Übergang Tirols an die Habsburger im Jahre 1363 scheint nichts an der Stellung von Stams als Hauskloster geändert zu haben. Als dann im 15. Jahrhundert der habsburgische Besitz in drei Linien aufgeteilt wurde, erhielten Tirol und die Vorlande mit Friedrich IV. „mit der leeren Tasche“ einen in Innsbruck regierenden Landesfürsten.
4. Herzog Friedrich IV. „mit der leeren Tasche“ (1382–1439)
Er war ein volkstümlicher Herrscher. Zum Verhängnis wurde ihm das Konzil von Konstanz (1414–1418). Seine persönliche Feindschaft zu Sigismund von Luxemburg, dem Herrscher des Heiligen Römischen Reiches, eskalierte. Der Grund dafür war die Unterstützung Friedrichs für den Gegenpapst Johannes XXIII., der ein Gegner des Kaisers war. Daraufhin verhängte der Kaiser über Friedrich die Reichsacht und nahm ihn in Gefangenschaft. Im März 1415 gelang Friedrich die Flucht. Als Knecht verkleidet konnte er sich durch die Wälder, über die Almen und Berge bis nach Vent im Ötztal durchschlagen, wo er dann als Knecht auf den Rofenhöfen Schutz und Zuflucht bei einem Bauern fand. Diese Tatsache, dass er auf seiner Flucht bei den Bauern Unterstützung und Hilfe erfahren hatte, hat in ihm wohl eine starke Solidarität zu diesen hervorgerufen, und so hat er in seiner Regierungszeit die Rechte des Adels eingeschränkt und den Bauern mehr Rechte und Befugnisse zugestanden. In Innsbruck hatte inzwischen sein Bruder Ernst die Herrschaft an sich gezogen, musste diese aber nach heftigen Auseinandersetzungen wieder an Friedrich abtreten. Mithilfe der Bauern konnte sich Friedrich auch gegen den Kaiser, die Nachbarn Tirols und gegen seine innenpolitischen Kontrahenten, gegen die er seit 1418 militärisch vorging, behaupten. 1420 erhob er Innsbruck zur Residenzstadt. Ab dem Jahre 1425 war Friedrichs Stellung gefestigt, und das Land erlebte, auch begünstigt durch die Silberfunde in Schwaz, einen kräftigen wirtschaftlichen Aufschwung. Herzog Friedrich scheint ein besonders inniges Verhältnis zu Stams gehabt zu haben. Er wurde dort auch in die Bruderschaft des Ordens aufgenommen. Das galt als großes Zeichen der Verbundenheit. Es war dem Fürsten auch daran gelegen, die gehobenen Schichten des Landes zu einer Beziehung zum Stift zu bringen. Darauf deutet die Errichtung einer Art von Bruderschaft für Adelige und vornehme Bürger hin. Die Mitglieder dieser Bruderschaft hatten das Recht, im Kloster mit dem Abt zu Tische zu sitzen. Friedrich und auch sein Sohn Sigmund statteten das Kloster auch weiterhin mit Privilegien aus. So ist eine Reihe von Urkunden darüber erhalten, vor allem über Befreiungen von Zöllen. An-
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Herzog Friedrich IV.
dererseits griffen die Grafen auch immer wieder rücksichtslos auf das Eigentum des Stiftes zu, wenn sie selber in Not waren. Schon 1420 hatte Abt Johannes I. ein Gut verkaufen müssen, um Friedrich IV. eine Beihilfe für den Hussitenkrieg leisten zu können. Auch 1425 konnten die Schulden des Klosters, die durch Abgaben an den Landesfürsten entstanden waren, nur durch den Verkauf mehrerer Höfe getilgt werden. 1439 starb Friedrich und fand in einer Gruft im Chorraum der Stiftskirche Stams an der Seite seiner beiden Gattinnen Elisabeth von der Pfalz und Anna von Braunschweig, der Mutter seines Nachfolgers Sigmund, seine letzte Ruhestätte.
5. Erzherzog Sigmund – genannt auch „Sigismund der Münzreiche“ (1427–1496)
Friedrichs Sohn Sigmund, der die Tiroler Linie der Habsburger fortsetzte, erhielt ebenfalls einen prägnanten, jedoch missverständlichen Beinamen. Er wurde der „Münzreiche“ ge-
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nannt, obwohl er in maßloser Prunksucht die reichen Einnahmen des Landes verschwendete und es fast in den Ruin stürzte. Der Beiname bezieht sich auf Sigmunds Leistung in der Münzprägung. Er gilt auch als der Vater des 1486 in Hall erstmals geprägten berühmten Guldiner (Taler), der ein Vorbild für die gesamteuropäische Talerprägung geworden ist. Als sein Vater starb, war Sigmund gerade zwölf Jahre alt. Um den Einfluss gegen Westen auszuweiten, sollte Sigmund die französische Königstochter Radegund ehelichen. Diese verstarb aber vor der Eheschließung im Jahre 1445. Da sich die Tochter des schottischen Königs Jakob I. zur Erziehung und Ausbildung am französischen Königshof aufhielt, vermittelte Karl VII. die Eheschließung zwischen dem österreichischen Herzog Sigmund und der schottischen Königstochter Eleonore Stuart, die in der Folge vom französischen Königshof in die Hofburg nach Innsbruck übersiedelte. Als die 18-jährige Eleonore nach Tirol kam, war sie bereits eine gereifte Persönlichkeit, die Charakter, eigenen Willen und vor allem weitgehende kulturelle Interessen zeigte. Sie hatte auch eine große Vorliebe für Wissenschaft und Kunst. Eleonore trug wesentlich dazu bei, Innsbruck zu einem kulturellen Zentrum zu entwickeln, das auch renommierte Künstler aus ganz Europa anzog. Leider blieb die Ehe kinderlos. Nach dem frühen Tod seiner ersten Gemahlin heiratete Sigmund 1484 in seiner zweiten Ehe die 16-jährige Prinzessin Katharina von Sachsen (1468–1524). Jedoch auch diese Ehe blieb kinderlos. Sigmund verlegte die Tiroler landesfürstliche Münzprägestätte von Meran nach Hall, wodurch er für diese Stadt – damals Zentrum des Tiroler Salzhandels – den Aufstieg zur wichtigsten Handelsstadt des Landes einleitete. Auch Sigmund war dem Stift sehr verbunden. Ein Zeichen dieser Verbundenheit ist das „Salvator Mundi“-Bild eines unbekannten niederländischen Künstlers, das Sigmund dem Stift zum Geschenk machte. Es ziert heute noch den Eingang zum Chorraum in der Stiftskirche und ist das einzige Bild, das nach der Barockisierung der Stiftskirche im Kirchenraum verblieben ist. Sigmund fand im März 1496 seine letzte Ruhestätte in der Stamser Gruft, wo er, wie auch seine erste Gattin Eleonore und sein Vater Friedrich IV., in einer Statue porträthaft dargestellt ist.
6. Kaiser Maximilian (1459–1519)
Beide Ehen Sigmunds blieben kinderlos. Er soll zwar eine große Zahl unehelicher Kinder gehabt haben, die aber nicht als Erben infrage kamen. So trat 1490 sein Neffe, König Maximilian, die Nachfolge des zum Rücktritt gedrängten Sigmund an. Maximilian baute ein besonderes Naheverhältnis zum Stift Stams auf. Sein Vorgänger hatte bereits einen Wohn-
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bereich im Kloster, Maximilian plante aber, ab 1515 im Klostergarten ein Haus für sich bauen zu lassen. Dieses wurde jedoch zu seinen Lebzeiten nicht fertig und blieb lange Zeit als halbfertige Ruine stehen, die schließlich im Jahre 1610 abgetragen wurde. Die Aufzeichnungen Maximilians, aber auch sein Lebenszeugnis machen es offenkundig, dass Maximilian am Glauben viel gelegen war und dass er sich als römischer König und Kaiser als weltliches Haupt der Christenheit fühlte. Charakteristisch für ihn war sein großes Gottvertrauen, aber auch seine Furcht, seiner Sünden wegen das ewige Heil nicht zu erlangen. Es gibt auch handschriftliche Aufzeichnungen, in denen er seine Vorstellungen vom religiösen Alltagsleben festhielt. Es könnte auch sein, dass es sich dabei um erste Entwürfe handelt, die dann in einem nie verwirklichten Buch niedergeschrieben werden sollten. Darin bringt Maximilian ziemlich ungeordnet in mehreren Ansätzen seine Gedanken zu Papier, manchmal sehr ausführlich und auch mit ausformulierten Gebeten, dann wieder nur als ganz knappe Notizen. Maximilian wollte zu einem ganz intensiven Gebetsleben mit unzähligen Gebeten, sogar mit der Einführung des kirchlichen Stundengebets für Laien verpflichten. Offen bleibt die Frage, für wen diese Anweisungen gedacht waren. Zweifellos dachte Maximilian an sich selbst, aber nicht nur. Er hat das sicherlich auch für seine Nachkommen und für die Menschen aus seiner nächsten Umgebung geschrieben. Er redete dabei die Adressaten seiner Ratschläge und Forderungen durchgehend mit „du“ an, wie er es auch in anderen seiner Bücher oder Buchentwürfe getan hat. Diese vorliegende Sammlung von Notizen behandelt das Thema gleichsam in mehreren Anläufen. Ein erster Teil, der sehr persönlich gehalten ist, zeigt, dass sich der Kaiser wohl bewusst war, dass er für seine Regierungstätigkeit Gottes Hilfe brauchte. Er bat beim Morgengebet, dass ihn Gott an Leib und Seele beschützen möge und ihm seinen Schutzengel schicke, der seine Handlungen und Taten nach dem Willen Gottes leiten möge. Und während zweier Messen, die er mitfeierte, betete er auch, „dass er als Diener Gottes, der die Königsherrschaft durch die Barmherzigkeit Gottes erhalten habe, alle Verführung vermeiden und seine Feinde überwinden könne und dass ihm Gott auf die Fürbitte der Muttergottes, aller himmlischen Geister, der Propheten, Apostel, Märtyrer und aller Heiligen helfen möge“. Das sollte wohl auch das nicht ausformulierte Gebet: „Omnipotens etc. miserere famulo tuo imperatori“ (Allmächtiger, erbarme dich deines Dieners, des Kaisers) ausdrücken. Maximilian vertraute auf die Hilfe Gottes für seine Regierungstätigkeit. Es folgen stichwortartige Anordnungen, an welchen Tagen das Salve Regina gebetet werden und wann eine Vesper gehalten werden soll, sowie Anweisungen für Gebetbücher, unter anderem, dass die Gebete der Heiligen Birgitta von Schweden in sein Gebetbuch aufgenommen werden sollen. Kennzeichnend für Maximilians Passionsfrömmigkeit ist auch die Anweisung, jeden Freitag des Leidens Christi zu gedenken. Dieser entsprach ja auch, dass er sich, wann im-
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mer es mit den Regierungsgeschäften vereinbar war, in der Karwoche und vor allem an den Kartagen in ein seinem jeweiligen Aufenthaltsort nahen Kloster zu Gebet und Gottesdienst zurückzog. In einem zweiten Teil wandte sich Maximilian mit der Einleitung „si vis vitam laicalem ducere ut sis secuurus vitae aeternae“ an sich selbst und seine Adressaten. „Wenn dich beim Aufwachen schlechte Gedanken überfallen, aber die Zeit des Aufstehens noch nicht gekommen ist, dann sollst du beten oder an die Passion Christi denken oder an das Leben der Heiligen oder an die eigenen Schwächen; dann kommt der Schlaf und die Zeit ist nicht nutzlos vergangen.“ Nach dem Morgengebet, beim Aufstehen und Anziehen und nach dem Frühstück soll er in die Kirche gehen und einem Priester die Beichte ablegen und nach empfangener Absolution andächtig eine Messe mitfeiern, und wenn es die weltlichen Geschäfte zulassen, noch eine zweite Messe mit Gebeten zu Gott, seinem Schutzengel, der Gottesmutter Maria und zu vier Heiligen, die er sich ausgewählt hat, dann einem der zwölf Apostel, einem Märtyrer, einem Bekenner und einer heiligen Jungfrau. Die Feste dieser fünf Fürsprecher soll er besonders feiern mit Gebeten und Andachten, damit sie seine Helfer seien, bei Gott Gnade für seine Sünden zu erwirken. Leider wissen wir nicht, wen Maximilian für sich ausgewählt hat, aber hier wird die Bedeutung der Heiligen für Maximilians Religiosität besonders deutlich. Sie sollten ihm durch ihre Fürsprache in den Himmel helfen. Nach eigener Aussage war er ein großer Verehrer der Gottesmutter Maria, und eine ganz besondere Beziehung hatte er zum heiligen Georg, der ihm als ritterlicher Heiliger und „Kämpfer gegen den giftspeienden Drachen“ nahestand, ja geradezu zu einer Identifizierung führte. Sicher war Maximilians Georgs-Verehrung auch einer der Gründe für seine Bemühungen um den St.-Georgs-Ritterorden. Sehr genaue Vorschriften machte Maximilian für das Fasten, zu welchen Zeiten gefastet werden sollte „und dass dabei nur wenig von ungekochten Speisen genossen und nur einmal am Tag wenig getrunken werden sollte, damit den Fastenden nicht der Schwindel befällt“. Dann folgen noch Anweisungen für die Beichte und Buße, die dem Kaiser sehr wichtig waren. In einem weiteren Abschnitt findet sich eine weitere Version eines Tagesablaufes unter der Überschrift „vita hominis laicalis et mechanici in omni gradu non paenitentiali comprehendendo“. Hier versuchte Maximilian, seine religiösen Anweisungen im täglichen Leben von arbeitenden Menschen anwendbar zu machen und zugleich auch die Laien zum kirchlichen Stundengebet zu verpflichten. Maximilian plante für den Tagesablauf ein strenges Zeitkorsett. Es wurde genau festgelegt, wie lange seine Adressaten für ihre täglichen Obliegenheiten brauchen dürfen, für das Anziehen und Ordnung machen, für den Besuch der Gottesdienste, für das Essen, für die Erledigung ihrer Arbeiten, wobei zwischen schwierigen
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und leichteren Geschäften abgewechselt und nach Möglichkeit alles Anstehende mit Eifer erledigt werden sollte. Und zuletzt soll einem Spaziergang und den Gebeten vor dem Zubettgehen ein Schlaf von sechs Stunden folgen. Nochmals handelt der Kaiser in einer „declaratio“ für das tägliche Leben nach der Uhr seine Vorstellungen vom Tagesablauf ab und entwickelt einen Plan, wie das Stundengebet untergebracht werden kann. Er empfiehlt, um vier Uhr aufzustehen und nach dem Morgengebet, das vor dem Bett kniend zu verrichten ist, in die Frühmesse zu gehen und dort neben vielen anderen Gebeten nach dem Confiteor die drei Horen des Stundengebetes (Prim, Terz und Sext) vor dem Sanktus zu beten und zum Ende der Messe die None und dann die „Hora Vespertina“. Danach folgen weitere Lebensregeln, nämlich die von Gott übertragenen Aufgaben bestmöglich zu erledigen, sich beim Ruhen vor schlechten Gedanken und teuflischen Einflüsterungen zu hüten. Zu Mittag verordnete Maximilian ein ausreichendes Mahl, weil er sich nur ein halbes Frühstück zugestanden hatte, „denn in der Früh sei der Magen ein Dieb und nehme vom Essen und Trinken mehr, als er verdauen könne“. Dem Essen soll zunächst eine Ruhestunde folgen und dann soll vier Stunden gearbeitet werden. Dann soll sich der Adressat mit Speise, Früchten und einem Trunk erfrischen. Wenn er dann noch alles nachgeholt hat, was tagsüber an Geschäften, Schriftlichkeiten und Gebeten unerledigt geblieben ist, soll er sich bis neun Uhr erholen, damit er dann einen ruhigen Schlaf findet. In der abschließenden Anweisung heißt es: „Wenn der Adressat die Auserwählung, also die ewige Seligkeit wolle, müsse er das Fasten, die Keuschheit und den Gehorsam bewahren, sich von den Sünden fern halten und die Werke der Barmherzigkeit tun, denn sonst nützten ihm weder Gebete noch andere Leistungen.“ Aus all diesen Anweisungen spricht eine tiefe Frömmigkeit, gepaart mit einem starken Sündenbewusstsein, und der feste Glaube an die Wirkung der Gebete und der Fürsprache der Heiligen, während das Vertrauen in die eigenen guten Werke und Leistungen für die Erreichung des Himmelreiches zurücktritt. Auffallend ist auch, dass der Ablass im Denken Maximilians überhaupt keine Rolle spielt. Kaiser Maximilian dachte bei diesen Aufzeichnungen zwar nicht ausschließlich, aber zweifellos auch an sich selbst und legte sich gleichsam religiöse Lebensregeln zurecht, die sich wohl an hohen Idealvorstellungen orientierten und nur von wenigen Menschen, und wohl kaum von einem Herrscher, vollends erfüllt werden konnten. Nach diesem Einblick in die Religiosität Maximilians ist es nicht verwunderlich, dass Maximilian auch Kontakt zu den Klöstern und Stiften gesucht hat, die ja „Zelt Gottes auf Erden“ sind und in deutlicher Weise die Präsenz Gottes in unserer Welt bezeugen und sichtbar werden lassen. Maximilian war, obwohl in Wiener Neustadt geboren und über mehrere Jahre vor allem in den Niederlanden beheimatet, ein großer Freund und Förderer Tirols. Man könnte
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sagen: Sein Herz war in Tirol, aber in seinem Denken und seinen Visionen hatte er ganz Europa im Visier. Dass Maximilian im Bewusstsein der Menschen so sehr mit der Jagd identifiziert wird, gründet wohl in der Legende vom Zwischenfall in der Martinswand. Dort soll sich der Kaiser verirrt haben und ganz auf sich allein gestellt den lieben Gott um einen Retter angefleht haben, der ihn dann in der Gestalt eines Engels aus dieser misslichen und lebensbedrohlichen Lage gerettet hat. In Stams hat Maximilian beides gefunden: das Kloster als Stätte des Gebetes und des Gedenkens an den ersten großen Landesfürsten Meinhard II. wie auch ein für ihn ideales Jagdgebiet an dieser historischen Stätte. Offensichtlich hat ihn auch ein freundschaftliches Verhältnis mit dem damaligen Abt Bernhard Wälsch verbunden. Dieser war ein sehr gelehrter Mann. Bevor er den Abtstab in Stams innehatte, war er ein geschätzter Professor an der Universität Heidelberg.
7. Das große Friedenstreffen in Stams im Juli 1497
Im Sommer 1497 war Stams in aller Munde, denn der Kaiser hatte sich entschlossen, das große Treffen mit dem Abgesandten des türkischen Sultans Bayezid II. in Stams im Oberinntal abzuhalten. Dabei ging es um den Frieden mit dem nach Europa drängenden osmanischen Reich, das 1453 Konstantinopel erobert hatte und seitdem immer wieder kriegerische Beutezüge über die Balkanhalbinsel unternahm. Am 24. Juli 1497 waren auch der Legat von Papst Alexander VI., der Kurfürst von Sachsen und dessen Bruder sowie der Herzog von Bayern, die Bischöfe von Augsburg und Brixen sowie die Herzöge von Venedig, Mailand und Neapel anwesend. Anwesend war auch die zweite Frau des Kaisers, Bianca Maria Sforza. Das Treffen fand offensichtlich an einem schönen Sommertag auf der sogenannten Herzogswiese beim Kloster statt. Der Chronist berichtet ausführlich über dieses große Ereignis: „Maximilian besuchte an diesem Tag in den frühen Morgenstunden die Messe in der Klosterkirche und ging anschließend noch auf die Jagd. Das Treffen selbst begann kurz vor Mittag bei einem auf der Herzogswiese aufgestellten großen Zelt“. Neben dem Zelt ließ der Kaiser eine ziemlich große Wiese mit einem Zaun versehen, um dem türkischen Gesandten das Vergnügen einer Schaujagd zu ermöglichen. Auf diesem umzäunten Feld waren verschiedene Wildtiere und vor allem einige Hirsche, und der Gesandte hatte die Gelegenheit, mit einem Wurfspieß einen Hirsch zu erlegen. Offensichtlich war der Gesandte erfolgreich und die Verhandlungen konnten in bester Stimmung beginnen. Maximilian saß vor dem festlich geschmückten Zelt auf einem erhöht aufgestellten Thron. Anwesend war auch seine Gemahlin Bianca Maria Sforza. Zu seiner Rechten hat-
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ten der päpstliche Legat, der Gesandte aus Neapel und der Herzog von Venedig Platz genommen. Anschließend auch mehrere Grafen und Räte. Die Stühle zur Linken des Königs waren für den Kurfürsten von Sachsen und dessen Bruder bestimmt, weiters für den Herzog von Bayern und die Bischöfe von Augsburg und Brixen sowie für weitere hochgestellte Persönlichkeiten aus deren Begleitung. Der türkische Gesandte stand dem König gegenüber, ihm zur Seite Maximilians Kanzler Stürtzl und der Marschall des Rates. Es wurden Begrüßungen ausgetauscht. Der türkische Gesandte übergab ein Schreiben des Sultans und hielt eine Rede, in der es um die von Maximilian gewünschte Freundschaft mit dem Herrscher des Osmanischen Reiches und dessen positive Haltung dazu ging. Er verwendete die italienische Sprache. Der neapolitanische Gesandte übersetzte Satz für Satz ins Lateinische. Für diejenigen Anwesenden, die weder das Italienische noch die lateinische Sprache beherrschten, wurde die Rede anschließend auch in Deutsch vorgelesen. Danach zogen sich die Hauptpersonen des Treffens zu Beratungen ins Zelt zurück. Zum Schluss hielt Maximilian eine Rede in deutscher Sprache. Er sprach noch einmal von seinem Wunsch nach einem Ende der fortwährenden Waffengänge und erinnerte an den schon einmal gemachten Vorschlag, der Sultan und er mögen sich, um das Blut ihrer Völker zu schonen, zu einem Zweikampf treffen, der allein über Sieg und Niederlage entscheiden sollte. Mit der Aushändigung von Geleitbriefen für eine Gesandtschaft des Königs nach Konstantinopel und der Übergabe von Geschenken endete die Audienz. Der in Stams ausgehandelte Friedensvertrag wurde im folgenden Jahr nach weiteren Verhandlungen in der türkischen Hauptstadt unterzeichnet. Der Friede, der dabei ausgehandelt wurde, hielt über zwanzig Jahre und überdauerte sowohl die Lebenszeit Maximilians als auch die des Sultans. Erst nach deren Tod drangen erneut die moslemischen Kräfte in Europa wieder ein, was schließlich zur Belagerung von Wien führte. Die an der Audienz beteiligten Gäste blieben noch über den Sommer in Tirol, wohnten in der Umgebung von Innsbruck – vornehmlich in Hall –, nahmen an höfischen Jagdausflügen teil und wurden zu erlesenen Konzerten der Hofmusik und verschiedenen Festlichkeiten eingeladen. Die Aufenthalte Kaiser Maximilians im Kloster waren sehr erfreulich, aber, da der Kaiser häufig einen Tross von 40–60 Begleitern mitbrachte, für das Kloster auch eine finanzielle Herausforderung. Dazu kam noch, dass das Kloster auch die Hunde zu versorgen hatte, was nicht nur eine zusätzliche finanzielle Belastung war, sondern häufig viel Unruhe und Ärger verursachte. Auch die damals hohe Rechnung der Küche für das Friedenstreffen, die seitens des Stiftes an die Landesprokura geschickt wurde, wurde nie beglichen. Andererseits zeigte sich der Kaiser auch wieder großzügig und schenkte dem Kloster jährlich 60 Fuder Salz aus der Saline von Hall, und er bestätigte alle Freiheiten des Klosters, also auch die der Einnahme des Zehent. Trotz seiner vielen Verpflichtungen im Reich
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schien der Kaiser regen Anteil am Leben des Konvents genommen zu haben. Und als der von ihm geschätzte Abt Bernhard Welsch seine Resignation einreichen wollte, gestattete es der Kaiser nicht. Zwei Jahre später erlaubte er es und wollte den ihm bekannten Abt von Pfeffers aus der Nähe von Chur in Stams einsetzen. Der Konvent wehrte sich jedoch dagegen. Am 19. August 1499 resignierte Abt Bernhard Wälsch und starb kurz darauf. Als dessen Nachfolger wählte der Konvent den von Maximilian und seiner Gattin empfohlenen Christian Bedrot von Bludenz. Im Jahre 1502 verehrten Maximilian und Bianca dem Abt Christian einen silbernen, überaus schön gearbeiteten Abtstab mit ihren Porträts und Wappen, den der Goldschmied Benedikt Burkhart angefertigt hatte. Der Abtstab ist nicht erhalten geblieben.
8. Bianca Maria Sforza (1452–1510)
In zweiter Ehe nach dem Tode seiner ersten Gemahlin Maria von Burgund hatte Maximilian die Mailänderin Bianca Maria Sforza geheiratet. Auch diese Hochzeit ist dem habsburgischen Motto zuzuschreiben: „Bella gerant alii tu felix Austria nube“ (Kriege mögen andere führen, du, glückliches Österreich, heirate), Die erste Ehe schloss Maximilian 1477 mit Maria von Burgund, der Tochter Karls des Kühnen. Auch in diesem Fall wurde die Ehe bereits im Kindesalter der beiden Brautleute durch die Eltern festgelegt. Es war dann aber eine sehr glückliche Ehe. Die beiden Partner haben einander vom ersten Augenblick an attraktiv gefunden. Abgesehen von den politischen Problemen, die sich daraus ergaben, dass Maximilian in den Niederlanden zunächst nicht willkommen war und als König sogar in Gefangenschaft kam, war die familiäre Atmosphäre unbeschwert und glücklich. Dem Ehebund waren zwei Kinder geschenkt: Philipp und Margarethe. Aus der politischen Ehe war eine Liebesehe geworden. Unglücklicherweise kam Maria im jugendlichen Alter von nur 25 Jahren durch einen Reitunfall bei der Reiherjagd in der Nähe von Brüssel ums Leben. Sie wurde in der Liebfrauenkirche in Brügge beigesetzt. In den folgenden Jahren lebte Maximilian zwölf Jahre als Witwer und entschloss sich dann zur Heirat mit Bianca Maria Sforza aus Mailand. Zum einem brachte sie eine große Mitgift von etwa 400.000 Gulden mit in die Ehe, andererseits verfügte ihr Vater über gute Kontakte zum französischen König – an beidem war Maximilian sehr gelegen. Und für den Brautvater war es eine günstige Gelegenheit, den Herzogstitel zu erhalten. Ein Unterschied bestand auch darin, dass in der ersten Ehe Maximilian in den Niederlanden eingeheiratet hatte und dort der Wohnsitz der Familie war. In dieser zweiten Ehe heiratete Bianca Sforza in das Reich ihres Gatten ein und hatte den Wohnsitz in der Hofburg in Innsbruck.
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Bianca soll auch nicht so gebildet und gewandt gewesen sein wie Maria, und sie war auch nicht bereit, die deutsche Sprache zu erlernen, was Maximilian verärgerte, da er bei seiner Einheirat in die Niederlande sowohl Französisch als auch Niederländisch lernte. Mit ihrer neuen Rolle als römische Königin fand sie sich nur schwer zurecht. Selbst ein Mailänder Gesandter bemängelte, dass sie sich ihrer Würde nicht bewusst sei und zu wenig Interesse an Staatsangelegenheiten zeige. Dabei hatte sie als römische Königin und Landesfürstin der österreichischen Erblande eine wichtige Position inne. Bianca kam aus Italien, der Wiege der Renaissance. Ihre Heimat war nicht nur tonangebend in der Kunst, sondern ebenso das Land feiner Lebensart. Die antiken Begriffe von Anstand und Würde galten als Leitbilder für die Lebensgestaltung und das Benehmen. Fürstinnen pflegten einen gehobenen Lebensstil und umgaben sich mit kultivierten Gesellschaften. Ihre gesellschaftliche Rolle war bedeutend, die Gleichwertigkeit der Frau im Verhältnis zum Mann wurde betont. Man gestand ihr auch Herrschaftsqualitäten zu, wenn der Fürst aus irgendeinem Grunde für länger abwesend war. Offensichtlich entsprach Bianca Maria nicht diesem Bild einer kultivierten Fürstin, und Maximilian wunderte sich über die Gewohnheiten seiner Gemahlin. Sie besaß auch keinerlei politische Erfahrung, als sie mit Maximilian verheiratet wurde. In kirchlichen Belangen hatte sie großen Einfluss, denn sie hatte das „Recht der ersten Bitte“, das ihr als Römischer Königin bei allen freiwerdenden kirchlichen Benefizien zustand. Von diesem machte Bianca Maria mehrfach Gebrauch. Auch zahlreiche Empfehlungsschreiben sind überliefert, desgleichen auch eine Gnadenbitte für eine Freiburgerin, die ihr Kind ausgesetzt hatte. Ein Problem war auch der große Hofstaat der Kaiserin, denn er umfasste bisweilen über 200 Personen, die alle zu verköstigen waren. Das großteils italienische Gefolge der Königin war wohl eine Belastung für die Ehe. Im Herbst 1497 kehrten etliche Mitglieder von Biancas Hofstaat, die aus Mailand mitgekommen waren, wieder nach Italien zurück. Bianca Maria unterhielt vielfach Kontakt zu Italien. Sie war Ansprechpartnerin für italienische Gesandte und ging mit ihnen auch auf die Jagd. Als die venezianischen Gesandten im Jänner 1502 nicht zum Hofball eingeladen waren, wollte auch sie nicht daran teilnehmen.
9. Die Krankheiten der Kaiserin
Während Maximilian sich bester Gesundheit erfreute und sich nur gelegentlich bei seinen zahlreichen Turnieren verletzte, war Bianca Maria seit ihrer Ankunft in Innsbruck häufig krank. Im Juli 1498 litt sie einige Tage an Fieber und Husten, im Mai 1501 erkrankte sie wiederum und litt immer wieder an Fieber. Es wurden Kuraufenthalte in südlicher Ge-
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gend empfohlen, etwa in Trient. Aber Maximilian war damit nicht einverstanden und meinte, die Königin sollte sich innerhalb des Reiches bei guter und gesunder Luft in Lienz erholen. 1510 hielt sich Bianca Maria dann doch in Trient auf und hätte nach der großen Feier des Faschings im Februar gemeinsam mit Maximilian zum Reichstag nach Augsburg aufbrechen sollen. Die Kaiserin weigerte sich aber. Im August erfuhr Maximilian beim Jagdaufenthalt im Tiroler Oberinntal von der Verschlechterung der Krankheit seiner Gemahlin. Er zeigte sich besorgt, wollte aber doch, dass sie ihn zum Reichstag nach Deutschland begleite, da es auf diesem Reichstag um Probleme und Entwicklungen in Italien (Venezien) ging und er aus diesem Grund die Begleitung seiner aus Mailand stammenden Gattin als notwendig erachtete. Als sich auch ihr Leibarzt gegen eine solche Reise aussprach, nahm der Kaiser die Berichte über die Krankheit seiner Gemahlin doch ernst. Im Dezember 1510 berichtete Maximilian seiner Tochter Margarethe in den Niederlanden, dass ihre Stiefmutter bereits seit einiger Zeit sehr krank sei und an Fieber leide, wodurch sie ganz abgezehrt sei. Sie wünsche immer nur zu trinken und wolle nichts zu essen, und „sie beginne Wasser zu haben“. Er ersuchte die niederländische Regentin, ein Gutachten von zwei oder drei Ärzten in Löwen einzuholen, wie dieser Krankheit abgeholfen werden könnte.
10. Der Tod der Kaiserin
Doch die Bitte um medizinische Hilfe aus den Niederlanden kam zu spät, denn in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 1510 um zwei Uhr morgens starb Bianca Maria in der Innsbrucker Hofburg im Alter von 38 Jahren. Aus Freiburg teilte Maximilian seiner Tochter am 3. Jänner 1511 den Tod ihrer Stiefmutter mit. Die Nachricht vom Ableben der Kaiserin hatte er von ihrem Hofmeister Laubenberg erhalten. Ihm dankte er auch dafür, dass sie mit den Sterbesakramenten versehen worden war. Noch am Todestag wurde die Leiche der Kaiserin mit verschiedenen Ölen einbalsamiert und mit einem Totengewand bekleidet. Das Kleid aus schwarzem Samt war mit einem goldenen Ringmuster versehen, und über den hirschledernen Handschuhen trug sie zwei Goldringe mit einem Diamanten und einem Rubin. Um die rechte Hand hatte sie einen Rosenkranz aus Korallen geschlungen, auf dem Kopf trug sie eine vergoldete silberne Krone mit einem „raif, darauf ein Creutzl, wie die Herzoge von Österreich das fueren“. Um die Taille hatte sie einen goldenen welschen Gürtel, um den Hals ein kleines Perlenhalsband. Unter ihrem Kopf lag ein goldenes Kissen, unter ihren Füßen eines aus Samt. So wurde sie in einen Holzsarg gelegt, über den eine goldene Decke und darüber eine schwarze Samtdecke gebreitet wurden. In den Sarg legte man einen Zettel mit ihrem Namen, ihrer Stellung und ihrem Todesdatum.
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Am Neujahrstag 1511 fand die feierliche Überführung der Leiche aus der Hofburg in die St. Jakobskirche statt. Zahlreiche Geistliche, angeführt vom Abt von Wilten, begleiteten den Trauerzug. Adelige trugen den Sarg. Es folgten der Hofmarschall, die Mitglieder der Behörden, die Inhaber der Hofämter sowie der Innsbrucker Stadtrat mit dem Bürgermeister an der Spitze. Auch Francesco Sforza und Graf Melzo nahmen an diesem Kondukt teil. Die Hofdamen schlossen sich in geborgten Trauermänteln an. Kaiser Maximilian war zu dieser Zeit in Freiburg und so beim Begräbnis nicht anwesend. Er kehrte erst im Juni 1511 wieder nach Innsbruck zurück. In der St. Jakobskirche waren Wände, Chor und Gestühl mit schwarzen Tüchern verhängt, ebenso die Altäre. Vor dem Hochaltar stand der Katafalk, mit Decken aus Goldstoff und schwarzem Samt bedeckt. In zwölf bronzenen Leuchtern rund um das Totengerüst brannten Kerzen, und die Priester sangen eine feierliche Vigil. Um die Innsbrucker Bevölkerung zur Teilnahme an den Gottesdiensten zu motivieren, erhielt jeder Teilnehmer einen Kreuzer.
11. Der Leichenzug nach Stams
Am Morgen des 2. Jänner 1511 wurde in der St. Jakobskirche ein Seel- und Lobamt gehalten, das zahlreiche Geistliche aus Innsbruck und Umgebung zelebrierten. Auch 1655 Arme nahmen an den Gottesdiensten teil und erhielten dafür je einen Kreuzer. Danach setzte sich der Leichenzug nach Stams in Bewegung. Der Hofkutscher führte den Leichenwagen an. Ihm folgten in vier Wagen Geistliche und Hofbeamte. Weit größer war die Zahl jener armen Leute, die für das letzte Geleit der Landesfürstin ein Almosen erwarten konnten. 615 Arme gingen offenbar zu Fuß bis nach Stams mit und erhielten dafür je einen Kreuzer. Der Leichenzug verließ Innsbruck durch das Inntor, über die Innbrücke ging es entlang des linken Flussufers zunächst nach Zirl, wo erneut der Inn überquert wurde. Anschließend zog man am rechten Innufer zum Kloster Stams. Am Nachmittag des 3. Jänner fand in der Stiftskirche von Stams die feierliche Beisetzung statt, an der 550 Arme teilnahmen, die dafür wiederum je einen Kreuzer erhielten. Der Sarg war im Chor der Kirche aufgestellt. Die endgültige Beisetzung musste verschoben werden, weil der Kupfersarg noch nicht fertiggestellt war. Der Kaiser gab alle Anordnungen schriftlich aus Freiburg, regelte auch die Hinterlassenschaft der Kaiserin und fügte auch Anweisungen den Hofstaat betreffend bei. Alle Angehörigen ihres Hofes sollten bis zum 30sten – also bis zur letzten offiziellen Totenfeier – in Innsbruck bleiben. Der Kaiser sorgte sich vor allem um die Alten, die Kranken und Debilen. Sie sollten nach der Auflösung des Hofstaates nicht ins Elend geraten. Am 10. Februar 1511 fanden die Begräbniszeremonien mit dem „30-igsten“ ihren Abschluss. Das Seelenamt in der St. Jakobskirche, gefeiert vom Abt von Stams und
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anderen Geistlichen, begann mit nächtlichen Vigilien und wurde von den Mitgliedern des Hofes und 2468 Armen gefeiert, die jeweils mit einem Kreuzer bedacht wurden. Eine eigene Totenfeier, an der der Kaiser selbst teilnahm, fand an diesem Tag auch im Freiburger Münster statt. Der Humanist Ulrich Zasius hielt dabei die Trauerrede. Er pries die vornehme Herkunft, Schönheit und besonders die Tugend der Verstorbenen: „Gottesfürchtigkeit, Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit“. Ihre Sittlichkeit sei Vorbild für „ihre Frauenzimmer“ gewesen, womit er elegant über die Kinderlosigkeit der Kaiserin hinwegging. In Freiburg trafen wichtige Kondolenzschreiben ein. Papst Julius II. kondolierte am 31. Jänner 1511 und versprach, für die Verstorbene, die eine gute und fromme Königin und eine treue Anhängerin des Papstes und des Heiligen Stuhls gewesen sei, zu beten. Auch einige Kardinäle, denen der Kaiser den Tod seiner Gemahlin mitgeteilt hatte, versprachen, für die Verstorbene zu beten. In Spanien zeigte sich König Ferdinand über den Tod der Kaiserin betrübt, doch meinte er, Bianca Maria habe gewiss die Drangsal dieser Welt mit dem Himmel vertauscht, weshalb man sich über ihren Tod eher freuen sollte. Maximilians Ehe mit seiner zweiten Gemahlin war von häufiger Abwesenheit gekennzeichnet. Trotzdem versuchte er, die unter der Einsamkeit leidende Gemahlin wenigstens von Zeit zu Zeit zu sehen. Sie verbrachten gelegentlich schöne gemeinsame Tage und feierten auch fröhliche Feste. Anlass zu Festlichkeiten boten auch die Hochzeiten von Hofdamen. Maximilian war ein eifriger Ehestifter, der einen ständigen Wechsel der Hofdamen liebte. Maximilians Ehe mit Bianca Maria Sforza war letztlich ein Gewinn für das Haus Habsburg. Denn durch diese Heirat war der König und spätere Kaiser intensiv in die Geschicke Mailands involviert, sodass das Herzogtum nach dem Aussterben der Sforza problemlos in habsburgische Hände übergehen konnte.
12. Bauernaufstände und Einfall des Moritz von Sachsen
Bei der Abtwahl des Nachfolgers für Christian Bedrot wurde Belagius Baur von Isny zum Abt erwählt. Auf diese Wahl am 11. Mai 1525 nahm der damalige Landesfürst Ferdinand I. Einfluss, was unter der Bevölkerung für Verstimmung sorgte. Der Chronist berichtet: „Schon nach wenigen Tagen entstand jene fürchterliche Empörung der Bauern, welche das Kloster Stams durch gewalttätige Plünderung des Klosters und mehrerer Pfarrhöfe durch Entziehung des Zehenten und anderer Einkünfte hart genug empfinden musste.“ Die aufständischen Oberinntaler stürmten Mitte Mai haufenweise das Kloster Stams, vertrieben den Abt und die Mönche, raubten, was ihnen in die Hände fiel und – was besonders bedauerlich ist – auch schriftliche Urkunden. Sie schleppten die Lebensmittel fort, trieben das Vieh mit sich und hielten das Kloster selbst einige Zeit mit einer Schar wilder Männer
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besetzt, bis sie endlich auf Befehl des Erzherzogs Ferdinand, welcher die Güter von Stams für die fürstliche Kammer in Anspruch nahm, das Kloster räumten! Der Chronist Lebersorg ergänzt noch: „Dass der Bauernaufstand am heftigsten in den Regionen an der Etsch tobte und sich als Hauptanführer Michael Gaismaier hervortat, der neben den übrigen kirchlichen und pfarrlichen Häusern auch unser Haus bzw. unseren Besitz zu Mais mit einer Schar, der sich niemand entgegenstellen wollte oder konnte, nicht nur plünderte, sondern auch Fenster, Öfen, Wände und andere Baulichkeiten mutwillig zertrümmerte und zerstörte.“ Die folgenden Jahrzehnte gehörten zu den bittersten in der Geschichte des Stiftes, das von der Pest und einer verheerenden Heuschreckenplage heimgesucht wurde. „Allen Drangsalen setzte der schmalkaldische Überfall im Jahre 1552 unter der Führung des Herzogs Moritz von Sachsen die Krone auf. Im nämlichen Jahr nahm dieser völlig unvermutet gegen Kaiser Karl V. Stellung, der sich gerade in Innsbruck aufhielt, und marschierte in Tirol ein. Nach der Eroberung der Festung Ehrenberg rückte er mit einer starken Truppe über das Mieminger Plateau, wo fünfzehn Bauernhöfe in Flammen aufgingen, nach Innsbruck vor, um den Kaiser gefangen zu nehmen. Dieser konnte jedoch rechtzeitig fliehen. Auf dem Rückweg verließ eine Abteilung beutehungriger Söldner die Truppe, zweigte von der Hauptstraße ab und stürmte das Kloster Stams. Der Abt und die Mönche konnten in letzter Minute fliehen und vermochten nicht, die schrecklichen Plünderungen und Zerstörungen in allen Teilen des Klosters und in der Kirche zu verhindern. Selbst die Gräber der Fürsten und ihrer Familien wurden aufgebrochen und geschändet. Der Chronist Lebersorg brauchte zweieinhalb Seiten für die Aufzählung, auch nur der wichtigsten von den zerstörten und geraubten Gegenständen. Einige silberne Gefäße hatte der Abt auf seiner Flucht zu Pferd nach Wenns mitnehmen können. Der Klostermesner Pater Johannes Kälbel rettete das Haupt des Zacharias, den Bischofsstab und einige andere Schätze.
13. Erzherzog Ferdinand II. und die Gegenreformation
Die äußeren Katastrophen der Kriege und Plünderungen waren für das Stift sehr schmerzhaft und brachten große Verluste. Noch verhängnisvoller war aber der innere Verfall der Klostergemeinschaft. Die neuen religiösen Ideen der Reformation hatten das Klosterleben unterhöhlt. Disziplin und Frömmigkeit gingen weitgehend verloren, und viele Mönche verließen das Kloster. So sah sich der Abt Belagius gezwungen, „einige flüchtige Zisterzienser aus Lobenhausen und einige Weltpriester aufzunehmen, um den Stiftungsverbindlichkeiten möglichst Genüge zu leisten.“ Der Abt wandte sich in einem Schreiben an den Landesfürsten Ferdinand II. und an den Bischof von Brixen und bat sie, ihn bei der Erneuerung des
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kirchlichen und klösterlichen Lebens im Kloster zu unterstützen. Erzherzog Ferdinand II., Bruder des seit 1564 in Prag regierenden Kaisers Maximilian II., hatte 1564 nach der neuerlichen Länderteilung der Habsburger in Innsbruck seine Residenz aufgeschlagen. Eine seiner Hauptaufgaben sah er darin, den katholischen Glauben seiner Untertanen zu stärken und eine Reform der Kirche und ihrer Institutionen im Sinne des gerade zu Ende gegangenen Konzils von Trient durchzusetzen. Offenbar trugen diese Bemühungen im letzten Viertel des Jahrhunderts sowohl für das ganze Land als auch für das Kloster Stams bereits Früchte. Auf seiner Visitationsreise im Jahr 1578 stellte jedenfalls der päpstliche Nuntius in Österreich, der Dominikaner Feliciano Ninguarda, dem damaligen Abt Johannes Kölbel und dem ganzen Konvent ein sehr günstiges Zeugnis aus. Eine neuerliche Katastrophe hätte die so spürbare Aufwärtsentwicklung fast noch einmal gebremst. 1593 zerstörte ein Großbrand die Wallfahrtskirche zum heiligen Johannes, einige Häuser des Dorfes und die aus der Gründungszeit stammenden, zum Großteil aus Holz errichteten Wirtschaftsgebäude des Klosters. Auch das Dach der Stiftskirche wurde in Mitleidenschaft gezogen. Es hätte überhaupt schlimmer kommen können, „wenn nicht Gott selbst sowohl dem Wind Einhalt geboten als auch einen unerwarteten Regen geschickt hätte, durch den das Bestehende befeuchtet wurde und daher die umherfliegenden Funken nicht mehr so leicht aufnehmen konnte“.
14. Maximilian III. der Deutschmeister (1558–1618)
Nach dem Tod von Ferdinand I. wurden 1564 die Habsburgischen Länder erneut geteilt. Mit Ferdinand II. erhielt Tirol wieder einen eigenen Landesfürsten. Wegen seiner nicht standesgemäßen Ehe mit Philippine Welser konnte jedoch daraus kein eigener herrschaftsberechtigter Zweig der Dynastie entstehen. Daher schickte nach Ferdinands Tod Kaiser Rudolf auf Drängen der Tiroler 1602 seinen Bruder Maximilian nach Tirol. Als dieser, der schon als Hochmeister des Deutschen Ordens in Mergentheim ein strenges, gottgefälliges Leben geführt hatte, im Jahre 1602 in Tirol eintraf, galt sein erstes Ziel der Festigung der Kirche, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unterstützte. Die Klöster – und hier vor allem das Zisterzienserstift Stams – waren dem Landesfürsten ein großes Anliegen. Mit der Abtwahl von Melchior Jäger 1601 setzt der Chronist Kasimir Schnitzer den Beginn einer neuen Blütezeit des Stiftes an. Ein Hauptverdienst um die Wende im Schicksal des Klosters kommt dabei dem Landesfürsten Maximilian III. zu. Nach dem Konzil von Trient entwickelte sich Tirol zu einem Zentrum der Gegenreformation. Den Höhepunkt erreichte diese Bewegung unter Maximilian III. Bald nach seinem feierlichen Einzug als Landesfürst in Innsbruck im Jahre 1602 begab er sich in das Kloster Stams zur Ruhestätte der alten Fürsten und Herren (und der Frauen und Kinder),
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wo auch sein eigener Bruder, der jung verstorbene Prinz Friedrich, bereits bestattet war. Von der Lage des Ortes war er angetan. Mit Abt Melchior Jäger verstand er sich offensichtlich gut, und Mitleid gegenüber dem allenthalben so beschädigten Stift hatte ihn ergriffen. Sogleich beschloss er, das „gänzlich schadhafte Mausoleum“ in einen besseren Zustand zu versetzen. In der Folge unterstützte Maximilian wiederholt dem Stift mit beträchtlichen Beträgen unter die Arme. Als Landesherr bestätigte er dem Kloster alle seine Gerechtigkeiten und befahl durch eine eigene Urkunde, dass dessen Zoll- und Weggeldbefreiung nicht mehr angefochten und die 200 Dukaten demselben ohne Vorenthalt entweder „in wirklichen oder gleichviel geltenden Münzsorten“ ausbezahlt werden sollten. Denn da er den Stiftsbrief von Herzog Friedrich IV. selbst gelesen hatte, sprach er zu seinen umstehenden geheimen Räten: „Behüte uns Gott davor, dass wir wegen dieser Stiftung unsere Seele dem Teufel zum Pfand geben und Gefahr ewiger Verdammnis sollten setzen.“ Ein Zeichen der großen Verbundenheit des Landesfürsten mit dem Stift und Abt Melchior ist auch der aus Elfenbein gearbeitete und mit dem Monogramm des Fürsten versehene Abtstab, den Maximilian 1603 dem Abt zum Geschenk machte und der heute noch erhalten ist. Bei seiner ersten Ankunft in Stams äußerte Erzherzog Maximilian den Wunsch, seine Lebenstage an diesem Ort zubringen und beschließen zu können. „Von einem so mächtigen Gönner unterstützt und sowohl durch fleißiges und kluges Einbringen der Gefälle, als auch durch weise und vorsichtige Verwendung der selben gefördert“, wurde es Abt Melchior nach und nach möglich, sein Kloster von der drückenden Last der Schulden zu befreien. Nun konnte er beginnen, die Klostergebäude samt der Kirche wiederherzustellen, und scheute auch keine Unkosten, um „nicht nur sein Kloster zu bevölkern, sondern auch mit den größten Schätzen der Tugend und wahren Weisheit zu bereichern, indem er seine jungen Mönche zur höheren Ausbildung in den Wissenschaften auf auswärtige berühmte Lehranstalten schickte“, wodurch er nicht nur die Zahl seiner Religiosen auf einen historischen Höchststand vermehren konnte, sondern in ihnen auch den Grund zu jenem klösterlichen Wohlstand legte, zu welchem sich Stams unter seinen Nachfolgern emporschwang. Erzherzog Maximilian setzte auch unter dem am 29. Juni 1615 zum Abt gewählten Thomas Lugga seine Wohltätigkeiten gegenüber Stams fort. Am 27. März 1617 wies er dem Abt zweitausend Gulden zur Fortsetzung des angefangenen Hausbaues an. Weil er wirklich entschlossen war, „sich an diesem Ort gänzlich in die Ruhe zu begeben“. Allein Gott fügte es anders: „Erzherzog Maximilian verstarb unerwartet am 2. November 1618 in Wien, wohin er sich begeben musste, um ein Missverständnis zwischen Kaiser Matthias und König Ferdinand zu bereinigen. Noch von Wien aus schickte er seinen Kammerherren Rosenberg nach Stams zurück, mit seinem letzten Willen: „Das neue erbaute Haus solle des Klosters Eigentum sein“ und mit dem letzten Geschenk von Barem über 10.000 Gulden, womit Abt Thomas die Milserkapelle (Blutskapelle) erneuerte. In diese Kapelle
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„übersetzte er mit großer Feierlichkeit die schon über achtzig Jahre verborgene Reliquie des Hl. Blutes Christi“. Erzherzog Maximilian III. der Deutschmeister wurde aber dann nicht in der Stamser Gruft beigesetzt, wie es ursprünglich sein Wille gewesen wäre, sondern in einem eigenen Grabmal in der St. Jakobskirche, dem heutigen Dom in Innsbruck.
15. Die Verwaltung Tirols von Wien aus
Da Maximilian als Deutschordensmann ehelos war, hatte er keine eigenen Erben, und so folgte auf ihn 1618 Leopold V., zuerst als Statthalter, dann als Landesfürst. Er war vorher Bischof von Passau gewesen, hatte auf dieses Amt jedoch verzichtet und Claudia Medici geheiratet. Diese wiederum regierte das Land nach dem Tode ihres Gatten ab 1632 umsichtig für den unmündigen Ferdinand Carl. Sie lenkte Tirol durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Mit dem Tod des verschwenderischen Ferdinand Carl und seines Bruders Sigmund Franz erlosch die Tiroler Linie endgültig. Tirol wurde von Wien aus regiert. Dass die Habsburger dieser Zeit immer wieder mit dem Stift in Beziehung standen, zeigen mehrere Urkunden, die die Rechte und Privilegien des Stiftes betrafen und bestätigten. Ferdinand Carl band den Stamser Abt enger an die Regierung. Er ernannte 1651 Abt Bernhard Gemelich zum Mitglied des Geheimen Rates und 1652 zum Hofkammerpräsidenten. Kaiser Karl VI. erteilte Abt Augustin II. Kastner durch eine am 12. Jänner 1717 in Wien gefertigte Urkunde den Titel und die Würde eines „kaiserlichen Rates“ und ernannte ihn und alle seine Nachfolger zum „kaiserlichen Hofkaplan“.
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Kaiserin Maria Theresia, die sich ja häufig in der Innsbrucker Hofburg aufgehalten hat, schenkte dem Kloster einen von ihr persönlich bestickten Festornat, von dem allerdings nur noch das Messkleid im Stift erhalten geblieben ist, da das nationalsozialistische Regime während der Aufhebung des Klosters von 1939 bis 1946 alle Dalmatiken und Pluviale in die Theater nach Innsbruck und Wien abgezogen hatte, um daraus Kostüme zu fertigen. Zu erwähnen ist noch Josef II. Sein Verhältnis zu den Klöstern war eher nicht von Wohlwollen getragen. Er löste zahlreiche Klöster in Österreich auf, so auch 1785 das Augustiner-Eremitenkloster in Seefeld. Der Bau dieser Anlage war 1516 schon unter Kaiser Maximilian begonnen worden und wurde 1604 fertiggestellt. Neben der Seelsorge hatten die Mönche auch eine Brauerei und Forstwirtschaft inne, daneben auch die niedrige Gerichtsbarkeit. Die Pfarre Seefeld wurde nach der Aufhebung des Augustiner-Klosters dem Stift Stams übertragen. Das Stift wurde verpflichtet, gegen ein Entgelt die zum Kloster gehörenden Grundstücke zu erwerben, die allerdings zu späterer Zeit auf ungünstige Weise veräußert wurden. Stift Stams entging der Auflösung, indem man ziemlich rasch einen Anbau für eine Krankenanstalt errichtete. Damit war der Forderung nach sozialer Betätigung Genüge getan. Als Abt Vigil Granicher 1786 starb, dauerte es vier Jahre, bis ein neuer Abt gewählt werden durfte, da Josef II. nicht nur die Aufnahme neuer Novizen, sondern auch eine Abtwahl verboten hatte. Für die folgenden Jahre ist noch die besondere Initiative des Stamser Abtes Sebastian Stöckl für das Herz-Jesu-Gelöbnis zu erwähnen. Angesichts der Bedrohung durch die Franzosen brachte er im Landtag den Antrag ein, das Land Tirol dem Herzen Jesu zu weihen. Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen und am 1. Juni 1796 in der Pfarrkirche zu Bozen (dem heutigen Dom) in einer großen Feier als Gelöbnis vollzogen. Bald darauf kam es zu den großen Kriegen und dabei zum betrüblichen Friedensschluss von Pressburg (Bratislava) am 26. Dezember 1805. Dabei musste Österreich das Land Tirol an Napoleon abtreten, und dieser gab es weiter an seinen Verbündeten, den König von Bayern. Am 16. September 1807 wurden alle noch bestehenden Tiroler Klöster „unter Administration“ gestellt, was einer Auflösung gleichkam. Der Abt und ein paar ältere Mönche durften zwar weiter im Kloster wohnen, allerdings in sehr eingeschränkter Weise und unter größeren Schikanen. Große Teile des Stiftseigentums wurden abtransportiert. Die Bücher wurden der zu einem Lyzeum degradierten Innsbrucker Universitätsbibliothek übergeben. Sie wurden nach der Wiedererrichtung des Klosters nicht wieder zurückgegeben, sodass ein großer Teil der Stamser Handschriften sich auch heute noch in der Universitäts- und Landesbibliothek in Innsbruck befindet. Nach Ende der Napoleonischen Kriege erging am 1. April 1816 ein kaiserliches Dekret zur Wiederherstellung der sechs
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German Erd
Fürstengruft
Tiroler Stifte. Eine Entschädigung für die von den Bayern entwendeten Gegenstände war nur in bescheidenem Maße vorgesehen.
16. Das Ende der Monarchie
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges zerfiel Österreich-Ungarn, und damit endete die Herrschaft des Hauses Habsburg. Die Beziehungen des Stiftes zum Hause HabsburgLothringen blieben aber dennoch erhalten. Immer wieder kam Dr. Otto von HabsburgLothringen zu Besuch nach Stams, wo ihm auch die Ehrenbürgerschaft verliehen wurde. Nach der Seligsprechung des letzten Kaisers Karl, der auch der letzte gefürstete Graf von Tirol war, wurde eine Reliquie von ihm nach Stams überführt und auf Initiative von Landeshauptmann DDr. Herwig van Staa am 20. Oktober 2007 vom Generalabt des Zisterzi-
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enser-Ordens, Dom Mauro Esteva, feierlich in der Gruft eingesetzt und eine Bronze-Büste des Kaisers in der Basilika aufgestellt. Diesem feierlichen Akt wohnten auch der Erzbischof von Luxemburg, Fernand Franck, der Bischof von Innsbruck, Manfred Scheuer, sowie die Äbte aller Tiroler Stifte aus Nordund Südtirol bei. Ebenso anwesend war Seine Kaiserliche Hoheit Dr. Otto von Habsburg mit seinen beiden Söhnen, den Erzherzögen Karl und Georg, sowie die Erzherzöge Lorenz, Carl-Christian und Simeon, wie auch die Landeshauptleute DDr. Herwig van Staa von Nordtirol und Dr. Luis Durnwalder von Südtirol. Weiters umrahmten viele Traditionsverbände und Schützenkompanien sowie die KÖL Ostaricia Innsbruck und die Bernardia Stams diesen Festakt.
Quellenverzeichnis Festschrift „700 Jahre Stift Stams“, Eigenverlag, Stams 1973 Forcher, Michael: „Kleine Geschichte Tirols“, Haymon Verlag, Innsbruck 2006 Forcher, Michael: „Stift Stams – Ein Tiroler Juwel mit wechselvoller Geschichte“, Haymon Verlag, Innsbruck 2016 Forcher, Michael und Christoph Haidacher: „Kaiser Maximilian I“. Tirol – Österreich – Europa, Haymon Verlag, Innsbruck 2018 Gundolf, Hubert: „Heiligtümer auf blutigem Boden“, Berenkamp Verlag, 1995 Köfler, G. und Michael Forcher.: „Die Frau in der Geschichte Tirols“, Haymon Verlag, Innsbruck 1986 Lebersorg OCist, P. Wolfgang: „Chronik des Klosters Stams“, hrsg. vom Tiroler Landesarchiv, Nr. 42, Ed. Christoph Haidacher, Innsbruck 2000 Primisser OCist, P. Kassian: „Annales Stamsenses“, Archiv Stift Stams, 1771 Weiss, Sabine: „Die vergessene Kaiserin: Bianca Maria Sforza – Kaiser Maximilians zweite Gemahlin“, Tyrolia Verlag, Innsbruck 2010 Weiss, Sabine: „Maximilian I. – Habsburgs faszinierender Kaiser“, Tyrolia Verlag, Innsbruck 2018 Wiesflecker, Hermann: „Meinhard II.“, Veröffentlichungen der Uni Innsbruck, Bd. XVI, Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 1955 Wiesflecker, Hermann: „Maximilian I. – Die Fundamente des Habsburgischen Weltreiches“, Verlag für Geschichte und Politik, Wien 1991 Wiesflecker, Inge: „Zur Religion Kaiser Maximilian I.“, in: „Maximilian 1“, Aufbruch in die Neuzeit, hrsg. v. M. Frenzel, Chr. Gepp, M. Wimmer, Haymon Verlag, Innsbruck 2019
HIC EST MAGNVS IMPERATOR BONI FRVCTVS BONVS SATOR Johannes Neuhardt
So steht es in klassischem Latein an dem im Dom zu Aachen aufbewahrten Karlsschrein. Heute soll dieser Satz aber nicht auf Karl den Großen angewendet werden, sondern auf einen Erzbischof von Salzburg, der durch seine kluge Politik dieses geistliche Erzstift während des fürchterlichen 30-jährigen Krieges zu einer Insel des Friedens machen konnte. Die Rede ist von Paris Graf Lodron1. Das Welschtiroler Adelsgeschlecht, aus dem er stammte, hat Kaiser Friedrich III. 1452 in den Reichsgrafenstand erhoben. Es führt als Wappen den nach rechts steigenden Löwen mit dem geflochtenen Schweif, von den Salzburgern meist Brezelschweif genannt. Sie ahnen nicht, dass sie damit ihrem Fürsten höchstes Lob zu Füßen legen. 30 Jahre Frieden im Land, denn nur im Kriegsfall musste man am Schweif des Löwen ziehen, sodass sich ein Knoten gebildet hätte. Paris Lodron musste dies nie tun. 120-mal begegnet man in Salzburg diesem Ehrfurcht gebietenden Tier. Ja, Paris Lodron war ein bedeutender Reichsfürst, der wahrhaft gute Saat ausgestreut hat. Im Schloss Noarna hoch oben über dem Etschtal kam er am 13. Februar 1586 zur Welt. Obwohl er der erste Sohn seiner Eltern war, stellte sich doch bald heraus, dass er dem geistlichen Stande sein Leben widmen werde. Zwar hatten einige von Neid geplagte Zeitgenossen diesem 32-jährigen Welschtiroler Grafen attestiert, er wäre wohl ein besserer General geworden. Trotzdem dürfen wir heute von großer Bewunderung erfüllt sagen, er wurde auch ein guter Bischof. Am 13. November 1619 wählten ihn die 14 anwesenden Domherren schon im ersten Wahlgang zur ihrem neuen Oberhaupt. Dies war nicht verwunderlich, denn in den letzten Jahren der Regierung seines Vorgängers, Erzbischof Markus Sittikus Graf von Hohenems, wurde er als Dompropst stets zu allen wichtigen Entscheidungen mit herangezogen. In den folgenden Ausführungen dieses kleinen Beitrages soll zum ersten Mal aber nicht die reichspolitische Bedeutung dieses Kirchenfürsten zwischen Habsburg und Wittelsbach 1
Zum Ganzen vgl. Reinhard Heinisch: Paris Graf Lodron-Reichsfürst und Erzbischof von Salzburg, Wien-München 1991
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behandelt werden – hier geht es nur um die Fertigstellung seiner Kathedrale2. Welche Botschaft kündet sie uns? In einem kurzen Rückblick soll auf die Vorgeschichte das Augenmerk gelenkt werden. In dem bedeutendsten und sicher auch am reichsten ausgestatteten Sakralbau im Südosten des Reiches war am 15. Dezember 1598 ein Brand ausgebrochen. Die gesamte Dachlandschaft, aber auch das anschließende Domkloster fiel den Flammen zum Opfer. Der kaum 40-jährige Erzbischof Wolf Dietrich von Raitenau (1587 bis 1612) sprach diesem 800-jährigen Gotteshaus das Todesurteil! Obwohl das Gewölbe des Baues standgehalten und im Inneren der Schaden des Brandes zu reparieren gewesen wäre, hat er in einem elfjährigen Vernichtungswerk die Kathedrale dem Erdboden gleichmachen lassen. Die verzweifelten Bürger haben versucht ihn davon abzuhalten – vergeblich. Stadtrat und Bürgermeister sind bei Seiner hochfürstlichen Gnaden wiederholt vorstellig geworden und haben ihn daran erinnert, dass dieses Gotteshaus der heilige Virgil (+ 784) erbaut habe. Aber Wolf Dietrich war nicht mit Pietät belastet! Er soll zur Antwort gegeben haben: „Ach was, Virgil – Maurer haben ihn gebaut.“ Sein Konzept, aus einem mittelalterlichen Kleinstädtchen das deutsche Rom zu machen, stand längst in seinem Kopf fest. Er ließ sich den Palladioschüler Vincenzo Scamozzi kommen, der dem Fürsten am Reißbrett die Gestalt des Neuen Salzburg entwarf. Nach mehreren vergeblichen Versuchen – auch Scamozzi lieferte Pläne für einen neuen Dom – brachte der Sturz des Erzbischofs (1612) das jähe Ende all dieser Pläne. Der heutige Dom ist ein kompletter Neubeginn seines Nachfolgers. Markus Sittikus Graf von Hohenems hat sofort nach Regierungsantritt die Fühler nach einem neuen Plan ausgestreckt. Seit den Forschungen des Seckauer Benediktiners P. Benno Roth kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass der Baumeister des Hochaltars in der Domkirche von Seckau, Santin Solari, identisch ist mit dem nun 1613 in Salzburg tätigen Planverfasser des jetzigen Domes. Er gehört zur Gruppe der „Magistri Intelvesi“, jener italienischen Bauleute, die aus dem Intelvital (bei Como) im frühen 17. Jahrhundert das Baugeschehen nördlich der Alpen wesentlich mitbestimmt haben. In zahlreichen Klöstern, Stifts- und Domkirchen findet man ihre Handschrift. Es muss also klar sein, dass beim Regierungsantritt von Paris Graf Lodron der Dom bereits bis zur Dachgleiche gediehen war. Santino Solari starb 1646 in Salzburg.3 Am 14. April 1614 fand die Grundsteinlegung des neuen Domes statt. Da kaum Belege der Bauführung erhalten sind, wissen wir über die beteiligten Handwerker und Künstler 2 3
Johannes Neuhardt: Der Dom zu Salzburg, Regensburg 1998 Ingeborg Wallentin: Der Salzburger Hofbaumeister Santio Solari (1576–1646), masch. Diss., Salzburg 1985
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so gut wie nichts.4 Das hervorstechendste Merkmal dieses „italienischsten Baues nördlich der Alpen“ (A. Riegl) stellt der Gegensatz zwischen seinem glatten, mit Nagelfluh verkleideten Baukörper und der ganz mit Untersberger Marmor inkrustierten, plakatartigen Schauwand seiner Fassade dar. Diese misst 50,5 Meter in der Breite und die Türme 79 Meter in der Höhe. Sie besteht aus einem dreiachsigen und einem giebelbekrönten Mitteltrakt, den die beidseitig vorspringenden Türme flankieren. Ihre Gliederung erfährt die Fassade durch zwei kräftige, horizontal laufende Gesimse, deren Kapitelle von der Riesenordnung getragen werden. Das obere Geschoß gliedern ionische und die beiden Turmgeschoße korinthische Kapitelle. So viel also zur Vorgeschichte; welchen Anteil aber hat jetzt Erzbischof Paris Graf Lodron? Dieser bezieht sich vor allem auf die Innenausstattung und das theologische Programm des ganzen Kirchengebäudes. Davon soll nun ausführlich die Rede sein.
1. Die theologische und die reichspolitische Bedeutung dieses Baues
In einer erstaunenswert kurzen Bauzeit von knapp 14 Jahren wurde dieser, im Geschmack des italienischen Frühbarock errichtete Bau konzipiert. Grundriss ist ein lateinisches Kreuz; dieses entspricht einem „Gehraum“. Da in der Liturgie der Bischofskirche und durch die im Dom beheimateten Bruderschaften viele Prozessionen anfielen, schien wohl diese, auf das Erwandern des Inneren abgestimmte Raumform sehr geeignet. Die theologische Botschaft dieses Raumes ist also, die Wirklichkeit irdischer Pilgerschaft in Stein umzusetzen. Das pilgernde Volk Gottes weiß sich hier, in der in Stein umgesetzten Theologie des Konzils von Trient, geborgen. In der Ergründung der theologischen Aussage muss man natürlich bei der Fassade beginnen. Es fließen hier mehrere Komponenten ineinander. Das eine ist die Grundbotschaft des Konzils von Trient (1534 bis 1563), dass nach katholischer Auffassung die christliche Botschaft auf zwei Säulen ruht: der Heiligen Schrift und der Tradition. Diese beiden theologischen Grundpfeiler sind in dem Figurenbestand der Fassade ausgedrückt. In der mittleren Ebene der Fassade sehen wir die vier Evangelisten, die das Schriftprinzip klar formulieren. Das Prinzip der Tradition begegnet uns in den vier großen Figuren, die die Eingänge flankieren. Sie repräsentieren die Heimat- und Weltkirche des Petrus und Paulus und die Diözesanpatrone Rupert und Virgil. Das ist klassische tridentinische Theologie! Aber es wäre sicher zu kurz gegriffen, würden wir hier schon haltmachen. Die im strahlenden Weiß des Untersberger Marmors glänzende Fassade erschließt sich in ihrer wahren 4
Hans Tietze/Franz Martin: Österreichische Kunsttopographie, Band IX, Wien 1912
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Aussage nur vom Giebel her. Dort thront an seiner Spitze die Gestalt des Christus – Salvator. Er trägt die Sphaira in der Hand. Damit ist nicht nur die Erde gemeint, sondern das ganze Universum. Der Herr des Himmels und der Erde wird also flankiert von zwei etwas tiefer stehenden Gestalten.5 Es sind dies Mose und Elija, die nur an einer einzigen Stelle des Neuen Testamentes in den synoptischen Evangelien mit Jesus in Erscheinung treten: „und sein Gewand wurde weiß wie das Licht“ (Mt. 17,2). Es ist die Erscheinung vom Berge Tabor gemeint. Die Gestalt Jesu wurde für einen Augenblick, so meinen es die Evangelisten, vor den Augen seiner Jünger, die er mitgenommen hat auf den Berg der Verklärung, verwandelt. Die weiße Fassade ist also das Gewand des verklärten Herrn. Metamorphosis heißt der griechische Grundbegriff für dieses Schlüsselwort barocker Theologie. Verwandlung ist alles. Dies wird klar, wenn der Christ nun diesen Raum betritt und die 100 Meter seiner Länge durchschritten hat. Da steht er nun vor dem Zielbild seines Lebens, der Auferstehung des österlichen Geschehens. Die theologische Botschaft also heißt: Du sollst den Raum anders verlassen, als du ihn betreten hast. Du sollst selbst verwandelt werden. Dieser festliche Saal kann und will verwandeln, denn dazu ist er gebaut. Weg und Ziel irdischen Lebens fallen hier in eins – im Sinne barocker Repräsentatio. Die Verwirklichung christlicher Existenz – bis er kommt in Herrlichkeit. 5
Bisher liegt in der Literatur keine überzeugende Zuweisung der Autorschaft dieser Fassadenfiguren vor. Jedoch schon Johannes Ramharter hat vermutet, dass diese Spuren nach Venedig weisen. Sein Aufsatz „Zwei Monumente aus der Zeit Erzbischofs Guidobalds. Zu den Skulpturen der Domfassade und des Residenzbrunnens in Salzburg“ erschien in: Barockberichte, Heft 7, Salzburg 1992. Da aber inzwischen weiterführende Arbeiten vorliegen, soll hier erstmals der Versuch unternommen werden, einen Steinbildhauer zu nennen, der bislang nirgendwo aufscheint. Es handelt sich um Heinrich Meyring. Er kam am 13. August 1628 in Rheine (Westfalen) zur Welt, führte ab 1670 in Venedig eine bedeutende Werkstatt für Steinbildhauerei und starb dort am 11. Februar 1723. Er war niemals verheiratet. Sein Name wurde italianisiert in: Enrico Merengo. Seine Arbeiten finden sich nicht nur in zahlreichen Kirchen der Lagunenstadt, sondern vor allem auch auf der „terra ferma“ des Umlandes. So in der Pfarrkirche S. Stefano in Nimis (Friaul), weiters in Udine (in der Kapelle des Palazzo Monte di Pietà), vor allem aber sind die Gartenplastiken im Park von Valsanzibio (bei Padua) zu nennen (vgl. zum Ganzen: Rudolf Breuing: Enrico Meyring, 1628–1723, ein Bildhauer aus Westfalen in Venedig, Rheine 1997). Da die Arbeiten dieses Bildhauers bis an den Zarenhof nach St. Petersburg exportiert wurden, lässt sich seine Berühmtheit schon zu seinen Lebzeiten erahnen. Warum verlässt er als junger, in der Werkstatt seines Vaters ausgebildeter Steinmetz mit ca. 25 Jahren seine Heimat? Vermutlich, weil durch den 30-jährigen Krieg dort alles devastiert war, ging er auf Wanderschaft. Dass ein so junger, unbekannter Bildhauer sogleich prominente Aufträge bekam, zeigt, wie sehr auch in Salzburg damals die großen Meister (Hans Waldburger, Konrad Asper, Jesaja Gruber u. a.) fehlten. Etwa 15 Jahre muss Heinrich Meyring in Salzburg tätig gewesen sein. Er ist hier urkundlich bisher nicht fassbar. Die stilistische Ähnlichkeit der Figuren an der Domfassade mit den oben genannten Arbeiten in und um Venedig ist evident.
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Wir haben unsere Blicke noch einmal auf die Fassade zu richten. Als die feierliche Domweihe vollzogen wurde, fehlten noch die Turmabschlüsse und alle Figuren an der Fassade und dem Mittelgiebel. Mit einer einzigen Ausnahme: Die beiden vollplastischen Figuren – die auf dem Segmentbogen des Mittelfensters sitzenden Marmorengel mit ihren in Blei gegossenen Flügeln – waren damals schon vorhanden. Sie sind wohl Arbeiten von Konrad Asper. Sie tragen eine zwölfzackige Krone. Die Frage ist nur: Für wen tragen sie diese Krone? Adolf Hahnl und Stefan Hiller bringen nun diese Engel in Zusammenhang mit einer schon ursprünglich geplanten Mariensäule in der Platzmitte.6 Von Westen kommend hätte dann der Besucher die Krone über dem Haupt der Madonna erblickt. Kurt Rossacher jedoch meint, mit der Krone über dem leeren Fenster ist die herrscherlich-weltliche und die geistlich-verklärende Macht des Erzbischofs angesprochen, wie sich dies an wichtigen Bauten schon im Hochmittelalter darstellen lässt.7
2. Die Weihe des Domes
Schon 30 Jahre hatte also die Haupt- und Residenzstadt Salzburg keine Kathedrale mehr. Seit dem Brand von 1598 war sie zuerst Baustätte, elf Jahre herrenloses Gut und Fundstätte für jedermann, der sich etwas nach Hause holen wollte. Welche Gründe haben Paris Lodron bewogen, nun mitten im 30-jährigen Krieg, am 25. September 1628 die Kirchweihe der neuen Kathedrale festlich zu begehen? Mehrere Vermutungen sind hier angebracht. Das Erste, was uns auffällt, ist der Wechsel des Patroziniums. Es wird viel zu wenig bedacht, dass der alte Dom ja eine Peterskirche war. Salzburg hatte also deren zwei! Wenn der heilige Virgil 774 seine Kathedrale dem Apostelfürsten weiht, so folgt er damit einer irischen Tradition. Als die beiden kirchlichen Institutionen, das Domkapitel und die Mönche von St. Peter, nun ihre Besitzungen getrennt hatten (987), konnten sie eine zweite Kirche errichten und diesen Patron mitnehmen.
6 7
Adolf Hahnl und Stefan Hiller: Beobachtungen zur Domfassade, in: Salzburger Museumsblätter 1974 Kurt Rossacher: Blick in das Fenster – Deutung der Salzburger Domfassade, in: Alte und Moderne Kunst, Heft 159 (1978)
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Warum also wechselt Paris Lodron den Patron? Aus den Forschungen der Patrozinienkunde8 wissen wir, dass der Patron einer Kirche stets die Konstante war, die ihr durch alle Schicksalsstürme erhalten blieb. Warum also bricht Paris Lodron mit dieser Tradition? Es wäre durchaus möglich, dass er mit dem Wissensstand seiner Zeit der Meinung war, der heilige Rupert sei am Ostersonntag 628 gestorben9. Es war keine einhellige, aber durchaus eine Meinung von Gelehrten seiner Zeit, die dieses Datum für möglich gehalten haben. Somit also wäre er mit dem 1000-jährigen Todestag des heiligen Rupert hier auf ein Datum gekommen, das in dieser Feierlichkeit erst ab diesem Moment in Salzburg die große Rolle des „Herbstrupertifestes“ erhält. Obwohl man den Todestag ja mit Ostern, dem 27. März, festgelegt hatte, wollte man nun mit dem Herbsttermin einen neuen Höhepunkt schaffen. In manchen Kalendarien dieser Zeit findet man am 24. September noch ein Fest, das sich in der Ostkirche bis heute erhalten hat: das Fest der Verkündigung der Geburt Johannes des Täufers. Man hat sich des großen Mannes neun Monate vor dem 24. Juni auf diese Weise erinnert. Es sollte also klargemacht werden: Der heilige Rupert hat die Rolle Johannes des Täufers, er bereitet die Wege des Herrn. In der Tat gelang es Paris Lodron, dieses Fest zum größten, jemals in Salzburg gesehenen Ereignis zu gestalten. Acht Tage lang wurde nur gefeiert, ohne Schranken und Absperrungen; man musste keine Eintrittskarten vorweisen, alles feierte mit. Aus dem Ausland waren 46 Äbte und Bischöfe von Osnabrück bis Trient angereist, um hier diesen einzigen großen Kirchenbau, der mitten im Krieg fertiggestellt werden konnte, zu erleben10. Die Vermutung, spitze Bemerkungen der fürstlichen Gäste über den Prunk des Marmors hätten den Fürsten veranlasst, alle Bauunterlagen zu vernichten, ist naheliegend, aber nicht beweisbar. Faktum aber ist, dass in den Hofkammerrechnungen keine Unterlagen über den Dombau vorhanden sind. Denn eine so hohe Fassade in Marmor hatten die Fürsten noch nie gesehen. Bis zu den mit Marmor verkleideten Londoner Banken des 19. Jahrhunderts blieb dieser Bau der größte Marmorbau der Welt. Kein Kaiser in Wien und kein Papst in Rom hätten sich einen ihrer Prachtbauten mit weißem Marmor verkleiden lassen kön8
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10
Wilhelm Deinhardt: Patrozinienkunde, in: Hist. Jb. 56 (München-Freiburg/Br.) 1936, Ndr: Bad Fischbach 1988. – Kurt Anton Mitterer: Die Patrozinien der Diözese Salzburg unter besonderer Berücksichtigung der Heiligenverehrung im 8. und 9. Jahrhundert, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Bd. 132 (1992) Zur historischen Literatur etwa: Franciscus Dückher von Haslaw zu Winckl: Satzburgische Chronica, Salzburg 1656. – die neue Literatur zur Domweihe des Jahres 1628, in: Schriftenreihe des Salzburger Landesarchivs, Nr. 11 (1995) Die historische Schilderung der Domweihe in: Franciscus Dückher, a. a. O., Seite 292–323: „Beschreibung der Weyhung deß neu-erbauten Thums, und was sich darbey verloffen“
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nen. Vor der Erfindung der Eisenbahn war das Transportproblem so riesiger Steinmengen auf weiten Wegen nicht lösbar. Hier in Salzburg ist der „Untersberger Marmor“ acht Kilometer vor der Stadt in der Natur vorhanden, und deshalb war der Transport zu bewerkstelligen. Da der Dom nach Kriegsende der modernste Sakralbau war, hat seine Wirkgeschichte bis in die Jesuitenreduktionen von Südamerika hinein als Kirchentyp der Gegenreformation gegolten: zwei Türme und der Mittelgiebel waren vorher so nirgendwo bekannt. Aber nun gilt es noch, einen Satz zu enträtseln, den Paris Lodron wahrscheinlich 1626 auf die Fassade des Salzburger Domes schreiben hat lassen. Was bedeutet er?
3. HAEC EST DOMVS DEI IN QVA INVOCABITVR NOMEN EIVS
So steht es dort in goldenen Lettern über dem Mittelportal. Es ist ein Zitat aus dem 1. Makkabäerbuch des Alten Testamentes, Kap. 7, Vers 37: Das ist Gottes Haus, in dem Sein Name angerufen wird. – Ist das nicht jede Kirche? Aber was ist hier mit diesem Bibelzitat gemeint? Der in Syrien herrschende Seleukidenkönig Antiochus IV. Epiphanes hat sich mit großer Streitmacht um 160 v. Chr. aufgemacht, um Jerusalem zu erobern. Im Tempel der Stadt hat sich eine Gruppe von Partisanen unter ihrem Anführer, dem Freischärler Judas Makkaba, versammelt. Dieser schwört seine Kumpanen gegen die Übermacht des Feindes ein, indem er ihnen diesen Satz einhämmert: Das ist das Haus Gottes, in dem wir sicher sind, weil wir seinen Namen anrufen (1. Makkabäer 7,37). Verstehen Sie jetzt, was Paris Lodron mit diesem Satz wollte? Es geht nicht mehr um Judas Makkabäus, sondern es geht um den Schwedenkönig Gustav Adolf, der nun als Übermacht vor den Toren der Stadt steht und den man fernhalten will. Ein hochpolitisches Wort in furchtbarer Zeit. Es sollte uns zu denken geben. Die Herrscherhäuser von Habsburg und Wittelsbach entsandten ihre Delegationen. Das bis jetzt einzige bekannte Exemplar des großen Festzuges, das in einem Einblattdruck verbreitet wurde, hat man in einer eigenen wissenschaftlichen Arbeit bereits entsprechend gewürdigt.11 Es ist heute im Palazzo Libera in Villa Lagarina, dem Geburtsort von Paris Lodron, in dem dortigen Museum ausgestellt. Zur würdigen Aufbewahrung der Reliquien der Heiligen Rupert und Virgil hat Paris Lodron den Hofgoldschmied Paul Kronstorffer 1627 beauftragt, einen aus Ebenholz gefertigten Schrein anzufertigen. Dessen Sohn Christoph hat die Figuren der beiden Patrone 1651 dann in Silber gegossen hinzugefügt. Seit der Neugestaltung der li11
Friederike Zaisberger: Einzüge der Fürsterzbischöfe vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Schriftenreihe des Salzburger Landesarchivs Nr. 11 (1995)
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turgischen Orte im 20. Jahrhundert hat dieser Schrein nun seine würdige Dauerpräsenz unter dem Volksaltar des Domes gefunden (2005). Aber barocke Bildsprache erschließt sich niemals eindimensional. Wie kein barockes Möbel nur rechtwinkelige Ecken aufweist, so ist es auch mit der Aussage der Architektur. Es werden stets zwei Fliegen mit einer Klappe erwischt. Hinterfragen wir also dieses Prinzip im Salzburger Dom, so kommen wir auf die erstaunlichsten Ergebnisse. Wir beginnen beim Hochaltar: In der kühlen manieristischen Malweise des Servitenmönches Arsenio Mascagni (1579–1636) ist das Hochaltarbild Zielpunkt und Schluss des großen Gehweges der Verwandlung, die man im Dom erleben soll. An der Fassade Verklärung, am Hochaltar Vollendung des neuen Lebens. Es ist ganz selten anzutreffen, dass das Zielbild christlicher Glaubensbotschaft in der Kathedrale einer Diözese dargestellt ist. In Wahrheit ist eine doppelte Aussage damit verbunden, denn die späte Vita des Heiligen Rupertus, die etwa 60 Jahre nach seinem Tod verfasst wurde, berichtet, dass er im Kreise seiner Mitbrüder am Ostersonntag, dem 27. März, gleich nach Darbringung des heiligen Messopfers verstorben ist. Ostern ist dargestellt – gemeint aber ist Rupertus! Dasselbe gilt für den ersten wichtigen Seitenaltar in der südlichen Koncha. Er ist, wie es sich für eine katholische Kathedrale geziemt, ein Muttergottesaltar. Auf den ersten Blick aber ist es befremdlich, welch seltenes Patrozinium Paris Lodron für diesen Altar auswählt. Es ist Maria Schnee, die berühmte Legende, da in der größten Augusthitze am Esquilin in Rom nächtens Schnee gefallen ist und der Papst daraus geschlossen hat (Liborius I.), dass hier auf diesem Hügel Maria eine Kirche erbaut zu wissen wünscht. Der Maler des Altarblattes ist Antonio Solari, ein Neffe des Architekten. Er stellt die Grundsteinlegung am Esquilin von Santa Maria Maggiore dar. Der Papst, in der Bildmitte, trägt eindeutig die Porträtzüge von Paris Lodron. Nun wird klar, warum er dieses Marienpatrozinium wählte: weil er, der Erzbischof, am selben Tag (5. August) Namenstag hatte und diesem legendären neapolitanischen Bischof Paris (aus dem dritten Jahrhundert) keinen Altar weihen konnte. Wiederum also zwei Fliegen mit einer Klappe! Nun müssen wir noch den Blick auf den nördlichen Seitenaltar, den sogenannten Sakramentsaltar richten. Hier erstaunt uns das Bildprogramm in einer ganz anderen Weise. Natürlich hat es schon die letzte Sitzung des Konzils von Trient (1563) festgelegt, dass die Aufbewahrung der Eucharistie in einer Domkirche nicht am Hochaltar, sondern auf einem der Seitenaltäre stattzufinden hat. Dies hat seinen Grund in den häufigen bischöflichen Weihehandlungen, wo es die Liturgie gebietet, dass der Konsekrator mit dem Rücken zum Hochaltar sitzen muss und dies würde als Zeichen der Unehrerbietigkeit dem Allerheiligsten gegenüber gedeutet. So entschied sich also Paris Lodron 1632, von zwei bekannten Augsburger Goldschmieden diesen wunderschönen Tabernakel anfertigen zu lassen.12 12
Johannes Neuhardt: Der Tabernakel des Domes zu Salzburg, in: Salzburger Museumsblätter, 58. Jg. Nr. 10 (1997)
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Aber das gesamte Bildprogramm bezieht sich nun nicht auf die Eucharistie, sondern ist rein franziskanisch ausgerichtet. Das Altarblatt stellt die Vision des Heiligen Franz von Assisi dar, wie ihm (symbolisiert durch einen Blumenstrauß) der Portiuncula-Ablass von Papst Honorius III. verliehen wird. Das Blatt schuf Arsenio Mascacgni, der Servitenmönch. Der Figurenschmuck besteht ausnahmslos aus franziskanischen Heiligen: Bonaventura und Antonius von Padua flankieren das Altarblatt, am Gesprenge oben sitzen Klara von Assisi und Elisabeth von Thüringen. Auch diese Patrozinienwahl ist für eine Kathedrale ungewöhnlich. Hier ist also wieder Hintergrundwissen vonnöten. Die Kathedrale hatte zwei Kapitel: das 24 Domherren umfassende Metropolitankapitel, welches damals als eine noble Freizeitgesellschaft selten in Versuchung kam, das Wort Beschäftigung mit dem Wort Arbeit zu verwechseln. Beim Schneeherren-Altar war seit 1631 ein zweites, aus zwölf Klerikern bestehendes Kapitel adskribiert, den sogenannten „Schneeherren“13. Ihnen oblag der ganze Kanzleibetrieb der erzbischöflichen Kurie. Aber wer besorgte die Karnerarbeit der Pastoral im Dom? Es waren eben die Franziskaner, die den Beicht- und Predigtdienst gewissenhaft besorgten. Auch die Abhaltung der Prozessionen (jede Woche zwei bis drei) oblag ihnen. So darf es also nicht verwundern, dass sie sich das Recht herausnehmen konnten, an diesem prominenten Ort des dritten großen Altares im Dom ihre Patrozinien zu positionieren.
4. Die theologische Aussage der Kuppel
Von den zehn schweren Katastrophen, die den Dom in seiner langen Geschichte (seit 774) heimgesucht hatten, war der Bombentreffer des 16. Oktober 1944 die bisher letzte. Eine einzige amerikanische Fliegerbombe brachte die Kuppel zum Einsturz. Was wir also heute sehen, ist die Stilkopie, die dann in einem langen Prozess des Wiederaufbaus (14 Jahre) wiedererstanden ist. Der Wiener Dombaumeister und Professor an der Technischen Hochschule, Karl Holey, hatte den Plan entworfen; die Bauaufsicht führte der Salzburger Diözesanbaumeister DI Peter Zacherl.14 Mit der Rekonstruktion der bombenzerstörten Kuppelfresken wurden die beiden Wiener Professoren Arthur Sühs und Clemens Fischer beauftragt. Zur Wiederherstellung der gesamten Stukkaturlandschaft wurde eine eigene Truppe ausgebildet, die mit diesem Riesenprojekt internationale Bedeutung erlangen konnte. Noch kurz vor dem Bombeneinschlag hat das Reichsluftfahrtministerium in Berlin alle 13 14
Manfred Thaler: Das Schneeherrenstift am Dom zu Salzburg, München 2011 Peter Keller: Ins Herz getroffen, Katalog der Ausstellung im Dommuseum zu Salzburg, Salzburg 2009
HIC EST MAGNVS IMPERATOR BONI FRVCTVS BONVS SATOR
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kulturell bedeutenden Bauten Salzburgs genau fotografieren lassen. Noch standen im Oktober 1944 in einer Seitenkapelle die großen Scheinwerfer, die den Raum zu diesem Zweck ausleuchten mussten; das war bei der Wiederherstellung der Stilkopie der Kuppel eine große Hilfe. Wenn wir also nun nach der theologischen Botschaft dieser 64 Meter hohen Kuppel fragen, so muss ihre achteckige Gestalt der Ausgangspunkt unserer Überlegungen sein. Warum ist diese Kuppel achteckig? Die heiligen Zahlen sind doch Sieben, Vier und Drei. Vier ist die Zahl der Erde, Drei die Zahl des Himmels. Sieben ist also das ganze Universum, Himmel und Erde zusammen. Was aber bedeutet die Zahl Acht? Es ist die in Stein umgesetzte Aussage der Liturgie. Bei jeder heiligen Messe antwortet im entscheidenden Moment nach der Wandlung das Volk dem Priester auf seinen Zuruf „Geheimnis des Glaubens“ „Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit.“ Das ist das achte Eck, die Wiederkunft Christi. Alles Tun ist ja nur Zwischenstation, wir sind nur Gast auf Erden, wir haben hier keine bleibende Stätte, wir erwarten die Verwandlung der Welt und hoffen, dass es eine Zukunft in Freude gibt, in der Nachfolge Christi. Noch einmal griff Paris Lodron ganz entscheidend in die theologische Aussage des Bildprogamms des Domes ein. In seinem letzten Lebensjahr erließ er ein Edikt, in welchem er die Ausschmückung der Seitenaltäre genau festlegte.15 Es ist dies die berühmte „Distributio Capellarum“ vom 16. März 1652. Bisher hatten die acht Seitenkapellen nur provisorische Holzaltäre, die der Hoftischler Simon Claner geschaffen hatte. Nunmehr sollten Marmoraltäre im Portaltypus an ihre Stelle treten. Die Abfolge ihrer Patrozinien folgt genau dem tridentinischen Schema. Nordseite 1) Heiliges Kreuz 3) Märtyrer (Erasmus, Koloman u.a.) 5) Hl. Mutter Anna, alle heiligen Jungfrauen und Witwen 7) Hl. Johannes d. T. mit dem Taufbecken
Südseite 2) Apostel (Pfingstbild) 4) Bekenner (Papst Gregor Hieronymus, Martin u. a.) 6) Hl. Carl Borromäus u. a. Bekenner als Pestpatrone 8) Hl. Rochus u. Hl. Sebastian als Pestpatrone
Die in der Distributio angeordnete Ausmalung der Decken unterblieb jedoch gänzlich. 15
Die „Distributio Capellarum Beneficiatarum in Ecclesia Metropolitana Salisburgensi“ liegt im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Allgemeine Urkundenreihe 1652 März 16. – Margaretha Gärtner: Das Bildprogramm des Domes im Kontext nach tridentinischer Kontroverstheologie, in: Erzbischof Marcus Sitticus von Hohenems (1612–1619), Manus. der Wissenschaftlichen Tagung 12.–16. Juni 2012
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Erst das Vollendungsdenken des 19. Jahrhunderts schloss diese Lücke. Erzbischof Franz Albert Eder OSB beauftragte den Münchener Schraudolph-Schüler Ludwig Glötzle mit der Anfertigung der Kreuzwegbilder (oberhalb der Kapellendurchgänge) und der anderen biblischen Szenen in dem Deckenbereich. Diese historischen Szenen entstanden zwischen 1881 und 1885. Man hat hier das stark hagiographisch ausgerichtete Programm Paris Lodrons zugunsten der biblischen Thematik verlassen.
Ein Kaiser als Epochenverschlepper Der österreichische Escorial als Traumbild und Ausdruck des Reichsstils Nicolaus Buhlmann
1. Ein Kloster wird vergrößert
Wer von der Wiener Nordbrücke aus den Blick wendet, an einem strahlenden Sommertag oder auch im herbstlichen Nebel, und der Türme und Kuppeln des Stiftes Klosterneuburg neben der Anhöhe des Leopoldsberges ansichtig wird, wird sich eines erhabenen Gefühls nicht erwehren können. Es ist Repräsentationsarchitektur reinsten barocken Wesens, die von weither sichtbar ist und auch sichtbar sein soll, fast unpassend für ein Kloster, das doch der Gottsuche und der immerwährenden laus Dei zu dienen hat. Im süddeutschösterreichischen Raum freilich ist man solch selbstbewusst aufprunkende Architektur gewohnt, und Klosterneuburg ist nur ein Beispiel dafür, nicht einmal das räumlich größte im Lande. Der Kundige weiß ohnehin, dass neben der bereits von Ferne sichtbaren barocken Pracht, quasi im Schatten der hochragenden Türme der Stiftsbasilika, sich der viel intimere Renaissanceteil des alten Klosters anschmiegt, um den fast schon dörflich anmutenden Leopoldi-Hof gruppiert. Weiß vielleicht auch, dass die ersten Chorherren nach der Regel des heiligen Augustinus, als sie um das Jahr 1100 herum von Bayern her an der Donau anlandeten, zunächst ein bescheidenes Holzkirchlein bauten und für sich selber mit einer dürftigen Unterkunft in den Ruinen des einstmals bestehenden, in der Völkerwanderungszeit aufgegebenen römischen Militärlagers vorliebnahmen. Mit ihrem barocken Bauprojekt, das dann nach einem Jahrzehnt plötzlich gestoppt werden sollte, waren die Klosterneuburger Chorherren ohnehin spät dran. Als 1730 die Arbeiten für diesen neu geplanten Teil der Anlage begannen, waren die dem eigenen Orden zugehörigen Komplexe von St. Florian und Dürnstein, waren auch Göttweig und Melk bereits im Bau oder weitgehend vollendet, allesamt im großen Maßstab geplant und meist auch dem dafür vorgelegten Bauplan folgend oder ihn übertreffend. Im Wien-nahen Donaustift hatte man dagegen in den letzten hundert Jahren nur gleichsam das Nötigste gerichtet, nur wenige und gut überlegte Eingriffe in den mittelalterlichen Baukörper vor-
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genommen1. Der Grund dafür, wiewohl als solcher nicht ausdrücklich in den Quellen namhaft gemacht, liegt auf der Hand: Es ist der in Klosterneuburg immer besonders spürbare Respekt vor der Vergangenheit, vor der Gründungszeit des Mittelalters und dem zum Landespatron erhobenen heiligen Stifter Leopold III. von Babenberg, dem man sich eben auch im äußerlichen Erscheinungsbild des Hauses verpflichtet wusste. Bis 1730 hatte man sich darum lediglich mit der seit 1634 betriebenen Barockisierung des Innern der Stiftskirche begnügt, der Freskierung und Stuckierung der Leopoldikapelle, die damals wie heute den Schrein mit den sterblichen Überresten des heiligen Markgrafen barg und nun seit 1677 im neuen Stil ausgestaltet wurde, und es im Übrigen bewusst beim mittelalterlichen Erscheinungsbild des Klosters belassen. Der Mann, den man im Zusammenhang mit dem barocken Bauprojekt besonders und immer wieder erwähnen muss, der 1707 zur Regierung gekommene, aus Horn im Waldviertel stammende Propst Ernest (Johannes) Perger, hatte bei seinem Amtsantritt keine Veranlassung zu größeren baulichen Veränderungen gesehen. Er, der als tatkräftiger und umsichtiger Wirtschafter galt und bis 1748 den Krummstab führen sollte, empfand die angeführten Neugestaltungen der anderen Stifte des Donauraums nicht von sich aus als Herausforderung oder Ansporn. Er bedurfte eines starken Anstoßes von außen, um ihn zu einer Sinnesänderung zu bewegen; dieser kam von niemand anderem als dem römischdeutschen Kaiser, also von Karl VI. (1685–1740, regierend seit 1711). Es ist dieser Kaiser, den wir in erster Linie für das heutige barocke Erscheinungsbild seines Lieblingsstiftes Klosterneuburg verantwortlich zu machen haben und der in Propst Ernest einen zunächst widerstrebenden, dann aber doch folgsamen Partner fand. Eine wichtige Voraussetzung für das Projekt war günstig: Die letzte Türkenbelagerung von 1683 hatte zwar Stift und Stadt schweren Schaden in wirtschaftlicher Hinsicht beschert. Das Stift und die obere Stadt konnten damals aber durch heroischen Widerstand, an dem auch zwei Chorherren Anteil hatten, gehalten werden, was die notwendige Voraussetzung für das sich unmittelbar daran anschließende Aufsprengen des Belagerungsrings um Wien war. Die Entsatztruppen kamen ja vom Norden her, aus der Richtung Klosterneuburgs, und näherten sich der eingeschlossenen Stadt über den Kahlenberg. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn die Stadt damals den Türken in die Hände gefallen wäre. Klosterneuburgs untere Stadt jedoch, die sich an der zu jener Zeit noch unregulierten Donau entlang zog, sowie die Vorstadt Neusiedel mit dem Stiftsspital waren vom Feind eingenommen und fast zur Gänze devastiert worden. Ein Gleiches galt für Felder und Weinberge ringsherum. Doch bemer1
Dazu und überhaupt grundlegend zum Thema des barocken Aus- und Umbaus von Klosterneuburg sei verwiesen auf die hervorragende Arbeit von Huberta Weigl, Die Genese der Klosterresidenz Kaiser Karls VI., in: Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg, Neue Folge, Bd. 17, 1999, 279–363, hier: 279 f.
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kenswert schnell erholte sich die Wirtschaft im Ort, sicher eine Folge nicht nur des Fleißes seiner Einwohner, sondern auch der verkehrsgünstigen Lage am Fluss, die Klosterneuburg zu einem wichtigen Handels-und Umschlagspunkt machte. In der Klosterkirche feierte man die Befreiung von den Eindringlingen aus dem Osten mit einem eigens beim Maler Johann Georg Greiner in Auftrag gegebenen Deckenfresko. Das Stift, das seine wirtschaftliche Potenz bereits 1691 durch den Erwerb von Schloss und Gut Hasendorf bewiesen hatte, zeigte 1703 erneut seine Regenerationskraft durch die Gründung des Wiener Vorortes Neulerchenfeld, was durch entsprechende Grundverkäufe vonseiten der Chorherren möglich geworden war2. Nach der großen Schlacht von 1683, die von der Bevölkerung als wirkliche Wende im jahrhundertelangen Abwehrkampf gegen die osmanischen Heere empfunden wurde, erfasste eine leidenschaftliche Bauleidenschaft hoch und niedrig, vor allem natürlich, um die tatsächlichen, kriegsbedingten Verluste an Gebäuden auszugleichen. Es mag der Eigenart von Stift Klosterneuburg als erstem nachgewiesenen österreichischen Weingut geschuldet sein, dass Propst Christoph II. Matthäi (reg. 1686–1706) 1704 vor allen anderen Dingen das damals größte Fass des Landes, das berühmte Tausend-Eimer-Fass, in Auftrag gab, das bis zum heutigen Tag im sgn. Binderstadl des Stiftes steht und alljährlich um den Leopolditag im November Kindern und Junggebliebenen die Möglichkeit zum Fasslrutschen eröffnet, einem wohl mehr heidnisch als christlich konnotierten Brauch, der gleichwohl immer populär geblieben ist. Im Vorfeld des Stiftsjubiläums von 1714 – an die Weihe der Stiftskirche 600 Jahre zuvor erinnernd – wandte man sich nun an den Architekten, Ingenieur, Bildhauer und auch als Bühnenbildner für Karl VI. tätigen Matthias Steinl (1644–1727) und ließ ihn eine große hölzerne Hochaltar-Attrappe errichten, die in der Tat weitgehend den heutigen prächtigtheatralischen Hochaltar in der Gestalt eines nach vorne geöffneten griechischen Tempels vorwegnahm. Dem lebensfrohen, zugleich der Repräsentation zugeneigten Stil der Zeit entsprechend bat man Steinl – der seit 1688 auch Kaiserlicher Kammerbeinstecher, also Elfenbeinschnitzer des Hofes war – noch mehrere prachtvolle Triumphpforten zu entwerfen, die zum Jubiläum des Jahres 1714 auf dem Platz vor der Stiftskirche standen und die als Kupferstiche in den Kunstsammlungen des Stiftes nachgewiesen sind. Man sah im 600-Jahr-Jubiläum des Klosters einen Anlass, nun doch über eine dem Zeitgeschmack architektonisch entsprechende Ergänzung der Stiftsgebäude, aber auch des Wiener Stiftshofes in der Renngasse 10, 1. Bezirk, nachzudenken. Einer der Großen des österreichischen Barock, Jakob Prandtauer (1660–1726)3, wurde damit beauftragt. Zwei 2 3
Vgl. Floridus Röhrig, Eintrag zu Klosterneuburg, in: Ders. (Hrsg.), Die Stifte der AugustinerChorherren in Österreich, Südtirol und Polen, Klosterneuburg-Wien 1997, 99–193, hier: 154 Zu ihm, neben vielen neueren Werken und Erwähnungen in der Gesamtschau immer noch lesens-
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Grundrisse seines Plans sind erhalten und lassen einen eher behutsam geplanten Eingriff in die bestehende Bausubstanz erkennen. Die gewaltige, zwischen 1563 und 1584 auf Geheiß von König Philipp II. nach Plänen von Juan Bautista de Toledo und Juan de Herrera errichtete Anlage des Real Sitio de San Lorenzo de El Escorial nordwestlich von Madrid – der größte Renaissancebau der Welt – war offenkundig für manches Vorbild, doch trachtete Prandtauer danach, möglichst viel vom mittelalterlichen Klosterneuburger Baubestand, insbesondere Stiftskirche, Kreuzgang, Leopoldikapelle und Capella speciosa, unangetastet zu lassen und in den geplanten Neubau zu integrieren. Doch, wie sich herausstellen wird – die Vorstellungen des österreichischen Baumeisters sollten am Ende nicht ausgeführt werden. Zunächst, 1723, beschäftigte man sich aber weiter mit der Stiftskirche. Für den Chorraum gab es bereits die von Matthias Steinl probeweise vorgegebene Lösung, die nun im Wesentlichen verwirklicht wurde. Als Meister Steinl 1727 gestorben war – er ist übrigens ehrenhalber in St. Stephan in Wien beigesetzt –, brachte der Abt des Benediktinerstiftes Melk, Berthold Dietmayr, der ja gemeinsam mit Propst Ernest dem niederösterreichischen Prälatenstand des Landtages angehörte und Vertrauter des Kaisers war, den vom Comer See gebürtigen Donato Felice d’Allio als Bauleiter in Vorschlag. Wenn Propst Ernest als persönlich bescheidener, der Zucht verpflichteter Ordensmann beschrieben werden kann, stellte Abt Berthold geradezu das Musterbeispiel eines barocken Bauprälaten dar – was aber nicht heißen soll, dass er ein schlechter Mönch gewesen wäre. D’Allio (1677–1761) wiederum war seit 1698 in Wien und wirkte ab 1711 als kaiserlicher Festungsbaumeister, ein überaus wichtiges Amt in jener Zeit, das von seinem Inhaber besonders ausgedehnte Kenntnis auch der geologischen Gegebenheiten eines Ortes verlangte. Die Fähigkeiten auf diesem Gebiet sollte er mit der fachgerechten, zunächst durch kontrollierte Sprengungen in den Fels vorbereiteten Gestaltung der drei Kellergeschoße Klosterneuburgs unter Beweis stellen, die damals wie heute der Weinbereitung dienen und sich wie eine geräumige unterirdische Stadt präsentieren. Auf die Schlussgestaltung des Presbyteriums der Stiftskirche wirkte sich der Wechsel in der Bauleitung zunächst nicht aus. Steinls kühn-großartiger Entwurf wurde verwirklicht und erfreut bis zum heutigen Tag das Auge des Betrachters. Auf ein Detail sei hingewiesen: Der Tabernakel des Hochaltars ist, wie es sich gehört, von einem Kreuz überhöht. Doch noch über diesem Kreuz ist der österreichische Erzherzogshut als hölzerne, vergoldete Dekoration angebracht. Jenes Kleinod, die Landeskrone der Herrscher der habsburgischen Erblande4, 1616 von Erzherzog Maximilian III. (1558–1618), Regent von Tirol und der Vor-
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wert: Hugo Hantsch, Jakob Prandtauer – Der Klosterarchitekt des österreichischen Barock, Wien 1926 Zu dieser Zimelie sehr instruktiv: Georg Johannes Kugler, Der österreichische Erzherzogshut und
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lande, in Innsbruck auf dessen Geheiß von italienischen Goldschmieden angefertigt und dann als dauernde Gabe der Schatzkammer in Klosterneuburg überantwortet, ist als „heilige Krone des Landes“ in eine Reihe mit der ungarischen Stephanskrone und der böhmischen Wenzelskrone zu stellen. Natürlich war die Krone des Heiligen Römischen Reiches, die ursprünglich in Aachen aufbewahrte, nun in der Wiener Schatzkammer anzutreffende Reichskrone, die fälschlich immer wieder mit Karl dem Großen in Verbindung gebracht wird, obwohl sie wahrscheinlich erst um 960 für Otto den Großen gefertigt wurde, als das „Ober-Herrschaftszeichen“ auch des österreichischen Raumes anzusehen. Doch repräsentierte diese Krone das „große Ganze“, das Gesamt des Reiches, und damit nur mittelbar Österreich. Eben aus diesem Grund hatte Erzherzog Maximilian dem Mangel an einem spezifisch österreichischen Würdezeichen abhelfen wollen; natürlich wusste er dabei um die hohe Bedeutung, die den beiden erwähnten anderen Kronen in ihren Ländern zukam. Für Maximilian war klar, dass nur Klosterneuburg, die vom heiligen Landespatron Leopold gegründete und durch seine fortdauernde Anwesenheit in den Reliquien geheiligte Stätte, als Aufbewahrungsort infrage kam. In der Schatzkammer, wo er blieb, wenn er nicht für die Zeremonie der Erbhuldigung in Benutzung war, bei der er eine wichtige Rolle spielte, kam der Erzherzogshut in unmittelbarer Nähe zu den ebenfalls dort verwahrten Reliquien des heiligen Markgrafen zu stehen. Genau das war auch beabsichtigt. Doch nun zierte diese Krone noch über dem Heilszeichen des Kreuzes den neu gestalteten Hochaltar der Stiftskirche, ein starkes, vielleicht überstarkes Zeichen für das Ineinandergreifen von weltlicher und geistlicher Sphäre an jenem Ort. Die Tatsache übrigens, dass man unverdrossen den Chorraum der Kirche weiter ausschmückte, deren Decke schön freskierte und stuckierte, kann so gedeutet werden, dass von den Neubauplänen für die Stiftsgebäude die Kirche nicht betroffen sein sollte. Ebenso wurde das heute als sgn. Augustinussaal für Vortragsveranstaltungen und KammermusikAbende genutzte Alte Refektorium durch Stuck-Dekorationen an der Decke und Apostel-Bilder von Johann Georg Schmidt weiter ausgestattet, ein erneuter Hinweis auf die zunächst bescheidener geplante Neugestaltung. Die Dinge änderten sich aber 1730, nachdem Kaiser Karl VI. sich selber eingeschaltet hatte und die Chorherren, die wohl lieber bei ihrem zurückhaltenden Ansatz geblieben wären, dazu brachte, etwas in Angriff zu nehmen, was Floridus Röhrig die „Neuerfindung des Escorial“ nannte5.
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die Erbhuldigung, 84–91, in: Der heilige Leopold – Landesfürst und Staatssymbol, Landesausstellung 1985 in Klosterneuburg, Katalog, hrsg. von Floridus Röhrig und Gottfried Stangler, Wien 1985 Siehe Floridus Röhrig, Eintrag zu Klosterneuburg, in: Ders., Die Stifte der Augustiner-Chorherren, a. a. O., 178
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2. Kaiser Karls Traum vom Weltreich
Doch nun muss bedacht werden, was den Habsburger-Kaiser dazu bewog, das ursprüngliche Bauprojekt der Chorherren gleichsam zu usurpieren und ihm seinen – eben einen kaiserlichen – Stempel aufzudrücken. Es ist die Geschichte einer großen Hoffnung und einer großen Enttäuschung. Als „Weltreich“, wenn man die einfache Definition zugrunde legen will, dass dieses über mehr als einen Kontinent reichen und zahlreiche Völker zu seinen Gliedern zählen muss, muss im frühneuzeitlichen Europa zunächst das Imperium Karls V. (1500–1558) bezeichnet werden, in dem, um das berühmte Diktum zu zitieren, „die Sonne nicht unterging“. Den Grundstein dafür hatte Kaiser Friedrich III. gelegt, der seinen Sohn Maximilian I. (1459–1519) mit Maria, der Erbin von Burgund, verheiratet hatte und so ein wirtschaftlich besonders gut dastehendes Land für Österreich heimführte. Der im Herzogtum Burgund bestehende Hoforden vom Goldenen Vlies, 1430 von Herzog Philipp dem Guten anlässlich seiner Vermählung mit Isabella von Portugal in Brügge gestiftet, wurde in der Folge auch zur höchsten, sparsam vergebenen und dem Hochadel vorbehaltenen Auszeichnung des römisch-deutschen Kaisertums und besteht in der Verantwortung der Familie Habsburg bis heute weiter, in der Republik Österreich sogar mit eigener Rechtspersönlichkeit6. Der Ehe von 1430 entspross Philipp, der 1496 mit Johanna vermählt wurde, ihrerseits Erbin des gerade erst vereinigten Königreichs Spanien, dem durch die Entdeckung und Inbesitznahme der „neuen Welt“ Amerika beträchtlicher Land- und Herrschaftsgewinn zugeflossen war: Der Grundstein für ein echtes Weltreich war gelegt. Der nunmehrige König Philipp der Schöne starb bereits mit jungen Jahren 1506, seine Witwe Johanna, genannt die Wahnsinnige, konnte die Herrschaft nicht fortführen. So wurde der zur Jahrhundertwende geborene Sohn Karl 1516 als König von Spanien eingesetzt. Sein Reich vergrößerte sich ab 1543 durch die Philippinen (seit 1565 Kolonie) noch einmal erheblich und in eine weitere Weltregion hinein. Karl, der als spanischer Monarch Karl I. genannt wurde und als römisch-deutscher Kaiser die Nummer V erhielt, hing zunächst träumerischen Plänen einer fast ganz Europa umfassenden „monarchia universalis“ an, musste aber in der Folge zur Kenntnis nehmen, dass er dabei mit dem entschiedenen Widerstand Frankreichs zu rechnen hatte. So steckte er zurück, wohl auch aus eigener Einsicht und philosophisch-moraltheologischen Überlegungen folgend; er überließ 1521 seinem jüngeren Bruder Ferdinand I. die Herrschaft über die österreichischen Erblande und zog sich in den kommenden Jahren weiter zurück. Dem Sohn Philipp II. wurden 1554 Neapel und Mailand übertragen, im folgenden Jahr 6
Vgl. dazu: Das Haus Österreich und der Orden vom Goldenem Vlies, hrsg. von der Ordenskanzlei, Graz-Stuttgart 2017
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die Niederlande und schließlich 1556 auch die Krone Spaniens. Halb Philosophenkönig, halb Mönch legte Karl im nämlichen Jahr die Kaiserkrone zurück und bezog eine Villa beim Kloster San Jeronimo de Yuste. Ferdinand wurde 1558 Kaiser, dem Jahr, in dem sein Bruder, der die Machtfülle des Hauses Habsburg aufs Äußerste gesteigert hatte, starb. Festzuhalten ist aber auch, dass Karl V. bewusst und überlegt die Teilung des Hauses in zwei Linien, eben die österreichische und die spanische, grundgelegt hatte. Für unser Thema ist wichtig, dass Karls Sohn Philipp womöglich noch frömmer als sein Vater war und das Herrscheramt als ihm persönlich von Gott übertragen ansah. Das war letztlich der Impetus, der ihn zum Bau des Escorial veranlasste, der Anlage, die also einem zweifachen Zweck dienen sollte. Die Macht der damals größten europäischen Monarchie sollte darin ebenso ihren Ausdruck finden wie zugleich deren Unterordnung unter die andere Sphäre: Herrscher und Kirche gemeinsam, wobei das Zepter des Königs unter dem Kreuz stand. Wie in karolingischen Zeiten wollte der Souverän an seinem Hof von der Kirche und ihren Dienern umgeben sein. So berief Philipp einen Mönchsorden, die besonders strengen Hieronymiten, zu seinen Mitbewohnern, heute sind es Angehörige des mittelalterlichen Bettelordens der Augustiner (die nicht mit den Regularkanonikern der Augustiner Chorherren verwechselt werden dürfen), die im Escorial ihren Konvent haben. Folgerichtig wurde die dem heiligen Laurentius geweihte Kirche als architektonischer Mittelpunkt des Escorial angelegt, und um dies noch zu steigern, ordnete Philipp an, dass sein Schlafzimmer Ausblick auf den Hochaltar der Kirche zu bieten habe. Die 33.000 Quadratmeter, die die Gesamtanlage umfasst, können in der Gesamtschau als theologisches oder gar ideologisches Bauwerk charakterisiert werden. Dass die steingewordene Anspruchsarchitektur des spanischen Escorial Vorbild für ein ähnliches Bauwerk in Österreich werden konnte, kann also nur vor dem Hintergrund der Geschichte der habsburgischen Herrschaft in Spanien verstanden werden, und insbesondere einer aus österreichischer Sicht tragischen Wendung. Der letzte spanische Habsburger war König Karl II. (1661–1700, reg. seit 1665). Der sein Leben lang gesundheitlich beeinträchtigte Monarch, der auch in zweiter Ehe kinderlos geblieben war, hatte wenig politische Akzente zu setzen verstanden. Vor allem aber löste sein Tod, der lange erwartet worden war, den Konflikt aus, wer ihm nun nachfolgen sollte: Philipp von Anjou, Enkel König Ludwigs XIV. von Frankreich, der von Karl II. in einem allerdings angezweifelten Testament dazu eingesetzt worden war, oder Karl, Sohn des römisch-deutschen Kaisers Leopold I. (1640–1705, reg. seit 1658). Die sehr verwickelte Angelegenheit, in der auch geheime Absprachen zwischen den Mächten eine Rolle spielten, ist das Musterbeispiel eines erwartbaren Konfliktes, der trotzdem nicht friedlich zu lösen war. Es ging um zu viel dabei, eben um ein Weltreich. Der möglicherweise im Zustand geistiger Umnachtung, jedenfalls starker gesundheitlicher Beeinträchtigung von Karl II. getroffenen Festlegung
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auf den französischen Bourbonen als Nachfolger stand der bereits früher ausgesprochene Verzicht auf alle spanischen Thronrechte durch die Mutter Philipps gegenüber. Parallel dazu gab es bereits getroffene geheime Abmachungen zwischen Frankreich und Österreich, die Philipp von Anjou die italienischen Besitzungen Spaniens, also insbesondere beide Sizilien und Sardinien, zusprechen wollten, Karl von Österreich dagegen Spanien und die Kolonien. Es muss Kaiser Leopold, diesem klugen, zurückhaltenden Herrscher klar gewesen sein, dass die anderen europäischen Mächte, insbesondere der ewige Rivale Frankreich, ein vereintes Riesenreich unter österreichischer Führung nicht weiter zulassen würden. Und doch war er zutiefst davon überzeugt, dass seinem Haus die Herrschaft über beide Territorien zustand. So kam es 1702 zur Kriegserklärung des Reiches und seiner Verbündeten an Frankreich; am 12. September 1703 wurde Karl (1685–1740, reg. als Kaiser seit 1711) in Wien als Karl III. zum König von Spanien proklamiert. Karl begab sich nach Barcelona, wo es ihm durchaus gelang, Anhängerschaft zu finden, während sein Rivale als Philipp V. ebenfalls den spanischen Thron beanspruchte und in Madrid dann auch physisch einnahm. Die zwischenzeitliche Eroberung Madrids durch die Truppen Karls 1706 blieb nicht von Dauer. Der zwischen 1701 und 1714 ausgetragene Spanische Erbfolgekrieg, letztlich eine Abfolge verschiedener militärischer Auseinandersetzungen an allen möglichen Orten, ging am Ende unentschieden aus, blieb jedenfalls ohne eindeutigen Sieger. Nach den Friedensschlüssen von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) hatte Österreich sich mit den Spanischen Niederlanden, quasi dem heutigen Belgien, und den italienischen Besitzungen Spaniens, also Sardinien, Neapel, Sizilien, sowie dem Reichslehen Mailand zu begnügen. Doch Spanien und die überseeischen Besitzungen blieben bei Philipp V., der nun der anerkannte 7 König Spaniens war und blieb. Einzig das Verbot, dass Spanien nie mit Frankreich vereinigt werden dürfe, kratzte etwas an der Stellung des Bourbonen. Wenn man also überhaupt nicht von einer schmachvollen Niederlage Österreichs reden kann, empfand Karl VI. den Ausgang des Ringens dennoch als eine solche. Für ihn war der Verlust Spaniens ein Trauma, das er nie mehr überwinden sollte; zugleich war damit auch das Ende des österreichischen Traums vom Weltreich markiert. Nie würde Karl formal den Anspruch auf den spanischen Thron aufgeben, es ehrt ihn, dass er in sich lang hinziehenden Verhandlungen eine Amnestie für seine spanischen, insbesondere katalonischen Anhänger zu erreichen suchte. Spanien wurde Kaiser Karl, psychologisch gesprochen, nicht mehr los, es beschäftigte ihn bis zum letzten Augenblick seines Lebens; ein besonders eindrücklicher Ausdruck dieser inneren Wunde und deren Bewältigung stellt letztlich das Klosterneuburger Neubauprojekt dar. 7
Widerwillig auch durch Karl VI. im Frieden von Den Haag 1729 zur Beendigung des Krieges der Quadrupelallianz. Doch gab der Kaiser wenigstens verbal den Thronanspruch auf Spanien nie auf.
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3. Die Bauleitung für das Klosterneuburger Projekt und der Einfluss des Kaisers
Der unmittelbare Anlass, Klosterneuburg als einen Ort kaiserlicher Hofhaltung anzusehen und dafür herzurichten, war der spätestens seit der Zeit Kaiser Leopolds I. zur Gewohnheit gewordene Brauch des Hofes, alljährlich zur Feier des Festes des heiligen Leopold, also um den 15. November herum, in das Stift zu kommen und hier auch Quartier zu nehmen. Blieb der Kaiser über Nacht, hieß dies, dass natürlich auch Dutzende Personen seiner Begleitung aufzunehmen und zu beköstigen waren. Die Leopolds-Verehrung durch Kaiser und Hof galt aber nicht nur dem imaginären Vorfahren - der heilige Markgraf war ja als Angehöriger der Familie der Babenberger in keiner Weise mit den Habsburgern verwandt - sondern diente spätestens seit der Heiligsprechung Leopolds 1485 und seiner Proklamierung zum Landespatron Österreichs im Jahre 1663 der Selbstvergewisserung des Staates und seiner katholischen Herrscherdynastie. Zunächst hatte Propst Perger, wie berichtet, den Festungsbauingenieur Donato Felice d’Allio mit den Neubauplänen betraut, doch schon bald ist ein maßgeblicher Einfluss des leitenden Architekten im kaiserlichen Hofbauamt, Joseph Emmanuel Fischer von Erlach (1693–1742), Sohn des bedeutenden Johann Bernhard Fischer, festzustellen. Zwei ChefArchitekten also, denen natürlich noch ein Stab von Mitarbeitern, insbesondere Zeichnern und Ingenieuren, zur Seite stand. Sie alle haben ihre Spuren in den Rechnungsbüchern des Stiftes hinterlassen, die ja immer eine wichtige, konkrete, wenn auch unterschätzte Quelle der Dokumentation darstellen. Aus diesen und weiteren im Stiftsarchiv aufbewahrten, in diesem Fall relativ reichhaltigen Quellen haben schon in den 1960er Jahren Elisabeth Mahl und Thomas Zacharias eine abgrenzende Würdigung des Anteils beider sowie eine Einteilung des Projektes in mehrere Phasen zu erreichen gesucht. Sie wollen dabei drei Bauphasen identifizieren und sehen als entscheidenden Wendepunkt den „kaiserlichen Residenzbeschluss“ vom 15. November 1730 an, mit dem Kaiser Karl VI. sich selbst in das Bauvorhaben eingeschaltet habe. Weigl nimmt den Ansatz dieser beiden Forscher auf, kritisiert aber, dass beide sich nur mit den Plänen und Entwürfen, aber nicht mit dem dann ausgeführten Bau beschäftigt hätten, und kommt in mehreren Punkten zu anderen Ergebnissen. Sie macht auch darauf aufmerksam, dass Inventor und Zeichner eines Entwurfes nicht notwendig dieselbe Person sein müssen, wovon noch Mahl und Zacharias auszugehen scheinen. Es ist allerdings bisher noch keinem Forscher gelungen, überzeugend darzulegen, warum die allererste Neubauplanung von 1715, die immerhin in der Hand des renommierten und vielfach bewährten Jakob Prandtauer gelegen hatte, nicht verwirklicht wurde8. Kann 8
Ein, wohl aber nicht der alleinige Grund wird darin zu sehen sein, dass Prandtauers damaliger Auftraggeber, der im Jahr 1706 nur für wenige Monate regierende Propst Jakob II. Cini, überraschend
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es sein, dass Prandtauers Stil einfach als zu wenig repräsentativ angesehen wurde, dass seine eher nüchterne Handschrift den Bedürfnissen des Hochbarock nicht mehr genügen konnte? Jakob Prandtauer hatte ja auch den mittelalterlichen Baukörper des Stiftes, insbesondere Altes Refektorium, Nikolauskapelle, Kapitelsaal, Sebastianikapelle und Capella speciosa, erhalten und in seine Pläne integrieren wollen. Jedenfalls war seit 1729 der Norditaliener d’Allio der tonangebende Mann und durfte sich zunächst bei der Umgestaltung des Chores der Stiftskirche und der Implementierung des von Steinl vorgeschlagenen Hochaltars, für die eine Erhöhung des Apsisgewölbes notwendig war, bewähren. In der Zusammenschau des Forschungsstandes kann als Planungsphase I dann ein vom Italiener verantwortetes Neubauprojekt ab 1730 identifiziert werden. Vier Höfe waren vorgesehen, die Leopoldikapelle mit dem Grab des Klostergründers sollte beibehalten und in den Neubau integriert werden, während alle anderen Altbauten, wie auch das gesamte alte Stift abgerissen worden wären. Wohl auf persönliche Anweisung des Kaisers, jedenfalls aber auf die von Graf Gundacker Ludwig Althan, seit 1716 Leiter des Hofbauamtes und Hofstallmeister, geht die Anordnung zurück, mit „größerer pracht und mehr Aufwand“ zu bauen. Wahrscheinlich in diesem Zusammenhang ist der Einfluss Fischer d. J. zu sehen, der auf kaiserliche Kosten in den Jahren zuvor Studienreisen nach Rom, Neapel, Leyden, London und Paris gemacht hatte und so mit den neuen Strömungen in der Architektur in Verbindung gekommen war. Diesen aktuellen Kenntnisstand scheint d’Allio, der nun schon seit drei Jahrzehnten in Wien lebte, nicht gehabt zu haben. Wir wissen wenig darüber, wie die Einflussnahme durch Fischer von Erlach konkret erfolgte und ob es in der Folge zu Konflikten mit d’Allio kam, was aber jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann. Die treibende Kraft bei der Weitergabe kaiserlicher Willensäußerungen war jedenfalls Graf Althan, der das besondere Vertrauen Karls VI. besaß und, ausweislich eines Briefes an Architekt d’Allio, diesem nachdrücklich klarmachte, dass die zu errichtenden Gebäude „nicht allein für das stift, sondern zum theil auch für eine kaiserliche residenz zu dienen“ hätten. Wir sind des Weiteren darüber unterrichtet, wie Propst Ernest und wohl die überwiegende Mehrheit der Chorherren zum Residenz-Aspekt des Stiftsneubaus standen, der nun durch die kaiserliche Aufforderung prachtvoller und damit auch kostspieliger ausfallen würde. Zurückhaltung ist ein diplomatisches Wort dafür, und der Grund dafür liegt auf der Hand: Kaiser erteilen Aufträge und erwarten deren Ausführung, geben aber für gewöhnlich kein Geld. So war es jedenfalls in unserem Fall, es bedurfte der Überredungsund Überzeugungskunst des Melker Abtes Dietmayr, der seinerseits Vertrauter des Kaisers starb. Bazin hält dessen Neubau-Auftrag nur für eine persönliche Spielerei, die vom Nachfolger im Amt des Propstes, Ernest Perger, nicht aufgenommen wurde. Vgl. Germain Bazin, Paläste des Glaubens, Bd. II., Augsburg 1997, 101
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und sein Berater für die Angelegenheiten der Klöster war, Propst Perger dazu zu bringen, den Extrawünschen des Souveräns, wie sie ihn in Gestalt der Aufforderungen Althans erreichten, zu willfahren. Erhalten ist aber eine Eingabe des Konventes an seinen Prälaten von 1740, in dem die Sorge der Chorherren, es ginge nur mehr um den vergänglichen Palast, aber nicht mehr um das geistige Gebäude, freimütigen Ausdruck fand9. Als Planungsphase II kann die „Um- und Aufrüstung“ des originalen d’Allio-Planes nach den kaiserlichen Interventionen betrachtet werden. Ein über die Maßen vermehrter Stiegenhaustrakt, eine reicher ausgeschmückte Fassade – besonders gegen Osten hin, wo der Kaiser wohnen sollte – sowie die Bekrönung der Kreuzungspunkte aller Trakte mit Kuppeln, die ihrerseits mit verschiedenen Herrscherkronen der Casa di Austria geschmückt werden sollten, sind einige der Kennzeichen dieser Phase. Es kann hier zwar die Einflussnahme durch Fischer von Erlach nicht schriftlich nachgewiesen werden, doch ist sie wahrscheinlich. Eine stilistische Nähe zu anderen, gleichzeitig im Bau befindlichen Projekten Fischers, insbesondere der Winter-Reitschule und dem sgn. Reichskanzleitrakt, ist unverkennbar. Eindeutig als Hinzufügung Fischer von Erlachs belegt ist das repräsentative ovale Vestibül vor dem Aufgang zu den Kaiserzimmern. Als weitere und III. Planungsphase – immer unter der Maßgabe zu sehen, dass es sich hierbei um nachträgliche Zu- und Beschreibungen handelt, die nicht in dieser Eindeutigkeit in den vorhandenen Unterlagen markiert sind – könnte man die Einführung von baulichen Elementen bezeichnen, die auf die Erzielung einer Fernwirkung berechnet worden waren. Der Mittelrisalit der Ostfassade, die variantenreichen Fensterrahmungen, ebenso die zur Donau gewandte dreiunddreißig Achsen umfassende Nordfassade, schließlich die Verdoppelung der zu den kaiserlichen Gemächern führende Treppenanlage, die nun einen eigenen Flügel einnimmt und zum Gegengewicht der den Westteil der Klosteranlage dominierenden Kirche wird, sind die wichtigen Elemente aus dieser Schlussphase der Baugeschichte. Zu Recht macht Huberta Weigl auf die Bedeutung aufmerksam, die ein Treppenhaus als Schauplatz eines höfischen Empfangs- und Verabschiedungszeremoniells haben kann. Vor allem aber die nach Wien gewandte Fassade des Komplexes verdient Beachtung. Um noch einmal Huberta Weigl anzuführen: Es „wird klar, dass die schrittweise Steigerung der Plastizität des Mittelrisalits nicht nur auf ein Mehr an Pracht und Aufwand (man beachte die Aufmerksamkeit, die selbst einfachen Tragelementen wie Konsolen zuteil wurde) abzielte, sondern zugleich von dem Bemühen geprägt war, dem Bau eine impo9
In der Eingabe heißt es: „Man kümmert sich um tote Steine, vergisst aber die lebendigen, die wir selber sind. Wir bauen ein gewaltiges Haus, sind aber nur 14 Chorherren, von denen einige zudem zu alt sind, um ihren Verpflichtungen nachzukommen. Schon müssen wir die Verwaltung unserer Güter den Franziskanern sowie Beichte und Predigt in der Kirche Maria Hietzing den Kapuzinern anvertrauen“; s. Bazin, Paläste des Glaubens, a. a. O., 108.
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sante Fernwirkung zu verleihen. In eindrucksvoller Weise sollte sich die Klosterresidenz Karls VI. mit ihren von Kronen besetzten Kuppeln, die durch ihre Lage auf einer bastionsartigen Terrasse an der Donau gleichsam in die Landschaft inszeniert wurde, für den von der Wiener Seite Kommenden präsentieren“. Doch auch nach innen hin, eigentlich nur für die Augen des Hofes und seiner Besucher bestimmt, achtete man auf geziemende Außenwirkung: Die Hoffassaden zeichnen sich durch eine Vielzahl sehr sorgfältig gearbeiteter Fensterrahmungen aus, von denen sich insgesamt sieben Varianten nachweisen lassen10. In der Gesamtwertung kommt Weigl zu dem Ergebnis: „Die architektonischen Detailformen in Klosterneuburg zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Architektur Wiens, und zwar nicht nur mit jener der 1730er Jahre, sondern mit der Architektur ab etwa 1690 im allgemeinen“. Es war an Geld und Originalität nicht gespart worden für jenes Projekt, das dem Kaiser so sehr am Herzen lag.
4. Warum so viel Mühe und Aufwand? Versuch einer Wertung
Wie schon einmal kurz erwähnt, ist das Klosterneuburger Bauprojekt nicht zu Ende geführt worden. Die in der „Innersten Retirade“, dem so reizvoll benannten Eckzimmer des Kaiser-Appartements, das allein dem Souverän zur Verfügung stehen sollte, aufbewahrte Idealansicht des Stiftes von 1774 aus der Hand von Joseph Knapp lässt erkennen, wie groß, ja gigantisch die Anlage ausgefallen wäre, wäre alles vollendet worden. Der gesamte heutige Stiftsplatz wäre bebaut worden, umfangreiche Gartenanlagen, auch ein kleiner Ankerplatz an der Donau wären noch dazugetreten, sodass man den heutigen erhaltenen Baubestand auf etwa nur ein Viertel des geplanten Projektes beziffern muss. 1737 bis 1739 hatten die Kaiserzimmer ihre prächtige Ausstattung erhalten, die übrigens bis ins Detail von Donato Felice d’Allio festgelegt worden war. Zum Leopoldifest des Jahres 1739 hatte Karl VI. erstmals darin Quartier genommen und sich äußerst zufrieden gezeigt. Ein nächstes Mal sollte dem Kaiser das nicht vergönnt sein: Er starb plötzlich und ohne erkennbaren Grund am 20. Oktober 1740. Sofort erlahmte die Bautätigkeit, und der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Chorherren und ihr nach wie vor den Krummstab führender Propst Ernest waren sicherlich nicht gegen die Betonung der Einheit von weltlichem und geistlichem Herrschaftsbereich eingestellt, wie dies im Aus- und Umbau ihres Stiftes einen nachhaltigen Ausdruck finden sollte. Der Stolz darauf, gegenüber allen anderen Klöstern des Landes bevorzugt zu wer10
Die Arbeit d’Allios zeichnet sich durch Genauigkeit gerade im Kleinen aus, wie Germain Bazin urteilt: „Selbst die kleinsten Details wurden sorgfältig überdacht, aufskizziert und ins Reine gezeichnet“; s. Bazin, Paläste des Glaubens, a. a. O., 108.
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den, wurde aber dadurch aufgehoben, dass das gewaltige Bauvorhaben alleine von ihnen zu bezahlen war11. Als echt absolutistisch denkender und handelnder Monarch stand dies für Kaiser Karl außer Frage. Nach dem Tod des Kaisers erlahmte also die Bautätigkeit sofort, aber auch noch aus einem anderen Grund: Die Tochter und Nachfolgerin Maria Theresia war den Klosterneuburger Chorherren genauso gewogen wie ihre Vorfahren, sie kam alljährlich zu den Leopoldi-Feierlichkeiten ins Stift auf Besuch, ließ aber sofort erkennen, dass sie am weiteren Fortgang der Bautätigkeit kein Interesse hatte. So bezog sie beim Stiftsbesuch auch demonstrativ die alten Kaiserzimmer in dem zwischen 1618–1630 von Pietro Giovanni Spaz erbauten Hoftrakt des Altstifts. Zudem ließ sie ein „liegengebliebenes“ Bauprojekt ihres Großvaters, des Kaisers Joseph I. (1678–1711, reg. seit 1705), wiederaufnehmen und baute das Jagdschloss Schönbrunn im Süden Wiens zur Sommerresidenz aus. Das war im Übrigen nur möglich, weil das Stift Klosterneuburg dafür bereitwillig Gründe zur Verfügung stellte. Im heutigen Wiener Bezirk Hietzing war das Stift reich begütert, auch die dortige, der Gottesmutter geweihte Pfarrkirche – in ihr hatte Karl VI. 1708 Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel geheiratet – war (und ist) eine der inkorporierten Pfarreien Klosterneuburgs. Der damalige Pfarrer von Hietzing, ein Angehöriger des Konventes, avancierte zudem zum Beichtvater und Vertrauten der Kaiserin. In Klosterneuburg legte man also 1740 Maurerkelle und Wasserwaage zur Seite. Weil sich nun aber ein recht unfertiger Torso dem Auge des Betrachters bot, kam man in der Biedermeierzeit – als nach dem Ende der napoleonischen Kriege auch die finanziellen Möglichkeiten wieder besser geworden waren – überein, wenigstens notdürftig das Liegengebliebene abzuschließen, war doch zum Beispiel der einzig fertiggestellte Hof - heute als Kaiserhof bekannt - nach einer Seite hin noch offen geblieben. Der renommierte Baumeister Joseph Georg Kornhäusel (1782–1860) machte sich mit dem Projekt, das auch einen architektonisch raffiniert konstruierten Kuppelsaal für die Bibliothek vorsah, einen Namen und erreichte in den Jahren ab 1834 bis 1842 einen ästhetisch befriedigenden Abschluss des Bauprojektes. Er war klug genug, sich an die barocken Pläne zu halten, die er nur behutsam modifizierte. Der Kuppelsaal der Stiftsbibliothek ist allerdings das sehr seltene Beispiel eines klassizistisch ausgeschmückten Repräsentationssaals im kirchlichen Bereich. 11
Es wurde dies formal aus der Stellung der Klöster als kaiserliche Kammergüter hergeleitet, wie Kaiser Ferdinand I. es 1523 festgelegt hatte. Möglicherweise hatte Propst Ernest Perger nach dem Baubeginn 1730 den Kaiser in geziemender Form auf die begrenzten finanziellen Möglichkeiten seines Hauses aufmerksam gemacht. Röhrig hält das für möglich, denn Karl VI. erließ am 6. Dezember 1735 abermals ein Dekret, das Klosterneuburg erneut und ausdrücklich zum kaiserlichen Kammergut bestimmte; s. Floridus Röhrig, Propst Ernest Perger (1707–1748), in: Elisabeth Ollinger/Floridus Röhrig/Ilse Schütz/Huberta Weigl, Der Traum vom Weltreich – Österreichs unvollendeter Escorial, Ausstellungskatalog, Klosterneuburg 1999, 27–36, hier: 33.
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Der zunächst liegengebliebene Bau als Miniatur dessen, was geplant war, ein wenigstens einen Teil abschließender Zubau zu späterer Zeit nach Plänen, die den Zeitgenossen längst altmodisch vorkommen mussten, das sind Sinn- und Deutbilder für die Vision Karls VI., aus Klosterneuburg ein Reichskloster und einen österreichischen Escorial zu machen. Dieses Vorhaben war schon in dem Moment, als es in Angriff genommen wurde, aus der Zeit gefallen. Huberta Weigl hat überzeugend gezeigt, dass das Trachten des Kaisers keineswegs danach ging, sich das idyllisch an der Donau gelegene Klosterneuburg als Sommerresidenz herzurichten. Bekannt ist, dass Karl VI. mit großer Regelmäßigkeit, aber darin auch dem Vorbild seiner Vorgänger Leopold I. und Joseph I. folgend, vier Residenzen nach festem Wechsel bewohnte: „Die Wiener Hofburg diente als Winterresidenz, die Favorita auf der Wieden als Sommerresidenz. Den Frühling verbrachte der Kaiser in Laxenburg, einige wenige Wochen im Herbst weilte er mit geladenen Gästen zur Jagd in Ebersdorf“. Man kann es als spezifisch habsburgisches Phänomen bezeichnen, dass die Jahreszeiten gleichsam den Wechsel des Ortes vorgaben. Eine Modifizierung dieses Systems war offenbar nicht vorgesehen, wie auch das Verhalten der Kaiserin Maria Theresia zeigt, die es vorzog, bei der Hofwallfahrt zum Leopoldifest die wahrscheinlich weniger bequemen, jedenfalls altmodischen Räume ihrer Vorfahren zu bewohnen und das für ihren Vater neu hergerichtete Appartement zu meiden. Vor diesem Hintergrund kann der Schluss gewagt werden, dass Karl VI. nie vorgehabt hat, Klosterneuburg zu eine seiner ständigen Residenzen zu machen und damit den seit alters her vorgegebenen Turnus des jahreszeitlich bedingten Wechsels im Aufenthaltsort neu zu ordnen12. Die Traditionspflege war dem Haus Habsburg schließlich zu allen Zeiten ein Anliegen. Was aber war dann der Beweggrund für den Herrscher, unmittelbar sowie über den Leiter des Hofbauamtes so vehement auf einen ins Gigantische gesteigerten Ausbau des Stiftes Klosterneuburg zu drängen? Damit wurde ja der ursprüngliche Plan der Chorherren, ihrem Kloster einen zeitgemäß ausgeführten, aber moderat geplanten Zubau zuzufügen, usurpiert und konterkariert. Es kann dies nur an der Bedeutung der Stätte als Hauptort der Leopold-Verehrung gelegen haben, zu der als Nebenmotiv der Gedanke trat, über ein „Reichskloster“ nach dem Vorbild des Escorial den Anspruch auf Spanien aufrechtzuerhalten. Denn kaiserliche Residenz für ein paar Tage rund um das kirchliche Gedenken des Stiftsgründers und Landespatrons Leopold am 15. November war Klosterneuburg ja schon seit langem. Außer diesem feststehenden Termin war der Ort immer nur als fall12
Doch beharrt Donato Felice d’Allio in einer 1755 verfassten Denkschrift, zu einer Zeit geschrieben, als klar schien, dass Klosterneuburg nicht zu Ende gebaut werden würde, dass die Anlage als „residenz Seiner Majestät des Kaisers“ konzipiert gewesen sei; so bei H. Weigl, Stift Klosterneuburg – der „Österreichische Escorial“, a. a. O., 92
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weiser Aufenthalt für die aufwendig inszenierten Hofjagden infrage gekommen. Der groß dimensionierte Ausbau des Stiftes musste also noch einen anderen Grund haben. In den Worten Weigls: „Für den Residenzstatus Klosterneuburgs ist nicht entscheidend, wie lange der Bau jedes Jahr bewohnt werden sollte, sondern welchen Intentionen, Werten und Ansprüchen er Ausdruck verlieh.“ Seit den bahnbrechenden Forschungen Franz Matsches von 198113 kann als gesichert gelten, dass alle Kunstunternehmungen Kaiser Karls VI. einen politischen Anspruch hatten und einer wohl überlegten Konzeption folgten – worin der Habsburger im Übrigen nur ein ähnliches Muster anderer Souveräne seiner Zeit imitierten. Man kann in diesem Anspruchsdenken etwa den Bau der Wiener Karlskirche als Ausdruck der Gottesfurcht, aber auch der Einbindung der Religion in das Staatsgefüge deuten, die neue Hofbibliothek als Betonung der Sorge um die Wissenschaften und Künste und der Hebung des Bildungsstandes. Karls Biograph Bernd Rill hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Kaiser in seinem Bauprogramm einem habsburgischen Triumphalismus gehorche, „der einhergeht mit dem ungebrochenen Verkünden der universalistischen und geschichtsgesättigten Kaiseridee. Also folgte man diesem Prinzip, unbekümmert darum, dass da der bauliche Schein dem politischen Sein nicht ganz entsprach. Dass Karl auf die spanische Monarchie und Amerika verzichten musste, kommt in seinem Architektur-Programm nicht vor“14. Das Klosterneuburger Projekt wäre vor diesem Hintergrund also ebenfalls nicht einer bloßen Laune des Kaisers entsprungen, sondern sollte wohl im Kreuzungspunkt verschiedener Überlegungen den Glanz des habsburgischen Kaisertums ebenso repräsentieren wie für die altbewährte pietas der Dynastie und deren nie in Zweifel gezogene Verbundenheit mit der römischen Kirche Zeugnis ablegen. Welcher Ort in Österreich wäre dafür geeigneter gewesen als Klosterneuburg? Geheiligt als Grabstätte des Landespatrons, durch einen ohnehin markanten Sitz auf einem Plateau oberhalb der Donau ausgezeichnet, als wohlhabendes Haus mit Möglichkeiten ausgestattet, die anderen Klöstern so nicht zur Verfügung standen. Die kronentragenden Kuppeln – wäre das Projekt vollendet worden, hätten neun dynastische Kronen von der länderübergreifenden Stellung der habsburgischen Monarchie gekündet – riefen im Donautal weithin den Machtanspruch Karls VI. aus. Als Hort der neuen Babenberger und wortwörtlich über dem Grab des Stifters hätte das Klosterneuburger Residenzschloss, das als Klosterresidenz auftrat, ein in Europa so lange nicht mehr gesehenes und auch nicht mehr übliches Konzept des Aufeinander-Bezogenseins von weltlicher und geistlicher Macht zum Ausdruck gebracht. Zugleich hatte der Kaiser wohl vor, ausgerechnet in einem Kloster die einzig moderne Residenz für sich und seine Nachfolger 13 14
Franz Matsche, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI., Zwei Bände, Berlin-New York 1981 S. Bernd Rill, Karl VI. – Habsburg als barocke Großmacht, Graz-Wien-Köln 1992, 200
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zu schaffen. Denn bei den vielen Bauprojekten, die er vollenden konnte – Österreichische Hofkanzlei und Hofkanzleitrakt, Hofbibliothek, Hofstallungen und Winterreitschule – war bisher der Aspekt des herrschaftlichen Wohnens zu kurz gekommen. In Wien musste bei den jeweiligen Teilprojekten aber jeweils Rücksicht auf die Struktur der Stadt und das vorgegebene Gesamt der bereits stehenden kaiserlichen Bauten genommen werden. In Klosterneuburg war man gewillt, den größeren Teil des vorhandenen Ensembles zu opfern, tabula rasa zu machen, wie es dem in dieser Hinsicht robusten Denken des Barock entsprach. Am Ende all des Planens und Bauens kam ein gewaltiger Torso heraus, der vor der biedermeierlichen Lückenfüllung besonders unfertig, ja erbärmlich ausgesehen haben muss. Kaiser Karls Denken, auch und gerade in Bezug auf seine Klosterneuburger Vision, muss als einfach aus der Zeit gefallen, als vorgestrig gewertet werden, und zwar bereits damals. Schönbrunn, das Karl VI. nicht mochte und nicht zu Ende bauen ließ, war bestimmt (und wurde schließlich auch) zu einer Wiener Ausgabe von Versailles, jener Schlossanlage, die sich ebenfalls einem souveränen Willen, eben dem Ludwigs XIV., verdankt. Es ist wenig originell, aber doch zutreffend, das Schloss von Versailles als materiellen Ausdruck absolutistischen Denkens zu bezeichnen, in einem Staat freilich, in dem der Herrscher seit langem klar und unangefochten die alleinige Macht für sich in Anspruch nahm und sich auch als Oberherr der Kirche fühlte und benahm. Die damit aber zwangsweise einhergehende Säkularisation der Gesellschaft war Karl VI. aber, wie übrigens alles Französische, von Grund auf zuwider. Sein Ideal, wie das schon seiner frommen Vorfahren, blieb der christliche Fürst, der im Einklang mit der Kirche regierte und sich zunächst Gottes Geboten verpflichtet sah. Hier wird sicher eine der Wurzeln des Klosterneuburger Projekts zu suchen sein, es sollte – wie Floridus Röhrig formuliert – „eine Manifestation der alten Herrscheridee werden, wie sie als mittelalterliche Partnerschaft von Imperium und Sacerdotium repräsentiert hatte, und die ihren letzten sichtbaren Ausdruck im Escorial Philipps II. gefunden hatte“15. Es kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, dass in der Mitte des 18. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, in der die Aufklärung schon seit Jahrzehnten im Schwange und als geistige Strömung tonangebend war, des habsburgischen Kaisers Rückgriff auf längst vergangene Zeiten von geradezu rührender Vorgestrigkeit war, auch keinesfalls mehr anschlussfähig an zeitgenössisches staatsrechtliches Denken. Allerdings muss die Escorial-Anknüpfung doch etwas modifiziert werden: In dem spanischen Granitschloss war eindeutig die Kirche der bauliche Mittelpunkt, in Klosterneuburg steht der Residenzbereich dem Gotteshaus gleichberechtigt gegenüber. Der hochragende Chor der Stiftsbasilika hat ein 15
Vgl. Floridus Röhrig, Der Traum vom Weltreich, in: Ollinger/Röhrig/Schütz/Weigl, Der Traum vom Weltreich, a. a. O., 9–16, hier: 14 f.
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bauliches Gegenüber im mächtigen Stiegenhaus, das zum kuppelbekrönten Marmorsaal führt. Auch fällt schon dem oberflächlich schauenden Betrachter der Unterschied im Stil zwischen den beiden Escorial-Bauten auf: In Spanien, auch wegen des grauen Steins, ein eher erdrückender Eindruck, das österreichische Pendant atmet dagegen Üppigkeit und Pracht. Freilich liegen auch gute 150 Jahre zwischen den beiden Bauten, die Art zu bauen war eine andere geworden. Es ist wiederum Röhrig, der darauf aufmerksam macht, dass der Donau-Doppelbau von Kloster und Palast auch etwas vom Charakter seines Erbauers widerspiegle. Das – natürlich – spanische Hofzeremoniell (das sich in einigen kleinen Eigenheiten auch bei förmlichen Auftritten der Republik Österreich erhalten hat), das Kaiser Karl sehr wichtig war und jedem offiziellen Akt große Förmlichkeit verlieh, stehe auf der einen Seite, eine echte, herzliche Frömmigkeit und die liebevolle Art im Umgang des Kaisers mit seiner Familie, seine sich durchaus auch Fremden mitteilende humorvolle, gutmütige Art auf der anderen.16 Die Motive überschneiden sich also: Anknüpfung an die Zeit der Babenberger, mit denen die österreichische Staatlichkeit begann, die bewusste Nachfolge des Landespatrons Leopold III., dessen Lieblings- und Herrschaftsort Klosterneuburg war und der „als ‚Rex perpetuus Austriae‘ identisch mit dem und durch den jeweiligen Landesfürsten regierte“17, aber auch die nie aufgegebene Anwartschaft auf die spanische Krone, auf die in Klosterneuburg formal wie inhaltlich Bezug genommen wurde. Der Escorial als leitende Bauidee ist das eine, die konkret-sichtbaren Hinweise auf Spanien sind das andere: Das prächtig ausgeschmückte Chorgestühl – eine Schöpfung des auf so vielen Gebieten begabten Matthias Steinl – ist an seinen einzelnen Sitzen mit den Wappen der damals zum Habsburgerreich gehörigen Territorien geschmückt18. Es ist bisher nicht beachtet worden, dass das dem Propst des Hauses zustehende stallum mit dem persönlichen Wappen Karls VI. dekoriert ist: Halb der österreichische Binden-Schild, halb der Turm aus dem Wappen Kastiliens. Das dem Klostervorsteher gegenüberliegende Chorgestühl, welches dem zweiten Mann im Haus, dem Stiftsdechanten, vorbehalten ist, zeigt sogar das komplette spanische Königswappen aus der Zeit der Mitte des 18. Jahrhunderts. In der Sprache der Heraldik nennt man das ein Anspruchswappen, das also dem Betrachter vorgaukeln soll, der Wappenführende sei noch oder wieder im Besitz des Landes, mit dessen Zeichen er sich
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Vgl. Floridus Röhrig, Der Traum vom Weltreich, a. a. O., 15 So Huberta Weigl, Stift Klosterneuburg – Der „Österreichische Escorial“, in: Karl Holubar/Wolfgang Christian Huber, Die Krone des Landes – Klosterneuburg und Österreich, Ausstellungskatalog, Klosterneuburg 1996, 75–98, hier: 91 Zum Chorgestühl s. auch Franz Matsche, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI., I. Bd., a. a. O., 239
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schmückt19. Auch bei den nächsten, sich anschließenden Sitzen taucht die Anknüpfung an die einstigen südeuropäischen Territorien Habsburgs noch einmal auf, Neapel-Anjou und Aragon sind darin heraldisch gewürdigt. Deutlicher hätte den Träumen Karls auf Wiedererlangung des geliebten Spaniens nicht Ausdruck verliehen werden können. Viermal und vor allen anderen Wappen Österreichs und der Kronländer figurieren hier Anspielungen auf die iberische Halbinsel. Mehrfach als geschnitztes oder in Stuck ausgeführtes Motiv taucht in der Ausstattung der Kaiserzimmer zudem das persönliche Emblem Kaiser Karls V. auf, die das eigentliche Ende der Erde markierenden Herkules-Säulen und der Erdball20. Das von diesem Herrscher verwendete Motto „Plus ultra“ nahm überdeutlich Bezug auf den Weltmacht-Anspruch, der – zu Zeiten Karls V. eingelöst – für Karl VI. bloße Schimäre blieb. Dessen persönlicher Wahlspruch „Constanter continet orbem“ mutet wie Hohn an. So ist festzuhalten, dass der Stückwerk gebliebene Bau von Klosterneuburg in jeder Hinsicht zu spät kam. Die Einheit von Staat und Kirche, wie sie etwa im ottonischen Reichskirchensystem zum Ausdruck gekommen war, bestand schon lange nicht mehr, der absolutistisch aufgebaute Staat des 18. Jahrhunderts duldete die Kirche allenfalls, wollte sie aber zugleich auch kontrollieren und strebte landeskirchliche Lösungen an, um den Einfluss Roms möglichst zu verringern. Vom Baubeginn in Klosterneuburg an gerechnet sollte es nur noch zwei Generationen dauern, bis das ehrwürdige Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das damals schon von vielen lächerlich gemacht und in seiner Sinnhaftigkeit angezweifelt wurde, auch formal zu bestehen aufhören sollte. Ein letztes Mal, so scheint es, hat die Idee eines „heiligen Reiches“ in Klosterneuburg architektonischen Ausdruck erhalten21. Ein Ort sollte wiedererstehen, an dem der Herrscher, umgeben von Klerikern, die für ihn beten, seine Residenz nehmen würde, wie Karl der Große es einst vorgemacht 19
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Dazu siehe Gert Oswald (Hrsg.), Lexikon der Heraldik, Leipzig 1984, 41. Weitere Beispiele dafür wären das Wappen Frankreichs, das noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts im britischen Königswappen erscheint, oder die Embleme Zyperns und Jerusalems im großen Wappen der Herzöge von Savoyen. Dass auf Karl V. Bezug genommen wurde, ist kein Zufall. Er wurde von den Habsburger-Herrschern selber als Exemplum angesehen, an dem Maß zu nehmen sei. „Er war die Repräsentationsgestalt der auf einem unüberbietbaren Höhepunkt gestiegenen Machtstellung der Habsburger in Europa und in der Herrschaft über alle Erdteile“, so Matsche, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Karls VI., I. Bd., a. a. O., 242. Am Rande sei erwähnt, dass die von Gustav Steinbömer 1933 und Hans Sedlmayr 1938 aufgeworfene Frage nach dem Reichs- oder Kaiserstil, also die These, dass die deutsche Barockkunst als „Kaiserstil mit einer Tendenz zum Reichsstil“ zu charakterisieren sei, es weiter wert wäre, verfolgt zu werden, auch vor dem Hintergrund des Klosterneuburger Beispiels. Es ist dies, aus mancherlei Gründen, aber kein Thema in der Forschung und kann auch hier nur kurz angesprochen werden. Vgl. dazu auch Joachim Whaley in seinem magistralen Werk zum Alten Reich, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Zweiter Band, Darmstadt 2017, 161 f.
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hatte. Der spanische Kunstkritiker und Historiker José Cámon Aznar (1898–1979) nannte einmal den Escorial den Grundstein des Hauses Österreich. Klosterneuburg hätte sein Schlussstein werden können, doch wurde dieser Stein nie gesetzt, konnte nicht mehr gesetzt werden Denn zur gleichen Zeit lieh ein Voltaire – und viele andere – schon einem ganz anderen Geist die Feder und fand dafür Beifall. Man war ins Zeitalter der Aufklärung mit ihrer umfassenden, grundstürzenden Endsakralisierung eingetreten22. Fern jeder Staatsmystik soll aber auch noch kurz einem ganz anderen Motiv für den Klosterum- und -ausbau nachgegangen werden: Klosterneuburg gehörte, dank der Munifizenz seines Gründers Leopold, aber wohl auch aus eigenem Können, zu den wohlhabenden Klöstern des Landes, in dem die Wirtschaft immer florierte. Der Staat hatte durchaus ein Interesse daran, die Klöster nicht zu mächtig werden zu lassen. Kostspielige Bauunternehmungen machten sie ärmer, brachten zugleich viele Menschen in Lohn und Brot und nützten so der Gesamtwirtschaft. Am Ende sollte der Staat in Gestalt seines Oberhauptes noch einen Nutzen davon haben, indem das Gebäude von diesem als Wohn- und Residenzort (mit-)genutzt wurde. Bevor dann in einer späteren Zeit die Kirche offen verfolgt werden sollte, hatte der absolutistische Staat mit den Kloster-Neubauten ein probates Mittel in der Hand, die Klöster, die in Österreich ja nicht Reichsstände sein konnten, zu kontrollieren und zu schwächen. Karl VI. hat sich seinen Traum vom Weltreich nicht erfüllen können. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass seine kaiserlichen, von ihm nur einmal bewohnten Räume 1805 von dem Mann inspiziert wurden, der für sich in Anspruch nehmen kann, wieder ein, allerdings nur kurzfristig bestehendes Weltreich gegründet zu haben – vom großen Korsen. Der dann, das setzt der Ironie die Krone auf, fünf Jahre später eine kaiserliche Erzherzogin in zweiter Ehe heiraten sollte und so in eine mittelbare, aber enge Beziehung zum Auftraggeber der Klosterneuburger Kaiserzimmer treten sollte. Was Napoleon sich gedacht haben mag, als er am frühen Nachmittag des 20. Dezembers 1805 im Marmorsaal, dem großen Empfangsraum vor den Kaiserzimmern, unter Daniel Grans 1749 fertiggestelltem Deckenfresko zum Thema „Die Glorie des Hauses Habsburg“ wandelte, ist nicht überliefert. Immerhin zeigte sich der Kaiser der Franzosen freundlich, lobte den Wein, den man ihn kosten ließ und interessierte sich ansonsten besonders für die Stiftsbibliothek, damals wie heute die größte private Bibliothek des Landes. Der Weltreich-Gedanke, dem Kaiser Karl VI. über die spanische Episode in seinem Leben anhing und für den auch der letztlich wahnwitzige Gedanke steht, einen überdimensionierten Residenztrakt zu bauen, der alljährlich für zwei Tage genutzt worden wäre, 22
Immerhin sei festgehalten, dass schon Kaiser Leopold I. durchaus kritisch mit einigen Äußerungsformen barocker Frömmigkeit umgegangen ist, worauf Anna Coreth in ihrem klassischen kleinen Werk „Pietas Austriaca“, Wien 1959, 74 f., aufmerksam gemacht hat.
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war offenbar schon zu Zeiten des Kaisers bei nicht dem Hof Zugehörigen angefochten und brüchig, wie der deutlich kritische Unterton in der Wortmeldung des Klosterneuburger Konvents von 1740 erkennen lässt. Der französische Kunsthistoriker Germain Bazin nimmt das auf, wenn er urteilt: „Der extravagante und wirklichkeitsfremde Charakter der ‚Paläste des Glaubens‘ kommt in den Bedenken des Kapitels gut zum Ausdruck. Klosterneuburg wäre wenn nicht das schönste, so das eindrucksvollste dieser Klöster geworden; wie kein anderes hätte es die Einheit von staatlicher und kirchlicher Macht veranschaulicht, eine Einheit, an die viele noch glaubten, obwohl ihr Untergang kurz bevorstand.“23 Es umgibt also das Klosterneuburger Projekt eine Aura des Zu-spät-Kommens, des Vergeblichen, der „Epochen-Verschleppung“, um ein Wort des 1914 noch zu kaiserlichen Zeiten in Czernowitz zur Welt gekommenen Schriftstellers Gregor von Rezzori zu verwenden. Als es schon nicht mehr möglich, auch gar nicht mehr erwünscht war, stemmte man sich noch einmal gegen den kalten Atem der Moderne und beschwor die vormoderne Einheit von Thron und Altar. Trotziger Widerstand gegen das Ende der habsburgischen Herrschaft über Spanien war wohl ein wichtiger Grund, weil dieses Motiv in der Klosterneuburger Kirche wie im kaiserlichen Wohnbereich besonders nachdrücklich inszeniert wurde und so nachgewiesen ist. Weiters ist zu bedenken, dass der Escorial als Bau-Vorlage oder wenigstens Anregung zeitgleich damals auch für ein anderes wichtiges österreichisches Stift eine Rolle spielte, nämlich für Göttweig24. Vorher schon ist es für Seckau, St. Paul im Lavanttal und Vorau – gleichfalls den Augustiner Chorherren zugehörig – nachgewiesen.25 Doch ist das Chorherrenstift an der Donau in besonderer Weise wegen seiner Gründung durch den einstigen Landesherrn Leopold – der seinerzeit Klosterneuburg auch zur Hauptstadt machte, lange bevor Wien es wurde – in ganz eigener, bei anderen Klöstern so nicht anzutreffender Weise geprägt und geheiligt. Bevor Karl VI. dies – gewissermaßen après la lettre – tat, bestand ja zu Zeiten des heiligen Stifters wirklich die von diesem Kaiser beschworene Union von geistlichem und weltlichem Arm, die beide am gleichen Ort zum Wohle des Landes wirkten. An keinem anderen Ort hätte der Habsburger also seine Vision, da zu herrschen oder – wenigstens an den Leopoldi-Tagen, wo zugleich für ihn gebetet wurde – den Anschein des Herrschens zu erwecken, verwirklichen können, wenn nicht in Klosterneuburg. Seine Tochter, die persönlich fromme, aber schon rationalistisch 23 24 25
Siehe Bazin, Paläste des Glaubens, a. a. O., 108 Dazu Bazin, Paläste des Glaubens, a. a. O., 109 f. Bei Göttweig stand allerdings niemals die Möglichkeit im Raum, Aufenthaltsort des Monarchen jenseits zufälliger Besuche zu sein. Vgl. hierzu Huberta Weigl, Stift Klosterneuburg – Der „Österreichische Escorial“, a. a. O., 86 f. Weigl urteilt: „Den End- und Höhepunkt erreichte die Orientierung der österreichischen Klöster am Escorial mit den in enger Beziehung zum Herrscherhaus stehenden Stiften Göttweig und Klosterneuburg.“
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denkende Maria Theresia, wollte dem Vater darin nicht mehr folgen, sie hatte erkannt, dass Geschichte nicht als nostalgische Wiederholung beschworen werden kann. Klosterneuburg blieb so ein Versuch gewordener Gedanke, eine nur zu kleinen Teilen Wirklichkeit gewordene Vision, ein Bild aus fernen Zeiten, das aber gerade in der Vergeblichkeit des Bemühens anrühren muss und so den Blick auf das zu lenken vermag, was immer bleibt und alleine Bestand hat.
Literaturverzeichnis Bazin, Germain, Paläste des Glaubens – Die Geschichte der Klöster vom 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Zwei Bände, Augsburg 1997. Coreth, Anna, Pietas Austriaca – Ursprung und Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich, Wien 1959. Hantsch, Hugo, Jakob Prandtauer – Der Klosterarchitekt des österreichischen Barock, Wien 1926. Kugler, Georg Johannes, Der österreichische Erzherzogshut und die Erbhuldigung, in: Floridus Röhrig/Gottfried Stangler (Hrsgg.), Der heilige Leopold – Landesfürst und Staatssymbol, Landesausstellung 1985 in Klosterneuburg, Katalog, Wien 1985. Matsche, Franz, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI., Zwei Bände, Berlin-New York 1981. Ordenskanzlei des Ordens vom Goldenen Vlies, Das Haus Österreich und der Orden vom Goldenen Vlies, Graz-Stuttgart 2017. Oswald, Gert (Hrsg.), Lexikon der Heraldik, Leipzig 1984. Rill, Bernd, Kaiser Karl VI. – Österreich als barocke Großmacht, Graz-Wien-Köln 1992. Röhrig, Floridus, Die Stifte der Augustiner-Chorherren in Österreich, Südtirol und Polen, Klosterneuburg-Wien 1997. Röhrig, Floridus, Propst Ernest Perger (1707–1748), in: Elisabeth Ollinger/Floridus Röhrig/ Ilse Schütz/Huberta Weigl (Hrsgg.), Der Traum vom Weltreich – Österreichs unvollendeter Escorial, Ausstellungskatalog, Klosterneuburg 1999. Röhrig, Floridus, Der Traum vom Weltreich, in: Elisabeth Ollinger/Floridus Röhrig/Ilse Schütz/Huberta Weigl (Hrsgg.), Der Traum vom Weltreich – Österreichs unvollendeter Escorial, Ausstellungskatalog, Klosterneuburg 1999. Weigl, Huberta, Stift Klosterneuburg – der „Österreichische Escorial“, in: Karl Holubar/Wolfgang Christian Huber (Hrsgg.), Die Krone des Landes – Klosterneuburg und Österreich, Ausstellungskatalog, Klosterneuburg 1996 13. Weigl, Huberta, Die Genese der Klosterresidenz Kaiser Karls VI., in: Chorherrenstift Kloster-
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neuburg (Hrsg.), Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg, Neue Folge, Bd. 17, Klosterneuburg 1999. Whaley, Joachim, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Zwei Bände, Darmstadt 2014.
Die Heilige Krone Österreichs1 Udo Thianich-Schwamberger
Als sich am 19. Juni 1835 das mächtige Zeremoniell der Erbhuldigung zu Ehren des neuen Kaisers Ferdinand I. in Gang setzte, ahnte niemand der Anwesenden, dass es das letzte Aufgebot dieser Art in der Geschichte Österreichs sein sollte. Die goldene Erinnerungsmünze aus der „Sammlung Bandion“, die als symbolische Gabe des neuen Souveräns an Untertanen verschenkt wurde, erinnert uns bis heute an das Geschehen und vereint auf sich die wichtigsten Denkwürdigkeiten dieses Tages. Es sind dies der Name des neuen Kaisers, Ferdinand, das Datum der Erbhuldigung und jene Insignie, die durch die Geschichte gleichsam zum Synonym für das Erzherzogtum Österreich geworden ist, der Erzherzoghut. Seit dem beginnenden 17. Jahrhundert und dem aufstrebenden Barockzeitalter wurden auch die Erbhuldigungen ihrer Zeit entsprechend immer prunkvoller im Zeremoniell und ihrer Ausstaffierung. Die umfangreichen Beschreibungen mitsamt den protokollarischen und zeremoniellen Details der niederösterreichischen Huldigungen im 17., 18. und 19. Jahrhundert bieten eine Darstellung, in der das Zeremoniell jedem einzelnen Teilnehmer nach Stand, Ehre und Funktion seinen Platz zuwies. Damit ist für ein Momentum ein Abbild der idealen Staats- und Gesellschaftsordnung vermittelt.2 Es wurde ein Festumzug der Stände in den Stephansdom mit einem Hochamt abgehalten und anschließend eine Prozession über den Graben zur Hofburg. Der Huldi1
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Zum 70. Geburtstag beglückwünsche ich Wolfgang Bandion und rufe ihm zu: ad multos annos. Es ehrt mich, dass Wolfgang Bandion mich als seinen Freund bezeichnet. Er ist ein Mensch der Eindruck macht, und das in jeder Weise. Sein scharfes Denken bedient sich der besten Stücke der Philosophie, Kunst und Geschichte der Jahrhunderte und seine Präzession für das Schöne und Edle macht ihn zu einem Singulären. Vor allem sein Erzählen wirkt oft wie ein Gruß aus der alten Heimat und von den Menschen dort. Das alles gibt es heute, in einer Zeit, in der sich ein jeder mehr oder weniger, in welche Richtung immer, als dreh- und dehnbar erweist und zeigt, immer seltener. Umso mehr beeindruckt und folglich geprägt werden jungen Menschen durch die Singulären, weil sie auf eine sehr eigene Weise sich selbst zum Ausdruck bringen und authentisch sind. Ich will es in einem Satz zusammenfassen: Solange Österreich Menschen wie Wolfgang Bandion aus seinen Reihen hervorbringt, hat die Devise Gültigkeit: Austria erit in orbe ultima. André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800– 1800), Stuttgart, New York 1991, S. 457
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Goldjeton zur Erbhuldigung, 1835, FERDINANDO I. AVSTRIAE IMPERATORI (Av.) FIDES AB AVSTRIA PRAESTITA (Rv.) – Die dem Kaiser Ferdinand I. von Österreich erwiesene Treue. RECTA TVERI – Das Rechte schützen – Wahlspruch von Kaiser Ferdinand I.
gungsakt fand in der Hofburg mit anschließendem Te Deum in der Hofburgkapelle und einem darauffolgenden Festmahl statt.3 Bei diesem Anlass trugen die Vertreter der Erbländer die Insignien der Erbhuldigung und übten in symbolischer Weise die alten mittelalterlichen Hofdienste aus. Ein Objekt sticht aus der Reihe der Insignien exemplarisch heraus: der 1616 gestiftete Erzherzogshut, die Heilige Krone Österreichs. Bis heute wird er im Stift Klosterneuburg verwahrt, wo er von Anfang an seinen zugedachten Platz, am Reliquiar des Heiligen Leopold von Österreich, seinen Aufbewahrungsort hat. So wurde er zum Symbol für den Heiligen Leopold und auch für die Erzherzogtümer ob und unter der Enns. Das Land Oberösterreich ziert bis heute sein offizielles Landeswappen mit ihm. 1620 fand zum ersten Mal die Erbhuldigung für den neuen Kaiser Ferdinand II. mit dem Erzherzogshut statt. Dies begann mit der „Einholung des Erzherzogshutes nach Wien“, welcher fortan für alle Erbhuldigungen in einem feierlichen Zuge von Klosterneuburg nach Wien überführt wurde. Die Galasänfte, die für die Überführung verwendet wurde, ist bis heute in der Wagenburg erhalten.4 Der Erzherzogshut wurde zu diesem Zweck der Schatzkammer im Stift entnommen und den kaiserlichen Kommissären in einem Lederetui übergeben. Am Fuß der Kaiserstiege des Stifts Klosterneuburg wartete diese Galasänfte, in der das kostbare Objekt mit einem Seidenband befestigt wurde. Beim Auszug aus Klosterneuburg und Stunden später 3
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Anton Mayer, Die zur Erbhuldigung Kaiser Leopolds II. als Prachtausgabe geplante Erbhuldigungsbeschreibung der niederösterreichischen Stände. In: Monatsblatt des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich 9, Wien 1918, S.153 ff. Karl Vocelka, Lynne Heller, Die Lebenswelt der Habsburger. Kultur- und Mentalitätsgeschichte einer Familie, Graz-Wien-Köln 1997, S. 179
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Georg Christoph Kriegl, Übertragung des Erzherzogshuts, Kupferstich, 1740
beim Eintreffen der Eskorte in Wien diente diese Sänfte nicht nur als Transportmittel, sondern auch als tragbare Vitrine für die Landeskrone. Nur für den Staatsakt der Erbhuldigung und für die maximale Dauer von 30 Tagen durfte die Landeskrone aus dem Stift entlehnt werden. Dies ist ausdrücklich in der Stiftungsurkunde festgelegt.5 Papst Paul V. bestätigte diese Stiftung und bedrohte jedes Zuwiderhandeln mit der Exkommunikation. Abgesehen von der Sicherstellung in Kriegszeiten verließ der Erzherzogshut nur einmal über einen längeren Zeitraum das Stift. Kaiser Josef II. befahl alle österreichischen Herrschaftsinsignien in der Wiener Schatzkammer zu vereinigen. Doch mit dem Regierungsantritt Kaiser Leopolds II. im Jahr 1790 kehrte die Landeskrone nach sechs Jahren unter großem Jubel der Bevölkerung nach Klosterneuburg zurück. Das Stift Klosterneuburg, welches auch als österreichischer Escorial bezeichnet wird, weist künstlerisch auf den Monumentalplan Kaiser Karls VI. hin, der nach spanischem Vorbild kaiserliche Residenz und Kloster vereinen wollte. Das Vorhaben, ab 1730 in Klosterneuburg die größte aller barocken Klosteranlagen entstehen zu lassen, fand mit dem Tod Karl VI. im Jahre 1740 ein jähes Ende. Als das Bauvorhaben eingestellt wurde, war erst ein Achtel des Idealplanes verwirklicht, darunter der Marmorsaal, die Kaisertreppe und die prachtvollen Kaiserappartements. 5
Wolfgang Pauker: Der Österreichische Erzherzogshut im Stifte Klosterneuburg, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, N.F. 7.1933, S. 229–248
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Im Fresko der Kuppel des Marmorsaals, das die Glorie des Hauses Österreich thematisiert und 1749 von Daniel Gran gemalt wurde, findet man einen dezenten Hinweis auf den Erzherzogshut. Eine kleine Nebenszene spielt hier auf das Stift als Hüter der Landeskrone an. Auf einer Wolke ruht auf rotem Polster der Erzherzogshut, ein Putto flankiert ihn schützend und hält einen goldenen Schlüssel als Sinnbild der Schatzkammer in seinen Händen. Auch im Chorgestühl der Stiftsbasilika findet man auf jeder Stuhlbank das Landeswappen eines österreichischen Erblandes. So hatte jeder Chorherr täglich im Gebet zu gedenken. Am 15. November 1616, dem GedenkBergkristallpokal von Erzherzog tag des heiligen Leopold, übergab Erzherzog Maximilian III. Maximilian III. dem Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg in Niederösterreich den Erzherzogshut als Landeskrone Österreichs und als „Symbol der Einheit der österreichischen Erblande“.6 Jener Erzherzog Maximilian III., Hochmeister des Deutschen Ordens und Regent von Tirol, war der jüngere Bruder von Kaiser Rudolf II. und tat sich durch außerordentliche Frömmigkeit, Kunstsinn sowie waches Interesse an Naturwissenschaften und der Geschichtsforschung hervor. Bei der Übergabe seiner Stiftung küsste Maximilian die Schädelreliquie des heiligen Leopold und krönte sie mit dem Erzherzogshut. Mit dieser Geste zeigte er auch symbolisch, dass die heiligen Heilkräfte der Reliquie auf die Landeskrone übertragen werden und folglich auf jeden neuen Landesfürsten übergehen sollen. Als heilige Krone des Landes sollte er immer in unmittelbarer Nähe zu den Reliquien des Landespatrons aufbewahrt werden. Fortan sollte er für zehn Habsburgerregenten bei der Erbhuldigung Verwendung finden, darunter auch für eine Frau: Erzherzogin Maria Theresia. Georg Christoph Kriegl ist es zu verdanken, dass wir einen ausführlichen Bericht über Maria Theresias Erbhuldigung vom 22. November 1740 in Buchform vorliegen haben. Besonders die darin enthaltenen Kupferstiche lassen erahnen, welche barocke Pracht der Festumzug der neuen Herrscherin, umringt von den Oberst-Erb-Ämtern in ihrer Ze6
Gertrud Pfaundler: Tirol-Lexikon, Innsbruck 1983, S. 254 – zit. nach dem Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon
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remonientracht und ihren Attributen, gewesen sein muss. 7 Seine vorerst letzte offizielle Verwendung fand der Erzherzogshut im Jahre 1989, als dieser im Stift bei der Totenvesper der letzten österreichischen Kaiserin Zita den Sarg am Trauergerüst bekrönt hat. Maximilian III. stiftete neben dem Erzherzogshut auch eine Silberbüste und ein Armreliquiar. Beide Gegenstände sind während der napoleonischen Kriege der Edelmetallablieferung zum Opfer gefallen und eingeschmolzen worden. So wurde der Erzherzogshut auch das Symbol für einen österreichischen Titel, der – exklusiv und zweifelsohne mit fragwürdigen Belegen – für das Haus Habsburg Etablierung fand. Herzöge gab es viele auf der Welt, Erzherzöge jedoch nur in Österreich. Die Vorsilbe „Erz“ weist bis heute auf eine hervorgehobene Stellung hin. Mit diesem Kunstgriff vermochte sich der Erzherzog den Vorrang vor den gewöhnlichen Herzögen im Reich zu eigen zu machen, welcher durch das Privilegium Maius aus dem Jahr 1359 seine Bestätigung dafür herleitete. Rudolf IV., genannt „der Stifter“, ließ 1358/59 das Privilegium Maius als Reaktion auf die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. erstellen, welche die Wahl- und Krönungsabläufe der römisch-deutschen Könige festlegte. Sie räumte ihm und dem Haus Habsburg keine Kurstimme ein. Der ehrgeizige und junge Rudolf wollte nun mit mehreren gefälschten Urkunden seinen Rang bestätigen und ließ seine Rolle als Erzherzog damit bekräftigen, denn er empfand sich der römisch-deutschen Königswürde willkürlich beraubt.8 Der Überlieferung nach ließ bereits Rudolf IV. eine Art Herrschaftsinsignie als Königskrone, ähnlich dem Erzherzogshut, anfertigen, welche sich aber nicht erhalten hat. Erst Friedrich III. nahm den Gedanken zur Aufwertung seiner Dynastie wieder auf und ließ 1453 als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation kraft seiner Majestätsrechte das Privilegium Maius bestätigen. Fortan war aus dem Herzogtum Österreich das Erzherzogtum Österreich kreiert und der Titel Erzherzog wurde im Haus Habsburg zum wichtigsten Attribut der erblichen Titulatur legitimierter Mitglieder des Hauses. Am Titelblatt der für Kaiser Maximilian I. angefertigten Abschrift des Privilegium Maius von 1512 zeigt sich der österreichische Bindenschild, auf dem der durch Zacken, einem Bügel samt Kreuz, der einer Königskrone ähnelnde österreichische Erzherzogshut, abgebildet ist. Diese Darstellung ist insofern eine signifikante Machtdemonstration, da das Zackendiadem ein von antiken Münzen bekanntes Motiv war. Es war das Krondiadem der römischen Cäsaren, das sei7
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Georg Christoph Kriegl: Erb-Huldigung, Welche der Allerdurchleuchtigst-Großmächtigsten Frauen, Frauen Mariae Theresiae, Zu Hungarn, und Böheim Königin, Als Ertz-Herzogin zu Oestereich, Von denen gesammten Nider-Oesterreichsichen Ständen, von Prälaten, Herren, Rittern, auch Städt und Märckten allerunterthänigst abgelegt Den 22. Novembris Anno 1740. Und auf Verordnung Wohlermelten Löblichen Herren Ständen, mit allen Umständen außführlich beschrieben worden, Wien 1740. Alphons Lhotsky: Privilegium Maius. Die Geschichte einer Urkunde, Wien 1957, S. 34 ff.
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nen göttlichen Anspruch von „Sol Invictus“, dem römischen Sonnengott, direkt herleitete. Die Zacken gelten als Sinnbild und Gloriole der Unbesiegbarkeit. Der Bügel, welcher mit einem Kreuz besetzt war, leitete sich direkt von der Reichskrone ab und versinnbildlichte einen nicht minderen Stellungsanspruch. Diese Darstellung und Verwendung war gewiss für die Reichsfürsten mehr als bloß eine Provokation. Der geschlossene textile Hut, versehen mit Hermelinbesatz, war das Symbolbild der Kurfürstenwürde. Noch aufgebessert mit dem umschließenden Zackendiadem und dem Bügel samt Kreuz, war dieser durch seine imperiale Ausschmückung eine Kampfansage. Dass diese Abbildung aber in Vergessenheit geraten sein musste, lässt vor allem die Stiftung von 1616 vermuten, da dieser Erzherzogshut anders als in den älteren Beschreibungen mit einem Doppelbügel versehen war. Für Kaiser Joseph II. kam es aber zu einer neuen Anfertigung des Erzherzogshutes. Bei der Festlegung Wappen und Siegel des jungen Erzherzogs war man auf eine Diskrepanz in der Beschreibung der Ausfertigung zwischen dem mittelalterlichen Erzherzogshut und dem in Klosterneuburg befindlichen Hut aufmerksam geworden. Theodor von Rosenthal konnte als kaiserlicher Hausarchivar den Staatskanzler Kaunitz von der Richtigkeit der Forschungsergebnisse überzeugen. Nicht zuletzt der Reliquiencharakter des Hutes in Klosterneuburg war mit ein Grund, in der Vorahnung der gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche zur bevorstehenden Krönung Josephs II. zum römischen König, die ja bekanntlich zu Lebzeiten seines Vaters, Kaiser Franz I. Stephan, in Frankfurt stattfand, einen neuen Erzherzogshut anfertigen zu lassen. Dieser sollte nun die als historisch korrekt angesehen Form haben. Von der damals angedachten Umarbeitung des Hutes von 1616 nahm man glücklicherweise Abstand. Der von Joseph II. tatsächlich zu Beginn der Krönungsfeierlichkeiten getragene Erzherzogshut war wieder nur mit einem Bügel gefertigt. Heute sind nur noch seine Karkasse und eine Lederkassette erhalten, denn der Edelsteinschmuck wurde im 18. Jahrhundert abgenommen und anderwärtig verwendet. Mit dem Erzherzogshut ist im Kultur- und Identitätsbewusstsein eine Insignie entstanden, die, verbunden mit der Tradition der Stephanskrone in Ungarn und der Wenzelskrone von Böhmen, einen dynastischen Trialismus kennzeichnete. So sind die großen Patrone der Länder, der Heilige Wenzel von Böhmen, der Heilige Stephan von Ungarn und der Heilige Leopold von Österreich, sinnbildlich durch die Würde der Kronen gegenwärtig, und sie vereinen ihre Würde in einer Person, der des regierenden Landesfürsten.9 Wenn ein österreichischer Landesfürst seine neue Herrschaft antrat, fand in Österreich keine Krönung statt, sondern eine Erbhuldigung.10 Die Landstände als Repräsentanten 9 10
Anna Hedwig Benna: Erzherzogshut und Kaiserkrone. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs Folge 25, Wien 1972. S. 21 ff. William D. Godsey Jr., Herrschaft und politische Kultur im Habsburgerreich. Die niederöster-
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des ganzen Landes gelobten dem neuen Landesfürsten nach dessen Bestätigung der Landesprivilegien und seiner Verpflichtung zu Schutz und Schirm über das Land und seine Leute Treue und Unterstützung. Die Entstehung der Landstände hing mit der Aufteilung der Grundherrschaften im Herzogtum Österreich, die sich im Hochmittelalter strukturierte, zusammen. Gewisse Grundherrschaften blieben im Eigentum der Landesfürsten und standen dem jeweiligen Herrscher zur Nutzung zur Verfügung, die übrigen Grundherrschaften aber verlieh oder verschenkte der Landesfürst an Klöster, adelige Familien oder auch an Josephinischer Erzherzogshut Bistümer. An diese Grundherrschaft gebunden waren auch die Gerichts- und Zollrechte. Bestimmte landesfürstliche Städte und Märkte, darunter zum Beispiel auch Wien, erhielten vom Landesfürsten eine Gerichts- und Verwaltungsautonomie. Bis zum 14. Jahrhundert bildeten sich aus den Inhabern jener besagten Grundherrschaften, die nicht dem Landesfürsten unterstanden, die „vier Stände“ heraus, die man als politische und wirtschaftliche Interessensgruppen verstehen kann. In ihrer Gesamtheit waren sie ähnlich einer Art Landesparlament, das ein politisches Gegengewicht zum Landesfürsten bildete. Diese setzten sich folgendermaßen zusammen: aus dem Herrenstand, das ist der Hochadel, dem Ritterstand, welcher den niederen Adel repräsentierte, dem Prälatenstand, welcher vor allem aus den Vorstehern der Klöster und auch Bischöfen bestand, und den Vertretern der autonomen Städte und Märkte. Diese Art „Gewaltenteilung“ war vor allem für die Aufbringung und Verwaltung der Landesbudgets von Bedeutung. Politisches Gewicht hatten die Stände aber auch inne, denn bei jedem Regentenwechsel wurde dieser in den österreichischen Erblanden erst dann wirksam, wenn die Stände dem neuen Herrn gehuldigt hatten. Nach dem Aussterben der albertinischen Linie der Habsburger im Jahre 1458 kam es zu einer längeren Vakanz am Herrscherstuhl, da drei Prätendenten der reichische Erbhuldigung (ca. 1648–1848), in: Roland Gehrke (Hg.), Aufbrüche in die Moderne. Frühparlamentismus zwischen altständischer Ordnung und monarchischem Konstitutionalismus, 1750–1850, Schlesien – Deutschland – Mitteleuropa, (=Joachim Bahlcke, Norbert Conrads (Hg.), Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte, Band 12), Köln-Weimar-Wien 2005, S. 145
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Leopoldinischen Line gut acht Monate um die Nachfolge uneinig waren. Während dieser Zeit haben die Landstände provisorisch die Landesherrschaft übernommen. Im Rahmen des Landesaufgebots, der Einberufung der Untertanen der Grundherrschaften zur Kriegsdienstleistung, kam den Ständen auch eine entscheidende militärische Rolle zu. Sprecher der Stände war der Landmarschall, welcher immer ein Mitglied des Herrenstands sein musste; der Landuntermarschall, welcher sein Stellvertreter war, wurde vom Ritterstand gestellt.11 Ursprünglich gab es im Herzogtum Österreich nur eine landständische Organisation, doch im Lauf des 15. Jahrhunderts separierten sich Herren, Ritter, Prälaten und Städte im Landesteil ob der Enns und bildeten eine eigene Korporation unter dem Vorsitz eines Landeshauptmanns. Seitdem kann man eine gewisse Konkurrenz um die eigene Stellung zwischen diesen beiden Flügeln des Erzherzogtums Österreich erkennen, die sich nicht zuletzt auch später in den geistlichen Führungseben der Oberst-Erbland-Hofkapläne zwischen dem Stift St. Florian in „Ob der Enns“ und Klosterneuburg in „Unter der Enns“ widerspiegelt. Erst im Jahr 2004 wurde beispielsweise neben dem Heiligen Leopold als altem Landespatron der Heilige Florian zum Landespatron gleichen Ranges erhoben. Da fortan aber der 4. Mai, der Gedenktag des Heiligen Florian, als schulfrei gilt, könnte dies doch als „Primus inter pares“-Rangerhöhung“ durch das Land Oberösterreich verstanden werden. Im 16. Jahrhundert bauten die Landstände in unter der Enns ihre Organisation deutlich aus. Als zentraler Sitz wurde 1513 das Landhaus in der Herrengasse in Wien angekauft, wo nun regelmäßig die Landtage, die bis dahin in verschiedenen Städten abgehalten wurden, stattfanden. Eine wankelmütige Rolle hatten die Stände später auch im österreichischen Erbfolgekrieg inne, denn nur allzu hastig liebäugelten manche mit den Landesnachbarn und huldigten auch Bayern, was Maria Theresia sehr genau beobachtete und auf ihre späteren Entscheidungen gewiss Einfluss hatte. Ursprünglich hatten die Huldigungen einen vertragsmäßigen Charakter.12 Dem neuen Landesfürsten wurde Treue gelobt, wogegen der Landesfürst die alten Rechte der Stände bestätigte. Hierbei lässt sich in den eingehenderen Berichten über die Huldigungen ein deutliches Ringen der Stände mit dem Landesfürsten um die Macht erkennen. Je nach politischen Verhältnissen erfolgte die Bestätigung der Rechte und Privilegien der Stände vor der Huldigung, wie 1609 bei der Huldigung für König Matthias.13 Die Ausfertigung der Bestätigung musste nach der Huldigung noch ausdrücklich erbeten werden, wie von Kaiser Maximilian II. 11
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Herbert Hassinger: Die Landstände der österreichischen Länder – Zusammensetzung, Organisation und Leistung im 16.–18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, Neue Folge 36, Wien 1964. S. 989 ff. Holnstein: Die Huldigung der Untertanen, S. 8 Susanne Gmoser, Die Erbhuldigung in Österreich unter der Enns 1564–1835. Bedeutungswandel oder Bedeutungsverlust?, Wien 2010. S. 74 ff.
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im Jahr 1565. Mit der Zeit hat sich für die Huldigung in den habsburgischen Erblanden ein bestimmtes Zeremoniell herausgebildet, das die Pflicht der Stände zur Leistung der Huldigung unterstreicht, aber auch den vertragsmäßigen Charakter dieses Staatsaktes erkennen lässt. Der Landesfürst schrieb allen Landesmitgliedern Handbriefe zur Huldigung; die Stände erklärten sich durch den Ältesten des Herrenstandes zur Huldigung bereit; der Hofkanzler versprach im Namen des Landesfürsten die Konfirmierung und Bestätigung der Privilegien, Freiheiten etc. der Stände, der Älteste des Herrenstandes bat jedoch, der Landesfürst möge diese Konfirmierung und Bestätigung auch selbst zusagen. Nach dieser Zusage leisteten die Stände die Huldigung durch Gelöbnis beziehungsweise Eid. Der Älteste des Herrenstandes erhielt das Bestätigungsdiplom, und jetzt erst boten die Stände mit gebührender, untertänigster Reverenz dem Landesfürsten die Hand und vollendeten die Huldigung. Während dieser Handbietung und Angelobung wurde von den Bürgern und Truppen zum ersten Mal eine Salve geschossen und mit allen Glocken der Stadt geläutet. Diese Huldigung durch die Landstände hieß deshalb Erbhuldigung, weil der Herrschaftsanspruch über die habsburgischen Erblande durch Erbgang innerhalb der Dynastie begründet und bestätigt wurde. Damit wurde vor allem die Kontinuität der herrschenden Dynastie in einen zentralen Blickpunkt gestellt. Um die Übertragung der Macht auf den Thronerben zu festigen, fand dies aber nicht selten schon zu Lebzeiten des Vorgängers statt, denn auf diese Weise designierten der Landesfürst und die Stände bereits den Nachfolger.14 Bei der Huldigung für Kaiser Karl V. und seinen Bruder Erzherzog Ferdinand 1520 wurde nach folgender Formel gehuldigt: „Beider Fürsten Gebrüder Frommen zu fördern und 14
Karl von Planck-Planckburg, Die Landeserbämter und die Erbhuldigung in Österreich ob der Enns, Linz 1929, S. 21–22
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Schaden zu wenden, getreu, gehorsam zu sein, wie von altem Herkommen ist.“ Die Prälaten legten bei der Huldigung die rechte Hand auf die Brust und schlossen: „Das helf ’ mir Gott und mein heiliger Orden.“ Die Abgeordneten der Städte schworen mit aufrechten Fingern: „Das helf´ mir Gott und alle Heiligen.“ Die Herren Ritter gelobten mit der Hand an Eides statt. 1565 und 1609 schworen die Prälaten und Abgeordneten der Städte: „So wahr uns Gott helf ’ und sein heiliges Evangelium“; 1652 aber: „So wahr uns Gott helf ’, sein heiliges Evangelium, die gebenedeite Mutter Gottes und alle lieben Heiligen.“ Am 24. August 1652 verfügte Kaiser Ferdinand III., dass die Prälaten künftighin in gleicher Weise wie die Herren und Ritter anzugeloben haben. Das seit 1565 von den Herren und Rittern, seit 1658 auch von den Prälaten abgelegte Gelübde hatte folgenden Wortlaut: „Wir, die drei Stände von Prälaten, Herren und Rittern des Erzherzogtums Österreich ob der Enns, geloben, versprechen und sagen zu bei unseren Treuen, Euch, dem allerdurchlauchtigsten, großmächtigsten und unüberwindlichsten Fürsten und Herrn , Erzherzog zu Österreich, unseren allergnädigsten Herrn, dass wir Euer Majestät, als Erzherzogen zu Österreich und demselben Erben getreu, gehorsam und gewärtig sein und alles das tun sollen und wollen, so getreuen Landleuten und Untertanen gegen ihren angeborenen, natürlichen Erbherren und Landesfürsten von Gott, der Natur und denen Rechten gebührt und zusteht, getreulich und gehorsamlich.“ Die Abgeordneten der Städte leisteten nach derselben Formel den Eid.15
Die Privilegien, Rechte, Freiheiten und Gerechtigkeiten, guten Gewohnheiten und Gebräuche der vier Stände waren: • Das Recht de non evocando extra provinciam, wonach die Stände nicht außer Landes oder vor ein fremdes Gericht gezogen werden dürfen. • Das jus collectandi, kraft dessen sie zur Bestreitung der Landtagsbewilligungen aufgrund der Postulate des Landesfürsten und ihrer anderen Ausgaben die Steuern selbst ausschreiben konnten, ferner, dass die Landtagsbewilligungen der vier Stände durch landesfürstliche Schadlosbriefe als freiwillige Gaben erklärt werden. • Die zwei Stände der Herren und Ritter konnten neue Landesmitglieder aufnehmen. • Die Güter der Landstände durften nicht an Ausländer oder an Personen verkauft werden, die keine Landleute waren; Einstandsrecht der Landstände. • Die Hof- oder landesfürstlichen Gerichte sollten nur mit Herren, Rittern oder Edelknechten besetzt werden. • Die Herren und Ritter durften beim Tod von Verwandten die Sperre, Inventur, Abferti15
Planck-Planckburg, von, Die Landeserbämter und Erbhuldigung, S. 22 ff.
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gung der Witwe, Verteilung der Verlassenschaft und die Sorge für die Minderjährigen ohne Zuziehung der Gerichte selbst vornehmen, sofern sich unter den Erben kein Streit ergab. Ferner hatten Herren und Ritter: • Das Recht der ersten Instanz über ihre Untertanen • Die Zoll- und Mautfreiheit für ihre eigenen Güter und • Ein adeliges Kriminalgericht Als Beispiel eines Bestätigungsdiploms der Privilegien der Stände sei jenes von 1652 angeführt, welches lautet: „Wir Ferdinand IV., von Gottes Gnaden zu Hungan und Böheim, Dalmatien, Croatien und Sclavonien König, Erzherzog zu Österreich, Herzog zu Burgund, Steyr, Kärnthen, Krain, Württemberg und Teck, gefürsteter Graf zu Habsburg, Tirol, Pfierdt und Görz, Herzog in Schlesien, Schweidnitz und Jauer und Graf zu Glatz usw. Bekennen öffentlich mit diesem Brief und tun kund allen männlichen: Nachdem die römisch- kaiserliche Majestät, unser gnädigster, geliebtester Herr und Vater sich gnädigst resolviert, Uns als Dero ältestem Sohn, auch unmittelbaren, rechtmäßigen, natürlichen Erben und künftigen Sukzessoren auf den Fall Ihrer kaiserlichen Majestät tödlichen Abgang (welchen Gott der Allmächtige gnädiglich lang verhüten wolle) die gewöhnliche Erbhuldigung in diesem Ihrer kaiserlichen Majestät und Unserem Erzherzogtum Österreich ob der Enns vorgehen zu lassen; und Uns nun die getreuen vier Stände von Prälaten, Herren, Ritterschaft und Städten, gemeiner Landschaft, auf gedachten Fall solche Erbhuldigung und Pflicht gemeiniglich und sonderbarlich geleistet, dass Wir dagegen ermeldeten vier Ständen gnädigst zugesagt haben. Tun solches auch hiemit wissentlich in Kraft dieses Briefes, dass wir ihnen den vier Ständen alle ihre Privilegia, Freiheiten, Recht, Gerechtigkeiten, gute Gewohnheiten und Gebräuch, wie von altersher herkommen, mit Gnaden bestätigen, sie bei denselben festiglich handhaben, schützen, schirmen, auch gänzlich bleiben und dawider nicht dringen noch beschweren lassen wollen, gnädiglich und ohne Gefährde mit Urkund dieses Briefes besiegelt mit Unserem anhängenden königlichen Insiegel. Der geben in Unserer Stadt Linz, den 25. Monatstag Juni, nach Christi unseres lieben Herrn und Seligmachers gnadenreicher Geburt im Sechtzehnhundert zwei und fünfzigsten, Unserer Reiche des Hungarischen und Böheimbischen im sechsten Jahr.“16
Eine essenzielle Rolle bei den Erbhuldigungen spielten auch die Gravamina, die Wünsche und Beschwerden der Stände, die stets mit der Bitte überreicht wurden, sie noch vor 16
Planck-Planckburg, von, Die Landeserbämter und Erbhuldigung, S. 23–24
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der Huldigung zu erledigen, was gewiss nicht erfolgen konnte. So entstand dabei eine Art wechselseitiges Abkommen zwischen dem Herrscher und dem Land, das durch die Stände als den Vertretern der politischen und sozialen Führungsschichten repräsentiert wurde. Die Stände huldigten dem neuen Landesherrn und legten den Treueeid ab, der Herrscher wiederum bestätigte im Gegenzug die alten Privilegien und Rechte des Landes und der Stände. Da die Herrschaft in den österreichischen Erbländern – darunter verstand man neben den eigentlichen österreichischen Ländern ober und unter der Enns, heute Ober- und Niederösterreich mit Wien, auch die Steiermark, Kärnten, Krain, Görz, Tirol und die Vorlande sowie seit 1815 auch Salzburg –, wie der Name schon sagt, im Haus Habsburg erblich war, waren auch hier die Habsburger ohne Erbhuldigung rechtmäßige Herrscher. So verzichtete bezeichnenderweise Joseph II. als Ausdruck seiner zentralstaatlichen Reformbestrebungen auf diesen formellen Akt und gab damit seiner Ablehnung des föderalistischen ständischen Systems Ausdruck. Die Erbhuldigung war also nur eine rituelle
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Zeremonie, bei der sich das Land als Personenverband präsentierte, was jedoch für das Landesbewusstsein der einzelnen Länder wichtig war. Die Erbhuldigung der niederösterreichischen Stände, die das Kernland habsburgischer Macht repräsentierten, war die bedeutendste Huldigung. Fast alle Herrscher unterzogen sich dieser Zeremonie, zuletzt Ferdinand I. im Jahre 1835. Der Erzherzogshut als die Krone des Erzherzogtums Österreich unter der Enns, Niederösterreich, war dabei das wohl bedeutendste Requisit. Die Erbhuldigung selbst begann mit dem Huldigungszug durch die Stadt, wo der Öffentlichkeit die hierarchische Ordnung der Stände durch die Aufstellung im Festzug sichtbar gemacht wurde. Den Ehrenrang hatten die Prälaten, die Vorsteher der großen Stifte und Klöster, inne. Der einflussreichste Stand war der Herrenstand, dem die führenden, im Land begüterten Adelsfamilien angehörten. Von geringerer Bedeutung waren der dem Ritterstand angehörende niedere Adel und die Vertreter der landesfürstlichen Städte und Märkte. Im Zentrum des Zuges stand der Landesfürst, dem der Erzherzogshut vorangetragen wurde. Begleitet wurde der Herrscher von den Erbland-Würdenträgern, die während der Zeremonie rituelle Funktionen ausführten, die den Dienst an Herrscher und Vaterland symbolisierten. Der Weg führte zunächst in den Stephansdom, wo ein Hochamt zelebriert wurde, von dort weiter in die Hofburg, in die Ritterstube des Zeremonialappartements. Dort fand die eigentliche Huldigung mit der Leistung des Treueeides statt. Danach folgten ein Dankgottesdienst in der Hofburgkapelle sowie eine feierliche Hoftafel. Die besonders hervortretenden Protagonisten am Festzug, Hochamt und Huldigungsakt waren neben dem Landesfürsten die Erbland-Würdenträger. Die Herzöge von Österreich sowie die meisten deutschen Fürsten hatten nach dem Muster der Hofhaltung des römisch- deutschen Kaisers einen Truchsess, Schenk, Marschall und Kämmerer. Diesen waren einerseits die Besorgungen des Haus- und Hofdienstes, andererseits aber auch, insbesondere dem Marschall und dem Kämmerer, militärische - und Verwaltungsaufgaben zugedacht, wie im Mittelalter der Hof- und Staatsdienst vielfach nicht streng geteilt war. Diese besoldeten Ämter, die sogenannten Fürstenämter, wurden im Mittelalter von Ministerialen des Herzogs, also ursprünglich Unfreien versehen. Diese sind durch Kriegsdienst und durch den Erwerb von Grundbesitz zu Macht und Ansehen gelangt und mit der Zeit den wenigen Grafen und Freien gleichgestellt worden. Im 13. Jahrhundert gehörten die mit den Fürstenämtern belehnten Familien zu den angesehensten und mächtigsten des Landes. Diese Ämter wurden frühzeitig erblich. Das Marschallamt gibt zum Beispiel ein klares Bild der Entwicklung. Der herzogliche Ministeriale Heinrich von Chuenring-Weitra erhielt 1228 das Amt des Marschalls, das sich in seinem Hause vererbte. Schon im Jahre 1232 nennt er sich Marschall in Österreich und nicht mehr Marschall des Herzogs von Österreich. Eine Bezeichnung, die nach dem Aussterben der Babenberger auch von den anderen Inhabern der Erbämter umso lieber übernommen
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wurde, als sich ihre Stellung gegenüber den verschiedenen Prätendenten nach der österreichischen Herzogswürde festigte. Als die Chuenringer auch nach dem am 21. November 1276 gefällten Schiedsspruch, der Österreich dem König Přzemysl Ottokar aberkannt hatte, mit diesem in Verbindung blieben, enthob sie Rudolf von Habsburg des Marschallamtes und verlieh dieses 1277 den Herren von Maissau. Herzog Albrecht I. ernannte den aus Schwaben gekommenen Hermann von Landenberg zum Marschall. Die Bezeichnung des Landmarschalls lebte in Niederösterreich bis 1918 fort, während den Herren von Maissau die Würde als Marschalls in Österreich, samt dem damit verbundenen Einkommen, erblich verblieb.17 Ähnlich war es auch beim Kämmerer, Truchsess und Schenk vor sich gegangen. Auch diese Ämter wandelten sich aus einem Hofamte des Herzogs zu einer Würde und schließlich zu einem Erbamte des Landes. Zu den vier alten Erbämtern kamen noch im Mittelalter das Erbjägermeisteramt dazu, das durch Herzog Rudolf IV., genannt „der Stifter“, errichtet wurde. 1374 folgten das Kampfrichter- und 1467 das Panierträgeramt. Mit Ausnahme des letzteren waren diese Erbämter mit Einkünften verbunden, da, wie es in der Belehnungsurkunde der Kreusbach mit dem Erbjägermeisteramt in Österreich und dem damit verbundenen Schloss Rappottenstein, das die Jägerburg genannt wurde, durch Rudolf IV. heißt, niemand verpflichtet ist, Ritterdienst „mit sin selbs sold zu tun“. Diesem Grundsatz entsprach es, dass der Lehensträger, der das Erbamt bediente, vom Erbherren und Landesfürsten ein Präsent erhielt, das ihm bei der Belehnung ausdrücklich zugesagt wurde. So wurde 1539 den Freiherren von Roggendorf anlässlich der Übertragung des Erbhofmeisteramtes in unter der Enns eine vorzügliche Verehrung für die Versehung des Dienstes zugesichert. Bei der Erbhuldigung in Linz 1732 erhielt der Erblandhofmeister den für die Huldigung eigens gefertigten, mit goldenen Zierden versehenen Stab, der Erbkämmerer einen goldenen, mit Steinen versetzten Kämmererschlüssel, der Erbstallmeister das Pferd, das der Landesfürst bei der Huldigung ritt, samt der völligen Equipage, der Erbschenk das mit Gold und Steinen gefasste kristallene Trinkgeschirr, mit dem er bei der Tafel, die der Huldigung folgte, dem Landesfürsten den Trunk reichte, der Erbsilberkämmerer ein goldenes Besteck, der Erbjägermeister und der Erbfalkenmeister das Jägermeister- beziehungsweise Falkenmeisterzeug, der Erbstabelmeister den Stab. Die übrigen Erbwürdenträger erhielten Ringe oder mit Steinen gefasste Devisen. Die mit den Erbämtern verbundenen lehenbaren Einkünfte, soweit solche überhaupt noch bestanden, wurden aufgrund der 1862 bis 1869 beschlossenen Gesetze über die Lehenallodialisierung abgelöst. Zu den Rechten der Erbämter gehörte es auch, dass nach der Erbhuldigung, sobald die Tafel 17
Planck-Planckburg, von, Die Landeserbämter und Erbhuldigung, S. 3–5
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Falknerzeug und Hundehalse
des Landesfürsten aufgehoben war, für den Inhaber jedes Erbamtes eine eigene Tafel vorgerichtet wurde, zu der er aus den anwesenden Hofkavalieren, Offizieren und Ständen, wen er wollte, einladen konnte. Doch er musste den Teppich, das Tischzeug, das Silber, die Kredenzgläser und das sonst Notwendige selbst herbeischaffen, während Speise und Trank vom Hofe beigestellt wurden. Die Erbämter waren lehenbar, sie waren Amtslehen (feudum officii), da mit ihnen die Verpflichtung zur Versehung eines persönlichen Dienstes verknüpft war, und ebenso verpflichtend war die Präsenz bei der Erbhuldigung und im Falle einer Belehnung mit den österreichischen Fürstentümern und Landen durch einen römisch deutschen Kaiser und König. Die einst bestandene Verpflichtung, bei der Leichenfeier des Landesfürsten und wenn der Landesfürst an den Hof des Königs zog, Dienst zu tun, war nicht mehr gültig.18 Kaiser Joseph I. verpflichtete bei der Neuerrichtung einiger Erbämter die Lehensträger auch bei anderen öffentlichen Akten und Solennitäten ihr Amt zu bedienen. Die Nachfolge der Lehen erfolgte im Seniorat und nicht nach der Nähe des Grades zum letzten Lehenträger. Im Erbamte folgte sonach jeweils der Älteste des Namens und Stammes der Linie, dem das Lehen verliehen war und der als Vorsatz zum Titel die Bezeichnung „Oberst“ führte. Der Älteste des mit dem Stallmeisteramte betrauten Hauses führte zum Beispiel den Titel Oberst-Erbstallmeister, während den Agnaten die Benennung Erb-Stallmeister zukam. Die Starhembergs mit dem Erbmarschallamte und die Schönborns mit dem Erbtruchsessenamte waren nach dem Grundsatz der Primogenitur belehnt, das Erbkämmererund das Erbjägermeisteramt in ob der Enns und das Erbpanieramt waren an den Besitz des Majorates geknüpft. Die Lehensgnade erstreckte sich nicht auf die Erbämter, Töchter konnten im Erbamte 18
Georg Freiherr von Frölichsthal: Die Landeserbämter in den österreichischen Kronländern. In: Deutsches Adelsblatt. Mitteilungsblatt der Vereinigung der Deutschen Adelsverbände, Jg. 39 (7/2000), S. 172
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nicht nachfolgen. Es wurde bei Neubelehnungen vielfach Rücksicht auf die verwandtschaftlichen Verhältnisse zum letzten Lehensträger genommen. Auch konnte das Erbamt nur mit landesfürstlicher Genehmigung weitervergeben werden. Nach dem Ableben des Oberst-Erbwürdenträgers musste der nunmehr zum Amte Berufene um die Neubelehnung ansuchen. Ebenso musste bei einem Thronwechsel, dem sogenannten Hauptfall, die Neubelehnung erbeten werden. Der Lehensmann musste ein Landesmitglied sein, die Belehnung durch den Landesfürsten ersetzte diese Bedingung nicht. Der von Kaiser Ferdinand III. im Jahre 1654 zum Erbmünzmeister ernannte Johann Konrad Richthausen, Freiherr von Chaos, wurde trotz seiner Meldung zur Bedienung des Erbamtes bei der Erbhuldigung für Kaiser Leopold I. in Linz im Jahre 1658 nicht zugelassen, weil er kein Landmann in ob der Enns war. In der einschlägigen Literatur ist die Frage, ob der Inhaber eines Erbamtes katholisch sein muss, umstritten. Manche berufen sich auf eine Verordnung Kaisers Ferdinands III. von 1650, dass ein Erbamtswerber stets der katholischen Religion zugetan sein müsse. Jedenfalls erfolgten mehrere Belehnungen, wie die der Grafen Traun, Thürheim und Lamberg und der Herren von Rappach 1705, dann die der Grafen Starhemberg 1717 unter dieser Bedingung, die auch sonst, zum Beispiel bei den Starhemberg’schen Neubelehnungen 1782, 1837, 1845 und 1852 wiederkehrt. In ob der Enns war die Zugehörigkeit zum katholischen Glauben wohl Voraussetzung, denn der Obersterbkämmerer „Herr Fernberger“ wurde zur Bedingung seines Erbamtes am 16. September 1658 von Kaiser Leopold I. nicht zugelassen, weil weder er noch ein anderer seines Geschlechtes der katholischen Religion angehörte und der Hofbericht der obderennsischen Verordnung vom 8. Juni 1732 darauf verweist, dass zur wirklichen Bedingung und Versehung der Erbämter nach althergebrachter Gewohnheit in ob der Enns jene nicht zugelassen werden, welche keine wirklichen Landsleute oder der katholischen Religion nicht zugehörig sind. In Hohenecks Beschreibung der Erbhuldigung in Linz im Jahre 1732 führen alle Erbwürdenträger die Bezeichnung „Erbland“, die schließlich für alle Erbämter die alleine übliche wurde. Diese neue Bezeichnung „Erbland“ anstelle von „Erb“ darf kritisch betrachtet wohl aber ein verfehlter Terminus genannt werden, denn es handelte sich ja um Erbämter des Landes, nicht aber um Ämter des Erblandes. Die Reihenfolge, der Rang der Erbämter gab vielfach Anlass zu Streitigkeiten. Der Schematismus von Österreich ob der Enns für das Jahr 1840 enthält beispielsweise folgende Reihung, die insofern unrichtig ist, da sie das Marschallamt vor das Kämmereramt setzt: Hofmeister, Marschall, Kämmerer, Stallmeister, Mundschenk, Truchsess, Silberkämmerer, Jägermeister, Küchenmeister, Panier, Münzmeister, Schildträger und Kampfrichter, Vorschneider, Stabelmeister, Falkenmeister, Hofkaplan, Postmeister und Türhüter. Die Reihung im Niederösterreichischen Amtskalender, der bis 1919 jeweils ein Verzeichnis der Oberst-Erbland-Würdenträger in Österreich ob und unter der Enns brachte, war
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eine rein willkürliche. Das mit dem Erbkämmereramt in „Unter der Enns“ verbunden gewesene und von Kaiser Joseph II. im Jahr 1782 aufgehobene Erbspielgrafenamt in „Ob und Unter der Enns“ war eine Erbvogtei über die Spielleute, Musikanten und Schauspieler. Diese war ebenso wenig eine Erbwürde wie die Vogtei der Grafen Traun über die Klampferer und Weißblechler (Spengler) in Österreich. Auch das von Kaiser Maximilian I. an Bartholomäus Freysleben und von Kaiser Ferdinand II. an Gilbert von St. Hilaire vergebene Erbzeugmeisteramt war kein wirkliches Erbamt.19 Von diesen Erbämtern, von denen das Schildträger- und Kampfrichteramt mit dem Vorschneideramt in einer Hand vereinigt war, waren elf für „Ob und Unter der Enns“ gemeinsam, je sechs aber in jedem Lande an verschiedene Lehensträger vergeben. Diese Gemeinsamkeit der Erbämter ist darauf zurückzuführen, dass zwar die beiden Länder seit den Zeiten Ottokars von Böhmen zwei Verwaltungskörper bildeten, staatsrechtlich aber als ein Ganzes betrachtet wurden. Die Versammlung der Stände beider Länder vereinigte sich zu einem gemeinsamen Landtag, der meist in Wien abgehalten wurde. Es bedurfte jahrhundertelanger Kämpfe der obderennsischen Stände, die eigentlich erst mit der Vollendung des Landhausbaues in Linz (1571) abgeschlossen wurden, bis auch politisch die Selbständigkeit der beiden Länder anerkannt wurde. Die obderennsischen Stände waren daher nicht im Unrecht, als sie vor der Erbhuldigung 1652 den Grafen von Puchheim die Bedienung des Erbtruchsessenamtes in ob der Enns mit der Begründung streitig machten, dass die Puchheims Erbtruchsessen in Österreich, also nur in unter der Enns seien. Kaiser Ferdinand II. entschied jedoch am 17. Juli 1652, dass die Belehnung mit dem Erbtruchsessenamt auf beide Länder zu verstehen sei. Durch die Vollzugsanweisung des Staatsamtes für Inneres und Unterricht vom 18. April 1919, St.G.Bl.Nr.237, wurden die Titel der Landeserbämter als aufgehoben erklärt. Diese Oberst-Erbland-Würdenträger in Österreich ob und unter der Enns waren: Der Oberst-Erbland-Marschall Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Fürsten Starhemberg.20 Die Funktion des Oberst-Erbland-Marschalls war: Er reitet mit dem bloßen Schwert und mit abgedecktem Haupt vor dem Landesfürsten zur und von der Kirche, steht in der Kirche während des Heiligen-Geist-Amtes links vom Landesfürsten, zwischen dem Hochaltar und dem Thron und bei der Erbhuldigung rechts vom Landesfürsten mit dem bloßen Schwert.21 Der Oberst-Erbland-Stallmeister Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Grafen 19 20 21
Planck-Planckburg, von, Die Landeserbämter und Erbhuldigung, S. 8 Frölichsthal, Freiherr von: Die Landeserbämter in den österreichischen Kronländern, S. 173 Planck-Planckburg, von, Die Landeserbämter und Erbhuldigung, S. 9–10
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Harrach. Die Funktion des Oberst-Erbland-Stallmeisters war: Er hilft dem Landesfürsten auf das Ross und vom Ross und geht beim Kirchenzug vor der Erbhuldigung links vom Landesfürsten. Zum Zeichen seines Amtes trägt er einen Stab in der Hand. Der Oberst-Erbland-Truchsess Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Grafen von Schönborn-Buchheim. Die Funktion des Oberst-Erbland-Truchsesses war: Er dient beim Auftragen der Speisen zur Tafel des Landesfürsten. Der Oberst-Erbland-Silberkämmerer Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Grafen Kuefstein. Die Funktion des Oberst-Erbland-Silberkämmerers war: Er gießt dem Landesfürsten vor der Tafel das Handwasser auf und hilft beim Decken der landesfürstlichen Tafel sowie beim Auftragen der Speisen. Der Oberst-Erbland-Küchenmeister Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Freiherren Stiebar. Die Funktion des Oberst-Erbland-Küchenmeisters war: Er disponiert mit der Küche das Anrichten der Speisen und überreicht vor der Tafel dem Landesfürsten die Liste der Speisen. Der Oberst-Erbland-Panier und Fähnrich Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Grafen Abensperg und Traun. Die Funktion des Oberst-Erbland-Panier und Fähnrichs war: Er trägt beim Kirchengang vor der Erbhuldigung der Ritterschaft und dem Herrenstande die fliegende Panierfahne vor. Er steht in der Kirche rechts und während der Huldigung links vom Landesfürsten mit der Fahne. Der Oberst-Erbland-Münzmeister Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Grafen Pergen. Die Funktion des Oberst-Erbamt-Münzmeisters war: Er teilt bei der auf die Erbhuldigung folgenden Tafel an den Landesfürsten, die Stände und Erbämter die anlässlich der Huldigung geschlagenen Gedenkmünzen aus. Der Oberst-Erbland-Schildträger- und Kampfrichter Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Grafen Althann. Die Funktion des Oberst-Erbland-Schildträgers- und Kampfrichters war: Er trägt den österreichischen Schild am Arm und geht beim Kirchengang vor der Erbhuldigung links vom Landesfürsten hinter dem Oberst-Erbland-Stallmeister. Der Oberst-Erbland-Vorschneider Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Graf Althann. Die Funktion des Oberst-Erbland-Vorschneiders war: Er tranchiert die Speisen und legt sie vor.
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Der Oberst-Erbland-Stabelmeister Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Grafen Fuchs. Die Funktion des Oberst-Erbland-Stabelmeisters war: Er tritt beim Auftragen der Speisen auf der Tafel des Landesfürsten mit dem Stabe vor. Der Oberst-Erbland-Türhüter Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob und unter der Enns waren die Grafen Chotek. Die Funktion des Oberst-Erbland-Türhüters war: Er steht während der Huldigung bei der Tür der Ritterstube und gibt bei jedem Ein- und Ausgehen des Landesfürsten durch Klopfen mit dem Schlüssel an der Tür das Zeichen. Der-Oberst Erbland-Hofmeister Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob der Enns waren die Grafen Weißenwolff, im Erzherzogtum Österreich unter der Enns waren letztbelehnt die Grafen Khevenhüller-Metsch. Die Funktion des Oberst-Erbland-Hofmeisters war: Er bedient sein Amt mit einem goldverzierten Stab. Das Hofmeisteramt war das vornehmste Erbamt und hatte, wenn es mit den anderen Ämtern beim Landesfürsten bedient wurde, den Vorrang vor allen anderen. Der Oberst-Erbland-Kämmerer Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob der Enns waren die Fürsten Lamberg, im Erzherzogtum Österreich unter der Enns waren es die Grafen Breuner-Enckevoirth. Die Funktion des Oberst-Erbland-Kämmerers war: Er bedient sein Amt mit einem goldenen, reich mit Steinen besetzten Schlüssel. Der Oberst-Erbland-Mundschenk Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob der Enns waren die Grafen Barth, im Erzherzogtum Österreich unter der Enns waren letztbelehnt die Grafen Hardegg. Die Funktion des Oberst-Erbland-Mundschenks war: Er reicht bei der auf die Huldigung folgenden Tafel dem Landesfürsten den Trunk. Der Oberst-Erbland-Jägermeister Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob der Enns waren die Fürsten Lamberg, im Erzherzogtum Österreich unter der Enns waren letztbelehnt die Grafen BaudissinZinzendorf-Pottendorf. Die Funktion des Oberst-Erbland-Jägermeisters war: Er trägt bei der Erbhuldigung ein grünes Waidmannskleid mit dem Jägerzeug, bestehend aus einem Hirschfänger und Jägerhorn, und er führt während des ganzen Aktes unter Beihilfe des Forstmeisters einen Bluthund an einer grünseidenen Schnur an der Hand. Es versteht sich von selbst, dass der Hund außerhalb der Kirche verbleibt. Der Oberst-Erbland-Falkenmeister Letztbelehnte im Erzherzogtum Österreich ob der Enns waren die Grafen Thürheim, im Erzherzogtum Österreich unter der Enns waren es die Grafen St. Julien. Die Funktion
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des Oberst-Erbland-Falkenmeisters war: Er dient bei der Huldigung mit einem Hirschfänger und der Falknertasche, auf dem Hut ein Falknerhäubel, trägt auf der rechten Hand einen Falken mit goldener Kappe und wird von der landesfürstlichen Falknerei begleitet, die mit dem Falken außerhalb der Kirche verbleibt. Der Oberst-Erbland-Hofkaplan Das Amt des Erbkaplans ob der Enns, war kein Lehen, sondern eine mit dem Stifte verbundene Prärogative. Letzter Oberst-Erbland-Hofkaplan im Erzherzogtum Österreich ob der Enns war der Propst des Chorherrenstiftes St. Florian. Im Erzherzogtum Österreich und unter der Enns war es der Propst des Chorherrenstiftes Klosterneuburg.22Die Funktion des Oberst-Erbland-Hofkaplans war: Er begleitet während des der Huldigung vorangehenden Hochamtes den Zeremoniär, der dem Landesfürsten das Evangelium und Pacem zum Kuss bringt. Nach der Huldigung stimmt er in der Schlosskapelle das Te Deum an und betet die Orationen. Auch spricht er vor beziehungsweise nach der Tafel des Landesfürsten das Benedicite und Gratias.23
Literatur Benna, Anna Hedwig: Erzherzogshut und Kaiserkrone. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs Folge 25, Wien 1972. Freiherr von Frölichsthal, Georg: Die Landeserbämter in den österreichischen Kronländern. In: Deutsches Adelsblatt. Mitteilungsblatt der Vereinigung der Deutschen Adelsverbände, Jg. 39 (7/2000). Gmoser Susanne: Die Erbhuldigung in Österreich unter der Enns 1564–1835. Bedeutungswandel oder Bedeutungsverlust? Wien 2010. Godsey Jr., William D.: Herrschaft und politische Kultur im Habsburgerreich. Die niederösterreichische Erbhuldigung (ca. 1648–1848), in: Roland Gehrke (Hg.), Aufbrüche in die Moderne. Frühparlamentismus zwischen altständischer Ordnung und monarchischem Konstitutionalismus, 1750–1850, Schlesien-Deutschland-Mitteleuropa, (=Joachim Bahlcke, Norbert Conrads [Hg.], Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte, Band 12), KölnWeimar-Wien 2005. Hassinger, Herbert: Die Landstände der österreichischen Länder -– Zusammensetzung, Organisation und Leistung im 16.–-18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, Neue Folge 36, Wien, 1964. 22 23
Frölichsthal, Freiherr von: Die Landeserbämter in den österreichischen Kronländern, S. 173 Planck-Planckburg, von, Die Landeserbämter und Erbhuldigung, S. 19–20
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Holenstein, André: Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800–1800), Stuttgart-New York 1991. Kriegl, Georg Christoph: Erb-Huldigung, Welche der Allerdurchleuchtigst-Großmächtigsten Frauen, Frauen Mariae Theresiae, Zu Hungarn, und Böheim Königin, Als Ertz-Herzogin zu Oestereich, Von denen gesammten Nider-Oesterreichischen Ständen, von Prälaten, Herren, Rittern, auch Städt und Märckten allerunterthänigst abgelegt Den 22. Novembris Anno 1740. Und auf Verordnung Wohlermelten Löblichen Herren Ständen, mit allen Umständen außführlich beschrieben worden, Wien 1740. Lhotsky, Alphons: Privilegium Maius. Die Geschichte einer Urkunde, Wien 1957 Mayer, Anton: Die zur Erbhuldigung Kaiser Leopolds II. als Prachtausgabe geplante Erbhuldigungsbeschreibung der niederösterreichischen Stände. In: Monatsblatt des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich 9, Wien (1918). Pauker Wolfgang: Der Österreichische Erzherzogshut im Stifte Klosterneuburg, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, N. F. 7.1933. von Planck-Planckburg, Karl: Die Landeserbämter und die Erbhuldigung in Österreich ob der Enns, Linz 1929. Vocelka, Karl und Lynne Heller: Die Lebenswelt der Habsburger. Kultur- und Mentalitätsgeschichte einer Familie, Graz-Wien-Köln 1997.
Vom Ärgernis der Fleischwerdung Der Bildhauer, Maler und Graphiker Alfred Hrdlicka in theologischer Perspektive Johannes Wais
1. Vorbemerkungen
Johann Gruber, katholischer Priester und 1944 im KZ Gusen ermordeter Widerstandskämpfer, gehörte lange Zeit zu den wenig bekannten kirchlichen Opfern des Nationalsozialismus. Als der österreichische Künstler Alfred Hrdlicka 1994/95 Grubers Leidensweg in einem 14-teiligen Radierzyklus nachzeichnete, kam die Anregung dazu von Wolfgang J. Bandion – damals Lehrbeauftragter in der Bildhauerklasse Hrdlickas an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien1. Die Relevanz dieses Beitrags im Kontext der vorliegenden Festschrift liegt somit auf der Hand. Seine inhaltliche Grundlage stellt eine theologische Diplomarbeit2 dar, die der Autor der nachfolgenden Seiten im Jahr 2004 verfasste. Unter den namhaften Vertretern der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich an religiöse Themen heranwagten, nimmt Alfred Hrdlicka mit Sicherheit eine Sonderstellung ein. Es ist leicht, in ihm den Blasphemiker zu sehen und sich abzuwenden angesichts seiner brutalen und provokanten Entfremdungen christlicher Ikonographie. Der „Inkarnation“ als seinem künstlerischen „Glaubensbekenntnis“ verpflichtet, schockte er rücksichtslos mit dem nackten und geschundenen Fleisch des Menschen. Betrachtet man seine Gestalten – Mörder und ihre Opfer, Prostituierte, Geisteskranke etc. – vor dem Hintergrund der biblischen Schöpfungserzählung, so scheinen sie zu fragen: Sind wir alle wirklich des einen Gottes Ebenbild? Hrdlickas Bilderwelt ist beherrscht von Gewalt, Sexualität und Tod – und doch scheint alles mit dem Mensch gewordenen und gekreuzigten Sohn Gottes verbunden, der immer wieder – gleichsam als Personifikation menschlichen Leidens schlechthin – in den Arbeiten des Künstlers auftaucht. So wird die Frage nach dem Sinn der Fleischwerdung Jesu Christi in extremen und höchst konkreten Kontexten brandaktuell. Die erlösende 1 2
Heute: Universität für angewandte Kunst Wien Wais, Johannes: Inkarnation als Provokation. Alfred Hrdlicka und das Ärgernis des Fleischgewordenen, ungedruckte Diplomarbeit, Universität Wien, 2004
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Annahme des menschlichen Leidens und Sterbens – durch Gott in seinem Sohn – muss sich als die große christliche Hoffnung angesichts der individual- und weltgeschichtlich aufgerissenen Abgründe ja stets neu bewähren. Alfred Hrdlicka – der religiös berührbare Atheist – schritt in seinen Werken diese Abgründe aus. Seine Kunst ist für Verfechter einer „abstrakten“ Gottesrede, für jene, die verlernt haben, Gott im herausfordernden Gegenüber des Mitmenschen zu finden, ein heilsamer Schock. So ist sie geeignet, als Katalysator zu dienen, für eine „Reinkarnation“ christlicher Theologie. Die folgenden Ausführungen mögen dies belegen.
2. Ein Kunstberserker und linker „Homo Politicus“ mit Beziehung zum Religiösen 2.1 Leben und Werk
Der 19. Dezember 2009 war ein denkwürdiger Tag. Es kommt nicht allzu häufig vor, dass bei ein und derselben Veranstaltung das Weihnachtslied „Maria durch ein Dornwald ging“ und die „Internationale“ den musikalischen Rahmen bilden. Kontraste dieses Härtegrads prägten durchgängig Alfred Hrdlickas Begräbnis am Wiener Zentralfriedhof – nicht zuletzt in den Reden. Während Oskar Lafontaine, damals Vorsitzender der deutschen Linkspartei, seinen Worten an den verstorbenen Gesinnungsgenossen ein „Freundschaft, lieber Alfred!“ folgen ließ, schlug Dompfarrer Anton Faber, der das Begräbnis mit katholischem Gepränge leitete, etwas leisere Töne an. Er verwies auf die Reliefbüste der seligen Maria Restituta, jenes letzte skulpturale Werk des Künstlers, das sich ausgerechnet im Wiener Stephansdom befindet. Alfred Hrdlicka – am Ende doch ein Kirchenkünstler? Andreas Mailath-Pokorny, 2009 Wiener Kulturstadtrat, trieb schließlich das Spiel mit den Widersprüchen humoristisch auf die Spitze, als er der Etymologie des Namens „Hrdlička“ nachspürte. „Turteltaube“ bedeutet dieser im Tschechischen. Welch ein Gegensatz zur kraftstrotzenden und keineswegs sanftmütigen Natur des verblichenen Namensträgers!3 Gegensätze, Kontraste, ja Paradoxien kennzeichneten die ganze Persönlichkeit Alfred Hrdlickas und lassen ihn retrospektiv – gerade deshalb – als besonders interessante und authentische Erscheinung der österreichischen Kunstlandschaft nach 1945 in Erinnerung bleiben. Sein Leben, an dessen Ende die pompöse Beisetzung in einem – gegen seinen Willen – ehrenhalber gewidmeten Grab stand, begann in kleinen Verhältnissen. Am 27. Februar 1928 wurde Hrdlicka in Wien-Brigittenau als jüngstes Kind eines Arbeiters, Kommunisten und Gewerkschaftsfunktionärs geboren. „Rot erzogen, war die Obrigkeit für mich 3 Vgl.: https://www.derstandard.at/story/1259282299103/alfred-hrdlicka-beigesetzt (Bericht über das Begräbnis Hrdlickas im Online-Standard vom 19. 12. 2009)
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das rote Tuch“4, beschrieb er selbst jene früh geübte Haltung, die durch seine „Zwangstaufe“ 19345, die Verhaftung des Vaters im selben Jahr und den Tod des älteren Bruders Ernst 1942 während des Russlandfeldzuges gefestigt wurde. Als Teenager entwickelte Hrdlicka zunächst ein herausragendes Talent für das Schachspiel, ehe er ab 1943 als Zahntechnikerlehrling seine Begabung für das plastische Gestalten entdeckte und intensiv zu zeichnen begann. Nach einem Studium der Malerei, das er 1946 bis 1952 bei Albert Paris Gütersloh und Josef Dobrowsky an der Akademie der bildenden Künste in Wien absolvierte, wechselte er 1953 in die Bildhauerklasse Fritz Wotrubas. Bis 1957 studierte er bei dem international berühmten Meister und begann in Auseinandersetzung mit dessen Werk einen eigenen Stil auszubilden. In der Folge entstand als eines seiner ersten Hauptwerke die Plastik „Gekreuzigter“ (1959). „Mit diesem Torso erinnerte er schlagartig an Wotrubas Torsi der 30er Jahre, stellte durch seinen Realismus aber auch revolutionär die These des Irrwegs von Kubismus und Abstraktion in den Raum.“6 Das Unverständnis seines Lehrers, damals Hauptvertreter der von Hrdlicka geschmähten Richtung, kann heute nur noch erahnt werden. Am Ende einer Phase wirtschaftlicher Not, in der Alfred Hrdlicka zeitweise unter prekärsten Bedingungen arbeitete, erfolgte sein Durchbruch Anfang der 1960er Jahre mit dem Ankauf des „Gekreuzigten“ (s. o.) für das Museum des 20. Jahrhunderts. Durch seine Teilnahme an viel beachteten Ausstellungen sowie erste Publikationen und Preise wurde er rasch einer immer breiter werdenden Öffentlichkeit bekannt. Einen vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere markierte 1964 die Teilnahme an der 32. Biennale von Venedig als offizieller Vertreter Österreichs – gemeinsam mit Herbert Boeckl. Es ist unmöglich, im Rahmen dieses Beitrags alle wichtigen Stationen im Leben und Schaffen Alfred Hrdlickas aufzuzählen. Ein kursorischer Überblick muss genügen: 1967 wird am Wiener Ring unter Protesten einer „Liga gegen entartete Kunst“ Hrdlickas Karl-Renner-Denkmal enthüllt, 1968 erhält er den Österreichischen Staatspreis für Bildhauerei. Im selben Jahr unterzieht er sich LSD-Versuchen für das Max-Planck-Institut und beschäftigt sich zudem mit der Welt der Geisteskranken, was ihn zu dem Radierzyklus „Randolectil“ anregt. 4 5
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Hrdlicka, Alfred: Autobiographie (1969), in: Hrdlicka, Alfred: Schaustellungen. Bekenntnisse in Wort und Bild, hrsg. v. Walter Schurian, München 1984, S. 38 Um ihren Sohn in der Volksschule einschreiben zu lassen, mussten Alfred Hrdlickas Eltern im österreichischen „Ständestaat“ einen Religionsnachweis vorlegen. In Distanz zum römisch-katholisch geprägten Regime ließen sie ihn daraufhin altkatholisch taufen. Boeckl, Matthias: Die Plastik, in: Schmied, Wieland (Hg.): Geschichte der bildenden Kunst in Österreich. Bd. 6 (20. Jahrhundert), München 2002, S. 230
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Alfred Hrdlicka, Gekreuzigter, Marmor, 1959
1970 arbeitet Alfred Hrdlicka an dem Bilderzyklus „Plötzenseer Totentanz“ für das Evangelische Gemeindezentrum Plötzensee in Berlin. Die Passion Jesu wird darin umfassend mit der an diesem Ort besonders präsenten NS-Thematik konfrontiert. 1971 wird er an die Akademie der bildenden Künste Stuttgart berufen. Professuren in Hamburg, Berlin und Wien folgen später. Unter Hrdlickas Monumenten für den öffentlichen Raum ragen drei Skulpturen bzw. Skulpturengruppen besonders hervor: zunächst „Die starke Linke“, unter Kontroversen 1981 im Wuppertaler Engelsgarten aufgestellt, weiters das „Gegendenkmal“ am Hamburger Dammtor, dessen beide zwischen 1983 und 1986 entstandene Teile „Feuersturm“ und „Cap Arcona“ die Gräuel des Krieges thematisieren und so einen provokanten Kontrast zum dortigen „Ehrenmal“ der 1930er Jahre bilden, und schließlich das „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“, das in Teilen ab 1983 entsteht, zwischen 1988 und 1991 am Wiener Albertinaplatz errichtet wird und im politisch aufgeheizten Österreich der Waldheim-Jahre für heftige Auseinandersetzungen sorgt.
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Alfred Hrdlicka, Büste der Seligen Maria Restituta Kafka, Bronze, 2009
Typisch für Hrdlickas Schaffen sind umfangreiche Zyklen von Zeichnungen und Radierungen, die immer wieder geschichtlichen Ereignissen – z. B. dem Deutschen Bauernkrieg, der Französischen Revolution oder der Revolution von 1848 – gewidmet sind. Andere Werke des Künstlers – sowohl Skulpturen als auch Graphiken – setzen sich mit den Biographien unterschiedlichster Persönlichkeiten auseinander, wobei die Palette von Kulturgrößen wie Franz Schubert und Richard Wagner über den grausam ermordeten Filmregisseur Pasolini bis hin zum historischen Serienmörder Fritz Haarmann reicht. In seinen späten Jahren ist Hrdlicka auch als Bühnenbildner tätig, muss aber sein Schaffen aufgrund gesundheitlicher Probleme mehr und mehr einschränken. Zwei Schicksalsschläge treffen ihn schwer: zunächst – 1994 – der Tod seiner ersten Ehefrau Barbara Hrdlicka, geb. Wacker, und – fünf Jahre später – der Suizid seiner Geliebten Flora, der mit dem Versuch einhergeht, auch ihn zu vergiften. Noch im selben Jahr 1999 heiratet Hrdlicka seine langjährige Muse Angelina Siegmeth. Trotz zahlreicher körperlicher Gebrechen bleibt der Künstler auch in seinen letzten Lebensjahren schöpferisch aktiv, wobei er die Steinbildhauerei – wohl seine größte Leidenschaft – nicht mehr ausüben kann. Am 5. Dezember 2009 stirbt Alfred Hrdlicka 81-jährig in Wien. In einem leuchtend roten Sarg wird er zwei Wochen später beerdigt.
2.2 Kunst- und Religionsauffassung
Alfred Hrdlicka war als Bildhauer, Maler und Graphiker ein Meister der Abstraktion und zugleich ihr größter Verächter: Da Kunst zwar immer von der Natur ausgehe, jedoch nie-
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mals selbst Natur sei, müsse man Abstraktion als Selbstverständlichkeit in jeder Form des Kunstschaffens betrachten. „Abstrakte Kunst“ im landläufigen Sinn – also ohne Ausgangspunkt in der Natur – sei aber bestenfalls Dekoration. Der niederländische Maler Piet Mondrian (1872–1944), ein Hauptvertreter der gegenstandslosen Kunst, diente Hrdlicka als idealer Antipode. Dessen Bilder – auf horizontale und vertikale Linien sowie die drei Grundfarben reduziert – waren ihm Ausgangspunkt für einen eigenen Radierzyklus. „Mondrian hat mir leere Flächen geliefert. Und wie schön ist es doch, in leere Flächen hineinzuzeichnen.“7 In „Karfreitag“, einem Blatt aus „Roll over Mondrian“, überwuchern Szenen der Passion Christi die starre Bildarchitektur des Holländers. „Die Inkarnation, die Fleischwerdung, d. h. die Vorstellung der Christen, daß Gottes Sohn Fleisch wird, ist für mich als Künstler mein Credo“8, konstatierte Hrdlicka programmatisch. Ebenso wie in der Religion, ginge auch in der Kunst – jedenfalls in seiner – alle Macht vom Fleisch aus. Tatsächlich sind Hrdlickas „Inkarnationen“, ob im Stein, auf dem Papier oder an der Wand, Konkretionen des Menschlichen – in allen, mitunter abgründigen Facetten. Er verstand seine Kunst als „eine Phänomenologie des Fleisches, die Wesensschau ist“.9 Werke dieser Art lassen den Betrachter naturgemäß nicht kalt. Sie provozieren, sei es durch explizite Erotik, Darstellungen brutaler Gewalt oder den unverhohlenen Ausdruck politischer Parteinahme – oftmals verschärft durch Kommentare des medienaffinen Künstlers. So schockierte Hrdlicka mit seinem Bekenntnis zum Kommunismus zeitlebens das bürgerliche Österreich. In der philosophischen Tradition von Feuerbach und Marx war übrigens auch sein Atheismus begründet, den er nie gegen den harmloseren – gut sozialdemokratischen – Agnostizismus eintauschte. Hrdlickas Haltung zur Religion blieb dennoch stets eine ambivalente. Bei aller ideologisch motivierten Antipathie der Institution Kirche gegenüber, bewunderte er zeitlebens die großen Werke christlicher Kunst. Mindestens ebenso inspirierten ihn biblische Texte. Am Heiligen Abend des Jahres 1946 war ihm – völlig unverhofft – eine Lutherbibel in die Hände gefallen, deren Lektüre große Wirkung zeitigte und den damals 18-Jährigen in Verwirrung stürzte. Ursache seiner Erregung war nicht die Gottesfrage und auch nicht die Theologie 7
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Hrdlicka in einem Interview mit K. Klemp, in: Klemp, Klaus/Weiermair, Peter (Hg.): Alfred Hrdlicka. Skulpturen – Zeichnungen – Druckgraphik 1945–1997 (Publikation anlässlich der Ausstellungen im Frankfurter Kunstverein und der Städtischen Galerie im Karmeliterkloster, Frankfurt am Main, dem Wiener Künstlerhaus sowie der Städtischen Galerie Klagenfurt, 1997), Frankfurt a. M. 1997, S. 25 Hrdlicka in einem Interview mit J. Röhrig, in: Mennekes, Friedhelm/Röhrig, Johannes: Crucifixus. Das Kreuz in der Kunst unserer Zeit, Freiburg i. Br. 1994, S. 22; Hrdlicka gebraucht den Begriff der „Fleischwerdung“ hier freilich in einem übertragenen Sinn, um den Prozess seines künstlerischen Arbeitens zu charakterisieren. Buderath, Bernhard: Alfred Hrdlicka. Anatomien des Leids, Stuttgart 1984, S. 13
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hinter den biblischen Geschichten, sondern vielmehr das biblische Geschehen selbst. Gerade die Drastik mancher alttestamentlichen Erzählung nahm ihn für das Buch der Bücher ein. Diese selektive, unorthodoxe Art des Lesens war es auch, die ihn – unbeschadet der Versuchung, Widersprüche um des Glaubens Willen einzuebnen – die Bibel als ein Buch entdecken ließ, das – mehr als alle anderen – mit menschlicher Wirklichkeit aufgeladen ist.
3. Et incarnatus est: Gottes Fleischwerdung als Skandal und Angelpunkt des christlichen Glaubens
Zweifellos: Alfred Hrdlicka provoziert – über seinen Tod hinaus – religiöse Gemüter, insbesondere mit seinen Verfremdungen und Aktualisierungen der christlichen Ikonographie. Die größte Empörung löst er damit wohl bei jenen Christen aus, die gänzlich abgestumpft sind gegenüber der zweitausendjährigen Provokation, die Jesus Christus selbst ist: Gott und blutige Spottfigur in einer Person. „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“10, hören wir aus dem Mund Jesu im Johannes-Evangelium (Joh 14,9) und stoßen uns kaum noch an diesem Wort, obgleich es Ungeheuerliches beinhaltet. Wer Jesus, dem galiläischen Zimmermannssohn, dem Delinquenten am Kreuz, ins Angesicht blickt, schaut Gott, den ewigen und allmächtigen. Ist das nicht eigentlich Blasphemie? Dieser Gott, dessen unverfügbare Lebendigkeit und erhabene Andersartigkeit sich im Bilderverbot des Dekalogs ebenso niedergeschlagen hat wie in der heiligen Scheu der Juden, seinen Namen auszusprechen, dieser Gott also, der im Buch Exodus die Hoffnung des Mose, ihn in seiner Herrlichkeit zu schauen, mit den Worten begräbt: „kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20), er soll nun in Gestalt eines gewöhnlichen, sterblichen Menschen begegnen? Muss solch eine Behauptung religiöses Empfinden nicht zutiefst verletzen? Das Ereignis der göttlichen Offenbarung im Fleisch, von dem das früheste Christentum ausschließlich im Hymnus zu künden weiß, „ist Frage, ist Ärgernis“11 – definitiv auch vor der Ratio, sobald die theologisch-begriffliche Auseinandersetzung beginnt.12
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Dieses und alle weiteren Bibelzitate des Beitrags stammen aus: Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung, Stuttgart (8. Aufl.) 1998. Bultmann, Rudolf: Das Evangelium des Johannes (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament), Göttingen (16. Aufl.) 1959, S. 39 Dies umso mehr, wenn Gott – griechisch-philosophischem Verständnis folgend – als Inbegriff der Transzendenz gilt.
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Verfolgt man den Jahrhunderte währenden christologischen Streit der alten Kirche13, so wird deutlich, was ein für alle Mal gilt: Die Fleischwerdung Gottes in seinem Sohn führt alle Denkarbeit an eine Grenze, wo wir vor dem Paradox kapitulieren, um es im Glauben annehmen zu lernen. Gläubiges „Annehmen“ aber bedeutet Verinnerlichung und nicht bloßes „Hinnehmen“ des Unbegreiflichen. Sich dem Mysterium zu nähern, heißt daher auch, das Menschenleben des Jesus von Nazareth ernst zu nehmen – gerade in seiner Anstößigkeit. So ist auch Sören Kierkegaard zu verstehen, wenn er schreibt: „Jesus Christus ist das Zeichen des Ärgernisses und Gegenstand des Glaubens. Erst in der Ewigkeit ist er in seiner Herrlichkeit. Hier auf Erden darf er niemals anders dargestellt werden als in Geringheit, so daß jeder sich ärgern oder glauben kann.“14
3.1 Selig, die keinen Anstoß nehmen …
Die Kreuzigung Christi, die schon der Apostel Paulus ausdrücklich als „skandalon“ (1Kor 1,23) bezeichnete, war nur der skandalöse Schluss- und Höhepunkt einer an Ärgernissen reichen Biographie. Liest man die Berichte der vier Evangelien, so wird deutlich, dass Jesus nicht zufällig – etwa durch einen Irrtum oder Streich des Schicksals – am Kreuz hingerichtet wurde. Dieses grausame Ende hatte sich in der letzten Phase seines Lebens, die von Tabubrüchen und irritierenden Auftritten gekennzeichnet war, bereits angekündigt. Sein ungebundenes Leben als Wanderprediger – abseits der Familie – erschien vielen als fragwürdiges Vagabundendasein, Festgelage in zwielichtigem Milieu trugen ihm den Ruf ein, ein „Fresser und Säufer“, ja ein „Freund der Zöllner und Sünder“ (Mt 11, 19) zu sein, seine erfolgreichen Heilungen „Besessener“ waren von dem Gemunkel begleitet, er selbst stünde mit dem Dämonenführer im Bunde (vgl. z. B. Mk 3, 22) und sein Aufbegehren gegen allzu peniblen Gesetzesgehorsam war nicht nur den angesehenen Pharisäern, sondern vielen strenggläubigen Juden ein Dorn im Auge. Auch Jesu öffentlichkeitswirksame „Tempelreinigung“ (vgl. z. B. Mk 11, 15 ff) in Jerusalem konnte in Anbetracht der Tatsache, dass die Tätigkeit der Händler an diesem Platz durchaus dem geordneten Kultbetrieb zugute kam, von der sadduzäischen Priesterschaft mit Recht als „Affront gegen die Sinnhaftigkeit
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Die ersten vier ökumenischen Konzilien der Kirche – in Nicäa (325), Konstantinopel (381), Ephesos (431) und Chalcedon (451) – behandelten v. a. Streitfragen, die um die menschliche und die göttliche Natur Jesu Christi kreisten. Kierkegaard, Sören: Christentum und Christenheit. Aus Kierkegaards Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Eva Schlechta, München 1957, S. 129
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des Kultbetriebes überhaupt“15 interpretiert werden. So war es nicht zuletzt diese „Störaktion“ am Zentralheiligtum der Juden16, die – in Verbindung mit dem unheilschwangeren „Tempelwort“ (vgl. z. B. Mk 14, 58 und Joh 2, 19) über dessen baldigen Untergang – Jesu bitteres Ende heraufbeschwor. In der Tat, der historische Jesus stellte für viele, die ihm begegneten, ein empörendes Ärgernis dar, das mit dem „Fluchtod“ am Kreuz seinen unrühmlichen Schluss- und Höhepunkt erreichte.17 Ihm selbst war bewusst, dass sein Reden und Handeln nicht einte, sondern spaltete: „Selig ist“, sagte er, „wer an mir keinen Anstoß nimmt“ (Lk 7, 23).
3.2 Das Ärgernis im Licht der Auferstehung
Seinen Schülern bleibt Jesus – über die schockierenden Szenen auf Golgatha hinaus – unendlich teuer. Im Licht seiner Auferstehung, das völlig unerwartet die Fluchtwinkel der verstörten Jüngerschaft erfüllt, lernt diese nach und nach das oft rätselhafte Handeln des Meisters zu deuten. Sie erkennt darin die Liebe Gottes, die alle menschlichen Dimensionen sprengt und deshalb oft fremdartig, ja anstößig wirkt. Jesus selbst wird nun auf sein wahres Wesen hin transparent und aus den Anhängern des Wanderpredigers werden die ersten Christen, indem sie in ihm den Christus, den Messias entdecken. Doch er ist mehr als das: Gottes Weisheit, sein Wort, sein Sohn – erschienen unter den Menschen. Welch unglaubliche Botschaft ist das, die nun deutlich wird? Der, den man als Verbrecher ans Kreuz nagelte, teilt die Herrlichkeit des Höchsten. Dass er wahrhaft menschlich gelitten hat, wirklich gestorben ist, steht dabei für die Zeugen ebenso außer Frage wie der feste Glaube, „dass Jesu Person und Werk nicht innergeschichtlichen Ursprungs sind, sondern sich ganz Gottes Initiative verdanken“ 18. Deshalb bekennt der Glaube alsbald, was der Verstand nicht zu fassen vermag: Jesus Christus ist der fleischgewordene Logos, der menschgewordene Sohn Gottes. Der, der vor aller Zeit war, ging in die Menschheit ein, nicht vorübergehend oder zum Schein, sondern rückhaltlos und bis zur letzten Kon15 16 17
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Merklein, Helmut: Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze (Stuttgarter Bibelstudien 111), Stuttgart 1983, S. 133 Auch die römische Besatzungsmacht konnte hinter solchen Störungen der von ihr gestützten tempelstaatlichen Ordnung nur aufrührerische Kräfte vermuten. Die Kreuzigung war eine überaus grausame und entehrende Hinrichtungsmethode der Antike, die aufgrund ihrer abschreckenden Wirkung von den Römern häufig zur Bestrafung Aufständischer angewandt wurde. Gekreuzigte galten aber auch gläubigen Juden – anknüpfend an Dtn 21, 23 – als von Gott Verfluchte. Kuschel, Karl-Josef: Geboren vor aller Zeit? Der Streit um Christi Ursprung, München 1990, S. 393
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sequenz. Was das Neue Testament mehrfach enthält – an prominentester Stelle im Prolog zum Johannes-Evangelium (Joh 1,1-18) – erreicht bereits im vorpaulinischen Hymnus des Philipper-Briefes (Phil 2,6-11) seine höchste inhaltliche Dichte und tiefste Ausprägung. Der Apostel Paulus überliefert uns hier ein bedeutendes urchristliches Zeugnis von der Fleischwerdung als selbständiger soteriologischer19 Größe: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ (Phil 2, 6-8)
In der Rede von der „Entäußerung“ (griechisch: „kenosis“) ist eigentlich alles zusammengefasst. Hier verbindet sich die Erfahrung des geschichtlichen Ärgernisses Jesu mit der Einsicht in das Heilsereignis der Inkarnation. Wer diesen Text im 1. Jahrhundert ernstnahm, den musste er empören. Die Verkündigung des gekreuzigten Messias, die – nach Paulus – bei Juden Anstoß erregte und Heiden als maßlose Torheit galt (Vgl. 1Kor 1,23), wurde durch die Behauptung der Selbstentäußerung Gottes in die „Sklavenexistenz“ eines Menschen wohl an Ärgerlichkeit noch übertroffen. Die Provokation der Fleischwerdung Gottes in Jesus von Nazareth hat auch heute nichts an Schärfe und Dringlichkeit verloren. Es handelt sich um den Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens. Nur jene, deren Bewusstsein über den irritierenden Augenschein hinaus geweitet ist, die nicht durch starre Logik und vorgeprägte Muster an der beglückenden Begegnung mit dem Paradox gehindert sind, werden der mystischen Erfassung jenes Tausches fähig sein, der sich mit der Inkarnation vollzieht. Gott wurde Mensch, um uns „an der göttlichen Natur Anteil“ zu geben (vgl. 2 Petr 1,4).20 Dafür aber musste Christus alle Höhen und Tiefen des Menschseins durchmessen, nichts von seinem Gottsein zurückhalten, unter uns einer von uns sein. So ist er uns brüderlich vertraut und unendlich fremd zugleich. In ihm den Fremden, den „ganz Anderen“ zu sehen, sich an ihm – dem Ärgernis – zu stoßen, ist heutzutage seltener Verirrung als Vorbereitung gläubiger Erkenntnis. Unsere Augen werden dadurch geöffnet für die Orte des Fremden und des Anstößigen in der Welt. Dorthin muss uns die Nachfolge führen, wollen wir Jesus, dem Christus begegnen. Was all das mit Alfred Hrdlicka zu tun hat, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.
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Soteriologie heißt die theologische Lehre vom Erlösungswerk Christi. Ähnliche Formulierungen finden sich u. a. bei Irenäus, Athanasius dem Großen und Thomas von Aquin.
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4. Alfred Hrdlickas anstößige „Inkarnationen“ als Impulse für eine authentische Gottesrede der Gegenwart 4.1 Kunst „aus den Ecken“
Ohne die Absicht, Alfred Hrdlickas „inkarnatorische“ Kunst für eine entsprechende Theologie zu verzwecken, soll im Folgenden dennoch nachgedacht werden, welche „Anstöße“ sie heutiger Gottesrede zu geben vermag. In Hinblick auf Hrdlicka als Radierer prägte der Kunsthistoriker Johann Muschik den Begriff der „magisch-manischen Ecke“21. Seiner Beobachtung zufolge hielt sich Hrdlickas Radiernadel zunächst am rechten unteren Rand22 der Platte auf, wo sie – scheinbar willkürlich – Strichlagen auf Strichlagen setzte, um sich dann – von einem figurativen „Automatismus“23 getrieben – immer weiter vorzuarbeiten. Erst am Ende des spontan und assoziativ verlaufenden Prozesses wurde das „durch Striche, Ballungen, Kreuzungen, das Nebenund Übereinander von Szenen oder deren Überlagerungen sich ergebende graphische Bild“24 als Gesamtkomposition ersichtlich. Aus dem schraffierten Dunkel also tauchen Hrdlickas Figuren auf, kommen ans Licht, beginnen, ungehemmt zu interagieren. Die da vom Rand her in die Mitte treten, bleiben dennoch „Randfiguren“, randständige Existenzen, Fremde – selbst wenn sie in befremdender Weise Vertrautes in jedem von uns ansprechen. So kann Muschiks Methodenanalyse symbolhaft für Alfred Hrdlickas Neigung stehen, alle erdenklichen Ecken und Ränder durch seine kreative Präsenz zu adeln – nicht nur die der Kupferplatte und des Papiers, auch die vielen „Ränder“ und „Ecken“ der menschlichen Gesellschaft, der menschlichen Psyche. Das Milieu der Prostituierten, die Welt der Geisteskranken, Biographien von Verbrechern und Verbrechensopfern, die furchtbare Realität des Krieges und der Verfolgung, der menschliche Todeskampf in seinen verschiedensten Ausprägungen – alles Dunkle und scheinbar Gottverlassene der menschlichen Existenz: Hrdlicka inszenierte es unendlich variantenreich, wobei sich persönlich Erlebtes stets mit historischen, mythologischen und biblischen Narrativen mischte. So beharrte Alfred Hrdlicka, obwohl er zu den führenden österreichischen Künstlern zählte, sein Leben lang mit Ausdauer und Starrsinn darauf, nicht in schicke Wohnzimmer 21 22 23 24
Siehe Muschik, Johann/Hrdlicka, Alfred: Drei Zyklen. Winckelmann – Haarmann – Roll over Mondrian, Wien 1968, Bildtexte IX u. a. a. O. Der Abdruck zeigt die „magisch-manische Ecke“ selbstverständlich links unten. Muschik/Hrdlicka, 1968 (wie Anm. 21), S. 16 Sotriffer, Christian/Hrdlicka, Alfred: Randolectil. Mit einem Werkkatalog sämtlicher Radierungen 1947 bis 1968 (Österreichische Druckgraphiker der Gegenwart Bd. I), Wien 1969, S. 15
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und Designerbüros zu passen. Denn sein Werk „verbündet sich mit den Schwachen, den Ausgegrenzten, den Ohnmächtigen und den Entrechteten. Und es analysiert die Bedingungen dieser Existenzen.“25 Dieser Hang zu Analyse und genauester Beobachtung entfachte in Hrdlicka auch die Leidenschaft des Aufdeckens und Demaskierens von Scheinwelten, des Vordringens in die entlegensten Grenzbereiche menschlicher Wirklichkeit und führte ihn an deren Abgründe. Als wollte er verhindern, dass nur irgendetwas potenziell Erfahrbares ihm fremd und verschlossen bleibe, stieg Hrdlicka in jeden dieser Abgründe so tief wie möglich hinab. Man könnte sagen – und nicht umsonst in dieser theologiehaltigen Terminologie – er „entäußerte“ sich als Künstler in diese Abgründe. Das macht den extremen und so wahrhaftigen Realismus seiner Werke aus. Durch die Fülle und Genauigkeit der Beobachtungen konnte er Konkretes zum Gleichnis erheben, konnte Einzelgestalten gewissermaßen den Ausdruck einer Conditio humana ins Gesicht schreiben. Diesen darf der Theologe mit Fug und Recht als „Erlösungsbedürftigkeit“ dechiffrieren.
4.2 Christus im Henkerschuppen
Mehr als alle anderen bereits genannten Themenkreise beherrscht der politische Widerstand gegen die Nazi-Diktatur und die Beschäftigung mit den grausamen Schicksalen der Regimegegner Hrdlickas Schaffen. Auffällig ist dabei sein großes Interesse an Opfern aus den Reihen der christlichen Kirchen. So ist auch sein letztes skulpturales Werk einer katholischen Gegnerin des NS-Regimes gewidmet. Die unerschrockene Ordensfrau und Krankenschwester Maria Restituta Kafka, die den braunen Machthabern u. a. durch kritische Texte sowie die Weigerung, Kruzifixe aus den Krankenzimmern ihres Spitals zu entfernen, missliebig aufgefallen war, wurde im März 1943 auf dem Schafott hingerichtet. 1998 in Rom seliggesprochen, gedachte man ihrer im Jahr 2009 durch die Aufhängung jener Reliefbüste in der Barbara-Kapelle des Wiener Stephansdoms, die Alfred Hrdlicka mit aller Drastik des Ausdrucks gestaltete. Zu den kirchlichen NS-Gegnern, die in Hrdlickas Werken verewigt wurden, gehören auch der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer (Skulptur 1977), der Klosterneuburger Augustiner Chorherr Roman Scholz (Lithographie 1956) und der katholische Pfarrer und Direktor des Linzer Blindeninstituts, Dr. Johann Gruber. Letzterer wurde am Karfreitag des Jahres 1944 in Gusen, einem Nebenlager des KZ Mauthausen, auf bestialische Weise zu Tode gebracht. Hrdlicka widmete Gruber – wie bereits in den Vorbemerkungen erwähnt – 14 graphische Arbeiten, die seinen „Kreuzweg“ nachzeichnen.26 25 26
Mennekes, Friedhelm: Künstlerisches Sehen und Spiritualität, Zürich 1995, S. 142 Vgl. Bandion, Wolfgang J.: Johann Gruber. Mauthausen-Gusen 7. April 1944. Mit 14 Radierun-
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Auch die Ereignisse vom 20. Juli 1944, jenem Tag, an dem Claus von Stauffenbergs Attentat gegen Hitler scheiterte, was in der Folge zu einer beispiellosen Säuberungswelle innerhalb des Deutschen Reichs führte, verarbeitete Hrdlicka künstlerisch.27 Die Verschwörer jenes schicksalhaften Tages wurden in der Strafanstalt Plötzensee im Berliner Stadtteil Charlottenburg hingerichtet. Für das Ende der 60er Jahre nahe dem ehemaligen Henkerschuppen errichtete evangelische Gemeindezentrum, das dem Gedenken an die insgesamt 3000 Toten dieses Schreckensortes dient, schuf Alfred Hrdlicka ab 1970 seinen „Plötzenseer Totentanz“. „Der Mensch ist des Menschen Tod“ wurde dem mutigen Projekt von Pfarrer Bringfried Naumann als Motto vorangestellt. Und Alfred Hrdlicka suchte auf seinen monumentalen, graphisch gestalteten Holztafeln diesem pessimistischen Satz – einer Abwandlung des bekannten Hobbes-Zitats28 – gerecht zu werden. Verschiedenste „Tode“, die Menschen durch Menschen erleiden können, reihen sich hier aneinander. „Kain und Abel“ machen den Auftakt. Das vergessene Massensterben der Indios, der öffentliche Tod des Boxers, der mit wohligem Grausen als mediale Sensation genossen wird, eine Rotlicht-Variation über das klassische Thema „Der Tod und das Mädchen“, das Bild eines Demonstranten, dessen Protest letale Folgen zeitigt. Was alle Szenen verbindet, ist eine Eisentraverse, die sich am oberen Rand der Bilderfolge entlangzieht. Diese Vorrichtung war in Plötzensee von erschreckender Funktionalität. In den drei „Golgatha“-Tafeln findet sie erneut Anwendung. „Christus und die beiden Schächer erleiden ihren Kreuzigungstod, aufgehängt an den Fleischerhaken des Fließbandgalgens von Plötzensee.“29 Alfred Hrdlickas „Totentanz“ ist – der Vorgabe des Auftraggebers entsprechend – „eher eine Bilanz als eine Märtyrerverherrlichung“30. Diese Herangehensweise an die zahllosen Gewaltorgien der Menschheitsgeschichte entspricht Hrdlickas Wesensart: Er „sieht hin und macht sich Gedanken über das, was er gesehen hat, versucht es sich zu erklären und bleibt doch
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gen von Alfred Hrdlicka, Wien 1995. Beachtenswert sind auch Hrdlickas Aussagen in: Mennekes/ Röhrig, 1994 (wie Anm. 8), S. 20; hier kommt der tiefe Respekt des Künstlers vor Dr. Gruber zum Ausdruck. Vgl. Alfred Hrdlicka. Wie ein Totentanz. Die Ereignisse des 20. Juli 1944. 53 Radierungen, hrsg. v. der Walter Buchebner Gesellschaft (Publikation anlässlich der Ausstellung im Bundesschulzentrum Mürzzuschlag im Rahmen des „steirischen herbst ’82“), Graz 1982 Die lateinische Sentenz „homo homini lupus“ („Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“) wird in der Regel dem englischen Philosophen Thomas Hobbes zugeschrieben, der sie allerdings vom römischen Dichter Plautus übernahm. Böttcher, Walter: Der Plötzenseer Totentanz, in: Kunst und Kirche 3, 1973, S. 136 Hrdlicka, Alfred: Plötzenseer Totentanz (1970), in: Hrdlicka, Alfred: Skulptur und große Zeichnungen. Fotografiert von Fritz Miho Salus. Mit einem Werkkatalog von Manfred Chobot, Wien 1973, S. 20
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oft fassungslos.“31 Vielleicht ist seine Kunst mehr noch Klage als Anklage. Nicht um die Verdammung der Täter und die Verklärung der Opfer ist er bemüht, versteht er doch die Gewalttätigkeit des Menschen als ein unüberwindliches Existenzial, dem mit moralischem Instrumentarium kaum beizukommen ist. So sind Hrdlickas Figuren – die Mörder wie die Gemordeten – dem Verhängnis ihres Menschseins ausgeliefert, jedoch „nicht widerspruchslos leidensbereit“32. Ihr Fleisch müht sich um Behauptung, bäumt sich zur Abwehr auf und ist dennoch der Vernichtung geweiht. Dieser Kampf eint alle Gestalten Alfred Hrdlickas über sämtliche Kategorisierungen hinweg. Der Gekreuzigte steht für sie alle. Von ihm konnte Hrdlicka – so scheint es – lebenslang nicht lassen.
4.3 Osterlicht?
Ein dreiteiliges Bild, das Alfred Hrdlicka in zeitlicher Distanz den besprochenen Tafeln hinzufügte, soll abschließend Erwähnung finden. Es gehört zu den bemerkenswertesten und wohl auch untypischen Leistungen des Künstlers. Handlungsort ist nach wie vor der Henkerschuppen von Plötzensee. Kahl geschorene Männer in gestreiften Sträflingsanzügen kauern zusammen. Einer von ihnen bricht ein Stück Brot. Man erkennt einander. Diese uniformen Elendsfiguren sind Jesus und seine Jünger – in Emmaus und beim letzten Abendmahl. Der „Herr“ ist ganz in Licht getaucht: „Seine erleuchtete Gestalt empfängt ihr Licht freilich nicht von den ... Schuppenfenstern, sondern wie aus einem Geheimnis, das sie in sich trägt. Es strahlt noch über auf einen glatzköpfigen Gefangenen, der zur Linken von einer finsteren Gestalt abgeführt wird.“33 Die Aussage des Bildes ist klar: Jesus ist Schicksals- und Leidensgenosse. Er stirbt keinen besseren Tod als die, welche sich um ihn scharen – und doch ist er mitten in der Hölle von Plötzensee als der Christus präsent. Im Brechen des Brotes, im Anteilnehmen und Anteilgeben strahlt er als die Hoffnung auf. Durch ihn wird das geschundene Fleisch sich zum Auferweckungsleib wandeln. Günter Rombold erkennt hier „eine der erstaunlichsten, den Aussagen der Bibel nächsten Darstellungen des Auferstandenen, die es in der Kunstgeschichte gibt“34. Darin ist ihm wohl recht zu geben. Unrecht hingegen hat Hrdlicka selbst, wenn er darauf besteht, ihm sei „die
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Schmied, Wieland: Wie ein Totentanz, in: Hrdlicka, 1982 (wie Anm. 27), o. S. Van der Grinten, Franz Joseph/Mennekes, Friedhelm: Menschenbild – Christusbild. Auseinandersetzung mit einem Thema der Gegenwartskunst, Stuttgart 1984, S. 77 Böttcher, 1973 (wie Anm. 29), S. 136 Rombold, Günter/Schwebel, Horst: Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Eine Dokumentation mit 32 Farbbildern und 70 Schwarzweiß-Abbildungen, Freiburg i. Br. 1983, S. 120
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Alfred Hrdlicka, Emmaus-Abendmahl-Ostern (Ausschnitt aus dem Graphik-Zyklus „Plötzenseer Totentanz“), 1972
Symbolkraft des Abendmahls uneinfühlbar“35. In diesem Werk widerlegt er sich selbst. Die Macht der Kunst vermag zuweilen eben mehr als bloßes Denken.
4.4 Plädoyer für eine „Reinkarnation“ christlicher Theologie
Was hat die Präsenz Christi im Henkerschuppen von Plötzensee, was haben Hrdlickas vielfältige und so lebendige „Inkarnationen“ einer kämpfenden und immer von Neuem gekreuzigten Menschheit dem Theologen des 21. Jahrhunderts zu sagen? Welcher Art muss eine Gottesrede sein, zu der diese Kunstwerke inspirieren? In den Tafeln des „Plötzenseer Totentanzes“ kommt die unbedingte Solidarität Christi mit dem Menschen zum Ausdruck: Solidarität im Leiden, im Sterben und nicht zuletzt im Widerstand. Die eben beschriebene Mahlszene macht zweierlei deutlich: Erstens musste Jesus Christus, um im Austeilen des gebrochenen Brotes Anteil an seinem ewigen Leben zu geben, selbst durch die „Hölle“ furchtbarer Qualen gehen – bis hin zum Tod. Jesu 35
Hrdlicka, 1970/1973 (wie Anm. 30), S. 21
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schonungslose Hingabe für die Seinen ging der Auferweckung voraus. Zweitens steht der geschundene Christus an der Seite leidender Menschen aller Zeiten und seine Heilsverheißung gilt bis heute. Der Glaube an die Solidarität Gottes mit den Menschen in Jesus Christus ist also von entscheidender Bedeutung: dementsprechend auch eine Theologie, die der Entäußerung, der „Kenosis“ Gottes im historischen Jesus – wie sie der Philipper-Hymnus (Phil 2,6-11) zum Ausdruck bringt – ausreichend Rechnung trägt und mit „naturalistischer“ Drastik vermerkt, dass der Fleisch gewordene Sohn Gottes sämtliche Widrigkeiten menschlicher Existenz, ja den menschlichen Tod in Form unmenschlichen Verendens freiwillig angenommen hat. Ohne ein solches Bekenntnis kann nicht die Hoffnung keimen, dass Gott, der Vater, in das mächtig vollzogene Wandlungsgeschehen der Auferweckung seines Sohnes auch das Leiden und Sterben aller Schwestern und Brüder Jesu36, all der Schmerzensmänner und -frauen der Geschichte einholen wird. Umgekehrt lässt ein Glaube, der das reale Leiden Gottes in Jesus Christus verharmlosend und vorschnell ins Licht der Auferstehung taucht, Ostern zum lebensfernen Kult des auf- und niedersteigenden Himmelswesens missraten. Es sei also nochmals betont: Jede „Kenosis-Christologie“ – und christliche Theologie kommt ohne sie nicht aus – muss im Leben und Sterben des Menschen Jesus vollständig „geerdet“ sein, um überhaupt eine Berechtigung zu haben. Nur so kann die liebende Solidarität des Schöpfers mit seinen Kreaturen verständlich werden, nur so kann das Geschick Jesu im heute leidenden und sterbenden Mitmenschen wiedergefunden werden und nur so kann der Mensch in seinem eigenen unausweichlichen Todesschicksal und im Ertragen jener vielgestaltigen Leiden, die ihm auferlegt sind, einen tiefen Sinn erkennen: seine Nähe zu Gott, der – nach Dietrich Bonhoeffer – ein „Gott des Tragens“37 ist. Eine Theologie, wie sie eben skizziert worden ist, kann freilich nicht ohne konkrete Auswirkungen bleiben. Sie muss sich gewissermaßen in der Praxis „inkarnieren“. So mag an dieser Stelle der 2019 verstorbene Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz Erwähnung finden. Wie Alfred Hrdlicka 1928 geboren, erlebte er in jungen Jahren die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, was von entscheidender Relevanz für sein späteres theologisches Wirken war. Metz sah die Theodizee-Frage als eine bleibende Herausforderung an die Theologie, welche der Autorität der Leidenden mehr Gewicht geben müsse. Die konkreten Schicksale konkreter Menschen ließen sich niemals „wegtheologisieren“. Insofern verharrte Metz nicht im traditionellen dogmatischen Denken, sondern propagierte 36 37
Hier sind keinesfalls nur getaufte Christen gemeint. Die Auferweckung Jesu kann als ein Zeichen der Hoffnung für alle leidenden und sterbenden Menschen interpretiert werden. Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, hrsg. v. Martin Kuske und Ilse Tödt (Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 4), Gütersloh (2. Aufl.) 1994, S. 84
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den Begriff der „Compassion“, der „Mitleidenschaft“ als eine Grundvokabel des Christentums. Einer sündenfixierten stellte Metz eine leidempfindliche Theologie entgegen und orientierte sich dabei am Beispiel Jesu: „Die Sünde war ihm vor allem Verweigerung der Teilnahme am Leid der Anderen, war ihm Weigerung, über den Horizont der eigenen Leidensgeschichte hinauszudenken, war ihm, wie Augustinus das nennen wird‚ ,Selbstverkrümmung des Herzens’, Auslieferung an den heimlichen Narzissmus der Kreatur.“38 Erst aus einer „Mystik der Compassion“ heraus, könne – nach J. B. Metz – der Christ eine echte und universale Mitleidenschaft erlernen, nämlich dann, wenn er „durch das Gebet und die Betrachtung mit dem mitleidenden Gott in Jesus Christus eins“ wird.39 An dieser Stelle gilt es, kurz auf das zuletzt Gesagte Rückschau zu halten. Es wurde deutlich, dass eine leidsensible Theologie der Gegenwart die Inkarnation Christi ganz im Sinne der „Kenosis“, der Entäußerung Gottes in das kreatürliche Leiden des Menschen Jesus begreift. Daraus lässt sich – erstens – der Ansatz einer christlichen Leidens- und Todesmystik entwickeln, die uns ermöglicht – wie Karl Rahner sagt –, „mit Jesu Tod in den Abgrund Gottes zu fallen als in unsere eigene Endgültigkeit, Heimat und unser ewiges Leben“40. Zweitens muss ein solches „kenotisches“ Verständnis der Menschwerdung Gottes den Blick des Christen über das eigene Schicksal hinaus weiten – im Sinne der Metz’schen „Compassion“, also tätiger Anteilnahme am Geschick aller Leidenden. Ein dritter Aspekt, der in den bisherigen Ausführungen noch kaum Beachtung fand, darf hier aber keinesfalls fehlen. Heutige Theologie – und gerade diesbezüglich liefert die Kunst Alfred Hrdlickas zahlreiche Denkanstöße – muss in der Lage sein, den entäußerten Christus in seiner Widerständigkeit sichtbar zu machen. Denn – vor jedem Versuch religiöser Bewältigung und Sinnstiftung – ist das von Menschen verursachte Leid ein Übel, gegen das es sich aufzulehnen gilt. In Hrdlickas Plötzenseer Tafeln wird – wie schon die räumliche Nähe zur NS-Hinrichtungsstätte zeigt – ganz besonders die Solidarität Jesu mit Menschen im Widerstand veranschaulicht. In gewisser Weise war der historische Jesus tatsächlich ein „Widerstandskämpfer“. Seine Botschaft vom „Königreich Gottes“ erzürnte die Machthaber seiner Umgebung – denn die Maßstäbe in diesem „Reich“ waren ganz andere als die ihren, eben die des „ganz anderen“ Gottes. So war Jesu Verkündigung auch 38
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Metz, Johann B.: Im Eingedenken fremden Leids. Zu einer Basiskategorie christlicher Gottesrede, in: Metz, Johann B./Reikerstorfer, Johann/Werbick, Jürgen: Gottesrede, Münster (2. Aufl.) 2001, S. 11 Schick, Ludwig: Compassion. Mit der Leidenschaft Gottes für die Menschen, in: Janßen, HansGerd/Prinz, Julia D. E./Rainer, Michael J. (Hg.): Theologie in gefährdeter Zeit. Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist Metz zum 90. Geburtstag, Münster (2. Aufl.) 2019, S. 434 Rahner, Karl: Wagnis des Christen. Geistliche Texte, Freiburg i. Br. 1974, S. 47
Vom Ärgernis der Fleischwerdung
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nur insofern politisch, als sie eine radikale Relativierung der Politik seiner Zeit bedeutete.41 Jesus war zweifellos kein Zelot, er wollte das Gottesreich nicht gewaltsam herbeizwingen, ebenso wenig aber war er ein Dulder schreiender Ungerechtigkeit. Aus diesem Grund ist es auch den Christen der Gegenwart keineswegs auferlegt, jedes Leid einfach hinzunehmen. Handelt es sich um fremdes, behebbares Leid, dann sind sie zur Tat gerufen. Auflehnung gegen Entwürdigung und Unterdrückung ist politische Christenpflicht – religiös verbrämter Quietismus dagegen Sünde. Wenn die schrecklichen Notsituationen ausgebeuteter und entrechteter Menschen zum „Jammertal“ verharmlost werden, in dem „wir“ eben nur auf das Jenseits hoffen können, dann erhält die Rede von der „ewigen Seligkeit“ und vom „Sinn des Leidens“ einen unerträglich zynischen Beigeschmack. Wo andererseits – in Hinblick auf die Botschaft vom Gottesreich – der eschatologische Vorbehalt in eine politisch radikale Befreiungsideologie aufgesogen wird, müssen ebenfalls die Alarmglocken läuten. Wie überaus heikel und sensibler Handhabung bedürftig dieses Thema ist, zeigte in den 1980er Jahren die Auseinandersetzung der päpstlichen Kongregation für die Glaubenslehre mit den – ihrem Urteil zufolge – „schweren Abweichungen, die in manchen ‚Befreiungstheologien‘ enthalten sind“.42 Als großes und unbestreitbares Vorbild sei in diesem Zusammenhang der 2018 durch Papst Franziskus heiliggesprochene Erzbischof Oscar Arnulfo Romero von San Salvador genannt. Alles andere als ein linksideologischer Agitator, wurde er zum Märtyrer. Seine Mörder wählten – wohl ohne Absicht – den symbolträchtigsten Zeitpunkt für ihre Tat, den man sich denken kann: eine Eucharistiefeier des Bischofs. Romero war eng mit den Menschen seiner Diözese verbunden und sprach mit Eifer und erstaunlicher Kompetenz die schwerwiegenden Probleme des Landes El Salvador an. Bei aller politischen Wucht seiner Predigten war es doch die Spiritualität dieses Mannes, die seine Hörer ermutigte. „Was unser Volk wirklich frei machen wird“, sprach er am 11. November 1979, ist „eine große Hoffnung auf den Tod und die Auferstehung Christi. Darin gewinnen all unsere Schmerzen einen befreienden Wert, all unsere Krankheiten und Leiden, ja selbst der Tod.“43 Die Verbindung von Mystik und Politik ist eine „gefährliche Sache“ und das Problem, das solche Gottesrede für totalitäre Machthaber und Unterdrücker bedeutet, ist, dass sie 41 42
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Vgl. Merklein, Helmut: Studien zu Jesus und Paulus (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 43), Tübingen 1987 , S. 200 Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über einige Aspekte der „Theologie der Befreiung“ vom 6. August 1984, als Anhang abgedruckt in: Metz, Johann Baptist (Hg.): Die Theologie der Befreiung: Hoffnung oder Gefahr für die Kirche? (Schriften der Katholischen Akademie in Bayern Bd. 122), Düsseldorf 1986, S. 183 Romero, Oscar A.: Drei christliche Kräfte, die die Befreiung unseres Volkes schmieden werden. Predigt am 11. November 1979, in: Romero, Oscar A., Die notwendige Revolution (Forum Politische Theologie Nr. 5), München 1982, S. 138
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Johannes Wais
den Menschen die Angst nimmt, sie aufrichtet, ihnen die Kraft zum Widerstand gibt. Nicht erst die Gefahr der Revolution, schon die beängstigende Sicherheit der Geknechteten, mit der sie das Unrecht im Namen Jesu ansprechen können, zeitigt – wie das Beispiel Romeros beweist – oft grausame Reaktionen. Aus Widerstand wird dann Martyrium. Jenen Kreuzesnachfolgern, die – wie er selbst – den Weg der Entäußerung gehen, ruft Christus zu: „Wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Mt 10,39). Dieser Satz wird eindringlich zum Bild, wenn in Alfred Hrdlickas Emmaus-Szene das Licht auf dem kahlen Haupt eines Mannes, den man zum eisernen Galgen zerrt, in mystischer Weise mit der Lichtaura des Auferstandenen kommuniziert.
III. Fortitvdo
Zu Spiritualität und Geschichte der geistlichen Ritterorden
Hannes Scheucher, Fortitvdo, Acryl auf Papier, 2020
Der Heilige Bernhard als Quelle ritterlicher Spiritualität Gregor Henckel Donnersmarck
Die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts wird oft das „Zeitalter Bernhards von Clairvaux“ genannt. In diesem halben Jahrhundert geht nichts ohne den Heiligen Bernhard und alles mit ihm. Egal ob es sich um die Beilegung des philosophischen Streites mit Petrus Abaelardus am Konzil von Troyes, um die Überwindung eines Papstschismas im Jahr 1130 oder die Kreuzzugspredigt für den 2. Kreuzzug handelt – immer ist Bernhard die entscheidende Schlüsselfigur im weltlichen und geistlichen Geschehen. Schließlich und vor allem ist er aber auch der Spiritus Rector (wenn auch nicht Gründer) der Errichtung und Ausbreitung seines Zisterzienserordens mit rund 300 Klöstern bis zu seinem Tode 1153. Dabei aber bewirkt seine reduktionistische Architekturauffassung („Bernhardinisches Bilderverbot“) auch einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des gotischen Baustils („Zisterzienser Gotik“). Ein Schüler des Heiligen Bernhard wird als Eugen III. sogar zum Papst erwählt, und Bernhard schreibt für ihn den Traktat „De consideratione“ – eine Art Papstspiegel. Ebenso bedeutend ist sein Einfluss auf die Spiritualität der Ritterorden, wenn er seinen Traktat „De laude novae militiae“ verfasst, der an die Templer gerichtet ist, aber sicher weit darüber hinaus rezipiert wurde. Dieses Werk Bernhards wird im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes noch näher beleuchtet. Der Heilige Bernhard stammt ja selbst aus der Familie de Fontaines, die dem burgundischen Adel angehört. Er ist daher dem Gedanken des Rittertums sehr nahe.
1. Der christliche Ritter
Zwei Gestalten sind zu erwähnen, die aus dem Neuen Testament und aus der frühen Kirchengeschichte Muster für das christliche Ritterideal abgeben: Zum einen der römische Hauptmann von Kapharnaum, ein Offizier, den man durchaus auch Ritter nennen könnte. In großer Demut kommt er zu Christus und voller Gottvertrauen bittet er ihn um die Heilung seines Knechtes. Er bittet nicht für sich, sondern für jemanden, der ihm anvertraut ist (Mt 8, 5-13). Die zweite Gestalt ist der Heilige Martin von Tours, zu dem
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Gregor Henckel Donnersmarck
Zeitpunkt ebenfalls ein Offizier, der seinen Mantel teilt, um damit einem Bettler zu helfen. Er ist als Angehöriger des Militärs in ritterlicher Weise trotzdem bereit, später einer geistlichen Berufung zu folgen. Schließlich wird er sogar Bischof von Tours. In ihm leuchten zum ersten Mal die beiden Seiten des ritterlichen Ideals auf –Dienst an Gott und am Mitmenschen. Nach den unruhigen Zeiten der Völkerwanderung, in der Bewaffnete hoch zu Ross viel Unheil anrichteten, aber auch notwendige Verteidigungsaufgaben übernahmen, entwickelte sich Schritt für Schritt ein Idealbild des „christlichen Ritters“. Dieses entfaltet sich zu seiner vollen Bedeutung in den Kreuzzügen vom 11. bis zum 14. Jahrhundert und hier insbesondere wieder in den Ritterorden, die zu dieser Zeit entstanden. Was ist dieses Ideal? • Ritter zu sein, heißt zunächst, furchtlos zu sein. Ein ängstlicher Ritter ist eine Karikatur, wie sie Jahrhunderte später Cervantes im Don Quijote als „Ritter von der traurigen Gestalt“ gezeichnet hat. • Ein zweites Merkmal: Ritter zu sein, heißt, jemandem zu dienen. Rittertum ist Dienst zuerst an Gott und der Kirche, dann aber auch an dem christlichen König und schließlich auch an den schutzbedürftigen Frauen und Waisen. Ein Ritter, der nicht zu dienen bereit ist, ist ein Raubritter. • Ritter zu sein, heißt auch, maßvoll zu sein. Die „Masze“ als eine der vier Kardinaltugenden bestimmt entscheidend seine eigene innere Haltung. Das rechte Maß zu finden, ist ihm aufgetragen, und so soll er zu den Dingen der Welt – ob gut, ob böse – Abstand halten, um jeweils das Bessere zu wählen. Viel später hat der Heilige Ignatius von Loyola diese Haltung als „indiferencia“ beschrieben, und auch er war ein Ritter und Ordensgründer. Die „indiferencia“ darf keinesfalls als „Indifferentismus“, also als Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Dingen missverstanden werden. • Ritter zu sein, heißt ebenso, treu zu sein. Ein Ritter, der nicht treu ist, ist ein Söldner, der immer dorthin geht, wo er das meiste bezahlt bekommt und der jederzeit bereit ist, seinen „Herrn“ zu wechseln. • Schließlich heißt Ritter zu sein, Barmherzigkeit zu üben. Das erst fügt die bisher genannten vier Begriffe zu wahrer Christlichkeit zusammen, indem der Ritter für andere Menschen in der besonderen Haltung der Barmherzigkeit da ist. Ein unbarmherziger Ritter ist ein Ritter der Finsternis. Von Walter Kardinal Kasper stammt die Formulierung: „Die Barmherzigkeit ist die emotionale Seite des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant.“ Die antiken, durchaus nicht christlichen, sondern heidnischen Erzählungen der Helden wie in der „Ilias“, aber auch in den ursprünglichen germanischen Heldenliedern, zeigen
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die Hauptfiguren ohne diese Merkmale des christlichen Ritters, die dann im „Heliand“ oder im „Parzival“ des Wolfram von Eschenbach so charakteristisch für die Helden sind.
2. Die Kreuzzüge
Am 27. November 1095 rief Papst Urban II. – einstiger Prior von Cluny – auf der Synode von Clermont zum Kreuzzug auf. Er war damit einer Bitte des byzantinischen Kaisers Alexios I. Komnenos gefolgt. Der Hintergrund war, dass die bis dahin offenen Pilgerwege zu den heiligen Stätten in Palästina durch die Seldschuken unterbrochen worden waren. Außerdem waren die Christen in diesen Regionen, in denen das Christentum ja seinen Ursprung hat, von schlimmen Verfolgungen bedroht. Vermutlich war sich der Papst nicht im Klaren darüber, was für einen riesigen Widerhall sein Aufruf haben sollte. Einerseits entstand so jener Kreuzzug, den man heute den ersten nennt und der neben organisierten Ritterheeren auch ungeordnete begeisterte Massen aus allen Ständen Europas mobilisierte. Andererseits war zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht zu überblicken, dass es bis zum Jahre 1291 zum Zeitalter der Kreuzzüge kommen würde – also ungefähr 200 Jahre, die durch dieses Phänomen charakterisiert waren. Üblicherweise werden heute fünf Kreuzzüge gezählt. In unserer heutigen Zeit sind die Kreuzzüge keineswegs mehr positiv besetzt. Man deutet sie mit heutigen Begriffen als „Blitzkriege“ und als Aggression sowie rein militärisch-politisch. Auch der große englische Historiker Steven Runciman erklärt den mittelalterlichen Menschen mit heutigen Kategorien und lässt dabei außer Acht, dass der mittelalterliche Mensch sehr stark aus religiösen Motiven handelt. So ist das „Gelübde“ ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der Kreuzzüge. Ein solches Gelübde, in den Kreuzzug zu ziehen, ist nicht säbelrasselnde Strategie, sondern die Erfüllung eines Versprechens an Gott mit der Hoffnung auf Sündenvergebung. Die 200 Jahre der Kreuzzüge ins Heilige Land, also an den östlichen Rand des Mittelmeeres, entsprechen genau den 200 Jahren der sogenannten „Reconquista“ auf der iberischen Halbinsel, wo ebenfalls das Christentum durch die muslimische Invasion in eine prekäre Situation gekommen war. 10 Jahre vor dem Aufruf des Papstes zum ersten Kreuzzug hatten die christlichen Heere nach Jahrhunderten des Stillstandes Toledo eingenommen und damit den Startschuss für die Wiedereroberung Spaniens und Portugals gegeben. Als 1291 Akkon von den Mameluken erstürmt wurde, war schon 1248 mit der Eroberung von Sevilla die Hauptphase der iberischen Reconquista abgeschlossen. Man könnte also vereinfacht sagen, dass die Kreuzzüge des Westens erfolgreich waren, während die Kreuzzüge im Osten im totalen Misserfolg endeten. Es entzieht sich einer wissenschaftlichen
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Betrachtung, was geschehen wäre, wenn die Kreuzzüge auch im Osten von Erfolg gekrönt gewesen wären.
3. Die Ritterorden
Das Zeitalter der Kreuzzüge ist gekennzeichnet einerseits von europäischen Monarchen, die ihre Ritterheere zum Kreuzzug führten, und andererseits von den drei großen Ritterorden, die sich aus den Bedürfnissen und Gegebenheiten eben dieser Kreuzzugssituation entwickelten: den Johannitern, den Templern und dem Deutschen Orden. Der Deutsche Orden ist der jüngste und entsteht im Gefolge des dritten Kreuzzugs 1189–1192. Er hat sich auch in Europa ausgebreitet und nach dem Verlust des Heiligen Landes vor allem im Baltikum und in Ostpreußen festgesetzt. Er spielt in der späteren Geschichte noch eine große Rolle, weil im Zeitalter der Reformation der Hochmeister Protestant wird, heiratet und den Ordensstaat säkularisiert. Da der Hochmeister aus der Familie Hohenzollern-Brandenburg stammte, fiel ein Großteil des ehemaligen Ordenslandes an diese Dynastie und bildete den ursprünglichen Kern für das spätere Königreich Preußen. Kanonisch besteht der Orden noch heute, wurde allerdings nach dem Ersten Weltkrieg in einen Priesterorden umgewandelt. Der Hochmeister residiert heute in Wien. Der Templerorden war weitgehend französisch dominiert und stand daher in engem Kontakt mit dem Heiligen Bernhard und dessen Familie. Als er 1118 gegründet wurde, wandte sich der erste Hochmeister der Templer, Hugo de Paganis (de Payens + 1136) aus dem Hause der Grafen von Troyes, der wahrscheinlich ein Verwandter des Heiligen war, an den Heiligen Bernhard, dass er dem Orden eine Regel geben möge. Als benediktinischer Ordensmann – die Zisterzienser leben nach der Regel des Heiligen Benedikt – wollte er einfach die Benediktsregel den Templern andienen. Diese aber veränderten das Dokument sehr stark, sodass der Heilige Bernhard sich offensichtlich damit nicht mehr identifizieren konnte. Er verfasste daher sein Werk „De laude novae militiae“(„Vom Lob der neuen Ritterschaft“), das zwar an die Templer gerichtet war, aber sicherlich auch in den anderen Ritterorden als geistliche Weisung rezipiert wurde. Der älteste der drei Orden ist der Johanniterorden, der durch seine späteren Aufenthalte zuerst „von Jerusalem“, sodann nach dem Fall von Akkon „zu Zypern“, später „von Rhodos“ und schließlich „von Malta“ genannt wurde. Daher ist er heute unter dem Namen „Malteser Ritterorden“ bekannt. (Sein evangelischer Zweig nennt sich noch immer „Johanniter“). Der Malteser Ritterorden, dem Wolfgang Bandion und ich angehören, soll daher nun in einem eigenen Kapitel behandelt werden.
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4. Der Orden des Heiligen Johannes von Jerusalem – der Malteser Ritterorden
Es wird vermutet, dass schon 1048 die Hospitalbruderschaft des Heiligen Johannes des Täufers gegründet wurde. Bruder Gerhard, der im Orden als Seliger verehrt wird, war der Vorsteher dieses Pilgerhospizes um das Jahr 1080 in Jerusalem. Es bestand bereits mit Gewissheit zu der Zeit, als der erste Kreuzzug die Stadt erreichte. Dabei handelte es sich vorerst nicht um ein Hospital im heutigen Sinne, obwohl es auch über Einrichtungen zur Krankenpflege und -behandlung verfügte. Hospize waren in erster Linie Raststätten für Pilger. Die Sorge um Kranke und Behinderte war also von Anfang an in diesem Hospiz vorhanden und hat durch alle Jahrhunderte im Orden nie aufgehört. Dieses Hospiz wurde von Kaufleuten aus Amalfi begründet. Es wurde dem Heiligen Johannes gewidmet. Im Verlauf der zwei Jahrhunderte der Kreuzzüge war der Orden gezwungen, sich mehr und mehr als militärischer Ritterorden zu positionieren. Daher hatte der Orden im Heiligen Land neben Einrichtungen für Kranke auch Burgen und Verteidigungsanlagen. Die berühmteste Burg dieser Art ist vermutlich Krak de Chevaliers. Im Jahre 1113 stellte Papst Paschalis II. das erste Privileg für den Orden mit der Bulle „Piae postulatio voluntatis“ aus. Von da an kann man von einem kirchlichen Orden sprechen. Papst Paschalis II. hat übrigens auch die ersten Dokumente für den Zisterzienserorden ausgestellt. Zu dieser Zeit, nämlich 1125, wird das erste Mal ein Großmeister des Ordens mit Namen Raymond de Puy genannt. Dieser errichtet einen riesigen Hallenbau für bis zu 2000 Patienten mit beispielgebenden Spitalsregeln. 1154 erlässt Papst Anastasius IV. die Bulle „Christianae fidei religio“ und nennt die Bruderschaft ausdrücklich einen Ritterorden. Offensichtlich waren ab 1150 die Ritter mehr und mehr zum militärischen Schutz der Pilger aktiv geworden. Die Verfassung des Ordens war weitgehend auf dem Geist der Regel des Heiligen Augustinus aufgebaut, war aber durchaus monastisch geprägt. Geradezu benediktinisch mutet die Verbindung von Gebet und Arbeit an, wobei unter Arbeit der Dienst an den „Herren Kranken“ und der Schutz der Pilger sowie der heiligen Stätten zu verstehen ist. Der Orden des Heiligen Johannes von Jerusalem nimmt unvermeidlich am Schicksal der Kreuzzüge insgesamt teil. Markante Punkte dabei sind 1187 die Schlacht bei Hattin, welche den Fall von Jerusalem nach sich zieht. Saladin von Ägypten ist der muslimische Eroberer. 1291 schließlich endet die Zeit der Präsenz der Kreuzfahrer im Heiligen Land mit dem Fall von Akkon. Der Orden des Heiligen Johannes wird für nur wenige Jahre nach Zypern verlegt und muss sich 1309 auf die Insel Rhodos zurückziehen. Hier übernimmt er für mehr als zwei Jahrhunderte eine wichtige Aufgabe in der Verteidigung des Christentums zur See, indem von Rhodos aus das östliche Mittelmeer kontrolliert wurde.
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1522/23 belagert Sultan Süleyman I. die Insel Rhodos, und nach heldenhafter Abwehr wird den Rittern ein ehrenvoller Abzug nach Kreta gewährt. Derselbe Sultan Soliman der Prächtige hat 1529 zum ersten Mal Wien belagert! Kaiser Karl V. vertraut dem Orden die Inseln Malta und Gozzo sowie Tripolis als Lehen an. Von da an spricht man vom Malteser Ritterorden. Schon auf Rhodos zeigen sich die ersten Elemente einer staatlichen Souveränität des Ordens, welche sich auf Malta voll entfaltet. Auch hier ist wiederum der Dienst an den „Herren Kranken“, verbunden mit der militärischen Überwachungsaufgabe im Mittelmeer zwischen Nordafrika und Italien vorrangig. Die große Belagerung von Malta durch die Osmanen im Jahre 1565 wird von den Rittern siegreich abgewehrt. Zu jener Zeit ist Großmeister Fra’ Jean Parisot de la Valette, der Erbauer der heutigen Hauptstadt von Malta, die sich zu seinen Ehren La Valetta nennt. Der Höhepunkt der militärischen Aktivitäten des Ordens ist sicherlich die Mitwirkung bei der Schlacht von Lepanto am 7. September 1571, die einen entscheidenden Sieg für die Christenheit darstellt. Die Französische Revolution mit all ihren Säkularisierungen führt zum Verlust der meisten Besitzungen in Frankreich, Deutschland und Italien, die einst als Stiftungen adeliger Familien in Europa entstanden waren. (Dazu zählen zum Beispiel die Kommende Mailberg 1146, die Kommende St. Johann zu Wien 1200 sowie die Kommenden Fürstenfeld, Pulst und Feldkirch 1230). In diese Zeit der Französischen Revolution fällt auch der Verlust von Malta 1798 unter dem Großmeister Fra` Ferdinand Freiherr von Hompesch, welches kampflos an Napoleon auf seinem Feldzug nach Ägypten übergeht. Die Devise war: „Wir schießen nicht auf Christen!“ Nach dem Untergang fast der gesamten Strukturen des Ordens außer in Böhmen und Österreich kommt es während des 19. Jahrhunderts schrittweise zu einer neuen Erstarkung des Ordens, wobei nunmehr das Schwergewicht verstärkt auf die Krankenpflege, insbesondere in Kriegen, gelegt wird. In der Verbindung von Ordensleben und Krankendienst verwirklicht sich jenes „monastische Leben“, das im 2. Vatikanischen Konzil als dritte Form zwischen „vita activa“ und „vita contemplativa“ ausdrücklich erwähnt wird (siehe unten am Ende des 5. Kapitels). Es gelingt auch, die staatsrechtliche Souveränität, die ursprünglich am Territorium der Insel Malta hing, rechtlich für den Orden zu erhalten, sodass er heute mit vielen Staaten diplomatische Beziehungen unterhält und diese in den Dienst seiner Aufgaben im sozial-karitativen Bereich stellt. Der heutige (2020) Großmeister des Ordens Fra’ Giacomo Dalla Torre del Tempio di Sanguinetto residiert in Rom im Gebäude der ehemaligen Botschaft des Ordens beim Heiligen Stuhl in der Via Condotti.
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Der Heilige Bernhard als Quelle ritterlicher Spiritualität
Reliquie des Hl. Bernhard v. Clairvaux
5. Der Traktat „De laude novae militiae“ des Heiligen Bernhard von Clairvaux
Schon ziemlich zu Beginn der Kreuzzüge schreibt der Heilige Bernhard seinen berühmten Traktat „De laude novae militiae“ – zu Deutsch „Vom Lob der neuen Ritterschaft“ –, der für die Intention der Ritterorden ein überaus wertvolles Dokument darstellt. Der Heilige Bernhard ist aufgrund seiner Herkunft ein guter Zeuge für Ritterlichkeit, aber aufgrund seiner Ordenszugehörigkeit auch ein Vermittler echter monastischer Spiritualität. Obwohl dieser Traktat auf Bitten des ersten Hochmeisters der Tempelritter und für diese geschrieben wurde, kann kein Zweifel daran bestehen, dass er auch in den anderen mittelalterlichen Ritterorden gelesen und rezipiert wurde. Bernhard war d i e bestimmende Persönlichkeit in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Der Gedanke des Schreibens ist, die Bewegung der Ritterorden mit dem Sauerteig des Evangeliums zu durchdringen. Es ist eine Grundtechnik monastischer Tradition, die Heilige Schrift so intensiv zu meditieren, dass man dann sozusagen aus ihr lebt. Bernhard ist ein klassisches Beispiel, denn er kann gar nicht anders als – bewusst oder unbewusst – in Zitaten der Heiligen Schrift sprechen. Wenn er den Titel „ doctor mellifluus“ führt, dann ist das nicht der Tatsache geschuldet, dass seine Texte „honigsüß“ seien, sondern es ist das Bild der Biene genommen, die aus den Waben den harten Honig in den eigenen Mund nimmt, um ihn dort zu verflüssigen, und ihn so den jungen Bienen zur Nahrung gibt.
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Am Anfang eines solchen Traktates steht immer eine captatio, das fordert die mittelalterliche Höflichkeit: „Bernhard, nur dem Namen nach Abt von Clairvaux, grüßt Hugo, den Ritter und Meister der Ritterschaft Christi: Kämpfe den guten Kampf! Einmal und wohl auch ein zweites und drittes Mal, wenn ich mich nicht täusche, liebster Hugo, hast Du mich gebeten, Dir und Deinen Waffenbrüdern eine Predigt zur Ermunterung zu schreiben und gegen die feindliche Macht der Tyrannen meinen Griffel zu schwingen, da es mir nicht erlaubt ist, dies mit der Lanze zu tun.“ Bernhard stammt zwar aus einer aristokratischen Familie des östlichen Burgund, aber es ist ihm aufgrund seiner Mönchsgelübde nicht erlaubt, mit der Waffe zu kämpfen. Daher „schwingt“ er nur den Griffel, um den mehrmaligen Wünschen des ersten Großmeisters der Templer zu entsprechen. Nun beginnt der eigentliche Text, die „Mahnrede an die Templer“; Exhortatio ist das lateinische Wort dafür. „Überall in den Ländern und in jener Gegend, die Christus in Menschengestalt und als aufstrahlendes Licht aus der Höhe besucht hat, hört man seit kurzem, es sei eine neue Schar von Rittern aufgetreten. Dort, von wo er in der Kraft seines Armes die Fürsten der Finsternis verscheuchte, will er auch ihre Anhänger, die Söhne des Unglaubens, zersprengen und vernichten durch die Hand seiner starken Streiter. Er schafft auch heute seinem Volk Erlösung und errichtet uns das Horn des Heils im Hause seines Knechtes David.“
Jeder zweite Halbsatz ist dem christlichen Leser von seiner Kenntnis der Heiligen Schrift vertraut, aber das macht die Lektüre nicht einfach, weil es eine Kunstprosa wird, die schwer zu übersetzen ist. „Es handelt sich, sage ich, um ein neues, der Welt noch unbekanntes Rittertum, das einen zweifachen Kampf zugleich unermüdlich kämpft, nämlich den gegen Fleisch und Blut und den gegen die bösen Geister des himmlischen Bereichs. Wenn man nur mit Körperkraft einem körperlichen Feind Widerstand leistet, so sehe ich das nicht als wunderbar an noch halte ich es für eine Seltenheit. Aber auch dann, wenn man in tapferer Gesinnung den Lastern und Dämonen den Krieg erklärt, scheint mir das gar nicht so großartig zu sein, auch wenn es lobenswert ist, denn man sieht ja, dass die Welt voll von Mönchen ist.“
Hier wird eine gewisse Resignation des Abtes von Clairvaux hörbar, dass nämlich der Kampf gegen die Dämonen innerhalb des Ordenstandes, dem er selbst angehört, nicht unbedingt schon zum Guten führt. „Wenn aber beide Menschen in einer Person ein jeder sich kraftvoll mit dem Schwert umgürtet, sich dann aber auch ehrenvoll durch sein Zingulum auszeichnet, wer würde einen
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solchen nicht aller Bewunderung für höchst würdig erachten, zumal es sich ja um etwas Neues und Außergewöhnliches handelt? Ein solcher ist jedenfalls ein unerschrockener Ritter, allenthalben gefeit; er umgibt seinen Leib mit dem Panzer aus Eisen, seine Seele aber mit dem Glauben. Da er nun durch beiderlei Waffen geschützt ist, fürchtet er weder Teufel noch Menschen. Nicht einmal vor dem Tode ist dem bange, der sich danach sehnt, zu sterben. Denn was könnte der im Leben oder im Tode fürchten, dem Christus Leben und Sterben Gewinn ist? Er setzt sich treu und freudig für Christus ein, aber mehr noch sehnt er sich danach, aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein. Ob wir sterben oder leben, wir gehören dem Herrn. Wie selig sterben sie als Märtyrer im Kampf!“
Im dritten Abschnitt, im 2. Kapitel des Traktats, polemisiert der Heilige Bernhard gegen das weltliche Rittertum. Das ist also jene Ritterschaft, die nicht in einem Orden kirchlich geregelt ist. Er verwendet zu Beginn ein Wortspiel, in dem er die Ritterschaft militia nennt und das Wort für Verderbtheit malitia ist: „Was ist also der Zweck, was ist die Frucht dieser weltlichen, ich nenne sie nicht militia, sondern malitia, wenn dabei sowohl der Tötende eine Todsünde begeht als auch der Getötete ewig zu Grunde geht? Bei keinem anderen Sold also als entweder Tod oder Verbrechen! Ihr bedeckt eure Pferde mit seidenen Decken und eure Panzer mit allen möglichen überhängenden Tüchern; ihr bemalt die Speere, die Schilder und die Sattel; die Zügel und Sporen schmückt ihr ringsum mit Gold, Silber und Edelsteinen; mit so großer Pracht eilt ihr in beschämender Raserei und schamlosem Stumpfsinn in den Tod.“
In der berühmten manessischen Handschrift sind die Ritter bei unterschiedlichen Handlungen zu sehen: Ritter beim Turnier, Ritter vor den Damen, Ritter im Zweikampf … und vieles andere mehr. Dies sind alles Dinge, die die Kirche ohnehin schon verboten hatte. Nunmehr übernehmen selbstverständlich die Ordensritter all diese kirchlichen Vorschriften und sehen sie als Erfüllung ihrer Gelübde an. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass der Kreuzzugsgedanke von Anfang an von dem Gedanken geprägt war, dass der Ritter ein Gelübde abgelegt hat und dieses durch Teilnahme am Kreuzzug erfüllt. Das neue Rittertum sieht der Heilige Bernhard folgendermaßen: „Die Ritter Christi aber kämpfen mit gutem Gewissen die Kämpfe des Herrn und fürchten niemals weder eine Sünde, weil sie Feinde erschlagen, noch die eigene Todesgefahr. Denn der Tod, den man für Christus erleidet oder verursacht, trägt keine Schuld an sich und verdient größten Ruhm. Er nimmt wahrlich den Tod des Feindes als Sühne gern an und bietet
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sich noch lieber seinem Streiter als Tröster im Tod dar. Ein Ritter Christi, sage ich, tötet mit gutem Gewissen, noch ruhiger stirbt er.“
Im 21. Jahrhundert muten diese Aussagen natürlich äußerst befremdlich an, doch müssen sie aus der Zeit verstanden werden. Vielleicht bietet sich aber eine Verständnishilfe an, wenn wir uns die aktuelle Situation mit dem sogenannten Islamischen Staat vor Augen halten: Alle Nicht-Muslime sind in Gefahr, ausgerottet zu werden, und die Wege für die Pilger aller Religionen werden blockiert. Der Einfall der Seldschuken Ende des 11. Jahrhunderts, welcher den 1. Kreuzzug auslöste, ist durchaus mit der Situation heute vergleichbar. Die Zeit der Abfassung von „De laude novae militiae“ ist noch immer die Zeit nach dem 1. Kreuzzug. Der Heilige Bernhard ist zu diesem Zeitpunkt noch recht jung und noch nicht zur prägenden Gestalt des westlichen Christentums geworden. Er schreibt als Verwandter des ersten Großmeisters der Templer und ist selbst aus einem ritterlichen Milieu zu verstehen. Es gibt einen interessanten Satz im Traktat, der den Kampfesmut relativiert: „Allerdings darf man die Heiden nicht töten, wenn man sie auf einem anderen Weg von den maßlosen Feindseligkeiten und von der Unterdrückung der Gläubigen abhalten könnte.“ Nachdem die weltliche Ritterschaft von der neuen Ordensritterschaft abgegrenzt wurde, wird die Lebensweise der Tempelritter beschrieben: „Nunmehr zur Nachahmung oder besser zur Beschämung unserer Ritter, die wahrlich nicht für Gott sondern für den Teufel streiten, wollen wir – damit der Unterschied zwischen dem Heere Gottes und dem der Welt klar aufscheine – in Kürze über die Sitten und das Leben der Ritter Christi sprechen, wie sie sich in Krieg und Frieden verhalten. Zunächst fehlt keinem von beiden die Zucht, und der Gehorsam wird keineswegs verachtet, weil nach dem Zeugnis der Schrift ein ungezogener Sohn zu Grunde geht. ,Trotz ist ebenso eine Sünde wie Zauberei; Widerspenstigkeit ist ebenso ein Frevel wie Götzendienst‘ (1 Sam 15,23). Man geht und kommt auf den Wink eines Vorgesetzten, man zieht an, was er gibt und man nimmt weder Kleidung noch Nahrung von anderswo her. In Nahrung und Kleidung hütet man sich vor Überfluss, und man sorgt nur für das Notwendige. Man lebt in Gemeinschaft, in froher und nüchterner Geselligkeit ohne Frauen und Kinder. Und damit an der evangelischen Vollkommenheit nichts fehle, wohnen sie ohne jeglichen Besitz einmütig in einem Hause und sind bestrebt, die Einheit des Geistes im Band des Friedens zu wahren. (…) Sie verabscheuen Schach- und Würfelspiel, sie lehnen die Jagd ab, sie vergnügen sich nicht mit der Vogelbeize, wie sie sonst geübt wird. Schauspieler, Zauberer, Märchenerzähler, unsaubere Lieder und Schaustellungen von Possen verachten und verabscheuen sie als Eitelkeit und Lüge. Sie scheren sich die Haare, da sie wohl wissen, dass es auch nach dem Apostel für einen Mann eine Schande ist, die Haare lang zu tragen. Niemals gekämmt, selten ge-
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badet erscheinen sie vielmehr borstig, weil sie die Haarpflege vernachlässigen, vom Staub beschmutzt, von der Rüstung und von der Hitze gebräunt.“
Wenn wir diese Beschreibung lesen, spüren wir die starke Prägung der Ordensritter als Mönche. Anklänge der Benediktsregel sind darin enthalten, und die allzu strenge Askese des Heiligen Bernhard wird manifest. Im Abschluss des Kapitels über die Lebensweise der Tempelritter lesen wir: „Droht dann der Krieg, rüsten sie sich innerlich mit Glauben, nach außen mit Eisen und nicht mit Gold, damit sie durch Waffen den Feinden Angst einjagen, und nicht durch Schmuck deren Habgier herausfordern. Starke und schnelle Pferde wollen sie haben, nicht bunt behangene mit Brustschmuck gezäumte. Den Kampf, und nicht die Pracht, den Sieg, und nicht den Ruhm haben sie im Sinn; sie mühen sich mehr, Furcht zu erregen als Bewunderung. Sodann, nicht leidenschaftlich und ungestüm, nicht voreilig und überstürzt, sondern bedacht und mit aller Vorsicht und Vorsorge, ordnen sie sich und stellen sich in der Schlachtreihe auf, wie es von den Vätern geschrieben ist.“
Bernhard bezieht sich hier auf den Kampf der Makkabäerbrüder, besonders des Judas Makkabäus im Alten Testament (1 Makk 4,41; 2 Makk 12,20; 15,20). Dies sind allerdings Idealvorstellungen, die wohl nie in die Praxis umgesetzt wurden. Auch in päpstlichen Urkunden werden die Templer nach Bernhards Vorbild als „neue Makkabäer“ und „ wahre Israeliten“ bezeichnet. Dieser Vergleich gilt in den Papsturkunden für Templer und Johanniter. Im Weiteren schreibt Bernhard: „Die Feinde erachten sie wie Schafe und niemals, auch wenn sie sehr viele sind, fürchten sie weder wilde Barbarei noch zahlreiche Übermacht. Sie haben gelernt, nicht auf eigene Kräfte zu vertrauen, sondern den Sieg aus der Kraft des Herrn der Heerscharen zu erhoffen; sie sind vollkommen überzeugt, dass es ihm, nach dem Ausspruch des Makkabäers, ein Leichtes ist, viele wenigen in die Hände fallen zu lassen; für den Himmel macht es keinen Unterschied, ob er durch viele oder wenige Rettung bringt. Denn der Sieg im Kampf liegt nicht an der Größe des Heeres, sondern an der Kraft, die vom Himmel kommt‘ (1 Makk 3,18f ).“
Obwohl der Heilige Bernhard selbst nie im Heiligen Land war, besteht der Hauptteil des Traktats aus Betrachtungen anhand von Stätten und Orten in Palästina. Diese sind: • Der Tempel • Bethlehem • Nazareth
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Der Ölberg und das Tal Josaphat Der Jordan Der Ort Kalvaria Das Grab Bethphage Bethanien
Als Beispiel für die religiöse Dimension der Schrift und die umfassende Kenntnis der Bibel sei hier das IX. Kapitel „de Jordane“ vollständig zitiert: „Mit welcher Freude nimmt der Jordan die Christen auf, da er sich rühmen kann, durch Christi Taufe geheiligt worden zu sein! Sicher hat der Aussätzige aus Syrien gelogen, der irgendwelche Gewässer von Damaskus denen von Israel vorgezogen hat (2 Kön 5). Der hingebungsvolle Dienst unseres Jordan Gott gegenüber hat sich oft bewährt: Als er sich Elija, Elischa oder auch – um etwas Älteres anzuführen – als er Josua und zugleich seinem ganzen Volk den trockenen Durchgang gewährte, in dem er den Wogendrang zurückhielt. Schließlich, welcher Fluss übertrifft diesen, den die Dreieinigkeit selbst durch ihre offenbare Gegenwart geweiht hat? Der Vater wurde gehört, der Heilige Geist gesehen und der Sohn getauft. Mit Recht erfährt folglich seine Kraft, welche Naaman auf den Rat des Propheten hin in seinem Körper verspürte, auf den Befehl Christi hin das ganze gläubige Volk in der Seele.“
Ein weiteres Beispiel findet sich im Kapitel XIII „De Bethania“: „Auch wenn ich sehr Eile habe, will ich doch das Haus des Gehorsams, nämlich Bethanien, nicht ganz stillschweigend übergehen, das Städtchen von Maria und Martha, in dem auch Lazarus zum Leben erweckt wurde. Dort werden nämlich sowohl die zwei Lebensweisen empfohlen, als auch die wunderbare Güte Gottes gegen die Sünder, und die Tugend des Gehorsams zusammen mit den Früchten der Buße. An dieser Stelle also genüge es, kurz hervorzuheben, dass weder der Eifer für das tätige Leben noch die Muße der heiligen Betrachtung, noch die Tränen der Buße außerhalb Bethaniens dem angenehm sein können, der den Gehorsam so hoch schätzte, dass er lieber das Leben als diesen verlieren wollte, dem Vater gehorsam geworden bis in den Tod. Dies ist sicher der Reichtum, den nach dem Wort des Herrn der Prophet verspricht, der da sagt: ,Denn der Herr hat Erbarmen mit Zion, er hat Erbarmen mit all seinen Ruinen. Seine Wüste macht er wie Eden, seine Öde wie den Garten des Herrn. Freude und Fröhlichkeit findet man dort; Lobpreis und den Klang von Liedern‘(Jes 51, 3).“
Der Heilige Bernhard als Quelle ritterlicher Spiritualität
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In diesem Text wird also die ganze Spannweite und Spannung der beiden Möglichkeiten des Ordenslebens – der „vita activa“ und der „vita contemplativa“ – angesprochen. Die Frage nach der Vereinbarkeit der beiden Elemente stellte sicherlich für die Ritterorden ein großes Problem dar, die einerseits kontemplative Ordensleute sein wollten, andererseits aber in Krankenpflege und Kriegsdienst aktiv tätig sein sollten. In späterer Zeit hat sich hier eine neue Terminologie entwickelt, die im Dokument des 2. Vatikanischen Konzils „Über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens“ (Perfectae caritatis) sich ausdrückt, wenn dort von aktiven, kontemplativen und monastischen Orden die Rede ist (Art. 9). Das monastische Leben verbindet nach uralten Traditionen kontemplative und aktive Elemente, und daraus entsteht gewissermaßen ein neues Drittes. Aus dieser Verbindung sollen die Klöster gleichsam Pflanzstätten zur Auferbauung des christlichen Volkes werden.
6. Das Palästinalied des Walther von der Vogelweide
Weniger bekannt ist bisher der Beitrag des Minnesängers Walther von der Vogelweide zur literarischen und spirituellen Aufarbeitung der Kreuzzüge in seinem „Palästinalied“. Walther lebte etwa von 1170 bis etwa 1230. Das Palästinalied ist vermutlich erst gegen Ende seines Lebens entstanden, also 100 Jahre nach dem Werk Bernhards über die Ritter. Auch Walther ist seiner Herkunft nach Ritter und daher mit deren Ethik vertraut. Ebenso wie Bernhard war er nie im Heiligen Land, nie als Kreuzfahrer in Palästina. Er versetzt sich in seinem Lied in die Situation eines Pilgers im Heiligen Land und assoziiert mit Stellen aus dem Leben Christi religiöse Betrachtungen als singbares Lied (es ist als einziges Werk Walthers vollständig mit einer Melodie überliefert). Der Minnesänger identifiziert sich aber auch mit den politischen Ambitionen der Christenheit und meint in der 11. Strophe, dass zwischen Juden, Christen und Heiden, die sich im Heiligen Land ständig bekriegen, den Christen von Gott der rechtliche Anspruch auf dieses Land gegeben werden solle: „Christen, Juden und Heiden behaupten, dass dies ihr Erbe sei. Gott müsste es gerecht entscheiden, durch seine drei Namen. Die ganze Welt bekriegt sich hier. Wir sind mit unserer Bitt im Recht und daher ist es Recht, dass er sie uns gewähre“ (Übersetzung aus dem Mittelhochdeutschen nach Hermann Reichert)
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Gregor Henckel Donnersmarck
Der Hl. Geist offenbart die Weisheit des Kreuzes (nachbarocke Schnitzerei)
Wie bei Bernhard von Clairvaux kann der Ich-Erzähler des Palästinaliedes als „miles christianus“ im Sinne einer Pilgerschaft angesprochen werden. Offensichtlich steht Walther mit seinem Lob der neuen Ritterschaft in der Nachfolge des Heiligen Bernhard. Allerdings wählt er nicht konkrete Orte mit Namen für seine Betrachtungen, sondern Heilsereignisse aus dem Leben Jesu, um daran seine Assoziationen anzuschließen. Zum Beispiel ist die erste Strophe auf die Tatsache, dass Gott Mensch wurde, bezogen. Die zweite Strophe formuliert, welch großes Wunder geschehen ist, indem die Jungfrau ein Kind gebar. Eine weitere Strophe unterstreicht die Bedeutung der Taufe Christi für alle Menschen und die Heilswirksamkeit von Speer, Kreuz und Dornenkrone. Auch schließt er sich nicht der Beurteilung Bernhards hinsichtlich der Unterscheidung zweier Arten von Rittern an, sondern seine Gedanken gelten allen, die ins Heilige Land pilgern. Allerdings muss man berücksichtigen, dass Walther sicherlich nach dem 4. Kreuzzug zum Höhepunkt der Kreuzzugsbewegung schreibt und daher ein Pilger, wie er ihn sprechen lässt, in dieser Atmosphäre lebt und nur aufgrund des Schutzes durch die Kreuzfahrer ins Heilige Land pilgern kann.
7. Conclusio
Da die heutige Zeit von ganz anderen Voraussetzungen – auch im religiösen Leben – ausgeht, kann man das Thema dieser Arbeit nicht unbesehen in unsere Zeit übertragen.
Der Heilige Bernhard als Quelle ritterlicher Spiritualität
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Der Grundgedanke der Kreuzzüge war ein religiöses Gelübde, und zwar letztlich, wie es der Heilige Bernhard formuliert, ein Gelübde, am Kreuzzug getötet zu werden und nur in zweiter Linie zu kämpfen und dabei andere zu töten. Dieser Gedanke wird verstärkt, man möchte fast sagen „multipliziert“, indem zu dem oben genannten allgemeinen Kreuzzugsgelübde die konkreten Gelübde von Ordensleuten hinzutreten. Diese bilden Gemeinschaften, leben arm, ehelos und keusch und im Gehorsam ihrem Oberen verpflichtet. Der religiöse Gehorsam ist der entscheidende, und der militärische Gehorsam ergibt sich daraus. Zu Beginn der Kreuzzüge verfasst der Heilige Bernhard von Clairvaux seine Schrift vom Lob der neuen Ritterschaft. Er richtet diese seine Worte zwar an die Templer, aber sie sind sicherlich in allen wichtigen Ritterorden dieser Epoche rezipiert worden. Auch dort liegt das Schwergewicht auf religiösen Betrachtungen einerseits zum Ordensleben und andererseits zu Orten im Heiligen Land aufgrund seiner guten Kenntnisse der Heiligen Schrift. Hundert Jahre später stellt der Minnesänger Walther von der Vogelweide in seinem Palästinalied wiederum Betrachtungen religiöser Art an, erwähnt jedoch nicht ausdrücklich Ritter und Ritterorden, sondern versetzt sich in die Situation eines Pilgers im Heiligen Land.
Literatur Bernhard von Clairvaux: Ad milites templi. De laude novae militiae, in: Sämtliche Werke Bd.1, S, 257–267 Tyrolia Verlag, Innsbruck 1990. Bradford, Ernle: Kreuz und Schwert – der Johanniter/Malteser- Ritterorden. Universitas Verlag, Berlin 1972. Calice, Christoph (Hrsg.): Manuale des Großpriorats von Österreich, Souveräner Malteserritterorden, Wien 2018. Henckel Donnersmarck, Gregor: Die Gründungscharismen der Ritterorden unter Einfluss des Heiligen Bernhard von Clairvaux, in: Karl Lengheimer (Hrsg.), Das Ritterideal, Be&Be, Heiligenkreuz 2016, S. 17–35. Henckel Donnersmarck, Ulrich: Cisterciensischer Einfluss auf spanische Ritterorden, dargestellt an den Ritterorden von Calatrava und Montesa, Diplomarbeit, Heiligenkreuz 1985. Waldburg-Zeil, Raphael: Milites Christi Peregrini. La espiritualidad en los caballeros cruzados, Uno Editorial, 2014. Walther von der Vogelweide: Palästinalied. Artikel aus Wikipedia Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6 und Bd. 13.
„Tuitio Fidei et Obsequium Pauperum“ Betrachtungen zum Leitwort des Souveränen Ritter- und Hospitalordens vom Hl. Johannes zu Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta, im Blick auf den Stand der Ritter und Damen in Oboedienz Josef Clemens
In diesem Beitrag sollen einige Überlegungen zum Motto „Tuitio fidei et obsequium pauperum“ des Souveränen Ritter- und Hospitalordens vom Heiligen Johannes zu Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta, im Blick auf den Stand der Ritter und Damen in Oboedienz vorgelegt werden.1 Dieses markante Leitwort bringt das Woher, das Warum und das Wohin aller Zweige des Malteserordens knapp und konzis zum Ausdruck.2 1
2
Vgl. Christoph Markschies, Tuitio Fidei et Obsequium Pauperum – der Ordensauftrag des Johanniters in Gegenwart und Zukunft. Festvortrag zum 150-jährigen Jubiläum der Sächsischen Genossenschaft des Johanniterordens am 2. Oktober 2010 auf der Albrechtsburg in Meißen, in: Der Johanniterorden in Sachsen, Heft 3/2010, 14. 12. 2010, S. 29–46; Adam Wienand, Der Johanniterorden. Der Malteserorden. Der ritterliche Orden des hl. Johannes vom Spital zu Jerusalem. Seine Geschichte, seine Aufgaben, Wienand Verlag & Medien, Köln ³1999; Raimondo Villano, Tuitio fidei et obsequium pauperum. Storia, spiritualità e sovranità nelle tradizioni e nella modernità del sovrano militare ordine di Malta, a cura di M. R. Giordano, Editore Fondazione Chiron, Collana: Religione, Rom ³2009; Florian Schwetz, Der Souveräne Malteser-Ritter-Orden. Eine kirchen- und staatsrechtliche Betrachtung, Verlag Jan Sramek, Wien 2019; Adolf Waas, Stichwort Johanniter-Orden, in: LThK² 5, 1107–1110; Stefan Samerski, Stichwort Malteser, in: LThK³ 6, 1252 f.; Ina Freifrau von Elverfeldt-Ulm, Stichwort Malteser-Hilfsdienst e.V., in: LThK³ 6, 1253; Hartmut Boockmann, Stichwort Ritterorden, Geistliche, in: TRE 29, 238–244 Vgl. Art. 2 der Verfassung des Souveränen Ritter- und Hospitalordens vom Hl. Johannes zu Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta, in: Verfassung und Codex des Souveränen Ritter-und Hospitalordens vom Hl. Johannes zu Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta, promulgiert am 27. Juni 1961 und revidiert durch das Außerordentliche Generalkapitel vom 28.–30. April 1997, Rom 1998 (= SMOM, Verfassung); Papst Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder des Souveränen Malteserordens, Basilika von St. Peter, 9. Feb. 2013, in: Insegnamenti di Benedetto XVI, IX (2013), Libreria Editrice Vaticana, Città del Vaticano 2014, 199–202, 201 f.; Papst Benedikt XVI., Predigt im römischen Krankenhaus San Giovanni Battista des Souveränen Malteserordens, 1. Adventssonntag, 2. Dez. 2007, in: Insegnamenti III/2 (2007), 755–759
„Tuitio Fidei et Obsequium Pauperum“
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Die erste Frage lautet daher: Was besagen die beiden im Lateinischen eher seltenen Wortverbindungen „tuitio fidei“ und „obsequium pauperum“? Denn für beide Teile des Mottos finden sich sehr unterschiedliche Übersetzungen: „Verteidigung des Glaubens und Dienst an den Armen“, „Bezeugung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen“, „Schutz des Glaubens und Unterstützung der Bedürftigen“ oder auch „Wahrung des Glaubens“. Es fällt auf, dass diese verschiedenen Übersetzungen sich nicht nur in Feinheiten unterscheiden, sondern ganz unterschiedliche Ebenen der persönlichen Betroffenheit und des geforderten Einsatzes zum Ausdruck bringen. Am häufigsten wird in der deutschen Sprache die wohl philologisch korrekteste Übersetzung „Bezeugung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen“ verwendet, die für die Malteser in Deutschland zur Regel geworden ist. Der italienische Malteserorden übersetzt das Motto mit den Worten „Difesa della fede e servizio ai poveri e ai sofferenti“ – „Verteidigung des Glaubens und Dienst an den Armen und Leidenden“.3
1. Tuitio fidei
Was bedeutet nun „tuitio“ konkret? Dieser Begriff kommt aus der Juristensprache und bringt „bewahren“, „erhalten“, „beschützen“ oder „in Schutz nehmen“ zum Ausdruck.4 So wurde zum Beispiel in der Antike die öffentliche Instandhaltung der Kaiserstatuen mit „tuitio“ bezeichnet.5 Dieser Verwendung gesellte sich in der Spätantike eine militärische Bedeutung im Sinne der „Verteidigung“ hinzu. Gewöhnlich wurde der einfache Begriff „tuitio“ – ohne die Hinzufügung von „fides“ – dafür verwendet, den juristischen wie den militärischen Schutz zu bezeichnen, den ein Landesherr den Klöstern zu gewährleisten hatte, wohingegen die Formel „tuitio fidei“ in der mittelalterlichen Literatur kaum auffindbar ist. Im Spätmittelalter finden wir sie in der Eidesformel, die auf dem Reformkonzil von Basel (1431–1449) geprägt wurde: „Ich verspreche auch zu arbeiten für den Schutz des katholischen Glaubens – „tuitio fidei catholicae“ – und die Auslöschung der Häresien und der Irrtümer bei der Reformation der Sitten und für Frieden im Volk der Christenheit.“6 Im heutigen Verständnis ruft also der erste Teil des Leitworts zur Bezeugung des Glaubens auf, zu dem sich jedes Mitglied des Malteserordens verpflichtet. Es geht also nicht nur um ein passives persönliches Bewahren und Schützen, sondern um ein aktives Bezeugen, das in die Weitergabe des Glaubens an andere mündet. 3 Vgl. https://www.ordinedimaltaitalia.org/article/tuitio-fidei-et-obsequium-pauperum 4 Vgl. Georges II (1972), 3249: Bewahren, Erhalten, Beschützung, Inschutznahme, Instandhaltung 5 Vgl. Markschies, Tuitio Fidei, 30 6 Vgl. Markschies, Tuitio Fidei, 31
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2. Obsequium pauperum
Wenden wir uns dem zweiten Schlüsselbegriff des melitensischen Leitwortes zu: Der Begriff „obsequium“ bezeichnet jede Form der Hingabe, er bezeichnet eine Devotion.7 Er kann verwendet werden, um den Gehorsam des Soldaten gegenüber dem Befehlenden zu beschreiben, um auszudrücken, dass ich mich im Gefolge von jemandem befinde, dass ich mich in der Liebe ganz und gar auf eine Person einlasse, dass ich gefällig, dienstbeflissen, aber auch willfährig bin.8 Der Begriff „obsequium“ beschreibt damit den Eifer der Hingabe an eine Person oder Sache, der man sich ganz widmet oder gar aufopfert. Im Unterschied zu „tuitio“ fand der Begriff „obsequium“ schon sehr früh Eingang in die religiöse Sprache, z. B. als Gehorsam Christi gegenüber seinem Vater im Garten Getsemani (vgl. Lk 22,42), als Gehorsam der Gläubigen gegenüber Jesus Christus, als Eifer des christlichen Lebens und als Dienst der dazu besonders Bestellten. Er kann auch den Dienst des Liturgen („Leiturgia“) und den des Stundengebetes bezeichnen. Dennoch ist seine Verbindung mit „pauperum“ eher selten und nur im klösterlichen Kontext gebräuchlich. Die Mönche der Abtei von Cluny verwirklichten das „obsequium pauperum“ in der Form einer täglichen Fußwaschung an drei ausgewählten Armen.9 Während meiner Tätigkeit in der römischen Kongregation für die Glaubenslehre (1984–2003) wurde dem brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff nach der Prüfung seines Buches Igreja. Carisma e Poder im Jahre 1985 ein „silenzio ossequioso“, ein „gehorsames Schweigen“ verordnet, das er jedoch kaum beachtet hat.10 Wir sollten festhalten, dass in der Formel „obsequium pauperum“ die Grundintention des Malteserordens als einer ursprünglichen Hospitalbruderschaft („fraternitas hospitalaria“) bewahrt wird.11 Daher kommen Übersetzungen wie die „Hingabe an die Armen (und Kranken)“ dem ursprünglichen Sinn sehr nahe. Denn das so beschriebene „obsequium pauperum“ gehört zu den Grundabsichten einer Bruderschaft im zwölften Jahrhundert und der später folgenden Verwandlung in einen geistlichen Ritterorden und beschreibt dessen Intentionen sehr treffend.12 7 Vgl. Georges II (1972), 1265: Nachgiebigkeit, Willfährigkeit, Gefälligkeit, Dienstbeflissenheit, Hingebung, Gehorsam, Subordination 8 Vgl. Kleiner Stowasser (1966), 341 9 Vgl. Markschies, Tuitio fidei, 32 10 Vgl. La Civiltà cattolica, 05.071986, Bd. III, Heft 3265, 137 (1986), 67 f. 11 Vgl. Souveräner Ritter- und Hospitalorden vom Hl. Johannes zu Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta (Hrsg.), Mitgliedschaft im Malteserorden. Regelungen und Kommentare. Verkündet von Seiner Hoheit und Eminenz, dem Fürsten und Großmeister Fra’ Matthew Festing und bestätigt vom Souveränen Rat am 18. Feb. 2011 (= SMOM, Regelungen), Rom 2011, 17, 27 f. 12 Vgl. SMOM, Regelungen 26 f., 37–40
„Tuitio Fidei et Obsequium Pauperum“
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Regina Hadraba, ‘Tuitio Fidei et Obsequium Pauperum. Sancte Ioanne Baptiste Patrone Noster Ora Pro Nobis‘, Monotypie auf Leinen, 2001
3. Das Verhältnis von tuitio fidei und obsequium pauperum
Nach diesen eher geschichtlichen und philologischen Überlegungen stellt sich die entscheidende Frage: Wie kann das Leitwort des Ordens unter den Bedingungen unserer Zeit im Leben der Malteser Wirklichkeit werden? Was können sie tun, damit ihr Motto nicht zu einer feierlichen Deklaration an Sonn- und Feiertagen verkümmert, sodass es nur bei frommen Worten bleibt? In diesem Zusammenhang weist uns ein Wort aus Goethes Faust auf eine beständige Gefahr aller kirchlichen (und nicht-kirchlichen) ethischen Proklamationen hin, die der Direktor (im Vorspiel auf dem Theater) klar beim Namen nennt: „Der Worte sind genug gewechselt / Lasst mich auch endlich Taten sehn! / Indes ihr Komplimente drechselt / Kann etwas Nützliches geschehn.“13 Bereits in der Verwendungsgeschichte des Leitwortes finden sich zwei unterschiedliche Abfolgen der fünf lateinischen Worte. Einmal steht die „Tuitio fidei“ am Anfang und andere Male das „Obsequium pauperum“.14 Es ist uns allen klar, dass diese Variationen keine einfache Wortspielerei und kein Zufall sind. Der Codex des Ordens stellt in Artikel 236 (§1–4) das „Obsequium Pauperum“ der „Tuitio fidei“ voraus.15 Das österreichische Großpriorat hat sich in seinem Internetauftritt bei der Darstellung der Spiritualität des Ordens entschlossen, unter dem Gesamtprogramm Hilfe, Glaube, Nächstenliebe in einem Dreischritt mit der Hilfe für die Bedürftigen zu beginnen, dann zur Wahrung des Glaubens 13 14
15
Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie, Vorspiel auf dem Theater, in: Goethe. Berliner Ausgabe 8, Poetische Werke, Dramatische Dichtungen IV, Aufbau-Verlag, 1990, 154 Vgl. Waas, Johanniter-Orden 1109; SMOM, Regelungen 27, Anm. 23: „In der Vergangenheit war die Reihenfolge von tuitio fidei und obsequium pauperum nie festgelegt und wurde je nach Zusammenhang gewechselt. Die in diesem Dokument gewählte Reihenfolge mit der Nennung von tuitio fidei am Anfang impliziert keine Prioritätensetzung, sondern folgt nur der jüngeren Praxis.“ Vgl. SMOM, Codex Art. 236–239, Kapitel VII: Die Ordenswerke; vgl. III. Grundlegende Überlegungen für alle Ordensmitglieder, in: SMOM, Regelungen 35–42
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und schließlich zur wechselseitigen Gottes- und Nächstenliebe weiterzugehen.16 Papst Paul VI. bietet in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Nuntiandi (1975) einen weiterführenden Beitrag zu unserem Themenkreis an.17 Er geht vom gelebten Zeugnis des Glaubens aus, das das „Obsequium pauperum“ als ein wichtiges Element in sich birgt. In diesem Sinne sagt der Papst: „Die Verkündigung muss vor allem durch ein Zeugnis erfolgen. Das geschieht z. B., wenn ein einzelner Christ oder eine Gruppe von Christen inmitten der menschlichen Gemeinschaft, in der sie leben, ihre Verständnis- und Annahmebereitschaft, ihre Lebens- und Schicksalsgemeinschaft mit den anderen, ihre Solidarität in den Anstrengungen aller für alles, was edel und gut ist, zum Ausdruck bringen. […] Durch dieses Zeugnis ohne Worte wecken diese Christen in den Herzen derer, die ihr Leben sehen, unwiderstehliche Fragen: Warum sind jene so? Warum leben sie auf diese Weise? Was – oder wer – ist es, das sie beseelt? Warum sind sie mit uns? In der Tat, ein solches Zeugnis ist bereits stille, aber sehr kraftvolle und wirksame Verkündigung der Frohbotschaft. Es handelt sich hier um eine Anfangsstufe der Evangelisierung.“18
In diese Perspektive des Papstes lässt sich das jahrhundertelange Lebens- bzw. Glaubenszeugnis der Malteser sehr gut einfügen, und die beiden Teile des Leitwortes lassen sich zu einer Einheit verschmelzen. Im Dokument Regelungen und Kommentare werden beide als das Charisma oder Patrimonium des Ordens bezeichnet.19 Es definiert seinen ersten Teil mit den Worten: „Tuitio fidei ist ein nach außen gerichteter Dienst der Förderung, Bezeugung und Verteidigung des Glaubens. Tuitio fidei setzt eine schola fidei (Kenntnis des Glaubens der Kirche) und ein exercitium fidei (Einübung und Erfahrung geistlichen Lebens) voraus.“20 Unter den Bedingungen unserer Zeit verwirklicht sich die Wahrung, die Verteidigung, der Schutz und vor allem das Zeugnis des Glaubens jedoch vorrangig in der Tat des Glau16 17
Vgl. https://www.malteser.at/wer-wir-sind/spiritualitat/ Papst Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi über die Evangelisierung in der Welt von heute, 8. Dez. 1975 (= EN), in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 2 18 EN 21 19 Vgl. SMOM, Regelungen 26, 27: „Der Orden widmet sich seinem Charisma, den Glauben zu nähren, zu bezeugen und zu verteidigen (tuitio fidei) und den Armen und Kranken zu dienen, in denen der Herr gegenwärtig ist (obsequium pauperum); SMOM, Regelungen 157: „Patrimonium oder Charisma des Ordens. Die besondere Sendung des Malteserordens und die besonderen göttlichen Gnaden, gemäß dieser Sendung zu leben und zu handeln. Es ist in aller Kürze im Motto des Ordens „tuitio fidei et obsequium pauperum“ beschrieben.“ 20 SMOM, Regelungen 37; vgl. Souveräner Malteser-Ritter-Orden, Großpriorat von Österreich (Hrsg.), Manuale, Zusammengestellt von Dr. Christoph Calice, Wien 2018, 3, 246–249
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bens, die die Ohren und die Herzen der Zuschauer und Zuhörer öffnet und der Annahme des Glaubenswortes den Weg bereitet. Der Glaubenstat folgt das Glaubenswort, das diese Tat erklärt, sie begründet und ihr Eindeutigkeit verleiht. Ganz in dieser Perspektive kommt in der Geschichte des Malteserordens der Glaubenstat im Sinne des Obsequium pauperum ein gewisser Primat zu: „Obsequium pauperum – Ist das erste Charisma des Ordens, zu dem später die tuitio fidei hinzugefügt wurde.“21 Der Codex erläutert in Art. 236 mit vier Paragraphen in theologisch tiefgehender Weise das Obsequium pauperum, das in den Regelungen spirituell untermauert und kommentiert wird: § 1 – Auf der Suche nach einer konkreten Antwort auf die Liebe Christi haben die ersten Ordensmitglieder in den kranken Pilgern im Heiligen Land den Herrn erkannt und ihm gedient. Im göttlichen Erbarmen angesichts des Elends der Welt wurzelt das Obsequium Pauperum, das die Ordensmitglieder verpflichtet, Jesus Christus zu dienen, der in den „Herren Kranken“ gegenwärtig ist. § 2 – Im Hinblick auf das andere Ordensziel, die Tuitio Fidei, sind die Ordensmitglieder, indem sie in jedem Menschen das Ebenbild Gottes erkennen, in besonderer Weise gefordert, sich überall dort einzusetzen, wo menschliches Leben in seiner Gottebenbildlichkeit und Würde bedroht ist. § 3 – So ist der Orden für seine Mitglieder der konkrete Weg, das Hauptgebot der Gottesund Nächstenliebe zu befolgen, dadurch Gott zu ehren und sich selbst zu heiligen in der Nachfolge Christi und in der Gemeinschaft der Kirche. § 4 – Das Charisma des Obsequium Pauperum führt die Ordensmitglieder zur Begegnung mit dem Herrn im persönlichen Krankendienst. Deshalb sind alle Ordensmitglieder aufgerufen, die Werke der leiblichen und geistigen Barmherzigkeit persönlich und regelmäßig zu verrichten.22
Die Regelungen des SMOM vereinen die beide Ordensziele in einer Synthese: „Tuitio fidei und obsequium pauperum müssen als eine Einheit in Verschiedenheit verstanden werden. Die Bezeugung und der Schutz des Glaubens bleiben ohne die Hingabe an ,die Armen Gottes‘ unvollständig. Dies ist zudem der bevorzugte Ort, wo Christus gesucht und gefunden werden möchte: hier ist der Ort, an dem er möchte, dass seine Jünger seine Gegenwart und die gottgegebene Würde jedes Menschen bezeugen. […] Tuitio fidei und obsequium pauperum sind ein Dienst am ganzen Christus und ein ganzheitlicher Dienst an der Menschheit. Die Identifikation Christi mit den Armen (Mt 25,35-37) bedeutet ,eine Aufforderung zur Nächstenliebe; sie ist ein Stück Christologie, das einen Lichtstrahl auf das 21 SMOM, Regelungen 156. 22 Vgl. SMOM, Regelungen 38 f.
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Danka Kubin, Memorial des seligen Gerhard, Öl auf Leinwand, 2004
Geheimnis Christi wirft. Daran misst die Kirche ihre Treue als Braut Christi nicht weniger, als wenn es um die Rechtgläubigkeit geht‘ .“23
4. Einige Folgerungen für den Stand der Ritter und Damen in Oboedienz
Was bedeuten die bisherigen Überlegungen für die melitensischen Ritter und Damen in Oboedienz? Mir scheint, dass die Promess-Formel bei der Aufnahme zum Ausdruck bringt, dass die Angehörigen des Zweiten Standes sich in qualifizierter und entschiedener Weise zu den Zielen des Ordens verpflichten, sich ihnen im Gehorsam unterwerfen.24 Die Oboedienz23
24
Vgl. SMOM, Regelungen 39; das letzte Zitat referenziert auf Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo Millennio ineunte zum Abschluss des Großen Jubiläums des Jahres 2000, 6. Dez. 2001, Nr. 49, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 150, S. 46 Vgl. SMOM, Verfassung, Art. 8 und 9; vgl. SMOM, Codex, Art. 94, Art.100 § 1: „Der zur Promess zugelassene Anwärter spricht folgende Formel: Ich, N. N., rufe den Namen Gottes an und verspreche: ich will die Gesetze des Souveränen Ritter- und Hospitalordens des Hl. Johannes zu
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ritter und Oboedienzdamen wollen ein lebendiges und glaubwürdiges Signal für die Notwendigkeit und die konkrete Lebbarkeit des melitensischen Leitwortes innerhalb und außerhalb des Ordens sein.25 Sie werden damit zu qualifizierten Zeugen dessen, was das Zweite Vatikanische Konzil (vgl. Lumen gentium Nr. 31) unter dem spezifischen Apostolat der Laien in dieser Welt („indolis saecularis“) versteht.26 Die Oboedienz gegenüber den Oberen des Ordens ist in dieser Zielvorgabe zu verstehen und kommt in ihr zum Ausdruck.27 In diesem Zusammenhang gehört als unverzichtbare Voraussetzung die alles tragende und bestimmende Oboedienz gegenüber dem Wort Gottes und seinen eindeutigen Forderungen. Die Oboedienzritter und Oboedienzdamen verpflichten sich im Hören auf Gottes Wort und in einer lebendigen Christusbeziehung, ihre besondere Berufung im Malteserorden Tag für Tag zu erneuern und zu leben.28 Darin finden sie die Quelle und Richtschnur ihres Denkens und Handelns. Hier liegt die letzte Motivation ihres Einsatzes für den Glauben und die Werke des Glaubens.29 In unserem Heute mit seinem schier endlosen Wortschwall und seiner unbegrenzten Meinungsvielfalt erweckt die Glaubenstat – gegenwärtig mehr als die reine Glaubenslehre – Aufmerksamkeit und provoziert Fragen, da vielen Menschen der selbstlose Einsatz für andere fremd geworden ist. Der Ausgang des heute offen oder verdeckt ausgetragenen Wettbewerbs der verschiedenen Sinn- und Lebensentwürfe wird sich eher auf der Ebene des Handelns als auf der Ebene der Ideen entscheiden. Dies werden viele Malteser bestätigen können. Denken wir nur an die jährliche Wallfahrt nach Lourdes, die weit über den Kreis der Teilnehmer hinaus Aufmerksamkeit und Beachtung findet und in viele, vor allem auch säkulare Bereiche hinein ausstrahlt. Viele fragen sich verwundert: Warum kümmern sich die Malteser um Kranke und Behinderte, um junge und ältere Menschen? Warum nehmen sie die Anstrengungen einer mühsamen Pilgerfahrt nach Lourdes auf sich?
Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta, getreu befolgen; ich will insbesondere die Pflichten, die einem Oboedienzritter/einer Oboedienzdame obliegen, erfüllen und jedem Oberen, der mir gegeben wird, den schuldigen Gehorsam erweisen, Hierzu helfe mir Gott der Herr, die heiligste unbefleckte Jungfrau, der heilige Johannes der Täufer, unser glorreicher Patron, der Selige Bruder Gerhard, unser verstorbener Gründer, und alle Heiligen des Ordens.“ 25 Vgl. SMOM, Codex Art. 94 § 1 26 Vgl. Papst Johannes Paul II, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles Laici über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt, 30. 12. 1988 (= ChL), Nr. 15 u. Nr. 36, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 87; Katechismus der Katholischen Kirche, Oldenbourg Wissenschaftsverlag (= KKK), München ²2003, Nr. 898 27 Vgl. Promess in: SMOM, Codex Art. 100 § 1 28 Vgl. SMOM, Codex, Art. 101: Geistliche Pflichten; SMOM, Regelungen 25 f., 35 f. 29 Vgl. SMOM, Codex, Art. 236: Obsequium Pauperum
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Es wird immer deutlicher, dass hier der Weg in die Zukunft von Glaube und Kirche gewiesen wird. Die Frage der Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Glieder ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit! Und zu ihrem Erweis leisten die Vereinigungen von Gläubigen, die religiösen Orden und Kongregationen, wie der Malteserorden, einen bewährten und unersetzlichen Beitrag.30 Damit ist auch der persönliche Beitrag aller Ordensmitglieder, gleich welchen Standes, klar umschrieben und deutlich festgelegt. Für alle Malteser bildet das achtspitzige Ordenskreuz keine kleidsame Dekoration, sondern es stellt das Kreuz Christi dar, und mit seinen acht Spitzen erinnert es an die acht Seligpreisungen der Bergpredigt Jesu (vgl. Mt 5,3-12) als immerwährende Magna Charta, die es Tag für Tag zu beherzigen und zu verwirklichen gilt.31 Die nach innen zeigenden Spitzen werden als Hinweise auf die vier Kardinaltugenden gedeutet, d. h. die Gerechtigkeit (iustitia) und Tapferkeit (fortitudo), die Weisheit (sapientia) und Mäßigung (temperantia) sind ein innerer Kompass und zugleich äußere Wegmarken eines Lebens in einem tätigen Glauben.32 Man könnte zudem die weit ausladenden Arme des Malteserkreuzes als einen Hinweis auf das Bemühen der Malteser deuten, die Kraftströme des Erlösertodes Christi beständig in diese Welt hineinzutragen und dort fruchtbar zu machen. Und dieses Bemühen realisiert sich mittels der „Verheutigung“ des Glaubens im Dienst am bedürftigen Nächsten, in dem die Malteser den leidenden Christus erkennen und ihm im Gehorsam verbunden sind. In diesem zweifach-einfachen Dienst stehen die Ritter und Damen der Oboedienz aufgrund ihrer Promess an vorderster Front.
30 Vgl. ChL Nr. 29 f., sowie Wolfgang J. Bandion, Durch Spiritualität gewinnt die Arbeit. Wolfgang J. Bandion im Gespräch mit Seiner Hoheit und Eminenz, dem Fürsten und Großmeister Fra’ Andrew Bertie, in: Souveräner Malteser-Ritter-Orden, Großpriorat von Österreich (Hrsg.), Fünfzig Jahre Malteserhospitaldienst Austria, Wien 2007, 25–28 31 Vgl. SMOM, Regelungen 32 f.; Manuale 234 32 Vgl. KKK 1805–1809; Manuale 226
Zwischen Wiederherstellung der Vergangenheit und Sendung in der Gegenwart – Pio Franchi de’ Cavalieri und der Historismus im Malteserorden Ignacio Garcia Lascurain Bernstorff
In seinem Abschlusswerk, dem 1953 erschienenen Constantiniana, bekannte sich der 83-jährige Hagiograph Bailli Fra’ Pio Franchi de’ Cavalieri O. S. J. H. († 1960)1 zur immanenten Redlichkeit des Berufs des Gelehrten, insbesondere des Kirchenhistorikers: „Eusebius [Bischof von Cäsarea († c. 340)] bleibt stets der gewissenhafte Sammler von Dokumenten, der Gelehrte, gewiss eher anfällig für die Begehung von Irrtümern, unfähig jedoch für die Erfindung oder aber für die Fälschung von Fakten, angesichts bewiesener Tatsachen.“2 Dieser geschichtliche Moment – ein Professritter, der für wichtige Meilensteine seines Ordens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verantwortlich zeichnete, setzt sich mit der Schilderung der Vision und des Banners Kaiser Konstantins bei Laktanz († c. 320) und bei Eusebius von Cäsarea zum zweiten Mal in seinem Leben3 wissenschaftlich auseinander – weist auf die Fragestellung dieses Beitrages, nämlich auf das Verhältnis zwischen Historismus und Malteserorden hin. Ausgehend von der bisherigen Forschung zum „katholischen Historismus“4 möchte dieser Beitrag die bisher wenig bekannte Facette des Historismus in den geistlichen Ritterorden näher beleuchten. Die Fokussierung auf den Malteserorden als Pars pro Toto für die 1
Zu seinem Leben vgl. Grafinger, Christine Maria: „Art. Pio Franchi de’ Cavalieri O. S. J. H. Altphilologe, Skriptor“, Personenlexikon zur Christlichen Archäologie. Forscher und Persönlichkeiten vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, Band I: S. 521 f. 2 „Eusebio rimane sempre l’accurato collettore di documenti, lo studioso, soggetto bensì a cadere in errore, incapace però di inventare o a ragione veduta falsare i fatti“ in Franchi de’ Cavalieri, Pio. 1953 Constantiniana. Vatikanstadt: Biblioteca Apostolica Vaticana: S. 20 Er hatte bereits 1913 den ersten Teil seiner Studie zum Banner Konstantins veröffentlicht, die ein 3 Jahr später ergänzt wurde, siehe Franchi de’ Cavalieri, Pio. 1913. Il labaro descritto da Eusebio. Studi Romani, I: S. 161–183, sowie ders. 1914. Ancora el labaro descritto da Eusebio. Studi Romani, II: S. 216–223 4 Vgl. Klapczynski, Gregor. 2013. Katholischer Historismus? Zum historischen Denken in der deutschsprachigen Kirchengeschichte um 1900. Heinrich Schrörs – Albert Ehrhard – Joseph Schnitzer. Stuttgart: Kohlhammer
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geistlichen Ritterorden ist den Umständen geschuldet, dass einerseits Wolfgang Johannes Bandion diesem seit 1996 bzw. seit 2001 im sogenannten Obödienzstand angehört und andererseits der Malteserorden in der Untersuchungszeit parallel zur Wiederentdeckung des karitativen Charismas eine starke strukturelle Kontinuität aufwies, im Unterschied zum Deutschen Orden oder aber zum Ritterorden des Heiligen Grabes zu Jerusalem.5 Des Weiteren handelt es sich um eine Frage, die einige der wichtigsten Wirkungsbereiche des Jubilars tangiert: die Geschichte und die Kunstgeschichte, aber auch Rom und das Heilige Land und damit auch bedeutende Stätten in der intellektuellen Topographie Wolfgang Bandions. Im Vorfeld wird die These formuliert, dass der zeitliche Zusammenfall von Historismus und Wiederentdeckung des Ordenscharismas nicht kontingent, sondern vielmehr ergänzend und einander bedingend war. Mit anderen Worten, die Beschäftigung mit der Historie führte zur Aktualisierung der karitativen Tätigkeit, wie es bereits vereinzelt seit den 1840er Jahren in Korrespondenzen hoher Würdenträger ausgesprochen wurde.6 Beispielhaft hierfür steht Pio Franchi de’ Cavalieri als bedeutender Forscher der christlichen Antike und hoher Würdenträger des Malteserordens, dessen Lebensstationen der Analyse im Folgenden als roter Faden dienen werden. Wenngleich einerseits der Umfang und die Qualität seiner geschichtlichen Arbeiten und andererseits seine hohen Ordensämter ihm eine Sonderstellung verliehen, ermöglicht die weite Verbreitung des historistischen Habitus im Orden allgemeine Rückschlüsse, wie es karikierend von Roger Peyrefitte († 2000) in seinem Chevaliers de Malte 1957 dargestellt wurde. Demnach hätte Anfang der 1950er Jahre der Ordenskanzler, Luigi Rangoni Machiavelli († 1952), alltäglich seine Geschichtsvorliebe gepflegt, während der betagte Bailli Fra’ Antonio Conestabile della Staffa († 1956) lediglich eine sentimentale Sehnsucht für die Vergangenheit geäußert hätte.7 Franchi de Cavalieri wird jedoch im besten Licht geschildert, als der besonnene Malteserritter, der „vom Papst als ein Heiliger betrachtet wird“ und der dem Statthalter Fra’ Antonio Hercolani Fava Simonetti († 1962) im entscheidenden Moment am 14. November 1951 Mut zuspricht, angesichts der Ansprüche des Kardinals Nicola Canali († 1961). Seine Unbescholtenheit und Anwesenheit vermochten sogar Canali in seine Schranken zu weisen, so Peyrefitte weiter.8 5 6
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Sire, Henry. 2016. The Knights of Malta. A Modern Resurrection. London: Third Millennium Publishing, S. 270 Krethlow, Carl Alexander. 2001. Der Malteserorden. Wandel, Internationalität und soziale Vernetzung im 19. Jahrhundert. Bern u. A.: Peter Lang. S. 251 f. Der Verfasser untersucht die Korrespondenz zwischen dem Ordensstatthalter Fra’ Carlo Candida († 1845) und dem seit 1847 als Großprior amtierenden Bailli Fra’ Franz Sales Graf von Khevenhüller († 1867) Peyrefitte, Roger. 1957. Cavalieri di Malta. Un omaggio a Pio XII. Übersetzt v. Enrica C. Nasti. Florenz: Parenti: S. 45 und 78 Peyrefitte ebd.: S. 183 ff. sowie 277
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Mit dem Begriff Historismus wird hier, in Anlehnung an Ernst Troelsch († 1923), die „Historisierung“ des gesamten Denkens über den Menschen, der Kultur und selbst der Werte durch die Aufwertung der Geschichtswissenschaft als Grundkategorie menschlichen Daseins verstanden. Damit umfasst der hier angewandte Begriff auch den kunsthistorischen Begriff der Wiederverwendung vergangener Stile, mit dem Bestreben der Wiederherstellung der Stilreinheit einer bestimmten Epoche. Sowohl historiographisch als auch kunstgeschichtlich lässt sich dieses Phänomen zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Ende des Zweiten Weltkrieges beobachten. Der philosophische Begriff findet allerdings in diesem Aufsatz keine Verwendung. Untersucht wird die Zeit zwischen 1859, als der mit dem Papsttum ernsthaft überlegte Plan der Ordensleitung einer möglichen Rückkehr nach Palästina vorübergehend verworfen wurde, und 1960, dem Ableben des bereits erwähnten Fra’ Pio Franchi. 9 In Anbetracht der Tatsache, dass dieser Beitrag während der sanierungsbedingten Schließung der Magistralarchive verfasst wurde, beruhen die Erkenntnisse auf bisher kaum untersuchten Materialien in der Apostolischen Vatikanischen Bibliothek und auf den Artikeln der Zeitschriften des Ordens aus der Untersuchungszeit. 10 Nach einer Schilderung der Ausgangslage zur Stellung der Historik im Orden wird die historistische Tätigkeit einige seiner Mitglieder als Begleiter der Wiederentdeckung und Verbreitung des Sendungscharismas des Ordens in drei verschiedenen Phasen dargestellt. „Historismus und Malteserorden“ ist auf den ersten Blick kein harmonisches und noch weniger ein selbstverständliches Begriffspaar. Erstens befand sich das katholische Milieu in Europa, wozu die Mitglieder des Malteserordens damals noch gänzlich zählten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer intellektuellen Krise. Der mehr oder weniger institutionalisierten Verfolgung durch die aus den napoleonischen Erschütterungen der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts hervorgegangene „alt-neue“ Funktionselite liberaler Gesinnung stand ein signifikanter Bedeutungsverlust der Kirche im geistigen Bereich gegenüber. Unmittelbare Verbindungen zwischen den „klassischen“ und meist anti-katholisch gesinnten Vertretern des Historismus, wie Leopold von Ranke († 1886) oder Robin George Collingwood († 1943), und den katholischen Orden kamen nicht zustande. Jedoch entwickelte sich im Sinne der Apologetik eine rege geschichtswissenschaftlich-holistische Tätigkeit in der Kirche, die alle verwandten Wissenschaften umfasste: die Archäologie, die Geschichtswissenschaft und die Kunstgeschichte. Es ging darum, den Wahrheitsgehalt und -anspruch der Sendung der Kirche zu zeigen, argumentativ zu verteidigen und damit 9 10
Krethlow, Carl Alexander: wie Anm. 6: S. 309 f. Die Räumlichkeiten der Archivi Magistrali in der römischen Via dei Condotti 68 unterliegen einer gründlichen Sanierung zwischen November 2019 und voraussichtlich Juni 2020.
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zu rechtfertigen.11 Über den Einfluss von Romantik und Restauration in Kunst und Politik verband sich die katholische Historik zu einer Suche nach der ursprünglichen Reinheit des Glaubens – zu einem regelrechten Historismus, der unter anderem in dem Breve zur allgemeinen Eröffnung des heutigen Apostolischen Vatikanischen Archivs im August 188312 seinen Niederschlag fand.13 Zweitens wies der Orden um 1850 eine für die geistlichen Ritterorden typische karge historiographische Tradition auf (mit Ausnahme des Deutschen Ordens).14 Nach den großen Errungenschaften des Fra’ Giacomo Bosio († 1627) war sein Neffe, Fra’ Antonio († 1629), derjenige, der mit seinen Forschungen zu den Katakomben den einzigen nennenswerten Beitrag zur Geschichtswissenschaft in einem an Geographen und Militärtechnikern reichen Orden leisten sollte.15 Gerade dies sollte sich im „Antiquarismus“ von Giovanni Battista Piranesi († 1778) fortsetzen, der in den Jahren 1764 und 1765 die Prioratskirche in Rom in einen historistischen Traum verwandeln sollte: In ihr fanden sowohl eine antikisierende Stuckornamentik, heraldische Bezüge zu Papsttum, Orden und der Familie Rezzonico als auch alte Grabmäler und -steine einen gebührenden Platz.16 Wie es von der Inschrift auf der Nordseite des Chors suggeriert wird, ist dieser Sonderfall der Ordensgeschichte binnen des „römischen Sonderweges“ des Historismus einzuordnen.17 In Rom, wo der Orden seit 1834 seinen Sitz 11 12
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Heid, Stefan. 2016. Wohnen wie in Katakomben. Kleine Museumsgeschichte des Campo Santo Teutonico. Regensburg: Schnell und Steiner: S. 13 f. Saepenumero considerantes an die Kardinäle Antonino di Luca († 1883), Jean-Baptiste Pitra († 1889) und Joseph Hergenröther († 1890) v. 18. August 1883 in: http://www.vatican.va/content/leo-xiii/it/ letters/documents/hf_l-xiii_let_18830818_saepenumero-considerantes.html [zuletzt aufgerufen am 15. Februar 2020]. Bekanntlich wurde der apologetische Nutzen der Geschichtswissenschaft in der Bulle zur Exegese Providentissimus Deus v. 18. November 1893 ebenfalls erwähnt. Bereits die Zeitgenossen erkannten hier eine Aufwertung der historischen Apologetik, vgl. Barbier, Paul. 1892. Notre Saint Père le Pape Léon XIII. Étude biographique et littéraire. Paris: Libraire de Firmin Didot et Cie.: S. 204 Nicholson, Helen. 2018. „Memory and the Military Orders: An Overview“. In: Ferreira Fernandes, Isabel Cristina (Hg.): Entre Deus e o Rei. O Mundo das Ordens Militares. I Band. Palmela: GEsOS: S. 23, sowie Luttrell, Antony. 1966. The Hospitaller’s Historical Activities : 1291–1400. Annales de l’Ordre Souverain Militaire de Malte XXIV, 4: S. 129. Eine knappe Zusammenstellung der offiziösen Ordenshistoriker vom 13. bis zum 18. Jahrhundert bietet Pisani, Paul George. 2012. Adaptations in Hospitaller Historiography. An Overview. Symposia Melitensia 8: S. 49–62 Zm Beitrag Bosios für die Christliche Archäologie und für die Historiographie vgl. Cecalupo, Chiara. 2020. Discendemmo per esse nel cimiterio profondissimo. Antonio Bosio, la Roma Sotteranea e i primi collezionisti di antichità cristiane. Band I. im Druck: S. 278ff. Ich bin der Verfasserin äußerst dankbar für die Einsicht in ihr Manuskript. Kieven, Elisabeth: 2010. „Piranesi e l’Aventino “. In: Macioce, Stefania (Hg.): I Cavalieri di Malta e Caravaggio. La Storia, gli Artisti, i Committenti. Rom: Logart Press. S. 175. Die Inschrift der Gestaltung Piranesis spricht von einer Bergung aus der Erde, was Assoziatio-
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hatte, schlug die Entwicklung des Historismus gleich nach der Rückkehr Pius’ VII. Chiaramonti († 1823) im Juni 1814 einen Sonderweg ein. Zum einen galt es, in der Papstresidenz wie auch überall sonst die Wiederherstellung alter „glanzvoller“ Verhältnisse zu suchen, in einem wechselhaften Spannungsverhältnis zwischen Modernisierungsbestrebungen und „totaler“ Restauration. Zum anderen konnte sich der Historismus in Rom auf eine eigene, seit dem Humanismus gepflegte Tradition der apologetischen Kirchenhistorik stützen. Unter der Ägide Pius’ IX. Mastai-Ferretti († 1878) kam es in den 1850er Jahren zu einer regelrechten „paleochristlichen Stimmung“.18 Auf diesem Boden gediehen zwei Generationen von Maltesern, die mit ihrem historistischen Werk für die Entwicklungen des Ordens von den 1880er bis zu den 1930er Jahren stehen: von der strukturellen Sicherung des Ordens bis hin zu der tatsächlichen Ausübung des Dienstes an den Benachteiligten („Arme und Kranke“ im Ordensdiskurs). Während die erste Generation von venezianischen Maltesern geführt wurde, war die zweite eine besonders römische Generation, die im Denken und Handeln das Ergebnis eben dieser päpstlich geförderten Forschungspolitik darstellte. Diese zweite Generation war auch diejenige, die um die tatkräftige Figur des Fra’ Ludovico Chigi Albani della Rovere († 1951) die Umstellung des Ordens auf seine ursprüngliche Bestimmung des Dienstes ab den 1920er Jahren tatsächlich vollziehen sollte. 1884 folgte der 55-jährige Witwer Fra’ Guido Sommi-Picenardi († 1914) – gerade elf Jahre nach seiner Aufnahme in den Orden – Fra’ Cesare Antonio d’Altan († 1884) als Prior
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nen mit Katakombenheiligen hervorruft „IO[annes] B[aptista] REZZONICO S[ancti]S[simi] D[omini] N[ostri] CLEMENTIS P[a]P[ae] XIII FRATRIS FILIUS AC MAGNUS PRIOR CAPUT S[ancti] SAVINI SPOLETINI EPISC[opi] ET MARTYRIS COSTAM S[ancti] CAESARII MARTYRIS SANGUINEM S[ancti] SEBASTIANI MARTYRIS RELIQUIAS SS[anctorum] QUADRAGINTA MARTYRIS ET RELIQUIAS S[ancti] ABUNDII MARTYRIS QUAE DIU TERRAE OBRUTAE LATUERANT PR[idie] N[onae] DECEM[bris] A[nno] MDCCLXIV REPERTAS SUB ARA ALTARE HONORIFICENTIUS COLLOCAVIT A[nno] P[ost] C[hristi] N[ativitas] MDCCLXV [Johann Baptist Rezzonico, Sohn des Bruders unseres heiligen Herrn Papst Clemens XIII. und Großprior hat das Haupt des heiligen Savinus, Bischof von Spoleto und Märtyrer, die Rippe des heiligen Cäsarius, Märtyrer, das Blut vom heiligen Sebastian, Märtyrer, Reliquien der heiligen 40 Märtyrer und Reliquien des heiligen Märytrers Abundius, die lange mit Erde bedeckt waren, gefunden am 4. Dezember 1765, ehrenvoll unterhalb des Altares gestellt, im Jahre 1765 nach der Geburt Christi]“. Diese Reliquien befanden sich schon im 12. Jahrhundert am Aventin, wie das zeitgenössische Marmorreliquiar in der dritten Nische der Nordseite zeigt, vgl. Gallavoti Cavallero, Daniela u. Montini Renzo. 1984. S. Maria in Aventino. Chiesa Magistrale del Sovrano Ordine di Malta. Rom: Istituto Nazionale di Studi Romani: S. 103 Heid, Stefan: „Art. Pius IX/Giovanni Maria Mastaei Ferreti Papst”, Personenlexikon zur Christlichen Archäologie. Forscher und Persönlichkeiten vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, Band II: S. 1023f. und Munzi, Massimiliano: „Art. Marucchi, Orazio“, Dizionario Biografico degli Italiani, (71, 2008) http://www.treccani.it/enciclopedia/orazio-marucchi_(Dizionario-Biografico)/ (zuletzt aufgerufen am 27. Februar 2020)
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der Lombardei und Venedig nach. Der geborene Markgraf von Calvatone verkörperte das Ideal des historistischen Edelmannes. Er betätigte sich nicht nur kompositorisch, sondern veröffentlichte im 27. Lebensjahr eine maßgebliche Monographie zur venezianischen Besatzung seiner Heimat, Cremona, und edierte auch kurz vor seiner Wahl die Chronik seines Vorfahren Maladobato Sommi († 1484).19 Mit seinem neuen Amt wechselte er seinen Forschungsschwerpunkt und ordnete das Archiv seines Priorats, was sich in weiteren Publikationen niederschlug.20 Wenige Monate nach der Konvention mit dem Königreich Italien zur Anerkennung der 1877 gegründeten Assoziation der italienischen Malteserritter und kaum fünf Jahre nach der Wiederherstellung der Ordenssouveränität durch den geschichtsliebenden Papst Leo XIII. Pecci († 1903) ging es Sommi darum, über die fachgerechte Kenntnis der Institutionengeschichte günstige Rahmenbedingungen zur Ausübung des Ordenscharismas neu zu schaffen. Der Gedanke der Wiederherstellung der Sendung angesichts einer glorreichen Vergangenheit (und damit implizit durch die Kenntnis derselben) ist auch in der Argumentation des Breves Solemne semper vom 28. März 1879 (Wiederherstellung der Großmeisterwürde) und der Bulle Romani Pontifici vom 12. Juni 1888 (Wiederherstellung des protokollarischen Rangs eines Kardinals für den Großmeister) zu finden.21 Der eigentliche Sanitätsdienst wurde allerdings in dieser ersten Generation, wie im Vertrag vom 20. März 1876 zwischen dem Königreich Italien und dem Orden vorgesehen, lediglich für Katastrophen und den Kriegsdienst konzipiert.22 Beispielhaft hierfür steht der unmittelbare Nachfolger Sommi-Picenardis als Großprior, Fra’ Antonino Casati († 1923), der die Speditionen des Lazarettschiffes Regina Margherita 1911 und 1912 leitete und sich in seinem amtlichen Porträt mit einer Palästinakarte und dem Ordenshabit abbilden ließ.23 In diesem Sinne ist das historistische Denken Sommi-Picenardis’ in einer Linie mit den Sanierungsarbeiten am Magistralpalast zwischen 1889 und 1894 zu sehen, die unter anderem die neugotische Sakristei hervorbrachten. Die argumentative Nützlichkeit der Historie (buchstäblich entgegen der Kritik Nietzsches) bedeutet nicht, dass die 19
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Sommi-Picenardi, Guido. 1866. Cremona durante il dominio de’ Veneziani, 1499–1509. Mailand: Tipografia di F. Albertari und ders. 1880. Florenz: Selbstverlag. Die Partitur seiner Les vierges au crepuscule befindet sich in der Biblioteca Nazionale Marziana (Sign. C248C 143). Sommi-Picenardi, Guido. 1884: Del Gran Priorato dell’Ordine Gerosolimitano detto di Malta in Venezia. Venedig: Selbstverlag; ders. 1889. Dell’archivio del Gran Priorato dell’Ordine Gerosolimitano in Venezia. Venedig: Selbstverlag und ders. 1892. Del Gran Priorato dell’Ordine Gerosolimitano detto di Malta in Venezia. Nuovo Archivio Veneto (IV, 1): S. 101–160 Ed. in Turriziani Colonna, Fabrizio: Sovranità e indipendenza nel Sovrano Militare Ordine di Malta. Vatikanstadt: Libreria Editrice Vaticana: S. 307–317 De Palma, Luigi Michele. 2014. Un ordine militare torna al fronte. L’Ordine di Malta nella Grande Guerra. Studi Melitensi (XXII–XXIII), S. 162 f. Zu den Fahrten der Regina Margherita s. De Palma, wie Anm. 22: S. 167 f.
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geschichtswissenschaftliche Ordensbeschäftigung stiefmütterlich behandelt wurde; ganz im Gegenteil, ihr wurde eine ganzheitliche Bedeutung zugemessen, wie die Edition einiger Prioratsakten aus dem 15. Jahrhundert anlässlich der Hochzeit des 1869 geborenen Sohnes Sommi-Picenardis’ zeigt.24 Die ganze Persönlichkeit dieses Ordensmannes (auch in Beziehung zu seiner Vergangenheit und seinem Milieu) stand in einem Gefüge historischer Bezüge, ganz im Sinne des Troelsch’schen Paradigmas einer Historisierung des gesamten Lebens, das diese Epoche auszeichnete. Die tatsächliche Ausübung des karitativen Dienstes, verbunden mit der Pflege eines historischen Bewusstseins, wurde vor 1880 im weitesten Sinne nur im Großpriorat Österreich, dem der Jubilar angehört, ausgeübt. Sowohl die Entwicklung der ersten Sanitätszüge durch Jaromír Freiherr von Mundy († 1894)25 als auch die Gründung des Hospitals in Tantur durch den seit 1867 als Generalkonsul der Doppelmonarchie in Jerusalem agierenden Grafen Bernhard Caboga († 1882) wurden ermöglicht, weil das Erzhaus die notwendigen strukturellen Bedingungen, sei es im böhmischen, sei es im österreichischen Landesteil bereits seit den späten 1850er Jahren garantierte.26 Letzteres, das Projekt in Tantur, lässt ebenfalls das historistische Denken in den Reihen der Ordensmitglieder, diesmal von Angehörigen des Dritten Standes, erkennen. Nicht nur seine Titulatur als „Präzeptor“, sondern besonders der neo-mittelalterliche Torbogen der Anlage, wo er sogar begraben wurde, bezeugen Cabogas Enthusiasmus für die mittelalterliche Vergangenheit des Ordens.27 Der 24 25
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Marcello, Andrea. 1891. Per le nozze di Girolamo Sommi-Picenardi marchese di Calvatone colla nobile signorina Ada Basilewsky. Venedig: Stab. tipo. lit. success. M. Fontana. Reichlin-Meldegg, Georg. 1999. Das Sanitätswesen des Ordens im 19. Jahrhundert und die Entwicklung der Hilfszüge unter Dr. Jaromir Freiherr von Mundy. In: Christian Steeb und Birgit Strimitzer (Hg.): Der souveräne Malteser-Ritter-Orden in Österreich. Graz: Leykam: S. 190–206. Am Torbogen von Tantur ist die Verbundenheit zwischen habsburgischem Patronat und Verwirklichung des Malteserprojektes buchstäblich in Stein gemeißelt. Ein Wappenstein mit dem damaligen österreichischen Wappen mit dem Spruchband „Sub umbra alarum tuarum“ ist oberhalb des Grabsteines Cabogas mit dessen auf das Malteserkreuz gesetztem Wappen zu sehen. Seine Titel nehmen Bezug sowohl auf eine konsularische Tätigkeit wie auch auf seine Ordensmitgliedschaft: „Qui riposa nel Signore il difunto CONTE Bern.[ardo] CABOGA I.[mperiale] R.[eale] Console Gen[eral]e Cav[alier]e di Malta, etc. Nato il 4 Aprile 1823.Morto il 2 Gennajo 1882. Requiescat in pace. Amen. [„Hier ruht der verstorbene Graf Bernhard von Caboga kaiserlich-königlicher Generalkonsul, Malteserritter usw. Geboren am 4. April 1823. Gestorben am 2. Januar 1882. Er ruhe in Frieden. Amen“] Zur Gründungsgeschichte von Tantur vgl. Stransky, Thomas. 2000. Das österreichische Hospital am Tantur. In: Böhler, B. A. (Hg.): Mit Zepter und Pilgerstab: österreichische Präsenz im Heiligen Land seit den Tagen Kaiser Franz Josefs. Wien: Österreichischer Wirtschaftsverlag, S. 267–279, sowie Strimitzer, Birgit. 1900. Der souveräne Malteser-Ritter-Orden in Österreich vom Wiener Kongreß bis zur Jahrhundertwende. „Né à Jérusalem, illustré à Rhodes, éclipsée à Malte, il mourrait à Vienne, s’il n’était utile à la Méditerranée. In: Christian Steeb und dies. (Hg.): wie Anm. 20: S. 176–182
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Maler Gottfried Heinrich von Schlöter († c. 1867), ebenfalls ein Devotionsritter des Malteserordens, der im Sommer 1857 im Auftrag des Ordensstatthalters Fra’ Philipp von Colloredo-Mels († 1864) Jerusalem und die Umgebung erkundete, um eine geeignete Liegenschaft für die Hospitalgründung zu finden, äußerte bereits 1864 diesen zeitgenössischen Gedanken der restaurativen, päpstlich getragenen Reform des Ordens im Bewusstsein der Organisationsgeschichte: „Freilich erwartet der h[eilige] Stuhl, wie es bei jenen Orden der Fall war, eine aufrichtige Regeneration von innen heraus, ein aufrichtiges, hochherziges Aufgeben aller Mißbräuche und Hemmnisse, und eine aufrichtige Rückkehr zu dem ursprünglichen Geiste und der ursprünglichen Bestimmung des Ordens.“28
Im Vorwort seiner gelehrten Reisebeschreibung von Rhodos tat Sommi-Picenardi im Jahre 1900 seine Absicht kund, in Anbetracht weitverbreiteter mangelnder Kenntnisse der Ordensgeschichte einen Beitrag, besonders hinsichtlich der Inschriften der Insel, zu verfassen.29 Damit läutete er eine Epoche der Professionalisierung sowohl im Bereich der Geschichtswissenschaft als auch im Bereich der Werke des Ordens ein, nachdem durch eine immer größere Nähe zum Heiligen Stuhl die Frage nach der strukturellen Sicherung des Ordens mit großem Erfolg gelöst worden war.30 Für diese zweite Phase einer verstärkten Pflege der Werke und der Geschichtswissenschaft sowie der gleichsam selbstverständlichen Nähe zum Heiligen Stuhl steht paradigmatisch die Karriere des anfangs erwähnten Pio Franchi. Franchi war im August 1869 in Veroli geboren und trat, nach humanistischen Studien bei dem Gräzisten päpstlichen Namens, Enea Piccolomini († 1910), 1895 in den Dienst der Apostolischen Vatikanischen Bibliothek ein. Kurz nach dem wissenschaftlichen Durchbruch mit seiner Arbeit zur Märtyrererzählung der Heiligen Perpetua und Felicitas, legte er am 31. Mai 1897 die Profess ab.31 In den darauffolgenden Jahren folgten weitere hagiographische und kodikologische Studien.32 Inwiefern er 1905 an der Wahl des Baillis Fra’ Galeas von 28 29 30 31 32
Schröter, Gottfried Heinrich v. 1864. Münster: Der souveraine Orden vom heiligen Johann von Jerusalem und seine Wiederbelebung. Münster: Theissing’sche Buchhandlung: S. 53 Sommi-Picenardi, Guido. 1900. Itinéraire d’un chevalier de Saint-Jean de Jérusalem. Lille: Desclée, De Brouwer et Compagnie: S. 12 f. Krethlow, Carl Alexander: wie Anm. 6 : S. 445 ff. Franchi de’ Cavalieri. 1896. La Passio SS. Perpetuae et Felicitatis. Freiburg i. Brsg.: Herder. Mit seinem Lehrer Piccolomini und später mit dem evangelischen Kirchenhistoriker Hans Lietzmann († 1942) gab Franchi die Kataloge griechischer Handschriften heraus; mit dem Philologen Marco Vattasso († 1925) hatte er bereits 1902 den Katalog lateinischer Handschriften in Druck gegeben. Darüber hinaus fing Franchi eine rege Publikationstätigkeit zur altkirchlichen Märtyrer-
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Thun und Hohenstein († 1931) beteiligt war, lässt sich beim gegenwärtigen Kenntnisstand nicht ermitteln. Der berufliche Alltag Franchis (wie im März 1908 festgehalten) verging in den Sälen der Vaticana, gänzlich der Erforschung des Frühen Christentums gewidmet, zwischen dem Verfassen neuer Artikel für die am Campo Santo Teutonico (die „römische Heimat“ des Jubilars in seiner Eigenschaft als Mitglied der dortigen Erzbruderschaft) herausgegebene Römische Quartalschrift und der Benutzerbetreuung.33 Von 1902 bis 1907 nahm seine Verantwortung beim Heiligen Stuhl und beim Orden greifbar zu: Er wurde nacheinander Mitglied der Päpstlichen Römischen Akademie der Archäologie34, der Päpstlichen Kommission für Sakrale Archäologie35 und 1907 auch in den Rang eines Baillis erhoben. Aus seiner Korrespondenz mit seinem Freund und Kollegen Giovanni Mercati († 1957)36, dem späteren Kardinal, geht eine tiefe Kirchlichkeit und Demut sowie Kollegialität des Ordensritters in päpstlichen Diensten hervor. Beispielsweise als er sich am 19. Januar 1915 entschuldigte, aufgrund eines Augenleidens nicht in die Bibliothek kommen zu können, und Mercati nicht nur bat, ihm beim Präfekten Achille Ratti († 1939) zu empfehlen, sondern auch Grüße an seine Kollegen auszurichten.37 Nur einige Monate später verließ Franchi die Vaticana, um tatsächlich Sanitätsdienst zu leisten, wohl als Leiter eines der vier Lazarettzüge des Ordens, die seit dem Kriegseintritt Italiens (gegen das Heimatland des Großmeisters, das er mit dem Ankauf von Wertpapieren unterstützte) im Norden der italienischen Halbinsel eingesetzt wurden. Die nachfolgenden Quellen zeigen, dass die Anrede „Herr Direktor“ (Signor Direttore) für Franchi in der Korrespondenz des Großmagisteriums nicht ausschließlich Direktor des vatikanischen Lazaretts Santa Marta bedeutete, wie es von Fra’ Luigi Michele de Palma gedeutet wird, sondern offensichtlich auch Direktor von mindestens einem der Lazarettzüge.38 verehrung in der Reihe Studi e Testi sowie in den einschlägigen Fachzeitschriften an. Zur gesamten Bibliographie Franchis s. Laurent, Marie-Hyacinthe. 1949. L’opera scientifica di S. E. Pio Franchi de Cavalieri. Rivista di storia della Chiesa in Italia (III): S. 263–272 33 Cipolla, Carlo. 1908. Il carme di Constantina. Lettera a Pio Franchi de Cavalieri. In: Franchi de’ Cavalieri, Pio. Hagiographica. Rom: Biblioteca Apostolica Vaticana: S. 165 34 Pontificia Accademia Romana di Archeologia, am 20. März 1902 35 Pontificia Commissione di Archeologia Sacra, am 5. November 1903 36 Vian, Paolo: Art. „Mercati, Giovanni“. Dizionario Biografico degli Italiani (73, 2009). http://www. treccani.it/enciclopedia/giovanni-mercati_(Dizionario-Biografico)/ (zuletzt aufgerufen am 27. Februar 2020) 37 „Carissimo Monsignore, Ho un po’di male agli occhi che mi impedisce di studiare e di venire in B[iblioteca] oggi […] intanto Le prego di assicurarmi Mons. Ratti e salutare tutti i colleghi [Liebster Monsignore, ich habe heute ein bisschen Leid an den Augen, das mich daran hindert, heute in die Bibliothek zu kommen und zu forschen […] derweilen bitte ich Sie, mich Monsignore Ratti zu empfehlen und alle Kollegen zu grüßen ]“ in BAV Carteggi Mercati, 22, fol. 4762r De Palma: wie Anm. 22: S. 176 f. 38
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Aus einem dieser Lazarettzüge („Treno Ospedale del S.M. O. di Malta“) wandte sich am 7. Juli 1917 Franchi an Mercati mit einer Postkarte aus Vicenza, die in Alessandria am selben Tag nach Rom geschickt wurde.39 Darin verkündete er Mercati seinen Wunsch, ihn kurz grüßen zu können, da der Zug am Vormittag des 11. oder 12. des Monats in Rom halten sollte. Ob die beabsichtigte Begegnung am Eingang der Bibliothek stattfand, lässt sich nicht genau überprüfen. Wenig später, am 3. August 1917, teilte aber Franchi dem Präfekten Ratti mit, dass er überraschenderweise etwas mehr als zwanzig Urlaubstage bekommen habe, die er zur Rückkehr zu seinem Dienst als Scriptor Vaticanus zu benutzen beabsichtige. Darauf hoffe und freue er sich besonders, so Franchi.40 Der an Franchi gerichtete Brief des Großkanzlers Bailli Fra’ Bernardo Lambertenghi († 1929), der das Großmagisterium und die Teile des Ordens im Krieg gegen die Mittelmächte in Anwesenheit des Großmeisters leitete, war am 28. Juli versendet worden.41 Der Brief Rattis mit der Bitte, 39 „Monsignore reverendissimo, Passerò per Roma uno dei giorni prossimi. Se la mattina dell’11, o in quella del 12, potessi trovare aperto l’ingresso dalla parte dello stradone del Museo, verrei volentieri a salutarLa. Con i più distinti saluti, anche agli altri colleghi, mi creda suo devotissimo P. Franchi de Cavalieri [Hochwürdigster Monsignore, ich werde in Rom an einem der nächsten Tagen vorbeikommen. Wenn ich am Vormittag des 11. oder am 12. den Eingang auf der Seite der Museumsallee offen finden könnte, würde ich Sie gerne begrüßen. Mit den vorzüglichsten Grüßen, auch an die anderen Kollegen, bin ich ihr ergebenster Pio Franchi de Cavalieri]; in: BAV Carteggi Mercati, 25, fol. 5166. Bei diesem Eingang handelt es sich um die Tür gegenüber vom Torbogen Gregors XVI., der heutzutage im Archivteil zu finden ist. Von innen gesehen ist es die Außentür im Raum mit den Freskenfriesen Sixtus’ V. oberhalb des Findbuchraumes. Wäre Franchi nämlich im Hospital des Vatikan geblieben, hätte er nicht fragen müssen, ob er eventuell einen offenen Eingang zum Vatikan hätte finden können. 40 „Poichè, in compenso, credo, di due anni di servizio ininterrotto all’ospedale di Malta, mi si è data una licenza, nè chiesta nè voluta, vado domani- per una ventina di giorni- in patrios montes et ad incunabula nostra. Al mio ritorno, riprenderò l’antica vita di studioso (lo spero vivamente) e di scriptor Vaticanus. Intanto, non potendo venir in persona al Vaticano, Le auguro buone vacanze (bene, s’intende, pur tempi chi corrono), migliori ad ogni modo, delle mie. [Denn ich glaube, für zwei ununterbrochene Dienstjahre am Malteserkrankenhaus wurde mir Urlaub erteilt – weder beantragt noch gewollt; ich gehe morgen – für etwa zwanzig Tage – in die heimischen Hügel und zu unseren Inkunabeln. Bei meiner Rückkehr werde ich das alte Leben des Gelehrten (ich hoffe es aufrichtig) und des scriptor Vaticanus wieder aufnehmen. Derweilen, verhindert persönlich zum Vatikan zu kommen, wünsche ich Ihnen gute Ferien (gute, versteht sich, trotz dieser Zeiten), jedenfalls bessere als die meinigen] heißt es in BAV Bibl. 202, fol 6r. An dieser Stelle danke ich aufrichtig Herrn Dr. Piergiorgio Parodi (Vatikan), der mir freundlicherweise diese Dokumente mit einer provisorischen Signatur zur Verfügung stellte. Der Großmeister Thun hatte am 18. Mai 1915 mit dem Souveränen Rat beschlossen, Italien zu ver41 lassen, aufgrund der Gefahren für den Orden, die seine österreichische Staatsbürgerschaft in dem eingetretenen Kriegsfall bringen könnte. Unter den Ratsmitgliedern befand sich nicht Franchi, sondern der erwähnte Antonino Casati, Lambertenghi und zwei weitere Ritter. Lambertenghi
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seinen Skriptor wieder in der Vaticana haben zu dürfen, den Nello Vian in seinen Erinnerungen an Franchi erwähnte, stammt aus dieser Zeit und dürfte wohl sehr schnell an das Großmagisterium versendet worden sein.42 Denn bereits am 22. August tat Franchi aus einem Ort namens Santa Francesca kund, seinen Dienst in der Vaticana zum 25. dieses Monats nach einer mehr als zweijährigen Pause wieder ordentlich aufnehmen zu wollen.43 Der definitive Dispens für den Dienst in den Zügen kam erst am 6. April 1918 in Gestalt eines Briefes von Lambertenghi († 1929) an den Präfekten Ratti.44 Solche Beispiele einer durch die Erforschung der Vergangenheit gespeisten christlichen Diensthaltung bewogen Papst Benedikt XV. Della Chiesa († 1922), der bereits seit 1902 Kaplan des Ordens gewesen war, das Hospital von Santa Marta beim Vatikan bereits 1914 auf Bitten des Großmeisters dem Orden anzuvertrauen.45 Im Oktober 1920 kehrte mit dem Großmeister die Normalität im Orden endlich wieder zurück. Damit fing die dritte Phase des Historismus im Orden an. Wie das im Juni 1921 im Salone Sistino entstandene Gruppenbild der Angestellten der Vaticana anlässlich der Kardinalserhebung des ehemaligen Präfekten Ratti zeigt, arbeitete Pio Franchi wie gewohnt weiter.46 Seitens des Ordens startete man 1923 das erste größere Flüchtlingsprojekt des 20. Jahrhunderts mit den griechischen Flüchtlingen, die von der neuen Türkei vertrieben worden waren. Im Zuge dessen kehrte der Orden zurück nach Rhodos, wo die italienische Regierung die alten Gebäude des Ordens wiederaufbaute und dem Orden selbst die italienische Herberge zur Verfügung stellte. Hier und beim Papst, seit 1922 der Ex-Präfekt Ratti mit dem Namen Pius XI., galt analog jenes, was fast dreißig Jahre zuvor von Stephan Ehses († 1926) formuliert worden war: Über das fachmännische Quellenstudium diente man der Kirche und konnte gegebenenfalls ihre Sendung im Heute neu entdecken.47 Der Orden fing an, im Sinne des tatsächlichen Sanitätsdienstes zu expandieren, beispielsweise
42 43 44 45
46 47
war bereits seit Januar zum kommissarischen Vertreter Thuns ernannt worden, vgl. De Palma, wie Anm. 22: S. 170. Der Brief Lambertenghis an Franchi ist ebenfalls dort auf S. 176 aus AAV, Segr. Stato, Guerra (1914–1918), fol. 256, ediert. Vian, Nello. Ricordo di Pio Franchi de’ Cavalieri. In: Aevum (35, 1/2): S. 126 BAV Bibl. 202, fol. 8r. Wie in Anm. 35 handelt es sich um eine provisorische Signatur. BAV Bibl. 202, fol. 9r. Ebenfalls ist dies eine provisorische Signatur. De Palma, wie Anm. 22: S. 176. In einem vom Orden im März 1918 organisierten Vortrag hieß es betreffs des Lazaretts in Santa Marta: „Der edle Instinkt der Nächstenliebe findet einen Helfer in der Wissenschaft“ („il nobile istinto della carità ritrova nella scienza il suo ausilio“) in: Proia, G. 1918. Fra i benemeriti dell’umanità durante la Guerra Mondiale. Benedetto XV e il Sovrano Ordine Militare di Malta nell’ospedale militare territoriale Santa Marta. Rom: Officina poligrafica laziale: S. 4 BAV RG Fotografie. Oblung. S. 11b Vgl. das Vorwort in Ehses, Stephan. 1897. Festschrift zum elfhundertjährigen Jubiläum des Deutschen Campo Santo in Rom. Freiburg im Breisgau: Herder [o. A.]
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mit der Gründung der Polnischen Assoziation 1920 oder mit der Anerkennung des Ordens im laizistischen Frankreich 1924. Darum verwundert es nicht, dass, als Lambertenghi starb und Pius XI. die Einsetzung eines Statthalters für den durch Krankheit gezeichneten Großmeister verlangte, die Wahl auf Pius’ tadellosen Vertrauten und darüber hinaus dienstältestes Mitglied des Souveränen Rates fiel – nämlich auf Franchi. Am 8. März 1929 fing Franchi an, den Orden kommissarisch zu leiten. Die Normalisierung der im April 1927 gegründeten Amerikanischen Assoziation, die erste außerhalb Europas, und die Anerkennung der Extraterritorialität durch das Königreich Italien am 28. November stellten, zusammen mit der Gründung der Belgischen Assoziation, wichtige Weichenstellungen in den ersten acht Monaten seines Wirkens dar. Fromm, wie er laut vielen Zeitgenossen war48, führte er im Juni erstmals seit fast 200 Jahren die Feierlichkeiten des Ordenspatrons Johannes des Täufers am Aventin wieder ein. Zuvor, bereits im Januar, hatte er beim Vatikan die Akkreditierung einer Legation des Ordens erwirkt und damit den diplomatischen Dienst mit dem wichtigsten Partnerland nach fast einem Jahrhundert wieder normalisiert. Im Zuge dessen machte der Orden dem Vatikan, seit Februar 1929 seinerseits auch wieder souverän, am 14. März 1930 die bisher einzige Schenkung des Ritterordens zu der Vaticana: die Handschrift BAV Vat. ind. 41.49 In Gestalt dieser wenig bekannten Handschrift, einer Zauber- und Orakelsammlung des Batak-Volkes, einer sogenannten Pustaha50, erkennt man den Augenblick der Kirchengeschichte, als der Papst und der Leiter des Souveränen Malteserritterordens lange Jahre ihren jeweiligen Kirchendienst als Experten einer Bibliothek versehen hatten. Der Zeitpunkt war wohl günstig, denn damals machte Pio seinen Einfluss zugunsten von Papst Pius geltend, indem er wenige Wochen danach die Schenkung vieler Materialien der Aldobrandini-Familie für die Bibliothek erreichte.51 Seinen Kirchendienst als Gelehrter nahm Franchi auch während dieser Zeit der Statthalterschaft wahr, beispielsweise am 24. Juli 1929, als er in seiner Eigenschaft als Vizepräsident die Sitzung der Päpstlichen Kommission für Sakrale Archäologie leitete.52 Im März 1931 starb der Großmeister Thun und Hohenstein inmitten eines protokol48 49
Grafinger, wie Anm. 1, und Sire. wie Anm. 6: S. 175 D’Aiuto, Francesco u. Vian, Paolo (Hg.). 2011. Guida ai fondi manoscritti, numismatici, a stampa della Biblioteca Vaticana, II. Vatikanstadt: Biblioteca Apostolica Vaticana: S. 1240 50 Die teilweise illuminierte Handschrift ist als Palimpsest geschrieben und in hölzerne Decken gebunden. Bis heute ist sie kaum untersucht worden, vgl. die kargen Notizen in Filliozat, Jacqueline. 2001. Les manuscrits en écritures indiennes et dérivées à la Bibliothèque Vaticane, Vatikanstadt: École Française d’Extrême-Orient BAV Arch. Bibl. 115, fol. 40r. 51 52 Siehe http://www.archeologiasacra.net/pcas-web/scheda/storico/PCASST0100436/Verbali-192846/Seduta-speciale-della-Comme-Amme-24-luglio-1929?query=Franchi&page=1&text=&jsonVal= [zuletzt aufgerufen am 19. Februar 2020]
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larischen Konfliktes mit dem Grabesritterorden, der letztlich positiv für den Malteserorden ausging. Man erwartete trotzdem die Rückkehr des Gewählten als Zeichen des Respekts gegenüber dem Heiligen Stuhl. Bevor es aber dazu kam, weigerte sich Franchi gegebenenfalls von einem passiven Wahlrecht Gebrauch zu machen.53 In der Folge wurde der oben erwähnte Fra’ Ludovico Chigi, der bereits seit den frühen 1920er Jahren Thun bei vielen Anlässen vertreten hatte, zum Großmeister gewählt, zur größten Freude Joseph Wilperts († 1944) und aller Kollegen Franchis.54 Franchi blieb trotzdem über lange Jahre weiterhin im Souveränen Rat und hatte damit maßgeblichen Einfluss auf die Erweiterung der Sendung des Ordens in den folgenden zwei Jahrzehnten. Dieser „servicial turn“ im Sinne eines prophetischen Zeichens der Sendung des Malteserordens in den darauffolgenden Jahrzehnten lässt sich gut anhand verschiedenster Momente belegen, in denen der tatkräftige Reformer Chigi mit dem „stillen Gelehrten Franchi“ (Grafinger) zusammenkam und -wirkte. Ein Jahrhundert nach der Erschaffung der Stuckdecke des großen Speisezimmers im Großmagisterium, die die Natur des Ordens als eine reine militärische, aus dem Kreuzzug erwachsene betrachtete, war diese Sicht nun vollkommen überwunden.55 Beinahe sieben Jahre nach der Reise Chigis im September 1931 nach Rhodos, die als regelrechte Apotheose des historischen Bewusstseins des Ordens inszeniert wurde, vermittelt eine Momentaufnahme der Tätigkeit der Ordensregierung die unausgesprochene Verquickung von Aktualisierung der Sendung und Historismus. Am Mittwoch, dem 26. Mai 1937 trafen sich in der Magistralvilla am Aventin, damals wie heute einer der extraterritorialen Sitze des Souveränen Malteserritterordens, dreiundzwanzig hochrangige Malteserritter, um die Jahresversammlung des zwei Jahre zuvor gegründeten Missionsvereins abzuhalten.56 Der Großmeister Chigi hielt die Eröffnungsrede, bei der er auf die Gründungs53 54 55
56
Sire, wie Anm. 6: S. 187 Grafinger, wie Anm. 1 Die fünf Stuckreliefs zeigen Gottfried von Bouillon bei der Vorbereitung auf die Einnahme Jerusalems, diplomatische Verhandlungen von Mamluken oder Sarazenen bei einem byzantinischen Fürsten, die Bekleidung mit dem Kreuz der Kreuzfahrer eines christlichen Fürsten (im liturgischen Rahmen bekommt ein Heerführer ein an eine Kette gebundenes Kreuz), eine Schlacht vor einer ummauerten Stadt, die Ablegung eines Schwertschwurs eines Ritters (ebenfalls liturgisch umrahmt mit einem sitzenden Bischof und einer knieenden Gemeinde) sowie eine Sitzung des „Souveränen Rates“. Bei dieser Szene ist tatsächlich ein achtzackiges Kreuz an der Brust eines stehenden bärtigen Mannes (wohl der Ordensmeister) erkennbar, dem Karten inmitten von beratenden Gelehrten und Soldaten gezeigt werden. Dahinter sieht man eine Bank mit sitzenden Räten sowie stehenden Soldaten. Ich bin Seiner Exzellenz Botschafter Don Mauro Bertero (Rom) zum aufrichtigen Dank für die Bereitstellung dieser Bilder verpflichtet. Ruffo della Scaletta, Rufo. 1937. Réunion du Conseil Général de l’Association Missionnaire de l’Ordre Souverain et Militaire de Malte. Rivista del Sovrano Ordine Militare di Malta I, 1: S. 32 ff.
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geschichte des Vereins im Zuge des Generalkapitels von 1935 und auf die Veröffentlichung neuer Statuen einging. Sodann verlas man einen Brief des amtierenden Staatssekretärs Eugenio Kardinal Pacelli († 1958) an den Präsidenten des Missionsvereins und zugleich Bevollmächtigten Minister des Ordens beim Heiligen Stuhl, Fürst Rufo Ruffo della Scaletta († 1959)57. Darin betonte der Staatsekretär, im Übrigen seit dem 20. März 1930 selbst Mitglied des Ordens im Rang eines Ehren- und- Devotion-Groß-Kreuz-Baillis, das Wohlwollen des Apostolischen Stuhls für diese Aktion des Ordens zur Förderung der Mission. Anschließend berichtete man über konkrete Aktionen des Vereins – von Bethlehem über Indien bis Uganda sei der Verein aktiv gewesen. Danach informierten jeweils die Vertreter der französischen, belgischen, rheinisch-westfälischen und schlesischen Assoziationen sowie der Großpriorate Österreich-Böhmen und Neapel über die lokalen Aktionen zum Wohle des Missionsvereins. Man verlas auch die Berichte der neu gegründeten Komitees der Assoziationen in den Niederlanden und in Großbritannien. Im Anschluss gab es eine allgemeine Diskussion, in der verschiedene Punkte beschlossen wurden, unter anderem die Verlängerung der Befugnisse des Titularerzbischofs von Constanza, Pietro Pisani († 1960), um in Tantur, wo der historistische Habitus im Orden unter Graf Caboga erste Blüten hervorgebracht hatte, ein neues Missionswerk des Ordens zu errichten. Am darauffolgenden Tag, Fronleichnam, feierten die Teilnehmer die heilige Messe im Krankenhaus San Giacomo degli Incurabili, womit die Jahresversammlung beendet wurde. Unter den Teilnehmern befand sich auch der Bailli Franchi de’ Cavalieri, damals auf der Höhe seiner wissenschaftlichen Karriere. Das Deckblatt dieser einzig erschienenen Nummer der Rivista del Sovrano Ordine Militare di Malta, die das 1504 von Pinturicchio gemalte Idealporträt des umstrittenen Johanniters58 Fra’ Luzio Aringhieri († 1525) in der Johanneskapelle des Doms in Siena zeigt, bezeugt den historistischen Habitus ebendieser Ordensregierung, die sich so sehr für die Verbreitung des altehrwürdigen Charismas in der Welt bemühte.59 14 Jahre später, inmitten der Canali-Krise, war dies der ausschlaggebende Grund für das positive Urteil der Kardinäle: Der Orden war gewiss durchsät von seiner stets gepflegten Geschichte (im Erscheinungsbild, im Protokoll, in der Sprache), aber trotzdem weiterhin 57
58 59
De Marco, Vittorio: „Art. Ruffo della Scaletta, Rufo“, Dizionario Biografico degli Italiani, (89, 2017). http://www.treccani.it/enciclopedia/ruffo-della-scaletta-rufo_%28Dizionario-Biografico%29/ (zuletzt aufgerufen am 7. Dezember 2019) Die Bezeichnung „Johanniter“ verweist auf einen Anachronismus vor 1530, als der Orden nach Malta kam. Die Zeitschrift erschien mit diesem Titel lediglich im Jahr 1937. In den darauffolgenden zwei Jahren erschien die Publikation mit dem Namen Rivista mensile illustrata. Für die Identität des knienden Malteserritters, s. Cavallaro, Anna: 2010. „Il Cavaliere di Rodi Alberto Aringheri e Pintoricchio nel Duomo di Siena.“ In: Macioce, Stefania (Hg.): I Cavalieri di Malta e Caravaggio [wie Anm. 15]. S. 92
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aktuell. Auch daran war Franchi beteiligt, der im Januar 1952 zum historischen Berater des Ordens ernannt worden war.60 Historismus und Malteserorden – diese Paarung hat tatsächlich existiert. Bereits zwanzig Jahre nach der sporadischen Ausformulierung in den Reformschriften am Anfang eines langen Weges des Ordens zu seinem karitativen Ursprung begleitete der Historismus als geistesgeschichtlicher Habitus in den folgenden Jahrzehnten stillschweigend die Verwandlung des Ordens in eine weltweit agierende, souveräne karitative Entität religiöser Natur gemäß ihrer Gründung und Mission. Das gestaltete und erlebte der Malteser und historistische Hagiograph Fra’ Pio Franchi, wie einst Eusebius von Cäsarea gelehrt, redlich und fromm.
60
Peyrefitte, Roger. wie Anm. 7, S. 277
Der Malteserorden als Völkerrechtssubjekt Geschichte und Gegenwart Eduard Ivanov
1. Einführung
Im Jahr 2048 wird der Souveräne Ritter- und Hospitalorden vom Heiligen Johannes zu Jerusalem von Rhodos und von Malta (der Malteserorden) das tausendjährige Jubiläum feiern. Der Malteserorden existiert länger als viele Staaten und andere moderne Subjekte des Völkerrechts. Trotzdem besteht weiterhin ein großes wissenschaftliches und praktisches Interesse an der Natur der internationalen Rechtspersönlichkeit des Ordens. Für die Völkerrechtswissenschaftler ist es interessant zu verstehen, wie der Orden ohne Staatsvolk und Staatsgebiet im 21. Jahrhundert ein souveränes Völkerrechtssubjekt bleiben kann. Für die Staaten und internationalen Organisationen hat die Frage der Rechtspersönlichkeit eine wichtige praktische Bedeutung, wenn es um die Aufnahme und Aufrechterhaltung der diplomatischen Beziehungen und die Kooperation mit dem Orden geht. In der wissenschaftlichen Literatur und den Lehrbüchern für Völkerrecht ist die Natur der internationalen Rechtspersönlichkeit des Malteserordens nicht immer vollständig und manchmal sogar nicht korrekt beschrieben. In diesem Beitrag werden deshalb die historischen und rechtlichen Grundlagen der internationalen Rechtspersönlichkeit des Malteserordens zusammenfassend dargestellt. Der Autor präsentiert sein eigenes Verständnis der Rolle der völkerrechtlichen Anerkennung für die Erhaltung der Souveränität des Ordens nach der Eroberung Maltas durch Napoleons Truppen. Der vorliegende Beitrag beschreibt auch die Rolle des Malteserordens als Völkerrechtssubjekt in der modernen internationalen Gemeinschaft und seinen Einfluss auf die internationale Kooperation und die Entwicklung des Völkerrechts.
Der Malteserorden als Völkerrechtssubjekt
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2. Historische Grundlagen der internationalen Rechtspersönlichkeit des Malteserordens
Der Malteserorden wurde im Jahre 1048 im Heiligen Land gegründet.1 Der Orden ist einer der drei ältesten Ritterorden aus der Zeit der Kreuzzüge. Die zwei anderen Ritterorden sind der Orden der Brüder vom Deutschen Haus Sankt Mariens in Jerusalem (der Deutsche Orden) und der Templerorden. Der Templerorden hörte im Jahr 1312 auf zu existieren. Der Deutsche Orden existiert bis heute mit dem Hochmeisteramt in Wien. Historiker nutzen verschiedene Klassifikationen für die wichtigsten Perioden in der Geschichte des Malteserordens.2 Für die Zwecke unserer völkerrechtlichen Studie können die folgenden Perioden definiert werden: • Der Orden im Heiligen Land und auf Zypern (1048–1310) • Der Staat des Ordens auf Rhodos (1309–1522) • Der Staat des Ordens auf Malta (1530–1798) • Der Zeitraum nach dem Verlust der Insel Malta und bis zur Entscheidung des Wiener Kongresses (1798–1814) • Der Zeitraum nach der Entscheidung des Wiener Kongresses und bis zur Erlangung des Regierungssitzes in Rom (1814–1834) • Der Zeitraum nach der Erlangung des Regierungssitzes in Rom (1834–heute) Die Bulle von Papst Paschalis II. vom 15. Februar 1113 spielte eine grundlegende Rolle in der Ordensgeschichte und war eine wichtige Voraussetzung für die Souveränität des Malteserordens. Die Bulle erkannte den Orden vom Heiligen Johannes zu Jerusalem als einen religiösen Laienorden, die Unabhängigkeit des Ordens von anderen religiösen Autoritäten und das Recht des Ordens an, einen Nachfolger des seligen Gerhard, des ersten Großmeisters, zu wählen. In jener historischen Periode existierten noch keine absolutistischen Staaten. Viele Monarchen erhielten ihre Befugnisse entweder vom Papst oder vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Sacrum Imperium Romanum Nationis Teutonicae). Der Orden war nicht weniger unabhängig als die damaligen Feudalstaaten. Dies war eine Voraussetzung für die künftige internationale Rechtspersönlichkeit des Ordens. Während seiner tausendjährigen Geschichte existierte der Malteserorden in verschiedenen Formen. Für mehr als fünf Jahrhunderte besaß der Orden territoriale Souveränität über Rhodos und später über Malta. In dieser Zeit wies der Orden alle drei Elemente eines Staates auf – Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt –, die in einem Zusammengehörig1 2
Vgl. zur Geschichte auch http://www.orderofmalta.int/de/geschichte/ Zacharov 2009, 13
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keitsverhältnis vorhanden waren. Nach den Regeln der Allgemeinen Staatslehre existierte der Orden in diesem Zeitraum in Form eines Staates. Zu den Besonderheiten der Staaten auf Rhodos und Malta gehörten die Struktur der Bevölkerung und das Rechtssystem. Die Bevölkerung bestand aus lokalen Einwohnern von Rhodos und Malta und aus Ordensmitgliedern. Die Ordensmitglieder stammten aus verschiedenen europäischen Ländern, bildeten aber einen Teil des Staatsvolks auf Rhodos und Malta. Schon auf Rhodos schuf der Orden ein effektives Rechts- und Gerichtssystem. Das Gerichtssystem bestand aus Gerichten in drei Instanzen und speziellen Handelsgerichten, die für kommerzielle Streitigkeiten zuständig waren.3 Das Rechtssystem umfasste Rechtsnormen, die die Rechtsverhältnisse zwischen den Ordensmitgliedern regelten, und Rechtsnormen zur Regelung der Rechtsverhältnisse unter Beteiligung der anderen Einwohner. Dabei ging es keinesfalls um eine Diskriminierung der lokalen Einwohner. Diese Rechtsverhältnisse waren nur unterschiedlicher Natur und erforderten unterschiedliche gesetzliche Regelungen. Die Ordensmitglieder hatten spezielle Rechte und Pflichten, die mit den entsprechenden Funktionen im Orden verbunden waren. Unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Struktur der Bevölkerung und der Rechtssysteme kann man den Staat des Ordens auf Rhodos und Malta als „Staat eines Ritterordens“ oder „Ordensstaat“ definieren. Der Staat eines Ritterordens ist eine besondere Form eines Staates. Der Malteserorden war nicht der einzige Staat eines Ritterordens in der Geschichte. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war die Entwicklung des Deutschen Ordens als Rechtssubjekt der des Malteserordens ähnlich. Im Jahre 1190 wurde der Deutsche Orden auch als Hospital im Heiligen Land gegründet. Im Jahre 1196 gewährte Papst Coelestin III. der Spitalgemeinschaft Privilegien, die bereits der Malteserorden und der Templerorden hatten: die Unabhängigkeit von anderen religiösen Autoritäten und das Recht, einen Meister zu wählen. Am 19. Februar 1199 genehmigte Papst Innozenz III. die Umwandlung der Spitalgemeinschaft in einen Ritterorden.4 Im Jahre 1226 erhielt der Deutsche Orden die Goldene Bulle von Rimini von Kaiser Friedrich II. und im Jahre 1234 die Bulle von Rieti von Papst Gregor IX. Diese Dokumente bildeten die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen für die Errichtung des Staates des Deutschen Ordens in Preußen.5 Im Jahre 1244 gewährte Papst Innozenz IV. dem Deutschen Orden das Recht, die Regeln des Ordens selbständig zu verabschieden. Die älteste bekannte Handschrift des Ordensbuchs des Deutschen Ordens stammt aus dem Jahr 1264 (Militzer 2005, 15). Der Staat des Deutschen 3 4 5
Waldstein-Wartenberg 1969, 136–138 Militzer 2005, 14 Boockmann 1994, 67–68
Der Malteserorden als Völkerrechtssubjekt
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Ordens existierte vom 13. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Merkmale der Struktur der Bevölkerung und des Rechtssystems des Staates des Malteserordens charakterisierten auch den Staat des Deutschen Ordens. Das klassische Völkerrecht entstand viel später als der Malteserorden. Die Entwicklung des Völkerrechts in der zwischenstaatlichen Praxis und innerhalb der Rechtslehre war ein langfristiger Prozess. Die Rechtswissenschaftler gehen davon aus, dass das Konzept des klassischen Völkerrechts und des absoluten Staates im Zeitraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert entwickelt wurde.6 Dieses Konzept war mit dem Begriff der Souveränität eng verbunden. Hobe und Klimminich7 wiesen auf die Rolle des im Jahre 1648 geschlossenen Westfälischen Friedens hin. Dieses Abkommen ist das erste völkerrechtliche Dokument, in dem die Souveränität ausdrücklich bestätigt wird. Eine interessante Frage in der Völkerrechtstheorie ist die Rolle der Anerkennung für die Existenz eines Staates. In der Lehre wird diskutiert, ob ein Staat ohne Anerkennung durch andere Staaten oder andere Völkerrechtsubjekte existieren kann. Die Anerkennung kann sowohl ausdrücklich als auch stillschweigend, durch konkludente Handlungen erfolgen. Eine konkludente Handlung kann der Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages oder die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit einem bisher nicht anerkannten Staat sein. Die Anerkennung ist eine einseitige völkerrechtliche Willenserklärung. Die verschiedenen Positionen spiegeln sich in der deklaratorischen Theorie und in der konstitutiven Theorie wider. Die Theorien der Anerkennung sind von Bedeutung für die Diskussion über die Natur der internationalen Rechtspersönlichkeit des Malteserordens. Die Grundlage der deklaratorischen Theorie bildet die Montevideo-Konvention über die Rechte und Pflichten der Staaten (1933). Diese Konvention formulierte die Voraussetzungen für das Bestehen eines Staates: Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt und Fähigkeit zur Aufnahme auswärtiger Beziehungen. Die vierte Voraussetzung ist nicht immer ein notwendiges Erfordernis in der Staatenpraxis.8 Laut der deklaratorischen Theorie existiert der Staat, wenn alle Voraussetzungen vorhanden sind. Die Anerkennung durch andere Staaten und die Anzahl der anerkennenden Staaten spielen keine entscheidende Rolle für die internationale Rechtspersönlichkeit eines Staates. In der modernen Welt ist es jedoch schwer vorstellbar, dass ein Staat ohne irgendwelche Beziehungen mit anderen Völkerrechtssubjekten existieren kann. Laut der konstitutiven Theorie hängt die internationale Rechtspersönlichkeit eines Staates von der Anerkennung durch andere Staaten und Völkerrechtssubjekte ab. Der de facto existierende Staat erlangt internationale Rechtspersönlichkeit durch die Anerken6 7 8
Lukashuk 1997, 47–50 Hobe und Klimminich 2004, 36 Hobe und Klimminich 2004, 68
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nung durch andere Staaten. Die konstitutive Theorie wird kritisiert, weil sie keine Antwort auf die Frage gibt, wie viele Anerkennungen für die internationale Rechtspersönlichkeit eines Staates notwendig sind.9 In der Zeit der Entstehung des klassischen Völkerrechts besaß der Malteserorder die Inseln Malta, Gozo und Komino und verfügte über eine Bevölkerung und Souveränität. Der Orden existierte in Form des Staates des Ritterordens. Sogar für die Kritiker ist es offenkundig, dass in jener Zeit der Malteserorden alle Kernelemente eines Staates aufwies. Aufgrund dieser formalen Kriterien und unter Berücksichtigung der deklaratorischen Theorie der Anerkennung darf man behaupten, dass die internationale Rechtspersönlichkeit des Ordens gleichzeitig mit der internationalen Rechtspersönlichkeit der Staaten entstand. Nach Ansicht von Aldo Pezzana10 war der Malteserorden nach der Entstehung der internationalen Staatengemeinschaft im 17. Jahrhundert ein gleichberechtigtes Mitglied dieser Gemeinschaft und ein Völkerrechtssubjekt. Die Kritiker der Anerkennung des Ordens als Völkerrechtssubjekt können behaupten, dass der Orden nie in der Geschichte ein Völkerrechtssubjekt war. Er hatte immer seinen Sitz in dem Territorium eines anderen Völkerrechtssubjekts. In diesem Zusammenhang ist es notwendig hervorzuheben, dass das Subjekt des Völkerrechts nicht der Staat Malta, sondern der Orden war. Dies folgt aus der Analyse der internationalen Abkommen über diplomatische Beziehungen, die der Orden mit anderen Völkerrechtssubjekten abgeschlossen hat.11 Die internationale Rechtspersönlichkeit des Malteserordens war vor der Besetzung von Malta durch die Armee Napoleons im Jahre 1798 nicht bezweifelt worden. Nach dem Verlust von Malta entstanden die Fragen über die weitere Existenz und den Rechtsstatus des Ordens. Wir gehen davon aus, dass die Natur der internationalen Rechtspersönlichkeit des Ordens, der Wille der Ordensritter und die Positionen der Staaten von entscheidender Bedeutung für die Existenz des Malteserordens als eines souveränen Völkerrechtssubjekts waren. Nach der gegenwärtigen Völkerrechtslehre ist der Besitz von Territorium eine notwendige Voraussetzung für die Anerkennung der internationalen Rechtspersönlichkeit eines Staates. Der Orden erlangte aber seine Souveränität im Jahre 1113 nicht als Staat, sondern als Ritterorden. Eine wichtige Frage für unsere weitere Forschung ist, ob die Entstehung der internationalen Rechtspersönlichkeit des Ordens im Mittelalter nur oder vor allem mit dem Besitz eines Territoriums verbunden war. 9 10 11
Lukashuk 1997, 315–316 Pezzana 35–36 D’Olivier Farran 1954, 222
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Der Autor ist mit dem Konzept von Michel de Pierredon12 einverstanden, demzufolge sowohl die Souveränität als auch die internationale Rechtspersönlichkeit mit den Zielen und Aufgaben des Ordens verbunden sind. Der Orden wurde nicht zur Kontrolle bestimmter Territorien oder zur Machtausübung in bestimmten Territorien gegründet. Die vorrangigen Ziele des Ordens waren, den Kranken und den Verletzten zu helfen und später bestimmte militärische Aufgaben im Heiligen Land auszuführen. Die Ritter und Priester aus der gesamten christlichen Welt trugen zur Bildung und Entwicklung des Ordens des Heiligen Johannes von Jerusalem bei. Sie waren sich über diese Ziele einig. Die Souveränität des Ordens beruhte auf seiner absoluten Unabhängigkeit von Laien oder religiösen Autoritäten mit Ausnahme des Papstes. Der rechtliche Status des Ordens sollte nicht nur anhand der aktuellen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen beurteilt werden, sondern auch unter Berücksichtigung der Realitäten der jeweiligen historischen Perioden. Der Besitz eines eigenen Territoriums und die Schaffung eines Staates des Ritterordens mit allen Eigenschaften eines Staates waren Meilensteine in der Entwicklung des Ordens. Der Staat des Ritterordens war aber nur eine der möglichen Formen der Organisation des Malteserordens. Nach seiner Natur war der Malteserorden eher ein supranationales Rechtssubjekt. Die Idee der internationalen Organisation als Form der zwischenstaatlichen Kooperation entstand viel später. Der Orden wurde nicht von Staaten gegründet, aber die Ordensfunktionen kann man mit den Funktionen der modernen internationalen Organisationen vergleichen. Der Orden vereinte Ritter aus verschiedenen Staaten, um auf ständiger Basis zu kooperieren und die gemeinsamen Ziele zu erreichen. Die Zeit der Napoleonischen Kriege war ein kritischer Punkt in der Geschichte der Ritterorden. Die französische Armee besetzte die Staatsgebiete sowohl des Malteserordens als auch des Deutschen Ordens. In dieser Zeitspanne spielten die österreichische Monarchie und die russische Monarchie eine bedeutsame Rolle im Schicksal der Ritterorden. Nicht zuletzt dank der aktiven Unterstützung des Kaisers von Österreich, Franz I., und des russischen Zaren Paul I. überlebten die beiden ältesten Ritterorden diese globale Krise und konnten weiterhin ihre historische Mission erfüllen. Zur Zeit der Besetzung Maltas hatte der Malteserorden langfristige diplomatische Beziehungen mit dem russischen Zarenreich. Die Beziehungen zwischen dem Malteserorden und Russland begannen während der Zeit des russischen Zaren Peter I. (Peter dem Großen). Zwischen 1697 und 1698 besuchte der Bojar Boris Sheremetev unter dem Befehl von Peter I. Malta, um sich mit dem Großmeister und den Rittern des Ordens zu treffen. Sein Auftrag war es, diplomatische Beziehungen und militärische Kontakte zum Malteserorden 12
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herzustellen. In jener Zeit sah Russland den Malteserorden als Partner im Kampf gegen die Türkei. Von diesem Zeitpunkt an war Russland in regelmäßigem diplomatischen Kontakt mit dem Malteserorden. Im Jahre 1769 wurde der erste russische Chargé d’Affaires, Marquis George de Cavalcabó, aus einer adeligen venezianischen Familie als Diplomat von Sankt Petersburg nach Malta geschickt.13 Die Beziehungen zwischen dem Malteserorden und Russland erreichten während der Regierungszeit von Zar Paul I. ihren Höhepunkt. Nicht nur die geopolitischen Interessen Russlands im Mittelmeerraum, sondern auch die Persönlichkeit von Paul I. lagen einer solchen Entwicklung zugrunde. Die Historiker vermerken, dass Paul I. großen Respekt vor der Idee des Rittertums im Allgemeinen und den Malteserrittern im Besonderen hatte.14 Im Jahr 1797 unterzeichneten Russland und der Malteserorden eine Konvention zur Regelung der Zusammenarbeit und zur Errichtung des russischen Großpriorats. Die Konvention wurde in voller Übereinstimmung mit allen erforderlichen Verfahren des Russischen Reiches und des Malteserordens unterzeichnet. Der Großmeister Ferdinand von Hompesch ratifizierte die Konvention am 7. August 1797. Nach der Konvention ersetzte das russische Priorat das polnische Priorat im Malteserorden und gehörte zur EnglischBayerischen Zunge. Darüber hinaus beschloss der Malteserorden, dem russischen Zaren Paul I. den Titel eines Beschützers (Patron) zu verleihen. Der Titel wurde vom Zaren angenommen.15 Paul I. verfolgt die Idee einer engen Kooperation unter den verschiedenen christlichen Kirchen, um das Christentum im Kampf gegen die Türkei zu schützen. Er verstand, dass die Vereinigung der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirchen unmöglich ist, und sah den Malteserorden als Plattform für die Kooperation von Christen verschiedener Glaubensrichtungen. Am 1. Juni 1798 stimmte der Malteserorden auf Initiative von Paul I. der Errichtung des russischen Großpriorats für orthodoxe Adlige zu. Heutzutage scheint diese Entscheidung für den katholischen Orden beispiellos zu sein. Es war aber nicht die erste Ausnahme. Zu dieser Zeit existierte bereits die protestantische Ballei Brandenburg im Rahmen des Malteserordens. Zahlreiche Adlige aus berühmten russischen Familien traten den katholischen und orthodoxen Großprioraten des Malteserordens bei. Nach dem Einmarsch von Napoleons Armee in Malta, befand sich der Malteserorden in einer kritischen Situation. Der Großmeister von Hompesch verließ Malta und lebte im Exil in Triest. Seine diplomatischen Bemühungen zur Wiedererlangung Maltas brachten leider keinen Erfolg. Die widersprüchlichen Informationen aus verschiedenen Quellen über die Gründe der Eroberung Maltas und die Rolle von Hompesch wirkten sich negativ 13 14 15
Nastenko und Jashnev 2005, 2, 10–36 Basenko 2012, 244 La Russie et l’Ordre de Malte 2019, 181–197
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auf die Bemühungen des Großmeisters aus.16 Am 27. Oktober 1798 wählten die Ritter des Ordens, die in St. Petersburg waren, den russischen Zaren Paul I. zum Großmeister. Die Zustimmung des Zaren zur Annahme des Titels wurde am 22. November verlesen. Die Legitimität des Wahlverfahrens wurde später bezweifelt, weil es zu dieser Zeit unmöglich war, ein Generalkapitel mit der Teilnahme aller Zungen des Ordens einzuberufen. Viele der Ordensritter befanden sich in den von Napoleon besetzten Ländern. Die Genehmigung des Papstes wurde auch nicht erhalten. Nach der gegenwärtigen offiziellen Position des Malteserordens wurde Paul I. als Großmeister de facto anerkannt.17 Die offizielle Position von Paul I. war für die Erhaltung der Souveränität des Malteserordens von großer Bedeutung. Am 10. September 1798 wurde die Deklaration von Paul I. im Zusammenhang mit der Besetzung von Malta veröffentlicht. Der russische Zar betonte in der Deklaration als Patron des Ordens, dass er keine Rechte für sich beansprucht, die die Souveränität des Malteserordens begrenzen können. Er rief auch alle Zungen, Großpriorate und Ordensritter an, die für die Erhaltung des Malteserordens notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Die Regierungszeit von Paul I. war von kurzer Dauer. Er wurde in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1801 von Verschwörern getötet. Der tragische Tod erlaubte ihm nicht, alle seine Pläne für eine weitere Zusammenarbeit mit dem Malteserorden zu verwirklichen. Nach dem Tod von Paul I. wurden die Kontakte zwischen Russland und dem Malteserorden spärlich und nach der russischen Revolution von 1917 ganz ausgesetzt. Die Ideen des Zaren überlebten ihn. Russland nahm im Jahre 1992 die diplomatischen Beziehungen zum Malteserorden wieder auf, und dies war einer der ersten außenpolitischen Schritte, die der neue russische Staat nach dem Fall der Sowjetunion unternahm. Der erste Besuch des Großmeisters des Malteserordens in Russland fand im Juli 2012 statt und beinhaltete Treffen mit den Staatsoberhäuptern und seiner Heiligkeit, dem Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Kirill.18 Am 12. Februar 2016 fand auf dem internationalen Flughafen von José Martí in Havanna ein historisches Treffen zwischen Seiner Heiligkeit Papst Franziskus und Seiner Heiligkeit dem Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Kirill, statt. Nach dem Treffen wurde eine gemeinsame Erklärung zur Zusammenarbeit von Katholiken und Orthodoxen bei der Erfüllung der Mission, das Evangelium Christi in der modernen Welt zu predigen, publiziert.19 Österreich spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte der Ritterorden, insbesondere für das Schicksal des Deutschen Ordens. Nach dem Verlust von Preußen im Jahre 1525 be16 17 18 19
Freller 2019, 353–367 Vgl. http://www.orderofmalta.int/de/geschichte/die-grossmeister/ Vgl. http://www.patriarchia.ru/db/text/2326400.html Vgl. https://mospat.ru/en/2016/02/13/news128178/
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hielt der Deutsche Orden ein eigenes Territorium im Heiligen Römischen Reich und blieb ein souveräner Staat des Ritterordens. Unter der Leitung des Hochmeisters Maximilian von Österreich wurde im Jahre 1606 die Revision der Regel des Deutschen Ordens durchgeführt und die Neufassung verabschiedet. Die Regel wurde an die neuen Realitäten angepasst.20 Die tragische Schlacht bei Austerlitz am 2. Dezember 1805 endete mit der Niederlage der österreichischen und russischen Truppen. Der am 26. Dezember 1805 geschlossene Friede von Pressburg war ein kritischer Punkt in der Rechtsgeschichte des Deutschen Ordens. Der Friedensvertrag stellte fest, dass die Würde eines Hochmeisters des Deutschen Ordens demjenigen Prinzen des kaiserlichen Hauses, welchen Se. Majestät, der Kaiser von Deutschland und Österreich, ernennen wird, in der Person und in gerader männlicher Linie nach dem Erstgeburtsrechte erblich überlassen werden soll. Der Anfang des 19. Jahrhunderts war zum Endpunkt in der parallelen Geschichte des Deutschen Ordens und des Malteserordens als Völkerrechtssubjekte geworden. Der Deutsche Orden war ein Teil der österreichischen Monarchie geworden und hatte seinen Status als souveränes Völkerrechtssubjekt verloren. Wir können annehmen, dass es für diese Entwicklung einen objektiven Grund gab. Zur Zeit des Friedens von Pressburg waren die Aktivitäten des Deutschen Ordens in bedeutsamem Maße auf das Territorium des Heiligen Römischen Reichs begrenzt. Die Unterstützung der Habsburger ermöglichte es dem Deutschen Orden, die schwierige Zeit zu überstehen und im 20. Jahrhundert seine Mission als geistlicher Orden weiter zu erfüllen. Der Malteserorden war im Vergleich zum Deutschen Orden viel mehr internationalisiert. Für den russischen Zaren Paul I. war es viel wichtiger, den Malteserorden als Plattform für die Kooperation von Christen verschiedener Glaubensrichtungen zu halten, als ihn in die russische Monarchie zu integrieren. Es war auch sehr unwahrscheinlich, dass die Idee der Integration des Malteserordens in die russische Monarchie von verschiedenen Zungen des Ordens unterstützt werden könnte. Aktivitäten des Malteserordens in Österreich sind seit dem 12. Jahrhundert bekannt. Die Kommende Mailberg gehört zu den ältesten Kommenden des Ordens.21 Die Bedeutung der österreichischen Unterstützung für das Funktionieren des Malteserordens sollte hervorgehoben werden. Abgesehen vom Verlust Maltas verlor der Orden in der Zeit der Napoleonischen Kriege seine Territorien und sein Eigentum in den verschiedenen Teilen Deutschlands, Italiens und Russlands. Das Großpriorat in Böhmen-Österreich setzte aber seine Tätigkeit fort. Bis zum Wiener Kongress hatte der Malteserorden mindestens eine theoretische Chance, die Insel Malta zurückzuerhalten. Im Jahr 1815 wurde jedoch die territoriale Sou20 21
Gasser 1985 Weltin 2007, 47–60
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veränität Großbritanniens über Malta in den Entscheidungen des Wiener Kongresses anerkannt. Trotz des endgültigen rechtlichen Verlustes des Staatsgebiets behielt der Orden den Status eines Völkerrechtssubjekts. Obwohl der Besitz eines Territoriums keine entscheidende Bedeutung für die Souveränität und internationale Rechtspersönlichkeit des Ordens hatte, sind einige Völkerrechtswissenschaftler der Ansicht, dass die Staaten nach dem Jahre 1798 den Malteserorden als ein neues Völkerrechtssubjekt ohne Territorium anerkennen müssten. Im Lehrbuch „Internationales Recht“ wird behauptet, dass der Malteserorden als ein souveränes Völkerrechtssubjekt erst im Jahre 1889 anerkannt wurde.22 Der Autor ist dagegen überzeugt, dass der Orden niemals den Status des Völkerrechtssubjekts verlor. Wir gehen davon aus, dass auch der konstitutiven Theorie der Anerkennung in dieser Periode der Ordensgeschichte eine bestimmte Bedeutung zukam. Die Staaten erhielten ihre existierenden diplomatischen Beziehungen mit dem Malteserorden aufrecht oder nahmen neue diplomatische Beziehungen zum Malteserorden auf. Durch diese konkludenten Handlungen demonstrierten die Staaten die Anerkennung des Malteserordens als eines gleichberechtigten, souveränen Völkerrechtssubjekts. Die Staaten erkannten aber nicht ein neues Völkerrechtssubjekt an, sondern die Fortsetzung der internationalen Rechtspersönlichkeit des Ordens, der schon in anderer Form ohne Territorium existierte. Hier war die Idee der Gründung des Ordens von großer Bedeutung. In den Jahren 1805 bis 1879 wurde der Malteserorden durch Luogotenente del Magisterio geführt. Auch in diesem Zeitraum blieb der Orden ein souveränes Völkerrechtssubjekt. Der Orden war unabhängig von Staaten. Die Möglichkeit der Führung durch Luogotenente del Magisterio war im Ordensrecht vorgesehen. Die bestimmte Abhängigkeit vom Papst ist mit der geistlichen Natur des Ordens verbunden. Diese Verbindung bestand immer in der Ordensgeschichte und bleibt auch heute ein integraler Bestandteil des Rechtsstatus des Ordens.
3. Die internationale Rechtspersönlichkeit des Malteserordens und die moderne Völkerrechtstheorie
Der Malteserorden ist der einzige Ritterorden, der im 21. Jahrhundert ein Völkerrechtssubjekt bleibt. Der Malteserorden ist ein unikales Völkerrechtssubjekt, auch weil nicht nur Völkerrecht und eigenes Ordensrecht, sondern auch kanonisches Recht für den Orden und die Ordensritter gilt. 22
Kovalev und Tschernitschenko 2011, 163
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Die Grundlage der internationalen Rechtspersönlichkeit des Malteserordens ist seine Souveränität. Der Orden hat eine eigene Verfassung und den Codex, die die grundlegenden Rechte und Pflichte des Ordens und der Ordensmitglieder, die Ordensgliederung und die Regierungsstruktur festlegen. Laut Artikel 5, § 5 gehört der historische „Code Rohan“ zu den Quellen des Melitensischen Rechts, soweit er nicht geltendem Recht widerspricht.23 Für den Rechtsstatus des Ordens ist die Anerkennung seiner Souveränität durch Italien und den Heiligen Stuhl von großer Bedeutung. Die italienische Position ist deshalb so wichtig, da sich der Sitz des Ordens auf dem Staatsgebiet von Italien befindet. Die italienischen Rechtsakte erkannten schon im 19. Jahrhundert die Souveränität des Ordens an.24 Im Jahr 1956 wurden diplomatische Beziehungen zwischen dem Orden und Italien aufgenommen. Im Abkommen von 1960 erkannte Italien die souveränen Vorrechte des Großmeisters als Staatsoberhaupt, die Unabhängigkeit des Ordens bei der Umsetzung der Legislative, Exekutive und Judikative und den exterritorialen Status der Residenz des Ordens in Rom an, der ähnlich dem Status der diplomatischen Vertretungen ist. Die Rechtsverhältnisse zwischen dem Malteserorden und dem Heiligen Stuhl haben eine duale Natur und unterscheiden sich von den gewöhnlichen Verhältnissen zwischen Völkerrechtssubjekten. Einerseits geht es um Rechtsverhältnisse zwischen zwei souveränen Völkerrechtssubjekten. Die im Jahr 1997 verabschiedeten Änderungen der Verfassung des Malteserordens stärkten die Souveränität des Ordens als eines eigenständigen Völkerrechtssubjekts. Die Verfassung des Malteserordens von 1961 sah vor, dass der zum Großmeister Gewählte die Genehmigung des Hl. Vaters erhalten soll.25 Laut Artikel 13, § 3 der aktuellen Verfassung des Malteserordens von 1997 hat „der zum Großmeister Gewählte vor Amtsantritt dem HI. Vater brieflich Mitteilung von seiner Wahl zu machen.“26 Die briefliche Mitteilung impliziert keine Genehmigung des Hl. Vaters zu den Wahlergebnissen. Artikel 4, § 6 stellt fest, dass „der religiöse Charakter des Ordens die Ausübung der ihm zustehenden Souveränitätsrechte nicht ausschließt, insofern der Orden ein von den Staaten anerkanntes Völkerrechtssubjekt ist“.27 Der Orden und der Heilige Stuhl unterhalten diplomatische Beziehungen als gleichberechtigte Völkerrechtssubjekte. Andererseits ist der Malteserorden ein katholischer Orden und untersteht der Autorität des Papstes als Oberhaupts der heiligen katholischen Kirche. In diesem Zusammenhang kann davon ausgegangen werden, dass das Hauptziel der Verfassungsänderungen von 1997 nicht die größere 23 Verfassung und Kodex des Malteserordens 1997 24 Pham 2001, 316–318 25 Theutenberg 2003, 22–23 26 Verfassung und Kodex des Malteserordens 1997 27 Ibid.
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Unabhängigkeit des Ordens vom Heiligen Stuhl war, sondern die zusätzliche Bestätigung der Souveränität des Ordens für andere Völkerrechtssubjekte. Die duale Natur der Rechtsverhältnisse zwischen dem Malteserorden und dem Heiligen Stuhl zeigte sich deutlich im Januar 2017. Im Dezember 2016 führte der Streit zwischen Papst Franziskus und dem Großmeister des Malteserordens Fra’ Matthew Festing zu einer Krise in den Verhältnissen. Nach dem Treffen mit Papst Franziskus am 24. Januar 2017 trat der Großmeister des Malteserordens Fra‘ Matthew Festing von seinem Amt zurück. Am 28 Januar 2017 wurde sein Rücktritt durch den Souveränen Rat des Ordens angenommen.28 Basierend auf den Prinzipien und Normen des Völkerrechts könnte der Großmeister des Malteserordens als auf Lebenszeit gewähltes Oberhaupt eines souveränen Völkerrechtssubjekts unabhängig von der Position des Heiligen Stuhls im Amt bleiben. Als Katholik und Oberhaupt eines geistlichen Ordens konnte Fra’ Matthew Festing keine andere Entscheidung treffen. Die Geschichte des Rücktritts des Großmeisters Fra’ Matthew Festing demonstrierte, dass die Diskussion über die internationale Rechtspersönlichkeit des Malteserordens im 21. Jahrhundert aktuell bleibt. Neben den historischen Voraussetzungen ist es wichtig, die Grundlagen der internationalen Rechtspersönlichkeit des Ordens im Rahmen der gegenwärtigen Völkerrechtstheorie zu analysieren und die Rolle des Ordens in der modernen internationalen Gemeinschaft zu verstehen. Die Kritiker der Anerkennung des Ordens als Völkerrechtssubjekt bringen die folgenden, anhand der gegenwärtigen rechtstheoretischen Vorstellungen entwickelten Argumente vor: Das erste Argument ist typisch für die Diskussion über die internationale Rechtspersönlichkeit des Ordens: Die Kritiker vergleichen den Malteserorden mit einem Staat als primärem, klassischem Völkerrechtssubjekt. Nachdem der Orden nach dem Verlust von Malta und den Entscheidungen des Wiener Kongresses kein Staatsgebiet und Staatsvolk mehr hatte, könnte er nicht mehr als ein Völkerrechtssubjekt betrachtet werden. Shaw behauptet, dass der Orden seine Souveränität im Jahr 1798 verlor und als eine humanitäre Organisation seine Residenz in Rom im Jahr 1834 begründete.29 Dem zweiten Argument liegt die gegenwärtige Klassifizierung der Völkerrechtssubjekte zugrunde. Der Orden gehört nach aktueller Völkerrechtstheorie zu keiner Gruppe der anerkannten Subjekte. In diesem Zusammenhang ist es heute unmöglich, die völkerrechtlichen Grundlagen der internationalen Rechtspersönlichkeit des Ordens zu begründen. Das dritte Argument besteht darin, dass der Orden im Rahmen der Kooperation mit 28 29
Vgl. http://www.orderofmalta.int/de/2017/01/28/grossmeister-fra-matthew-festing-legt-sein-amtnieder/ Shaw 2008, 243
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den Vereinten Nationen eher als eine Humanitäre Nichtregierungsorganisation betrachtet werden könne. Einige Wissenschaftler machen geltend, dass die ständige Vertretung des Ordens bei den Vereinten Nationen in die Gruppe der Nichtregierungsorganisationen aufgenommen worden sei und der Orden nichts mehr als eine Nichtregierungsorganisation sei.30 Wir gehen davon aus, dass die folgenden Schwerpunkte für die Diskussion über die Natur der gegenwärtigen internationalen Rechtspersönlichkeit des Malteserordens wichtig sind: Der Malteserorden entstand als eine Spitalgemeinschaft und erhielt seine Souveränität nicht als ein Staat, sondern als Ritterorden. Heute gibt es kein einfaches juristisches Verfahren für die Errichtung eines Ritterordens. Die modernen Juristen müssen verstehen, dass der Orden in einer anderen historischen Periode und in Übereinstimmung mit alten rechtlichen Normen und Vorstellungen gegründet wurde. Es ist nicht einfach, den Malteserorden in die moderne Klassifizierung der Völkerrechtssubjekte einzuordnen. Die Lehrbücher im Völkerrecht bezeichnen den Malteserorden als einen Sonderfall der Völkerrechtssubjektivität31 oder als ein untypisches Völkerrechtssubjekt. In diesem Zusammenhang muss man betonen, dass die Gründung der Ritterorden sogar in der Zeit der Kreuzzüge kein Massenphänomen war. Der Malteserorden existierte auf Rhodos und auf Malta in Form des Ordensstaates. Nach dem Verlust des Staatsgebiets erkannten die Staaten und später die internationalen Organisationen die Fortsetzung der internationalen Rechtspersönlichkeit des Ordens unter neuen historischen Umständen in einer anderen Form ohne Staatsgebiet und Staatsvolk an. Heutzutage kann man sagen, dass die modernen Völkerrechtssubjekte die internationale Rechtspersönlichkeit eines Rechtssubjekts anerkennen, das aufgrund alter, nicht mehr gültiger Rechtsnormen entstanden ist. Die Anerkennung anderer Völkerrechtssubjekte ist ein souveränes Recht der Staaten. Der Wille und das Recht der souveränen Staaten, den Malteserorden als Völkerrechtssubjekt anzuerkennen, kann nicht auf andere Völkerrechtssubjekte begrenzt werden. Der Orden hat einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen, ihren Sonderorganisationen und einigen anderen internationalen Organisationen. Der Beobachterstatus wurde in der Charta der Vereinten Nationen nicht definiert. Die Teilnahme und Befugnisse der ständigen Beobachter bei den Vereinten Nationen werden seit dem Jahr 1946 durch die Normen des internationalen Gewohnheitsrechts geregelt. Alle Beobachter sind in drei Gruppen aufgeteilt. Die Gruppe 1 enthält Staaten, die keine Mitglieder der Verein30 31
Zacharov und Chibisov 2012, 380 Hobe und Klimminich 2004, 149
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ten Nationen sind, die Gruppe 2 Internationale Interregierungsorganisationen, die ständige Vertretungen oder keine ständigen Vertretungen bei den Vereinten Nationen haben, die Gruppe 3 andere Organisationen, die ständige Vertretungen haben und nicht zu den ersten zwei Gruppen gehören. Die Tatsache, dass der Malteserorden zur dritten Gruppe von Beobachtern gehört, bedeutet keinesfalls, dass die Vereinten Nationen den Orden als Nichtregierungsorganisation betrachten. Die Dokumente der Vereinten Nationen definieren die dritte Kategorie von Beobachtern als „andere Einheiten, die eine ständige Einladung erhalten haben, als Beobachter an den Sitzungen und der Arbeit der Generalversammlung teilzunehmen und ständige Vertretungen am Hauptsitz zu unterhalten“.32 Die Vertretung des Malteserordens gehört zur Gruppe 3, weil der Orden kein Staat und keine Interregierungsorganisation ist.
4. Die Rolle des Malteserordens als Völkerrechtssubjekt im 21. Jahrhundert
Im 21. Jahrhundert konzentriert sich der Malteserorden vor allem auf medizinische, soziale und humanitäre Bereiche. Zu den Ordensaktivitäten gehören die Krankenhausarbeit, die medizinischen Versorgung, der Sozialdienst, die Nothilfe für Flüchtlinge und Kriegsvertriebene und die Katastrophenhilfe überall auf der Welt (Tätigkeitsbericht 2019). 109 Staaten und die Europäische Union anerkennen den Malteserorden als Völkerrechtssubjekt und unterhalten diplomatische Beziehungen zum Orden.33 Der Malteserorden entwickelt Beziehungen zu den internationalen Organisationen. Zu den Schwerpunkten der Kooperation gehören Gesundheitswesen, Leistung der humanitären Hilfe, Migration und der Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Der Autor ist überzeugt, dass die Beteiligung des Malteserordens an den aktuellen internationalen Diskussionen und an der Entwicklung des internationalen Rechts für die moderne internationale Gemeinschaft sehr wichtig ist. Ziemlich oft in unserer pragmatischen Welt kümmern sich die Regierungen um den aktuellen wirtschaftlichen Profit viel mehr als um die globalen Probleme unserer Zivilisation. Der Malteserorden hat kein eigenes politisches und wirtschaftliches Interesse und kann eine objektive, unabhängige Position in den internationalen Diskussionen einnehmen. Es ist kaum möglich, die mehrere hundert Jahre lange Erfahrung des Malteserordens in den Bereichen der medizinischen Versorgung und der Katastrophenhilfe zu überschätzen. Es soll betont werden, dass der Orden als ein politisch neutrales Völkerrechtssubjekt sogar in den Staaten, mit denen er keine diplomatischen Beziehungen unterhält, humanitäre 32 http://www.un.org/en/members/intergovorg.html 33 Vgl. http://www.orderofmalta.int/de/diplomatische-aktivitaten/bilaterale-beziehungen/
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Hilfe leisten kann. Die Zustimmung der entsprechenden Staaten ist natürlich notwendig. Malteser International leistete Katastrophenhilfe nach den Erdbeben im Jahr 2015 in Nepal und im Jahr 2018 in Indonesien.34 Als frühere Beispiele sind die Hilfsmaßnahmen im Jahr 2004 in Bam (Iran), im Jahr 2005 in New Orleans (Vereinigte Staaten) und in Pakistan zu nennen. Mit allen diesen Staaten unterhält der Orden keine diplomatischen Beziehungen.
5. Zusammenfassung
Der Malteserorden erhielt seine Souveränität im Jahre 1113 als Ritterorden. Seit dieser Zeit wurde die Ordenssouveränität nie unterbrochen. Der Orden war und bleibt ein supranationales Rechtssubjekt, er vereint die Ritter aus verschiedenen Staaten aufgrund ihrer gemeinsamen geistlichen Werte. Im Laufe seiner fast tausendjährigen Geschichte existierte der Malteserorden in verschiedenen Formen: als Spitalgemeinschaft, Ritterorden ohne Staatsgebiet, Staat des Ritterordens und wieder als Ritterorden ohne Staatsgebiet. Die internationale Rechtspersönlichkeit des Ordens entstand mit der Entwicklung des Konzepts des klassischen Völkerrechts und des absoluten Staates im Zeitraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Die Eroberung Maltas durch Napoleons Truppen war eine dramatische Phase in der Ordensgeschichte. Die internationale Rechtspersönlichkeit des Ordens wurde infrage gestellt. Trotzdem blieb der Malteserorden ein souveränes Völkerrechtssubjekt. Der Wille des Ordens, seine Souveränität zu erhalten, und die Positionen der Staaten, die mit dem Orden diplomatische Beziehungen unterhielten, spielten die entscheidende Rolle. Die Staaten und später die internationalen Organisationen erkannten die Fortsetzung der internationalen Rechtspersönlichkeit des Ordens in seiner bisherigen Form ohne Staatsgebiet und Staatsvolk an. Heutzutage spielt der Malteserorden eine bedeutsame Rolle in der internationalen Kooperation in humanitären, medizinischen und sozialen Bereichen. Der Orden ist politisch neutral und vertritt vor allem die Interessen von Millionen Menschen in Not, die jeden Tag geistliche und materielle Unterstützung vom Orden erhalten. Der Orden verfolgt keine eigenen wirtschaftlichen Ziele und konzentriert sich auf die Erörterung und Lösung der globalen gegenwärtigen Probleme. Die unabhängige Stimme des Ordens in den internationalen Diskussionen ist wichtig für die internationale Gemeinschaft. Wir hören nie auf, in der modernen Welt nach neuen Werten zu suchen, und sind enttäuscht, wenn unsere Bemühungen erfolglos bleiben. Die Tatsache, dass der Malteserorden, der eine mehr als neunhundertjährige Geschichte hat, von den modernen Staaten 34 Vgl. https://www.orderofmalta.int/de/humanitare-medizinische-hilfe/katastrophenhilfe-pravention/
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als ein gleichberechtigtes Völkerrechtssubjekt anerkannt wird und Millionen von Menschen auf der ganzen Welt Hilfe leistet, beweist, dass die geistlichen Werte des Ordens, die aus dem 11. Jahrhundert stammen, im 21. Jahrhundert relevant bleiben. Der Malteserorden existiert, weil er auf den ewigen christlichen Ideen und Werten beruht. Die Mission der Malteserritter in Vergangenheit und Gegenwart ist ein hervorragendes Beispiel für die Erziehung der Jugend. Die Begegnung des Nächsten in Liebe, die Hilfe für Arme und Kranke sind Werte, die wir heute in unserer pragmatischen Welt brauchen.
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Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918) Stationen eines Lebens Bernhard Huber
Über den Grafen Pettenegg, „der sich vorzüglich in Wien einer ausgebreit[e]ten Popularität erfreute und bis vor wenigen Jahren noch […] zu den markantesten Typen und Repräsentanten des alten Wien zählte […]“,1 wussten nicht nur Wiener Journale zu seiner Zeit einiges zu berichten. Umso nennenswerter scheint daher der Umstand, dass ausführlichere biographische Versuche über seine facettenreiche Person noch zu suchen sind. Als grundlegende Notiz zu den wichtigsten Lebensdaten Petteneggs gilt nach Heinrich Jäger-Sunstenau bislang der Eintrag im Österreichischen Biographischen Lexikon, den Wolfgang J. Bandion und P. Bernhard Demel OT gemeinsam verfasst hatten.2 An nachfolgenden Detailstudien,3 die auch nennenswerte biographische Aspekte bringen, sei etwa jene von Rotraud Stumfohl zu seinem Nachlass in der Kärntner Landesbibliothek genannt.4 Bislang am ausführlichsten hat sich ihm Werner Drobesch in der „Carinthia“ gewidmet, wobei dort einige Schlussfolgerungen bzw. stellenweise fehlende Belege eine Relektüre vermissen lassen.5 Seines 100. Todestages im Oktober 2018 gedachte ein Kurzbeitrag in der Zeitschrift des Deutschen Ordens.6 Dazu brachte auch eine Kabinettausstellung in der Wiener Ordensschatzkammer Dokumente, Fotos und Realia aus dem Ordenszentralarchiv, spätere Exemplare einiger ihm verliehener Auszeichnungen sowie Sakralgefäße und liturgische Gewänder aus seinem Nachlass zugunsten der Deutschordensschwestern in Friesach.7 1 2
3 4 5 6 7
Neuigkeits-Welt-Blatt, 45. Jahrgang, Nr. 237, 16. Oktober 1918, S. 5. Der unveröffentlichte (?) Beitrag Jäger-Sunstenaus in Kopie vgl.: DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II; Bandion, Demel: Pöttickh von Pettenegg. In: ÖBL, 8. Band, S. 148 f. (dort weitere Literatur). Ein erweitertes unveröffentlichtes Manuskript eines Artikels von Bandion und Demel vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II. Dort auch weitere Lebensdaten und Literatur, zusammengefasst 2001 von Demel und seinem Mitarbeiter Friedrich Vogel. Vgl. Chronik und Vision, S. 280 f. Vgl. Stumfohl: Der Nachlass eines Privatgelehrten, S. 417 f. Vgl. Drobesch: Eduard Karl Graf Pöttickh und Freiherr von Pettenegg, S. 299–311. Vgl. Huber: 100. Todestag, S. 29 f. Vgl. Bandion, Huber: unveröffentlichtes ms. Saalblatt zu: Eduard Karl Borromäus Gaston Graf
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Die nachfolgende biographische Skizze stützt sich weitgehend auf die Überlieferung im Deutschordenszentralarchiv, die grundsätzlich in drei Teile zerfällt: Während die Dokumente im Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit als Ehren-, später als Professritter und der umfänglichen Verlassenschaftssache einen Bereich bilden, sind jene Geschäftsunterlagen aus der Zeit seiner Ordenskanzlerschaft ein weiterer, schließlich lassen sich seine Privatunterlagen, die Genealogica und Diplome der Familie als ein dritter Bereich abgrenzen, sozusagen als nichtamtlicher „Nachlass Pettenegg“. Aufgrund der für das 20. Jahrhundert vielfach unsystematischen Überlieferungsbildung und der überholten Tektonik bildet sich die vorgenommene Einteilung leider kaum in der Bestandsgliederung des Deutschordenszentralarchivs ab. Prosopographischen Forschungen zu Pettenegg stehen ansonsten etwa auch das Archiv des Ahnenprobenexaminators im Wiener Haus-, Hof-, und Staatsarchiv zur Verfügung,8 sowie der Nachlass Pettenegg im Kärntner Landesarchiv.9 In der Bibliothek des Landesmuseums Kärnten befindet sich mit 1857 Nummern der wohl größte Teil seiner ehemaligen Privatbibliothek,10 wobei er bereits zu Lebzeiten daraus Schenkungen machte, etwa für die Heraldisch-Genealogische Gesellschaft „Adler“.11 Diese Vereinigung besitzt ebenso eine noch nicht aufgearbeitete sphragistische Sammlung aus dem Besitz ihres Ehrenmitglieds.12 Eduard Gaston Pöttickh von Pettenegg entstammte einer im 16. Jahrhundert nobilitierten Gutsbesitzer- und Beamtenfamilie aus dem Herzogtum Krain. Kaiser Karl V. verlieh dem fürsterzbischöflich-salzburgischen Rat und Rechtsgelehrten Sebastian Pötickh [sic!] am 9. Februar 1548 den ritterlichen Reichsadel und bestätigte das von jenem und dessen Brüdern geführte Wappen.13 Durch Erzherzog Ferdinand, später Kaiser Ferdinand II., erhielt dann am 11. Februar 1602 Lucas Pöttickh den erbländisch-österreichischen Adelsstand und eine Wappenbesserung.14 1617 als Hauptmann im Friaulischen Krieg übte er danach bis zu seinem Tod das Richter- und Bürgermeisteramt in Laibach aus. Sein Sohn Johann
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und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918). Sammler – Genealoge – Ordensritter, Kabinettausstellung anlässlich seines 100. Todestages, Wien 2018, 2 Seiten. Vgl. HHStA-Hofarchive, Privat und Familienfonde-Oberstkämmereramt-Archiv des Ahnenprobenexaminators Serie G (1875–1918), Karton 1–6. Vgl. KLA 345 Pettenegg, Eduard Gaston, Nachlass. Vgl. Stumfohl: Der Nachlass eines Privatgelehrten, S. 417f. Groß: Pettenegg. Sichtung des Nachlasses, Beilage 2: Recherche in der Bibliothek des Landesmuseums Kärnten, 103 Seiten. Siehe dazu unten Anm. 40. Siehe dazu unten Anm. 41. Das originale Diplom vgl. DOZA, Abt. Varia, 574, Augsburg 1548 Februar 9. Hierzu irrtümlich 1548 Februar 17, vgl.: Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Gräflichen Häuser, 53. Jahrgang (1880), S. 671. Dazu kein Diplom in den Wiener Beständen.
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918)
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Baptist, seit 1643 Rentmeister von Krain, erhielt am 27. April 1655 von Kaiser Ferdinand III. eine neuerliche Verbesserung des Wappens und das Prädikat „von Pötteneck“ sowie das Recht, sich von seinen derzeitigen sowie künftigen Besitzungen nennen und schreiben zu dürfen.15 Dessen Sohn wiederum, Johann Adam Andreas von Pettenegg, Proviantamtsverwalter in Krain, gelang für sich und seine Nachkommen am 5. Februar 1689 die Aufnahme in die Landstände („Landmannsfreiheit“) des Herzogtums Krain.16 Aufgrund seiner Verdienste, u. a. in den Türkenkriegen des Prinzen Eugen, erhob ihn Herzog Ferdinand Carl von Mantua mit Genehmigung Kaiser Leopolds I. noch 1699 in der Primogenitur zum Grafen.17 Johann Adam übte später noch die Funktionen des kaiserlichen Hofkammerrates und -prokurators aus. Dessen Urenkel, den Vater Eduard Gastons, Cal Anton Heinrich Pöttickh von Pettenegg, seinem Amt nach k. k. Landesgerichtspräsident von Krain, erhob Kaiser Franz Joseph am 1. August 1854 in den österreichischen Freiherrnstand und vermehrte das Wappen um die Krone dieses Standes. Die Begründung gibt seine Loyalität und Treue zum Kaiserhaus an, wohl nicht zuletzt aufgrund seiner entschiedenen Haltung in den turbulenten Jahren der Jahrhundertmitte.18 Eduard Gaston selbst erreichte schließlich am 26. Juni 1878 die Bestätigung und Anerkennung des Grafenstandes nach dem Rechte der Erstgeburt als eines österreichischen Grafenstandes, worüber am 21. Juli 1878 ein Diplom erfolgte.19 Das um die Grafenkrone gebesserte Wappen führte Pettenegg als letzter seiner Familie, da mit ihm der gräfliche Stamm erlosch.20 Geboren am 13. Juni 1847 in Schloss Pepensfeld (Fajfarjev grad) bei Laibach (Ljubljana)21 15
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Als besonders bedeutsam dafür wird der tödliche Einsatz des Onkels Georg Pöttickh bei Sissek am 22. Juni 1593 gegen das Heer Hassan Paschas erwähnt. Das originale Diplom im Samtlibell vgl. ebd., 574, Preßburg 1655 April 27. Abschriftlich vgl. ebd. 575, Umschlag „Pettenegg, Standeserhebungen, Ahnenprobe“. Ebd. auch ein weiterer abschriftlicher Beleg aus den ständischen Adelsmatrikeln des Herzogtums Krain in einem separaten Umschlag mit Genalogica. Das originale Diplom vgl. ebd., 574, Mantua 1699 Mai 15. Eine beglaubigte Abschrift auf Pergament des Notars Eduard Edler von Langler vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Wien 1868 Mai 8. Unterlagen zu Carl Freiherr von Pettenegg und weiteren Familienmitgliedern sowie Unterlagen zu Standeserhöhungen, Ahnenproben, auch diverse Abschriften von Diplomen etc. vgl. DOZA, Abt. Varia, 575; das originale Freiherrndiplom im Samtlibell vgl. ebd., 574, Wien 1854 August 1. Das originale Diplom im Samtlibell vgl. DOZA, Abt. Urkunden, Wien 1878 Juli 21. Dazu vgl. auch DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Pettenegg an Landkomtur Risenfels, Wien 1878 September 9. Vgl. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Gräflichen Häuser, 53. Jahrgang (1880), S. 669– 672. Eine Abschrift der Taufmatrikeln nennt „in arce Pepensfeld num[ero] dom[o] 1 in Šiška superiori parochiae ad Sancti Viti M[artyris] prope Labacum“ als Geburtsort, (vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290, Nr. 1317 a u. b, Nr. 1, Pfarrer Blasius Potočnik, Laibach 1868 Dezember 24).
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besuchte Eduard Gaston in Wien bis 1866 das Theresianum und betrieb das Studium der Rechtswissenschaften.22 Den Doktor der Philosophie erwarb er mit einer Untersuchung über Platons Philebos an der Universität Rostock am 20. Februar 1872.23 Weitere akademische Titel verlieh im Papst Leo XIII. mit dem Doctor iuris canonici am 26. Februar 1886 sowie dem Doctor theologiae am 2. Oktober 1893.24 Sie sind im Zusammenhang seiner wissenschaftlichen Tätigkeiten und Forschungsinteressen zu sehen, die ihn ein Leben lang geprägt hatten. Als beispielgebend dafür kann seine Mitgliedschaft in der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft „Adler“ gelten. Pettenegg war zwar nicht Mitbegründer des am 10. Mai 1870 errichteten Vereins,25 trat aber als eines der ersten Mitglieder im Gründungsjahr ein und gehörte seit 9. November 1870 dem Vorstand an. 1883 zunächst als Vizepräsident stand der stets Wiedergewählte dem Verein seit 1891 als dessen Präsident vor.26 Mit 13. Januar 1909 legte er dieses Amt aufgrund seiner Wohnsitzverlegung von Wien nach Krain zurück.27 Bei Bedankung seiner langjährigen Tätigkeit wurde „nicht ohne tiefe Bewegung“ festgestellt:28 Mit dieser Tatsache schließt eine Epoche in der Geschichte des „Adler“ ab, ein Zeitabschnitt, welcher vornehmlich durch die Individualität und das mehr als hervorragende 22 23 24
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Dazu keine unmittelbaren Belege im Deutschordenszentralarchiv, lediglich vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Landkomtur Coudenhove an Hochmeister Wilhelm, Wien 1871 Juni 3. Das originale Diplom vgl. DOZA, Abt. Varia, 575, Rostock 1872 Februar 20. Vgl. DOZA, Abt. Varia, 575, Rom sub dato. Zur Titelführung vgl. Mitglieder-Verzeichnis „Adler“ 1906, S. 2; Hof- und Staats-Handbuch 1905, S. 228. Innerhalb des Ordens wurden die Dr. phil, Dr. iur., Dr. theol. erst ab 1900 geführt, ab 1905 genauer ein Dr. iur. can., (vgl. Rangsliste 1900, S. 18; Rangsliste 1905, S. 22). Als Gründungsmitglied scheint neben anderen auch Friedrich Waldbott Freiherr von Bassenheim auf, ab 30. Juni 1889 Ehrenritter des Deutschen Ritterordens (vgl. Rangsliste 1890, S. 25). Zu den Gründungsmitgliedern vgl. weitere Literatur bei Goldinger: Neunzig Jahre Gesellschaft „Adler“, S. 5, Anm. 3–7. Hinsichtlich des Beginns der Vizepräsidentschaft besteht Uneinigkeit. Während im Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 183, 4. Band, Nr. 3, März 1896, S. 14 vom Jahr 1881 die Rede ist, gibt ebd., Nr. 337, 6. Band, Nr. 37, Januar 1909, S. 292 und die folgende Literatur des „Adler“ (z. B. Goldinger: Neunzig Jahre, S. 7) das Datum mit 1883 an. Explizit als Vizepräsident wird Pettenegg erst ab 2. April 1883 nach der XIII. Generalversammlung bezeichnet (vgl. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 29, [1. Band], März 1883, S. 113). Allerdings wird Pettenegg auch seit 1879 als stv. Vorsitzender geführt (vgl. Neues Jahrbuch, Jahrgang 1945/46, 3. Folge, 1. Band, [S. 1].) Selbiges gilt für die Präsidentschaft, wo in zitierter Literatur sowohl 1892 als auch 1891 genannt wird. Zutreffend ist auch hier das zweite Datum mit 7. Februar 1891 (vgl. ebd., Nr. 123, 3. Band, Nr. 3, März 1891, S. 15). Vgl. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 337, 6. Band, Nr. 37, Januar 1909, S. 291f. Ebd., Nr. 337, 6. Band, Nr. 37, Januar 1909, S. 292.
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Fachwissen des Präsidenten seine Charakterisierung, seinen persönlichen und sachlichen Inhalt empfangen hat.
Die anerkennenden Worte gründen sich nicht zuletzt auf Petteneggs Bemühen um die Publikationen der Gesellschaft, der Heraldisch-Genealogischen Zeitschrift bzw. dem späteren Jahrbuch, welche er in den Jahren 1870 bis 1908 redigierte.29 Die Ende 1880 beschlossene Herausgabe eigener Monatsblätter übernahm Moritz Edler von Weitenhiller,30 später ebenso wie Pettenegg in den Diensten des Deutschen Ritterordens,31 der die Redaktion bis 1890 führen sollte.32 Die wissenschaftlichen und institutionellen Bezüge des „Adler“ mit diesem Orden lassen sich wohl auf deren Verbindungen zurückführen.33 Beispielsweise brachte bzw. besprach die Zeitschrift des Gründungsjahres 1871 unter der Rubrik „Literatur“ sowohl Nedopils „Deutsche Adelsproben aus dem deutschen Ordens-CentralArchive“34 als auch die „Rangsliste“ des Ordens aus jenem Jahr.35 Dazu reihten sich zwei Hochmeister – zunächst Erzherzog Wilhelm, nach dessen Tod 1894 dann Erzherzog Eugen – unter die hohen Förderer der Veröffentlichungen des „Adler“ ein. Auch das zweite Vereinslokal fand ab 1876 in den Räumlichkeiten des Ordens in der Wiener Singerstraße Platz. Die Bibliothek sowie ein möbliertes Sitzungszimmer bildeten bis in das Jahr 1888 das Zentrum des dortigen Vereins.36 Die erste große Ausstellung der Gesellschaft, eröffnet durch Erzherzog Ludwig Victor am 7. April 1878 in den Räumen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (des heutigen MAK),37 wies ebenso auf diesen 29 30 31
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Vgl. ebd., Nr. 183, 4. Band, Nr. 3, März 1896, S. 14; ebd., Nr. 337, 6. Band, Nr. 37, Januar 1909, S. 292; Neues Jahrbuch, Jahrgang 1945/46, 3. Folge, 1. Band, [S. 2]. Vgl. Schroft, Fünfundzwanzig Jahre, S. 6. Moritz Maria Edler von Weittenhiller (18. September 1847–18. Februar 1911) war seit 1. Mai 1888 als Buchhalter für die hoch- und deutschmeisterische Güteradministration und in der Wiener Balleikanzlei tätig. Er wurde im September 1892 dort Vorstand und schließlich als Nachfolger Petteneggs mit 1. Oktober 1898 Kanzler der h. u. d. Geheimen Kanzlei (vgl. DOZA, Abt. Beamte, 609); laut Rangsliste: - für 1889, S. 47 unter h. u. d. Güteradministration als Buchhalter in Wien, - für 1891, S. 48 f. der h. u. d. Central-Kanzlei in Wien zugeteilt, - für 1893, S. 49 D.O. Ballei-Rath, Wiener Balleikanzlei, - für 1898, S. 66 als provisorischer Leiter der (Geheimen) Kanzlei. Zu ihm vgl.: Kahrer: Weittenhiller; Höfken, Krahl: Weittenhiller. Vgl. Schroft, Fünfundzwanzig Jahre, S. 9; Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 183, 4. Band, Nr. 3, März 1896, S. 14. Vgl. Goldinger: Neunzig Jahre Gesellschaft „Adler“, S. 7. Vgl. Heraldisch genealogische Zeitschrift, 1. Jahrgang (1871), Nr. 5, S. 11. Vgl. ebd., S. 53 f. Vgl. Schroft, Fünfundzwanzig Jahre, S. 4, 8. Zur Ausstellung vgl. Hartmann-Franzenshuld: Übersicht.
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Ritterorden hin. Vermutlich hatte Pettenegg bei der Gestaltung des genealogischen Saals maßgeblich mitgewirkt, jedenfalls lieferte er eine Beschreibung desselben im Jahrbuch mitsamt Fotografie. Diese lässt die rückwärtige Wand bis unter die Decke mit Ordensschilden behängt erkennen. Dazu heißt es:38 Die erste dieser Pyramiden, vom Eingange rechts[,] trug die reichgeschnitzten Schilde der Hoch- und Deutschmeister aus dem Hause Habsburg-Lothringen, im Barockstyl, zehn an der Zahl. Die zweite[,] linker Hand, sowie die dritte mit derselben correspondirende, waren mit je 15 einfach bemalten Holzwappenschilden der Deutsch-Ordensritter, welche Statthalter der hoch- und deutschmeisterischen Besitzungen in Mähren und Schlesien mit der Residenz in Freudenthal waren und sämmtlich aus der Ballei Franken entnommen sein mußten. Sie befanden und befinden sich gegenwärtig wieder auf den weitläufigen Gängen des umfangreichen Schlosses zu Freudenthal aufgehangen. Die vierte Pyramide enthielt 24 Aufschwör- und Todtenschilde von Deutsch-Ordensrittern, zumeist aus Mergentheim stammend.
Pettenegg tat sich neben anderen Vereinen, wie etwa dem Kärntner Geschichtsverein,39 besonders für den „Adler“ mit einigen Schenkungen hervor. Von den oftmaligen Buchspenden abgesehen40 übergab er seine, einstmals durch den bekannten Sphragistiker Dr. Melly angelegte Siegelsammlung 1889 dem Verein, der damit die eigene Kunstsammlung bedeutsam erweitern konnte. Sie umfasste einige tausend Gips- und Metallabformungen bzw. -abgüsse sowie Lackabdrücke von mittelalterlichen Typaren.41 Die Notiz im Monats38 39 40
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Pettenegg: Die Genealogie auf der heraldisch-genealogischen Ausstellung 1878, S. 149–157, S. 157; dort auch mit Fotografie. Vgl. Freie Stimmen, 36. Jahrgang, Nr. 99, 30. April 1916, S. 13. Vgl. beispielhalber nur für die Jahre 1901–1903: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 241, 5. Band, Nr. 1, Januar 1901, S. 2; ebd., Nr. 242, 5. Band, Nr. 2, Februar 1901, S. 11; ebd., Nr. 243, 5. Band, Nr. 3, März 1901, S. 26; ebd., Nr. 244, 5. Band, Nr. 4, April 1901, S. 31; ebd., Nr. 245, 5. Band, Nr. 5, Mai 1901, S. 39; ebd., Nr. 248, 5. Band, Nr. 8, August 1901, S. 55; ebd., Nr. 252, 5. Band, Nr. 12, Dezember 1901, S. 73; ebd., Nr. 262, 5. Band, Nr. 2, Oktober 1902, S. 129; ebd., Nr. 268, 5. Band, Nr. 283, April 1903, S. 175f.; ebd., Nr. 281, 5. Band, Nr. 41, Mai 1904, S. 269; ebd., Nr. 286, 5. Band, Nr. 46, Oktober 1904, S. 298; ebd., Nr. 288, 5. Band, Nr. 48, Dezember 1904, S. 319; ebd., Nr. 289, 5. Band, Nr. 49, Januar 1905, S. 331; ebd., Nr. 291, 5. Band, Nr. 51, März 1905, S. 350. Mehrere Buchspenden bspw. auch für 1890, vgl. ebd., Nr. 111, 2. Band, Nr. 51, März 1890, S. 251. Vgl. Schroft, Fünfundzwanzig Jahre, S. 9; Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 115, 2. Band, Nr. 55, Juli 1890, S. 276; Heydenreich: Handbuch, Band 1, S. 156f. Wohl ist damit auch die „SG/48 Pöttickh v. Pettenegg“ gemeint, (vgl. Mache: Die Sammlungen und Nachlässe der Gesellschaft, S. 295). Ob die sich heute im Deutschordenszentralarchiv befindende
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blatt der Gesellschaft über die Verlassenschaft, wie sie ähnlich auch in den Tageszeitungen erschienen war, brachte auch den Hinweis, dass Pettenegg „bereits 1916 einen großen Teil seiner heraldisch-genealogischen Bibliothek […] geschenkweise überlassen“42 hatte. Nach 25-jähriger Zugehörigkeit und aufgrund der besonderen Verdienste ernannte die Gesellschaft u. a. ihn am 12. Februar 1896 zum Ehrenmitglied,43 der Kärntner Geschichtsverein folgte damit 1918.44 Der „Adler“ und v. a. die redaktionellen Tätigkeiten beförderten über Jahre hindurch seine heraldisch-genealogischen Interessen, wovon nicht zuletzt zahlreiche wissenschaftliche Beiträge zeugen.45 Als in den Jahren 1883 bis 1897 das Deutschordenszentralarchiv keinen eigenen Archivar hatte,46 arbeitete er über die dortigen Urkunden und vor allem über die päpstlichen Privilegien. Seine Regesten zu 2964 Urkunden aus der Zeit von 1170 bis 1809 blieben zwar mancherorts fehlerhaft, dienten aber als Grundlage für weitere Forschungen. Daneben befasste sich Pettenegg auch mit sphragistischen Themen im Ordensarchiv,47 wie auch numismatischen.48 Eine besondere Verbundenheit pflegte er zu den Ländern Kärnten und Krain49 und war beispielsweise der erste, der ein über viele Jahrhunderte verehrtes Bild der heiligen Hemma von Gurk historisch identifizieren konnte.50 Neben seinem Engagement für den „Adler“ pflegte der kulturbewusste Graf noch andere Mitgliedschaften: Er war Mitglied des k. k. Archivrates, Mitglied des Kuratoriums des Heeresmuseums, Korrespondent der Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale, Ehrenmitglied des Vereines Herold in Berlin, der Academia araldica in Pisa, der Société
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und bislang unverzeichnete Siegelsammlung mit der erwähnten Sammlung oder ansonsten mit Pettenegg in Zusammenhang steht, ist nicht näher bekannt. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 460, 8. Band, Nr. 28, April 1919, S. 236. Desgleichen erhielten diese Anerkennung auch Friedrich Freiherr von Waldbott sowie Moritz Edler von Weittenhiller, (vgl. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 183, 4. Band, Nr. 3, März 1896, S. 14). Vgl. Reichspost, 25. Jahrgang, Nr. 200, S. 4. Vgl. seine Bibliographie mit zahlreichen Titeln u. a. in den Publikationen des „Adler“ in Anhang 1. Vgl. Arnold: Die Urkunden des Deutschordenszentralarchivs in Wien. Regesten, Teilband 1, S. XXXV. Auf S. XXI ist mit 1893 verschrieben. Die Aufnahme eines Archivars vgl. DOZA, Abt. Großkapitel, 776/17, Resolutiones magistrales vom 26. Juni 1897, 2., bzw. zu den Regesten ebd., S. XXII–XXIV. Zu beiden Titeln siehe die Bibliographie in Anhang 1. Besprechungen der Regesten vgl. Nilles: Gf. von Pettenegg’s Urkundenbuch. In: Analekten, S. 571–580; Wiegand: Pettenegg, Urkunden. In: Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 44, S. 1553f. Ein Ankauf für die Münzsammlung vgl. DOZA, Abt. Archivwesen 8/4 (1893). Vgl. die Beiträge in der Zeitschrift „Carinthia“ in der Bibliographie in Anhang 1. Vgl. Pettenegg: Das angebliche Bild der Seligen Hemma, S. 2–43.
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Suisse d’heraldique in Neuchâtel, Ehrenpräsident des Conseil heraldique in Paris und des Istituto Araldico Italiano in Rom.51 Petteneggs wissenschaftlichem Engagement muss seine Liebe zur Kunst und zum plastischen Schaffen gegenübergestellt werden. Sein Interesse für Kunstgewerbe aller Art und historische Artefakte ähnelt anderen Sammlern seiner Zeit, wie etwa Graf Hans Wilczek oder Graf Karl Lanckoroński. Zeugnisse seiner umfänglichen Sammlung an Mobiliar, Gemälden, Kleinkunst sowie kirchlichen Pretiosen und Japonica sind die Auktionskataloge der Versteigerungen aus den Jahren 1903, 1906, 1913 bzw. 1919 vor und nach seinem Tod.52 Beispielsweise bezeichnete die Presse seine Sakralgegenstände als „die größte Kollektion von Kirchengeräten“ mit einem damaligen Marktwert von 2,5 Mio. Mark.53 Allerdings lässt sich die Sammelleidenschaft auch mit einigen Komplikationen konterkarieren, wenn sie auch erst für seine letzten Lebensjahre belegbar sind.54 Beruflich bildete der kaiserliche Hof eine erste Station: Am 31. Oktober 1875 hatte Pettenegg die k. k.55 Kämmererwürde56 empfangen und in jenem Jahr zugleich in der Nachfolge des Gustav Grafen von Seldern das unbesoldete Ehrenamt eines k. k. Ahnenprobenexaminators im Oberstkämmereramt erhalten.57 Dieses behielt er bis 1906.58 Zu seinen dortigen Aufgaben zählte die Überprüfung von fraglichen Adelsproben für den Hofzutritt, auch für die Kämmererwürde, die k. k. Edelknaben oder den hochadeligen Sternkreuzorden.59 Petteneggs Leistungen als Ahnenprobenexaminator im Oberstkämmereramt würdigte Kaiser Franz Joseph mit einigen Gunstbeweisen: Der Anerkennung des herzoglich51 52
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Vgl. Mitglieder-Verzeichnis „Adler“ 1906, S. 2; Hof- und Staats-Handbuch 1902, S. 1097. Vgl. Japonica-Sammlung, Katalog Helbing München, 1903; Sammlungen Pettenegg, Katalog Dorotheum Wien, 1906; Sammlung aus dem Besitze Pettenegg, Katalog Gebrüder Heilbron Berlin, 1913; Nachlass Pettenegg, Katalog Dorotheum Wien, 1919. Vgl. Neue Freie Presse, Nr. 17516, 30. Mai 1913, S. 9; aus dem zahlreichen Echo in Presse und Fachorganen vgl. bspw. die Ankündigung zur Auktion in Berlin 1913 in: Cicerone, V. Jahrgang (1913), 19. Heft, S. 694f. Verschiedenste Korrespondenzen zu mehreren heiklen Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Person Petteneggs, vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Reservatakt Exzellenz Graf Pettenegg 1906–1911“, z. B. ein Exekutionsbewilligungsbeschluss des k. k. Bezirksgerichts Oberlaibach vom 23. September 1911, Obersthofmarschallamt an Hochmeister Eugen, Wien 1911 September 28. Die folgenden k. k.-Titulierungen werden ab 1890 als k. u. k. geführt, vgl. Hof- und Staats-Handbuch 1890, S. 252, 256. Vgl. DOZA, Abt. Urkunden, Wien sub dato. Die a. h. Entschließung datiert vom 28. Oktober 1875. Vgl. Hof- und Staats-Handbuch 1876, S. 192. Dazu vgl. auch: Godsey: Quarterings and Kinship, S. 65 f. Vgl. Hof- und Staats-Handbuch 1905, S. 228. Siehe dazu oben Anm. 8.
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mantuanischen Grafenstandes im Jahre 187860 folgte am 17. August 1879 die Verleihung des Österreichisch-Kaiserlichen Ordens der eisernen Krone III. Klasse,61 am 14. Juni 1886 promovierte er in die II. Klasse.62 Zuletzt stand die allerhöchste Ernennung zum k. u. k. wirklichen Geheimen Rat mit 3. Januar 1893 an.63 Sein Wunsch, aus dieser Stelle ein Heroldsamt und damit ein eigenständiges Hofamt, vergleichbar jenem in anderen Monarchien, zu schaffen, blieb ihm jedoch verwehrt.64 Eine lebenslängliche Verbindung, die über die rein amtliche Profession hinausging, ergab sich für Pettenegg aus seinen Kontakten mit dem Deutschen Ritterorden. Bereits am 16. April 1871 hatte er bei Landkomtur Maximilian Graf von Coudenhove ein Gesuch um Aufnahme als Ehrenritter eingereicht.65 Nach dem üblichen Prozedere, dem Einverständnis aller Ordenskomture, der Hinterlegung der Ahnenprobe mitsamt dazugehörenden Dokumenten sowie der Bereitschaft zur Erbringung der geforderten Leistungen, ernannte Hochmeister Erzherzog Wilhelm den jungen Eduard Gaston mit 28. Juli 1871 zum Ehrenritter.66 Wie auch bei seiner Ernennung zum k. k. Kämmerer erforderte seine Aufnahme als Ehrenritter eine große Ahnenprobe auf 16 Quartiere,67 die den Voraussetzungen in den geistlichen Ritterorden bzw. Damenstiften und den – bis teilweise in das 19. Jahrhundert hinein – ebenso adeligen Domstiften entsprach.68 Schon im Jahr darauf ventilierte er seinen Wunsch, dem Orden als Professritter anzugehören und war damit der erste Ehrenritter, der diesen Weg wählte.69 Dass bei ihm die militärische Cour fehlte, war zwar kein sta60 61
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68 69
Siehe dazu oben Anm. 19. Vgl. DOZA, Abt. Varia, 575, Schreiben des Oberstkämmerers, Wien 1879 August 22; ebd., Schreiben des Kanzlers der Eisernen Krone, Wien 1879 August 21; ebd., Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Pettenegg an Landkomtur Risenfels, Wien 1879 August 23. Vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Schreiben Nr. 164 der Ordenskanzlei an Pettenegg, Wien 1886 Juni 16. Das Dekret vgl. DOZA, Abt. Varia, 575, Wien 1893 Januar 12. Dort auch weitere zugehörige Akten. Vgl. Pettenegg: Ideen über die Errichtung eines Heroldsamtes in Oesterreich, 1880; Notizen (Hanns Jäger-Sunstenau), S. 529; Hochedlinger: Archivgeschichte, S. 138. Zum Institut der Ehrenritter vgl. Müller: Familiaren, S. 77–87. Das Original vgl. DOZA, Abt. Urkunden, sub dato; abschriftlich vgl. ebd., Abt. Varia, 575, Umschlag „Pettenegg, Standeserhöhungen, Ahnenprobe“. Korrespondenz dazu vgl. ebd. Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Acten die Aufnahme des Herrn Eduard Gaston Freiherrn von Pettenegg als Ehrenritter in den D. R. Orden betreffend“, Hochmeister Wilhelm an Landkomtur Coudenhove, Gmunden 1871 Juli 28. Die genealogischen Unterlagen Petteneggs, die er für die Aufnahme als Ehrenritter in den Deutschen Ritterorden eingereicht hatte, vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290, Nr. 1317 a u. b., Nr. 1–120. Ergänzend dazu vgl. ebd., Abt. Varia, 575. Vgl. dazu im Überblick: Harding, Hecht: Die Ahnenprobe in der Vormoderne; Elverfeldt-Ulm: Adelsrecht im deutschsprachigen Raum, S. 27; Langer: Ahnen- und Adelsprobe. Vgl. Müller: Familiaren, S. 85, Anm. 47.
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tutarisches Hindernis, bildete aber einen ansonsten üblichen beruflichen Hintergrund der Ordensritter. Dennoch fand es sich nirgendwo als Mangel apostrophiert. Eher berechtigte die „bisher an den Tag gelegte Strebsamkeit für seine weitere Ausbildung“ zur Hoffnung, so Großkomtur Freiherr von Vernier, dass er „dem Orden ersprießliche Dienste zu leisten befähigt sei“.70 Nachdem Eduard Gaston am 29. Juni um Aufnahme als Professritter gebeten hatte,71 fing er mit 23. Januar 1873 nach Empfang der heiligen Kommunion in der Wiener Ordenskirche das Noviziat für die Ballei An der Etsch und im Gebirge an.72 Im Jahr darauf konnte er am 26. Januar 1874 die einfachen Gelübde ablegen.73 Am 27. Januar 1877 folgten schließlich, gemeinsam mit Ludwig Graf von Wurmbrand-Stuppach für die Ballei Österreich, in der Wiener Ordenskirche die feierlichen Ordensgelübde mit Erteilung des Ritterschlags.74 Franz Graf Folliot de Crenneville und Hugo Graf von Abensperg und Traun bürgten für den Professen.75 Im Noviziat wies sich der junge Eduard Gaston nach der Ansicht seines Novizenmeisters Leopold Nedopil als einwandfreier Aspirant aus: „Er hat sich zu meiner vollkommenen Zufriedenheit betragen und kann daher bezüglich seiner Aufnahme in den Marianischen Orden […] empfohlen werden.“ Hinsichtlich der entsprechenden Alltagsgestaltung eines geistlichen Ordensritters mag der priesterliche Novizenmeister wohl Auffassungsunterschiede besessen haben, wenn es nur knapp heißt: „Sein Lebenswandel war eingedenk seiner künftigen Bestimmung der Instruktion angemessen.“76 Nicht unbeachtet bleiben sollte auch der halbjährliche Bericht über den Noviziatsfortschritt. Eine erste Version Nedopils vom 13. August 1873 wies der zuständige Landkomtur Landgraf von Fürstenberg als ungenügend zurück und hielt dazu fest:77
70 71 72 73 74
75 76 77
DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Großkomtur Vernier an Statthalter Fürstenberg, Wien 1872 August 3. Vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Pettenegg an Hochmeister Wilhelm, Wien 1872 Juni 29. Vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Landkomtur Coudenhove an Landkomtur Fürstenberg, Wien 1873 Januar 23. Die Rangsliste des Jahres 1875 führt ihn bereits als D. O. Ritter, (vgl. Rangsliste 1875, S. 20). Das Gelöbnis vgl. DOZA, Abt. Urkunden, sub dato (dort auch der Revers des Peter Reichsfreiherrn Wucherer von Huldenfeld). Ebenso vgl. ebd., Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Protokoll des Rezeptionskapitels, Wien 1877 Januar 27. Vgl. DOZA, Abt. Urkunden, Wien 1877 Januar 27. Beide Zitate: DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Nedopil an Landkomtur Fürstenberg, Wien 1874 Januar 16. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Landkomtur Fürstenberg an Nedopil, Tamnitz 1873 August 15.
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918)
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Der Grund der angeordneten halbjährigen Berichte des Novizenmeisters besteht darin, dem Landkomthur die gemachten Beobachtungen über des Novizen Fähigkeiten [Markierungen im Konzept, Anm.], dessen größeres oder geringeres Interesse, das derselbe für Geschichte, Statuten und sonstige Angelegenheiten des Ordens an den Tag legt, endlich über sein sonstiges Wohlverhalten zu berichten […].
Der Hinweis glich mehr einer Zurechtweisung, wenn man beachtet, dass Fürstenberg bereits im Ernennungsschreiben des Novizenmeisters dem Noviziat und der Evaluation desselben große Bedeutung beigemessen hatte:78 Uiber seinen Charakter und sein Verhalten haben Sie mir nach Ablauf der ersten Hälfte, dann am Schluße des Probejahres einen gewissenhaften Bericht zu erstatten und sich zu äußern, ob Sie den Novizen für würdig halten, zur Ablegung der einfachen Ordensgelübde zugelassen zu werden.
Ein zweites, ausführlicheres Zeugnis Nedopils entsprach schließlich den Anforderungen. Dort hieß es, der Kandidat habe während dieser halbjährigen Probezeit pünktlich, ununterbrochen täglich in der hiesigen Ordenskirche der heiligen Segenmesse mit Andacht und Erbauung beigewohnt und in der ihm bestimmten wöchentlichen Stunde der Erklärung der Ordensstatuten und den Vorlesungen über die Ordensverfassung und Geschichte mit Aufmerksamkeit zugehört […]. Mit gleicher Aufmerksamkeit hat der Herr Noviz die ihm zum Nachlesen übergebenen theils geschriebenen, theils gedruckten Bücher aus der Bibliothek die Geschichte und Verfassung des Ordens betreffend durchgelesen und so den Anforderungen entsprochen, welche an denselben in dem zurückgelegten halben Jahre gemacht wurden.79
Im damals für die Ordensritter üblichen Kursus erhielt Pettenegg bis zu seinem Tod verschiedene Kommenden und Ämter in beiden Balleien und auch im Meistertum. Während die Funktionen des Ratsgebietigers oder Großkapitulars theoretisch Mitbestimmungsmöglichkeiten boten, schlug sich der Titel eines Komturs jedoch lediglich auf die Höhe der nach Anciennität gestuften Präbende aus der betreffenden Kommende nieder: Die Rangsliste führt ihn für 1877 als Ratsgebietiger des Meistertums, der er auch bis 1897 blieb, 78 79
DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Landkomtur Fürstenberg an Nedopil, Wien 1873 Januar 14. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Nedopil an Landkomtur Fürstenberg, Wien 1873 August 18.
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und als Hauskomtur von Weggenstein ob Bozen,80 für das Jahr 1878 steht er stattdessen als Komtur zu Sterzing,81 für 1879 schließlich findet sich nicht mehr Sterzing, sondern die Kommende Schlanders.82 Die Rangsliste des Jahres 1880 lässt ihn in die Ballei Österreich wechseln und neben dem bisherigen Ratsgebietiger als Komtur zu Möttling zum Zug kommen.83 In der Ausgabe von 1883 kommt er wiederum in die Ballei Etsch als Komtur zu Lengmoos,84 im Folgejahr 1884 dann als Komtur zu Meretinzen in die Ballei Österreich.85 Einen neuerlichen Wechsel vermerkt der Schematismus von 1888 mit der Titularkommende Küssow in der Ballei Etsch,86 1891 findet sich stattdessen der Komtur von Haugwitz wieder in der Ballei Österreich.87 Neben der Titularkommende Haugwitz steht Pettenegg ab 1893 zusätzlich als Großkapitular vermerkt, mit 1895 auch für das Amt des Ratsgebietigers der Ballei Etsch.88 Die Rangsliste des Jahres 1898 führt ihn weder als Ratsgebietiger des Meistertums noch der Ballei Etsch, dafür als solchen der Ballei Österreich und weiterhin als Komtur zu Haugwitz.89 Davon notiert die Ausgabe von 1905 eine letzte Vorrückung in die Kommende Großsonntag, unter Beibehaltung des Großkapitulars und des Ratsgebietigers in Österreich.90 Finanziell verfügte Eduard Gaston Pöttickh von Pettenegg beispielsweise im Jahr 1911 über eine jährliche Präbende als Komtur von Großsonntag in der Höhe von 15.000 Kronen. Dazu kam die Pension als gewesener Vorstand der Geheimen Kanzlei mit jährlich 8880 Kronen.91 Über Petteneggs langjähriges Wirken innerhalb des Ordens sagt das Wechselspiel der genannten Ämter und innegehabten Kommenden wenig aus. Neben den bereits erwähnten Forschungen im Archiv ist besonders seine langjährige Administration der Ordenszentrale zu erwähnen: Nach einer kurzen Gerichtspraxis am [Wiener?] Landgericht von 4. März bis 7. Juni 1871 betraute ihn Hochmeister Erzherzog Wilhelm ab 14. Juni 1876 mit der Leitung der Ordensgeschäfte in der Hoch- und Deutschmeisterischen Geheimen Kanzlei. Damit trat er die Nachfolge des pensionierten Hofrats Anton Ritter Genser von 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91
Vgl. Rangsliste 1877, S. 17, 20. Vgl. Rangsliste 1878, S. 17, 20. Vgl. Rangsliste 1879, S. 17, 20. Vgl. Rangsliste 1880, S. 17, 18. Vgl. Rangsliste 1883, S. 17, 19. Vgl. Rangsliste 1884, S. 17, 18. Vgl. Rangsliste 1888, S. 18, 22. Vgl. Rangsliste 1891, S. 18, 20. Vgl. Rangsliste 1894, S. 22. Vgl. Rangsliste 1898, S. 18, 19. Vgl. Rangsliste 1905, S. 22, 24. Vgl. DOZA, Abt. Varia, 752, Auszug des Ordenskassiers Karl Wiesecker und des Adjunkts Emanuel Höchsmann, Wien 1911 Oktober 7.
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Fichtenthal92 an93 und behielt diese Funktion bis zu seiner Pensionierung am 1. November 1897.94 Überliefert haben sich aus seiner Zeit als Ordenskanzler insbesondere mehrere römische „Missionen“,95 wo er im hochmeisterlichen Auftrag für den Orden in Rom die Bestätigung der Privilegien oder in Einzelfällen günstige Entscheidungen zu erwirken suchte.96 Unter anderem betraf es etwa die päpstliche Erlaubnis für die Professritter, anstatt der feierlichen nun die einfachen Gelübde abzulegen,97 oder die Unterstellung des Priesterkonvents Lana in Südtirol unter das Priorat Troppau in Schlesien.98 Die Korrespondenzen verdeutlichen sein Auftreten als Ordensritter „Conte di Pettenegg“ und Delegat der habsburgischen Hochmeister, aber auch seine Kontaktpflege und die strategischen Überlegungen, schließlich die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. „Es ist und bleibt eben in Rom die alte Geschichte“, heißt es einmal, „daß [,] wenn man nicht Tag und Nacht seine Angelegenheiten urgiert, nichts gearbeitet wird.“99 An wohl allen seinen Aufenthaltsorten, ob nun Wien, Berlin oder München, ging er auch in Rom seinen antiquarischen und kunstgewerblichen Interessen nach. Als besonders bedeutsam kann etwa der Erwerb des fürstlich-odescalchischen Reliquienschatzes erwähnt werden, der zum größten Teil auf den seligen Papst Innozenz XI.100 zurückgehen soll. In seinem Testament vermachte Pettenegg dem Kärntner Priester Ludwig Wegmann den gesamten Bestand,101 der ihn daraufhin an seinem Wohnsitz, dem Wiener Minoritenkloster, aufbewahrte.102 Beide unterhielten zeitlebens einen regen Briefverkehr.103 Im Vergleich dazu 92 93 94
95
96 97 98 99 100 101 102 103
Zu Genser von Fichtenthal vgl. Müller: Familiaren, S. 88, Anm. 62. Vgl. DOZA, Abt. Beamte, 603, Pettenegg, Zirkulare Hochmeister Wilhelms, Wien 1876 Juli 26. Vgl. DOZA, Abt. Großkapitel, 776/17, Resolutiones magistrales vom 26. Juni 1897, 4. Möglicherweise stand die Übersiedlung der Geheimen Kanzlei von Heumarkt 9 in die Singerstraße 7 mit 1. Juli 1897 damit im Zusammenhang, (vgl.: Ebd., 1.). Umfangreiche Akten finden sich im unerschlossenen Bestand „Reform Ende 19. Jh. 1866–1894“. Weiteres Material dazu vgl. v. a. DOZA, Abt. Priesterkonvente XII/3 (1885–1889), XII/4 (1890– 1894); ebd., Abt. Etsch 86/4; ebd., Varia, 575; Ebd., 783; ebd., Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Reservatakt Exzellenz Graf Pettenegg 1906–1911“. Finanzielle Angelegenheiten die Kanzlei betreffend vgl. DOZA, Abt. Archivwesen, 7/12 (1888) Mit Breve Papst Leos XIII. vom 16. März 1886 erhalten (vgl. DOZA, Abt. Urkunden, Rom sub dato; Pettenegg: Privilegien, S. 26–29). Zu Letzterem vgl. Gasser: Priesterkonvente, S. 248–264. DOZA, Abt. Etsch, 86/4, Pettenegg an Hochmeister Wilhelm, Rom 1890 März 30. Benedetto Odescalchi, als Papst Innozenz XI. von 1676 bis 1689. Vgl. DOZA, Abt. Ritter, 292/12, Nachtrag zum Testament, Klagenfurt 1918 September 24. Dazu zahlreiche Presseberichte, u. a. vgl. Neues Wiener Journal vom 25. März 1932, Nr. 13773, S. 7; Wiener Bilder vom 26. Juni 1932, 37. Jahrgang, Nr. 26, S. 17. Durch Schenkungen von Wolfgang J. Bandion an P. Bernhard Demel für das Deutschordenszentralarchiv sowie zuletzt vom 29. Oktober 2018 und 30. August 2019 befinden sich einige Korrespondenzkarten unter DOZA, Abt. Varia, 575.
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können die Reliquienpartikel aus seiner Sammlung, die heute das Deutschordenszentralarchiv aufbewahrt, nur als kümmerliche Reste bezeichnet werden. Wie bereits am kaiserlichen Hof erfuhr Pettenegg auch in Rom verschiedene Anerkennungen und Gunstbeweise: Neben den bereits erwähnten beiden Doktortiteln verlieh ihm Leo XIII. am 23. Januar 1883 das Großkreuz des päpstlichen Gregoriusordens,104 wie ihn der gleiche Papst am 28. Juli 1885 auch zum Apostolischen Protonotar (ad instar participantium) ernannte.105 Ab 1904/1905 führen die Schematismen anstatt des Protonotars den Titel eines Haus- und Referendarprälaten Seiner Heiligkeit,106 wobei im kirchlichen Gebrauch beide Titel aufrecht blieben.107 Insbesondere mit Leo XIII. scheint durch die römischen Missionen ein guter Kontakt bestanden zu haben:108 Seine Heiligkeit waren auch diesmal wiederholt so gnädig mir gegenüber zu bemerken, daß die Kirche meiner Dienste notwendig bedürfen würde. Eine wo[h]lwollende Anerkennung und Aneiferung, die mich außerordentlich erfreute, da ja der Hl. Vater nichts von mir hat und ich ihn nur immer mit Bitten für andere behelligen mußte.
Durch längere Zeit hindurch erwies sich bei Eduard Gaston der Gedanke tragend, die heilige Priesterweihe zu empfangen. Bereits 1889 erteilte ihm Hochmeister Erzherzog Wilhelm dazu die Bewilligung, Erzherzog Eugen wollte dies 1897 wiederholen.109 Erst am 29. Juni 1903 schließlich ließ er sich in der Hofburgkirche durch den dortigen Pfarrer, Bischof Dr. Laurenz Mayr, zum Priester weihen, nachdem er am 24. die Subdiakonats- und am 25. die Diakonatsweihe empfangen hatte.110 Von der erfolgten Weihehandlung informierte er den Hochmeister und Hofrat Weittenhiller per Telegramm, den österreichischen Landkomtur per Schreiben, wobei sich nichts über die Abhaltung einer Primiz oder die Feier 104 105
Das originale Breve vgl. DOZA, Abt. Varia, 575, Rom sub dato. Das originale Breve vgl. DOZA, Abt. Varia, 575, Rom sub dato. Die Mitteilung darüber vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Pettenegg an Landkomtur Coudenhove, Wien 1885 August 17. 106 Bspw. in der Rangsliste bis inkl. 1904 wird der Apostolische Protonotar geführt, ab 1905 stattdessen ein Haus- und Referendar-Prälat Sr. Heiligkeit (vgl.: Rangsliste 1905, S. 22). Ein Formular eines Weihezeugnisses mit Pettenegg als Weihespender wie auch der Totenzettel nennen nur mehr den Hausprälaten (vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II). 107 Vgl. DOZA, Abt. Urkunden, Rom 1904 November 14. 108 Vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Reservatakt Exzellenz Graf Pettenegg 1906–1911“, Pettenegg an Hochmeister Wilhelm, Rom 1894 Mai 28. 109 Vgl. DOZA, Abt. Großkapitel, 776/17, Resolutiones magistrales vom 26. Juni 1897, 5.). Das Schreiben Hochmeister Wilhelms datiert aus Weilburg 1889 Juli 14. 110 Vgl. Linzer Volksblatt vom 1. Juli 1903, 35. Jahrgang, Nr. 147, S. 4.
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des heiligen Messopfers überliefert hat.111 Wie ebenso in anderen Lebensbereichen Petteneggs verlief allerdings auch sein Streben nach einem geistlichen Amt nicht ohne Komplikationen: Allem Anschein nach hatte er sich über Jahre hindurch als Koadjutor des Erzbischofs Dr. Theodor Kohn in Olmütz gesehen.112 Delikat wurde die Angelegenheit spätestens dann, als Kaiser Franz Joseph den mit ihm verwandten Hochmeister um Aufklärung des Gerüchtes bat, Eugen hätte sich für die Wünsche des Großkapitulars in Rom starkgemacht.113 Dieser konnte nur darauf hinweisen, dass seinerseits auf dessen damalige, wohl 1897 erfolgte Bitten hin lediglich eine Empfehlung für ein Titularerzbistum erfolgt wäre.114 Wie sich später herausstellte, hatte der Neugeweihte gleich am 7. Juli das bereits einige Jahre alte hochmeisterliche Schreiben an Leo XIII. in Rom eingereicht. Der Papst allerdings starb bekanntlich am 20. Juli. Nun kam beinahe zeitgleich mit der kaiserlichen Informationsbitte auch ein Schreiben von Papst Pius X. vom 28. Oktober, in dem jener eine bischöfliche Würde für Pettenegg mit dem Hinweis ablehnte, die Priesterweihe sei gerade erst erfolgt.115 Erzherzog Eugen übermittelte dies alles seinem kaiserlichen Verwandten und versicherte ihm, den diesbezüglichen Velleitäten des Grafen niemals mehr ein geneigtes Ohr schenken zu wollen.116 Schließlich folgte am 14. November 1904 die päpstliche Ernennung zum Titularerzbischof von Damiette,117 „zum größten Erstaunen und zur Überraschung des Ordens“,118 die jedenfalls als besondere Würdigung gelten kann. Bei der Auswahl haben vielleicht zwei Bezüge eine Rolle gespielt: einerseits die Bedeutung jener Stadt zur Zeit der Kreuzzüge, wo auch Ordensmeister Hermann von Salza mit weiteren Rittern im Kampf stand, andererseits die Tatsache, dass den erzbischöflichen Titel von 111 112 113 114
115
116 117 118
Vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Dr. Ed. Gaston Pöttickh Graf von Pettenegg. Acte über dessen Priesterweihe am 29. Juni 1903“. Vgl. Mährisches Tagblatt vom 28. Oktober 1903, 24. Jahrgang, Nr. 246, S. 4. Abschriftlich vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Reservatakt Exzellenz Graf Pettenegg 1906–1911“, Kaiser Franz Joseph an Hochmeister Eugen, Wien 1903 Oktober 26. Abschriftlich vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Reservatakt Exzellenz Graf Pettenegg 1906–1911“, Hochmeister Eugen an Kaiser Franz Joseph, Innsbruck 1903 Oktober 27. „Deinde vero considerantes nuper eum sacerdotio fuisse initiatum, consultius aequius que duximus non admodum susceptum consilium demittere, sed paulo longius differre ne de quotidiana consuetudine, quae in sacro episcopali munere conferendo invaluit, nimium aliquid derogare videremur.“ (DOZA, Abt. Varia, 575, Papst Pius X. an Hochmeister Eugen, Rom 1903 Oktober 28). Wie Anm.113. Dort auch eine deutsche Übersetzung des päpstlichen Schreibens, Rom 1903 Oktober 28. Vgl. DOZA, Abt. Urkunden, Rom sub dato. Die durchgestrichenen Passagen eines Konzepts vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Reservatakt Exzellenz Graf Pettenegg 1906–1911“, Kanzler Weittenhiller an Prokurator Msgr. Georg Jacquemin, Wien 1906 März.
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Damiette Papst Leo XIII. selbst getragen hatte. Eine Bischofsweihe blieb jedoch aus, wodurch alle Ereignisse und Vermutungen zusätzlich zu „Mysterien dieses vielleicht einzigen Falles“119 wurden. Neben den Ehrungen für seine Tätigkeiten bei Hof bzw. am Heiligen Stuhl empfing Eduard Gaston zeitlebens noch weitere, auch ausländische Auszeichnungen. So honorierte König Milan I. seine Vorschläge für das königlich-serbische Wappen sowie für serbische Auszeichnungen (Weißer-Adler-Orden, St.-Sava-Orden) und andere geleistete wissenschaftliche Arbeiten mit dem Großkreuz des königlich-serbischen St.-Sava-Ordens.120 Als Professritter musste er um die Führung aller fremden Ordensinsignien und verliehener Ehrentitel ansuchen. Im Falle der serbischen Auszeichnung erhielt er von Erzherzog Wilhelm am 11. September 1887 die Trageerlaubnis.121 Dazu empfing er 1898 das Großkreuz des kaiserlich russischen St. Annen-Ordens122 und das Ehrenkreuz des Fürstlich-Schaumburg-Lippischen Hausordens.123 Die Gemeinden Friesach sowie Stein am Ritten ob Bozen ernannten ihn zum Ehrenbürger.124 Im Alter zog sich Eduard Gaston Graf und Freiherr von Pettenegg nach Friesach zurück und verfolgte die bereits als Kanzler betriebene Instandsetzung von Ordensspital und Kirche.125 Vom Gotteshaus sprach man als einem „wahren Schmuckkästchen“, dass er „mit zahlreichen, selbst gesammelten Kunstschätzen derart schmückte und bereicherte.“126 Schon zuvor zeigten ihn die Korrespondenzen als einen Kränkelnden, vielleicht auch Enttäuschten.127 Am 1. Oktober 1918 verstarb er in seinem Friesacher Haus. Tages- und 119 120
121 122
123 124 125 126 127
Das Konzept vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Reservatakt Exzellenz Graf Pettenegg 1906–1911“, Kanzler Weittenhiller an Hochmeister Eugen, Wien 1906 März 1. Zum GK vgl. auch: Hof- und Staats-Handbuch 1889, S. 1145; bzw. Reichspost Nr. 356, 28. Dezember 1926, S. 6 (dort aber die Trageerlaubnis ungenannt, vgl. Anm. 121). Die Beteiligung Petteneggs am Entwurf des Wappens bleibt leider ungenannt bei: Cimesa: Heraldik im politischen Alltag Serbiens, S. 309. Vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Pettenegg an Landkomtur Coudenhove, Friesach 1887 September 20. Dazu die Zuschrift des k.k. Ministeriums des Äußeren, Wien 20. April 1898 (vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II). Das kyrillisch verfasste Dekret datiert aus St. Petersburg 1898 Februar 20 (vgl. DOZA, Abt. Varia, 575). Die Erwähnung des GK vgl. auch: Hof- und StaatsHandbuch 1902, S. 1097. Vgl. Hof- und Staats-Handbuch 1902, S. 1097. Vgl. ebd. Zu Petteneggs Tätigkeiten in Friesach vgl. im Überblick: Chronik und Vision, S. 270–272, 275–281 Neue Freie Presse. Nachmittagblatt, Nr. 19446, 14. Oktober 1918, S. 5. Als Beispiel vgl. DOZA, Abt. Ritter, 290/11, Nr. 1317a, Fasz. II, Umschlag „Reservatakt Exzellenz Graf Pettenegg 1906–1911“, Pettenegg an Landkomtur de Fin, [Bergamo?] 1912 März 7. Einige Briefe mit „Buchhalter“ Moritz von Weittenhiller über persönliches und gesundheitliches Befinden vgl. ebd.
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Vereinsmedien brachten seine Todesanzeige,128 ein besonderes Gedenken widmete ihm natürlich der „Adler“:129 Als das bemerkenswerteste Ereignis der Berichtsperiode ist das Ableben des langjährigen früheren Präsidenten der Gesellschaft, Seiner Exzellenz Dr. Eduard Gaston Grafen Pettenegg zu erwähnen […]
Zum Universalerben seines beweglichen Gutes setzte er die Friesacher Ordensschwestern ein, nahm aber in späteren Nachträgen weitere Aufteilungen vor.130 Den Schwestern fielen auch sein Haus in Klagenfurt sowie die Erlöse aus den Versteigerungen des Nachlasses im Dorotheum zu.131 Beispielhalber kann auch die Erbschaft für die Stadtgemeinde Klagenfurt erwähnt werden, welche das ihr Zugefallene testamentarisch „in einem eigenen ,Graf Pettenegg Zimmer‘ im Rathause zu Klagenfurt für immerwährende Zeiten unterzubringen“132 habe. Die bereits erwähnte bedeutsame Reliquiensammlung der Odescalchi befand sich bis zuletzt in seinem Klagenfurter Haus in Schränken aufbewahrt.133 Am 5. Oktober um 10 Uhr fand in der Friesacher Ordenskirche die Beisetzung statt, an der Hochmeister Erzherzog Eugen sowie sein Adjutant und Professritter Graf BoosWaldeck teilnahmen,134 wiewohl der Verstorbene seinen Ordensbrüdern die Beteiligung erlassen hatte.135 Weitere Teilnehmer waren die Bürgermeister Friedrich Freiherr v. Wetzlar mit seinem Stellvertreter Rach aus Klagenfurt und Anton Holzmann mit dem ersten Gemeinderat Pernegger aus Friesach. An Geistlichen haben sich u. a. der Villacher Propst 128
Vgl. bspw. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 454, 8. Band, Nr. 22, Oktober 1918, S. 181; Freie Stimmen, 38. Jahrgang, Nr. 227, 4. Oktober 1918, S. 8. 129 Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 479–480, 8. Band, Nr. 47–48, November-Dezember 1920, S. 324 (anlässlich der 46. Generalversammlung vom 10. November 1918). 130 Unter DOZA, Abt. Ritter, 292 sind zwei umfängliche Faszikel über die Verlassenschaftsabhandlung Petteneggs überliefert. Zum Testament vgl. ebd., Klagenfurt 1918 Februar 2. Weitere, tlw. eigenhändige Testamentsnachträge sind dort angefügt, der ausführlichste, viele Einzelstücke aus seinem Klagenfurter Haus (Schiffgasse 60) betreffend, Klagenfurt 1918 September 24. 131 Vgl. Wiener Salonblatt, 50. Jahrgang, Nr. 16, 19. April 1919, S. 3; DOZA, Ritter, 292. 132 DOZA, Abt. Ritter, 292/12, Nachtrag zum Testament, Klagenfurt 1918 September 15. Weitere Erbschaften für jenes Zimmer sind im Nachtrag zu finden, Klagenfurt 1918 September 24. 133 Vgl. Anm. 100–101. 134 Laut Zeitungsberichten reisten beide direkt von der Südfront an (vgl. z. B. Neue Freie Presse. Nachmittagblatt, Nr. 19446, 14. Oktober 1918, S. 5). Tatsächlich allerdings reiste Eugen von Hohenwerfen über Villach nach Friesach an (vgl.: DOZA, Abt. Ritter, 292, Umschlag „nicht eingetragene Akten der Verlassenschaft Pettenegg“, Erzherzog Eugen an die Geh. Kanzlei (Telegramm), Werfen 1918 Oktober 3). 135 DOZA, Abt. Ritter, 292/12, Testament, Klagenfurt 1918 Februar 2.
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Hermann Atzelhuber und der Abt Bonifaz Ecker von Kloster Tanzenberg bei St. Veit an der Glan eingefunden. Die Totenmesse hielt der Villacher Stadtpfarrer Johann Pleschutznig, Propst des Kollegiatstiftes St. Bartlmä in Friesach,136 wobei der Laibacher Prior und frühere Schwesternsuperior in Friesach, P. Bernard Polak OT, einen ehrenden Nachruf hielt.137 Beigesetzt wurde Pettenegg, gekleidet in die Tracht der Bruderschaft „Santa Maria del Campo Santo Teutonico“138, in der Gruft der Ordenskirche.139 In seinem Testament empfahl er sich der Barmherzigkeit Gottes an und hoffte, „dass Er mir ein gnädigerer Richter sein möge, als es die Menschen waren.“140 Möge sein Wunsch in Erfüllung gegangen sein.
Bibliographie Quellen
Deutschordenszentralarchiv DOZA, Abteilungen: Beamte; Etsch; Großkapitel; Priesterkonvente; Ritter; Urkunden; Varia Haus- Hof- und Staatsarchiv HHStA-Hofarchive, Privat und Familienfonde-Oberstkämmereramt-Archiv des Ahnenprobenexaminators Serie G (1875–1918) Kärntner Landesarchiv KLA 345 Pettenegg, Eduard Gaston; Nachlass
Literatur141
Almanach des katholischen Klerus Oesterreichs. Schematismus, 1. Jahrgang, Wien 1912. Bandion, Wolfgang Johannes/Bernhard Huber: Unveröffentlichtes ms. Saalblatt zu Eduard 136 137
138 139 140 141
Vgl. Almanach des katholischen Klerus Oesterreichs. Schematismus, 1. Jahrgang, Wien 1912, S. 270. Laut Testament vom 2. Februar sollten die infulierten Prälaten ein Pektorale für ihre Teilnahme erhalten haben, wobei im Nachtrag vom 24. September die Rede von Bischöfen und Äbten ist (vgl. DOZA, Abt. Ritter, 292/12, Testamente sub dato). Vgl. DOZA, Abt. Ritter, 292/12, Testament, Klagenfurt 1918 September 24. Vgl. Freie Stimmen, 38. Jahrgang, Nr. 230, 8. Oktober 1918, S. 3 DOZA, Abt. Ritter, 292/12, Testament, Klagenfurt 1918 Februar 2. Die Publikationsorgane des „Adler“, näherhin die Heraldisch genealogische Zeitschrift, das Jahrbuch und das Monatsblatt werden in der Bibliographie Petteneggs (siehe Anhang 1) entsprechend zitiert und daher folgend nicht wiederholt.
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918)
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Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918). Sammler – Genealoge – Ordensritter, Kabinettausstellung anlässlich seines 100. Todestages, Wien 2018, 2 Seiten. Bandion, Wolfgang Johannes/Bernhard Demel: Pöttickh von Pettenegg. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, hg. v. d. Österreichischen Akademie der Wissenschaften, red. v. Eva Obermayer-Marnach, 8. Band, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1983, S. 148–149. Chronik und Vision. Deutsch-Ordens-Spital Friesach, hg. v. Georg Lexer, Erich Wappis, Klagenfurt: Fussi Fachzeitschriften- und Buchverlag, 1998. Cimesa, Milica: Heraldik im politischen Alltag Serbiens und die Bedeutung ihrer mittelalterlichen Symbolik, in: Tagungsbericht des 26. Österreichischen Historikertages Krems/Stein, 24. bis 28. September 2012, hg. v. Reinelde Motz-Linhart, St. Pölten: NÖ Institut für Landeskunde, 2015 (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 35), S. 307-314. Der Cicerone. Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers, hg. v. Georg Biermann, V. Jahrgang (1913), 19. Heft, Leipzig: Klinkhardt & Biermann, 1913. Drobesch, Werner: Eduard Karl Graf Pöttickh und Freiherr von Pettenegg – Deutschordensritter, Heraldiker und Genealoge, Kunstsammler, Sozialaktivist und Wohltäter, Sonderdruck aus: Carinthia I, 204. Jahrgang (2014), Teilband I: Festschrift für Claudia Fräss-Ehrfeld, Klagenfurt: Verlag des Geschichtsvereines für Kärnten, S. 299–311. Elverfeldt-Ulm, Sigismund: Adelsrecht im deutschsprachigen Raum, in: Ders.: Adelsrecht. Entstehung-Struktur-bedeutung in der Moderne des historischen Adels und seiner Nachkommen, Limburg: Starke, 2001, S. (Aus dem Deutschen Adelsarchiv, 1), S. 11-45. Freie Stimmen. Deutsche Kärntner Landeszeitung, 36. Jahrgang, Nr. 99, 30. April 1916. Freie Stimmen. Deutsche Kärntner Landes-Zeitung, 38. Jahrgang, Nr. 227, 4. Oktober 1918. Freie Stimmen. Deutsche Kärntner Landes-Zeitung, 38. Jahrgang, Nr. 230, 8. Oktober 1918. Gasser, Ulrich: Die Priesterkonvente des Deutschen Ordens. Peter Rigler und ihre Wiedererrichtung 1854–1897, Bonn-Bad Godesberg: Wissenschaftliches Archiv Bonn-Godesberg 1973 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 28). Godsey, William D.: Quarterings and Kinship: The Social Composition of the Habsburg Aristocracy in the Dualist Era. In: The Journal of Modern History 71 (März 1999), S. 56–104. Goldinger, Walter: Neunzig Jahre Gesellschaft „Adler“. In: Festschrift zur Neunzigjahrfeier der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft Adler 1870–1960, hg. v. Franz Gall im Auftrag der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft „Adler“, Wien: Selbstverlag 1961, S. 5–15. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Gräflichen Häuser, 53. Jahrgang, 1880. Groß, Ingrid: Eduard Karl Borromäus Gaston Pöttickh Graf und Freiherr von Pettenegg. Sichtung eines Nachlasses, Beilage 2: Recherche in der Bibliothek des Landesmuseums
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Bernhard Huber
Kärnten zur Überprüfung der Vollständigkeit des Nachlasses, Klagenfurt, 20. Juni 2013, 103 Seiten. Harding, Elisabeth/Hecht, Michael (Hgg.): Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion, Initiation, Repräsentation, Münster: Rhema 2011 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 37). Hartmann-Franzenshuld, Ernst Edler von: Übersicht der heraldisch-genealogisch-sphragistischen Ausstellung des Vereines „Adler“ in Wien während der Monate April, Mai und Juni 1878 in den Räumen des k. k. österreichischen Museums, Wien: Selbstverlag des Vereines 1878. Heydenreich, Eduard: Handbuch der praktischen Genealogie, 2 Bände, Leipzig: Degener 19132. Hochedlinger, Michael: Österreichische Archivgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Papierzeitalters, Wien-Köln-Weimar: Böhlau 2013 (Historische Hilfswissenschaften). Hof- und Staats-Handbuch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie für 1876, Wien: k. k. Hof- und Staatsdruckerei 1876 [auch für die Jahre: 1902, 1905]. Höfken, Rudolf von, Krahl, Ernst: Moritz von Weittenhiller. Hofrat und Kanzler des h. Deutschen Ritterordens. Erster Präsident der Österreichischen Exlibris-Gesellschaft. Geb. 1847Gest. 1911. Ein Denkblatt der Verehrung und Freundschaft, Wien 1911. Huber, Bernhard: Zum 100. Todestag des Eduard Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg, in: Deutscher Orden. Zeitschrift 3/2018, S. 29–30. Kahrer, Rosa: Moriz Maria Franz Edler von Weittenhiller (1847-1911). Kanzler des Deutschen Ritterordens, Genealoge und Heraldiker. Leben und Werk eines Wieners der franzisko-josephinischen Epoche, Wien: Univ. Diss. 1988. Katalog der Japonica-Sammlung Seiner Excellenz des k. u. k. wirkl. Geh. Rats Herrn Ed. G. Graf von Pettenegg, Wien, Auktion in München unter Leitung des Kunsthändlers Hugo Helbing, München 1903. Langer, Carl Edmund: Die Ahnen- und Adelsprobe, die Erwerbung, Bestätigung und der Verlust der Adelsrechte in Österreich, Wien: Friedrich Manz 1862. Linzer Volksblatt für Stadt und Land, 35. Jahrgang, Nr. 147, 1. Juli 1903. Mache, Christa: Die Sammlungen und Nachlässe der Gesellschaft. Ein Arbeitsbericht für 2017/2018. In: Adler. Zeitschrift für Genealogie und Heraldik, hg. v. d. Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft „Adler“ in Wien, 29. Band, Heft 6–7, April/September 2018, S. 281–297. Mährisches Tagblatt, 24. Jahrgang, Nr. 246, 28. Oktober 1903. Mitglieder-Verzeichnis der k. k. Heraldischen Gesellschaft „Adler“ in Wien. Nach dem Stande vom 15. März 1906, Wien: Selbstverlag 1906. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, div. Jahrgänge. Müller, Gerard: Die Familiaren des Deutschen Ordens, Marburg: N. G. Elwert 20102 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 13).
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918)
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Nachlass des hochwürdigsten Herrn Titular-Erzbischofes von Damiata Dr. Eduard Gaston Pöttickh-Pettenegg (aus dem Geschlechte der Grafen und Freiherren von Pettenegg), Katalog zur 296. Kunstauktion des Dorotheum Wien, Wien 1919. Neue Freie Presse. Morgenblatt, Nr. 17516, 30. Mai 1913. Neue Freie Presse. Nachmittagblatt, Nr. 19446, 14. Oktober 1918. Neues Jahrbuch der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft „Adler“, Jahrgang 1945/46, 3. Folge, 1. Band, Wien: Selbstverlag 1947. Neues Wiener Journal, 40. Jahrgang, Nr. 13773, 25. März 1932. Neuigkeits-Welt-Blatt, 45. Jahrgang, Nr. 237, 16. Oktober 1918. Nilles, N[ikolaus], Gf. v. Pettenegg‘s Urkundenbuch des deutschen Ritterordens - Canonistisches aus dem D. O. Centralarchiv zu Wien, in: Zeitschrift für katholische Theologie 11, 1887, H. 3, S. 571–580. Notizen (Hanns Jäger-Sunstenau). In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Band 77, Heft 3–4, S. 514–532. Oesterreichischer Wappenalmanach. Wien: Heraldisch-Genealogische Gesellschaft Adler 1970, 1971. Prokisch, Bernhard: Die Münzen und Medaillen des Deutschen Ordens in der Neuzeit, Wien: Österreichische Forschungsgesellschaft für Numismatik, 2006 (Veröffentlichungen des Institutes für Numismatik und Geldgeschichte, 11). Rangs-Liste und Personal-Status des Deutschen Ritter-Ordens für das Jahr 1875, Wien: Verlag der Deutsch-Ordenskanzlei 1875 [Jährliche Ausgabe mit gleichlautendem Titel, verwendet bis 1905]. Reichspost, 25. Jahrgang, Nr. 200, 3. Mai 1918. Sammlungen Sr. Exzellenz des Grafen Gaston Pöttickh v. Pettenegg, Katalog [zur 16.] Kunstauktion des Dorotheum Wien, Wien 1906. Sammlung von Möbeln, Gemälden alter Meister, Miniaturen, Arbeiten in Gold, Silber und anderen Metallen, Stein Holz und Wachs, Porzellanen, Kristall, Stoffen und Spitzen. Aus dem Besitze Sr. Excellenz des hochwürdigsten Herren Dr. Eduard Gaston Pöttickh, Grafen und Freiherrn von Pettenegg, Erzbischof von Damiata, seiner K. K. apostolischen Majestät geheimen Rates und Kämmerers usw., usw., Katalog Nr. 44 Berliner Kunstauktionshaus Gebrüder Heilbron, Berlin, 1913. Schroft, Richard: Fünfundzwanzig Jahre. Ein kurzer Rückblick auf Entstehen und Wirken der Gesellschaft. In: Festschrift zur fünfundzwanzigjährigen Gründungsfeier der k. k. Heraldischen Gesellschaft „Adler“ in Wien 1870–1895, Wien: Selbstverlag, 1896, S. 1–14. Stumfohl, Rotraud: Der Nachlass eines Privatgelehrten am Ende des 19. Jhdts. in der Bibliothek des Landesmuseums Kärnten. In: Rudolfinum – Jahrbuch des Landesmuseums für Kärnten, 2001 und 2002, S. 417–418.
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Bernhard Huber
Wiegand, Wilhelm: Pettenegg, Die Urkunden des Deutsch-Ordens-Centralarchives zu Wien, Wien 1887. In: Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 44, 29. Oktober 1887, S. 1553–1554. Wiener Bilder, 37. Jahrgang, Nr. 26, 26. Juni 1932. Wiener Salonblatt. Internationale illustrierte Wochenschrift für Gesellschaft, schöne Künste, Mode, Sport und Finanzwesen, 50. Jahrgang, Nr. 16, 19. April 1919.
Anhang 1 Bibliographie Pettenegg – Aufsätze, Monographien und ungedruckte Manuskripte142
Das angebliche Bild der Seligen Hemma. In: Carinthia I. Mitteilungen des Geschichtsvereines für Kärnten, 107. Jahrgang, Heft 1–4 (1917), S. 2–43. Die Ainkhürn. In: Der Deutsche Herold, 41 (1910), S. 52–56. Die von seiner Majestät dem Kaiser Franz Josef I. verliehenen Märkte- und Städte-Wappen. In: Festschrift zum fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläum (1848–1898) Seiner kaiserl. und königl. Apostolischen Majestät Franz Josef I., hg. v. d. historischen Vereinen Wiens, Wien: Selbstverlag des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich 1898, S. 37–57. Eine Fahne aus dem 18. Jahrhundert. In: Carinthia I. Mitteilungen des Geschichtsvereines für Kärnten, 108. Jahrgang, Heft 1–6 (1918), S. 58 f. Einleitung zu: Ströhl, H. G.: Heraldische Vorlagen für den Zeichenunterricht in Kunstgewerbeschulen, Gewerbe- und Fortbildungs-Schulen, Stuttgart: Hoffmann 1910 [dazu vgl. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 241, 5. Band, Nr. 1, S. 10]. Ignaz Johann Freiherr v. Waßner, ein kärntnischer Diplomat des 18. Jahrhunderts. In: Carinthia I. Mitteilungen des Geschichtsvereines für Kärnten, 106. Jahrgang (1916), S. 14–19. Aufsätze und Monographien in der Bibliothek des Deutschordenszentralarchivs
Zwei Linden- und ein Lilien-Siegel. In: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 13, Januar 1882, [1. Band], S. 50–51. Ein Wappenzeugniss aus dem 14. Jahrhunderte. In: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 12, Dezember 1881, [1. Band], S. 47. Sphragistische Mittheilungen aus dem Deutsch-Ordens-Centralarchive, Frankfurt: W. Rommel 1885. Sphragistische Mittheilungen aus dem Deutsch-Ordens-Centralarchive, Wien: Selbstverlag des Verfassers 1884. 142
Vorliegender Anhang versucht eine erstmalige Zusammenstellung der Publikationen und Manuskripte sowie Vorträge Petteneggs zu geben und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918)
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Sphragistische Curiosa aus dem Deutsch-Ordens-Centralarchive. In: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 38, Februar 1884, [1. Band], S. 150–152. Sphragistische Mittheilungen aus dem Deutsch-Ordens-Centralarchive. In: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 39, März 1884, [1. Band], S. 154–155. Sphragistische Mittheilungen aus dem Deutsch-Ordens-Centralarchive. In: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 41, Mai 1884, [1. Band], S. 162–163. Sphragistische Mittheilungen aus dem Deutsch-Ordens-Centralarchive. In: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 42, Juni 1884, [1. Band], S. 166–167. Sphragistische Mittheilungen aus dem Deutsch-Ordens-Centralarchive. In: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 44, August 1884, [1. Band], S. 175. Sphragistische Mittheilungen aus dem Deutsch-Ordens-Centralarchive. In: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 46, Oktober 1884, [1. Band], S. 182–183. Sphragistische Mittheilungen aus dem Deutsch-Ordens-Centralarchive. In: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 48, Dezember 1884, [1. Band], S. 190–192. Das Siegel des Domcapitels zu Wien, in: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 184, 4. Band, Nr. 5, Mai 1896, S. 30–32. Geschichte des Wappens der Stadt Wien. In: Geschichte der Stadt Wien, hg. v. Alterthumsvereine zu Wien, red. v. Heinrich Zimmermann, mit 20 Tafeln und 102 Textillustrationen, 2. Band (Von der Zeit des Landesfürsten aus habsburgischem Hause bis zum Ausgange des Mittelalters), 1. Hälfte, Wien: Adolf Holzhausen 1900, S. 1–34. Heraldisches aus Rom. In: Jahrbuch der k. k. heraldischen Gesellschaft „Adler“, Neue Folge, 3. Band (1893), S. 1–8. Das Grabmal der Gertrud Heustadlin von Kag [+ 1506] (Mit einer Textillustration). In: Jahrbuch der k. k. heraldischen Gesellschaft „Adler“, Neue Folge, 4. Band (1894), S. 179–181. Zwei Wappenbriefe aus dem 15. Jahrhundert. In: Jahrbuch der k. k. heraldischen Gesellschaft „Adler“, Neue Folge, 4. Band (1894), S. 182–184. Eine heraldische Tischdecke des XVII. Jahrhunderts (mit 1 Lichtdrucktafel)- In: Jahrbuch der k. k. heraldischen Gesellschaft „Adler“, Neue Folge, 16. Band (1906), S. 130–134. Über heraldische Bucheinbände, ihre Binder und Freunde. In: Jahrbuch der k. k. heraldischen Gesellschaft „Adler“, Neue Folge, 11. Band (1901), S. 55–79. Titel und Wappen des Herzogs von Reichstadt. In: Jahrbuch der k. k. heraldischen Gesellschaft „Adler“, Neue Folge, 10. Band (1900), S. 320–326. Zur Epitaphik von Tirol. In: Jahrbuch des Heraldisch-genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 1. Jahrgang (1874), zugleich: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 4. Jahrgang (1874), S. 31–58. Zur Epitaphik von Tirol. Separat-Abdruck aus dem Jahrbuch 1874 des heraldisch-genealogischen Vereines „Adler“, Wien: Selbstverlag des Verfassers, 1874.
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Bernhard Huber
Die Herren von Aufenstein. Ein Beitrag zur österreichischen Geschichte im 14. Jh. In: Jahrbuch des Heraldisch-genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 2. Jahrgang (1875), zugleich: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 5. Jahrgang (1875), S. 1–56. [Unvollständig, 2. Teil nur als Sonderdruck erschienen]. Die Herren von Aufenstein. Ein Beitrag zur österreichischen Geschichte im 14. Jahrhundert. Sonderdruck aus: Jahrbuch des Heraldisch-genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 2. Jahrgang (1875), zugleich: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 5. Jahrgang (1875), Wien: Dirnböck, 1875. Die Genealogie auf der heraldisch-genealogischen Ausstellung 1878. In: Jahrbuch des Heraldisch-genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 6. und 7. Jahrgang (1881), zugleich: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 9. und 10. Jahrgang (1879–1880), S. 149–157. [Dort auch zahlreiche Aufschwörschilde, ehemals aus der Mergentheimer Schlosskirche stammend, vgl. ebd., S. 157]. Ideen über die Errichtung eines Heroldsamtes in Oesterreich, Wien: Eigenverlag des Verfassers, 1880. Die Privilegien des Deutschen Ritter-Ordens. Bestätigt und durch neue vermehrt vom Papste Leo XIII. Nebst einem Anhange aller diesem Orden von den Päpsten Clemens III. bis Clemens XIII. sowie Pius IX. verliehenen Privilegien, Indulte, Freiheiten und Ausnahmen, deren Originale im Deutsch-Ordens-Central-Archive zu Wien verwahrt werden, Wien: Selbstverlag des Ordens, 1895. Anhang. Das Wappen „Neu-Oesterreich“. In: Jahrbuch des Heraldisch-genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 9. Jahrgang (1882), zugleich: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 12. Jahrgang (1882), S. 113–118. Das Stammwappen des Hauses Habsburg. Separat-Abdruck aus der Festschrift der historischen Vereine Wiens, Wien: L. W. Seidel & Sohn, 1883. Das Stammwappen des Hauses Habsburg. In: Festschrift zur sechshundertjährigen Gedenkfeier der Belehnung des Hauses Habsburg mit Oesterreich. Von den historischen Vereinen Wiens, Wien: Selbstverlag des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich, 1882, S. 133– 212. Das Stammwappen des Hauses Habsburg. In: Blätter des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich, Neue Folge, 16. Jahrgang (1882), Wien: L. W. Seidel & Sohn, 1882, S. 443–522. Das Stammwappen des Hauses Habsburg, Wien 1883. In: Jahrbuch des Heraldisch-genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 9. Jahrgang (1882), zugleich: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 12. Jahrgang (1882), S. 87–112. Die Urkunden des Deutsch-Ordens-Centralarchives zu Wien in Regestenform, 1. Band: (1170– 1809), Prag-Leipzig: F. Tempsky u. G. Freytag, 1887.
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918)
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Zur Genealogie des Hauses Rohan. In: Jahrbuch des Heraldisch-genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 9. Jahrgang (1882), zugleich: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 12. Jahrgang (1882), S. 1–4. Zur Genealogie des Hauses Rohan, Wien: Verlag des heraldischen Vereines „Adler“, 1883. Die Freiherren Schirndinger von Schirnding (böhmische Linie). Mit 5 Stammtafeln und vier Ahnentafeln. In: Jahrbuch des Heraldisch-genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 8. Jahrgang (1881), zugleich: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 11. Jahrgang (1881), S. 43–53. Die Freiherren Schirndinger von Schirnding (böhmische Linie), Wien: Verlag des Verfassers, 1882. Ueber das „Sancti Christophori am Arlperg Bruederschafts-Buech“, nebst einer kurzen Geschichte der Heraldik in den deutsch-österreichischen Erblanden als Einleitung dazu. In: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 1. Jahrgang (1871), Nr. 4, S. 37f., Nr. 5, S. 46f., Nr. 6, S. 57–59, Nr. 8, S. 75f.; 2. Jahrgang (1872), Nr. 4, S. 51–54, Nr. 5, S. 68–71. Genealogia des Uralten Löbl. Herrngeschlechts der Herrn von Scherffenberg auf Hohenwang und Spilberg. Durch Valentinum Preuenhueber zusammengetragen anno 1646. In: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 1. Jahrgang (1871), Nr. 11, S. 107–109, Nr. 12, S. 127–129; 2. Jahrgang (1872), Nr. 1, S. 1–5. Zu den Grabdenkmälern von St. Peter und Nonnberg zu Salzburg, In: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 3. Jahrgang (1873), Nr. 3, S. 54–56, Nr.4, S. 75–77. Ein Ortenburg’sches Siegel, In: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 3. Jahrgang (1873), Nr. 8, S. 154. Die Hael in Tirol, In: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 3. Jahrgang (1873), Nr. 9, 164–166. Ein Blatt aus dem St. Christofs-Bruderschafts-Buche am Arlberg. In: Jahrbuch des Heraldischgenealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 2. Jahrgang (1875), zugleich: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 5. Jahrgang (1875), S. 143. [Als Herausgeber:] Ludwig und Karl Grafen und Herren von Zinzendorf. Minister unter Maria Theresia, Josef II., Leopold II. und Franz I. Ihre Selbstbiographien nebst einer kurzen Geschichte des Hauses Zinzendorf. Mit zwei Porträts und zwölf Stamm-Tafeln, Wien: Wilhelm Braumüller 1879.
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Bernhard Huber
Vorträge Petteneggs „Über heraldische Bucheinbände, ihre Binder und Freunde“, am 6. Februar 1901 im Residenzhotel, Teinfaltstraße 6, anlässlich der Monatsversammlung des „Adler“ (vgl. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 242, 5. Band, Nr. 2, Februar 1901, S. 11). „Reisefrüchte“, am 15. März 1905 im Residenzhotel, Teinfaltstraße 6, anlässlich der Generalversammlung des „Adler“ (vgl. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 291, 5. Band, Nr. 51, März 1905, S. 349). „Über Aristokratische Domcapitel“, am 7. Februar 1900 im Residenzhotel, Teinfaltstraße 6, anlässlich der Monatsversammlung des „Adler“ (vgl. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 230, 4. Band, Nr. 50, Februar 1900, S. 501). „Heraldisches aus Rom“, am 5. Februar 1887 im grünen Saal der kais. Akademie der Wissenschaften in Wien, Universitätsplatz 2, anlässlich der Generalversammlung des „Adler“ (vgl. Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 74, 2. Band, Nr. 14, Februar 1887, S. 53).
Kleinformen, (evtl. Pettenegg zuzuordnen)143 Deutsch-Ordens-Ritterschlag, in: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 1. Jahrgang (1871), Nr. 4, S. 40–43. [Ritterschlag ohne Autorenangabe auch in: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 3. Jahrgang (1873), Nr. 2, S. 38 f.]. Etymologie des Wortes Siegel, In: Heraldisch genealogische Zeitschrift. Organ des heraldisch genealogischen Vereines „Adler“ in Wien, 1. Jahrgang (1871), Nr. 2, S. 18. Die schwarze Ecke, in: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 266, 5. Band, Nr. 26, Februar 1903, S. 170; ebd., Nr. 294, 5. Band, Nr. 54, Juni 1905, S. 384; ebd., Nr. 206, 4. Band, Nr. 26, Februar 1898, S. 272. Anfragebeantwortung in: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 295, 5. Band, Nr. 55, Juli 1905, S. 392. Rezension zu Rudolf v. Larisch: Über Leserlichkeit von ornamentalen Schriften, Wien: Anton Schroll 1904, in: Monatsblatt der kais. kön. Heraldischen Gesellschaft „Adler“, Nr. 291, 5. Band, Nr. 51, März 1905, S. 357.
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Verbirgt sich hinter dem Kürzel „G. P.“ der Name Gaston Pöttickh/Pettenegg? Im Register des Monatsblattes verweisen Seitenangaben auf „Pettenegg“, dort findet sich nur das Autorenkürzel „G. P.“. Auch aufgrund der Aufsatzthemen scheint es plausibel.
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918)
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Manuskripte und Typoskripte im Kärntner Landesarchiv (AT-KLA 345 Pettenegg, Eduard Gaston; Nachlass)144
Das angebliche Bild der Seligen Hemma Das Abbild des deutschen Michels Heraldisches aus Rom Grabsteine in der Stadtpfarrkirche in Villach Die aristokratischen Domkapitel Über heraldische Bucheinbände Titel und Wappen des Herzogs von Reichsstadt Geschichte des Wappens der Stadt Wien Das Stammwappen des Hauses Habsburg Städte-Märktewappen von Kaiser Franz Joseph I., 1848–1898 verliehen Reisefrüchte Ahnenproben Grabmal von Habsburg in St. Paul Zur Neueren Genealogie Italiens Eine heraldische Tischdecke Publikationen in der Bibliothek des Landesmuseums Kärnten145
Stammwappen des Hauses Habsburg (Wien 1882) Stammwappen des Hauses Habsburg (Wien 1883) Stammwappen des Hauses Habsburg (Wien 1883) Die Freiherrn Schirndinger von Schirnding (böhmische Linie) (Wien 1882) Geschichte des Wappens der Stadt Wien (1900) Gutachten zum Lippischen Thronfolgestreite bezüglich einiger Missheiraten in diesem Hause Ideen über die Errichtung eines Heroldsamtes in Österreich (Wien 1880) Ludwig und Carl, Grafen von Zinzendorf (Wien 1879) Sphragistische Mitteilungen aus dem deutschen Ordens- Central-Archiv (Wien 1884) Zur Epytafik von Tirol (Wien 1875)
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Laut freundlicher Mitteilung des Kärntner Landesarchivs (KLA-WISS-1863/1-2020 [002/2020]). Vgl. Groß: Pettenegg. Sichtung des Nachlasses, Beilage 2: Recherche in der Bibliothek des Landesmuseums Kärnten, S. 67.
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Anhang 2
Halbfigur Petteneggs als Professritter des Deutschen Ritterordens mit dem Stern zum Großkreuz des Päpstlichen Ritterordens des heiligen Gregors des Großen und der Dekoration des Ritterordens der Eisernen Krone II. Klasse. Wien, Fotografie, nach 1886
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918)
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Porträtmedaille auf Eduard Karl Gaston Graf und Freiherr von Pettenegg als Professritter des Deutschen Ritterordens. Von der Medaille gibt es mindestens zwei Versionen, die sich nur im Revers unterscheiden: Einmal wird ein Balkenkreuz als Deutschordenskreuz verwendet, die andere Version zeigt es mit geschwungenen Enden
Avers: Bruststück als Professritter. Zu den Orden vgl. Bildlegende auf S. 572. Zusätzlich wird die Schärpe des Großkreuzes des Päpstlichen Ritterordens des heiligen Gregors des Großen getragen. Umschrift: ED(UARDUS) CAROL(US) CASTO CO- Eduard Karl Gaston Graf von Pettenegg, Großkapitular MES A PETTENEGG ORDINIS TEUTONICI des Deutschen Ordens und Ratsgebietiger An der Etsch MAGNUS CAPITULARIS DOM(INUSQUE) sowie des Meistertums und Komtur A(THESIAE) CONS(ILIARIUS) MAGISTERII ET COMMENDATOR
Zur Umschrift: Prokisch ergänzte die Kürzungen „DOM. A. CONS.“ mit „Dom(us) A(ustriae) Cons(iliarius)“ und sieht damit den Ratsgebietiger der Ballei Österreich gemeint. Dies kann aber nicht zutreffen, da Pettenegg bis 1897 Ratsgebietiger des Meistertums war und erst 1898 dieses Amt in der Ballei Österreich übernahm. Außerdem ließ Prokisch die Nennung des Meistertums außer Acht. Der Begriff „Domus“ ist für den gesamten Orden bzw. die einzelnen Häuser überliefert, nicht aber als Bezeichnung einer
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Ballei. Bei Auflösung mit „DOM(INUS)“ ergibt sich eine plausiblere Übersetzung für den Ratsgebietiger. Da in der Reihe der Ordenstitel auf der Umschrift die Ballei An der Etsch fehlt, bringt der obige Vorschlag die Kürzung „A.“ damit in Zusammenhang. Revers (nicht abgebildet): gräfliches Wappen Pettenegg auf Deutschordenskreuz, Umschrift: Discite iustitiam moniti et non temnere divos
Seid gemahnt, lehrt Gerechtigkeit zu üben und die Götter nicht zu verachten (Vergil, Aeneis, Buch 6, Vers 620)
[Wien], zwischen 1895 und 1897 Bronze, Durchmesser: 12,5 cm Herkunft: Schenkung aus der Sammlung Wolfgang J. Bandion Literatur: Prokisch: Münzen und Medaillen, S. 348f. (Schatzkammer des Deutschen Ordens, Münzsammlung)
Wappenschild des Eduard Karl Borromäus Gaston Pöttickh Graf und Freiherr von Pettenegg als Titularerzbischof von Damiette. Nach 1904. Eisen, farbig bemalt, Maße: 63 x 47 cm
Eduard Karl Borromäus Gaston Graf und Freiherr Pöttickh von Pettenegg (1847–1918)
Ganzfigur in bischöflicher Kleidung. Wien, Fotografie, nach 1904
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Einige Beobachtungen zur tschechoslowakischen Bodenreform 1918–1938 auf den Besitzungen des Deutschen Ordens1 Ernst Bruckmüller
1. Der Ordensbesitz
Die Besitzungen des Deutschen Ordens im Bereich der Tschechoslowakei wurden zumeist im 17. Jahrhundert erworben. Die Herrschaft Freudenthal (Bruntal) wurde 1620 als Rebellengut von Kaiser Ferdinand II. eingezogen und 1621 an den damaligen Hochmeister (Erzherzog Karl) verkauft; Troppau (Opava) wurde 1634 dem Orden zurückgegeben, dort gab es schon früher einen Ordenssitz. Mährisch-Eulenberg (Sovinec) wurde 1623 angekauft, Busau 1696.2 Im 18. und 19. Jahrhundert wurden einige weitere Güter erworben, sodass der Ordensbesitz in der Tschechoslowakei zum 1. 1. 1919 24.555,7216 ha ausmachte.3 Dieser Besitz unterstand dem Hochmeister direkt („Meistertum“), also nicht einer Ordensprovinz, einer „Ballei“.
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Mit dieser kleinen Miszelle darf sich der Unterzeichnete den Glückwünschen für seinen um den Deutschen Orden hoch verdienten Freund Wolfgang Bandion anschließen. – Gleichzeitig ist er dem früheren geschäftsführenden Archivar des Deutschen Ordens, dem jetzigen Hochmeister, Se. Gnaden P. Frank Bayard, und dem im Archive selbst in steter „stabilitas loci“ weilenden Dr. Friedrich Vogel für die Bereitstellung des Materials herzlichst zu Dank verpflichtet. Der Aufsatz ging aus einem Vortrag im Rahmen der Familiarenorganisation des Deutschen Ordens hervor. Eine ältere Version erschien unter dem Titel „Marginalien zur tschechoslowakischen Bodenreform in der Zwischenkriegszeit. Am Beispiel der Besitzungen des Deutschen Ordens“ in der Festschrift für Werner Ogris, hg. v. Thomas Olechowski et al., Wien 2010. Bernhard Demel, Der Deutsche Orden in der ČSR 1918–1939, in: Demel, Der Deutsche Orden einst und jetzt. Aufsätze zu seiner mehr als 800jährigen Geschichte (= Europäische Hochschulschriften Reihe III, Bd. 848), hg. v. Friedrich Vogel, Frankfurt usw. 1999, 303–334, hier 303–306. Deutsch-Ordens-Zentral-Archiv (künftig: DOZA), Wien, Karton 134, maschinschriftliche Aufzeichnung über die Verkleinerung des Deutschordens-Grundbesitzes durch die „Bodenreform“ vom 16. April 1928, gezeichnet vom Oberforstrat Fr. Ullmann.
Einige Beobachtungen zur tschechoslowakischen Bodenreform 1918–1938
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2. Bodenreform, Zwangsverwaltung, Beschlagnahme
Bis 28. Oktober 1918 lagen die Güter des Meistertums in Mähren und ÖsterreichischSchlesien im österreichischen Teilstaat der Habsburgermonarchie. Ab diesem Tag lagen sie in einem neuen Staat, der Tschechoslowakei. Dieser neue Staat wurde von der Entente als Krieg führender Staat und somit als Verbündeter gegen die Mittelmächte anerkannt, stand also auf der Siegerseite. Die Stimmung in der jungen Tschechoslowakei war gekennzeichnet vom Stolz, zu den Siegern zu gehören und die Freiheit vom habsburgischen Joch erlangt zu haben, von überschwänglichem Nationalismus, von einer optimistischen Grundstimmung, aber auch von lebhaften sozialen Forderungen, die nicht zuletzt aus der Erfahrung vieler ehemaliger (tschechischer) Kriegsgefangener in der Russischen Revolution resultierten. Das Verlangen nach Bodenreform stand dabei im Vordergrund. In einem Land, in dem der Großgrundbesitz traditionell eine so bedeutende Rolle gespielt hatte, nicht ganz unverständlich. Die Fürstenhäuser Schwarzenberg, Liechtenstein, ColloredoMannsfeld, Fürstenberg, Lobkowitz, Kinsky, Thurn und Taxis, Windisch-Graetz (usw.), die gräflichen Geschlechter Waldstein, Czernin, Clam-Gallas, Harrach und viele andere, daneben die Erzbistümer Olmütz und Prag verfügten über riesige Besitzungen. Zu den Latifundienbesitzern (10.000 ha oder mehr) wurde auch der Deutsche Ritterorden gezählt.4 Diesen Großgrundbesitzer wehte ein scharfer Wind ins Gesicht: Der neue Staat war antihabsburgisch und antikatholisch ausgerichtet, er deklarierte sich als Nationalstaat der Tschechen und Slowaken, und er versuchte, die gehobenen sozialen Positionen des „deutschen“ bzw. (in der Slowakei) „ungarischen“ Adels bzw. großen Grundbesitzes möglichst zu schwächen. Der Deutsche Orden stand da sozusagen in jeder möglichen Schusslinie – wegen seines „deutschen“ Namens, wegen des erzherzoglichen Hoch- und Deutschmeisters (Erzherzog Eugen5) und als kirchliche Institution. Dass aber der erste Eingriff in die Eigentumsrechte des Ordens ausgerechnet auf der Basis einer Verordnung der kaiserlichen Regierung aus dem Jahre 1916 (RGBl. 1916/245, 29. Juli) erfolgte, gehört schon zu den Treppenwitzen der Weltgeschichte. Jene Verordnung ermöglichte die zwangsweise Verwaltung von Unternehmungen und Vermögenschaften, die „feindlichen Ausländern“ gehörten. Schon am 9. November 1918 erging das Verbot der Veräußerung, Verpfändung oder Belehnung des landtäflichen Großgrundbesitzes. Am 10. März 1919 erschien in Freudenthal eine Abordnung des tschechoslowakischen Ackerbauministeriums wegen Einführung der Zwangsverwaltung auf den Hoch- und Deutschmeisterlichen Gütern aufgrund des RGBl. 245 aus 1916. Alle 4 5
Roman Sandgruber, Österreichische Agrarstatistik 1750–1918 (Wien 1978), 235 f. Der letzte Ritterhochmeister des Ordens, Erzherzog Eugen von Österreich (1863–1954), ein Enkel des Erzherzogs Karl, bekleidete dieses Amt von 1894 bis 1923.
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Kassen und Ämter waren zu übergeben, die Beamten auf den tschechoslowakischen Staat anzugeloben. Als Zwangsverwalter wurde Karl Peyer, Ökonomiebeamter, eingesetzt, als Forstbeamter Josef Šeplavy.6 Kaum war dieser erste Schock vorüber, erfolgte bereits der nächste. Am 16. 4. 1919 erließ die provisorische Nationalversammlung der Tschechoslowakei das Gesetz über die Bodenreform. Es deklarierte die Beschlagnahme des Großgrundbesitzes über 150 ha (Ackerland) bzw. 250 ha (Forst), mit Ausnahmebewilligung konnten bis zu 500 ha von der Bodenreform ausgenommen werden.7 Über Urbarialgemeinden und Kompossessorate sollte ein besonderes Gesetz erlassen werden.8 Durch die Beschlagnahme erlangte die tschechoslowakische Republik das Recht, den beschlagnahmten Besitz zu übernehmen und zuzuteilen. Personen, die nach bürgerlichem Recht zur Bewirtschaftung der beschlagnahmten Besitzungen berechtigt waren (also die bisherigen Eigentümer bzw. Pächter), „sind in Hinkunft zu dessen ordentlicher Bewirtschaftung verpflichtet“ – man durfte die beschlagnahmten Güter also auch nicht verkommen lassen. Veräußerung und Verpachtung, Belastung und Teilung bedurften der behördlichen Zustimmung. Hinsichtlich der Entschädigung wird auf ein eigenes Gesetz verwiesen. Eine Beschreibung des „Vorgang(s) bei der Durchführung der sogenannten Bodenreform“, verfasst aus der Sicht des betroffenen Deutschen Ordens in den späteren 1920er Jahren, sah am Beginn des ganzen Vorganges eine über Weisung des staatlichen Bodenamtes einen durch die ordentlichen Gerichte vorgenommenen „Vermerk der beabsichtigten Übernahme“ in den Grundbüchern bzw. in der Landtafel; davon wurde auch der Eigentümer verständigt. Der konnte darauf die Ausscheidung einzelner Teile (bis maximal 500 ha) beantragen. Wurde die Kündigung eines beschlagnahmten Gutsbestandteiles ausgesprochen, erfolgte die Enteignung und Übernahme durch das Staatsbodenamt; gleichzeitig wurde der Verkaufswert von 1913/1915 geschätzt – das war die Grundlage der 6
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DOZA, Karton 134, „čs. Gesandtschaft – Bodenreform“, maschinschriftliche Nachricht, am 12. März durch Boten in Wien eingelangt. – In späteren Erlässen wurde allerdings das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917 als Rechtsgrundlage für diese Eingriffe genannt – also auch ein altösterreichisches Gesetz, das ja auch in der Geschichte der Republik Österreich noch späterhin für einige Regierungshandlungen am Parlament vorbei verwendet werden konnte. Diese Berufung auf österreichische Gesetze der Jahre 1916 und 1917 wird übrigens in der Literatur zum Thema, insbes. in der äußerst materialreichen Olmützer Dissertation von Jarmila Šuránová (s. Anm. 13) nicht erwähnt. Kurz und prägnant informiert über die tschechoslowakische Bodenreform Alice Teichová, Kleinstaaten im Spannungsfeld der Großmächte. Wirtschaft und Politik in Mittel- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit (Wien 1988), 45–47. Sicherheitshalber wurde in einem Schreiben des Bodenamtes in Prag vom 20. Mai 1920 festgestellt, dass es sich im Falle der Besitzungen des Deutschen Ordens nicht um Kompossessorate handelte. Vgl. DOZA, Karton 134, „čs. Gesandtschaft – Bodenreform“, Mappe „Bodenreform“
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Entschädigung. Da die Tschechische Krone um 1920 gerade noch den Wert eines Zehntels der Friedenskrone hatte, erlitt der Eigentümer dabei von vornherein einen Verlust von 90 %. Die Entschädigung erfolgte aber erst nach Begleichung aller Steuerschulden und einer Vermögensabgabe, „die zumeist den Zuteilungspreis aufzehrt“.9 Entschädigungslos wurden die Habsburger und „Angehörige feindlicher Staaten“ enteignet – beides für den Deutschen Ritterorden durchaus drohende und bedrohliche Formulierungen. In einigen Nachfolgestaaten bestand ja die Auffassung, es handle sich beim Deutschen Orden um einen Ehrenorden des Hauses Habsburg, deshalb falle sein Vermögen den neuen Staaten zu. Das traf freilich, nach den Veränderungen des 19. Jahrhunderts (Neuschaffung von Priesterkonventen und Schwesterhäusern, päpstliche Anerkennung dafür) kirchenrechtlich nicht mehr zu.10 In Troppau war man jedenfalls im Juni 1920 der Meinung, dass „die Sache gar nicht rosig stehe“. Hintergrund dieses Pessimismus: Das tschechoslowakische Bodenamt (das die Güterverteilung vornahm) gab an die Bezirkshauptmannschaften Freudenthal und Römerstadt einen Erlass hinaus, nach welchem die Güter des Deutschen Ordens „nicht Kirchengut und Ordensgut“ seien, sie würden daher vom Bodenamt aufgeteilt, nur mit der Einschränkung, dass das Ackerbauministerium seine Einwilligung zu geben habe.11 Wie diese Beschlagnahme samt Zwangsverwaltung tatsächlich aussah, wird aus den Akten nur teilweise deutlich. So teilte der Verwalter Bruchschlögl am 3. Dezember 1921 mit, dass 26.000 KČ zur freien Verfügung stünden, 170.000 bis 180.000 für die Ordensanstalten, für Dezember sollten es 218.000 sein.12
9 10
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DOZA, Karton 134, „čs. Gesandtschaft – Bodenreform“, „Vorgang bei der Durchführung des sogenannten Bodengesetzes“ Bernhard Demel, Der deutsche Orden im Spiegel seiner Besitzungen und Beziehungen in Europa (= Europ. Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 961), Frankfurt/M. usw. 2004, Schlesien und Mähren S. 379–537, verweist auf die Wiederbelebung des Priester- und Schwesterninstituts durch den Hochmeister Erzherzog Maximilian Joseph: 1855 wurde der erster Priesterkonvent zu Lana in Südtirol gegründet, 1866 jener in Troppau; die von P. Peter Rigler entworfenen Konventsregeln wurden 1866 von kaiserlicher, 1871 von päpstlicher Seite approbiert. Seit 1858 existierte ein eigenes Knabenseminar des Ordens in Eulenberg. In dieser Zeit wurden auch sieben Pfarren dem Orden inkorporiert und zunehmend mit Ordenspriestern besetzt. – Zur rechtlichen Situation des Ordens vor und nach 1918 folgt Weiteres unten. DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft Bodenreform“, darin Papiermappe „Zwangsverwaltung“, hier die entsprechende Abschrift. DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft Bodenreform“, darin Papiermappe „Bodenreform“, hier das zitierte Schreiben.
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3. Die Reaktion des Ordens
Der Orden betonte unablässig, dass er eine rein religiöse Institution sei. So wird in einer maschinschriftlichen Zusammenfassung vom 14. Juli 1920 festgehalten: „Der Deutsche Ritterorden ist ein von Kirche (zuletzt mit päpstlicher Bulle ddo. Rom, 16. März 1886) und Staat (mit kaiserlichem Patente ddo. Wien, 28. Juni 1840) anerkanntes selbständiges geistliches Institut. Seine Mitglieder sind Religiose.“13 Es war ein glücklicher Zufall, dass der Orden in der Tschechoslowakei einen nicht unbedeutenden Politiker in seinen Reihen hatte: P. Robert Schälzky, Abgeordneter, Mitglied des Klubs der Deutschen Christlichsozialen Volkspartei, für die er im Senat (dem Oberhaus) saß.14 Unter anderem setzte er sich auch erfolgreich für die Vorlage und Verabschiedung eines Rentengesetzes für Alte oder Invaliden ein.15 Er teilte am 17. 1. 1921 eine Äußerung des Präsidenten des Bodenamtes nach Wien mit, die doch wieder gewisse 13
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DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft Bodenreform“, Aufstellung vom 5. Juli 1920. – Hier auch der damalige Status: „In Österreich: unversehrter Bestand. In Italien (Südtirol): unversehrter Bestand. Im Königreiche der Serben, Kroaten und Slowenen: unter Zwangsverwaltung. In der Tschecho-Slowakei: unter Zwangsverwaltung.“ Johann (P. Robert) Schälzky (1882–1948), aus Braunseifen (Ryžovište) in Mähren, trat 1903 in den Deutschen Orden ein, studierte Theologie in Brixen; nach der Priesterweihe (1907) Kooperator in Freudenthal (Bruntál), Katechet in der Bürger- und Mittelschule, seit 1929 Pfarrer und Dechant. 1909 bis 1921 war er Präses des katholischen Volksvereins, 1914–1922 stv. Diözesanpräses für Jugendarbeit, 1918–26 Obmann der Deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei in Mähren-Schlesien, 1919–21 Vizebürgermeister von Freudenthal, 1920–1925 Abg. im Prager Parlament, ab 1927 Präsident des Volksbundes deutscher Katholiken in Mähren und Schlesien; ab 1926 in führenden Ordenspositionen bei der Umwandlung des Ordens in einen rein klerikalen Orden (1929) tätig, 1936 zum Generaloberen gewählt, als Hochmeister inthronisiert und zum Abt geweiht. Nach der Enteignung und Auflösung des Ordens in Troppau konfiniert, wurde er 1942 vom Papst bestätigt. Trotz seiner Gegnerschaft zu Nationalsozialismus wurde er Anfang 1946 nach Österreich abgeschoben und versuchte von Wien aus, den Orden zu sammeln und auf ein neues Fundament zu stellen. Er starb in Lana bei Meran. Vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. X (Wien 1994) (Bernhard Demel), 26. – Zu Schäzlky ferner Jarmila Šuráňová, Vztah Československé Republiky a Němenckého Řádu panny Marie Jeruzalémské v letech 1923–1939 (Die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakischen Republik und dem Orden vom Deutschen Haus St. Mariens in Jerusalem in den Jahren 1923–1939), Olomouc, phil. Diss., 2015; diese Arbeit sollte unbedingt übersetzt werden, um die gründlichen Archiv-Forschungen der Autorin der deutschsprachigen Forschung zugänglich zu machen. Wichtig auch Michael Horák, Enteignung – Transformation – Neufindung: Der Weg des Deutschen Ordens vom Ritterorden zum Klerikalinstitut in der Tschechoslowakischen Republik in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, DA theol. Fakultät, Wien 2012. Vgl. ferner Jakub Jirovec, Zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus: Der Deutsche Orden in der Tschechoslowakei 1945–1952, theol. Diss. Wien 2019, insbes. S. 51–55 Demel, Der Deutsche Orden in der ČSR 1918–1939, 307 f.
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Hoffnungen wecken konnte. Danach sollte der Orden nachweisen, dass er trotz der Aufhebung des Adels noch existenzberechtigt sei, „daß er noch seinen Zweck erfülle und in der Tschechoslowakei eine rechtliche Leitung habe.“16 Die Fragen des Bodenamtes der Tschechoslowakischen Republik vom Februar 1921 an das Prager Ministerium für Unterricht und Volkskultur lauteten daher auch wie folgt: 1. Ist der Deutsche Orden bei Aufhebung des Adels noch existenzberechtigt? 2. Erfüllt der Orden noch seinen Zweck? 3. Hat er in der Tschechoslowakischen Republik eine rechtliche Leitung? In Wien nahm dazu der Archivrat Dr. Vinzenz Schindler Stellung. Er ging auf die drei Punkte ausführlich ein: Zu 1: Der Deutsche Orden ist ein selbständiges geistlich-ritterliches Institut, zuletzt von Papst Leo XIII. mit einem Breve vom 16. März 1886 in aller Form bestätigt, 1894 den Maltesern gleichgestellt. Das Gesetz über die Aufhebung des Adels berühre die Existenzfähigkeit nicht: Jetzt, im Februar 1921, stünden acht Ritter ca. 100 Priestern und 350 Ordensschwestern gegenüber; auch bei „Erledigung des ritterlichen Elements“ bleibe das geistliche bestehen. Zu 2: Der Orden sei bestimmt zu Mildtätigkeit und Nächstenliebe. Er unterhalte daher gemeinnützige Wohlfahrtsanstalten wie Spitäler, Hospitale, Pfründerhäuser und Kinderbewahranstalten. Zu 3: Die Leitung des Deutschen Ordens in der Tschechoslowakischen Republik obliegt dem Prior des Priesterkonvents in Troppau, der im Namen des Ordensoberhauptes zur Ordensvertretung in spritualibus et temporalibus bevollmächtigt ist.17 Dieses Schreiben ging an den Unterrichtsminister in Prag, an Bischof P. Norbert Klein von Brünn (der spätere erste Priesterhochmeister war damals der letzte noch vom Kaiser ernannte Bischof von Brünn!)18 und an den Prior P. Hubert Hanke in Troppau. 16 17 18
DOZA Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“, darin Papiermappe „Zwangsverwaltung“, in dieser die genannte Mitteilung. DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“, darin „Papiermappe Bodenreform“, Konzept Schindlers vom 10. Februar 1921 Johann (P. Norbert) Klein (1866–1933) stammte (wie Schälzky) aus Braunseifen (Ryžovište) in Mähren, aus einem Ort mit beträchtlichem Besitz des Ordens. Nach Theologiestudium, Eintritt in den Deutschen Orden 1887 und mehreren Positionen in der Pfarrseelsorge wurde er 1916 Bischof von Brünn (Brno), 1921 Großkapitular des Deutschen Ordens, Stellvertreter des Hochmeisters und Generalvisitator, am 30. 4. 1923 Koadjutor, am 21. 5. 1923 Hochmeister. Im Dezember desselben Jahres resignierte er als Bischof von Brünn, führte aber die Diözese bis 1926 als apostolischer Administrator. Seit Juli 1926 Residenz in Freudenthal (Bruntál). Unter seiner Leitung hatte sich
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Offenbar war diese Argumentation nützlich, denn etwa ein Jahr später wandte sich der Zwangsverwalter, Karl Peyer, an den Archivrat Schindler in einer „persönlichen Angelegenheit“. Peyer wurde offensichtlich klar, dass die Zwangsverwaltung bald ein Ende haben würde und bemühte sich vermutlich um eine Weiterverwendung; er ist aber beim „Bischof“ (wohl Klein) gescheitert, obwohl er doch, dank der „Verbindungen, die ich in Prag habe“, dem Orden so nützlich gewesen sei und verhindert habe, dass noch größere Gutsbestandteile zur Verteilung gelangt wären.19 Aber die Gefahr war noch keineswegs gebannt. Am 29. November 1922 richtete der tschechische Abgeordnete, Univ.-Prof. Dr. Karel Engliš, eine Interpellation an den Ackerbau- ebenso wie an den Innenminister bezüglich des Deutschen Ordens.20 Engliš war kein No-name-Hinterbänkler, sondern ein bedeutender Wissenschaftler und ein wichtiges Mitglied der politischen Klasse.21 Er stützte sich auf ein ausführliches Rechtsgutachten von Miloslav Stieber22, der zu dem Schluss gekommen war, dass die ČSR den Besitz des Deutschen Ordens jedenfalls sofort und zur Gänze einziehen könne. Engliš verweist auf ein Hofdekret von 1840, nach welchem nur ein Habsburger zum Hochmeister gewählt werden könne. Das Ordensvermögen galt demnach als Lehen vom Hause Österreich. Bei Aufhebung des Lehensbandes 1867 sei nur der Deutsche Ritterorden davon ausgenommen worden (!).23 Diese Gesetze seien nach
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der Orden mit zentralen Existenzfragen auseinanderzusetzen. 1925 und 1927 wurde in Verträgen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei, Italien und dem SHS-Staat festgehalten, dass der Orden als geistlicher Orden nicht unter die Bestimmungen des Art. 273 (Möglichkeit der Aufteilung des Eigentums von aufgelösten Organisationen unter die Nachfolgestaaten) falle; 1929 erfolgte die päpstliche Anerkennung des jetzt ausschließlich geistlichen Ordenscharakters. Vgl. Art. Klein Norbert in: Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. III, 1965 (2. unveränderte Aufl. 1993), 384 (Bernhard Demel) DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“, Papierumschlag „Zwangsverwaltung“, Brief Peyers vom 22. 3. 1922 Eine Übersetzung ins Deutsche in DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“ Karel Engliš (1880–1961) stammte aus Hrabin (Hrabyň) im ehemaligen Bezirk Troppau (also aus jener Gegend, in welcher der Orden seine Besitzungen hatte), studierte in München und Prag (1903 Dr. iur.), war dann Beamter des Statistischen Landesamtes in Prag, zeitweilig auch im Wiener Handelsministerium tätig. Er habilitierte sich ziemlich jung und wurde 1911 Professor für Nationalökonomie an der tschechischen Technik in Brünn (Brno), ab 1919 an der neuen MasarykUniversität in Brünn und deren erster Rektor. Vor 1918 mährischer Landtagsabgeordneter war er 1918 bis 1925 Abgeordneter der Nationaldemokratischen Partei im Prager Parlament, mehrfach tschechoslowakischer Finanzminister (1920 bis März 1921, Dezember 1925 bis September 1928, Februar 1929 bis April 1931), von 1934 an Gouverneur der tschechoslowakischen Nationalbank. Miloslav Stieber, Němectí rytíři dobré zdání, Praha 1921 Tatsächlich galt der Deutsche Orden bis 1918 als „selbständiges geistlich-ritterliches Institut unter
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wie vor in Kraft, da die ČSR den gesamten Rechtsbestand des alten Österreich übernommen habe. Der Hochmeister habe nach dem Kriege unter Missachtung dieser Gesetze (!) Priester in das Ritter-Kapitel aufgenommen und ihnen das Stimmrecht verliehen; dieses so veränderte Kapitel habe am 3. Oktober 1922 in Basel eine wesentliche Änderung der Statuten beschlossen, in Richtung eines rein geistlichen Ordens. Diese Änderungen sollten sofort durchgeführt werden, wenn einer der Nachfolgestaaten das Ordens-Vermögen beschlagnahmen wolle. Außerdem dränge das geistliche Element darauf, dass der Hochmeister resigniere. Der Interpellant bezweifelt, dass es möglich sei, ein staatliches Gesetz (das Hofdekret von 1840!) einfach durch einen Kapitelbeschluss zu ändern. – Ferner gestatte die Zwangsverwaltung die Überweisung von 25.000 tschechischen Kronen monatlich nach Wien, zur Erhaltung der dortigen Beamtenschaft. Das sei freilich ganz unnötig, denn der Orden besitze in Wien das bekannte Palais am Parkring, das Deutsche Haus in der Singerstraße und drei Zinshäuser am Rennweg. – Und nun kommt es ganz dick: Die čechoslowakische Republik habe das unbestrittene Recht, das ganze Vermögen des Deutschen Ritterordens sofort und ohne Entschädigung zu beschlagnahmen und als Staatseigentum zu erklären, weil das Oberlehenseigentum (Dominium directum) dieses Besitzes in der Hand des österreichischen Kaisers gelegen sei, das Nutzungseigentum (Dominium utile) in der Hand des ehemaligen Erzherzogs Eugen. Beide seien Habsburger, und deren Besitz sei nach dem Friedensvertrag von St. Germain ohne Ersatz zugunsten der čechoslowakischen Republik verfallen. Außerdem sei der Ordensbesitz als erledigtes Lehen mangels eines Lehensherrn ebenfalls an die Republik – als Rechtsnachfolgerin des Lehensherrn – gefallen. Und nicht zuletzt beruhe die ganze Einrichtung auf dem Adelsrechte, und da der Adel aufgehoben sei, sei damit auch der Orden erledigt. Außerdem sei die von der Staatsverwaltung verhängte Zwangsverwaltung für den Staat keineswegs von Vorteil. Also wurde der Minister interpelliert, ob er das alles denn nicht wisse. – Um den Ackerbauminister Šramek, einen Priester, der die katholische Agrarpartei leitete,24 mit
24
dem Band eines unmittelbaren kaiserlichen Lehens“, vgl. Demel, Der Deutsche Orden im Spiegel seiner Besitzungen, 418. Jan Šrámek, 1870–1956, Dr. theol., Monsignore (usw.), christlichsozialer Gewerkschafts- und Genossenschaftsgründer, Raiffeisen-Funktionär, 1906 Abg. zum mährischen Landtag (bis 1918), 1907 zum Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrates. Führender Funktionär der christlichen tschechischen Turnvereinigung „Orel“. Nach Vereinigung der beiden katholischen tschechischen Parteien 1918 Präsident der tschechoslowakischen Volkspartei, seit 1921 durchwegs Minister (z. B. 1921–22 Eisenbahnminister, 1922–25 Minister für öffentliches Gesundheitswesen, 1925/26 für Post- und Telegraphenwesen, 1926 bis 1929 für soziale Fürsorge), 1926 bis 1929 stellvertretender Ministerpräsident, leitete er in dieser Funktion die Regierung 14 Monate lang. Ministerpräsident der tschechoslowakischen Exilregierung in London. Nach dem kommunistischen Putsch 1948 verhaftet, starb er im Gefängnis.
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Gegenargumenten zu versehen, reiste Dr. Schindler nach Prag, wo P. Robert (Schälzky) jene dem Minister persönlich überreichte. Diese Argumente gingen, wie stets in diesen Jahren, in die Richtung, im Orden sei das ritterliche Element nur mehr ganz unbedeutend, die seelsorgliche und insbesondere karitative Arbeit stehe im Vordergrund usw. (diese Argumentationslinie wird uns noch mehrfach begegnen)25 Im April 1923 wurde die Zwangsverwaltung vom Ackerbauministerium dem Bodenamt übergeben, im Juli 1924 jedoch aufgehoben und durch die Einführung einer „dauernden Aufsicht“ ersetzt. Nun konnte der Orden immerhin die Wirtschaft wieder selber führen. Aber die Bodenreform sollte erst so richtig anlaufen.26 Inzwischen war der vom Abgeordneten Prof. Engliš, der offenbar ausgezeichnet informiert war, angesprochene Wechsel an der Ordensspitze tatsächlich vor sich gegangen. Nach der Resignation des letzten habsburgischen Hochmeisters, des Erzherzogs Eugen, wurde der Brünner Bischof P. Norbert Klein zum Hochmeister gewählt (30. 4. 1923), der am 27. 9. 1923 in Freudenthal inthronisiert wurde.27 Aber auch durch diesen Wechsel an der Spitze waren die Bedrohungen noch nicht vorüber. 1925 braute sich wieder etwas zusammen. In Wien intervenierte man im Bundeskanzleramt, das damals auch die auswärtigen Geschäfte führte. Am 9. Juli 1925 antwortete der Gesandte Wildner28: Es seien Schritte des österreichischen Gesandten in Prag – Ferdinand Marek29 – unternommen worden. Marek sei bei Beneš gewesen, der ihm zugesagt habe, die Angelegenheit an kompetenter Stelle studieren zu lassen. Er „präzesierte (sic) aber sofort seinen prinzipiellen Standpunkt, der dahin geht, daß die Durchführung der innerstaatlichen Bodenreform durch außenpolitische Einflüsse oder Rücksichten im Prinzip nicht gefährdet werden dürfe. Es sei also keine Aussicht vorhanden, daß die Güter des Deutschen Ritterordens in der Tschechoslowakei von der Bodenreform verschont 25
26
27 28
29
DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“, Brief Schindlers an P. Prior v. 13. April 1923; hier wird auch die im nächsten Absatz (Anm. 24) berührte Übergabe der Zwangsverwaltung an das Staatliche Bodenamt (17. 4. 1923) angesprochen. DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“, Zl. 61.403/24-II/6. Angelegenheit Großgrundbesitz des Deutschen Ritterordens in Olmütz (Prag 18. Juli 1924). Hier wird übrigens die Einführung der Zwangsverwaltung mit dem Gesetz vom 24. VII. 1917, RGBl. 307, also dem kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz argumentiert. Demel, Der Deutsche Orden in der ČSR 1918–1939, hier 310. Es ist nicht klar, ob es sich um Clemens (1892–1965) oder um Heinrich Wildner (1879–1957) handelt, beide standen im diplomatischen Dienst, der Letztere war seit 1922 Leiter der Wirtschaftspolitischen Abteilung des BKA – Auswärtiges Amt. Eher wohl dieser. Ferdinand Marek (1881–1947?) war während der gesamten Zeit der Ersten Republik österreichischer Vertreter in Prag, von 1922 bis 1938 als Gesandter, von 1938 bis 1945 lebte er in Prag (ohne Pension), nahm im Frühjahr 1945 sofort wieder die Interessen Österreichs wahr, wurde aber schon am 23. Mai 1945 von den Sowjets verschleppt und verstarb in sowjetischer Gefangenschaft.
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bleiben. Die Ausländer könnten in dieser Hinsicht nicht günstiger behandelt werden als die Inländer. Anders liege die Frage etwaiger Konzessionen, namentlich in finanzieller Hinsicht, über die man werde gewiß reden können. – Auch eine in derselben Sache geführte Unterredung unseres Gesandten mit dem Präsidenten des staatlichen Bodenamtes Dr. Viškovsky zeitigte kein anderes Resultat. Herr Dr. Viškovsky bemerkte, daß nur hinsichtlich des Waldbesitzes des Deutschen Ritterordens eine Intervention möglicherweise erfolgreich sein könnte, weil das staatliche Bodenamt an den Wäldern nicht interessiert sei. Allerdings bestehe in dieser Hinsicht ein Interesse des Ackerbauministeriums, und da wäre zur gegebenen Zeit ein Einschreiten vielleicht opportun. Was den Landwirtschaftsbesitz anbelangt, so könne er kaum Konzessionen machen. Der Artikel 273 des Staatsvertrages von St. Germain könne nicht so ausgelegt werden, daß der Landbesitz des Deutschen Ritterordens vielleicht von der allgemeinen innerstaatlichen Bodenreform auszunehmen wäre(...).“30 Am 1. September 1925 wurde das noch unterstrichen. Zwar sei die tschechoslowakische Regierung nicht dagegen, dass Erträgnisse der in der Tschechoslowakei gelegenen Güter des Ordens auch zur Bestreitung von Auslagen für die in den anderen Nachfolgestaaten gelegenen Einrichtungen verwendet werden, sofern der Orden seine finanziellen Verpflichtungen dem tschechoslowakischen Staat gegenüber erfülle. Aber diese Besitzungen seien allen Gesetzen dieses Landes, daher auch der Bodenreform, unterworfen.31 1927 wandte sich der Archivar des Ordens in Wien, Dr Schindler, in einem sehr interessanten Schreiben an Bundeskanzler Ignaz Seipel. Schindler erinnerte an das Patent von 1840, nach welchem die österreichische Regierung auch „beständiger Schutz- und Schirmherr“ des Ordens sei. Nunmehr gehe man, im „Vollzuge des unseligen č.slov.Bodenreform-Gesetzes vom 16. April 1919“, daran, den landwirtschaftlichen Boden des Ordens zu beschlagnahmen. Das sei eine Vorwegnahme der Durchführung der Bestimmungen des Artikels 273 des Staatsvertrags von St. Germain, wonach die Verteilung des Eigentums von Vereinigungen, das durch die neuen Grenzen zerteilt werde, durch Sonderabkommen zu regeln sei, was aber bisher nicht geschehen sei.32 Diese Intervention ist ein bisschen rätselhaft, denn tatsächlich hatten sich Österreich und die Tschechoslowakei ja schon im Dezember 1925 darauf geeinigt (der Vertrag trat im Juni 1926 in Kraft), dass der Deutsche 30
31 32
DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“. Bundeskanzleramt, Auswärtige Angelegenheiten Zl. 97.985-234 vom 7. Juli 1925. Betreff: Deutscher Ritterorden, Güterkonfiskation in der Tschechoslowakei DOZA, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“, Bundeskanzleramt, Auswärtige Angelegenheiten, Zl. 106.030/14 Li, gleicher Betreff wie Anm. 28 DOZA, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“, handschriftliches Konzept Schindlers, adressiert an Se. Exzellenz, Herrn Dr. Ignaz Seipel, Bundeskanzler.
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Orden ein „geistlicher Orden“ sei, dessen Vermögen einer Regelung nach Art. 273 St. Germain nicht unterliege.33 Am 1. März 1928 schreibt jemand (wohl Schälzky) auf dem Briefpapier des Klubs der Abgeordneten und Senatoren der Deutschen christlichsozialen Volkspartei an den Hochmeister (Bischof Norbert Klein), er habe eine Vorsprache bei Minister Šramek gehabt, mit dem Zweck „vor der drohenden Aufkündigung“ über die Erhaltung des Ordensbesitzes zu sprechen. Der Minister habe ihm aber mitgeteilt,„... dass er das Schicksal der geistlichen Waldbesitze sich vorbehalten habe und derzeit die Regelung des Olmützer Waldbesitzes vorhabe. Er gedenkt aus politischen Gründen nach Prag, Olmütz und so weiter erledigen zu lassen, so dass der Deutsche Orden jetzt überhaupt noch nicht darankommt.“ Auf die Einwendung, dass die Aufforderung zur terminierten Übergabe des Waldbesitzes zufolge eingelangter Information bereits auf dem Wege sein soll, erwiderte er, dass diese amtliche Zuschrift durch seine Hände gehen muss und er einen solchen Antrag jetzt sistieren würde. Als „äußerste Möglichkeit“ wurde vom Schreiber dieser Zeilen die Abtretung der Waldkomplexe in Busau und Hrabin in Erwägung gezogen.34 Dem Minister wurde ein Aide mémoire überreicht, in dem sich bereits wörtlich viele jener Formulierungen finden, die 1929 Eingang in eine hochinteressante gedruckte Broschüre gefunden haben.
4. Ein Buch, ein Besuch und seine Folgen.
Das Buch trägt den Titel: „Kurze Übersicht über die Tätigkeit des Deutschordens in der čechoslowakischen Republik in den letzten Jahren“. Als Erscheinungsort wird Freudenthal genannt, als Erscheinungsjahr 1929.35
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Der zitierte Artikel 273 des Staatsvertrages von St. Germain sah Folgendes vor: Die Verteilung von Gütern, die Vereinigungen oder öffentlich-rechtlichen juristischen Personen gehören, welche ihre Tätigkeit auf Gebieten, die durch den gegenwärtigen Vertrag zerschnitten werden, ausgeübt haben, wird durch Sonderabkommen geregelt. – Vgl. Art. Klein, Norbert, in: ÖBL III, 384 (Bernhard Demel). Ferner DOZA, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“, Durchschlag des Art. XVIII des Abkommens vom 7. 12. 1925 zwischen Österreich und der ČSR, nach Ratifikation in Kraft getreten am 6. Juni 1926. – Bleistiftnotizen auf dem Blatt halten fest, dass der Durchschlag vom Bundeskanzleramt am 28. 12. 1925 übermittelt wurde, ebenso das Inkrafttreten. Die wurden später tatsächlich geopfert; vgl. weiter unten. Das Aide mémoire ist wahrscheinlich weitgehend identisch mit jenem Konzept, „das im Auftrag des Hochmeisters für Minister Schramek wegen der Wälderenteignung“ am 3. Mai 1927 erstellt wurde. DOZA, Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform“ DOZA, Varia 437
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Einige Beobachtungen zur tschechoslowakischen Bodenreform 1918–1938
Dieses Buch listet penibel alle Tätigkeitsfelder des Deutschen Ordens auf, die er in der damaligen Tschechoslowakei wahrnahm, samt den damit verbundenen Kosten. „Die Ordenssatzungen“, heißt es einleitend, „definieren den Deutschorden als eine auf Mildtätigkeit und Nächstenliebe gegründete geistliche Gesellschaft.“ Gemäß dem Ideal christlicher Humanität liege der Zweck des Ordens darin, „allen ohne Unterschied zu dienen.“ Und: „... in seinen Reihen findet als Ordenspriester und Ordensschwester jeder Platz, der sich zu diesem erhabenen Ziele bekennt.“ Mit Rücksicht darauf sei er auch durch das gegenseitige Übereinkommen der ČSR und Österreich vom 7. 12. 1925 als geistlicher Orden anerkannt (daher ist auch die Habsburg-Klausel nicht anwendbar).36 Der Orden besitze nach Durchführung der Bodenreform 23.091 ha beschlagnahmten Bodens. Der ganze Ertrag dieses Bodens diene der Erhaltung der kulturhistorischen Denkmäler, der Seelsorge und größtenteils der karitativen und kulturellen Tätigkeit. Die Erhaltung der vier Schlösser Busau und Eulenberg in Mähren sowie Freudenthal und Ober-Langendorf in Schlesien erfordere KČ 627.000,- pro Jahr. Für die Krankenhäuser in Troppau, Freudenthal, Würbenthal, Unter-Langendorf und Braunseifen sowie für die Armenhäuser in Freudenthal und Busau seien pro Jahr im Schnitt etwas mehr als 2,213.700,- KČ erforderlich, wobei die Schwestern und Wärterinnen sowieso Schwestern des Deutschen Ordens waren. In Karlsbrunn unterhält der Orden ein Bad, das jährlich einen Verlust von KČ 300.000,- einträgt. Tabelle 1: Auslagen für karitative Anstalten 1924–28 und im Durchschnitt dieser Jahre
Anstalt
1924–28 in KČ
Jahresdurchschnitt in KČ
Krankenhaus in Braunseifen Krankenhaus in Unter-Langendorf Krankenhaus in Freudenthal Krankenhaus in Würbenthal Krankenhaus in Troppau Armenhaus in Freudenthal Armenhaus in Busau Geld- und Naturalunterstützungen Zusammen
588.808,71 589.900,02 2,350.670,24 1,050.758,58 4,360.791,90 682.642,39 55.596,17 1,389.429,06 11,068.597,07
117.761,74 117.980,470.134,05 210.151,72 872.158,38 136.528,48 11.119,23 277.885,81 2,513.719,41
Die Kindergärten in Würbenthal, Engelsberg und Ober-Langendorf, die Mädchenvolksschulen in Troppau, Freudenthal, Würbenthal, Engelsberg, Braunseifen und Unter-Langendorf, die Mädchen-Bürgerschulen in Troppau, Freudenthal, Würbenthal sowie die Haushaltungsschule in Ober-Langendorf verursachen Kosten von KČ 1,085.869,-. 36
Demel, Der Deutsche Orden in der ČSR, 311
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Tabelle 2: Auslagen für kulturelle Fürsorge 1924–28
Anstalt Mädchenschule in Braunseifen Mädchenschule in Unter-Langendorf Mädchenschule in Freudenthal Mädchenschule in Engelsberg Mädchenschule in Würbenthal Mädchenschule in Troppau Haushaltungsschule in Ober-Langendorf 3 Kindergärten in Unterlangendorf, Engelsberg und Würbenthal Zusammen
1924–28 in KČ 341.627,52 258.381,68 1,365.729,03 464.749,65 738.683,39 1,873.539,16 180.519,07 196.116,66
Jahresdurchschnitt in KČ 68.325,50 51.676,34 273.145,61 92.949,93 149.736,68 374.707,84 36.103,81 39.223,32
5,249.345,16
1,085.869,03
Ferner betreute der Orden die Seelsorge in acht inkorporierten Pfarren, dazu kam die materielle Belastung durch elf weitere Patronatspfarren. 1928 betrug der Personalstand 32 Geistliche, sechs Kleriker und einen Novizen. Ihnen standen 231 Schwestern, acht Novizinnen und 16 Kandidatinnen gegenüber. Die Erhaltung dieses geistlichen Personals betrug pro Jahr im Durchschnitt KČ 937.883,-. Die Summe dieser Auslagen betrug daher pro Jahr KČ 5,164.971,58. Tabelle 3: Auslagen für die Seelsorge
Erhaltungskosten für acht inkorporierte und elf Patronatspfarren Gehalt der Geistlichkeit Priesterkonvent in Troppau Zusammen
1924–28 in KČ 1,483.926,49
Jahresdurchschnitt in KČ 296.785,30
1,453.275,17 1,752.214,03 4,689.415,69
290.655,03 350.442,81 973.883,14
Dazu kamen noch Pensionen, Invalidenunterstützungen für Ordensbeamte und alle Arbeiter, die einmal dort gearbeitet haben, in Summe noch einmal 1,6 Millionen KČ. „Mit diesen Ausgaben ist der Normalertrag des Gesamteigentums des Deutsch-Ordens in der ČSR regelmäßig verbraucht (...).“ So der lapidare Schluss des insgesamt gegenüber dem Bildteil nur relativ kurzen Textes.
Einige Beobachtungen zur tschechoslowakischen Bodenreform 1918–1938
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Tabelle 4: Gesamtauslagen für Erhaltung kulturhistorischer Denkmäler, karitative und kulturelle Anstalten sowie Seelsorge:
Kulturhistor. Denkmäler (drei Schlösser) Karitative Einrichtungen inkl. Bäder Kulturelle Anstalten (Schulen und Kindergärten) Seelsorge Für gemeinnützige öff. Zwecke insgesamt
KČ 627.500,KČ 2,513.719,41 KČ 1,085.869,03 KČ 937.883,14 KČ 5,164.971,58
Die Einrichtungen des Ordens kamen gut an. So war der Andrang zur Mädchenschule in Würbenthal so groß, dass eine Bürgerschule eingerichtet werden musste. Mit 1. August 1919 übernahmen die Ordensschwestern auch die Krankenpflege in Mährisch-Neustadt, 1920 auch das Spital zu Hof in Nordmähren. 1930 weihte Hochmeister Norbert Klein den Erweiterungsbau des Spitals in Troppau (St. Elisabeth) ein.37 Dieses Buch galt einem besonderen Anlass, es sollte nämlich einem besonderen Gast überreicht werden, niemand Geringerem als dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomas Garrigue Masaryk, der 1929 auf Schloss Busau (Busov) empfangen wurde.38 P. Norbert Klein, seit 1923 Hochmeister des Deutschen Ordens, begrüßte den Präsidenten, wobei er wiederum die Tätigkeit des Ordens in der Seelsorge, im Spitalsdienst, im Schuldienst und in der Erhaltung von Kulturgütern hervorhob. Wie es zu diesem Besuch Masaryks kam, ist nicht ganz geklärt. Der bedeutende Historiker des Ordens, P. Bernhard Demel, verweist einerseits auf den Hochmeister, P. Norbert Klein, der ja die Einladung ausgesprochen haben muss, aber auch auf P. Robert Schälzky.39 Wie auch immer: Jedenfalls kam es nach dem Besuch der Präsidenten im Jahre 1930 offensichtlich zu einer – auch in österreichischen Zeitungen kommentierten – Einigung zwischen dem Orden und der ČSR. So schrieben die „Freien Stimmen“ am 20. 8. 1930, dass seitens der Herrschaft Liechtenstein und des Deutschen Ritterordens „ein Großteil des Waldbesitzes von den beiden Herrschaften an das tschechoslowakische Bodenamt freiwillig (?) abgetreten (...)“ worden sei. Die Liechtenstein hätten dabei insgesamt 110.000 ha verloren, nur etwa 50.000 seien ihnen geblieben; beim Deutschen Orden seien 9.000 von insgesamt 21.000 ha abgetreten worden. Eine Tschechisierung bislang deutscher Gebiete wurde befürchtet. Die „Wiener Neuesten Nachrichten“ vom 19. 8. 1930 berichteten nicht von der Größe, sondern vom Wert der abgetretenen Besitzungen – bei den Liechtenstein 1,5 Milliarden KČ , beim Deutschen Orden etwa 80 Millionen. Die Entschädigung betrage nur kleine Teile dieser Summen. Gleichlautend die „Grazer 37 38 39
Demel, Der Deutsche Orden in der ČSR 1918–1939, 315 f. Demel, Der Deutsche Orden in der ČSR 1918–1939, hier 304–306 Demel, Der deutsche Orden im Spiegel seiner Besitzungen, hier 433
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Tagespost“.40 Die Neue Freie Presse vom 19. August 1930 beziffert die vom Orden vorgenommene Abtretung auf 12.000 ha, sodass ihm von vorher etwa 21.000 ha nur 9.000 geblieben wären. Darunter befinde sich auch der Forst von Busau (die Presse schreibt „Gusau“) mit etwa 2500 ha; das Schloss müsse der Orden jedoch erhalten und öffentlich besichtigen lassen. Die Herrschaft Stettin bei Troppau werde zur Gänze abgetreten.41 Faktisch hat diese Einigung einen guten Teil des Ordensbesitzes gerettet. Schälzky hat übrigens auch einen Nachruf auf Masaryk geschrieben, was mit jenem Besuch und mit der weitgehenden Lösung der Bodenreform-Frage zusammenhängen dürfte. Auch der Nachfolger Masaryks, Präsident Benesch, wurde auf Busau eingeladen. Er kam 1937 über Einladung des Hochmeisters Robert Schälzky.42
5. Die tatsächlichen Veränderungen durch die Bodenreform
Ein Verzeichnis aus dem Jahre 1928 listet die Veränderungen zwischen 1919 und 1927 auf. Danach betrug der Besitz des Deutschen Ordens in der Tschechoslowakei (die Güter Busau. Langendorf, Freudenthal und Troppau-Stettin samt dem Besitz der Pfarren und Anstalten) zum 1. 1. 1919 24.555,7216 ha, • zum 31. 12. 1927 23.121,3769 ha. Das klingt nicht dramatisch. Anders, wenn man die „Ökonomie“, die landwirtschaftlichen Betriebe, also die Meierhöfe betrachtet. Hier gab es sehr beträchtliche Verluste: Tabelle 5 (DOZA, HM 549, Deutscher Orden 1937 (Großgrundbesitz-Schematismus)
Ökonomieverwaltungen 1.1.1919 :
Ökonomieverwaltungen 31. 12. 1927:
Busau Aichen Langendorf Freudenthal Troppau Stettin Summe 1919
Rest Busau
26,09 ha
Rest Langendorf Freudenthal Klüppelhof - Troppau Rest Hrabin Summe 1927
46,09 ha 558,58 ha 206,87 ha 5,07 843,51 ha
40 41
42
309,42 ha 271,56 ha 343,55 ha 567,16 ha 228,37 ha 581,68 ha 2.301,74 ha
DOZA, Zeitungsausschnitte, in: Karton 134, Mappe „čs. Gesandtschaft – Bodenreform 1918/19–1930“ Überaus detailreich das Schicksal der verschiedenen Güter in der Arbeit von Jarmila Šuránová, insbes. S. 74–94, auf der Basis der Akten im Troppauer Archiv. Mangels ausreichender Sprachkenntnisse können diese Ergebnisse hier nicht im Detail referiert werden. Demel, Der Deutsche Orden in den ČSR, 307
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Insgesamt wurden 1.343,3764 ha abgetreten, die Entschädigung dafür betrug 4,090.097,93 Tschechen-Kronen. In dieser Aufstellung nicht enthalten waren freiwillige Grundverkäufe und Abtauschungen im Ausmaß von etwa 20 ha. Man sieht, es kam der tschechoslowakischen Bodenreform in erster Linie auf das Ackerland an, weniger auf den Forstbesitz. Der größte Teil der Verluste (1400 ha) entfiel auf Zwangsabtretungen an das Staatsbodenamt, der kleine Rest (32 ha) waren Zwangsverkäufe anderer Art. Noch 1937 standen zahlreiche Ordensbesitzungen grundsätzlich unter Beschlagnahme, und zwar der größte Teil der in diesem Jahre von der Zentralkanzlei in Freudenthal verwalteten 17.460 ha.43 Stellt man dieser Zahl die noch etwas mehr als 23.000 ha gegenüber, die 1929 verzeichnet wurden, dann sind in diesen Jahren etwa 5.500 ha verloren gegangen. Zwar standen die übrig gebliebenen Besitzungen theoretisch weiterhin unter Beschlagnahme, doch hat man das offenbar nur mehr als theoretische Gefährdung befunden. Tabelle 6: Der Stand der Ordensbesitzungen 1937 (DOZA, HM 549, Deutscher Orden 1937)
Unter Bodenreform Busau
Verstaatlicht
Parzelliert Restgüter Privat (Klein(neuer Mittelbauern) grundbesitz)
2.506 ha (1933) 7.397,77 ha 377,28 ha 506,38 ha 364,50
Langendorf-Eulenberg Stettin und 2.062,58 ha 135,30 ha Kommende Troppau Freudenthal 12.273,82 ha 1.165,21
485,66 ha 137,98
Frei gegeben
Weiterhin beschlagnahmt
28,58 ha 1.129,60
81,30 ha 4.938,58 ha
3,38
1.300,65 ha
47,40 ha 11.108,61 zugeha kauft
In Freudenthal gab es auch je eine Brauerei, Mälzerei und Brennerei in eigener Regie, vier Sägewerke, eine Holzindustrie (Fassdauben und Binderei) in Ludwigsthal einen Erzbergbau in Vogelseifen, das Bad in Karlsbrunn mit Kurhaus, Hotel- und Restaurationsbetrieb, alles in eigener Regie. Allein in Freudenthal rechnete man mit einem forstlichen Jahresetat von 43.000 m3 (Fichte, Tanne, Kiefer, Buche, Lärche).
43
DOZA, HM 549, Deutsch Orden 1937. (Großgrundbesitz-Schematismus).
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Damit blieb die Bodenreform auf den Gütern des Meistertums des Deutschen Ordens im Allgemeinen etwa im Rahmen dessen, was auch auf gesamtstaatlicher Ebene ablief. Insgesamt waren vier Millionen Hektar (29 % des gesamten Staatsgebietes) unter die Bodenreform gefallen, davon 1,3 Millionen Ackerland. Tatsächlich umverteilt wurden etwa 1,8 Millionen Hektar. 226.306 Hektar davon entfielen auf die sogenannten „Restgüter“ mit durchschnittlich 100 Hektar Besitzgröße.44 Eine Stärkung des Kleinst- und Kleinbauerntums wurde wohl kaum erreicht. Sieht man von den Ökonomien ab, lagen die Verluste des Ordens im Forstbereich im Gesamtvergleich wohl sogar etwas unter dem Durchschnitt. Die ertragreichen Agrarökonomien waren freilich auf weniger als ein Drittel reduziert worden. Die Geschichte dieser Bodenreform endet mit der ersten Tschechoslowakischen Republik. Dann kam das Münchener Abkommen vom 29. September 1938. Die Ordensbesitzungen lagen plötzlich im Deutschen Reich. Mit Verfügung vom 27. Februar 1939 wurde der Deutsche Orden in diesen Gebieten aufgelöst, die Schwestern wurden aus dem Schuldienst entlassen, durften aber in der Krankenpflege weiterhin tätig bleiben (und dafür sogar ihre reguläre Lebensweise weiterführen), die Ordenspriester blieben in der Pfarrseelsorge. Das Vermögen wurde requiriert.45
44
45
Teichová, Kleinstaaten, 46. - Die Idee dahinter war die Schaffung eines neuen, rein tschechischnationalen „Adels“ aus solchen „Rittergutsbesitzern“. Tatsächlich waren diese Güter zu groß zur Selbstbewirtschaftung, aber meist zu klein, um eine eigene Gutsverwaltung zu tragen. Bernhard Demel, Der Deutsche Orden in der ČSR 1918–1939, hier 323–334. – Ausführlich dazu Jirovec, Zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, mit reicher Sekundärliteratur
Der Ritterorden vom Heiligen Grab im Lichte der Gründung der Statthalterei in Österreich im Jahr 19331 Nicolaus Drimmel
Der Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem hat sich erst seit seiner Verbindung mit dem Lateinischen Patriarchat von Jerusalem im Jahr 1847 sukzessive von einer Ritterschaft von Pilgern zu einer geordneten und korporativen Struktur, eben zu einem Orden mit einem klar definierten Ordensauftrag entwickelt. Heute ist es selbstverständlich, dass der Orden mit seinen über alle Kontinente verteilten Statthaltereien und Delegationen und mehr als 30.000 Mitgliedern als juristische Person kanonischen Rechts eine wichtige Rolle spielt, um das Lateinische Patriarchat von Jerusalem und vor allem die Christen im Heiligen Land mit gezielter Hilfe zur Selbsthilfe zu unterstützen. Eine straffe Verwaltung des Ordens und ein transparenter Austausch unter den diversen Statthaltereien hat sich dabei für die Abstimmung und Koordination diverser Hilfsprojekte als sehr zweckmäßig erwiesen, zumal die Unterstützung von sozialer Infrastruktur im Heiligen Land gerade in den letzten Jahren durch die Kriegshandlungen und die massiven Flüchtlingswellen von besonderer Wichtigkeit ist. Die dezentralen Strukturen haben sich schließlich auch bei der Unterstützung der Mitglieder in deren spirituellem Wachstum bewährt. Freilich hatten sich bereits im 15. und 16. Jahrhundert auch bei den Grabesrittern in Frankreich und in den spanisch regierten Niederlanden hierarchische Strukturen gebildet,2 die man mit dem Charakter eines „Ordo“ vergleichen kann. Als zwanzig flämische Ritter vom Heiligen Grab sich am 26. März 1558 in der Katharinenkirche von Hoogstraaten versammelten, nach einer klaren Ordensstruktur verlangten und ihren Souverän Philipp II. als Grafen von Flandern zu ihrem Großmeister wählten, hatten sie nicht vorhergesehen, 1
2
Der Autor dankt den Leitenden Komturen der Komtureien Wien und Graz des Ordens vom Hl. Grab zu Jerusalem, Dr. Wilhelm Kraetschmer und Dr. Hans Stolzer sowie Dr. Mario Strigl für bereitgestellte Literatur, Zugang zum Archiv der Statthalterei Österreich des Ordens vom Heiligen Grab (SthArch) und wertvolle Hinweise bei der Arbeit an diesem Artikel. Ebenso dankt er Herrn Kabinettsvizedirektor Dr. Heinz A. Hafner für den Hinweis auf die behandelten Akten der Präsidentschaftskanzlei aus dem Archiv der Republik (AdR). Michael F. Feldkamp, Vom Jerusalempilger zum Grabesritter, Geschichte des Ritterordens vom Heiligen Grab, Mainz 2016, S. 127 f.
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dass der Heilige Stuhl diese Würde auf Intervention des von den Osmanen stark bedrängten Malteserordens nicht konzedierte.3 Trotz dieses bemerkenswerten Versuches blieb die Ritterschaft des Heiligen Grabes also bis ins 19. Jahrhundert ungeordnet.
1. Die ersten Schritte von der Pilgerschaft ins Ordenswesen
Mit der päpstlichen Bulle „Nulla Celebrior“ vom 23. Juli 1847 wurde das Lateinische Patriarchat von Jerusalem wiedererrichtet, erster im Heiligen Land residierender Patriarch nach über 650 Jahren4 war der aus Ligurien stammende Giuseppe Valerga. Der neue Patriarch war ein ausgebildeter Orientalist, der bereits die Jahre zuvor Erfahrungen für die Missionskongregation in Kleinasien und Syrien gemacht hatte. Auf eigenen Wunsch wurde er auf Mission nach Mesopotamien entsandt, wo er als Generalvikar und apostolischer Delegat von Chaldäa und Persien wirkte.5 Mit der Instruktion der Missionskongregation Propaganda Fide vom 10. Dezember 1847 wurde dem Patriarchen das alleinige Recht verliehen, im Namen des Heiligen Stuhles Ritter vom Heiligen Grab zu schlagen bzw. zu ernennen. Dabei war natürlich beabsichtigt, dem Patriarchat eine Lebensader in Form einer entsprechenden Finanzierung zuzuleiten.6 Mit der Instruktion endete der Usus des Ritterschlages durch den Guardian des Heiligen Grabes der Franziskaner. Die 1867 von Pius IX. genehmigten Statuten, durch die der Orden – wie bereits in der Instruktion vom Jahr 1847 angeklungen – in drei Klassen7 unterteilt wurde, hatte Valerga selbst ausgearbeitet. Die definitive Neuordnung des Ordens erfolgte mit dem 3
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Von den dreißig genannten Rittern der Petition waren zwanzig persönlich anwesend, zehn ließen sich vertreten. Corneille Stroobant, Notice sur un chapitre de l´Ordre du Saint Sépulcre de Jérusalem, tenu en 1558 dans l´Église de Hoogstraaten. In: Bulletin et annales de l´Académie d´archéologie de Belgique. Band 6, Antwerpen 1849, S. 176 ff. Der Lateinische Patriarch residierte bis 1244 in Jerusalem und bis 1291 in Akko; später wurde die Würde des Lateinischen Patriarchen als Ehrentitel „in partibus infidelium“ verliehen, zu dem seit 1374 die Patriarchalbasilika San Lorenzo fuori le mura als Titelkirche gehörte. Die Funktionen des Patriarchen gingen im 14. Jahrhundert auf die Kustodie der Franziskaner über. Dazu auch Helmut Wohnout, Das Österreichische Hospiz in Jerusalem. Geschichte des Pilgerhauses an der Via Dolorosa, Wien 2000, S. 18 Valerga überlebte dabei mehrere Attentate, dazu Jakob Hermens, Der Orden vom Heiligen Grabe, Köln 1870, S. 77 f. Art. VIII der Instruktion vom 10. Dezember 1847 bestimmt unter anderem, dass: „… die Geldmittel, die von den Rittern dargebracht werden, der Sitte gemäß in den Opferkasten für die Bedürfnisse des Heiligen Landes niedergelegt (werden).“ Dazu Valmar Cramer, Der Ritterorden vom Hl. Grabe von den Kreuzzügen bis zur Gegenwart, Köln 1952, S. 76, bzw. Feldkamp, Grabesritter, S. 115 1907 wurde eine vierte Klasse hinzugefügt (Komtur mit Stern).
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Breve „Cum multa“ vom 24. Jänner 1868. Damit wurden neben den Aufnahmebedingungen erstmals auch Pflichten der Ordensritter festgelegt, welche einerseits in untadeliger Lebensführung und in guten Werken bestanden, „… um sich immer mehr der erhaltenen Ehre würdig zu erweisen …“. Andererseits sollten die Ritter „… allen Eifer anwenden, um die Sache und das Wachstum des Katholizismus im Heiligen Land zu befördern ...“8 Valerga und seine Nachfolger haben es in der folgenden Zeit wohl verstanden, die Renaissance der Ritterorden auch für die Zwecke des Patriarchates zu nutzen. Natürlich trug auch das Wiederaufblühen der Pilgerschaft in das Heilige Land zu einer Vermehrung der Grabesritter bei, bedeutend waren dabei auch die stetigen Aktivitäten aus den Teilen der Habsburgermonarchie. Immerhin verstand sich der Kaiser und apostolische König auch als Schutzherr der Christen, die im Machtbereich des Osmanischen Reiches lebten.9 Marksteine dieser Zeit sind nicht nur der Bau des Österreichischen Hospizes in Jerusalem und die Heilig-Land-Reise Kaiser Franz Josephs I. im Jahr 1869. Kaiser Franz Joseph I. war – wie sein Bruder Erzherzog Ferdinand Max, der spätere Kaiser Maximilian von Mexiko, und sein Sohn Erzherzog Rudolf – Ritter vom Heiligen Grab, ebenso zahlreiche andere Erzherzöge. Der Kaiser, der ja über das habsburgische und das lothringische Erbe den Titel eines Königs von Jerusalem führte,10 erhielt sogar für die Dauer seines Aufenthaltes in Jerusalem im Jahr 1869 das Recht, Ritter des Ordens vom Heiligen Grab zu ernennen.11 Dieser Ehrentitel brachte aber auch Verantwortung mit sich, welche sich unter anderem in der tätigen Schutzmacht des Kaisers für die im Heiligen Land lebenden katholischen Christen, später aber auch für Juden manifestierte.12
8 Cramer, Ritterorden, S. 79 f. Michael Lehmann, Österreich und der christliche Osten, Begegnungen in Gegenwart und Vergangen9 heit. Wien 1969 [= Veröffentlichungen des kirchenhistorischen Institutes der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien] Wolfgang J. Bandion, König von Jerusalem, Zur Genese eines Titels. In: Markus St. Bugnyar/Helmut 10 Wohnout (Hgg.), Im Orient zu Hause, Wien 2015, S. 75 ff. 11 Peter Paul Pergler/Johann Stolzer, Deus Lo Vult, der Ritterorden vom Heiligen Grabe zu Jerusalem, Graz 2000, S. 157 12 Dies begann ursprünglich in der Einrichtung des Generalkommissariats für das Hl. Land in Wien und mündete in der Unterstützung von sozialen und pastoralen Einrichtungen wie etwa das Pilgerhospiz in Jerusalem, das Malteserhospiz in Tantur oder die katholische Pfarre in Gaza. In modernerer Form manifestierte sich diese aktive Schutzmacht in der Unterhaltung eines bald zum Generalkonsulat aufgewerteten Konsulates, das neben österreichischen Staatsbürgern auch katholischen Christen und Juden ohne Rücksicht auf deren Staatsangehörigkeit Schutz gewährte. Robert-Tarek Fischer, Österreich im Nahen Osten, Wien 2006, bzw. Barbara Haider-Wilson, Die Habsburgermonarchie und das Heilige Land 1842–1917. Schutzmachtpolitik, katholisches „JerusalemMilieu“ und Volksfrömmigkeit, Wien 2007, S. 40
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2. Der Höhenflug der Grabesritter unter Papst Pius X.
Patriarch Valerga tat das Seine, um die Bedeutung des Lateinischen Patriarchates zu erhöhen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte eine Blüte des Pilgerwesens ein.13 Der Orden vom Heiligen Grab wurde überdies durch eine Reform unter Pius X. ganz wesentlich gefördert. Freilich war der Orden schon bisher unter dem Schirm des Heiligen Stuhls, doch erhielt er mit der päpstlichen Bulle „Quam Multa“ vom 11. Mai 1907 eine besondere Stellung. Nicht nur, dass dieser formal erst seit so kurzer Zeit bestehende Orden nun ausdrücklich in die Reihe der päpstlichen Orden eingereiht wurde, vielmehr wurde er mit der Übernahme der Großmeisterwürde durch den Papst selbst ausgezeichnet. Der Lateinische Patriarch erhielt das Recht, nunmehr als Großprior im Namen des Großmeisters, also mit päpstlicher Autorität14 Ritter und Damen15 in den Orden aufzunehmen. Das Apostolische Schreiben „Quam Multa“ ist auch insoweit von Bedeutung, als es der mittlerweile angewachsenen Zahl der Ordensritter und Damen Rechnung trug.16 Je größer die Zahl der Grabesritter in den jeweiligen Ländern war, desto mehr hegte man auch den Wunsch, sich in einer regionalen Gruppe zu formieren. So legte das Breve fest, dass in bestimmten Ländern Ritter benannt werden sollten, um im Namen des Großpriors regionale Ordensstrukturen zu schaffen. Aus dem aktuellen Anlass der fast zweijährigen Sedisvakanz des Lateinischen Patriarchates in den Jahren 1905/06 wurde überdies eine besondere Regelung eingeführt, um die Handlungsfähigkeit des Ordens nicht zu beeinträchtigen. Für diese Zwecke wurde der Stellvertreter des Großpriors in Rom, der seinerseits dem Kardinal-Staatssekretär verantwortlich war, in seinen Rechten aufgewertet. Diese Statuten zeichneten einen Weg vor, nach dem der Orden nicht nur in den Herkunftsländern der Ritter und Damen eine verbesserte Handlungsfähigkeit erlangen sollte, sondern auch an der Spitze der Verwaltung mit einer zentralen Vertretung beim Heiligen Stuhl in Rom. Die weitere Entwicklung zeigte, dass Papst Pius X. auch bereit war, den Orden vom Heiligen Grab für Verdienste von Staatsoberhäuptern um das Heilige Land und sogar an Nichtkatholiken zu verleihen. Dies wurde durch die Verleihung des Großkreuzes an Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1905 und an den Äthiopischen Kaiser Menelik I. im Jahr 1907 deutlich.17 13 Wohnout, Hospiz, S. 86 ff. 14 Cramer, Ritterorden, S. 84 15 Das Recht, sogenannte Matronen (Damen 1., 2. und 3. Klasse) aufzunehmen, bestand seit dem Breve „Venerabilis frater“ vom 3. August 1888; Feldkamp, Ritterorden, S. 121, Johann Stolzer, Der Ritterorden vom Hl. Grabe zu Jerusalem, Versuch einer tabellarischen Übersicht. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Ordenskunde, Nr. 54, S. 21 16 Von 1848 bis 1910 gab es 3832 Ernennungen zum Ritter oder zur Dame vom Heiligen Grab. Davon waren 75 Matronen (Damen). Feldkamp, Grabesritter. S. 116. Cramer, Ritterorden. S. 85 17 Feldkamp, Grabesritter, S. 122 f.
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3. Stärkung der korporativen Strukturen, erste Statthaltereien
Das korporative Element, das sich in einigen Staaten bereits ausgebildet hatte, war unter Pius X. als Großmeister zweifellos gestärkt worden. Vor allem in den europäischen Ländern romanischer Zunge bildeten sich Nationale Delegationen oder Statthaltereien, Feldkamp nennt nur Italien und Frankreich.18 Jedoch ist für die kommenden Ausführungen vor allem das Beispiel Spaniens bedeutsam, wo sich die dort lebenden Ordensritter schon früh zu einer Vereinigung zusammenschlossen. Im Jahr 1874 hielten sie ihre erste Generalversammlung ab. 1882 erhielt der Orden das Regium Exequatur und war damit gleichberechtigt mit den übrigen geistlichen Ritterorden Spaniens.19 Um das zentrale Kapitel in Madrid bildeten sich mit der Zeit vier weitere Kapitel in Barcelona, Havanna, Manila und Valencia. Über Ersuchen der vereinigten spanischen Kapitel übernahm König Alfons XIII. im Dezember 1906 den Titel eines Groß-Bailli-Protektors des Ordens in Spanien. Im Jahr 1925 wurde dieser Titel in einer Zeremonie an den Infanten Don Alfonso de Borbón in Anwesenheit des Lateinischen Patriarchen Luigi Barlassina und der königlichen Familie übertragen.20 Auch in Italien bildeten sich unterhalb der nationalen Ebene Strukturen mit je einer Delegation im Norden, im Zentrum um Rom, im Süden sowie in Sardinien und in Sizilien. Der 1920 ernannte Lateinische Patriarch Barlassina stand vor der Situation, dass das Interesse für das Heilige Land nach dem Krieg wieder neu geweckt werden musste. Dies war schon allein deshalb nötig, um die finanzielle Krise zu überwinden, in die das Patriarchat über die Kriegsjahre geraten war.21 Im Gegensatz zu Europa schien sich dies vor allem in Nordamerika recht gut zu entwickeln. Der Patriarch reiste im Februar 1926 in die Vereinigten Staaten22 und schloss dieser Reise einen Besuch in Kanada an. Aus Anlass dieses Besuches wurde ein amerikanisches Kapitel des Ordens errichtet. Die dafür treibende Kraft in der Geistlichkeit war Msgr. Michael Abraham D’Assemani, ein 18
Die regionalen Zusammenschlüsse wurden u. a. auch Balleien genannt, Feldkamp, Grabesritter, S. 128 19 Internet [4.1.2020] https://es.wikipedia.org/wiki/Orden_del_Santo_Sepulcro_de_Jerusal%C3%A9n 20 Dr. Luis Valero de Bernabé y Martín de Eugenio, Actualidad de la Orden de Caballería del Santo Sepulcro. Zaragoza-Calatayud 2011, Internet [4.1.2020]: https://www.academia.edu/31452316/Actualidad_de_la_Orden_de_Caballer%C3%ADa_del_Santo_Sepulcro_Order_of_cavalry_of_the_ Holy_Sepulcher_of_Jerusalem_?auto=download 21 Daniela Fabrizio, Disputes between the Custody oft he Holy Land and the Latin Patriarchate. In: Barbara Haider-Wilson/Dominique Trimbur (Hgg.), Europa und Palästina 1798–1948, Religion – Politik – Gesellschaft [Archiv für Österreichische Geschichte, Band 142], Wien 2010, S. 290 22 Jewish Daily Bulletin, New York, Vol. III, Nr. 402 vom 14. Februar 1926, S. 4
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aus dem Libanon stammender maronitischer Geistlicher, der später auch Chorbischof wurde. Er wurde zum amerikanischen Vertreter des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem bestellt. Das Amerikanische Kapitel wählte das in Philadelphia erscheinende Magazin „The Palestinian“ zu seinem offiziellen Organ und erhielt auch bald den Beistand eines geistlichen Protektors in Person des Erzbischofs von Philadelphia, Kardinal Dennis J. Dougherty.23 Im März 1926 fand überdies im Beisein des Patriarchen eine Investitur von 20 Personen in Montreal statt.24 Nach diesen Erfolgen konnte man mit Eifer an die Sache herangehen, auch in Europa neue Ritter zu gewinnen und Strukturen zu schaffen. In Deutschland und den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns, wo bislang noch keine korporativen Elemente des Ordens geschaffen worden waren, wurde die Entwicklung vor allem durch den verlorenen Weltkrieg und die darauffolgenden Krisen- und Inflationsjahre gebremst. Das verkleinerte Rumpf-Österreich und die durch die Kriegsjahre ausgezehrte Bevölkerung hatte zwar nicht mehr die Möglichkeiten wie vor dem Krieg, jedoch bestand hier und in den Nachfolgestaaten noch immer eine besondere Verantwortung für die Glaubensgeschwister im Heiligen Land, für die vor allem die Institution des Österreichischen Hospizes ein Symbol war. Wie noch zu zeigen sein wird, bestehen klare Hinweise dafür, dass der Patriarch sein Interesse nun daher auf Mitteleuropa legte. Auch in diesen Ländern sollten korporative Strukturen geschaffen bzw. gestärkt werden, wobei man gezielt Spitzenpolitiker und Mitglieder der Hocharistokratie gewinnen wollte, um damit einerseits Kristallisationspunkte für künftige regionale Kapitel und gleichzeitig einen Motivationsschub für die Werbung von Mitgliedern zu schaffen. Das Dilemma des Ordens war dabei, dass er moralisch und protokollarisch durch die Regeln von Pius X. enorm gestärkt war, aber nur über einen schwachen, erst im Aufbau befindlichen zentralen Apparat verfügte. Der Patriarch sah sich als Arbeiter im Weinberg bei einer der damaligen Kirche vorschwebenden geistigen Erneuerung des Katholizismus und einer Durchdringung der Gesellschaft mit einem neuen Bild der Pilgerschaft. Die Anwerbung durch den Orden kam einigen Machthabern der damaligen Zeit durchaus nicht ungelegen, da sich von einem Arrangement mit der Kirche auch eine gewisse Legitimität ihrer politischen Ideen und Ansprüche ableiten ließ. Klarerweise verursachte dies natürlich auch Interessenskonflikte.
23 Michael Abraham D’Assemani, The Cross on the Sword, Chicago 1944, S. 107 24 D’Assemani, Cross, S. 113
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4. Der Lateinische Patriarch wird alleiniger Rektor des Ordens
In diese Überlegungen platzte jedoch das Apostolische Breve „Decessores nostri“ des Papstes Pius XI. vom 6. Jänner 1928. Der Höhenflug der Grabesritter in den letzten Jahrzehnten wurde nicht überall mit Wohlwollen betrachtet, und so war es zu ständigen Spannungen mit dem Malteserorden gekommen. Dieser konnte wohl nicht direkt die Übernahme der Großmeisterwürde durch den Papst kritisieren, jedoch gaben der Gebrauch diverser Titel und verwendeter Begriffe im noch jungen Ordensleben der Grabesritter Anlass zur Kritik des ehrwürdigen militärischen Hospitaliterordens des Hl. Johannes von Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta. Ob das Zurücklegen der Großmeisterwürde des Heiligen Grabes durch Pius XI. nun direkt oder indirekt mit der Konkurrenzsituation der beiden Orden zu tun hatte, ist von offizieller Seite allerdings nicht verlautet worden. Um die Entscheidungen seines Vorgängers nicht gänzlich umzukehren, stellte der Papst den Orden unter den Schutz des Hl. Stuhles. Gleichzeitig verband er den Orden mit dem „Werk der Glaubenserhaltung in Palästina“. Somit war eine doch erhebliche Änderung in der Führungsstruktur des Ordens eingetreten, jedoch konnte man mit gutem Willen bei der Verschmelzung mit dem Glaubenswerk auch für den Orden einen Zuwachs an inhaltlichem Gewicht konstatieren. Cramer vermutet, dass der „unerwartete Verzicht des Hl. Vaters auf die Würde eines Großmeisters“ möglicherweise damit zusammenhing, dass sich die Konkordatsverhandlungen zwischen dem Kirchenstaat und der italienischen Monarchie damals noch in Schwebe befanden und man für eine allenfalls „beabsichtigte Ernennung“ (eines Großmeisters, Anm.) den Ausgang dieser Verhandlungen abwarten und sich mit einer Entscheidung nicht präjudizieren wollte.25 Faktum ist aber auch, dass der Patriarch damit als Rektor und Administrator des Ordens diesen nunmehr in eigener Autorität leiten konnte und durch die neue Rechts- und Sachlage viel unabhängiger war als zuvor.26 In diese Zeit fallen nun einige beachtliche Verleihungen von Großkreuzen des Ordens vom Heiligen Grab, welche unter anderem im Hinblick auf eine neu zu errichtende Statthalterei des Ordens in Österreich ein neues Licht werfen.
25 Cramer, Ritterorden, S. 89 26 Cramer, Ritterorden (a. a. O.) spricht ab diesem Zeitpunkt von einer „Halbsouveränität“ des Patriarchen. Feldkamp, Grabesritter, S. 126, vermerkt dagegen, dass dem Heiligen Stuhl doch der Souveränitätsanspruch gegenüber dem Orden vom Heiligen Grab erhalten blieb. Auch die geänderte Rechtslage konnte den Konflikt zwischen den beiden Orden noch nicht lösen (siehe dazu später).
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5. Der Orden wird Staatsspitzen verliehen
In Italien gelang es mit dem Abschluss der Lateranverträge im Februar 1929, den seit 1870 schwelenden Konflikt zwischen dem Kirchenstaat und der italienischen Monarchie beizulegen. Die Lorbeeren dafür erntete aber weniger das Staatsoberhaupt, sondern vielmehr der damalige Premierminister Benito Mussolini, der den italienischen Staat bei diesen Verhandlungen vertrat und sich für seine faschistische Bewegung wohl eine positive Stimmung in Gesellschaft und Kirche erwartete. Wenige Wochen nach Abschluss der Lateranverträge wurden daher nicht nur König Viktor Emanuel III. und etliche Mitglieder der königlichen Familie in den Ritterorden vom Heiligen Grab aufgenommen, sondern auch der Premierminister selbst.27 Bemerkenswert ist nun die folgende Meldung vom 13. April 1930, die fast beiläufig über das Wiener Salonblatt gezielt der beschränkten Öffentlichkeit der feinen Gesellschaft im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht wurde: „Seine Exz. der Patriarch Barlassina als Administrator und Rektor des militärischen Päpstlichen Heiligen Grab RrO., welcher Orden unter dem Hohen Protektorat des Heiligen Vaters steht, hat mit hohem Beschluss und Zustimmung des Papstes das Großkreuz des Ordens an den Präs. der lettländischen Republik Gustavs Zemgals und an GenKons. LegRat Dr. jur. et phil. M. D. R. v. Redlich verliehen. Unter den Inhabern des sehr selten verliehenen Großkreuzes befinden sich die Souveräne von Belgien, Italien und Spanien, MinPräs. Benito Mussolini. Exz. von Redlich erhielt diese hohe Auszeichnung in Anerkennung seiner außerordentlichen Verdienste um den Orden, als Gründer des amerikanischen Kapitels desselben und als Großordenskanzler und VPräs. des amerikanischen Kapitels. Er wohnt ständig in Chicago, besucht jedoch Österreich fast jedes Jahr. Exz. Redlich fungiert auch als Sekretär des kais. persischen Delegierten zum ständigen Schiedsgericht im Haag und war auch der amtliche persische Delegierte zum Kongreß für Aeronautics in Washington im Dezember 1928.“28 Fast zeitgleich mit dieser Nachricht, nämlich am 3. April 1930, erschien der besagte Legationsrat Dr. Redlich in der Wiener Präsidentschaftskanzlei und sprach beim Kabinettsvizedirektor Dr. Wilhelm Klastersky vor. Redlich stellte sich als Vizepräsident des Kapitels der amerikanischen Ritter vom Heiligen Grab vor; in dieser Eigenschaft sei er von Patriarch Barlassina beauftragt worden, dem Herrn Bundespräsidenten die Insignien des Großkreuzes des Ordens vom Heiligen Grab zu überreichen. Er wies dabei auch einen Brief des Patriarchen vor, durch den er legitimiert und vom Patriarchen zur Überreichung der Insignien beauftragt wurde. Redlich erklärte schließlich auch, dass er mit dieser Vorsprache informell vorsondieren wolle, ob der Herr Bundespräsident geneigt sei, das ihm 27 28
Wiener Salonblatt 60. Jg. Nr. 7 vom 31. März 1929, S. 1 Wiener Salonblatt 61. Jg. Nr. 8 vom 13. April 1930, S. 7
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zugedachte Großkreuz auch anzunehmen. In der Einsichtsbemerkung vom 12. April meldete schließlich das von der Präsidentschaftskanzlei dazu beauftragte Bundeskanzleramt/ Auswärtige Angelegenheiten nach Anfrage beim Generalkonsul in Jerusalem zurück, dass Dr. Redlich „beim Patriarchen die Dekorierung des Herrn Bundespräsidenten mit dem Großkreuz des Ordens vom Heiligen Grab unter Hinweis darauf zur Anregung gebracht (habe), dass bereits viele andere katholische Staatsoberhäupter diese Auszeichnung besitzen und übrigens auch sonst in Österreich zahlreiche Persönlichkeiten mit diesem Orden dekoriert wurden. Der Patriarch hat sich mit dieser Anregung Redlichs einverstanden erklärt …“29 Das brachte die Präsidentschaftskanzlei freilich in eine heikle Lage, denn man hatte ja vom Generalkonsulat in Jerusalem die Nachricht, dass die Initiative zur Dekorierung des Bundespräsidenten ursprünglich von Redlich selbst, und daher nicht vom Patriarchen ausgegangen sei. In dem Akt findet sich der Tenor, dass es geboten erscheint, den Orden anzunehmen, da der Patriarch den Vorschlag Redlichs aufgegriffen hatte und Redlich dazu legitimiert und beauftragt war. Dennoch hatte man dort offenbar seit Beginn dieser Angelegenheit große Vorbehalte.30 Von einer Gegendekoration wurde allerdings strikt Abstand genommen.31 In Rücksicht darauf, dass sich Dr. Redlich Mitte April in Budapest aufhielt, erfolgte die Übergabe von Insignien und Urkunde daher in einer Privataudienz ohne jedes Zeremoniell am 25. April 1930. Dabei erklärte Redlich, dass ihm der „Großmeister-Stellvertreter des Grabesritter-Ordens“, Bischof Dr. Josef von Lányi,32 aus Budapest telegraphiert und 29 30
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AdR, Präsidentschaftskanzlei Zl. 2753/1930 Für die Beamten der österreichischen Präsidentschaftskanzlei, die sich in der Tradition der kaiserlichen Kabinettskanzlei verstanden, bedeutete die allzu leichtfertige und von außen lancierte Initiative zur Verleihung von Ehrungen sehr bald eine Grenzüberschreitung. Aus Erfahrung hegte man einen gesunden Vorbehalt gegenüber jenen Interessen, die oft von anderen als den befugten Organen in das Auszeichnungswesen hineingetragen wurden. Damit versuchte man nicht nur die inflationäre Ausbreitung von Ehrungen zu beschränken, sondern vor allem Missbrauch: Die Ehrungen zu respektieren bedeutete, diese in ihrem eigentlichen Charakter als höchste Anerkennung zu bewahren. Siehe dazu Walter Goldinger (Hg.), Kaiserhaus, Staatsmänner und Politiker. Aufzeichnungen des k.k. Statthalters Erich Graf Kielmansegg, Wien 1966, S. 49 ff. Der Kabinettsvizedirektor bezeichnete die Vorgangsweise Redlichs daher im Akt als „Gschaftelhuberei eines Unbefugten“, der man „jedoch behufs Vermeidung einer Verstimmung des Patriarchen leider nicht entgegentreten kann“. AV des KVDir. Klastersky an den KD Löwenthal vom 22. April 1930, zu AdR, Präsidentschaftskanzlei Zl. 2753/1930 Eine Verleihung des Großen Ehrenzeichens am Bande an Patriarch Barlassina erfolgte erst am 18. Juli 1934 und wurde vom österreichischen Generalkonsul in Jerusalem vorgenommen. Neues Wiener Journal Nr. 14.604 vom 19. Juli 1934. Die Resolvierung wurde vom Bundespräsidenten Miklas schon im Jahr 1933 vorgenommen; AdR, Präsidentschaftskanzlei Zl. 11667/1933 Geb. 29. Juni 1868, gest. 28. September 1931, Vertrauter und Ungarischlehrer des Thronfolgers Franz Ferdinand, Domherr von Großwardein und Weihbischof, Statthalter des Lateinischen Pat-
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ersucht habe, dem Herrn Bundespräsidenten „die herzlichsten Glückwünsche im Namen der ungarischen Hl. Grab-Brüder, wie auch in meinem Namen gelegentlich der Verleihung unseres Großkreuzes“ auszurichten. Die Präsidentschaftskanzlei ersuchte in der Folge das Kabinett des Außenministers, für die dem Herrn Bundespräsidenten erwiesene Würdigung in geeigneter Weise wärmsten und aufrichtigsten Dank zu entbieten. Dabei wurde das Kabinett auch von den von Redlich anlässlich der Audienz gemachten Äußerungen informiert, nach denen die Errichtung eines eigenen Kapitels des Ordens vom Heiligen Grab für Österreich geplant sei. Redlich verwies dabei auf die in Spanien herrschende Situation, wonach das Staatsoberhaupt als Groß-Bailli des Kapitels in Aussicht genommen werde. Diese Sache, so die Erledigung der Präsidentschaftskanzlei vom 10. Mai 1930, könne möglicherweise in absehbarer Zeit aktuell werden.33 Am 18. Mai, also wenige Tage später, wurde der genannte Bischof Josef von Lányi in seiner Eigenschaft als Statthalter des Lateinischen Patriarchen Barlassina vom ungarischen Reichsverweser Nikolaus von Horthy empfangen. Bei dieser Gelegenheit überreichte Bischof Lányi diesem die Insignien des Großkreuzes des Ritterordens vom Heiligen Grab und die Verleihungsurkunde des Lateinischen Patriarchen. In den Zeitungsmeldungen wurde unter anderem brühwarm darauf hingewiesen, dass auch Bundespräsident Miklas Großkreuzritter des Ordens vom Hl. Grab ist34 bzw. dass Horthy das dritte nicht-katholische Staatsoberhaupt war, das diesen Orden erhielt.35 Innerhalb von etwa fünf Wochen waren drei Staatsoberhäupter mit dem Orden vom Heiligen Grab ausgezeichnet worden. Und die zentrale Figur dafür, auch für die letzte Verleihung bei Horthy,36 war der damals nicht ganz 37 Jahre alte Legationsrat Dr. von Redlich.37 Da die Präsidentschaftskanzlei weiterhin an der Seriosität Redlichs Zweifel hegte, war das Bundeskanzleramt mit weiteren Erhebungen zur Person Redlichs betraut worden. Das Ergebnis war, dass Legationsrat Dr. Redlich mit keiner der in Wien bekannten Familien dieses Namens verwandt war.38 Sein schillernder Lebenslauf als Jurist mit seinem diriarchen in Ungarn für den Orden vom Heiligen Grab. Nachruf in Nemzeti Ujság 13. Jg. Nr. 220 vom 29. September 1931, S. 5 33 AdR, Präsidentschaftskanzlei Zl. 5410/1930 34 Uj Nemzedék 12. Jg. Nr. 112 vom 18. Mai 1930 35 Nemzeti Ujság 12. Jg. Nr. 112 vom 18. Mai 1930 36 D’Assemani, Cross. S. 123, gibt den Hinweis, dass ein Vertreter des ersten amerikanischen Kapitels eine wichtige Rolle bei der Verleihung des Großkreuzes an Horthy spielte. 37 Marcellus Donald Alexander Ritter von Redlich, geb. 15. August 1893 in Dées, Siebenbürgen (heute Dej, RO), gest. 24. Juni 1946 in Chicago 38 Er war nicht verwandt mit dem aus Göding in Mähren stammenden, hoch angesehenen Universitätsprofessor und kurzzeitigen k.k. Finanzminister, Dr. Josef Redlich, aber auch nicht mit der ebenfalls aus Mähren stammenden und in Wien ansässigen Industriellenfamilie Redlich, die in
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plomatischen Wirken in internationalen Organisationen, seine Publikationen, seine zahlreichen akademischen und diplomatischen Titel,39 Würden und Orden,40 die sich zum Teil als echt nachvollziehen lassen, weckten bei den Sachbearbeitern des Kanzleramtes und der Präsidentschaftskanzlei dennoch Zweifel, ob dieser Mann diese Aktivitäten so ganz uneigennützig verfolgte. So wurde auch Bischof Lányi im Juli des Jahres von den Ergebnissen der Erhebung informiert.41 Der Akt wurde vom Bundespräsidenten vidiert und mit der Beifügung versehen, dass es wohl am zweckmäßigsten wäre, den Gedanken der Gründung eines Kapitels vom Hl. Grabe für Österreich ganz fallen zu lassen.42
6. Ein tauglicher Rechtsrahmen für den Orden
Bereits im Dezember desselben Jahres veranlasste der Souveräne Malteserorden eine gerichtliche Verwarnung an den Orden vom Heiligen Grab. Beim Studium der Quellen zu diesem Artikel ist es unter Rücksicht auf die bei Cramer konstatierte Empfindlichkeit des Malteserordens43 nachvollziehbar, wenn dieser in der Verwarnung den Gebrauch von Tizwei Linien unter Kaiser Franz Joseph I. geadelt wurde. Letztere waren mit den Familien Kuffner und Popper von Podhrágy versippt und durch ihre großzügigen Leistungen zur Verbesserung der sozialen Situation für die Arbeiterschaft bekannt. Eine polizeiliche Überprüfung des Dr. Redlich ergab, dass er aus Dées in Siebenbürgen stammte und der von ihm geführte Adelstitel nicht nachvollziehbar war. Weiters, dass Redlich vor dem Krieg schon nach Amerika ausgewandert war und auch Kriegsdienst für die Vereinigten Staaten leistete. Nach dem Krieg, im Jahr 1921, war er nach Österreich gekommen und hatte in seinen Geschäften vorerst weniger Erfolg. AdR, Zl. Präsidentschaftskanzlei Zl. 5410/1930, S. 1 f.; Todesanzeige, Chicago Daily Tribune, Vol. CV Nr. 148 vom 25. Juni 1946, S. 16 39 Konsul des Fürstentums Monaco in Chicago mit 9. Juli 1925. Siehe in Foreign Consular Offices in the United States. Washington 1934, S. 35; Konsul der Lettischen Republik in Indianapolis mit 5. Februar 1927, Pauls Kroders (Hg.), Latvijas Darbinieku Galerija 1918–1928, Riga 1929, S. 98 f. Honorar-Generalkonsul von Persien. Siehe in Register of the Department of State. Washington 1929 (The Biographic Register), S. 333, 344 40 Das Offizierskreuz des 1924 gestifteten lettischen Ordens der drei Sterne wurde Marcellus D. Redlich mit Entschließung vom 13. November 1929 verliehen (lfd. Nr. 978). Valdības Vēstnesis (Amtsblatt der lettischen Regierung), Nr. 261 vom 16. November 1929 Über das weitere Schicksal des Herrn Marcellus Redlich ist nur wenig bekannt. In einem Schrei41 ben des Genealogen Karl Friedrich von Frank zu Döfering an Bundespräsident Miklas vom 7. Dezember 1931 berichtet der Schreiber von Informationen, aus denen hervorgeht, dass Redlich mittlerweile aus dem Orden vom Heiligen Grab in New York ausgeschlossen worden sei. AdR, Präsidentschaftskanzlei Zl. 10330/1931 42 AdR, Präsidentschaftskanzlei Zl. 5410/1930, S. 3 f. 43 Cramer, Ritterorden, S. 89, berichtet dazu, dass der Patriarch trotz der päpstlichen Erklärung, dass
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teln sowie Usancen durch den Orden vom Heiligen Grab kritisierte, welche durch Nachahmung zu einer Verwechslung der beiden Orden führen konnte „und dem Vorrecht des Malteserordens damit Abbruch tue“. Freilich wurden Meldungen in den Medien mangels Sachkenntnis möglicherweise auch verzerrt wiedergegeben. So wurde dem Orden vom Heiligen Grab etwa das Epitheton „militärisch“44 zugeschrieben, es wurde vom Amt eines „Stellvertretenden Großmeisters“ berichtet45 oder historisch begründete Rangfragen unter den Ritterorden behandelt.46 Dies war aber manchmal wohl auch auf den nicht genügend sorgsamen Umgang mit den Begriffen durch die mehr oder weniger legitimierten Vertreter des Ordens vom Heiligen Grab selbst zurückzuführen.47 Die Verwarnung des Malteserordens lieferte dem Papst den äußeren Anlass, die Situation des Ordens vom Heiligen Grab, welche sich durch die Zurücklegung des Großmeisteramtes ergeben hat, einer eingehenden Überprüfung durch eine Kardinalskommission zu unterziehen. Im Sommer 1931 legte die Kardinalskommission das mit einstimmigem Votum zustande gekommene Ergebnis vor, dem Papst Pius XI. beitrat und dieses mit einem Dekret „Super Controversia“ vom 5. August 1931 veröffentlichte. Vorangestellt wird das Bedauern, dass ein Orden gegen einen anderen Orden gerichtlich vorgegangen ist. Hierauf wurde erklärt, dass die den Orden vom Hl. Grab betreffenden Apostolischen Schreiben der Päpste Pius IX., Pius X. sowie sein eigenes vom 6. Jänner 1928 zusammengenommen gleichsam als das neue Fundament des Ordens vom Heiligen Grab betrachtet werden müssen. Der Orden vom Hl. Grab sei durch das Schreiben von Pius IX. vom 24. Jänner 1868 als neu gegründet anzusehen. Bezüglich der geschichtlichen Entstehung sei ein Rückgriff auf Dokumente vor diesem Datum nicht statthaft. Dies sollte klarstellen, dass der Malteserorden insofern nicht beeinträchtigt werden kann, als sich der Orden vom Heiligen Grab im Hinblick auf das Auftreten und das Brauchtum im Rahmen seines gesetzlichen Fundaments bewegt. Darunter fielen unter anderem diverse Titulaturen beim Ordensnamen oder auch Respektierung, dass dem Lateinischen Patriarchen weder der Titel eines Bailli noch der eines Großmeisters zustehe. Der zweite Teil des Dekretes begann mit einer bemerkenswerten Formulierung, damit „sich nicht länger auswachsen soll, was in letzter Zeit gegen das Recht eingeführt worden ist“. Es
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die Großmeisterwürde für erloschen erklärt wurde, von unwissenden Personen als solcher tituliert wurde. Siehe FN 28 In der zitierten ungarischen Zeitungsmeldung zu FN 23 ist zu lesen, dass Papst Pius die Großmeisterwürde 1928 auf den Lateinischen Patriarchen übertragen hatte. In der Zeitungsmeldung zu FN 24 wird konstatiert, dass der Orden vom Heiligen Grab vor den Maltesern und den Templern der älteste kirchliche Ritterorden sei. Der Titel eines „Stellvertretenden Großmeisters“ für Bischof Lányi findet sich aber sogar im Akt der Präsidentschaftskanzlei (AdR, Präsidentschaftskanzlei Zl. 3724/1930) und kann daher so nur von Redlich verwendet worden sein.
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wurden daher kraft höchster Autorität Grundsätze aufgestellt, „… damit diese zwei Orden, beide hochverdient um die Kirche, jeder in seinen Grenzen, den herrlichen Fußspuren seiner Vorfahren folgend, fortfahren können, für die Kirche illustre Taten aufzuhäufen …“. Diese Festlegungen lauteten wie folgt: • Der Ritterorden vom Heiligen Grab erhält zu seinem offiziellen Namen den Zusatz „zu Jerusalem“. • Se. Exzellenz der Lateinische Patriarch von Jerusalem führt den Titel eines „ständigen Leiters und Verwalters des Ordens.“ • Es ist dem Ordo Equester Sancti Sepulcri Hierosolymitani verboten, Namensbeisetzungen wie „sacer“ oder „militaris“ zu führen oder dem Patriarchen von Jerusalem den Titel eines Großmeisters oder eines Bailli beizugeben. • Die Namen jedes vom Patriarchen neu ernannten Ritters sind der päpstlichen Kanzlei der Breven mitzuteilen, die Letztere hat den Vorgang in den Akten zu dokumentieren und das Diplom zu siegeln und gegenzuzeichnen; damit wurde der Orden formal wieder zu einem Rechtssubjekt des kirchlichen Rechts. • Den Statthaltern des Ordens soll als Vertretern des Patriarchen das Prädikat Exzellenz verliehen werden.48 Damit konnten nicht nur die Differenzen mit dem Malteserorden beigelegt werden, sondern es wurden auch die rechtlichen Grundlagen für ein neues Statutenwerk des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem geschaffen. Die aufgrund dieses Dekrets entsprechenden Satzungen wurden von Pius XI. am 2. März 1932 genehmigt und vom Präfekten der Zeremonialkongregation, Gennaro Kardinal Granito Pignatelli del Belmonte49 mit 19. März 1932 in Kraft gesetzt.50 Im Zusammenhang mit der Themenstellung dieses Artikels ist es von besonderem Interesse, dass sich in diesem neuen Statut der Korporationsgedanke, der in Ansätzen bereits 1907 Eingang gefunden hat, nun weiter ausgebaut wurde. Somit war für die Bildung von Statthaltereien bzw. Genossenschaften in Ordensprovinzen auch Vorsorge getroffen. Ganz nach dem Vorbild der bestehenden Strukturen in Italien sollte in den einzelnen Ländern nicht nur ein Statthalter als Vertreter des Patriarchen eingesetzt werden, sondern eine ganze Statthaltereiregierung (Ordensrat, heute Statthaltereirat), an deren zweiter Stelle ein Prior aus dem geistlichen Stand stehen sollte, der das religiöse Leben in der Ordensprovinz zu betreuen und zu pflegen hatte. Der Aufbau dieser korporativen Strukturen lieferte gleichzeitig auch Instrumente für die Mitwirkung bei der Aufnahme neuer Mitglieder und der gewissenhaften Prüfung der dafür erforderlichen Voraussetzungen. Neben dieser Stär48 Cramer, Ritterorden, S. 91 49 Geb. 10. April 1851, gest. 16. Februar 1948, Apostolischer Nuntius in Österreich 1904–1911 50 Feldkamp, Grabesritter, S. 127
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kung der dezentralen Einheiten wurde eben auch erkannt, dass diese gleichzeitig einer verstärkten Koordination bedürfen. So wurde das Amt eines Referendars mit dem Titel Exzellenz als neue zentrale Instanz eingeführt, die dem Patriarchen Bericht erstatten konnte und Anlaufstelle der dezentralen Strukturen sein sollte.51 Nun, da die rechtlichen Voraussetzungen zur möglichst weitgehenden Schaffung von Statthaltereien getroffen worden waren, musste natürlich auch an die Umsetzung gedacht werden, und dabei sollte Österreich wieder eine wichtige Rolle spielen. Es war geplant, einen allgemeinen Kongress des Ritterordens vom Heiligen Grab in Jerusalem einzuberufen, was jedoch an politischen und wirtschaftlichen Umständen scheiterte. Letztlich konnte vom 6. bis 15. September des Jahres 1932 zu einer Konferenz eingeladen werden, die sich in erster Linie an europäische Vertreter meist schon bestehender Statthaltereien richtete. Unter Vorsitz des Lateinischen Patriarchen nahmen Vertreter aus Italien (mit 5 Landesgruppen), Frankreich, Spanien, Deutschland, England, den Niederlanden und Österreich teil; Belgien, die Tschechoslowakei und Ungarn ließen sich vertreten. Obwohl Österreich über keine eigene Statthalterei verfügte, spielte es dennoch mit dem Generalvikar des Patriarchates, Weihbischof Dr. Franz Fellinger, eine führende Rolle, umso mehr, als dieser seit 1917 Ritter des Ordens war52 und als Leiter des Österreichischen Hospizes die Konferenz auch in seinem Haus ausrichten durfte.53 Neben einem Rahmenprogramm wurden unter den Teilnehmern die neuen Statuten und Maßnahmen zur Verwirklichung der Ordensziele erörtert.54 Dazu gehörte nun auch die Errichtung von Statthaltereien in jenen Ländern, in welchen solche noch nicht existierten. Während dieser Zeit gab es in Österreich bereits Bestrebungen, den Orden vom Heiligen Grab in Österreich zu beleben. Im Jahr 1932 fanden sich der ehemalige Hofkaplan, Domkapitular Dr. Franz Hlawati,55 der stv. Chefredakteur der Reichspost, Oberst a. D. Walter Adam,56 und Dr. Franz Graf Montjoye-Vaufrey57 in einem Komitee zusammen, um dem Orden auch in Österreich eine zukunftstaugliche Perspektive zu geben.58 Rechtlich und faktisch war es aber wohl erst die 51 Cramer, Ritterorden, S. 93 f., Feldkamp, Grabesritter, S. 125 Geb. 23. März 1865, gest. 22. Juli 1940, Investitur 1917 in Jerusalem 52 53 Reichspost 39. Jg. Nr. 258 vom 15. September 1932, S. 8, bzw. Nr. 264 vom 21. September 1932, S. 8. D’Assemani, Cross, S. 137 f., nennt auch Konferenzteilnehmer aus Kanada, Kolumbien, Mexiko, Portugal und den Vereinigten Staaten. 54 Cramer, Ritterorden, S. 96 55 Geb. 1. Oktober 1868, gest. 26. Juli 1940 56 Geb. 6. Jänner 1886, gest. 26. Februar 1947 57 Eig. Franz von Thullières, Graf von Montjoye und de la Roche, geb. 5. Dezember 1900, gest. 30. Juni 1978 58 Schreiben von Montjoye an Dr. Fritz Bock, damals Staatssekretär, vom 26. Mai 1955, SthArch, Band ST 1949,51,54–56. Montjoye hatte 1932 auch schon Kontakt mit dem späteren Statthalter
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Konferenz im Österreichischen Hospiz zu Jerusalem, die Pate stand bei der Errichtung der ersten österreichischen Statthalterei des Ritterordens vom Heiligen Grab.59
7. Gustav Graf Sizzo de Noris, erster Statthalter der österreichischen Ordensprovinz
Noch im Dezember des Jahres 1932 meldete die Presse, dass der Großoffizier des Ordens vom Heiligen Grab, Graf Gustav Sizzo-Noris zum Statthalter der österreichischen „Ordensprovinz“ mit dem Titel Exzellenz ernannt wurde.60 Die Ernennung trat mit Wirkung vom 1. Jänner 1933 in Kraft. Gustav Heinrich Maria Reichsgraf Sizzo de Noris61 stammte aus dem seit dem 11. Jahrhundert nachgewiesenen florentinischen Adelsgeschlecht der Sizzo de Noris, die später auch Güter in Trient erwarben. Die Sizzo de Noris waren also auch Herren und Landmänner in Tirol und Patrizier von Trient. Sein Vater Heinrich62 war Kämmerer, Major a. D. der Württemberg-Husaren (Nr. 6) und Präsident der Tiroler Landwehr-Veteranenvereine, Ehrenritter des souveränen Malteserordens und trug seit 1882 das Großkreuz des Ordens vom Heiligen Grab.63 Die Mutter, Maria, war eine geborene Freiin Heine von Geldern,64 die Tochter des wohlhabenden Gründers des Fremdenblattes, Karl Gustav Freiherr Heine von Geldern. Somit war Sizzo auch der Großneffe von Heinrich Heine. Gustav Sizzo diente bei den Kaiser-Dragonern (Nr. 1) und wurde als Leutnant ausgemustert, schlug danach aber die zivile Laufbahn ein. Nach einer kurzen Ausbildung in der Statthalterei legte er 1899 die Konsularattachéprüfung ab. Nach Stationen in Bukarest, Berlin und Amsterdam wurde er 1904 als Vizekonsul in das österreichische Generalkonsulat nach London unter Alfred Freiherrn von Rothschild versetzt. Dort machte er sich verdient als Komitee-Vizepräsident der Österreich-Ausstellung am Earls Court.65 Aufgrund dieser Verdienste wurde ihm Anfang des Jahres 1907 das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens verliehen.66 Im Laufe dieses Jahres wurde er an das Konsulat nach Mailand versetzt.
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Gustav Graf Sizzo und tauschte sich mit diesem u. a. über politische und religiöse Fragen, etwa die Ernennung Innitzers zum Erzbischof, aus. HHStA, Familienarchiv Montjoye, Kt. III/10 Vgl. dazu die Gründungen in Deutschland 1933 oder in Ungarn. Wiener Salonblatt 63. Jg. Nr. 26 vom 18. Dezember 1932, S. 9. Die Meldung erfolgte mit der Nachricht über die Ernennung von S.D. Fürst Franz Josef zu Salm-Reifferscheidt-Dyck zum Statthalter der deutschen „Ordensprovinz“. Geb. 14. 2. 1873 in Trient, gest. 1.4.1943 in Wien (Whg. Dominikanerbastei 4) Geb. 11. November 1841, gest. 27. Februar 1912 Wiener Zeitung Nr. 157 vom 11. Juli 1882, S. 1 Geb. 8. April 1848, gest. 30. Juni 1911 Internet [4.1.2020] https://archive.org/details/imperialroyalaus00earl/page/n9 Wiener Zeitung Nr. 31 vom 7. Februar 1907
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Am 14. April 1910 heiratete er in der Minoritenkirche Helene Theresia Caroline Träger Edle von Rhonhof,67 sie war die einzige Tochter des wohlhabenden Ersten Sektionschefs im Arbeitsministerium, Theodor Träger Edler von Rhonhof, der die Hochbautensektion des Ministeriums leitete.68 Nach seiner Hochzeit wurde Sizzo nunmehr als k.k. Konsul zur Stellvertretung Rothschilds nach London berufen und blieb dort bis zum Kriegsausbruch.69 Während des ersten Kriegsjahres zunächst in provisorischer Verwendung des Außenministeriums, wurde Sizzo im September 1914 als Vertreter dieses Ministeriums dem Roten Kreuz zugeteilt.70 Im Jahr 1915 wurde ihm der Orden der Eisernen Krone III. Klasse verliehen.71 Während des Krieges engagierte sich Sizzo auch ehrenamtlich, so war er gemeinsam mit dem ehemaligen k.k. Ministerpräsidenten Max Vladimir von Beck etwa Mitglied des Komitees für die Flüchtlinge aus dem Süden.72 Der Kaiser verlieh ihm im letzten 67
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Geb. 14. April 1879, gest. 20. April 1934. In den Gesellschaftsjournalen wurde die Braut als bildschön beschrieben (Wiener Salonblatt Nr. 19 vom 8. Mai 1910, S. 5 u. 9), sie war allerdings auch aus einem sehr vermögenden Haus. Vater Theodor nahm unter den 929 Millionären, die 1910 in der Reichshaupt- und Residenzstadt lebten, den Rang 291 ein. Roman Sandgruber, Traumzeit für Millionäre, die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910, Wien 2013, S. 454. Damit war Trägers Einkommen vergleichbar mit jenem des Wilhelm Schrantz, Präsident des Landmaschinenherstellers Hofherr-Schrantz-Clayton-Shuttleworth AG mit Rang 288. Zum Vergleich: Leopold Graf Berchtold, dessen Witwe Ferdinandine Gräfin Károlyi mit dem späteren kommissarischen Statthalter bzw. Regenten des Ordens vom Hl. Grab, Dr. Heinrich Höfflinger, verheiratet war, belegte Rang 331. Die Schokoladefabrikanten Gustav und Wilhelm Heller, Onkel und Vater des 1936 investierten Ordensritters Stefan Heller(-Huart), nahmen die Plätze 446 respektive 375 ein. Lebenslauf in der Wiener Zeitung Nr. 30 vom 8. Februar 1917, S. 7 Rudolf Agstner, Handbuch des k.k./k.u.k. Konsulardienstes, Wien 2018, S. 477. Am 3. Juli 1914 wurde in der katholischen Westminster-Cathedral ein Requiem für das ermordete ThronfolgerEhepaar zelebriert; König Georg V. war durch den Prinzen von Connaught vertreten, die Königinmutter durch Lord Howe. Am Gottesdienst nahmen auch König Manuel II. von Portugal, der Premierminister Asquith und der Foreign Secretary Sir Edward Grey teil. Am 16. August nachts reiste eine Gruppe Österreicher, darunter die Bediensteten der diplomatischen und konsularischen Vertretungen im Vereinigten Königreich, geschlossen ab, dabei wurden sie von der fast vollständig anwesenden Regierung Asquith verabschiedet. Die Reise ging mit dem Dampfer von Falmouth über Gibraltar nach Genua. Fremden-Blatt vom 4. Juli 1914, Neue Freie Presse Nr. 17961 vom 26. August 1914, S. 6. Während dieser Reise starb übrigens Papst Pius X. am 20. August 1914. Hier war er Mitarbeiter des damaligen Leiters der Kriegsgefangenenhilfe, Rudolf Karl Freiherr von Slatin Pascha, der 1914 ebenso aus England nach Österreich kam. Weiters machte er dort auch Bekanntschaft mit Angelo Eisner von Eisenhof (Komturkreuz des Ordens vom Hl. Grab, 1917/18; scheint so in Lehmanns Adressbuch 1919 auf ), der Schriftführer des Komitees für den Roten Halbmond war. Dazu Sport und Salon 18. Jg. Nr. 5 vom 30. Jänner 1915, S. 2 Engelbert Deusch, Die effektiven Konsuln Österreich(-Ungarns) von 1825 bis 1918, Wien 2017, S. 607 f. Zur Konstituierung des Komitees. Neues Wiener Journal 49. Jg. Nr. 192 vom 13. Juli 1915, S. 15. Es existieren auch mehrere Aufrufe in Tageszeitungen, z. B. in der Neuen Freien Presse Nr. 18902 vom 6. April 1917.
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Kriegsjahr noch den Titel des Generalkonsuls II. Klasse.73 Nach dem Ende der Monarchie wurde er 1919 in den Stand der Verfügbarkeit versetzt bzw. seine Pension eingestellt. Er wurde italienischer Staatsbürger, hatte seinen Wohnsitz aber weiterhin in Wien und wurde einer der Vizepräsidenten der 1923 neu konstituierten Allgemeinen Industriebank in Wien.74 Diese Bank brach jedoch im Zuge des großen Bankenkrachs im Frühjahr 1924 als eine der ersten kleinen Banken zusammen und musste Ausgleich anmelden.75 Dieser Zusammenbruch hatte für Sizzo unangenehme Folgen: Er wurde mit anderen Mitgliedern des Verwaltungsrates der fahrlässigen Krida beschuldigt, und der Prozess zog sich über Jahre. Letztendlich wurde Sizzo aber von allen Beschuldigungen freigesprochen.76 Nichtsdestoweniger waren diese Jahre auch eine Zeit der Privatheit und vor allem durch das gesellschaftliche Engagement geprägt, das Graf Sizzo mit seiner Frau teilte. Helene Gräfin Sizzo war schon während des Krieges ehrenamtlich stark engagiert,77 sie zählte zu den Gründern des Wiener Kulturbundes und war mit dem Einsatz ihrer Mittel als Mäzenatin und durch ihre literarischen Abende bekannt, bei denen sich die Wiener Elite traf.78
8. Nur fünf Jahre sind wenig Zeit zur Entfaltung
Bislang wurde die Gründung der Statthalterei in Österreich zwischen den Kriegen in der historischen Betrachtung immer wieder vernachlässigt, ja geradezu verdrängt. Dabei wurde oft lapidar wiederholt, dass dem Orden mit der Schaffung der Statthalterei in Österreich zwar „erstmals der organisatorische Rahmen geschaffen wurde, den er in dieser Epoche allerdings kaum aktiv nutzte“.79 Wie zu zeigen sein wird, ist die Beurteilung einer mangelnden Aktivität der ersten Jahre der Statthalterei aber nicht haltbar. Auf die Notwendigkeit einer eingehenderen Erforschung dieses Zeitraums in der Ordensgeschichte wies als Erster der ehemalige Statthalter 73 74 75 76 77
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Wiener Zeitung Nr. 185 vom 14. August 1918 Die Börse 4. Jg. Nr. 27 vom 5. Juli 1923, S. 26 Fritz Weber, Vor dem großen Krach. Österreichs Banken in der Zwischenkriegszeit am Beispiel der Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, Wien 2016, S. 112 ff. Salzburger Chronik 65. Jg. Nr. 168 vom 24. Juli 1929 Sie wurde für ihr Engagement mit der Silbernen Ehrenmedaille vom Roten Kreuze mit der Kriegsdekoration und dem Kriegskreuz für Zivilverdienste II. Klasse ausgezeichnet: Neues Wiener Journal 24. Jg. Nr. 8224 vom 21. September 1916, S. 8; Neues Wiener Tagblatt 52. Jg. Nr. 125 vom 10. Mai 1918, S. 14 (rechte Spalte); Wiener Salonblatt 65. Jg. Nr. 10 vom 6. Mai 1934, S. 11. Neues Wiener Journal Nr. 14517 vom 22. April 1934 U. a. Website der Österreichischen Statthalterei des Ordens vom Heiligen Grab, Internet: [25.1.2020] https://www.oessh.at/orden/geschichte
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Edwin Gräupl anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Österreichischen Statthalterei im Jahr 2003 hin.80 Mit dem Beginn des Wirkens der Statthalterei im Jänner 1933 standen dem Orden in Österreich bis zur Machtergreifung der Nazis praktisch nur etwa fünf Jahre zur Verfügung, um sich halbwegs eine funktionierende Struktur zu geben, sich nach innen zu sammeln und eine Gemeinschaft zu formen bzw. nach außen im Sinne des Ordensideals zu wirken. Das war in einer Gruppe, die niemals eine Leitung hatte, doch ein schwieriges Unterfangen. Die einzelnen Mitglieder hatten wohl auch die unterschiedlichsten Erfahrungen zu ihrer Mitgliedschaft, angefangen als Pilger in Friedenszeiten bis hin zu Angehörigen einer im Heiligen Land stationierten Heeresgruppe der k.u.k. Armee, also als Vertreter einer im Orient auftretenden und sich im Krieg befindlichen Schutzmacht. Der neue Statthalter Sizzo ließ anfangs keine Zeit ungenützt verstreichen, denn schon am 17. Jänner 1933 überreichte er der Gemahlin des Bundespräsidenten, Frau Leopoldine Miklas, das ihr vom Lateinischen Patriarchen von Jerusalem verliehene Damenkreuz I. Klasse des Ordens vom Heiligen Grab.81 Der Orden erfreute sich daher weiterhin der Sympathie des Präsidentenehepaars. Darüber hinaus genoss der Orden auch das besondere Wohlwollen des im September 1932 neu ernannten Erzbischofs von Wien, Theodor Innitzer. Dieser hatte sich als Kurator des Österreichischen Hospizes den Ruf eines aktiven Förderers des Heiligen Landes erworben.82 Die Unterstützung von höchster kirchlicher Stelle gab dem Orden in Österreich natürlich einen moralischen Auftrieb. Kaum ein Jahr später, nämlich am 8. September 1933, wurde dem Kardinal das Großkreuz des Ordens verliehen.83 Dass die Verleihung trotz des gedrängten Programmes des Allgemeinen Deutschen Katholikentages in Wien möglich war, war wohl auch ein Zeichen der Wertschätzung des Ordens vom Heiligen Grab durch den neuen Wiener Erzbischof. Der Katholikentag war natürlich auch ein Rahmen, in dem die österreichischen Mitglieder des Ritterordens verstärkt durch ranghohe Vertreter aus Italien zum ersten Mal in einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurden.84 Wenig später, am 28. Oktober 1933, wurde Bundespräsident 80
Edwin Gräupl, Der vergessene Statthalter. In: Aufsätze über den päpstlichen Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem. Salzburg 2011, S. 33 ff. Internet: [4.1.2020] https://issuu.com/edwinswelt/docs/ grabesritter 81 Wiener Salonblatt 64. Jg. Nr. 3 vom 19. Jänner 1933, Wiener Zeitung Nr. 21 vom 26. Jänner 1933, S. 7 82 Wohnout, Hospiz, S. 137 83 Mühlviertler Nachrichten 45. Jg. Nr. 37 vom 15. September 1933, S. 13 84 Bei den Katholikentagsfeiern wurde neben dem österreichischen Statthalter die Teilnahme des Referendars S. E. Marchese Mario Mocchi, des Prinzen und der Prinzessin Carlo Lodovico Gonzaga(-Vescovado) sowie des Großoffiziers Mario Geronazzo vermeldet. Wiener Salonblatt 64. Jg. Nr.19 vom 10. September 1933; zu Geronazzo vgl. Cramer, Ritterorden, S. 99
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Kette mit den Ordensminiaturen des Bundespräsidenten Wilhelm Miklas: Großstern des Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich (später Österreichischer Verdienstorden), Militärverdienstkreuz I. Klasse (1935), Ritter des Höchsten päpstlichen Christusordens, Ehrenbailli-Großkreuz des souveränen Malteser-Ordens, Ehrenritter des Deutschen Ordens, Großkreuz des griechischen ErlöserOrdens, Großkreuz des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem
Miklas in einer Zeremonie im Stephansdom in Anwesenheit Kardinal Innitzers und des Nuntius Erzbischof Enrico Sibilia in den Höchsten päpstlichen Christusorden investiert.85 Neben der breiten Öffentlichkeit musste die Statthalterei sich aber auch nach innen konsolidieren. Dabei war es wichtig, jene Grabesritter überhaupt einmal auszumachen, die im Gebiet des damaligen Österreich lebten. Manche waren ja bereits allgemein bekannt, vor allem jene, die in Wien und Umgebung lebten,86 schwieriger wurde es jedoch mit jenen, die abseits der Kommunikationslinien ihren Wohnsitz hatten. Es muss allerdings da85
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Eig. Militia Domini Nostri Iesu Christi bzw. Ordine Supremo del Cristo; diese Verleihung stand in einem zeitlichen Konnex zu der im Juni 1933 erfolgten Unterzeichnung des Konkordats und des im September darauf abgehaltenen Allgemeinen Deutschen Katholikentages in Wien. Über den Ablauf der Investitur siehe Wiener Diözesanblatt 71. Jg. Nr. 11 Jg. vom 28. November 1933, S. 87 ff. Es existiert neben dem Status 1938 der Statthaltereiregierung eine Liste vom 1. August 1950, die ohne das Präsidentenpaar und den Kardinal 19 Mitglieder umfasst. Von diesen 19 Personen waren 10 aus Wien, 3 aus Salzburg, 2 aus der Steiermark und je eine Person aus Kärnten, Niederösterreich, Tirol und Vorarlberg. In diesen Zahlen sind jedenfalls jene nicht enthalten, die vor diesem Zeitpunkt verstarben, das sind nachweislich Eisner, Hlawati, Sizzo, Adam und Presch. Die Statthalterei ging daher im März 1938 von einem Status von 23 Mitgliedern aus. SthArch, ST Nachtragsband 1936–53
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von ausgegangen werden, dass diese überlieferte Mitgliederliste nicht alle Grabesritter und Matronen, die auf dem Bundesgebiet lebten, umfasste.87 Vorerst ging es um die Stärkung der Ordensregierung in der Statthalterei und die Knüpfung von Kontakten mit dem Klerus über die Mitgliedschaft des Erzbischofs hinaus. Es besteht leider nur eine vage Information, dass der mittlerweile zum Prälaten ernannte Dr. Franz Hlawati im Jahr 1934 endlich in den Ritterorden investiert wurde,88 um zum Prior der neuen Statthalterei ernannt zu werden.89 In den folgenden Jahren nützte Hlawati seine Kräfte, um den Statthalter Sizzo zu unterstützen. Bald ergingen daher Aufrufe an die österreichischen Ritter, sich bei Hlawati zu melden, um die Anzahl und den Stand der Ordensritter im Land zu erheben.90 Auf Hlawati kam allerdings noch ein zusätzliches Arbeitspensum zu, weil der Statthalter seinen Beitrag durch die Krankheit und den frühen Tod seiner Gemahlin im Frühjahr 1934 nicht voll zu leisten imstande war.91 Im August 1935 kam eine große Pilgerfahrt nach Jerusalem zustande, die unter dem Ehrenschutz von Bundepräsident Miklas und Kardinal Innitzer stand. Die Pilgergruppe, der auch Prälat Hlawati und eine Tochter des Bundespräsidenten angehörten, wurde von Weihbischof Dr. Franz Kamprath und dem Generaldirektor des Katholischen Volksbundes, Msgr. Dr. Jakob Fried, geleitet. Statthalter Sizzo war schon wenige Tage zuvor von Triest aus aufgebrochen und begleitete die Pilger; er blieb allerdings noch über einen Monat in Jerusalem.92 Am 10. Oktober 1936 wurden zwei Personen des engeren Kreises der neu errichteten Statthalterei aufgenommen. Oberst im Generalstab a. D. Walter Adam, seit 1934 Bundeskommissär des Heimatdienstes,93 erhielt das Komturkreuz mit dem Stern, und mit ihm
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Lücken bestehen etwa bei den Damen; es werden (absichtlich?) keine erwähnt, weder die Erzherzogin Stephanie noch Frau Leopoldine Miklas, bei den Rittern fehlen z. B. damals bekannte Persönlichkeiten wie der k.u.k. Botschafter a. D. Karl Freiherr von Macchio (geb. 23. Februar 1859, gest. 1. April 1945, Großkreuz 18. Juli 1907) oder der Generalmajor des Bundesheeres Michael von Vorner (geb. 26. April 1873, gest. 7. November 1950, Großoffizier). Dorotheum, Autographen, Handschriften, Urkunden-Auktion vom 26. November 2018. Pergler/Stolzer, Deus lo vult, 159 f. Das Aufnahmejahr 1934 findet sich für Hlawati in der Liste verstorbener Mitglieder in den jüngeren Mitgliederverzeichnissen der Öst. Statthalterei des Ordens vom Hl. Grab, zuletzt 2018. Es sind im Statthaltereiarchiv wenige Dokumente erhalten, die Hlawati als Prior nachweisen. SthArch, ST Nachtragsband 1936–53 Kleine Volkszeitung 82. Jg. Nr. 13 vom 14 Jänner 1936, S. 7; Allg. Tiroler Anzeiger 29. Jg. Nr. 11 vom 15. Jänner 1936, S. 3 Neues Wiener Journal Nr. 14517 vom 22. April 1934 Neues Wiener Journal Nr. 14980 vom 4. August 1935, S. 21; Nr. 15000 vom 24. August 1935, S. 10 Propagandainstitution der Vaterländischen Front, in dieser Institution arbeitete von 1935–1938 auch der spätere Vizekanzler und Statthalter des Ordens vom Heiligen Grab, Dr. Fritz Bock. Dazu Maria Sporrer/Herbert Steiner (Hgg.) Fritz Bock, Zeitzeuge. Wien 1984
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wurde auch Dr. Franz Graf Montjoye-Vaufrey als Ritter investiert.94 In Anwesenheit des Statthalters Sizzo und des Priors Hlawati sowie aller Ordensritter aus Wien hielt Kardinal Innitzer eine feierliche Rede und überreichte die Insignien, indem er die neuen Ordensmitglieder beglückwünschte.95 Wenn man bedenkt, dass diese beiden Personen neben Prälat Hlawati jene waren, auf die sich die Entwicklung der Statthalterei im Jahr 1932 stützte, wird klar, wie lange es damals bis zu einer Investitur dauerte, nämlich vier Jahre, und wie langsam das Projekt einer Verbreiterung bzw. Verjüngung der Mitgliederschaft erreicht werden konnte. Im selben Jahr wurde übrigens noch der bekannte Schokoladenfabrikant, Kommerzialrat Stefan Heller, für den Orden gewonnen.96 Ein Empfang bei Statthalter Sizzo am 1. April 1937, an dem auch Kardinal Innitzer teilnahm, ermöglicht es uns, den damaligen Statthaltereirat zu rekonstruieren, in einer Zeitungsmeldung werden erwähnt97: Domkapitular Prälat Dr. Franz Hlawati als Prior, Bundeskommissär Walter Adam als Kanzler, der päpstliche Geheimkämmerer Angelo Freiherr Eisner von Eisenhof als Zeremonienmeister98 und Dr. Heinrich Höfflinger99 als Schatzmeister. Dies stimmt auch mit einem rekonstruierten Status der Statthalterei mit März 1938 überein, wobei dort auch Dr. Franz Graf Montjoye-Vaufrey als Bannerträger und Mitglied des Statthaltereirates aufgelistet ist.100 Am 25. Juli 1937 wurde der beliebte Volkspriester, Prälat Dr. Josef Gorbach,101 in den Ritterorden vom Heiligen Grab investiert. Er stammte aus Lochau am Bodensee und hatte sich bereits als Caritasdirektor von Vorarlberg und Herausgeber des „Zweigroschenblattes“ den Ruf eines tatkräftigen und prinzipientreuen Priesters erworben. Gorbach trat wortgewaltig gegen die Verführungen der damaligen Zeit auf,102 er war ein Mann des Wortes und der Tat. Anfang der dreißiger Jahre war er nach Wien gekommen und hatte sich besonders für die Arbeiterseelsorge eingesetzt. Innerhalb von fünf Jahren hatte er Mittel gesammelt, um sieben neue Gotteshäuser, sogenannte Notkirchen zu errichten. Bekannt waren da94
Die Entschließung des Patriarchen ist mit 10. Juni 1936 datiert, in der Kanzlei der Breven wurde sie gegengezeichnet am 14. Juli 1936, SthArch, ST Nachtragsband 1936–53 95 Wiener Salonblatt 67. Jg. Nr. 21 vom 18. Oktober 1936, S. 10, sowie Nr. 22 vom 1. November 1936, S. 8 96 Geb. 16. Mai 1895, gest. 17. September 1958; Liste der Ordensmitglieder 1950, SthArch, ST Nachtragsband 1936–53 97 Wiener Salonblatt 68. Jg. Nr. 8, vom 18. April 1937, S. 3 98 Geb. 24. Jänner 1857, gest. 2. April 1938, investiert 1917 in Jerusalem 99 Geb. 10. Februar 1882, gest. 27. Mai 1963, investiert 1913 in Jerusalem 100 Rekonstruierter Status mit 12. März 1938 Statthalterei Österreich mit Ergänzungen bis 1950, vom 1. August 1950, SthArch, ST Nachtragsband 1936-53 Gräupel, Der vergessene Statthalter, a. a. O. 101 Geb. 25. April 1889, gest. 6. April 1977; Notiz der Investitur im Diözesanblatt 76. Jg. Nr. 1 vom 29. Jänner 1938, S. 10 (Komturkreuz) 102 Zum Beispiel Josef Gorbach, Kampf dem Gottlosentum, Innsbruck-Wien-München, 1937
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bei die Arbeiterkirche bei der Philadelphiabrücke oder die Kirche am Tabor, die er mit dem jungen Architekten Clemens Holzmeister realisierte. Die Kirche Maria Namen in der Hippgasse war ganz im Sinne seines Programmes, sie ist bekannt für das große Glasbild des himmlischen Jerusalem.103 In Juli desselben Jahres wurde schließlich berichtet, dass der Adjutant des Sicherheitsdirektors von Salzburg, Gendarmerie-Oberstleutnant Otto Weinrichter, vom Lateinischen Patriarchen zum Komtur des Ritterordens vom Heiligen Grab ernannt wurde. Es war die erste und einzige Rangerhöhung in der neuen Statthalterei.104 Die Insignie wurde Weinrichter am 4. September durch den Erzbischof von Salzburg, Sigismund Waitz, überreicht.105 Im Jahr 1937 musste sich Statthalter Sizzo zwei schweren operativen Eingriffen unterziehen,106 die es notwendig machten, dass Prior Hlawati die Statthalterei während dessen Rekonvaleszenz führte.
9. Das Weizenkorn muss sterben, um Frucht zu bringen
Eine Fortführung des österreichischen Statthaltereilebens war mit dem Finis Austriae im März 1938 und der Machtergreifung der Nationalsozialisten in keiner Weise möglich. Statthalter Sizzo hätte nach den Nürnberger Rassengesetzen als „Mischling 1. Grades“ gegolten, er war jedoch italienischer Staatsbürger und blieb wohl deshalb unbehelligt. Er erholte sich nur schwer von seinen Operationen und verstarb am 1. Februar 1943.107 Der Ordenskanzler Oberst Walter Adam wurde verhaftet und mit dem ersten Prominententransport am 1. April 1938 in das KZ Dachau gebracht. Er verblieb bis 1943 in KZHaft und durfte danach wegen eines Gauverweises nicht in die Heimat zurückkehren. Am 26. Februar 1947 starb er an den Folgen seiner Haft an Tuberkulose.108 Wenige Monate nach seinem Tod erschien sein Werk, mit dem er seine Zeit im Konzentrationslager aufarbeitete. Es gehört zu einem der ersten Werke, die über den NS-Terror erschienen sind.109 Der Ordenszeremoniär Eisner von Eisenhof starb bald nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich am 2. April 1938. Die Todesanzeige verlautete, dass er „nach 103 104 105 106 107 108 109
Tiroler Anzeiger 30. Jg. Nr. 189 vom 19. August 1937, S. 4, Lochau Heute, 2007, Heft 98, S. 146 ff. Salzburger Volksblatt 67. Jg. Folge 164 vom 21. Juli 1937, S. 7; Weinrichter war seit 1912 Ritter vom Hl. Grab, Liste der Ordensmitglieder 1950, SthArch, ST Nachtragsband 1936–53 Salzburger Volksblatt 67. Jg. Folge 203 vom 4. September 1937, S. 9 Wiener Salonblatt 68. Jg. Nr. 17, vom 22. August 1937, S. 4; Nr. 23 vom 14. November 1937, S. 5 Todesanzeige, Neues Wiener Tagblatt 77. Jg. Nr. 38 vom 7. Februar 1943, S. 8 Gertrude Enderle-Burcel, Mandatare im Ständestaat. 1934–1938, Wien 1991, S. 36 f. Walter Adam, Nacht über Deutschland, Erinnerungen an Dachau, Neuauflage, Linz 2015
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Gottes Verfügung nach Erhalt der Sterbesakramente und des päpstlichen Segens im 82. Jahre in ein besseres Jenseits abberufen wurde.“110 Eine Verfolgung nach den Nürnberger Rassengesetzen blieb ihm somit erspart.111 Prior Hlawati konnte der Statthalterei auch nicht mehr lange eine Stütze sein, nur vier Tage nach Bischof Fellinger verstarb er am 26. Juli 1940. Sein früher Tod schwächte den Orden weiter.112 Während des Krieges übernahm Dr. Heinrich Höfflinger kommissarisch die Statthalterei. Nach den im Statthaltereiarchiv auffindbaren Unterlagen erfolgte die Übergabe am 5. Dezember 1942, also nur wenige Monate vor Sizzos Tod.113 Dem kommissarischen Statthalter wurde P. Hugo Presch OCist. aus dem Stift Heiligenkreuz als Prior zur Seite gestellt, der schon seit 1901 Mitglied des Ordens war.114 Wilhelm Miklas blieb unter der NS-Herrschaft zwar unbehelligt, er war aber politisch kaltgestellt.115 Darüber und über die weitere Rolle Kardinal Innitzers kann hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden. Innitzers vorerst ambivalentes Verhältnis zum Anschluss Österreichs wird ebenso als bekannt vorausgesetzt, wie seine klare Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus beim Rosenkranzfest 1938,116 bei dem auch der damalige bischöfliche Sekretär und spätere Weihbischof und Großprior der Grabesritter in Österreich, Dr. Jakob Weinbacher,117 die Wut der Hitlerjugend am eigenen Leib erfahren musste.118 Auf Innitzers effektives Wirken für die im Naziregime rassisch Verfolgten, etwa die Hilfsstelle für nichtarische Katholiken, muss an dieser Stelle unbedingt hingewiesen werden.119 Neben dieser heimlichen Hilfe für die Verfolgten bildeten sich im Schatten der Dompfarre auch katholische Widerstandszellen, denen Dr. Franz Graf Montjoye-Vaufrey 110 111 112 113
114 115 116 117 118 119
Todesanzeige und Nachruf, Wiener Salonblatt 69. Jg. Nr. 8 vom 17. April 1938, S. 14, 16 Eisner war 1889 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten, WStLA 369510, IKG 1889/302; Laut Taufmatrik St. Stephan Tom. 123 Fol. 150 wurde er am 7. November 1889 getauft. Wiener Diözesanblatt 78. Jg. Nr. 19 vom 15. Oktober 1940, S. 76 Im Status mit 12. März 1938 wird vermerkt: „… Statthalter Gustav SIZZO-NORIS, gestorben 1.2.1943, er übergab die Geschäfte am 5.12.1942 dem kommissarischen Statthalter Dr. Heinr. HÖFFLINGER …“ , SthArch, ST Nachtragsband 1936–53 Edwin Gräupl, Geschichte des Ritterordens vom Heiligen Grab, In: Aufsätze, a. a. O. S. 20 ff. Internet: [4.1.2020] https://issuu.com/edwinswelt/docs/grabesritter Walter Goldinger, Wilhelm Miklas, In: Friedrich Weissensteiner (Hg.), Die österreichischen Bundespräsidenten, Leben und Werk. Wien 1982, S. 115 ff. „Christus ist Euer Führer“: Erika Weinzierl, Prüfstand, Österreichs Katholiken und der Nationalsozialismus. Mödling 1988, S. 143 ff. Geb. 20. Jänner 1901, gest. 15. Juni 1985, investiert am 1. April 1967, Großprior der Statthalterei Österreich von 1967 bis 1983, der Autor ist von ihm am 16. April 1966 getauft worden. Herbert Fritz/Peter Krause, Farbe tragen, Farbe bekennen, Katholische Korporierte in Widerstand und Verfolgung. Wien 2013, S. 582 Etwa zur Hilfsstelle für nichtarische Katholiken; siehe dazu Erika Weinzierl, Prüfstand, S. 265 ff.
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Nicolaus Drimmel
und Dr. Fritz Bock, der spätere Vizekanzler und Leitende Komtur von Wien, angehörten.120 Stefan Heller121 wurde nach der NS-Machtergreifung zweimal verhaftet,122 seine Fabrik „arisiert“. Über Intervention von Mussolini konnte er das Land verlassen, seine Frau Elisabeth und den Sohn Fritz ließ er zurück. Dem Wiener Zweig der Familie Heller gelang es, vor den Nazis zu flüchten, die Verwandten in Böhmen wurden in Konzentrationslagern ermordet. Stefan Heller wurde in Paris Verbindungsoffizier bei General Charles de Gaulle und nannte sich seitdem Heller-Huart. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris musste er weiter nach London flüchten. Zu Kriegsende kehrte er als französischer Offizier nach Österreich zurück und heiratete seine Frau, von der er geschieden war, neuerlich.123 Bis das abgewirtschaftete Familienunternehmen restituiert wurde, dauerte es Jahre; Heller wohnte in dieser Zeit vorwiegend in Paris. Er starb schon 1958 an einem Schlaganfall.124 Josef Gorbach war den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge, seine „Wochenflugschrift für Recht und Wahrheit“, so der Untertitel des Zweigroschenblattes, wurde verboten.125 Da Gorbach in der Heimat immer stärker mit Verfolgungshandlungen gegen seine Person rechnen musste, setzte er sich über Anraten von Erzbischof Sigismund Waitz nach Palästina ab. Dort widmete er sich der Arabermission und setzte seine unermüdliche Tatkraft wieder für den Bau von Notkirchen im Heiligen Land ein, eine davon entstand in Caesarea Maritima. Erst nach dem Krieg kehrte er wieder in die Heimat zurück.126 Im Zeitraum von 1933 bis März 1938 wurden in der neuen Statthalterei acht Aufnahmen und eine Rangerhöhung veranlasst. Mit dem Präsidentenehepaar und dem Kardinal hatte man wichtige Protektoren gewonnen. Es konnte ein ungefährer Mitgliederstand jener Ritter erhoben werden, die schon vor dem Krieg als Pilger oder als Soldaten während des Krieges investiert worden waren. Dieser Stand wurde mit einer neuen Generation um die Hälfte erhöht. Gleichzeitig liefen starke Bemühungen, das Pilgerwesen nach dem Weltkrieg und der Wirtschaftskrise wieder populär zu machen. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten endete dieses hoffnungsvolle Kapitel mit Gewalt, innerhalb von kurzer Zeit war die Statthaltereiregierung praktisch nicht mehr handlungsfähig. Der Geschichtsschreiber stößt heute oft nur mehr auf Todesmeldungen, auf Verhaftung, Ver120 121 122
123 124 125 126
Persönliche Auskunft von Irene Montjoye am 20. Dezember 2019 Er trat am 5. August 1920 aus der IKG aus (Nr. 9239, Zl. 838) und wurde 1930 getauft; Hinweis in der Trauungsmatrik Maria Treu, Tom. 31 Fol. 324 Anschaulich dazu die Gedenkrede André Hellers zum Anschluss am 12. März 2018 in der Wiener Hofburg. Internet: [4.1.2020] https://www.bundespraesident.at/fileadmin/user_upload/Gedenkrede_Andre_Heller.pdf 1947 wurde der zweite Sohn Franz André geboren. Wiener Zeitung Nr. 155 vom 9./10. August 2014 Erika Weinzierl, Prüfstand, S. 123 f. Andreas Ulmer/Christoph Vallaser, Bedeutende Feldkircher. Bregenz 1975, S. 81
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treibung, Mord. Doch wie unermesslich musste das Leid gewesen sein, das wir in unserer Beschränktheit gar nicht erahnen können, und auch die Schuld, die so viele in dieser „losbrechenden Hölle“ auf sich geladen haben. In seinem Aufsatz über den vergessenen Statthalter wendet sich Edwin Gräupl abschließend gegen die Unkultur des Vergessens und Verdrängens. Es sei unser christlicher Auftrag, eine Tradition des Gedächtnisses und des Gedenkens im Gebet zu üben. Unsere Geschwisterlichkeit soll einen Maßstab finden in der „unwiderruflichen Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29). Wir sollten daher, so Gräupl, der Vergessenen und der Vergesslichen gedenken und Gott um die Gabe der christlichen Erinnerung in der Gemeinschaft der Heiligen bitten.127
127 Gräupl, Statthalter, S. 35
Annotazioni sul Sacro Militare Ordine Constantiniano di San Giorgio Anmerkungen zum Heiligen Konstantinischen Ritter-Orden vom Heiligen Georg Maximilian Deym
Seit 2012 bekleidet Wolfgang Johannes Bandion das Amt des Kanzlers der Königlichen Kommission des Konstantinischen Ordens vom Heiligen Georg für Österreich und Liechtenstein und zeichnet als solcher maßgeblich für die Geschicke dieser ritterlichen Gemeinschaft in Österreich verantwortlich. Eine Besonderheit, die den Konstantinischen Orden vom Heiligen Georg auszeichnet, ist der schon in seinem Namen deutlich gemachte Bezug auf zwei unterschiedliche Heilige. Beide weisen auf eine byzantinische Tradition hin. Kaiser Konstantin wurde in den orthodoxen Kirchen stets als Heiliger verehrt und ist auch in den aktuellen Heiligenkalendern der römisch-katholischen Kirche angeführt.1 Schon die Entstehungsgeschichte des Ordens, der heute weltweit mehr als 3.000 Mitglieder zählt, hebt sich von den Gründungsgeschichten der meisten anderen Ritterorden ab und impliziert eine in vielerlei Hinsicht abweichende und bisweilen romantische Rolle im Kosmos der ritterlichen Gemeinschaften. Diese lange und besondere Geschichte des Ordens soll also im Nachfolgenden kurz beleuchtet werden.
1. Der heilige Kaiser Konstantin
Der Legende nach wurde der Orden durch Kaiser Konstantin den Großen gegründet, um an seinen Sieg über seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke am 28. Oktober 312 zu erinnern. Dieser Sieg bedeutete das Ende der Auseinandersetzung zwischen Konstantin und Maxentius und machte Konstantin zum alleinigen Herrscher über das römische Westreich.2 Wie so oft entwickelte sich schon zu Lebzeiten ein Legendenkranz um 1 2
Friedrich Wilhelm Bautz, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Hamm, 1990, S. 147 Vgl. Hartwin Brandt, Constantin und die Schlacht an der Milvischen Brücke – im Zeichen des
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Kaiser Rudolf II. sah in einer antiken Prunkkamee ein Proträt von Kaiser Konstantin. Daher steht auf der Rückseite ein Kreuz mit dem historischen Christogramm und die Worte HOC SIGNO VICTOR ERIS – „unter diesem Zeichen wirst du Sieger sein“. Kaiser Rudolf II. wird so mit Kaiser Konstantin verglichen. Um 1600
Kaiser Konstantin. Christliche Autoren stellten sich sehr früh in den Dienst der Hagiographie, und es ist bis heute schwer, die historische Persönlichkeit Konstantins und seine politischen und religiösen Befindlichkeiten differenziert zu untersuchen. Die Legenden um Kaiser Konstantin wollen es jedenfalls, dass sein Sieg bei der Schlacht an der Milvischen Brücke auf die Hilfe des christlichen Gottes zurückzuführen war, der ihn in der Nacht vor der Schlacht angewiesen hatte, das Kreuzzeichen seinem Heer vorantragen zu lassen, denn unter diesem Zeichen würde er siegen („in hoc signo vinces“)3. Der Zeitgenosse und Rhetor Laktanz beschreibt: „Im Schlaf wurde Konstantin ermahnt, das himmlische Zeichen Gottes an den Schilden anzubringen und so die Schlacht zu beginnen. Er verhielt sich weisungsgemäß und bezeichnete Christus auf den Schilden.“
3
Kreuzes. In: Erinnerungsorte in der Antike. Die römische Welt, hg. von Elke Stein-Hölkeskamp und Karl-Joachim Hölkeskamp, Verlag C.H. Beck, München 2006 Guy Stair Sainty, World Orders of Knighthood and Merit, Wilmington 2006, S. 139
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Zur Vorgeschichte der Schlacht: Letztlich war es trotz aller christlichen Verbrämung ein sehr profaner Machtkampf, wobei beide Seiten Rechtsbrüche einkalkulierten und das von Kaiser Diokletian etablierte System der Tetrarchie zu eliminieren versuchten. Beide wollten die gesamte Macht und wählten den „traditionellen“ Weg der Usurpation. Aus üblicher Sicht hatte Maxentius die bessere Ausgangsposition für eine militärische Entscheidung. Konstantins Stärken hingegen waren seine rasche Entschlusskraft und seine eindrucksvolle militärische Beweglichkeit. Eine gewaltsame Entscheidung war unausweichlich. Maxentius verschanzte sich zunächst in Rom, entschloss sich dann jedoch, den Tiber zu überschreiten. Tatsächlich kam es etwa 13 Kilometer nördlich der Milvischen Brücke zum Gefecht. Konstantin durchbrach die gegnerischen Linien. Im Durcheinander von fliehenden Truppen und vorwärtsstürmenden Einheiten zog sich Maxentius mit seinem engeren Umfeld zurück, stürzte in den Tiber und ertrank. Damit war die Schlacht entschieden. Sie wurde zum historischen Wendepunkt. Nicht die Gunst der römischen Götter hatte die Entscheidung herbeigeführt, sondern der Gott der Christen, hieß es. Als Konstantin in Rom einzog, entfielen folgerichtig Triumph und vorgeschriebene Opfer am Kapitol (Juppiter Capitolinus). Der sakrale Zusammenhang zwischen dem Kaiser und den Staatsgöttern der Kapitolinischen Trias (Pietas Romana) war endgültig gebrochen. Das Ziel von Kaiser Konstantin war vorrangig kein religiöses, sondern die politische und gesellschaftliche Stabilisierung des Imperiums. Das Christentum erschien ihm – ohne dem Kaiser echte christliche Religiosität abzusprechen – als Zukunftsmodell. Zugleich sollten alte Kulte und Tempel neben den nun großen sichtbaren christlichen Gemeinden weiterexistieren können. Konstantins Anliegen war nicht, das Christentum zur Staatsreligion zu machen, sondern ein kraftvolles Nebeneinander zu etablieren – in dem allerdings sehr wohl das Christentum die bestimmende Kraft sein sollte. So zeigt etwa eine Medaille, wohl aus dem Jahre 315, Kaiser Konstantin mit dem Christusmonogramm am Helmbusch. Dies kann als deutliches Bekenntnis als eines christlichenr Herrschers gesehen werden. Auf der Rückseite wird Konstantin jedoch im Redegestus dargestellt, wie er von der Siegesgöttin Victoria bekränzt wird. Auch im Konzept des Konstantinbogens in der Nähe des Kolosseums zeigt sich dieses Nebeneinander, denn dort wird keiner bestimmten Gottheit gedankt, und christliche Bezüge werden bewusst ausgelassen. Das Zielpublikum waren ja nicht christliche Gemeinden, sondern die einflussreichen römischen Senatorenfamilien und das mit traditioneller Ikonographie vertraute Volk von Rom. Wiewohl durch die Wissenschaft bereits in Publikationen seit dem Barock4 in den Bereich des Mythos verbannt, hebt die Gründungslegende den Konstantinischen Orden vom Heiligen Georg doch aus allen anderen ritterlichen Gemeinschaften heraus, denn wenn 4
Gustav Adolph Ackermann, Ordensbuch sämtlicher in Europa blühender und erloschener Orden und Ehrenzeichen, Annaberg 1855, S. 142
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621 Heiliger Georg, Tafelbild auf Holz, Tirol, um 1470
auch Kaiser Konstantin noch keinen Ritterorden im mittelalterlichen oder gar späteren Sinn gegründet haben kann, so hat doch zumindest die imaginäre Verbindung des Konstantinischen Ordens mit dem ersten christlichen Kaiser eine hohe ethische und religiöse Bedeutung für die Zukunft des Ordens. Es gibt eine Reihe von überlieferten Schriften und Briefen, die an Konstantins christlicher Einstellung keinen Zweifel lassen. Die Reiterdarstellung Kaiser Konstantins von Lorenzo Bernini (1670) am Beginn der Scala Regia, an der heute noch Botschafter katholischer Staaten nach ihrer Akkreditierung zur Confessio Petri begleitet werden, zeigt sehr deutlich, wie Kaiser Konstantin als Vorbild eines christlichen Herrschers in Erinnerung gebracht wird. Ein Nachklang dieses als „konstantinische Wende“ ebenso gefeierten wie beklagten Zustands durchzieht den historischen Diskurs der letzten Jahrhunderte.5 So gibt es etwa unterschiedliche Interpretationen späterer Historiker in Bezug auf die Einberufung der Konzilien, deren Vorsitz Konstantin beanspruchte. Indem er eine geistlichpolitische Position über jener der Bischöfe beanspruchte, prägte sein Verständnis nach5
Dies gilt besonders bei Edward Gibbon. Vgl. Wilfried Nippel, Edward Gibbon The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, in: Erinnerungsorte der Antike S. 644–659
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folgende Kaiser. Pontifex maximus blieb er. Das Bestreben der Bischöfe von Rom sollte jedoch sein, dieses Verhältnis umzukehren, und zwar in eine eindeutige Unterordnung des Kaisers unter dem Papst. Zahlreiche Anspruchsurkunden und Legenden sollten dies in späteren Jahrhunderten bildmächtig darlegen. Jedenfalls war ein Ergebnis der Konzilien das heute noch gültige Glaubensbekenntnis von Nicäa (325 n. Chr.). Die Konflikte und die Machtbalance zwischen Imperium und Sacerdotium sollten das ganze Mittelalter virulent bleiben, bis dahin, dass Konstantins Name mit der berühmtesten Fälschung des 8. Jahrhunderts, dem „Constitutum Constantini“, der angeblichen Beschenkung des Papstes durch Kaiser Konstantin, verbunden ist. Die Geschichte des Ordens ist so zunächst die einer griechisch-byzantinischen Gemeinschaft, die um ihre Identität ringt. Byzanz und Kaiser Konstantin waren ihr gehütetes Erbe, das wie eine Hoffnung auf den ehemaligen griechisch-byzantinischen Territorien des südlichen Balkans und des östlichen Mittelmeergebietes liegt. So wollte man sich mit den bekannten Rittergemeinschaften des lateinischen Westens vergleichen. Ziel war es, Byzanz als Sehnsuchtsort der griechischen Christenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Bis in die Zeit Kaiser Karls V. galt die Wiedergewinnung des Heiligen Landes als eines der vornehmsten Ziele christlicher Herrscher. In diesem Sinne muss man seine Feldzüge in Nordafrika sehen, die zahlreiche neue Territorien sicherten, obwohl die meisten später wieder verloren gingen. Enklaven haben sich jedoch bis heute erhalten. Verbreitetes Ziel war es, über Nordafrika das Heilige Land zu befreien – aus militärischer Sicht ein aussichtsloses Unterfangen, jedoch probates Mittel der politischen Propaganda. Sultan Süleyman reagierte unmittelbar auf diese Bedrohung und ließ in Jerusalem die alte Stadtmauer wieder erneuern, deren heutiges Aussehen auf diese Zeit zurückgeht.6 Ein besonders Kriegsziel, in der Vorstellungswelt nie aufgegeben, war die Wiedereroberung von Konstantinopel, seit 1453 Residenz („Hohe Pforte“) des osmanischen Sultans, der viele Traditionen und Titel der Römischen Kaiser übernahm. So nannten sich die Byzantiner Römer, im Unterschied zu den Lateinern des Westens. Im Spätmittelalter und in der Zeit der langen Türkenkriege war die Zurückführung des Ordens auf Kaiser Konstantin durchaus auch als Kampfansage zu verstehen. Ein heute im Kunsthistorischen Museum Wien befindlicher Prunkschrank (ein Geschenk des Erzbischofs von Breslau, Kardinal Friedrich Landgraf von Hessen, an Kaiser Leopold I.) zeigt neben den sieben Hauptkirchen Roms zentral mehrere Darstellungen von Kaiser Konstantin in bewusster Anspielung an die erfolgreichen Türkenkriege Kaiser Leopolds.7 Gerade in 6 7
Simon Sebag Montefiore, Jerusalem. Die Biographie, 4. Aufl. Frankfurt am Main 2012, S. 417 ff. Eine erste Erwähnung des Schrankes in Wien stammt aus der Beschreibung der Schatzkammer vom Jahre 1677 (publiziert im Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen Bd XX/2 (Quellen) 1899, S. CXC ff. Vgl. auch Alvar Gonzáles-Palacios, Il Tempio del Gusto. Le arti decorative in Italia fra classicismi e barocco. Roma e il Regno delle due Sicilie, 2 Bde, Milano 1984.
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der Barockzeit findet Kaiser Konstantin bisweilen seinen Platz in mancher österreichischen Kirche.8 Dies korrespondiert mit der Sakralisierung der Kaiservorstellung im Barock. Der Mythos um Konstantin als edelsten Verfechter des christlichen Glaubens und seine Siege über die alten Kulte – als Parallele zum Kampf gegen die Osmanen – hatte nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt. Im 19. Jahrhundert aber hatte sich die europäische Interessenslage bezüglich Konstantinopels völlig verschoben. Die Weltpolitik war eine andere geworden, wirtschaftliche und militärische Interessen gewannen an entscheidender Bedeutung.
2. Der heilige Georg
Der zweite der Namensgeber des Ordens, der heilige Georg, stammt ebenfalls aus dem griechisch-byzantinischen Raum und gilt in allen christlichen Kirchen als eines der heroischsten Vorbilder der gesamten Christenheit. Sein Name steht in allen Ländern dieses Kulturkreises für Tapferkeit und Nächstenliebe, Ritterlichkeit und höfisches Verhalten. Er wird im deutschsprachigen Raum als einer der Vierzehn Nothelfer9 verehrt, und der Vorname Georg gehört zu den am weitesten verbreiteten in Europa. Zahlreiche Länder und Regionen haben Georg zu ihrem Schutzheiligen gewählt10, der Staat Georgien, zwischen Kleinem und Großem Kaukasus gelegen, trägt sogar seinen Namen. Obwohl seine historische Fassbarkeit durchaus umstritten ist,11 gilt der Heilige Georg als einer der populärsten und am meisten verehrten Heiligen.12 Manche Quellen13 gehen davon aus, dass er um 280 in Kappadokien in der Türkei geboren worden sein soll, ein hoher Militär im kaiserlichen Heer war und um 305 in der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian den Märtyrertod erlitt.14 8
9 10 11 12 13 14
Die mächtigen Statuen am Hochaltar der Wiener Peterskirche sind der Tradition nach Darstellungen von Kaiser Konstantin und Kaiser Karl dem Großen. Vgl. Wolfgang J. Bandion, „Monumente eines politischen Traumes. Die geheime Botschaft der Pestsäule in Wien.“ In: Morgen. Kulturzeitschrift aus Niederösterreich, 2/82, sowie Herbert Karner, Eva-Bettina Krems, Jens Niebaum, Werner Telesko (Hg.), Sakralisierungen des Herrschers an europäischen Höfen, Bau – Bild – Ritual – Musik (1648–1740), Schnell & Steiner, Regensburg 2019 Jan Leichsenring, Die 14 Nothelfer in ihrer mittelalterlichen Darstellung, München 2004, S. 56 So zum Beispiel Albanien, Äthiopien, das Byzantinische Reich, England, Kappadokien, Litauen, Malta, Montenegro, Portugal, Russland, Serbien und Sizilien Dies war einer der Gründe, warum er 1969 aus dem katholischen Heiligenkanon entfernt wurde, jedoch wurde er 1975 wieder eingesetzt. Paul W. Rot, Soldatenheilige, Styria, Graz-Wien-Köln 1993, S. 57–60 Desmond Seward, Italy’s Knights of St. George, Gerrards Cross 1986, S. 2 Bautz, S. 208ff. Vgl. Hubertus Halbfas, Die Wahrheit der Legende, in: Edward Volgges (Hg.). St.
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Ein Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert verweist auf die Kontinuität des Ordens. Die Darstellung eines Großmeisters zeigt das kaiserliche byzantinische Anspruchswappen der Komnenen und das Wappen des Hauses Farnese
Schon sehr bald bemächtigte sich die Legendenbildung seiner vollständig. Die Legende von der Tötung des Drachen und der Errettung der jungfräulichen Prinzessin ist wohl der bekannteste dieser Mythenkreise. Die ersten Legenden entstanden schon gegen Ende des 4. Jahrhunderts, in Byzanz wurde er nachweislich ab 525 als Adels- und Soldatenheiliger verehrt. Die Verehrung des heiligen Georg breitete sich rasch weiter über den Vorderen Orient, Äthiopien und Ägypten aus. Auch im merowingischen Frankenreich ist die Georgsverehrung seit dem 6. Jahrhundert bezeugt. Die größte Popularität wurde Georg jedoch im Hochmittelalter zuteil. Im Zeitalter der Kreuzzüge und des Rittertums verbreitete sich der Kult um den orientalischen Märtyrer zusehends. Georg wurde zum Schlachtenhelfer bei der Eroberung Jerusalems Georg und sein Bilderzyklus in Neuhaus/Böhmen (Jindrichuv Hradec). Historische, kunsthistorische und theologische Beiträge, Marburg: Elwert 2002 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 57), S. 137–152
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durch die Kreuzfahrer 1099. Er wurde als Miles christianus, als „Soldat Christi“ zur Identifikationsfigur der Ritter und Krieger. Die „Legenda Aurea“15 des Jacobus de Voragine vom Ende des 13. Jahrhunderts erzählt, wie Georg den Kreuzrittern vor Jerusalem in weißer Rüstung erschien. Von Gott zur Erde zurückgeschickt, habe er sie unterstützt, die Sarazenen zu erschlagen und Jerusalem zu erobern. Diese Darstellung bildet die Grundlage der zahlreich entstehenden GeorgsritterBruderschaften – nicht umsonst ist er Patron der vornehmsten und ältesten dynastischen Ritterorden, zum Beispiel des englischen Hosenband-Ordens oder des königlich-bayerischen Hausritter-Ordens. Der englische König Richard Löwenherz lernte bei seinem Aufenthalt im Heiligen Land die besondere Verehrung des heiligen Georg in Lydda kennen, dem Traditionsort seiner Verehrung. Obwohl keinerlei historische Bezüge zwischen dem Heiligen und dem angelsächsischen Raum existieren, ernannte Richard Löwenherz ihn zu seinem persönlichen Schutzpatron und zum Beschützer des englischen Königreichs.16 Aber auch der deutsche Fürst Otto von Wittelsbach ließ um 1245 ein Georgsepos als Ritterroman schreiben, der Habsburger Kaiser Maximilian I. erklärte ihn zu seinem Hausund Sippenheiligen und so weiter. Offensichtlich ist auch im 21. Jahrhundert die Strahlkraft dieses christlichen Märtyrers und Heiligen groß: So beschloss der Landtag des Bundeslandes Tirol noch im Jahr 2005, den heiligen Georg neben dem heiligen Joseph17 zum zweiten Landespatron zu erklären.
3. Die Anfänge des Ordens und die Familie Angelos
Die meisten Ritterorden christlicher Ausprägung werden in ihrer frühesten Entstehung erst mit den Kreuzzügen in Verbindung gebracht. Der heute aufgrund seines weltweiten karitativen Engagements wohl bekannteste und wirksamste Ritterorden, der Souveräne Malteser-Ritter-Orden, erhebt Anspruch auf das Gründungsjahr 104818. Der 1312 aufgelöste und bis heute von Mythen umwobene Templer-Orden wurde 111819 gegründet, der bis heute bestehende Deutsche Orden wurde 119120 durch Papst Clemens II. bestätigt. War der „Hospitalorden vom Heiligen Johannes von Jerusalem“, wie der Malteser-Orden vor 15 16 17 18 19 20
Seward, S. 23 Seward, S. 20 Seit 1772 war der Heilige Josef Landespatron von Tirol, der Steiermark, von Kärnten und Vorarlberg. Er ist es auch heute noch für die Bundesländer Tirol, Steiermark und Kärnten. Allerdings bestätigte Papst Paschalis II. erst 1113 die Umwandlung der bis dahin bestehenden Krankenpflege-Bruderschaft in einen geistlichen Ritterorden. Ackermann, S. 205 Klaus Milizer, Die Geschichte des Deutschen Ordens, Stuttgart: Kohlhammer 20122, S 15
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seinem Engagement auf der Insel Malta ab 1530 hieß, zu Zeiten seiner Gründung noch ein Hospital- und Krankenpflege-Orden21, so war der Orden der „Armen Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem“ der erste Orden, der die Ideale des adeligen Rittertums mit denen des Mönchtums vereinte, ein für die damalige Zeit und das damalige Verständnis einzigartiges und nie dagewesenes Konzept. Bis er zu einem Ritterorden in diesem Sinne werden sollte, oszilliert die Geschichte des Konstantinischen Ordens in den Jahrhunderten nach seiner Gründungslegende zwischen Dichtung und Wahrheit. Mit dem mutmaßlichen Enkel Kaiser Konstantins, Michael Gallus Angelos Flavius, welcher um 400 als Großmeister des Ordens genannt wird, beginnt die Verknüpfung dieser Familie mit dem Orden.22 Ihre Oberhäupter beherrschten als Fürsten von Mazedonien und Kilikien große Gebiete im oströmischen Reich, im heutigen Südosten Kleinasiens. Als eines der bedeutendsten byzantinischen Adelsgeschlechter23 stellte das Haus Angelos im 11., 12. und 13. Jahrhundert mehrere oströmische Kaiser. Der vorletzte in dieser Reihe, Kaiser Isaak II. Angelos, wird in den meisten Quellen als Wiedererrichter des Konstantinischen Ordens im Jahre 1190 genannt24, jedoch beginnt die wissenschaftlich zuverlässige Dokumentation des Konstantinischen Ordens erst im 16. Jahrhundert in Italien. Isaak II. Angelos wurde nach der Einnahme Konstantinopels 1203 durch die Kreuzfahrer ermordet25. Die Familie Angelos herrschte in den folgenden Jahren als Fürsten in Epirus, Makedonien und Thessalien. 1453 fiel Byzanz endgültig den osmanischen Expansionsbestrebungen zum Opfer. Die Angelos boten auf dem südlichen Balkan, im heutigen Albanien, gemeinsam mit Fürst Georg Castriota, dem legendären „Skanderbeg“, den andrängenden türkischen Eroberern erbitterten, wenn auch letztlich erfolglosen Widerstand26. Durch die militärischen Erfolge der Türken ihrer Herrschaftsgebiete beraubt, flohen die Angelos in den Schutz der Seerepublik Venedig27, in der sie ab dem 14. Jahrhundert hohe 21
22 23 24 25
26 27
Vgl. Adam Wienand mit Carl Wolfgang von Ballestrem und Albrecht von Cossel (Hg.), Der Johanniterorden. Der Malteserorden. Der ritterliche Orden des hl. Johannes vom Spital zu Jerusalem. Seine Geschichte, seine Aufgaben. Wienand Verlag, Köln 19883, und Christian Steeb/Birgit Strimitzer (Hg.), Der Souveräne Malteser-Ritter-Orden in Österreich, Leykam Verlag, Graz 1999 Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George, S. 42 ff. Stair Sainy, The Constantinian Order of Saint George S. 42 Hyginns Eugene Cardinale, Orders of Knighthood, Awards and the Holy See, Gerrads Cross, 1985, S. 145 Gregor Gatscher-Riedl, In hoc signo vinces. Zwischen religiösem Mythos und politischem Anspruch von Byzanz nach Neapel. Die Geschichte des Heiligen Konstantinischen Ritterordens vom Heiligen Georg, NeueWeltVerlag, Wien 2012, S. 30 Seward, S. 23 Seward S. 25
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Positionen in Militär und Verwaltung erhielten28. Da sie auch hohe kirchliche Ämter bekleideten, gelang es ihnen, ihre – wenn auch nur noch theoretischen – Ansprüche auf den byzantinischen Thron immer wieder seitens verschiedener Päpste bestätigen zu lassen29. Mit dieser Anerkennung als kaiserliche Dynastie im Exil30 ging auch die Anerkennung der Großmeisterwürde des Konstantinischen Ordens als dynastischem Orden einher31. Zur Unterstreichung all dieser Vorrechte wurden 1573 die ersten Statuten des Ordens in Venedig veröffentlicht32. Damit entsteigt seine Existenz endgültig dem Dunkel von Legende, Mythos und Spekulation. Sehr bald erfolgten weitere päpstliche Anerkennungen und Privilegien33, aber auch staatliche Bestätigungen durch die Republik Venedig, den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Leopold I. und den polnischen König Jan Sobieski34.
4. Das Haus Farnese
Der Letzte seiner Familie, Johannes IX. Andreas Angelo, starb 1703 ohne männliche Nachkommen und hatte die Großmeisterwürde bereits 169735 an Francesco Farnese, den Herzog von Parma, übertragen. Dieser ließ sich diese Abtretung 1699 durch päpstliche Bulle und kaiserlichen Patentbrief bestätigen36. Aus diesen Erklärungen geht deutlich hervor, dass Farnese sich die Großmeisterwürde als Haupt der Familie Farnese, nicht aber als Souverän des Herzogtums Parma übertragen ließ, wodurch sich eine weitere Besonderheit des Konstantinischen Ordens vom Heiligen Georg ergibt, die ihn aus der Zahl anderer dynastischer oder Haus-Orden heraushebt: Er ist der einzige internationale katholische Orden, dessen Großmeisterwürde rein erblich und nicht an Besitz oder Prätendentschaft einer Krone gebunden ist37. Das Haus Farnese entstammte einem umbrisch-toskanischen Kleinadelsgeschlecht, das auch im nördlichem Latium begütet war, und stieg über die kirchliche Karriereleiter und 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Guy Stair Sainty, The Orders of Chivalry and Merit of the Bourbon-Two Sicilies Dynasty, Madrid 1989, S. 20 Stair Sainty, The Orders of Chivalry, S. 21 Alleine zwischen 1540 und 1565 befassten sich mehr als 20 päpstliche Bullen mit den Ansprüchen, Vorrechten und Privilegien der Familie Angelos. Cardinale, S. 145 Stair Sainty, World Orders of Knighthood and Merit, S. 144, sowie Seward, S. 28 Guy Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George, Madrid 2018, S. 30 ff. Stair Sainty, The Orders of Chivalry, S. 23 ff. Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George Order, S. 144 Stair Sainty, The Orders of Chivalry, S. 26 Gatscher-Riedl, „In hoc signo vinces“, S. 68 ff.
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eine erfolgreiche Heiratspolitik in den regierenden Hochadel auf, wie es auch den Familien Borgia, Medici oder Della Rovere gelungen war. Dynastische Eheverbindungen sicherten in der Folge den Einfluss des Hauses.38 Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung war die Belehnung des Pier Luigi Farnese 1545 mit dem neu geschaffenen Herzogtum Parma durch seinen Vater, Papst Paul III.39 Herzog Ottavio (1524–1586) wurde mit einer Tochter Kaiser Karls V., Margarethe von Österreich, verheiratet, an die der Palazzo Madama in Rom, heute Sitz des italienischen Senats, erinnert. Alessandro Farnese (1520–1589), genannt „Il Gran Cardinale“, war einer der bedeutendsten Kardinalnepoten. Souverän wurde er nie, obwohl er an sieben Konklaven teilnahm. Seine Repräsentation und Kunstsammlung übertrafen alle anderen. Im Alter neigte er Reformideen zu. Er wurde so auch zum Finanzier der Kirche Il Gesù (1568–1584) mit der berühmten Fassade von Giacomo della Porta (errichtet nach einem Entwurf von Vignola 1568–1584). Unter der Leitung von Francesco Farnese erlebte der Orden eine erste Blütezeit und wurde ein wichtiges Instrument dynastischen Prestiges, erlaubte er doch den Herzögen von Parma durch Verleihungen an ihren Adel dessen Bindung an ihr Haus zu stärken, wie es die Großherzöge der Toskana durch den Orden des Heiligen Stephan40 und die Herzöge von Savoyen durch ihren Annunziaten-Orden41 taten. Zudem verstand es Farnese, wie schon zuvor die Familie Angelos, durch fortwährende Einbindung des Heiligen Stuhls, etwa durch die päpstlichen Ernennungen von einem jeweiligen Kardinalspatron, kirchliche Privilegien, Anerkennungen und Unterstützungen zu erhalten42. Mit der Veröffentlichung neuer und auf ihre dynastischen Intentionen abgestimmter Statuten machte Francesco Farnese 1705 den Orden zum genuinen Instrument seiner Familie.43 So sei ein kultureller Einschub gestattet: Viele bedeutende Künstler, Maler, Bildhauer und Architekten arbeiteten für die Farnese,44 und im 16. und 17. Jahrhundert ist nur die kulturelle Leistung der Medici mit der der Farnese vergleichbar. So ist der römische Pa38 39
40 41 42 43 44
Markus Völkel, Farnese. S. 259–276. In: Volker Reinhard, Die großen Familien Italiens, Alfred Kröner Verlag: Stuttgart 1992 Dieser Sohn und drei weitere Kinder stammten aus der Verbindung Alessandro Farneses, dem späteren Papst Paul III., mit Silvia Ruffini noch aus der Zeit vor seiner Priesterweihe. Papst Paul III. gab Michelangelo den Auftrag zum Baubeginn der Kuppel von Sankt Peter, ebenso den Auftrag zum Fresko des Jüngsten Gerichtes in der Sixtinischen Kapelle wie auch zur Ausgestaltung der Capella Paolina und der Sala Regia. Im Jahre 1542 schuf er die zentrale Inquisitionsbehörde, das Heilige Offizium. Gegründet von Cosimo Medici, Herzog von Florenz, 1562 Gegründet von Amadeus VI., Graf von Savoyen, 1362 Cardinale, Orders of Knighthood, Awards and the Holy See, S. 145 Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George, S.133 Markus Völkel, Farnese, S. 259–276. In: Reinhard Volker, Die großen Familien Italiens, Alfred Kröner Verlag: Stuttgart 1992
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Ornat des Großmeisters, Kupferstich von Filippo Musenga, Iconografia dell‘Angelico Sagro Reale Ordine Constantiniano di San Giorgio, 1766
lazzo Farnese, heute Sitz der Botschaft der Republik Frankreich, einer der bedeutendsten Erinnerungsorte europäischer Kultur- und Kunstgeschichte. Die einzigartige FarneseSammlung von Antiken entstand durch den Besitz von Gärten am Palatin und gezielte Ausgrabungen in den Caracallathermen. Goethe sah diese unvergleichliche Kollektion noch in Rom, bevor sie im Jahre 1787 nach Neapel gebracht wurde. Der farnesische Herakles ist in unzähligen Variationen in europäischen Schlössern präsent – als Sinnbild für Fürsten und Hochadel, als Sterbliche in den Olymp aufgenommen zu werden und sich so in der Erinnerung der Menschen zu verewigen. In Wien etwa sind Beispiele im Stiegenhaus im Palais des Prinzen Eugen oder im Entrée des Palais Lobkowicz zu sehen. Zurück zur Geschichte des Ordens: In den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Türken in Dalmatien 1717 flackerte der Kreuzzugsgedanke noch einmal auf. Francesco Farnese entsandte ein aus ca. 2.000 Mann bestehendes „Kaiserliches Regiment der Konstantinischen Ritter vom Heiligen Georg“45, das sich den Streitkräften von Prinz Eu45
Stair Sainty, The Orders of Chivalry and Merit of the Bourbon-Two Sicilies Dynasty, S. 30
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gen von Savoyen im Kampf gegen die osmanischen Truppen Sultans Ahmed III. auf dem Balkan anschloss. Auch hier ist bemerkenswert, dass diese Entsendung durch Farnese als Großmeister des Konstantinischen Ordens erfolgte, es sich also um kein offizielles Truppenkontingent des Herzogtums Parma handelte46. Mit dem Tod von Herzog Francesco Farnese 1727 endete auch diese erste große Zeit des Ordens. Sein Nachfolger als Herrscher über Parma, aber auch als Großmeister des Ordens, wurde sein jüngerer Bruder Antonio, der wenig Interesse und Begabung für Regierung und Politik zeigte47 und mit dessen Tod 1731 das Haus Farnese in der männlichen Linie erlosch.
4. Das Haus Bourbon-Sizilien
Antonios Erbin war seine Nichte Elisabeth Farnese, das einzige noch lebende Mitglied der Familie. Sie war ab 1714 mit dem Bourbonen Philipp V., dem König von Spanien, verheiratet. In Übereinstimmung mit den Statuten und den päpstlichen und kaiserlichen Dekreten stand ihr Sohn, der spanische Infant Karl, als legitimer farnesischer Erbe fest48. Er übernahm 1731 als Herzog Karl I. die Regentschaft über das Herzogtum Parma und zugleich die Würde des Großmeisters des Konstantinischen Ordens49. 1734 übernahm er außerdem im Namen seines Vaters das im Polnischen Erbfolgekrieg eroberte Königreich Neapel. Dieses wurde im Wiener Präliminarfrieden 1735 endgültig den spanischen Bourbonen als Sekundogenitur überlassen. Als Karl VII. wurde er zum König von Neapel und Sizilien gekrönt. Im Gegenzug wurde das Herzogtum Parma den Habsburgern übergeben. Als Karl VII. in der Nachfolge seines Vaters 1759 als König Karl III. den spanischen Thron bestieg, folgte ihm sein Sohn Ferdinand als König von Neapel und Sizilien nach, wobei ihm Karl III. als legitimem männlichen Erben der Farnese die Großmeisterwürde des Konstantinischen Ordens übergab50. König Ferdinand I. beider Sizilien herrschte – mit Unterbrechungen – bis zu seinem Tod 1825. Seine Regierungszeit war geprägt durch die kriegerischen Auseinandersetzungen der napoleonischen Ära: Als Ehemann der Schwester der französischen Königin Marie Antoinette, Erzherzogin Maria Karolina von Österreich, war er ein natürlicher Bündnispartner der anti-napoleonischen Allianz. Maria Karolina war die anhänglichste Tochter Maria 46 47 48 49 50
Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George, S. 155 ff. Seward, S. 49 Gatscher-Riedl, S. 85 Seward S. 53 Bander van Duren, S. 297
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Theresias. Sie gebar 17 Kinder und starb während der Napoleonischen Kriege im Exil in Wien. 1798 und nochmals 1805 musste Ferdinand sein Herrschaftsgebiet verlassen. Joseph Bonaparte und dann Joachim Murat herrschten bis 1815 als Könige von Sizilien. Erst durch den Wiener Kongress wurde Ferdinand wieder in seine königlichen Rechte eingesetzt. Unter König Ferdinand und in den kriegerischen Zeiten der napoleonischen Ära begann auch die Internationalisierung51 des Ordens, der lange Zeit als ein „italienischer“ Orden betrachtet worden war (wobei nicht vergessen werden darf, dass es Italien als politischen Begriff im heutigen Sinne noch nicht gab). Nun mehrten sich die Aufnahmen von österreichischen, russischen, französischen und britischen Mitgliedern52. Diese waren meist Offiziere der jeweiligen Nationen, die nationale Vielfalt war durch die rasch wechselnden Bündnisse und die Launen des Kriegsglücks bedingt.
5. Parma unter Marie-Louise und dem Haus Bourbon-Parma
Ein eigenes Kapitel entspann sich, als nach dem Wiener Kongress 1815 das Herzogtum Parma an Marie-Louise, die Gattin von Napoleon I., übertragen wurde. Die Nachkommen aus ihrer späteren Ehe mit dem Grafen Adam Albert von Neipperg führten in der Folge den Titel der Fürsten Montenuovo. Marie-Louise konstituierte ohne Rücksicht auf historische Erbfolgen einen eigenen Konstantinischen St.-Georgsorden.53 Sie verlieh das Ordenskreuz mit Stern gerne, und so finden wir diese Erinnerung an die Zeit nach dem Ancien Régime unverhofft auf vielen Bildern im 19. Jahrhundert. Das von Moritz Daffinger gemalte und wohl bekannteste Bildnis von Franz Joseph Napoleon (1811–1832), dem Sohn von Napoleon I. und Marie-Louise, zeigt ihn in österreichischer Offiziersuniform mit dem Stern des Konstantinischen Ordens vom Heiligen Georg. Auch Kaiser Franz Joseph trug den parmesischen Ordensstern, der mit der Zeit zu einer „Geschenksauszeichnung“ wurde, anlässlich der Hochzeit von Erzherzog Karl und Prinzessin Zita von Bourbon-Parma am 21. Oktober 1911 in Schwarzau in Niederösterreich. Das Ereignis wurde auch filmisch festgehalten und entbehrt nicht einer nostalgischen Galanterie und Noblesse. Heute wird die Auszeichnung als Ordine Constantiniano di San Giorgio an Personen verliehen, die eine besondere Beziehung zum ehemaligen Herzogtum Parma nachweisen können, und ist stark lokal verankert.54 In der Krypta der Ordenskirche Santa 51 52 53 54
Stair Sainty, World Orders of Knighthood and Merit, S. 151 Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George, S. 229 Bander van Duren, S. 298 Die Geschichte des Ordens zeigt auch eine kleine Ausstellung im „Museo Costantiniano della Basilica della Steccata“ in Parma.
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Maria della Steccata im Herzen von Parma sind die Farnese sowie die späteren Herzöge von Parma und Piacenza beigesetzt. Der derzeitige Großmeister ist Javier Herzog von Parma. Ein kleiner Unterschied ist nur im Ordenskreuz erkennbar.
6. Revolution und Restauration
Nach 66-jähriger Regierungszeit folgte König Ferdinand I.55 sein zweitgeborener Sohn, der als Franz I. 1825 den Thron bestieg. Ihm waren nur fünf Jahre Regierungszeit vergönnt, zu wenige, um auch den Konstantinischen Orden entscheidend zu prägen, dem er nur geringes Interesse entgegenbrachte56. Seinem Sohn und Nachfolger Ferdinand II., ab 1830 König beider Sizilien und in zweiter Ehe mit der österreichischen Erzherzogin Maria Theresia verheiratet, gelang es nur ungenügend, die Herausforderungen einer sich drastisch ändernden Epoche zu meistern: Seine Versuche, Sizilien aus der ökonomischen Rückständigkeit zu führen, waren nicht von Erfolg gekrönt57. Im schicksalhaften Jahr 1848 kam es in ganz Europa zu Protesten und Forderungen nach Liberalisierung und nationaler Einigung. Ferdinands II. gewaltsame Unterdrückung dieser Bewegungen – auch seiner Untertanen – trugen ihm den Spitznamen „Re Bomba“58 ein. Trotz der zunehmenden außenpolitischen Isolation des Königreiches nahm er jedoch seine Aufgaben als Großmeister des Konstantinischen Ordens sehr aktiv wahr und nahm vielleicht vor allem deshalb eine große Anzahl nicht-italienischer Ritter auf59. Sein früher Tod 1859 ließ seinen Sohn Franz II. nahezu unvorbereitet den Thron besteigen. Franz II. sah sich mit einem zusammenbrechenden Staat konfrontiert. Bereits nach dem Wiener Kongress 1814/1815 hatte mit der Bewegung des „Risorgimento“ das Streben nach einem unabhängigen Nationalstaat Italien begonnen, welches 1861 mit der Proklamation des sardischen Königs Viktor Emanuel II. zum König von Italien in Turin seine Erfüllung fand60. Dieser Kampf um die Einigung Italiens zugunsten des Hauses Savoyen richtete sich in erster Linie gegen das große Teile des späteren italienischen Staatsgebiets beherrschende habsburgische Österreich, machte aber auch vor dem Königreich beider Sizilien nicht halt, das durch die engen und über mehrere Generationen reichenden fa55 56 57 58 59 60
Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George, S. 233 Gatscher-Riedl, S. 124 Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George, S. 239 ff. Stair Sainty, The Orders of Chivalry, S. 45 Gatscher-Riedl, S. 125 Stair Sainty, The Orders of Chivalry, S. 45
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miliären Bindungen Österreichs natürlicher Verbündeter war. Während die Unruhen im Königreich andauerten, marschierte Giuseppe Garibaldi in Neapel ein61. So kam auch das Ende der territorialen Herrschaft des Königreichs beider Sizilien im Februar 1861 mit dem Fall von Gaeta und der anschließenden Kapitulation von König Franz II.
7. Der Orden im Exil
Die Entstehung des neuen italienischen Territorialstaates hatte zwar insoweit Einfluss auf den Orden, als dass dieser seiner Besitzungen enteignet wurde, änderte aber nichts an seinem Bestehen. Mochte Franz II. auch seiner Krone und seines Landes beraubt worden sein, so war er als legitimer Nachkomme der Farnese immer noch Großmeister des Konstantinischen Ordens vom Heiligen Georg.62 Es verwundert aber nicht, dass das Verhältnis der beiden königlichen Häuser Savoyen und beider Sizilien auf Jahrzehnte zerrüttet war. Erst kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs sollte es wieder eine Annäherung geben.63 Die Exiljahre von König Franz II. in Rom, Österreich und Bayern – seine Frau war die Schwester der österreichischen Kaiserin Elisabeth – trugen jedenfalls weiter zur Internationalisierung des Ordens bei. 1894 starb er im österreichischen Arco am Gardasee im Exil.64 Da es keinen direkten männlichen Erben gab, ging die Ordensleitung auf seinen Bruder Don Alfonso, den Grafen von Caserta und Herzog von Castro, über. Als Prätendent auf die Krone beider Sizilien weigerte dieser sich abzudanken und beanspruchte 1895 in einer in München verfassten Proklamation den Thron. Es ist eine interessante geschichtliche Fußnote, dass er noch bis 1902 einen Botschafter beim Heiligen Stuhl, der sich nach dem Verlust der päpstlichen Staaten ebenfalls als besetztes Land ansah, unterhielt. 65 Ab 1939 war er in der römischen Kirche Santo Spirito dei Napoletani beigesetzt. Im Jahre 1984 wurde er endlich gemeinsam mit Königin Marie Sophie Amalie als letztes neapolitanisches Königspaar in der königlichen Kapelle der Basilika S. Chiara in Neapel beigesetzt. Ein besonderes Verdienst seines Sohnes und Nachfolgers Don Ferdinando Pio Bourbon-Sizilien, des Herzogs von Kalabrien, war es, durch die vollständige Überarbeitung und Dekretierung der Ordensverfassung dem Orden eine solide Grundlage für das 20. Jahrhundert zu geben.66 61 62 63 64 65 66
Gatscher-Riedl, S. 127 Stair Sainty, World Orders of Knighthood, S. 47 Gatscher-Riedl, S. 158 ff. Stair Sainty, World Orders of Knighthood, S. 153 Seward, S. 67 Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George, S. 341
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8. Der Orden heute
Das 20. und noch mehr das 21. Jahrhundert stellten und stellen den Konstantinischen Orden vom Heiligen Georg vor völlig andere Aufgaben als die vorangehenden Jahrhunderte. Lagen in Verbindung mit der Ausübung der Souveränität im Königreich beider Sizilien die Schwerpunkte im Bereich des Militärs und der Verwaltung sowie in der Bindung der meist adeligen Mitglieder an den jeweiligen Souverän, so verschob sich der genuine Wirkungsbereich des Ordens nach dem Wegfall der territorialen Macht. Bereits der Erste und noch viel mehr der Zweite Weltkrieg bildeten gewichtige Zäsuren, die das Engagement im humanitären Bereich förderten: Unter Don Ferdinando Pio rüstete der Orden Krankenhäuser aus und stellte Krankenwägen bereit, um militärischen und zivilen Opfern zu helfen. Auch die Kriegsgefangenen-Fürsorge bildete einen wichtigen Teil der Ordensaktivitäten. Das religiöse und spirituelle Leben der Ordensmitglieder erlangte nicht zuletzt durch die ununterbrochen guten Beziehungen der Familie Bourbon-Sizilien zum Heiligen Stuhl67 eine neue vertiefte Bedeutung und großen Aufschwung. 1960 starb Don Ferdinando Pio ohne männlichen Nachkommen. Sowohl sein Neffe Prinz Alfonso, Herzog von Kalabrien, als auch sein jüngerer Bruder Prinz Ranieri, Herzog von Castro, beanspruchten die Großmeisterwürde68 für sich und verursachten dadurch die bis heute andauernde Spaltung des Ordens in zwei Obedienzen.69 Dieser Beitrag vertritt die von König Juan Carlos von Spanien anerkannte Sukzession und Anciennität von Don Alfonso, Herzog von Kalabrien. Ihm folgte 1964 sein Sohn, Don Carlos, Infant von Spanien, Herzog von Kalabrien nach.70 Unter der über 50-jährigen Leitung durch Don Carlos hatte sich der Konstantinische Orden den Herausforderungen einer sich rasch ändernden und durch zunehmende Globalisierung gekennzeichneten Welt zu stellen. Er erfüllte diese Aufgabe mit einer aus dem Rückblick bewundernswerten Weitsicht, indem auf nationaler Ebene Kommissionen und Delegationen errichtet wurden, um die wachsende Präsenz des Ordens in den Ländern Europas und in Übersee zu organisieren.71 Die Aktivitäten und das Engagement des Or67 68 69
70 71
Gatscher-Riedl, S.164, sowie Stair Sainty, The Orders of Chivalry, S. 52 ff. Bander van Duren, S. 293 ff. Diese Spaltung des Konstantinischen Ordens aufgrund von Sukzessions-Unklarheiten ist wohl der mit Abstand auch heute noch am ausführlichsten und leidenschaftlichsten, in der ordenskundlichen Literatur diskutierte Streitpunkt. Königliches Dekret, Madrid, 8. März 1984 Es bestehen derzeit Königliche Kommissionen für Spanien, Portugal, Frankreich, Italien, San Marino, das Vereinigte Königreich, Österreich und Liechtenstein, Luxemburg, die Vereinigten Staaten von Amerika und Brasilien. Zusätzlich gibt es noch zwanzig Delegationen: 13 in Italien, sechs in Spanien und eine in Deutschland.
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dens wurden in vier Hauptbereichen kanalisiert: dem sozialen Bereich, dem humanitären und karitativen Wirken, der kulturellen Sphäre und dem spirituellen und religiösen Leben. Die Einteilung in nationale Gliederungen ermöglicht auch heute noch rasche Unterstützung bei Naturkatastrophen und humanitäre Hilfe in militärischen Krisengebieten. Auch Wohltätigkeitsveranstaltungen, denkmalpflegerische Maßnahmen und Stipendien für Seminare zur Priesterausbildung sind Beispiele für das herausragende Engagement des Ordens und dienen seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ebenso wie Hilfskampagnen für Obdachlose oder Spendenaktionen für Krankenhäuser, Pflegeheime oder Waisenhäuser. Die Kommissionen und Delegationen sind dabei insofern von Vorteil, als sie erlauben, die jeweiligen Bedürfnisse auf regionaler Ebene genauer zu erfassen und bei der Wahl der Mittel auf die verschiedenen nationalen Mentalitäten Rücksicht zu nehmen. Seit Oktober 2015 steht Don Pedro, Herzog von Kalabrien, dem Orden als sein zehnter Großmeister aus dem Haus Bourbon-Sizilien vor.
9. Der Orden und Österreich
Die Verflechtungen zwischen dem habsburgischen Österreich und dem Königreich beider Sizilien waren – nicht zuletzt aufgrund der programmatischen Heiratspolitik des Hauses Habsburg – stets sehr eng. Bereits unter den Angelos-Großmeistern stellte 1630 Kaiser Ferdinand II. den Orden unter seinen Schutz.72 Leopold I. erneuerte dieses Protektorat im Jahr 167173, und während der Belagerung Wiens durch die Türken 1683 zählten Ritter des Konstantinischen Ordens zu den Verteidigern der Stadtmauern.74 Die dynastischen Verflechtungen zwischen dem Haus Habsburg und den sizilianischen Bourbonen waren vielfältig. Allein drei Erzherzoginnen von Österreich wurden durch Heirat Kronprinzessinnen bzw. Königinnen von Neapel (ab 1815 beider Sizilien): Maria Karolina (1752–1814), eine Tochter von Maria Theresia, als Frau Ferdinands I., Erzherzogin Maria Klementine (1777–1801) als Frau von König Franz I. beider Sizilien und Maria Theresia (1816–1867) als zweite Frau König Ferdinands II., der vergeblich gegen den Niedergang seines Königtums ankämpfte. Dessen Sohn Franz II. heiratete mit Prinzessin Marie in Bayern eine Schwester der österreichische Kaiserin Elisabeth. Eine Tochter König Ferdinands I., Maria Theresia Bourbon-Sizilien, heiratete den letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, Franz II., der als Franz I. erster österreichischer Kaiser war. Die Tochter von König Ferdinand II. Bourbon-Sizilien, Prinzessin Maria Annunziata, heiratete Erzherzog 72 73 74
Stair Sainty, The Orders of Chivalry, S. 23 Stair Sainty, World Orders of Knighthood, S. 144 Seward, S. 95
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Karl Ludwig. Aus dieser Ehe leitet sich der heutige Hauptstamm der habsburgischen Dynastie ab. Ihr ältester Sohn, Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, fiel 1914 dem Attentat in Sarajevo zum Opfer. Eine weitere Tochter von König Ferdinand II. heiratete Erzherzog Karl Salvator aus der Linie Toskana, während sein Sohn Ludwig, Graf von Trani, mit Herzogin Mathilde in Bayern eine weitere Schwester der österreichischen Kaiserin Elisabeth heiratete. Auch zwei bekannte Ulanen-Regimenter der k.u.k. Monarchie stellten einen Bezug zum Königreich beider Sizilien her: Oberstinhaber des 1854 aufgestellten 12. Ulanen-Regiments war König Ferdinand II., nach ihm sein Sohn König Franz II., weswegen die Soldaten des Regiments im Volksmund auch „Sizilien-Ulanen“ hießen. Auch der Bruder von König Franz, Ludwig, Graf von Trani und Prinz beider Sizilien, war Oberstinhaber eines österreichischen Ulanen-Regiments, der sogenannten „Trani-Ulanen“. Dieses 13. UlanenRegiment erlangte vor allem durch seinen Einsatz gegen die italienischen Truppen im italienischen Unabhängigkeitskrieg 1866 (in der Schlacht bei Custozza) Berühmtheit.75
10. Die Dekorationen des Ordens
Naturgemäß werden in den Dekorationen des Ordens sein Ursprung und seine Geschichte durch die römische und später byzantinische Ikonographie zum Ausdruck gebracht. Das Ordenszeichen ist ein rot emailliertes konstantinisches Lilienkreuz mit goldener Einfassung. Aufgelegt ist mittig ein großes Christusmonogramm in Gold mit den griechischen Buchstaben Χ und Ρ. An seinen Enden befinden sich die Buchstaben I., H., S., und V. Diese stehen für die Ordensdevise: „in hoc signo vinces“76. Die griechischen Buchstaben Α und Ω auf dem waagerechten Kreuzbalken symbolisieren in der christlichen Symbolik den Anfang und das Ende, beides in der Person Christi vereint. Das Ordensband ist für alle Klassen in Himmelblau gehalten, das in der christlichen Symbolik nicht nur die Farbe der Gottesmutter Maria ist, sondern auch im Mittelalter als die himmlische Farbe schlechthin galt, als Spiegelungsfarbe zwischen Himmlischem und Irdischem, zwischen Gott und der Welt, als Farbe des Glaubens und der Treue. Dem Rang nach wird heute, der klassischen Einteilung vor Entstehung der in ihren Abstufungen wesentlich differenzierteren Verdienstorden folgend, im Wesentlichen die Dignität von Großkreuz und Ritter unterschieden. Die Einteilung in verschiedene Klassen und die diese nach außen hin kennzeichnenden Unterschiede in der Ausführung der 75 76
Siehe das Monumentalgemälde „Rodakowski in der Schlacht bei Custozza“ von Ludwig Koch, 1908, im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien. Stair Sainty, World Orders of Knighthood, S. 164
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Dekorationen des Ordens orientieren sich an den, auch in anderen Ordensgemeinschaften bis heute üblichen Kriterien, in denen sich sehr deutlich die dynastischen und in ihrem Ursprung rein adeligen Mitgliedschaften widerspiegeln.77 Die sogenannten Justiz-Ritter („Cavalieri di Giustizia“) müssen eine Adelsprobe nachweisen.78 Diese ist von Land zu Land verschieden und orientiert sich im Allgemeinen an den Aufnahmekriterien der Ehren- und Devotions-Ritter des Souveränen Malteser-Ritter-Ordens im jeweiligen Land. Die Aufnahme in dieser Klasse berechtigt die Ritter zum Tragen des Ordenskreuzes als Halskreuz, überhöht durch eine geschlossene Krone und die Waffen-Trophäe. Der achtzackige Bruststern ist golden und zeigt das emaillierte Ordenskreuz. Im Gegensatz dazu besteht das Halskreuz der Gratial-Ritter (jetzt „Cavalieri di Jure Sanguinis“) aus dem mit der Krone des Königreichs beider Sizilien überhöhten Ordenszeichen, hier ist der Bruststern aus Silber.79 Diese Probanden haben eine vereinfachte Adelsprobe abzulegen, die sich auf eine adelige Deszendenz in der männlichen Linie beschränkt. Verdienst-Ritter („Cavalieri di Merito“)80 tragen das einfache Halskreuz ohne Überhöhungen und in der Regel keinen Bruststern.81
11. Ausblick
Als einer der ältesten, international ausgerichteten religiösen Orden ist der Konstantinische Orden bis heute in ganz Europa und Amerika aktiv; sein Sitz ist seit 1960 in Madrid82. In Würdigung der Geschichte des Ordens sowie seiner gesellschaftlichen Leistungen erreichte der Orden bis in die jüngste Zeit umfangreiche Anerkennung und Bestätigung auf staatlicher Ebene und wird von den Staaten, in denen seine neun nationalen Untergliederungen tätig sind, gesetzlich anerkannt. Schon aufgrund seiner Geschichte unterhält er besonders enge Beziehungen mit dem Königreich Spanien83, der Republik Italien und dem Heiligen Stuhl. Wolfgang J. Bandion, der dem Orden seit 1999 angehört, gebührt der unbestreitbare und bleibende Verdienst, dem Konstantinischen Orden vom Heiligen Georg in Öster77 78 79 80 81 82 83
Roberto Saccarello, Gli Ordini cavallereschi della Real Casa di Borbone delle Due Sicilie, Catalogo della Mostra Vicenza Numismatica, Vicenza 2006 Gatscher-Riedl, S. 156 ff. Gatscher-Riedl, S. 167 Bander van Duren, S. 300 Bander van Duren, S. 301 Stair Sainty, World Orders of Knighthood, S. 162 Stair Sainty, The Constantinian Order of Saint George S. 375
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reich zu neuer Blüte verholfen zu haben. In Abstimmung mit und unter der Leitung von S.k.u.k.H. Erzherzog Simeon von Österreichs, Präsident der Königlichen Kommission für Österreich und Liechtenstein, ist es ihm gelungen, Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Klerus in einer Gemeinschaft zu vereinen und diese mit spirituellem und karitativem Leben im Sinne der jahrhundertealten Tradition des Konstantinischen Ordens zu erfüllen.
Literatur Ackermann, Gustav Adolph, „Ordensbuch sämtlicher in Europa blühender und erloschener Orden und Ehrenzeichen“, Annaberg 1855 Bander Van Duren, Peter, „Orders of Knighthood and Merit“, Gerrards Cross 1995 Bautz, Friedrich Wilhelm, „Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon“, Hamm 1990 Cardinale, Hyginus Eugene, „Orders of Knighthood, Awards and the Holy See“, Gerrards Cross 1985 Gatscher-Riedl, Gregor, „In hoc signo vinces“, Wien 2012 Gritzner, Maximilian, „Handbuch der Ritter- und Verdienstorden“, Leipzig 1893 Leichsenring, Jan, „Die Vierzehn Nothelfer in ihrer mittelalterlichen Darstellung“, München 2004 Seward, Desmond, „Italy’s Knights of St. George“, Gerrards Cross 1986 Stair Sainty, Guy, „The Orders of Chivalry and Merit of the Bourbon-Two Sicilies Dynasty“, Madrid 1989 Stair Sainty, Guy, „World Orders of Knighthood and Merit“, Wilmington 2006 Stair Sainty, Guy, „The Constantinian Order of Saint George“, Madrid 2018 Zimmerling, Dieter, „Der deutsche Orden“, Düsseldorf 1991
IV. Ivstitia Erinnern und Wachhalten – Das Vermächtnis der Überlebenden
Hannes Scheucher, Ivstitia, Acryl auf Papier, 2020
Alfred Hrdlicka, Todesstiege, Radierung, 1995
Die Wiederentdeckung eines wahren Zeugen des Glaubens aus Oberösterreich Maximilian Aichern
Wenn ich auf die Jahrzehnte zurückblicke, die mich mit Wolfgang Johannes Bandion verbinden, dann sind es vor allem gemeinsame Lebenswege, die untrennbar mit der historischen Aufarbeitung der Konzentrationslager in Oberösterreich und deren Gedenk- und Bewältigungsarbeit verbunden sind. Man kann es fast als kleines, aber dafür umso stärker strahlendes Licht in dieser irdischen Finsternis bezeichnen, dass dieser Mann dank Wolfgang Bandion nicht in Vergessenheit geraten ist: der 1944 ermordete katholische Priester und Märtyrer Johann Gruber. Meine Bekanntschaft mit Wolfgang Bandion hat aber eine längere Vorgeschichte. Auch wenn eigentlich Wien unsere gemeinsame Geburtsstadt ist, kam es zu unseren ersten Begegnungen erst später. Als ich 1964 Abtkoadjutor und später dann Abt von St. Lambrecht wurde, besuchte ich immer wieder auch Gurk mit dem Grab der Landesmutter von Kärnten, der Heiligen Hemma, weil ja dort meine Verwandten väterlicherseits wohnten. Bei meinen Aufenthalten in Gurk erlebte ich immer wieder neben den Ordensleuten der Salvatorianer engagierte Studentinnen und Studenten, die vor allem bei Domführungen nicht nur ihr Wissen vermittelten, sondern dieses auch mit Herz und Seele, Kunst und Glauben den vielen Besuchern näherbrachten. Unter diesen Studenten war auch Wolfgang Bandion, der als Schüler seine Großmutter zur Sommerfrische nach Gurk begleitet hat. Seinerzeit konnten wir beide noch nicht ahnen, dass sich unsere Wege in Oberösterreich einmal kreuzen würden. Ich wurde 1981 vom Heiligen Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Linz ernannt und im darauffolgenden Jänner 1982 von Franz Kardinal König im Linzer Mariendom zum Bischof geweiht. Was wir beide damals noch nicht ahnen konnten, war, dass Wolfgang Bandion eine gestaltende Rolle in der Österreichischen Lagergemeinschaft innehaben und ich als Bischof von Linz stellvertretend für die österreichische Bischofskonferenz einmal eine besondere Verantwortung für die Gedenkarbeit in Mauthausen übernehmen sollte. Bei den jährlich stattfindenden Befreiungsfeiern im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen, die ich als Bischof von Linz regelmäßig besuchte, war seinerzeit auch immer ein Gottesdienst vorgesehen. Dieser gestaltete sich sehr bald als eine Art internationaler Begegnungsmoment, der nicht nur für Österreicher
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von Interesse war, sondern auch von polnischen christlichen Überlebenden samt ihren Angehörigen und von vielen Überlebenden anderer Nationen besucht wurde. Eindrucksvolle Begegnungen und Menschen sind mir in Erinnerung, Bischöfe, die selbst in Mauthausen als Priester inhaftiert waren und in den Jahren nach der Befreiung regelmäßig an den Gedenkveranstaltungen teilnahmen. An diesem Gottesdienst nahm auch eine jährlich wachsende französische Delegation teil, welche besonders Marcel Callo gedachte, der 1987 seliggesprochen wurde. Jedes Jahr haben wir uns nun im Rahmen der Befreiungsfeiern in Mauthausen wieder getroffen. Es war die ehemalige Wäschebaracke des Konzentrationslagers, die in den Jahren nach der Befreiung für die Gottesdienste verwendet wurde, welche von Jahr zu Jahr durch die Hilfe der verschiedenen Gruppen immer stärker besucht wurden. Im Laufe dieser vielen Jahre vollzog sich nicht nur innerhalb der österreichischen Gesellschaft, sondern auch innerhalb der katholischen Kirche ein großer Wandel hinsichtlich der Gedenk, Mahn- und Erinnerungskultur. War es zunächst ein österreichzentriertes Gedenken und parallel dazu eine internationale Feier der Befreiung, was in der Außensicht doch sehr verschieden war, entwickelte sich mehr und mehr eine gemeinsame Erinnerungskultur im Bewusstsein aller, die grenzüberschreitend und von interkonfessioneller Prägung war. So wurden auch die Gottesdienste mehr und mehr im Geiste der Ökumene gestaltet, und das Miteinander fand Anerkennung weit über den christlichen Horizont hinaus. Es war Wolfgang Bandion, der das Gespräch mit mir suchte, da er auf einem Bild, das ursprünglich für die polnische Gemeinde in Wien bestimmt war und Maximilian Kolbe darstellte, neben Edith Stein einen oberösterreichischen Priester entdeckte. Dieser hatte 1944 in Gusen sein Martyrium erlitten, es war Johann Gruber. Johann Gruber war zwar vielen Oberösterreichern noch als couragierter Priester und Lehrer in Erinnerung, aber über sein Verschwinden nach der Verhaftung durch die Nationalsozialisten wusste man hierzulande kaum etwas. Bandion reagierte und fand heraus, dass sich die Erinnerung an Johann Gruber in Polen, aber auch in Frankreich und Belgien bei ehemaligen Häftlingen lebendig erhalten hat. Diese nahmen enttäuscht bis empört daran Anstoß, dass kein Andenken an ihren Lebensretter Johann Gruber in Österreich zu finden war. Es hat seine Arbeit begünstigt, dass Wolfgang Bandion in dieser Zeit bereits Mitglied der Österreichischen Lagergemeinschaft war. Er war übrigens der einzige der sogenannten „nachgeborenen Generation“. Die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Bandion und dem langjährigen österreichischen Delegierten im internationalen Mauthausenkomitee und späteren Obmann der Österreichischen Lagergemeinschaft, Hans Maršálek, hat ihre Wurzeln in dieser Zeit. So fand Wolfgang Bandion in Gesprächen mit Überlebenden aus dem Lager noch etliche Personen, die sich an Johann Gruber lebhaft erinnern konnten.
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Alfred Hrdlicka, Im Krankenrevier – Gruber hilft, Radierung, 1995
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Das Resultat von Wolfgang Bandions Spurensicherung war eine Biographie über Johann Gruber. Sie wurde der Grundstein für die Erinnerungskultur an diesen Priester und Märtyrer. Besonders beeindruckt war ich über Bandions Verbindung zum österreichischen Bildhauer und Graphiker Alfred Hrdlicka, der einen beachtlichen künstlerischen Beitrag zu dieser Biographie leistete, indem er Grubers Martyrium künstlerisch in 14 Radierungen festgehalten und anschaulich gemacht hat. Kardinal König sagte zu diesem Buch: „Bei vielen Menschen, auch bei Christen, zeigt sich ihre menschliche Größe oft erst in extremen, den Geist und das Leben bedrohenden Situationen. In der Nachfolge Christi gab der oberösterreichische Priester Johann Gruber sein Leben. Seine letzten Jahre in den Strafanstalten von Linz und Garsten, den Konzentrationslagern von Dachau und Mauthausen ließen ihn aufgrund des Urvertrauens des Menschen zu Gott nicht verzweifeln. So wie die Sonne allen Menschen scheint, so erbarmt sich seine Liebe aller Menschen. Gott ist die Liebe, und in der Ebenbildlichkeit des Menschen sind seine Gleichheit und Würde grundgelegt. Johann Gruber half jungen Menschen, Priestern und Ordensangehörigen ebenso wie RotSpaniern. Eine andere Sprache, Kultur und politische Überzeugung bildeten für ihn kein Hindernis. Sein gewaltvoller Tod am Karfreitag 1944 wurde zum Fanal: Er starb nicht nur als Bekenner des Glaubens, sondern auch in den Augen vieler seiner Mithäftlinge als Zeuge der Sühne und der Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit.“ Mir wurde schnell bewusst, dass dies nur der Beginn eines großen Projektes war, als der Präsident der Amicale Belgiens von Mauthausen, Paul Brusson, selbst bekennender Agnostiker, mit mir Kontakt aufnahm, um sich für einen Seligsprechungsprozess von „Papa Gruber“, wie er ihn nannte, einzusetzen. Bekannt wurde auch Brussons Brief, den er am 15. Oktober 1987 an den damaligen Kardinalstaatssekretär Casaroli nach Rom schrieb, aus dem ich zitiere: „Als ich mit anderen Kameraden ins Lager Gusen kam am 16. Mai 1942, interessierte sich Vater Gruber, der ausgezeichnet französisch sprach, sofort für unser Schicksal, ohne irgendwelche Vorurteile der Religion schenkte er uns seinen Rat, seine Ermutigung und beschloss schließlich, auch uns in seine Hilfsorganisation einzugliedern und uns zu unterstützen in dieser Hölle des Konzentrationslagers, das uns völlig in seinem Schrecken lähmte.“ Brusson schließt seinen Brief mit folgenden Gedanken: „Wenn ich Ihnen die vergangenen Ereignisse berichte, Eminenz, so ist das, weil ich erfahren habe, dass seine Heiligkeit, der Papst, sich nach Mauthausen begeben wird am 25. Juni 1988, und dass er dort, im Zuge seines Besuches auch gedenken wird der Hilfe der Seliggesprochenen … seit damals erscheint es mir wichtig, dass Vater Gruber erwähnt werden müsse, der es auch verdient hätte ein Zeichen zu erhalten, auch ein Objekt der Verehrung zu sein. Jedes Jahr anlässlich des Gedenkens der Befreiung des Lagers versäume ich es nicht, vor seinem Bild stehen zu bleiben, das im Museum des Lagers Mauthausen ausgestellt ist, und zu beten, auf meine Art, für sein ewiges Heil.“ Das war nun der richtige Zeitpunkt, eine umfassende
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biographische Arbeit über Johann Gruber in Auftrag zu geben, die über wissenschaftlich relevante Fragen Auskunft geben und die auch der Kirchengeschichte Genüge tun sollte. Ich bin Wolfgang Bandion dankbar, dass er den Anstoß für die Wiederentdeckung und die christliche Erinnerungskultur dieses tapferen Märtyrers und Priesters Johann Gruber gegeben hat. Ihm und seinem dokumentarischen Eifer ist es zu verdanken, dass diese besondere Biographie nicht in Vergessenheit geraten ist. In der Lebendighaltung des Gedenkens sei auch Prof. Christian Freudenthaler erwähnt, der mit dem Freundeskreis „Papa Gruber Kreis“ in St. Georgen an der Gusen neben wissenschaftlicher Forschungspräzision auch mit der Kunstform des Theaters und Schauspiels die Geschichte Papa Grubers Menschen, vor allem jungen Menschen, näherbringt. Doch wer war der Mann, der von Agnostikern als Heiliger gesehen und „Papa Gruber“ genannt wurde? Johann Gruber war das älteste von vier Kindern, und er verlor bereits sehr früh beide Eltern. Ab dem Jahre 1903 ermöglichte ihm der Pfarrer von Grieskirchen das Gymnasialstudium am Bischöflichen Seminar Kollegium Petrinum in Linz. Dort trat Johann Gruber nach der Matura dann in das Priesterseminar ein und wurde am 27. Juli 1913 in Linz zum Priester geweiht. Nach einigen Jahren in der Seelsorge und als Berater des Katholischen Arbeitervereins wurde Johann Gruber 1918 Lehrer im katholischen Waisenhaus in Linz. Er stach intellektuell und pädagogisch heraus, und so ermöglichte ihm Bischof Gföllner das Lehramtsstudium für Geschichte und Geographie an der Universität Wien, wo Johann Gruber 1923 zum Doktor der Philosophie promoviert wurde. Zurück in Linz lehrte er an der bischöflichen Lehrerbildungsanstalt und in unterschiedlichen Schulen, aber auch vor Eisenbahnern und Gewerkschaftern. Er verfasste in dieser Zeit Lehrbücher und wurde schließlich im November 1934 auch Direktor der Blindenanstalt in Linz, welche er mit Weitblick und auch Konfliktfreudigkeit reformierte. Diese Konfliktfreudigkeit sollte ebenso die Haltung Grubers im Jahre 1938 gegenüber den Nationalsozialisten bestimmen. Johann Gruber wurde daher schon am 10. Mai 1938 in Polizeihaft genommen und in weiterer Folge medienwirksam unter dem Vorwurf unsittlichen Verhaltens gegenüber seinen Schülern in zwei Verfahren zu zwei Jahren schwerem Kerker verurteilt. Da sich Gruber auch in der Haft gegen seine Verurteilung zur Wehr setzte, wurde er schließlich am 4. April 1940 von der Gestapo in Schutzhaft genommen und zunächst in das Konzentrationslager Dachau, dann im August 1940 mit unzähligen anderen Priestern als Häftling „Nr. 43050“ über Mauthausen in das Konzentrationslager Gusen überstellt. Im Konzentrationslager Gusen war Gruber vorerst als Pfleger im Häftlingsrevier beschäftigt und organisierte in dieser Funktion heimlich Medikamente für die Kranken. In dieser Zeit initiierte Gruber auch die Betreuung von jungen Menschen. Er benutzte seine Kontakte mit der Außenwelt, um mit eingeschleustem Geld im Konzentrationslager Gusen eine geheime Hilfsorganisation
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Alfred Hrdlicka, Johann Gruber nackt im Bunker, Radierung, 1995
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für Häftlinge aufzubauen und im Gegenzug Informationen aus dem Lager nach außen dringen zu lassen. Bald wurde er von seinen Kameraden im Lager „Papa Gruber“ genannt. Erst im März 1944 wurde Grubers Netzwerk im Konzentrationslager Gusen durch die Unachtsamkeit eines Verbindungsmannes aufgedeckt. Gruber wurde am 4. April 1944 in das Lagergefängnis beim Jourhaus gesperrt und drei Tage lang gequält. Er wurde schließlich am 7. April 1944, dem Karfreitag, mit den Worten: „Du sollst verrecken, wie Dein Meister zur dritten Stunde“ schwer malträtiert ermordet. Gruber ist heute vielleicht auch deshalb ein Vorbild, weil er über Sprachgrenzen hinweg ein Symbol für die Internationalität von Mauthausen ist. Nur ein kleiner Teil der Häftlinge war seinerzeit aus deutschsprachigen Gebieten und Österreicher tatsächlich eine Minderheit. Grubers Französischkenntnisse ebneten ihm den Zugang zu anderen Nationen, und als ehemaliger Lehrer nahm er sich besonders der Jugendlichen an. Gruber hat gegenüber seinen Mithäftlingen auch immer Akzente der Pädagogik und Weiterbildung gesetzt; dies war nicht nur ein Zeichen der Hoffnung, sondern ein klares Statement, dass es auch eine Zeit nach dem Lager geben würde. Johann Gruber bestärkte die Jugendlichen durch gemeinsame Visionen und Träume, wie die Zeit nach dem Krieg sein würde und wie eine mögliche Befreiung aussehen könnte. Auch für Johann Gruber war es gewiss nicht leicht, ideologische Grenzen zu überschreiten. Die weltanschaulichen Differenzen, die vor dem Krieg massiv die politischen Grenzen und die Gesellschaft geprägt haben, waren im Lager nicht völlig verschwunden oder gar aufgehoben. Seine Bitte um Unterstützung für einen sogenannten „Rotspanier“ war ein bemerkenswertes Zeichen der Versöhnung und eine Vorwegnahme der heute selbstverständlichen Verantwortung der Christen für alle Menschen, die in Not und Bedrängnis geraten sind. Auch wenn es damals in der Zwischenkriegszeit als eine christliche Option gültig war – man denke nur an die Frage: „Wer ist mir der Nächste?“ und wie Christus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet: „Der Nächste ist immer der unmittelbare Mensch in meinem Umfeld.“ Dies ist heute gerade ob der Globalisierung von immer neuer Gültigkeit und Aktualität. Auch uns ermahnt Christus mit dem Gleichnis des barmherzigen Samariters immer neu, auch in unserem persönlichen Umfeld bedingungslos Verantwortung zu übernehmen. Daher dürfen wir heute unsere Augen vor den Armen dieser Welt nicht verschließen, besonders vor den Schicksalen der Flüchtlinge und Obdachsuchenden und Einsamen. Gerade der Erinnerungsblick auf das schicksalhafte Jahr 1938 muss uns immer wieder die Gewissensfrage stellen: „Haben wir genügt?“ Ich selbst möchte nichts verschweigen. Ein Bild aus meiner Kindheit, das nicht aus meiner Erinnerung verschwinden kann, ist das Bild von einem SS-Mann, der einen Juden drangsaliert hat, als ich gemeinsam mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester einen Spaziergang auf der Praterstraße in Wien machte.
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Es ist ein essenzieller Bestandteil der jüdischen und christlichen Tradition, die Erinnerung an Geschehenes und an Menschen im Bewusstsein und Gedenken für die nachkommenden Generationen zu bewahren. Dies ist wohl auch der tiefere Sinn von Heiligengeschichten – Heilige, die für uns als Vorbilder gelten. Als Diözesanbischof war es für mich persönlich ein besonderer Moment, als ich im Jahr 1998 die Marcel-Callo-Kirche in der ehemaligen Linzer Tuchfabrik, die 1938 den jüdischen Besitzern weggenommen und 1947 wieder zurückgegeben wurde, weihen durfte. Marcel Callo, starb im März 1945 ebenso im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen und wurde 1987 seliggesprochen. Das Christentum ist keine schmückende Zierde, sondern es setzt hohe Ansprüche und fordert im Kern eine vehemente Opposition zur Ungerechtigkeit als Widerspruch und Widerstand zu all dem, was Macht und die Verfügbarkeit über andere Menschen betrifft. Es ist gerade die absolute Hilflosigkeit und Verletzlichkeit, mit der uns Christus begegnet und in der sich in uns Christus zeigen muss. Gerade dann, wenn die Welt am grausamsten ist und wir unserer Würde im Spiegel eines anderen Menschen begegnen. Im Jahr 1978 geschah im damaligen Europa etwas, das bis dato als unmöglich galt. Mit Karol Wojtyla wurde der erste polnische Papst gewählt. Dieser Papst, der die kommunistischen Machtgefüge von innen her kannte, wurde in Rom der Welt präsentiert. Seit dem Beginn seines Pontifikats gab es immer wieder Bemühungen, den Papst auch nach Österreich einzuladen. 1983 kam er schließlich nach Wien. In seiner Europavesper am Wiener Heldenplatz hielt er ein engagiertes Plädoyer für ein christliches Europa in Frieden und Solidarität, das an Aktualität bis heute nichts eingebüßt hat. Damals brachte der polnische Kardinal Macharski eine Urne mit Asche aus dem Konzentrationslager Auschwitz mit, die dann im Stephansdom zur permanenten Mahnung in ein Kreuz eingearbeitet wurde. So wurde der Wunsch immer lauter, dass Papst Johannes Paul II. Mauthausen ebenfalls einen Besuch abstatten sollte. Dies war für meine Diözese insofern relevant, als sich zu den Märtyrern in Enns/Lorch und dem Heiligen Florian gewissermaßen eine Brücke schlagen lässt, von der Verfolgung im frühen Christentum bis hin zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Österreichische Lagergemeinschaft hatte sich 1983 schon um einen Besuch des Papstes von Mauthausen bemüht, aber tatsächlich standen die Zeichen für einen Besuch von Oberösterreich dann im Jahre 1988, bei der zweiten Pastoralreise Johannes Pauls II. nach Österreich, sehr günstig. Am 25. Juni 1988 war es soweit: Papst Johannes Paul II. besuchte das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen. Es blickte die ganze Welt auf uns, und der Papst fand sehr persönliche, versöhnliche und mahnende Worte über das Geschehene, das aus der Geschichte nicht zu löschen sei. Dem Papst war der Besuch ein großes Bedürfnis, denn schon als Karol Wojtyla war er hier gewesen, an jenem Ort des Verbrechens, an dem so viele Menschen zu Tode gequält worden waren – unter ihnen auch einige seiner Professoren
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Oskar Höfinger, Papstmedaille Av. (gestiftet von der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen), 1988
aus Krakau. Die Begegnung des Heiligen Vaters bei einem Gebet, bei einem Häftlingskreuz vor der Lagerkapelle, in der seine Erschütterung über das Geschehene klar zum Ausdruck kam, ist in ihrer beeindruckenden Schlichtheit vielen noch im Gedächtnis und von zeitloser Bedeutung. Damals kam es auch in der Kapelle zur Begegnung zwischen dem Papst und der Witwe von Franz Jägerstätter, welcher am 26. Oktober 2007 im Linzer Mariendom seliggesprochen wurde. Auch der Bruder von Marcel Callo, der Priester wurde, wurde vom Papst begrüßt und nahm an der Begegnung inmitten des persönlichen Kreises teil. Ein besonderes Erinnerungsstück verdanken wir Wolfgang Bandion: Er initiierte durch seine Freundschaft mit Oskar Höfinger, einem damals schon sehr bekannten Bildhauer und Wotruba-Schüler, eine Erinnerungsmedaille anlässlich des Besuchs von Papst Johannes Paul II. in Mauthausen zu entwerfen. Höfinger hat in seiner unnachahmlichen Form ein sehr einprägsames Porträt des Papstes angefertigt, und ebenso auf der Rückseite eine Kreuzesdarstellung. Wolfgang Bandion überreichte diese Medaille der Österreichischen Lagergemeinschaft dem Heiligen Vater persönlich. Ein begleitender Journalist scherzte damals heiter bemerkend: „Heute ist es einmal umgekehrt, der Heilige Vater bekommt eine Medaille geschenkt.“ Stanisław Kardinal Dziwisz, der damalige Privatsekretär des Heiligen Vaters, hat eine beträchtliche Anzahl Rosenkränze vom Heiligen Vater segnen lassen, in besonderer Widmung und Anerkennung für die ehemaligen Häftlinge und deren Angehörige, welche ihnen überreicht wurden. Die Erinnerungskultur in internationaler Dimension gewann eine neue Beachtung, und es war angebracht, auch an eine neue Organisationsform zu denken. In Oberös-
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Oskar Höfinger, Papstmedaille Rv. (gestiftet von der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen), 1988.
terreich wie auch in Wien gab es bereits zahlreiche Einzelinitiativen, und so reifte der Wunsch der Österreichischen Lagergemeinschaft, sich auf einer breiteren Basis aufzustellen. Ausschlaggebend dafür war gewiss auch der Gedanke, einer neuen Generation Raum zu geben und das Erbe der Erinnerung nicht nur weiterzugeben, sondern auch lebendig zu halten. Damals durfte ich als zuständiger Ortsbischof die noch lebenden ehemaligen Häftlinge kennenlernen, den langjährigen Obmann Hans Maršálek oder Dušan Stefančič vom Internationalen Komitee. Ich war von Anfang an sehr angetan von der Idee, eine Plattform zu schaffen, welche die unterschiedlichsten und überparteilichen Interessen vertrat. Dies führte zur Gründung des Österreichischen Mauthausenkomitees, bei dem die Gründungsmitglieder – der Österreichische Gewerkschaftsbund und die Österreichische Bischofskonferenz und später auch die Israelitische Kultusgemeinde – zu einem gemeinsamen Weg fanden. Wolfgang Bandion war ein Gründungsmitglied und wurde damals von mir als einer der Vertreter der Österreichischen Bischofskonferenz nominiert. Seitdem haben unzählige Veranstaltungen, Sitzungen und Symposien unseren gemeinsamen Weg begleitet. Wie sehr diese Gedenkarbeit Früchte trug und auch nach außen hin sichtbar wurde, kann man an der Begegnung mit Kardinal König und Simon Wiesenthal in Mauthausen ermessen. Wolfgang Bandion hat im selben Jahr ein Buch vorgelegt, das die jährlichen Befreiungsfeiern und die Denkmäler des Lagers und der umliegenden Lager zum Inhalt hat. Bei der Präsentation im Parlament war ich anwesend. Alleine, dass das Werk in vier Sprachen verfasst ist, zeigt seine Bedeutung.
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Dieses Buch mit dem Titel „Erinnern“ überrascht mich heute noch in seiner Zeitlosigkeit der Gestaltung, doch leider hat das Thema an Aktualität nichts eingebüßt. An uns aber liegt es, diese Flamme der Erinnerung nicht nur zu hüten, sondern einer nächsten Generation weiterzugeben, da im Menschen immer eine Konstante von Gut und Böse existiert und wir verantwortlich sind, diese Balance stets mehr zum Guten zu führen. Angesichts des schicksalhaften Areals von Mauthausen und der leidgetränkten Erde seiner Nebenlager, die einem Friedhof gleichkommt, stellt sich die biblische Frage: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? “ Es liegt letztlich an uns, wie wir dem Nächsten begegnen. Aus alledem resultiert das Leitwort: „Niemals vergessen“ und führt dadurch direkt zu einem: „Niemals wieder“.
Literatur Wolfgang J. Bandion: Johann Gruber, Mauthausen-Gusen, 7. April 1944. WUV-Universitätsverlag, Wien 1995 Wolfgang J. Bandion/Stephan Hilge/Cathrine Stukhard: Erinnern (Gedenkbuch über Mauthausen und seine Nebenlager), mit Beiträgen von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil, Simon Wiesenthal und Ilse Aichinger. Wien 1998
Sowjetische Häftlinge im Konzentrationslager Mauthausen Alexey Konopatchenkov
Viele Forscher betonen, dass die schlimmsten Bedingungen im Lagersystem von Mauthausen jene für sowjetische Gefangene und Juden waren. Diese Ergebnisse werden auch von vielen der überlebenden Häftlinge bestätigt. Das Leben eines Bürgers der Sowjetunion galt als wertlos. Dies war größtenteils eine Folge der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus, der die Slawen als „untermenschlich“ betrachtete. Auf den folgenden Seiten soll die Geschichte der Inhaftierung von Sowjetbürgern in Mauthausen skizziert werden. Die ersten Sowjetbürger wurden am 23. September 1941 als politische Gefangene in das zentrale Konzentrationslager Mauthausen gebracht1. Es ist unbekannt, um wie viele es sich handelte. Ab dem 20. Oktober 1941 kamen die ersten Kriegsgefangenen im Lager an. Nach der Filtration wurden 2.205 Menschen gezwungen, ein Lagerkrankenhaus („Revier“) außerhalb des Hauptlagers zu bauen. Die von ihnen gebauten Baracken wurden als „russisches Revier“ oder „russisches Lager“ bezeichnet. Die zweite Charge von 2.000 Personen, die am 24. Oktober 1941 eintraf, wurde sofort in das sich zu jener Zeit gerade im Bau befindliche Nebenlager in Gusen überführt. Von den sowjetischen Gefangenen, die 1941 in das Lager gebracht wurden, erlebte keiner seine Freilassung, und es sind nur sehr wenige Informationen über sie zu finden. Alle sowjetischen Kriegsgefangenen bis 1943 erhielten keine separate Registrierungsnummer, sondern behielten ihre ihnen in Kriegsgefangenenlagern zugewiesenen Seriennummer. Nur 80 Personen erhielten vor dem 1. Januar 1943 interne Nummern. Einige Kriegsgefangene wurden streng isoliert in Block 16 gehalten, es gibt praktisch keine Informationen über ihr Schicksal2. Damit verbunden ist es sehr schwierig, Informationen über das Schicksal von Gefangenen zu finden, die vor diesem Datum eintrafen. Im Jahr 1942 wurden mindestens 1.340 sowjetische Kriegsgefangene und eine unbestimmte Anzahl von Zivilisten in das Lager gebracht. Alle erwachsenen Gefangenen wurden zur Arbeit im Steinbruch geschickt; jene, die jünger als 16 waren, zur Steinverarbeitung. Nach Angaben überlebender Gefangener fanden Anfang 1942 in Gusen im Rahmen 1 2
Marsalek H. Die Geschichte des Konzentrationlagers Mauthausen. Wien,1995. S. 113. Левинский Д.К. Мы из сорок первого…Воспоминания. М.: 2005. S. 234.
Sowjetische Häftlinge im Konzentrationslager Mauthausen
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der „Desinfektion“ Massenmorde an sowjetischen Gefangenen durch Vernichtung des Häftlingsbestandes ganzer Baracken durch Gas statt3. Ende 1942 waren in Gusen nur noch etwa hundert sowjetische Kriegsgefangene am Leben. Ab dem 1. Januar 1943 können wir anhand von Archivdaten mit größerer Klarheit über die Anzahl sowjetischer Landsleute in Mauthausen sprechen (wobei zu berücksichtigen ist, dass in einigen besonderen Fällen Ankünfte nicht registriert wurden)4. Alle Sowjetbürger in Mauthausen gehörten einer der folgenden Gruppen an: • Kriegsgefangene. Sie trugen ein rotes Dreieck mit den Buchstaben „SU“. Die (offiziellen) Gründe, warum sie in ein Konzentrationslager deportiert wurden, waren: Fluchtversuche aus Kriegsgefangenenlagern, Verdacht der Fluchtvorbereitung und politische Aktivitäten. • „Ostarbeiter“. Dies waren Personen, die zur Arbeit in das Deutsche Reich deportiert worden waren (RZA – Russische Zivil-Arbeiter). Sie trugen ein rotes Dreieck mit dem Buchstaben „R“. Als Deportationsgründe wurden häufig Fluchtversuche oder Straftaten angegeben. In den meisten Fällen war die Grundlage für die Festnahme jedoch die „vorbeugende Inhaftierung“, bei der beliebige Personen ohne Ermittlungen und Verurteilung jederzeit inhaftiert werden konnten. • Politische Gefangene. Zu dieser Kategorie gehörten Personen, die im Verdacht standen, Verbindungen zur Widerstandsbewegung zu haben, und solche, die unerwünschte politische Aktivitäten auf dem Gebiet des Dritten Reiches unternahmen. Auch sie trugen ein rotes Dreieck mit dem Buchstaben „R“. Die Grundlage für die Festnahme war häufig die „vorbeugende Inhaftierung“. • „Schutzhäftlinge.“ Dies waren „aus administrativen Gründen internierte Zivilisten“, Personen, die aus politischen, rassischen oder anderen Gründen festgenommen wurden und als Gefahr für den Staat oder die Besatzungstruppen angesehen wurden5. Für diese Personen wurden die gleichen Maßnahmen ergriffen wie für jene, die wegen krimineller Aktivitäten festgenommen worden waren. Sie trugen wiederum ein rotes Dreieck mit dem Buchstaben „R“. • „Hiwi“ (Hilfswillige). Hier handelte es sich um Kollaborateure, die auf der Seite des nationalsozialistischen Deutschlands gekämpft, aber Straftaten begangen hatten. Sie trugen ein rotes Dreieck mit den Buchstaben „SU“. Aufgrund der gleichen Bezeichnung 3 4 5
Haunschmied R., Mills J., Witzany D. St.Georgen-Gusen-Mauthausen. St. Georgen an der Gusen, 2007. S. 100. Конопатченков А.В. «Концлагерь Маутхаузен: 1938-1945». М.: 2005. S. 86. Report of the International Committee of the Red Cross on its Activities During the Second World War. Geneva, 1948. V. III, S.83
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Alexey Konopatchenkov
von Kriegsgefangenen und „Hiwi“ war es unter den Lagerbedingungen sehr schwierig, die beiden zu unterscheiden. In der Tabelle 1 sind statistische Daten zu den in den verschiedenen Jahren neu inhaftierten sowjetischen Gefangenen in Mauthausen angeführt. Tabelle 1: Sowjetbürger in Mauthausen.
KATEGORIE Kriegsgefangene „Hiwi“ Politische Gefangene „Schutzhäftlinge“ „Ostarbeiter“ Kriegsgefangene in Block 20 Rest Gesamt
1943 476 125 2.148 921 1.350 –
1944 4.045 726 4 107 14.317 500
1945 310 6 – 22 2.847 4.200
Gesamt 4.831 857 2.152 1.050 18.514 4.700
14 5.020
40 19.739
41 7.420
95 32.179
Die Tabelle zeigt, dass die Zahl der politischen und „Schutz“-Gefangenen stark abnahm. Auch die Zahl der „Hiwi“, von denen angenommen wurde, dass es sinnvoller wäre, sie an die Front als in die Konzentrationslager zu schicken, nahm über die Jahre ab. Die größte Gruppe unter den Gefangenen waren „Ostarbeiter“, von denen 1944 mehr als 14.000 eingesetzt wurden. Dies war auf eine veränderte Art der Beschäftigung von Gefangenen zurückzuführen. Im Frühjahr 1942 war das Filialnetz des Konzentrationslagers Mauthausen erheblich erweitert worden, da zu dieser Zeit viele Industrielle über die Nutzung von Gefangenen für Sklavenarbeit nachzudenken begannen. Ab 1943 entwickelte das Ministerium für Waffen und Munition Interesse an Gefangenen, die in weiterer Folge allmählich vor allem in der militärischen Produktion eingesetzt wurden. Im Juni 1943 wurde die Produktion von Granitstein in den Konzentrationslagern des Mauthausen-Systems praktisch eingestellt. Ab diesem Zeitpunkt war die Hauptaufgabe der Gefangenen die militärische Produktion, insbesondere die Herstellung von Ersatzteilen und Montage von Flugzeugrümpfen. Wegen der Bombardierungen waren dafür unterirdische Anlagen nötig. Als die Verantwortlichen erkannten, dass sowjetische Kriegsgefangene ein schwächeres und unzuverlässigeres Kontingent für die Schaffung von unterirdischen Tunneln waren, wurden in den Konzentrationslagern massiv „Ostarbeiter“ eingesetzt. An jenen Gefangenen, die nicht mehr arbeiten konnten (und somit keinen „wirtschaftlichen Nutzen“ mehr boten), wurden medizinische „Untersuchungen“ durchgeführt. Schwache Gefangene wurden in die Gaskammern des Schlosses Hartheim (ein
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Sowjetische Häftlinge im Konzentrationslager Mauthausen
speziell für die Massenvernichtung umgebautes Gebäude) geschickt, weil die Krematorien in Mauthausen die Zahl der Ermordeten bzw. zu Ermordenden nicht bewältigen konnten. Nicht alle Akte der Gefangenenvernichtung zeigten einen Massencharakter. Einzelne Tötungen wurden etwa durch Injektion, Verhungern oder Ertränken in einem Fass durchgeführt – diese letzte Ermordungsform war besonders charakteristisch für Gusen. Im Oktober 1941 brach in Gusen eine Typhus-Epidemie aus, bei der im Laufe des Winters etwa 6.500 Gefangene und 100 Wachen starben. Die Ursache der Epidemie waren die schrecklichen, unhygienischen Bedingungen in den Baracken. Der Kampf gegen Typhus nahm grauenvolle Formen an und illustrierte die Haltung der SS gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen: Im Frühjahr 1942 wurden 164 sowjetische Kriegsgefangene direkt in der Baracke Nummer 32 mit Gas ermordet. Bis Ende 1943 erhielten sowjetische Kriegsgefangene und Juden im Gegensatz zu anderen Gefangenen keine Winterkleidung. Bis 1944 arbeiteten alle sowjetischen Kriegsgefangenen und erwachsenen „Ostarbeiter“ ebenso wie die Juden ausschließlich in einem Steinbruch6. Für die überwiegende Mehrheit bedeutete dies den sicheren Tod. Die sowjetischen Gefangenen und Juden waren im Gegensatz zu nichtjüdischen Angehörigen anderer Nationalitäten auch nicht von den Aktivitäten des Internationalen Roten Kreuzes erfasst, das regelmäßig Pakete an KZ-Häftlinge sandte.
In der Tabelle 2 finden wir die Alterszusammensetzung der neu inhaftierten sowjetischen Gefangenen über die Jahre. Tabelle 2: Verteilung der sowjetischen Gefangenen nach Alter.
JAHR
50
1943 1944 1945
7% 5% 3%
23 % 31 % 30 %
16 % 13 % 25 %
12 % 15 % 15 %
12 % 13 % 11 %
10 % 9% 6%
8% 6% 5%
5% 4% 3%
3% 2% 1%
4% 2% 1%
Aus dieser Tabelle ist ersichtlich, dass vor allem junge Menschen im Alter von 18 bis 21 Jahren in das Lager gebracht wurden. Das Durchschnittsalter jener, die neu in das Konzentrationslager kamen, betrug 1943 28 Jahre und 11 Monate, 1944 27 Jahre und 1945 26 Jahre und 6 Monate. Der Rückgang des Durchschnittsalters zeigt den Wunsch der Lagerleitung nach jüngeren und damit körperlich belastbareren Zwangsarbeitskräften. Anhand der Daten aus dem Archiv des Mauthausen-Museums lässt sich der berufliche 6
Marsalek H. Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Wien, 1995. S. 69.
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Hintergrund der in das Lager geschickten sowjetischen Gefangenen rekonstruieren. In Tabelle 3 sind die zehn häufigsten Berufe für jedes Jahr und deren Verhältnis angeführt. Tabelle 3: Beruflicher Hintergrund der in Mauthausen registrierten sowjetischen Gefangenen
1943 Kollektivbauer Arbeiter Schuhmacher Traktorfahrer Schüler Fahrer Koch Tischler Buchhalter Elektriker Rest
28 % 15 % 4% 3% 3% 2% 2% 2% 2% 2% 37 %
1944 Kollektivbauer Arbeiter Schüler Schuhmacher Fahrer Traktorfahrer Tischler Koch Bäcker Lehrer Rest
23 % 21 % 8% 4% 3% 3% 3% 2% 2% 1% 30 %
1945 Arbeiter Kollektivbauer Schüler Schuhmacher Fahrer Traktorfahrer Tischler Bäcker Koch Elektriker Rest
33 % 13 % 7% 4% 3% 3% 2% 2% 2% 1% 30 %
Die Tabelle zeigt einen konstanten Anstieg des Anteils an Arbeitern und einen konstanten Rückgang des Anteils an Kollektivbauern. Dies kann durch die Neuausrichtung der Konzentrationslager auf den Einsatz von Häftlingsarbeit für die Militärindustrie erklärt werden. Der Anstieg des Anteils an Schülern wiederum hängt mit dem Wunsch der Lagerverwaltung nach jüngeren und gesünderen Gefangene zusammen. Das Verhältnis der anderen Berufe veränderte sich nicht wesentlich. In den Jahren 1944/1945 ist allerdings das Spektrum der Berufe im Vergleich zu 1943 reduziert. Im März 1944 entwickelte Hitler ein neues Kriegskonzept, das auf die vollständige Ausrottung des Feindes abzielte. Dementsprechend erließ Wilhelm Keitel, der das Oberkommando über die Wehrmacht innehatte, am 2. März 1944 den berüchtigten „Kommissarbefehl“, demzufolge alle politischen Aktivisten und entflohenen Offiziere der Roten Armee einer vollständigen und bedingungslosen physischen Vernichtung auszusetzen waren. In Übereinstimmung mit dem „Kugel-Erlass“ konnte eine Hinrichtung jedoch durch Verlegung in Block 20 des Konzentrationslagers Mauthausen ersetzt werden. Block 20, der „Todesblock“, war mit einer zusätzlichen Steinmauer umgeben und vom Rest des Lagers vollständig isoliert. Die Gefangenen durften nicht arbeiten, wurden aber durch ständige körperliche Anstrengung erschöpft. Sie erhielten nur halbe Nahrungsrationen, was einen sicheren Tod innerhalb weniger Wochen bedeutete. Trotzdem initiierten die Gefangenen des Todesblocks am 2. Februar 1945 einen Ausbruchversuch. Kriegsgefangene nicht-sowjetischer Angehörigkeit, die aus deutschen Kriegsgefangenenlagern geflohen waren, blieben in der Regel von spezifischen Haftbedingungen, die
Sowjetische Häftlinge im Konzentrationslager Mauthausen
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konsequent zum Tode führten, verschont. Als juristische Basis dieser Regelung diente das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen 1929, das auch durch Nazi-Deutschland im Jahr 1934 ratifiziert worden war. Die Nichtunterzeichnung dieser Konvention durch die Sowjetunion galt für Deutschland als offizieller juristischer Grund dafür, um die Massenvernichtung sowjetischer Kriegsgefangener zu rechtfertigen. Am 5. Mai 1945 wurde Mauthausen von den Truppen der Alliierten befreit. Übersetzer: Peter Grigoriev
Stephan Hilge, Bergkristall „Gusen – Mauthausen“, Ätzung, Aquatinta geschabt, Kaltnadel, Stichel und Mezzotinto auf Kupfer, 1995
Das Nebenlager Redl-Zipf und die zweite Phase der „Aktion 14f13“ in der Tötungsanstalt Hartheim (1943–1944) Neue Erkenntnisse in der Mauthausen-Forschung Jean-Marie Winkler / Cyril Mallet
Paul Le Caër (1923–2016) in memoriam
Das Konzentrationslager Redl-Zipf mit dem Tarnnamen „Schlier“ ist heute in der Regel kaum bekannt. Dabei hatte dieses Nebenlager aber einen besonderen Stellenwert innerhalb der Außenlager von Mauthausen: Dort wurden nämlich die Triebwerke der V2-Raketen getestet, und in den Stollen der Zipfer-Brauerei sollte auch der Treibstoff für die sogenannten „Vergeltungswaffen“ hergestellt werden. Dank der Publikationen des französischen Zeitzeugen Paul Le Caër (1923–2016), der 1945 das Totenbuch des Lagers nach Frankreich bringen konnte, wissen wir mehr über Zipf. Neulich ist die Monographie von Cyril Mallet erschienen, die wesentliche Fakten und Dokumente zur Geschichte des Nebenlagers Schlier präsentiert. Dabei wurde der Forscher aufmerksam auf die Beziehung zwischen diesem eigentlich sehr kleinen Nebenlager, das lediglich 19 Monate lang in Betrieb war, und der Tötungsmaschinerie Hartheim. Während im amtlichen Totenbuch von Schlier 267 Opfer geführt werden, die im Lager gestorben sind, erweist sich, dass mindestens 226 Häftlinge aus Zipf in der Gaskammer von Hartheim ermordet wurden. Eine bis heute ungeklärte historische Besonderheit will es nämlich, dass die sogenannte „Aktion 14f13“, d. h. die Ermordung von KZ-Häftlingen an den Orten der NS-Euthanasie, im Frühjahr 1944 in Hartheim wieder aufgenommen wurde.
Das Nebenlager Redl-Zipf und die zweite Phase der „Aktion 14f13“ in der Tötungsanstalt Hartheim (1943–1944) 6 59
Die Brauerei im Jahr 1899
Datum des Transportes
Zahl der Männer
Zahl der Opfer
%
11.10.1943
1
0
0
19.10.1943
7
1
14
08.11.1943
152
32
21
09.12.1943
1
0
0
22.01.1944
1
0
0
07.02.1944
400
124
31
02.04.1944
249
62
25
26.04.1944
35
5
14
04.06.1944
500
2
0,4
03.07.1944
1
0
0
20.07.1944
1
0
0
29.09.1944
1
0
0
08.01.1945
20
0
0
13.02.1945
2
0
0
TOTAL
1 371
226
(=16,4%)
660
Jean-Marie Winkler / Cyril Mallet
Auf die Gesamtzahl der Häftlinge bezogen, die zwischen dem 11. 10. 1943 und dem 13. 2. 1945 von Zipf nach Mauthausen rücküberstellt wurden, d. h. insgesamt 1371 Häftlinge (so der heutige Stand), ergibt dies einen überraschend hohen Prozentsatz von 16,4 % der Häftlinge aus Zipf, die 1944 in Hartheim ums Leben kamen. Anhand der Transportlisten kann man sogar belegen, dass aus dem Rücktransport vom 7. 2. 1944, bestehend aus 400 Häftlingen, anschließend 31 % davon, d. h. 124 insgesamt, in Hartheim ermordet wurden. Aus der Perspektive der Historiker, die üblicherweise die Tötungsanstalt Hartheim mit den Invalidentransporten in Verbindung bringen, mag dies immerhin logisch erscheinen, zumal historisch belegt ist, dass der Rücktransport vom 7. 2. 1944 aus kranken und geschwächten Häftlingen bestand, die im kleinen Revier von Zipf (wo ein gewisser Paul Le Caër tätig war) nicht mehr versorgt werden konnten. Insofern fällt dieser Invalidentransport ins Mauthausener „Sanitätslager“ (amtliche Abkürzung SL), wie das Revier unterhalb des Lagers bezeichnet wurde, in den Kontext der winterlichen Bedingungen in Oberösterreich bei Schwerstarbeit auf dem Bau – wodurch die an sich hohe Sterblichkeit unter den KZ-Häftlingen noch gesteigert wurde. Doch ist diese Interpretation vielleicht zu einfach, um die Funktion von Hartheim im Zusammenhang mit Zipf zu verstehen. Der Rücktransport vom 2. 4. 1944 betrug 249 Häftlinge, von denen 25 %, d. h. 62 Häftlinge insgesamt, danach in Hartheim ermordet wurden. Die Interpretation, wonach Hartheim dazu diente, arbeitsunfähige Häftlinge zu liquidieren, könnte in diesem Falle ebenso zutreffen, zumal Oberösterreich dafür bekannt ist, dass der Frühling keine Besserung der Witterung bringt. Doch ging die Zahl der Sterbefälle zu dieser Zeit im Lager Schlier zurück, wobei die Zeit der Hartheim-Opfer unverändert hoch blieb. Man könnte einwenden, es sei eben die Funktion von Hartheim gewesen, die körperlich geschwächten Häftlinge zu liquidieren. Aus anderen Lagern, wie zum Beispiel Ebensee, sind Rücktransporte belegt, die auf eine Selektion folgten und wobei das Mauthausener „Sanitätslager“ lediglich als Zwischenstation fungierte. Der französische Häftling Raymond Henriet (26473), Jahrgang 1893, wurde am 16. 4. 1943 von Compiègne im Rahmen der „Aktion Meerschaum“ nach Mauthausen deportiert. Dort wurde er dem Nebenlager Wiener Neustadt zugeteilt, das der Rüstungsindustrie diente. Von dort aus wurde er am 13. 11. 1943 nach Redl-Zipf überstellt, wo er bis zum 4. 3. 1944 blieb. Danach wurde Raymond Henriet nach Ebensee überstellt, wo ebenfalls in Galerien neue „Wunderwaffen“ gebaut werden sollten. Man weiß, dass Raymond Henriet am 30. 5. 1944 nach Mauthausen rücküberstellt wurde. Sein Sohn Jacques Henriet (26474), der seinen Vater von Anfang an in den Nebenlagern von Mauthausen begleitet hatte, war Zeuge einer Selektion im Revier von Ebensee durch einen SSArzt, der von auswärts kam. Am Tag darauf hat er gesehen, wie sein Vater auf den Särgen saß, mit denen ein Lastwagen die Leichen nach Mauthausen zurückbrachte, da Ebensee noch kein Krematorium besaß. Es ist inzwischen erwiesen, dass Raymond Henriet am 2.
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Juni 1944 in Hartheim ermordet wurde (Quelle: polnische Liste). In diesem Fall folgte die Ermordung in Hartheim unmittelbar auf die Selektion und auf die Einweisung in das Mauthausener „Sanitätslager“. Aus den Aussagen des Zeitzeugen Jacques Henriet geht ebenfalls hervor, dass sein 51-jähriger Vater damals sehr geschwächt war. Dies deutet darauf hin, dass auch in den Nebenlagern Selektionen durchgeführt wurden, mit dem Ziel, die arbeitsunfähigen Häftlinge in Hartheim zu ermorden. Dabei diente das „Sanitätslager“ in Mauthausen lediglich als Zwischenstation. Nun erweist es sich, dass diese Logik der Invalidentransporte im Falle der meisten Hartheim-Opfer aus Zipf faktisch nicht zutrifft, was von der Forschung bislang nicht notiert wurde. Denn am 8. 11. 1943 gab es einen Transport von Zipf nach Mauthausen in das „Sanitätslager“ mit 152 Häftlingen, von denen 21 %, d. h. 32 Häftlinge insgesamt, danach in Hartheim vergast wurden. Nur dass die Wiederaufnahme der sogenannten „Aktion 14f13“ (in Mauthausen unter dem Codenamen „H13“ geführt) auf Ende März 1944 datiert werden kann. Somit hatten die Häftlinge, die im November 1943 aus Zipf evakuiert worden waren, etwas mehr als vier Monate im „Sanitätslager“ verbracht. Eine hohe Sterberate (bzw. die Eliminierung von Invaliden im Sinne der NS-„Euthanasie“) wäre durchaus denkbar, wenn sie am Anfang des Prozesses stattgefunden hätte. Selbst wenn die Lebensbedingungen im „Sanitätslager“ prekär waren, so war eine Genesung dort dennoch möglich – was in manchen Fällen erwiesen ist. Dies steht ebenso im Zusammenhang mit der Umfunktionierung der Konzentrationslager, die ab 1943 zunehmend in den Dienst der Industrie bzw. der Rüstungsindustrie gestellt wurden. Somit bestand ein Bedarf an Arbeitskräften, wobei die systematische Ermordung der „Stücke“ eine konträre Wirkung gehabt hätte. Umgekehrt fällt auf, dass im Rücktransport vom 4. 6. 1944 mit 500 Häftlingen nur zwei davon, d. h. 0,4 %, in Hartheim umgekommen sind. Dabei war zu jenem Zeitpunkt die „Aktion 14f13“ in vollem Gange, und es wäre ein Leichtes gewesen, eine bedeutende Anzahl der Häftlinge aus Zipf in Hartheim zu ermorden, nachdem sie einige Tage im „Sanitätslager“ verbracht hätten. Doch ist dies so nicht geschehen. Somit wäre die allzu einfache Gleichsetzung von Liquidierung der Invaliden und Ermordung von KZ-Häftlingen in Hartheim genauer zu überprüfen, ja teilweise zu revidieren. Die Entdeckung neuer Dokumente wie etwa der polnischen Liste, die 2010 von JeanMarie Winkler publiziert und ausgewertet wurde, ermöglicht es, unser historisches Wissen zu verfeinern. Es war bereits bekannt, dass die amtlichen Sterbedaten, die zwar mit Stempeln und Unterschriften versehen waren, in Wirklichkeit eine absichtliche Fälschung der Tatsachen in der NS-Buchführung des Todes widerspiegeln. Das amtliche Sterbedatum entspricht nämlich Wochen bzw. Monaten nach dem realen Sterbedatum. Nur dass der NS-Verwaltungsapparat die realen Daten – die wohl irgendwo aufgeschrieben sein muss-
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Liste, die vom „Komitet Polski“ angefertigt wurde. Darauf stehen die Namen von Häftlingen aus dem Mauthausener „Sanitätslager“, die zwischen dem 21. 3. 1944 und dem 11. 10. 1944 (reale Todesdaten) in Hartheim, dem vermeintlichen „Genesungslager“, ermordet worden sind. Die Liste nennt dabei die Kennzeichen der Hartheimer Autobusse, die historisch belegt sind
Das Nebenlager Redl-Zipf und die zweite Phase der „Aktion 14f13“ in der Tötungsanstalt Hartheim (1943–1944) 6 63
ten – hat verschwinden lassen, sodass die Historiker anhand der historischen Dokumente keinen Zugang zur Wahrheit haben. Ausgehend von der polnischen Liste kann nun das reale Todesdatum bestimmt werden, insofern es darin vermerkt ist. Wenn das reale Todesdatum darin nicht vermerkt ist, so kann man dennoch eine Zeitspanne festlegen und das reale Todesdatum anhand der chronologischen Reihenfolge der Transporte nach Hartheim rekonstruieren. Auch da ist das Beispiel von Raymond Henriet für Häftlinge aus dem Rücktransport vom 4. Juni 1944 nicht relevant, denn es vergingen mehrere Monate zwischen der Einweisung in das „Sanitätslager“ und der Ermordung in Hartheim. Der Sowjetrusse Wladimir Minaew (32374) aus dem Rücktransport vom 4. Juni 1944 ist am 21. August 1944 ermordet worden, und sein Landsmann Nikolaj Mitschenko (41914) bereits am 10. August. Immerhin liegen in diesem Fall etwas mehr als zwei Monate zwischen der Ankunft in Mauthausen und dem Todestransport nach Hartheim. Nun stellt sich in den meisten Fällen jedoch weiterhin die Frage nach der Datierung der Morde. Die polnische Liste führt zwar nicht alle realen Sterbedaten an, doch kann sie wesentliche Hilfe zum Verständnis der historischen Fakten liefern. Die amtliche Buchführung der Hartheimer Ermordungen durch das Zentrallager Mauthausen weist eine formale Besonderheit auf. Das erste Blatt (Signatur 144 – H) führt nämlich Todesmeldungen vom 11. 4. 1944 bis zum 6. 6. 1944 an, während danach die Todesmeldungen täglich erstellt werden. Der französische Häftling Jules Pierson (26749) wird darin mit administrativem Sterbedatum vom 27. 4. 1944 geführt. Selbst wenn man annehmen muss, dass das reale Todesdatum früher liegen muss, so kann man dennoch daraus eruieren, dass dieser Häftling am 27. 4. 1944 tot war. Das bedeutet aber rückschließend, dass sämtliche Zipfer Häftlinge, die in der polnischen Liste vor diesem Eintrag genannt werden, ebenfalls vor dem 27. 4. 1944 ermordet worden sind. Im Namensblock mit Anfangsbuchstaben P betrifft dies Johann Pfarl (35300), Andreij Pruglo (36840), Jean Paille (37796), Michail Paskor (37454), Emanuil Parassiris (38319), Johannis Papadakis (38316), Michal Pasiecznik (38334) und Stefan Przagralek (39121). Im Falle von Jules Pierson lässt sich das reale Todesdatum noch genauer eingrenzen, denn vor diesem Häftling findet man in der polnischen Liste, die chronologisch angeordnet ist, Spuren der großen Transporte aus Compiègne von Ostern 1944. Die Franzosen Paul Pic (62962), Georges Parizon (62923), Jean Pessarien (recte: Pastarier) (62916), Jules Patin (62924), Jean Poyrard (recte: Peyrard) (62958) und Léon Pavot (62929) waren nämlich am 8. 4. 1944 in Mauthausen eingetroffen. Dies bedeutet, dass der Zipfer Häftling Jules Pierson zwischen dem 8. 4. 1944 und dem 27. 4. 1944 in Hartheim ermordet wurde. Er war am 7. 2. 1944 nach Mauthausen rücküberstellt worden. Im Namensblock mit dem Anfangsbuchstaben B ergibt diese Lektüre, dass die Zipfer Häftlinge Lucien Brunner (26203), Georges Bastet (26279), Pierre Bachelier (26874), Roland
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Karteikarte von Pierre Bachelier (26874) mit amtlichem Sterbedatum vom 23. 4. 1944. Der amtliche Sterbeort ist das „Sanitätslager“ im Lager Mauthausen, wobei Pierre Bachelier sowohl in der polnischen Liste, im Hartheimregister der Häftlingsnummern und auf dem ersten Blatt der amtlichen Todesmeldungen von Hartheim erscheint. Dies mag darauf hindeuten, dass die administrative Erfassung der zweiten Phase von 14f13 zumindest am Anfang nicht immer reibungslos erfolgte. Der handschriftliche Eintrag „E“ mit Bleistift weist darauf hin, dass es sich dabei um keinen natürlichen Todesfall handelt, zumal dieser Häftling erst 20 Jahre alt war
Bullet (27853), Arsène Bonnabe (27816), Manuel Bertard (recte: Bertin) (27156), Leontij Bezrukawys (37288), Emanuil Bellibassakis (38232), Leon Baur (recte: Bour) (53646) und Octave Bodin (26518) nach dem 8. 4. 1944 ermordet wurden. Denn zuvor findet man in der polnischen Liste die Namen der französischen Häftlinge Georg (recte: Georges) Basrak (61921), Georges Belland (61939), Abel Barbarat (61902), Antoine Boutarel (61999), Paul Baraguand (recte: Baraquand) (61900) und Alfred Bertrand (61952), die von Compiègne kommend am 8. 4. 1944 in Mauthausen eingetroffen sind. Da das amtliche Todesdatum von Pierre Bachelier am 23. 4. 1944 situiert ist, kann man daraus schließen, dass Lucien Brunner, Georges Bastet und Pierre Bachelier zwischen dem 8. 4. 1944 und dem 23. 4. 1944 in Hartheim ermordet wurden. Im Namensblock mit M lässt sich eruieren, dass die Zipfer Häftlinge Jean Noël (28378), Franz Nowicki (32376), Nikolaj Nosulenko (36825), Iwan Nitschitsluk (37443), Iwan Nowikow (38113) und Heinrich Nowotny (39918) erst nach dem 8. 4. 1944 ermordet wurden. Denn vor ihnen stehen in der polnischen Liste die Namen der Franzosen Felix Nikolas
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Appell des französischen Häftlings Maxime Breton im „Bulletin de l‘Amicale de Mauthausen“ (Juni 1984)
(recte: Nicolas), Lucien Nonorgues (62880), Louis Nadal (62868) und Albert Nobilet (62876), die von Compiègne kommend am 8. 4. 1944 in Mauthausen eingetroffen sind. Somit findet man in der polnischen Liste konvergierende Spuren einer Liquidierung von Häftlingen aus Redl-Zipf im Zeitraum von Mitte bzw. Ende April 1944. Man weiß heute dank der polnischen Liste, dass die zweite Phase von 14f13 in Hartheim am 21. 3. 1944 begonnen hat. Beim Häftling Stanislaus Nodzykowski (40179), dessen amtliches Todesdatum der 23. 4. 1944 ist, lässt sich sogar sagen, dass er vor dem 8. 4. 1944 ermordet wurde, denn sein Name steht vor denjenigen der Franzosen aus dem Ostertransport. Somit stellt sich indirekt die Frage nach der Unterkunft der Zipf-Häftlinge im Mauthausener „Sanitätslager“. Im „Bulletin“ der Amicale de Mauthausen von Juni 1984 steht der Appell des französischen Häftlings Maxime Breton an die Überlebenden des Krankentransports aus Zipf vom 7. 2. 1944. Darin erfährt der Leser, dass die Invaliden aus Schlier zunächst ins Stammlager gebracht wurden, wo eine kalte Dusche als Empfang diente. Danach wurden sie ins „Sanitätslager“ überstellt, wo sie die erste Nacht in einer Baracke verbrachten, die noch nicht fertig gebaut war. Dort seien sie bis zum Osterdienstag, dem 10. 4. 1944, geblieben, bevor die Überlebenden nach Ebensee überstellt wurden. Dabei spricht Maxime Breton vom „Block der Isolierten“ („block des isolés“), was darauf hinweist, dass die Häftlinge aus Zipf von den anderen Mauthausen-Häftlingen getrennt waren.
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Diese Abgrenzungstheorie ist auch durch ein offizielles Dokument des Arbeitseinsatzes an den Lagerarzt des KL Mauthausen bestätigt. Mit Datum vom 7. Januar 1944 heißt es darin: „Auf der übersandten Liste der im Sanitätslager isolierten Häftlinge der Kommandos Schlier und Zement sind nachstehende Häftlinge nicht aufgeführt: Nr. 31368 P. Gutowski, Antonin, geb. 25.05.1894, Nr. 33112 P. Tomczyk, Karl, geb. 15.07.1908, Nr. 26446 F. Vivier, Aimé, geb. 03.12.1892, Nr. 37557 R. Zadaroznij, Scipan, geb. 24.12.1894. Es wird gebeten diese Häftlinge ebenfalls zu isolieren.“ Die beiden Nebenlager Zipf und Ebensee alias „Kommandos Schlier und Zement“ waren Teile der Rüstungsindustrie geworden und dienten beide der Durchführung von geheimen Waffenprogrammen. Dass gerade diese Häftlinge selbst im Lager isoliert wurden, weist darauf hin, dass sie als Geheimnisträger behandelt wurden und konsequent von den anderen Häftlingen getrennt wurden. Dabei handelt es sich um den Transport vom 8. 11. 1943, der somit Anfang 1944 immer noch der Isolierung im „Sanitätslager“ unterlag. Dies bestätigt die Autobiographie1 des Zeitzeugen Paul Sinoir (28543), der von November 1943 bis Juni 1944 in Mauthausen geblieben ist, bevor er nach Ebensee überstellt wurde. Paul Sinoir betont ausdrücklich, dass ein Block im „Sanitätslager“ denjenigen Häftlingen bestimmt war, die in Wiener Neustadt und Redl-Zipf an den geheimen Rüstungsprogrammen teilgenommen hatten. Davon wurden später diejenigen nach Ebensee überstellt, die in der Lage waren, körperliche Schwerstarbeit unter harten Witterungsbedingungen zu leisten. Leider ist es heute zu spät, den Zeitzeugen Fragen zu stellen – etwa ob die aufeinanderfolgenden Transporte aus Zipf in einem einzigen Block im „Sanitätslager“ untergebracht wurden oder ob jeder Transport gesondert blieb. Dank der polnischen Liste sind jedoch neue Erkenntnisse möglich, was den Tod dieser Häftlinge in Hartheim betrifft. Eine Funktion der Tötungsanstalt Hartheim war bekanntlich, arbeitsunfähige Häftlinge zu ermorden. Dabei schlägt die traditionelle Historiographie eine Brücke zwischen der „Aktion T4“, d. h. der NS-„Euthanasie“, und der „Aktion 14f13“, der Vernichtung von Häftlingen in den Gaskammern, wo einst Kranke und Invaliden umgebracht wurden. Würde diese Lektüre auf die Häftlinge aus Zipf zutreffen, die in Hartheim vergast wurden, so müsste man davon ausgehen, dass die Häftlinge vom Transport am 8. 11. 1943 ganz am Anfang der zweiten Phase der Aktion 14f13 umgebracht wurden. Anhand der polnischen Liste wissen wir jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Wären die Transporte nach Hartheim allein aufgrund der körperlichen Verfassung der Häftlinge erfolgt, so müssten die Opfer aus Zipf über den ganzen Zeitraum der Tötungsaktion verstreut sein – und zwar mit gewissen Schwerpunkten je nach dem Datum des jeweiligen Rücktransports. Anhand der polnischen Liste wissen wir, dass auch dies 1
Sinoir, Paul, Le matricule 28543 au camp de Mauthausen de 1943 à 1945. Survie de l’auteur Paul Sinoir. Ein Exemplar dieses Manuskripts befindet sich im Zeitgeschichte-Museum Ebensee (Signatur: DKZIII15)
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Dokument adressiert an den SS-Arzt des Hauptlagers, unterzeichnet von der SS, mit der Aufforderung, vier Deportierte zu isolieren
nicht der Fall ist. Die Opfer aus Zipf erscheinen darin gruppiert, d. h. sie wurden alle innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums (etwa Mitte bzw. Ende April 1944) ermordet. Nun ist es höchst unwahrscheinlich, dass Häftlinge aus dem Transport vom 8. 11. 43, die zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Monate im „Sanitätslager“ waren (und somit keinem der mörderischen Arbeitskommandos im Lager oder im Wiener Graben zugeteilt waren), plötzlich alle erkranken und sterben. Ebenso ist es unwahrscheinlich, dass Häftlinge aus dem Rücktransport vom 7. 2. 1944, die somit zwei Monate im „Sanitätslager“ verbracht haben, gerade zum gleichen Zeitpunkt erkranken und sterben. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass Zipfer Häftlinge aus dem Rücktransport vom 2. 4. 1944 ebenfalls zu demselben Zeitpunkt erkranken, wobei für letztere Häftlinge einzuräumen ist, dass sie wohl in sehr geschwächtem Zustand in Mauthausen angekommen waren und noch keine Zeit hatten, sich im „Sanitätslager“ zu erholen. Bislang wurde generell angenommen, die relativ hohe Zahl der Hartheim-Opfer aus Schlier wäre auf die extremen Arbeits- und Lebensbedingungen in jenem Lager zurückzuführen, welche in den Zeitzeugenberichten ja zur Genüge belegt sind. Ebenso sind Invalidentransporte aus Zipf nach Mauthausen belegt, wodurch der Bezug zur Tötungsanstalt Hartheim faktisch hergestellt werden kann. Dahingegen spricht die polnische Liste eine völlig andere Sprache. Im Namensblock mit dem Anfangsbuchstaben B folgen aufeinander: René Benoist (26204), Eduard (recte: Edouard) Babouin
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(26476), Ulian Baranik (27658), allesamt aus dem Rücktransport vom 8. 11. 1943. Darauf folgt Dante Belluci (42001) aus dem Rücktransport vom 2. 4. 1944 – wobei das reale Todesdatum eine gewisse Zeit nach dem 8. April liegen muss. Danach folgen aus dem Rücktransport vom 7. 2. 1944: Lucien Brunner (26203), Georges Bastet (26279), Pierre Bachelier (26874), Roland Bullet (27853), Arsène Bonnabé (27818), Marcel Bertard (27156), Leontij Bezrukawyj (37288), Emanuil Belibassakis (38232) und Aleksiej Butussow (39512). Darauf folgt Albert Briswalter (26390) aus dem Rücktransport vom 8. 11. 1943, und schließlich kommen aus dem Rücktransport vom 7. 2. 1944: Milivoje Bulovic (38414), Fedor Basko (36112) und Pawel Borsenko (36924). Damit befinden sich zwischen den Rangnummern 138 und 161 der polnischen Liste fast 20 Namen von Häftlingen aus Zipf. Zwischen Butussow und Briswalter findet man darin zudem Léon Bour (53646) und Lucien Bary (26419), die in Ebensee waren. Lucien Bary gehörte dem Rücktransport aus Zipf vom 8. 11. 1943 an und war am 6. 2. 1944 nach Ebensee überstellt worden, von wo aus er am 21. 2. 1944 ins Mauthausener „Sanitätslager“ rücküberstellt wurde. Léon Bour dagegen war nie in Zipf; mit dem Krankentransport aus Buchenwald vom 25. 2. 1944 kommend, war er am 9. 3. 1944 nach Ebensee überstellt worden, von wo aus er am 14. 4. 1944 ins Mauthausener „Sanitätslager“ rücküberstellt wurde. Damit entspricht die komplette Namensgruppe, die sich hier abzeichnet, jenen Häftlingen aus Wiener Neustadt, Zipf und Ebensee, die an den geheimen Rüstungsprojekten teilgenommen hatten. Die genauere Betrachtung des Namensblocks mit dem Anfangsbuchstaben F in der polnischen Liste bestätigt, dass eine Gruppe von Häftlingen aus Zipf zwischen der Rangnummer 588 und 596 aufgeführt wird. Vom Rücktransport aus Zipf vom 8. 11. 1943 findet man: Louis Faugeras (26211), Pierre Frilley (26672) und Fiodor Filipenko (29563). Darauf folgen aus dem Rücktransport vom 7. 2. 1944: Marcel Franck (26248), René Fischer (26663) und Lucien Farcy (28039). Und schließlich aus dem Rücktransport vom 2. 4. 1944: Igor Fisum (36953) und Nikolaos Finitsis (38254). Bei den Namen mit dem Anfangsbuchstaben F entspricht die Reihenfolge der Chronologie der drei Rücktransporte, mit jeweils drei bzw. zwei Namen für jeden Transport. Eine solche Aufstellung entspricht keiner natürlichen Todesursache, da die Opfer nicht chronologisch je nach Transport gestorben sein könnten. Dasselbe gilt für sämtliche Namensblöcke, die in der fragmentarischen polnischen Liste stehen. Die Tatsache, dass diese Namen von Häftlingen aus Redl-Zipf darin jeweils alle zusammen erscheinen, weist darauf hin, dass an einem gewissen Zeitpunkt (etwa Mitte bzw. Ende April 1944) Häftlinge aus Zipf im Mauthausener „Sanitätslager“ ausgesondert wurden, um in Hartheim ermordet zu werden; wobei jene Häftlinge aus verschiedenen Rücktransporten zwischen Oktober 1943 und April 1944 stammten. Aus der Lektüre der polnischen Liste ergibt sich hier der Eindruck einer gezielten Liquidierung von Häftlingen aus jenen Nebenlagern, die in direktem Kontakt mit den Rüstungsprojekten rund um den Kammler-
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Stab gewesen waren – und die somit auch zu Geheimnisträgern geworden waren. Damit wird die Sonderstellung gewisser Nebenlager im System um Mauthausen sichtbar. Es war bereits bekannt, dass die Häftlinge, die in Wiener Neustadt waren, später in Zipf und danach in Ebensee eingesetzt wurden. Dies mochte daraus entstehen, dass sie gewisse technische Fähigkeiten mitbrachten, die für die Rüstungsindustrie nützlich waren. Dies mag viel pragmatischer daran liegen, dass die SS versuchte, die Zahl der Geheimnisträger so gering wie möglich zu halten und somit für Ebensee die Häftlinge aus Zipf aussuchte. Dies mag auch erklären, warum jene Häftlinge monatelang im „Sanitätslager“ isoliert wurden, bis sie wieder arbeitsfähig waren – was nicht der eigentlichen Logik des Konzentrationslagers entspricht, wo der Häftling als „Stück“ beliebig austauschbar ist. Dies mag umgekehrt auch erklären, warum diejenigen unter den Häftlingen aus Zipf, die gegen April oder Mai 1944 nicht mehr in Ebensee eingesetzt werden konnten, nicht etwa in andere Arbeitskommandos oder in andere Nebenlager überstellt, sondern gezielt liquidiert wurden. Sonst hätte nämlich die Gefahr bestanden, die Existenz der Geheimprojekte bzw. der „Wunderwaffen“ könnte sich im Lager herumsprechen. Was nun den Stellenwert von Hartheim in der NSMaschinerie des Todes betrifft, so wird dadurch deutlich, dass die Tötungsanstalt zwar dazu eingesetzt werden konnte, um Invaliden bzw. arbeitsunfähige Häftlinge zu beseitigen, was eine Kontinuität zur „Aktion T4“ darstellen würde. Doch war die Tötungsanstalt auch ein existierendes Mittel, diejenigen unter den Häftlingen zu ermorden, die zu viel wussten bzw. die zu viel gesehen hatten, ohne dass diese Tötungsaktion im Lager sichtbar geworden wäre – wie etwa bei Exekutionen. Unter den etwa 400 französischen Opfern, deren 2005 in einem würdevollen Festakt in Hartheim gedacht wurde, befinden sich überraschend viele Häftlinge aus Zipf. Dies war bekannt, doch weiß man heute anhand der genauen Lektüre der polnischen Liste vielleicht auch warum. In Zipf waren nämlich viele Franzosen. Dabei hat die Logik der systematischen Vernichtung diejenige der NS-„Euthanasie“ ergänzt bzw. ersetzt. Damit ist Hartheim 1944 zum festen Bestandteil der Mauthausener Tötungsmaschinerie geworden, wo die Befehle und die Prioritäten von der Inspektion der Konzentrationslager gesetzt wurden, wenn nicht vom Lagerkommandanten und seinen Stabsoffizieren. Die Tatsache, dass Mauthausen durch mehrere Nebenlager mit dem Kammler-Stab zusammenarbeitete, hatte neue Verhältnisse geschaffen. Dies kam im Alltag der Sklavenarbeiter zum Ausdruck – und führte auch dazu, dass man diese „Stücke“ bei Bedarf einfach beseitigte, um das Geheimnis um die „Wunderwaffen“ bis zum vermeintlichen „Endsieg“ zu wahren. Mit der an sich bereits ethisch monströsen Logik der NS-Euthanasie hat dies nur wenig zu tun. Die aktuelle Erinnerungskultur rund um Mauthausen kreist hauptsächlich um das Zentrallager, dessen Gelände zur Pflichtdestination österreichischer Schulklassen und manchmal – ungewollt – zur touristischen Attraktion geworden ist. Wobei die Konservie-
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rung der Spuren und die öffentliche Zugänglichkeit zuweilen unvereinbar sind. So wurde neulich neben der historischen Treppe im Garagenhof ein moderner Fahrstuhl hinzugebaut, um den Besuchern mit Gehbehinderung den Zugang zum Eingangstor zu erleichtern. Und die „Todesstiege“ wurde aus Sicherheitsgründen gesperrt, was den heutigen Besuchern den eigenartigen Anblick eines historischen Todesortes aus der NS-Zeit gewährt, den man nur hinter Stahlbarrieren sehen und den man persönlich nicht mehr betreten kann bzw. darf. Bei den zahlreichen Nebenlagern ist die Situation noch komplexer. Etwa sind zahlreiche Orte der ehemaligen Nebenlager nicht öffentlich zugänglich, so die Stollen in Gusen und Zipf, offiziell aus Sicherheitsgründen. Das Nebenlager Gusen, das nur sechs Kilometer vom Stammlager entfernt liegt, veranschaulicht seinerseits eine selektive Erinnerungs- und Gedenkkultur in Österreich, von der Nachkriegszeit bis heute. Das Lager selbst wurde von den Amerikanern zur Vorbeugung von Seuchen zerstört. Von den Granitsteinwerken zeugen heute moderne Häuser, die dort gebaut wurden und die hie und da schwere Steinblöcke oder mächtige Stahlpfosten aufweisen, deren Provenienz beim heutigen Besucher gewisse Gedankenassoziationen erwecken könnte. Das ehemalige Jourhaus, d. h. das Eingangstor des Lagers, wurde zu einer luxuriösen Privatvilla, die hinter hohen Hecken von der Straße her kaum sichtbar ist. Der Steinbrecher ist noch erhalten, doch ist er nicht zugänglich, da er auf Privatgrund steht. Einzig das Krematorium wurde erhalten, weil die internationalen Häftlingsverbände das Grundstück erworben hatten, um das historische Krematorium vor der Zerstörung zu retten. Bei den meisten anderen Nebenlagern ist fast jede Spur verschwunden, an den historischen Orten sowie in der allgemeinen Erinnerungskultur. So etwa das Nebenlager Redl-Zipf (Codename: Schlier) unweit von Vöcklabruck, wo ab Oktober 1943 in den Kellergalerien der Brauerei die Triebwerke der V2-Raketen getestet wurden. Beim Wort „Zipf“ wird man dabei eher an „ein Glas heller Freude“ Zipfer-Bier denken, als an die NS-Vergeltungswaffen und an die Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge. Und dennoch …
Quellen (BMI)
Veränderungsmeldung für den 19. Oktober 1943 (Seite 4–7 Namen) Veränderungsmeldung für den 8. November 1943 (152 Namen) Veränderungsmeldung für den 7. Februar 1944 (400 Namen) Veränderungsmeldung für den 2. April 1944 (249 Namen) Veränderungsmeldung für den 26. April 1944 (35 Namen) Veränderungsmeldung für den 4. Juni 1944 (499 Namen)
Das Nebenlager Redl-Zipf und die zweite Phase der „Aktion 14f13“ in der Tötungsanstalt Hartheim (1943–1944) 671
Bibliographie Bessone Claude & Winkler Jean-Marie, 2005, L’Euthanasie nationale-socialiste Hartheim Mauthausen 1940–1944, Editions Tiresias, Paris. Le Caër Paul, 2008, Mauthausen crimes impunis, Editions OREP, Nonant. Le Caër Paul et Etienne, 1996, KL Mauthausen Les cicatrices de la mémoire, Editions Heimdal, Bayeux. Le Caër Paul, 1984, KL Mauthausen „Schlier“ Redl-Zipf 1943–1945. Ledroit Henri, 2014, La graisse mais pas les os, Edition de l’écluse, Châtillon-Coligny. Mallet Cyril, „Le difficile exercice mémoriel en Autriche après 1945. Les exemples de Zipf et Hartheim“, in: Renaud BOUCHET, Hélène LECOSSOIS, Delphine LETORT et Stéphane TISON (dir.), Résurgences mémorielles. Le travail de la mémoire entre arts et histoire, Presses Universitaires de Rennes, Rennes. Das Buch wird 2020 erscheinen. Mallet Cyril, 2018, V2-Raketen im Brauereikeller. Das Konzentrationslager Redl-Zipf. 1943–1945, Edition Mauthausen, Wien. Mallet Cyril, 2017, Le camp de concentration de Redl-Zipf 1943–1945, Editions Codex, Bruz. Maršálek Hans, 2006, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, Edition Mauthausen, Wien. Winkler Jean-Marie, 2019, Mémoires de l’absence. Hartheim Haute-Autriche Lieu d’assassinat, Editions Codex, Bruz. Winkler Jean-Marie, 2010, Gazage de concentrationnaires au château de Hartheim. L’„action 14f13“ 1941–1945 en Autriche annexée. Nouvelles recherches sur la comptabilité de la mort, Editions Tiresias-Michel Reynaud, Paris. Dokumente Bulletin de l’Amicale de Mauthausen n°218, Juni 1984 (Paris) Mangin René, Mauthausen. Le triangle rouge (unveröffentlicht) Sinoir Paul, Le matricule 28 543 au camp de Mauthausen 1943–1945 (unveröffentlicht)
Mauthausen und darüber hinaus Auseinandersetzung des Bundesdenkmalamtes mit Gedenkstätten und Erinnerungsmalen in jüngster Vergangenheit Paul Mahringer
Wolfgang J. Bandion hat in dem bereits 1998 von der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen herausgegebenen Buch „Erinnern“ die gesamte, damals mögliche Bandbreite des Gedenkens an und in Mauthausen aufgezeigt: von den Denkmälern auf dem Gelände in Mauthausen über die baulichen Überreste des Lagers selbst bis hin zu den Nebenlagern, den künstlerischen Auseinandersetzungen mit Mauthausen und den Gesprächen mit den Überlebenden.1 Was Bandion vor über 20 Jahren skizzierte, ist – denkt man an die Außenlager von Mauthausen – bis heute noch nicht zur Gänze in das kollektive Gedächtnis der Österreicherinnen und Österreicher eingegangen. So konnte es auch sein, dass die Unterschutzstellung des Außenlagers Gunskirchen in der ZIB 2 unter dem Titel „Denkmal für vergessene Opfer. Warum das ehemalige Konzentrationslager Gunskirchen einer der vergessenen Orte des Holocaust ist und wie sich das jetzt ändern soll“ Ende Februar 2020 in dieser Form angekündigt wurde.2 Bereits in Bandions Buch ist Gunskirchen eine Doppelseite gewidmet.3 Im Folgenden soll der mühsame Weg des Erinnerns und die frühe und späte Denkmalwerdung einiger Relikte und Mahnmale skizziert werden.
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Wolfgang J. Bandion/Stephan Hilge/Cathrine Stukhard, Erinnern. Remembering. Souvenir Ricordare. помнить, Wien 1998 https://tv.orf.at/program/orf2/20200228/907607601/story, 2.3.2020 Bandion (zit. Anm. 1), S. 110–111
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1. Denkmalschutz und Gedenken unmittelbar nach 19454
Erstaunlich früh, nämlich bereits ein Jahr nach Kriegsende, gab es erste Bestrebungen von ehemaligen Lagerhäftlingen, das ehemalige Lager Mauthausen als Stätte ihres Martyriums zu erhalten. So schlug der Landeskonservator von Oberösterreich, Franz von Juraschek, am 11. Juli 1946 aufgrund eines Antrages des oberösterreichischen Landesverbandes ehemals politisch Verfolgter auf die Unterschutzstellung der „Todesstiege“ im Wienergraben folgende Beantwortung vor: „Die Todesstiege im Steinbruch des Wienergrabens bei Mauthausen steht wie der gesamte Steinbruch im Besitze der Gemeinde der Stadt Wien. Auf Grund des § 2 des Bundesgesetzes vom 25. Sep. 1923 GBL. Nr. 533 (Denkmalschutzgesetz) steht dieses Denkmal auf Grund seiner geschichtlichen und kulturellen Bedeutung ohne eigene Erklärung von vorneherein unter Denkmalschutz.“5 Es war übrigens derselbe Landeskonservator, der 1939 Empfehlungen zur Umgestaltung des „Führer-Geburtshauses“ in Braunau abgab.6 Am 18. Juli 1946 erfolgte schließlich eine diesbezügliche Feststellung, die sich allerdings laut Aktenvermerk des Bundesdenkmalamtes als „verfrüht“ herausstellte, da die Stadt Wien dem Bundesdenkmalamt in einem Schreiben vom 2. Dezember 1946 mitteilte, dass die Besitzverhältnisse „noch immer ungeklärt sind“.7 In einem weiteren Schreiben der Stadt Wien vom 26. März 1947 heißt es erklärend: „[…] da sie seitens der Besatzungsmacht als deutsches Eigentum betrachtet werden und eine Klärung dieses Begriffes erst durch den Staatsvertrag erfolgen dürfte.“8 Das ehemalige Lager Mauthausen wurde am 20. Juni 1947 von der Sowjetunion an die Republik Österreich übergeben, womit der Grundstein für die Errichtung einer Gedenkstätte gelegt war.9 1948 waren schließlich Vertreter des Bundesdenkmalamtes bei Lokalaugenscheinen anwesend, als es um die „Ausgestaltung des Lagers Mauthausen zu einem Mahnmal“ ging.10 Dies führte schließlich zur Feststellung durch den Präsidenten des Bun4
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Die Passage entspricht dem Beitrag: Paul Mahringer, Denkmalschutz im Bereich der Gedenklandschaft Mauthausen/Gusen/St. Georgen, in: Fundberichte aus Österreich, 51/2012, S. 127–129. Siehe auch: Paul Mahringer, Der Alterswert als Narrativ für traumatische Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Denkmalkultus, lebendige Geisteswissenschaft, Postmoderne und neue Zugänge in Theorie und Praxis der Denkmalpflege, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 2013, S. 4–27 BDA GZ 2478/46 BDA GZ 459/39 BDA GZ 4924/46 BDA GZ 1646/47 Bertrand Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart. Innsbruck 2006, S. 61–75 Siehe Aktenvermerk von Erwin Hainisch vom 23. Oktober 1948, BDA GZ. 8818/48.
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desdenkmalamtes, Otto Demus, dass Teile des ehemaligen Lagers Mauthausen als „unter dem öffentlichen Denkmalschutz stehend betrachtet werden“11, wobei auch auf den Denkmalschutz der im Besitz der Stadt Wien befindlichen „Todesstiege“ gemäß § 2 Denkmalschutzgesetz (damals „automatischer“ Denkmalschutz für Gebäude im öffentlichen Eigentum) hingewiesen wurde.12 In diesem Schreiben wurden auch Empfehlungen zum Erhalt und zur Restaurierung der Anlage abgegeben.13 Damit begann sehr früh eine regelmäßige Betreuung der Gedenkstätte durch das Bundesdenkmalamt. Diese Praxis brachte wohl auch den damaligen Landeskonservator Wibiral in den 1970er Jahren dazu – in einer Zeit, in der über die Ausweitung des Denkmalbegriffs viel diskutiert wurde – darauf hinzuweisen, „daß der Denkmalbegriff seinem sachlichen Umfang nach auch die negative Auslese einer verbrecherischen ,Un-Kultur‘ wie etwa die nationalsozialistischen Vernichtungslager zumindest prinzipiell beinhalten müßte“.14 Zwar konzentrierte man sich bis in die 1990er Jahre vor allem auf das Gelände des ehemaligen Lagers Mauthausen und damit im Wesentlichen auf die Gedenkstätte, was vor allem in der Nachkriegszeit zur Verdrängung der ehemaligen Außenlager inklusive des großen Lagerareals „Gusen“ führte, der Denkmalschutz für die Gedenkstätte bedeutete jedoch keinesfalls eine Garantie auf die unveränderte Erhaltung des „Urzustandes“. Perz etwa schildert – trotz aller Authentizität, die die Besucher und Besucherinnen beim Betreten der Gedenkstätte zu verspüren meinen –, wie stark der Lagerbereich seit 1945 Änderungen unterworfen und wie sehr die Gedenkkultur durch Weglassung beziehungsweise Betonung gewisser Bereiche in eine bestimmte Richtung gelenkt worden sei.15 So fanden nicht nur Veränderungen auf dem Gelände der Gedenkstätte selbst statt, wie etwa die Schaffung eines Weiheraums und einer Kapelle in der ehemaligen Wäschereibaracke,16 die nun selbst wieder Teil des gewachsenen Denkmals sind, sondern es verschwanden auch Relikte. 11 12
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BDA GZ. 9789/48. Zur Unterschutzstellung der „Todesstiege“ siehe auch: Perz (zit. Anm. 9), S. 50. Laut Perz konnten die Besitzverhältnisse tatsächlich erst nach dem Staatsvertrag geklärt werden. Schließlich wurde der Steinbruch mit der „Todesstiege“ 1957 in die Gedenkstätte eingegliedert. Vgl. ebd., S. 167–168 In einem weiteren Schreiben vom 22. Dezember 1948 werden die denkmalwürdigen Objekte etwa um den Bereich des ehemaligen Russenlagers ergänzt. Siehe BDA GZ. 10054/48 Siehe dazu: Theodor Brückler, Die Wohnbauten der Nationalsozialistischen Zeit in Linz, in: Österreichische Kunsttopographie, Die profanen Bau- und Kunstdenkmaler der Stadt Linz. 3. Außenbereiche, Urfahr, Ebelsberg, Band LV. Wien, Horn 1999, E135. – Norbert Wibiral, Was ist Denkmal?, in: Denkmalpflege in Österreich 1945–1970. Wien 1970, S. 37, nennt in einem Beitrag über die Frage „Was ist ein Denkmal?“ übrigens das Konzentrationslager auch explizit als Beispiel für eine Denkmaleinheit. Perz (zit. Anm. 9) Ebenda: S. 13, 77, 97–99
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So wurden etwa zwei Türme mit einer Mauer, die südöstlich an die Gedenkstätte anschlossen und sich in Privateigentum befanden, 1970 aufgrund von Einsturzgefahr abgerissen.17 Interessanterweise waren diese auf Antrag des Bundesministeriums für Inneres tatsächlich am 9. Jänner 1963 bescheidmäßig unter Denkmalschutz gestellt worden.18 Die ständige Betreuung der Gedenkstätte selbst führte schließlich sowohl zur Beschreibung in den Inventarwerken des Bundesdenkmalamtes, wie etwa dem „Dehio Mühlviertel 2003“, als auch zur Bestätigung des Denkmalschutzes über das Jahr 2009 hinaus per Verordnung im Jahr 2005.19
2. Gedenkpolitik der Nachkriegszeit
Der Erinnerungsdiskurs der Österreicherinnen und Österreicher nach 1945 war nicht zuletzt aufgrund der Widersprüchlichkeit zwischen der sogenannten „Opfertheorie“ und dem „Heldengedenken“ an die gefallenen Soldaten geprägt.20 Die „Opfertheorie“ war dabei bis in die 1980er Jahre die gängige, offizielle Auffassung der Republik Österreich, wonach die NS-Zeit als Fremdherrschaft empfunden wurde und daher auch jegliche Mitschuld an den Verbrechen der NS-Herrschaft abgestritten werden konnte. Sie hielt sich dabei wörtlich an die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943, wonach Österreich das erste freie Land sei, das Hitler zum Opfer gefallen war. Nach einem anfänglichen Boom an Opfer- und Widerstandsdenkmälern waren diese außerhalb Wiens kaum mehr umsetzbar. Stattdessen setzte vor allem in den 1950er Jahren in den Bundesländern ein Boom zur Errichtung von Kriegerdenkmälern ein. Diese sind nicht nur als Gedenken an die Gefallenen zu betrachten, sondern stellen auch ein öffentliches Bekenntnis zu den damaligen, noch überlebenden Kriegsteilnehmern dar, was einer Rehabilitierung gleichkam. Dies änderte sich erst langsam mit dem Wechsel der Generationen in den 1960er Jahren. Das offizielle Narrativ der „Opferthese“ wurde allerdings erst durch die Waldheim-Debatte 1986 und das Gedenkjahr 1988 aufgebrochen. Ein öffentliches Mahnmal an zentraler Stelle war erst mit der Errichtung des von Alfred Hrdlicka geschaffenen Mahnmals gegen Krieg und Fa17 18
Ebenda: S. 229 Antrag BMI in BDA GZ. 5982/62, Bescheid in BDA GZ. 54/63. Aus dem Aktenlauf des BDA geht nicht hervor, ob das BDA in die Entscheidung des Abbruchs aufgrund von Gefahr in Verzug eingebunden war. 19 Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs. Oberösterreich, Mühlviertel. Horn-Wien 2003, S. 446–450.– Zur Verordnung siehe: https://bda.gv.at/denkmalverzeichnis/ 2.3.2020 20 Heidemarie Uhl, Das „Erste Opfer“ und seine Transformation in der Zweiten Republik, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft OZP 2001/1, S. 19–34 Online abrufbar unter: https://webapp.uibk.ac.at/ojs/index.php/OEZP/article/view/1054/749, 4. 3. 2020
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schismus möglich. Mit der Einbeziehung der Moskauer Deklaration, welche in einen Stein des Denkmals eingemeißelt ist, der Gleichschaltung des Leids aller und der umstrittenen Darstellung des straßenwaschenden Juden handelt es sich dabei neben dem künstlerischen Wert allerdings heute ebenso schon wieder um ein uns entrücktes geschichtliches Dokument seiner Zeit. Wie Bertram Perz darlegte, fokussierte sich das Gedenken der Nachkriegszeit ganz auf Mauthausen. Die frühe Entscheidung, das ehemalige Konzentrationslager zur staatlichen Gedenkstätte zur Erinnerung an den den NS-Terror zu machen, hatte dadurch gravierende negative Folgen für das Gedenken an die über 40 ehemaligen Außenlager, die aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurden. Denn nach dem österreichischen Zeithistoriker Bertram Perz hatte sich alles Gedenken in Österreich in der Nachkriegszeit auf Mauthausen verlegt.21 So wurden die in den über 40 Außenlagern befindlichen Opferfriedhöfe sukzessive aufgelöst und zentralisiert. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der ehemalige KZ-Friedhof in Ebensee/Oberösterreich. Das dort befindliche Mahnmal enthielt die Inschrift „Zur ewigen Schmach des Deutschen Volkes“. Sie erregte des Öfteren Aufsehen, vor allem bei deutschen „Sommerfrischlern“, die sich heftigst über die Inschrift beschwerten. Der Friedhof wurde 1952 aufgelassen und das Monument in Folge gesprengt.22 Andere, wie das 1948 enthüllte offizielle Mahnmal der Stadt Wien auf dem Wiener Zentralfriedhof von Fritz Cremer sowie Wilhelm und Margarete Schütte-Lihotzky, blieben alleine schon aufgrund ihrer abgeschiedenen Lage marginalisiert. Aber auch diese blieben nicht von Kritik verschont. So schlug Kardinal Theodor Innitzer vor, die nackte männliche Hauptfigur des Denkmals („Befreiter Mensch“) mit einem Feigenblatt oder einer Schleife zu versehen. Das SED-Mitglied Cremer meinte dazu: „Ich habe für die Grausamkeit der Tyrannei kein Feigenblatt.“23
3. Der Umgang mit dem baulichen Erbe der NS-Zeit bis in die 2000er Jahre
Aufgrund der Tatsache, dass alle Gebäude im Eigentum öffentlich-rechtlicher Körperschaften (also der Gemeinden, des Bundes, aber auch aller anerkannter Religionsgemein21 22 23
Perz (zit. Anm. 9) Für entsprechende Hinweise danke ich Dr. Wolfgang Quatember vom Zeitgeschichte Museum & KZ- Gedenkstätte Ebensee. Zu den Angaben zum Mahnmal der Stadt Wien und der Anekdote über Innitzer siehe: Gedenken und Mahnen in Wien 1934–1945. Gedenkstätten zu Widerstand und Verfolgung, Exil, Befreiung. Eine Dokumentation, hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1998, S. 265–267
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schaften) bis 2009 ex lege, also automatisch per gesetzlicher Vermutung unter Denkmalschutz standen, kam es neben Mauthausen auch immer wieder zu Befassungen mit anderen Bauwerken aus der NS-Zeit. So gab es beispielsweise bereits 1948 eine erste Befassung mit den Brückenkopfgebäuden in Linz, den einzig realisierten „Monumentalbauten“ der „Führerhauptstadt“.24 Die Betreuung von im öffentlichen Eigentum befindlichen NS-Bauten durch das Bundesdenkmalamt war allerdings höchst unterschiedlich. Darunter zählten neben Mauthausen und den Brückenkopfgebäuden, die wohl vor allem als städtebaulich wirksam und daher „bedeutsam“ eingestuft wurden, die zahlreichen, im Eigentum des Bundesheeres befindlichen Kasernenbauten der NS-Zeit. Ein Aufsatz des damaligen Kärntner Landeskonservators, den er gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Geraldine Klever verfasst hat und der 2004 erschien, vermittelt die seinerzeitigen Probleme bei der Auseinandersetzung mit dem schwierigen baulichen Erbe der NS-Zeit.25 Aufgrund der Novellierung des Denkmalschutzgesetzes 1999 war die Auseinandersetzung mit diesem baulichen Erbe allerdings notwendig geworden.26 Mit der Gesetzesnovelle wurde das Bundesdenkmalamt bis 2009, also für einen Zeitraum von zehn Jahren, dazu ermächtigt, per Verordnung den Schutz der unbeweglichen Objekte im Eigentum öffentlich-rechtlicher Körperschaften zu definieren, die nach 2009 weiterhin unter Denkmalschutz verbleiben sollten. Alles, was aus der Masse dieser ehemaligen sogenannten §-2-Objekte nicht per Verordnung erfasst wurde, fiel somit 2010 aus dem automatischen Denkmalschutz und kann seither nur mehr per Bescheid unter Schutz gestellt werden. Bei der Frage, was denn weiterhin schützenswert sei, ging man innerhalb dieser zehn Jahre systematisch von Politischem Bezirk zu Politischem Bezirk vor. Dabei wurde ganz Österreich bereist. Die Objekte, welche als schutzwürdig eingestuft wurden, wurden in eine Datenbank eingegeben. Wenn der grundbücherliche Eigentümer ein öffentlich-rechtlicher war, wurden diese Objekte schließlich bezirksweise per Verordnung unter Denkmalschutz gestellt. Das österreichische Denkmalschutzgesetz kennt keine Altersgrenze von Denkmalen. Denkmal kann jeder vom Menschen geschaffene Gegenstand sein, dem geschichtliche, künstlerische oder kulturelle Bedeutung zukommt. Aufgrund der Problematik, wie denn mit dem schwierigen Erbe der NS-Zeit und der potenziellen „Denkmälermasse“, ein Be24
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Paul Mahringer, Der Umgang mit dem baulichen Erbe der NS-Zeit in Linz, Polyvalenz und Transformation unbequemer Denkmale, Dissertation, Wien 2013. Online siehe: http://othes.univie. ac.at/28640/, 4.3.2020 Ulrich Harb/Geraldine Klever, NS-Architektur und -Kunst als Probleme von Denkmalschutz und Denkmalpflege, in: Beachten und Bewahren: Caramellen zur Denkmalpflege, Kunst- und Kulturgeschichte Tirols. Festschrift zum 60. Geburtstag von Franz Caramelle. Innsbruck 2004, S. 109 ff. Paul Mahringer, Endlich Klarheit über Österreichs unbeweglichen Denkmalbestand, in: Bulletin Kunst & Recht, 2010, S. 59–60
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griff von Ernst Bacher,27 umzugehen sei, veranstaltete das Bundesdenkmalamt gemeinsam mit dem Architekturzentrum Wien 2006 unter dem provokanten Titel „Erbe verweigert“ das erste Symposium in Österreich, welches sich mit dem Umgang mit dem baulichen Erbe der NS-Zeit in Österreich auseinandersetzte.28 Während man vor allem in den 1980er Jahren noch die Frage gestellt hat, ob NS-Bauten überhaupt eine Denkmalbedeutung (etwa eine „künstlerische“) zukommen darf, geht die Bewertung seit den 2000er Jahren in eine ganz andere Richtung, wie im Folgenden anhand einiger ausgewählter Beispiele gezeigt werden soll.
4. Das ehemalige Konzentrationslager Gusen. Von der „Landschaft des Terrors“ zur „Bewusstseinsregion“29
Die wissenschaftliche Forschung hat erst in den letzten Jahrzehnten den Blick von den reinen Stätten der Opfer auf den Gesamtzusammenhang des „Systems Konzentrationslager“ geweitet, weshalb etwa auch die Ausbeutung der Häftlingsarbeit durch die Industrie und die Täterorte vermehrt betrachtet wurden. Erst in den 2000er Jahren gerieten so die Stätten der ehemaligen Außen- und Nebenlager immer mehr ins Blickfeld. Die Geschichte des Lagers Gusen ist eng verknüpft mit dem Lager Mauthausen. Schon wenige Tage nach dem „Anschluss“ wurde die Entscheidung getroffen, das Konzentrationslager Mauthausen in der Nähe von Linz zu errichten.30 Bereits im August 1938 trafen hier die ersten Häftlinge aus dem Konzentrationslager Dachau ein. Grund für die Ortswahl waren die Steinbrüche in und um Mauthausen, welche von der SS durch Häftlingsarbeit abgebaut werden sollten, um die megalomanen städtebaulichen Visionen des Nationalsozialismus für Linz und andere Städte zu verwirklichen. So erweiterte man das Lager bereits 1939 um den Bereich des Lagers Gusen I, um auch die dortigen Granitsteinbrüche abzubauen.31 Es handelt sich bei Gusen I/II um einen der größten Konzentrationslager27 28 29 30
31
Ernst Bacher, Denkmalbegriff, Denkmälermasse und Inventar, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 1980, S. 121 Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 2007 Siehe dazu ebenfalls: Mahringer (zit. Anm. 4) Zur Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen siehe etwa: Hans Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, Wien-Linz 1995. – Zur Schilderung des Lagersystems Mauthausen siehe z. B.: Bertrand Perz, Nationalsozialistische Konzentrationslager in Linz, in: Fritz Mayrhofer und Walter Schuster (Hg.), Nationalsozialismus in Linz 2, Linz 2001, 1041–1094 Zum Lager Gusen siehe u. a.: Hans Maršálek, Konzentrationslager Gusen. Ein Nebenlager des KZ Mauthausen, Wien 1987. – Stanisław Dobosiewicz, Vernichtungslager Gusen, Mauthausen-Stud. 5, Wien 2007. – Rudolf A. Haunschmied, Jahn-Ruth Mills und Siegi Witzany-Dura, St. Georgen,
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komplexe in Österreich. Die Lager Mauthausen/Gusen erhielten 1940 die „Lagerstufe III“ für „kaum noch erziehbare Schutzhäftlinge“, was einem Todesurteil gleichkam. Die Verfolgung und Vernichtung der Gegner des Nationalsozialismus war wichtiger als eine etwaige ökonomische Ausbeutung der Häftlinge. Schließlich war die Sterblichkeitsrate im Bereich Mauthausen/Gusen eine der höchsten innerhalb der Lager im „Dritten Reich“. Von den rund 200.000 Personen, die zwischen 1938 und 1945 nach Mauthausen, Gusen und die über 40 Nebenlager eingewiesen wurden, kamen ca. 100.000 Personen ums Leben.32 Im Dezember 1939 begann der Aufbau des Lagers Gusen auf dem Gemeindegebiet Langenstein. Anfangs mussten ca. 400 österreichische und deutsche KZ-Häftlinge täglich in der Früh einen 4,5 km langen Fußmarsch von Mauthausen nach Gusen zur Arbeit im Steinbruch Kastenhof und zum Bau des Lagers auf sich nehmen, bei dem viele starben. 1940 wurden ca. 8.800 Häftlinge nach Gusen überstellt. Die meisten davon waren Polen, die man im Zuge der „Polen-Aktion“, die sich gegen die führende Schicht des polnischen Volkes richtete, inhaftierte. Dieses Übergewicht an polnischen Häftlingen brachte dem KZ Gusen anfänglich auch den Namen „Polenlager“ ein. Später kamen große Transporte mit Spaniern und russischen Kriegsgefangenen hinzu. Polen und Sowjetbürger machten 1943 schließlich über 70 Prozent der Häftlinge aus. Die Zahl der jüdischen Häftlinge war bis zum Winter 1943/44 vergleichsweise gering. Ihre Überlebensdauer betrug nur wenige Wochen, manchmal auch nur Tage. Keiner der frühen Häftlinge überlebte. Die höchste Häftlingszahl war im Februar 1945 mit 26.311 Personen erreicht. Man geht insgesamt von einer Mindestzahl von 71.000 Häftlingen aus, von denen ca. die Hälfte ums Leben kam.33 Während nach Errichtung des Lagers seit 1941 zunächst nur ein Teil der Häftlinge für die SS-eigene Firma DEST (Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH) arbeitete, war 1942 bereits fast das ganze Lager für die DEST beschäftigt. So erfolgte die Umwandlung des sog. „Polenlagers“ in ein „industrielles Zentrum“, in dessen Mittelpunkt weiterhin die Vernichtung durch Arbeit stand. Die Firma DEST lieferte 1943 15.000 m3 Granit und beschäftigte über 2.800 Steinmetze. Neben Bausteinen, Granitblöcken, Treppenstufen und Fensterumrahmungen produzierte sie auch Kies und Kiessand für den Straßenbau sowie Straßenschotter. In Gusen befand sich auch einer der größten Steinbrecher Europas. Mangels Arbeitskräfte griff auch die Industrie im Verlauf des Kriegs zunehmend auf KZ-Häftlinge zurück. Seit dem Frühjahr 1942 hat man die nicht mehr benötigten Stein-
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Gusen. Mauthausen. Concentration Camp Mauthausen Reconsidered, St. Georgen an der Gusen 2007. – Rudolf A. Haunschmied, NS-Geschichte. Gedemütigt – geschunden – gemordet. Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, in: 400 Jahre Markt St. Georgen an der Gusen. Geschunden – geschafft – gestaltet, St. Georgen an der Gusen 2011, S. 99–144 Perz (zit. Anm. 9), S. 11–12 Zu diesen Zahlen siehe das Vorwort in: Dobosiewicz (zit. Anm. 30), S. 11
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metzhallen in Produktionshallen der Steyr-Daimler-Puch AG umgewandelt. Es wurden Gewehrläufe, Zubehör für Gewehre, Sturmfeuergewehre, Karabiner und Komponenten für den Flugzeugmaschinenmotor Daimler-Benz 605 hergestellt. Auch die Messerschmitt GmbH trat bezüglich Arbeitskräfte an die DEST heran. Ab Juni 1943 bis 1944 wurden in vier großen Produktionshallen in Gusen täglich ca. 25 Rümpfe und Flügel der Messerschmitt „Me109“ hergestellt. Aufgrund des Bombenkriegs sollte die Produktion schließlich unter Tage verlegt werden. Im Herbst 1943 wurde mit dem Bau der Stollenanlage „Kellerbau“ auf dem Gemeindegebiet von Langenstein begonnen. Die Errichtung der Tunnel war eine gefährliche Arbeit, bei der tausende Häftlinge starben. Der „Kellerbau“ bestand aus fünf Tunneln, die fünf Meter breit und 250 Meter lang waren. Der Bau wurde im Winter 1943/44 gestoppt, möglicherweise weil von einer Quelle Wasser eindrang. Bekannter ist die Stollenanlage „Bergkristall“, mit deren Errichtung Häftlinge des Lagers Gusen II am 2. Jänner 1944 begannen. Die Häftlinge waren zum Bau der Tunnelanlage bzw. zum Einsatz in der Rüstungsindustrie bestimmt. Aufgrund der strengsten Geheimhaltung des „Bergkristalls“ war man am Überleben der Häftlinge nicht interessiert. Die SS trieb die Häftlinge von Gusen II täglich mehrere Kilometer entlang der von einem Zaun flankierten Schleppbahnroute zum „Bergkristall“. Einige transportierte man auch mit offenen Waggons dorthin. Bei der höchst gefährlichen Arbeit kam es immer wieder zu Sandverstürzen. Dabei kamen neben Häftlingen auch Zivilarbeiter ums Leben. Aufgrund des großen Arbeitstempos kam es auch vor bzw. wurde es zugelassen, dass Häftlinge beim Auffüllvorgang des Betons „mit eingedämmt“ wurden. Die Häftlinge waren innerhalb weniger Wochen erschöpft. Die meisten überlebten nur vier Monate. Im Zeitraum von Juni bis Oktober 1944 starben im Schnitt vier Häftlinge täglich. Laut einem Bericht vom 2. Februar 1945 waren 165.000 von den geplanten 240.000 Kubikmeter ausgegraben, wobei die Tunnelanlage Ende März 1945 fertig sein sollte. Es handelte sich somit wohl um eines der größten und „modernsten“ unterirdischen Montagewerke für Flugzeugproduktion des „Dritten Reichs“ mit einer Zielproduktion von ca. 1250 Jagdflugzeugen vom Typ „Me 262“ im Monat. Bezugnehmend auf ein internes Papier der Messerschmitt AG Augsburg vom 26. Jänner 1945 war der „Bergkristall“ sogar die größte Produktionsstätte der Messerschmitt GmbH zu dieser Zeit.34 Mit dem Bereich Gusen kam das Bundesdenkmalamt erstmals 2000 in Kontakt, als die Marktgemeinde St. Georgen an der Gusen eine Gedenkstätte in der Stollenanlage „Bergkristall“ errichten und die Besitzverhältnisse geklärt haben wollte.35 Das Bundesdenkmalamt war damals der Meinung, dass zwar Denkmaleigenschaften vorliegen würden, eine 34 35
Haunschmied/Mills/Witzany-Dura (zit. Anm. 30), S. 169 BDA GZ. 2922/1/2001
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bescheidmäßige Unterschutzstellung jedoch „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ nicht erfolgen könnte.36 Schließlich übernahm die BIG die Stollenanlage, womit diese kurzfristig als im öffentlich-rechtlichen Eigentum befindlich unter die Bestimmungen des Denkmalschutzes gemäß § 2 fiel und so auch ein Veränderungsbescheid zum Umbau ausgestellt werden konnte.37 Die Beschäftigung mit dem Lagerbereich Gusen auf dem Gemeindegebiet Langenstein reicht in das Jahr 2003 zurück, als im Zuge der Errichtung des Besucherzentrums für das Memorial archäologische Untersuchungen durchgeführt wurden.38 2004 erregten geplante Bauvorhaben am angrenzenden Grundstück die Aufmerksamkeit des Bundesdenkmalamtes.39 2006 wurden schließlich Erhebungen zu einer möglichen Unterschutzstellung durchgeführt. Nicht zuletzt beschleunigte wohl eine baubehördliche Abbruchbewilligung für die ehemaligen SS-Baracken die Einleitung des Unterschutzstellungsverfahrens der baulichen Überreste im Bereich des ehemaligen Lagers Gusen im Gemeindegebiet Langenstein im Jahr 2007. Sowohl die Einleitung des Verfahrens als auch die Installation des sogenannten Audioweges Gusen40 im selben Jahr führten zu heftigen Reaktionen in der Bevölkerung, wie auch durch einen TV-Bericht deutlich wurde.41 Das Bundesdenkmalamt schaltete schließlich im Zuge des Verfahrens einen externen Gutachter, Universitätsprofessor Dr. Johannes Cramer von der Technischen Universität Berlin, ein.42 Dieser stellte in dem von ihm vorgelegten Gutachten fest, dass es sich bei dem Lagerkomplex Mauthausen/Gusen um ein einzigartiges Denkmal des nationalsozialistischen Terrorregimes handelt, sowohl in Bezug auf die territoriale Erstreckung als auch in Bezug auf die Vielfalt der vorzufindenden Relikte. Aufgrund der Komplexität schlug er die Erarbeitung eines Gesamtkonzeptes vor, wobei er von einer ganzen „Landschaft des Terrors“ sprach. Diese Ergebnisse stellten das Bundesdenkmalamt vor zwei Herausforderungen: einerseits die der Definition des wirklich Schützenswerten angesichts der Fülle von Hinterlassenschaften und andererseits die Frage, wie die Bevölkerung davon überzeugt werden könnte, das schwierige Erbe der NS-Zeit anzunehmen, um es auch dauerhaft für die Zukunft zu erhalten. 36 37 38
BDA GZ. 2992/4/2001 BDA GZ. 2992/5/2003 BDA GZ. 41344/1/2003 – Martin Krenn, KG Langenstein, Fundberichte Österreich 42, 2003, 44– 45 39 BDA GZ. 41344/1/2004 40 Siehe: http://audioweg.gusen.org/audioweg-gusen, 3.3.2020 41 ORF-Sendung Am Schauplatz, ausgestrahlt am 22. Oktober 2010 42 Johannes Cramer, Mauthausen – Gusen – St. Georgen. Fragmente einer Landschaft des Terrors in den Zeiten der NS-Gewaltherrschaft, Gutachten Berlin 2010
Stephan Hilge, Himbeerpflücker, Ätzung und Zuckertusche auf Kupfer – Siebdruck, 1998
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Am 11. November 2011 wurde daher von der damaligen Präsidentin des Bundesdenkmalamtes, Dr. Barbara Neubauer, ein „Runder Tisch“ ins Leben gerufen, bei dem möglichst alle Interessensgruppen vertreten sein sollten. So wurden neben den drei Bürgermeistern der betroffenen Gemeinden auch Fachleute und Wissenschaftler/innen, Vertreter/innen von Gedenkinitiativen und -foren sowie Vertreter/innen von Land und Bund eingeladen. Es sollten in einem ersten Schritt nicht die unterschiedlichen Meinungen gegeneinander ausgespielt, sondern erstmals gemeinsame Ziele formuliert werden. Aus diesem ersten „Runden Tisch“ gingen drei Arbeitsgruppen hervor, wobei die Gruppe A sich mit Fragen der Schutzwürdigkeit und die Gruppen B und C mit der Vermittlung und möglichen Umsetzungen von Maßnahmen in dieser Region beschäftigten. Denn der Denkmalschutz alleine kann – ohne entsprechenden Rückhalt und Verständnis in der Bevölkerung – kaum auf die Nutzung oder den adäquaten Umgang mit diesen Denkmalen Einfluss nehmen. In der Gruppe A wurde über die erhaltenen Relikte diskutiert und diese unterschiedlichen Kategorien zugeordnet. So finden sich neben den tatsächlichen Lagerbereichen und Gebäuden auch die Orte der Häftlingsarbeit wie Steinbrüche, aber auch unterirdische, von Häftlingen errichtete Tunnelanlagen für die zu Kriegszeiten dorthin verlagerte Rüstungsindustrie, in deren Betrieben die KZ-Häftlinge arbeiten mussten. Erhalten sind aber auch Infrastrukturgebäude wie etwa ein Trafogebäude und Reste einer Kläranlage. Und auch die Orte der Täter dürfen nicht vergessen werden, etwa Mannschaftsgebäude oder SS-Siedlungen, die wiederum, da sie von den Häftlingen errichtet wurden, auch Orte der Opfer sind. Die ebenfalls mit Häftlingsarbeit errichteten Wegeführungen und Bahntrassen schließlich verdeutlichen die Verbindung des Konzentrationslagersystems mit der Außenwelt beziehungsweise die Verflechtung mit der Industrie. Für die Auswahl der Objekte einer möglichen Unterschutzstellung sollten schließlich die Kriterien der vorhandenen und anschaulich wahrnehmbaren Substanz und der Vermittelbarkeit der Spuren im Vordergrund stehen. Mittlerweile stehen die wichtigsten erhaltenen Relikte des ehemaligen Lagers Gusen auf den Gemeindegebieten St. Georgen und Langenstein unter Denkmalschutz. Nach Abbauarbeiten auf dem Areal des ehemaligen Appellplatzes, von dem ursprünglich angenommen wurde, dass er kaum erhalten ist, wurde dieser schließlich freigelegt und in Folge ebenfalls unter Denkmalschutz gestellt.43 Aus den Ergebnissen der Gruppen B und C ergab sich schließlich ein vom Bundesdenkmalamt unabhängiges, eigenständiges Projekt, welches Zukunftsperspektiven für die Region unter Einbeziehung der Bevölkerung und unter Bedachtnahme auf das schwierige Erbe der Vergangenheit entwickeln wollte und das mittlerweile durch den Gemeindever43
https://bda.gv.at/aktuelles/artikel/2017/01/verschuettete-zeugnisse-des-ns-terrors/, 3.3.2020
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Paul Mahringer
band „Bewusstseinsregion“ (www.bewusstseinsregion.at) institutionalisiert ist und jährliche Menschenrechtssymposien abhält.
5. Das ehemalige Konzentrationslager Redl-Zipf – Relikte der Raketenproduktion als Mahnmal und Erinnerungsort an KZ-Häftlinge in Österreich44
Vor über 50 Jahren fand die erste Mondlandung statt. Bekanntermaßen waren führende deutsche Wissenschaftler des Dritten Reichs unmittelbar nach dessen Zusammenbruch in den Diensten der USA maßgeblich an der Entwicklung von Raketen beteiligt. Der wohl bekannteste Wissenschaftler unter ihnen ist Wernher von Braun, Mitglied der NSDAP und der SS.45 Aufgrund des zunehmenden Mangels an Arbeitskräften im Kriegsverlauf vermietete die SS vermehrt KZ-Häftlinge an Rüstungsbetriebe. Dies bedeutete keineswegs eine verbesserte Bedingung für die Häftlinge, war doch das Ziel die Vernichtung durch Arbeit. Ab 1943 waren so auch KZ-Häftlinge im Einsatz zur Erzeugung der Raketen. Neben dem vermehrten Einsatz von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen für die deutsche Industrie, kam es aufgrund der Bombenangriffe auf das Deutsche Reich zu einer sukzessiven Verlagerung der Industrie unter Tage (wie etwa auch in Gusen). So wurde auch Peenemünde 1943 angegriffen, ebenso wie die Raketenproduktionsstätte Friedrichshafen, die Rax-Werke in Wiener Neustadt und die damit in Zusammenhang stehende, aufgrund ihrer Geschichte ebenfalls denkmalwürdige Serbenhalle. Das Entwicklungswerk sollte daher von Peenemünde in die neu zu errichtenden Stollenanlagen in Ebensee (Deckname „Zement“) verlegt werden. Die im Eigentum öffentlich-rechtlicher Körperschaften stehenden Teile des ehemaligen Konzentrationslagers und der Stollenanlagen in Ebensee 44
45
Die Passage beruht auf: Paul Mahringer, 50 Jahre Mondlandung – Relikte der Raketenproduktion als Mahnmal und Erinnerungsort an KZ-Häftlinge in Österreich, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vergleichende Kunstforschung in Wien, 71. Jg., Oktober 2019, Nr. 3, S. 19–22 Zur A4- bzw. V2-Rakete und „Schlier“ siehe u. a.: Michael J. Neufeld, Die Rakete und das Reich. Wernher von Braun, Peenemünde und der Beginn des Raketenzeitalters, Berlin 1997. – Günther Engelbert Sturm, Geheimprojekt „Schlier“ 1943–45 (Konzentrationslager und Rüstungsbetrieb in Redl-Zipf, unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2002). Siehe etwas detaillierter auch: Adolf Grabner, Der Rüstungsbetrieb „Schlier“ in Zipf, Oberösterreich, und seine Zusammenhänge mit „V2“-Rakten und dem „Unternehmen Bernhard“ 1943–1945, Manuskript 2017. – Siehe aber auch: Gerhard Kriechbaum und Christian Limbeck-Lilienau, Redl-Zipf – „Schlier“, in: Christian Hawle, Gerhard Kriechbaum, Margret Lehner (Hg.), Täter und Opfer. Nationalsozialistische Gewalt und Widerstand im Bezirk Vöcklabruck 1938–1945. Eine Dokumentation, Wien-Linz-WeitraMünchen 1995, S. 58–94
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stehen per Verordnung unter Denkmalschutz, darunter der heutige Gedenkstollen oder das Lagertor. Die Montagewerke Friedrichshafen und die Rax-Werke sollten hingegen in ein zentrales unterirdisches Montagewerk, genannt „Mittelwerk“, bei Nordhausen in Thüringen zusammengefasst werden. Dabei griff man auf die KZ-Häftlinge von „Dora“ zurück. Daneben sollte es eine Reihe von sogenannten „Vorwerken“ für Triebwerkstests und zur Raketentreibstofferzeugung geben. Dabei fiel die Wahl auf die Anlage der Brauerei Zipf in Oberösterreich. Aufgrund ihrer Lage abseits der großen Industriezentren, jedoch in der Nähe zur Bahnlinie und der bereits für den Brauereibetrieb vorhandenen Kelleranlage, in hügeliger für die Luftaufklärung hinderlicher Lage wurde die 1858 gegründete Brauerei Zipf wohl als Ort zur Errichtung eines „Vorwerks“ für Triebwerkstests und zur Raketentreibstofferzeugung der A4-(Aggregat 4) bzw. auch „V2“-(Vergeltungswaffe)-Raketen ausgewählt. Am 28. September 1943 wurde Kurt Breuer um technischen Leiter des Werks „Schlier“ ernannt. Am 30. September besuchte Gauleiter August Eigruber die Brauereianlage und teilte die Beschlagnahmung für die Rüstung mit. Geplant wurde das Werk vom Baubüro Fiebinger unter der Bauleitung von SS-Untersturmführer Werner Eckermann unter Zuhilfenahme privater Firmen und von KZ-Häftlingen. Unter SS-Hauptsturmführer Georg Bachmayer kamen am 1. Oktober 1943 100 KZ-Häftlinge aus Mauthausen in Zipf an und errichteten ihr neues Lager, bestehend aus vier Baracken für je 500 Häftlinge, einer Lagerküche, einem Krankenrevier und zwei kleinen Verschlägen für Werkstätte und Magazine, umgeben von elektrisch geladenem Stacheldraht und vier Wachtürmen. Ebenso wurden Baracken für die aus 60–100 Mann bestehende SS-Wachtruppe errichtet. Auf dem Gelände der Familie Schausberger entstand ein mächtiger Betonbunker zur Behausung eines Transformators für den Starkstrom aus Timelkam. Innerhalb weniger Wochen stieg die Anzahl der Häftlinge auf 1900 an und Bachmayer zog weiter zur Errichtung der Anlage „Zement“ in Ebensee. Sein Nachfolger wurde SSObersturmführer Karl Schöpperle. Die Häftlinge arbeiteten rund um die Uhr in zwei Zwölf-Stunden-Schichten von 7.00–19.00 Uhr bzw. 19.00–7.00 Uhr. Errichtet wurde ein mächtiger Triebwerksprüfstand mit einem 40 m langen Aufzug von den darunter gelegenen Kellern der Brauerei. Auf dem Prüfstand sollten die mit der Eisenbahn gelieferten Triebwerke getestet werden. Der flüssige Sauerstoff wurde hingegen im Sauerstoffwerk in den bestehenden Kelleranlagen darunter produziert. Neben dem Prüfstand und dem Aufzugsschacht wurden auch die Verbindungsstollen und Lüftungsschächte von den Häftlingen errichtet. Während des Bestehens des Lagers wurden 266 Todesfälle verzeichnet. Angeblich wurde bei den Bauarbeiten ein Häftling, der sich nicht mehr retten konnte, in die Stollenanlage mit einbetoniert, ähnlich wie dies von Gusen bekannt ist.
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Am 28. Februar 1944 kam es zu einer Explosion in Schlier, wobei unklar ist, ob es sich um einen Sabotageakt handelte. Am 1. Mai 1944 fand jedenfalls der erste erfolgreiche Raketentest einer „V2“-Rakete in Zipf statt. Dabei entstand unter einem gewaltigen Lärm ein 30 Meter langer Feuerstrahl. Nach Inbetriebnahme wurden zahlreiche Häftlinge abtransportiert und anderen Rüstungsbetrieben – die meisten nach Ebensee – zugewiesen. Es verblieben nur 160 Häftlinge in Schlier. Am 3. Juni 1944 kam ein neuer Lagerkommandant, SS-Obersturmführer Alfons Benobele. Es kam allgemein zu einer gewissen Lockerung des grausamen Häftlingsalltags. Wegen der erwähnten Explosion im Februar 1944 wurde der Betriebsleiter Kurt Breuer seines Amtes enthoben und durch Ingenieur Erik Kiefer ersetzt. Als die Tests am 29. August wegen Überlastung für diesen Tag eingestellt werden sollten, testete Kiefer selbst weiter, und es kam zu einer folgenschweren Explosion mit 25 Toten, darunter auch Kiefer selbst. Der Prüfstand und Aufzugsschacht waren in Folge innen völlig zerstört. Grund dafür dürfte ein undichtes Ventil zwischen Aufzug und Prüfstand gewesen sein. Jedenfalls besuchte einige Tage später eine hochrangige Expertengruppe „Schlier“, darunter Georg Rickhey, der Generaldirektor der Mittelwerke, und Wernher von Braun selbst. Es wurde grobe Fahrlässigkeit und der Mangel an einfachsten Sicherheitsvorkehrungen attestiert. So verlief die Treibstoffleitung im selben Schacht wie der funkentreibende Liftmotor. Unter den Toten war auch Ilse Oberth, die Tochter von Hermann Oberth. Es fand ein Staatsbegräbnis unter Anwesenheit von Gauleiter Eigruber statt. Als neuer Betriebsleiter wurde Ing. Hermann Weidner bestellt, der eine Zweiteilung des Bobachtungsturms forderte. Aufgrund der Zerstörungen wurden im Dezember 1944 weitere Häftlinge angefordert, wobei es zu einem neuerlichen Höchststand von 1000 Häftlingen und damit wieder zu verschärften Haft- und furchtbaren Lebensbedingungen der Häftlinge kam. Aufgrund der Lieferschwierigkeiten gegen Ende des Kriegs wurde die Bautätigkeit eingestellt und die meisten Häftlinge nach Gusen, meist Gusen II, zur Messerschmidt-Produktion verbracht. Nach einem Bombenangriff auf Attnang-Puchheim am 21. April 1945 wurden Häftlinge zu einem Aufräumkommando geschickt. Am 18. April kamen 142 Häftlinge der berühmten Geldfälschertruppe unter dem Decknamen „Kommando Bernhard“ in das Lager nach Zipf. Am 3. Mai wurden alle Häftlinge nach Ebensee verbracht und am Weg von den Amerikanern befreit. Am 4. Mai wurde das Lager aufgelöst und in Brand gesteckt. Eine geplante Sprengung der Stollen fand nicht statt. Die „V2“-Rakete stellte sich aufgrund der vielen Pannen nicht als militärisch ernst zu nehmende Waffe dar. Dennoch starben 5000 Zivilisten durch deren Einsatz und ca. 20.000 Häftlinge starben im unfreiwilligen Einsatz für das NS-Raketenprogramm im Dritten Reich.
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Wernher von Braun und Walter Dornberger wurden ebenso wie der letzte Betriebsführer von „Schlier“, Hermann Weidner, in die USA verbracht, um am dortigen Raketenprogramm „Operation Paperclip“ weiterzuarbeiten. In den dreieinhalb Monaten des Betriebs von „Schlier“ wurden ca. 600 Triebwerke, das sind zehn Prozent aller V2-Triebwerke, in Zipf getestet. Im Vergleich zu Mittelbau, Peenemünde, Friedrichshafen und Lehesten spielte „Schlier“ zwar eine untergeordnete Rolle, dennoch stellt der nur durch die „Zipfer-Brauerei“ österreichweit bekannte Standort eine europa- wenn nicht sogar weltweit einzigartige Anlage dar. Bis heute haben sich der mächtige Transformatoren-Bunker sowie die zwei Prüfstände erhalten, ebenso wie die Wiese, auf der sich das Konzentrationslager befand und wo gegen Kriegsende die „Geldfälschertruppe“ (bekannt durch den Film „Die Fälscher“) mit der Dollar-Produktion beginnen sollte. Schlier ist nicht nur der einzige Standort eines Prüfstands auf heutigem österreichischen Staatsgebiet, sonders es ist auch der einzige so vollständig aus der Frühzeit der Flüssigraketenproduktion erhaltene Prüfstand in Europa. Als ähnliches erhaltenes Beispiel ist lediglich der Redstone-Teststand in Huntsville Alabama von 1950 bekannt (National Historic Landmark seit 1985), womit sich der Kreis mit den USA wieder schließt. Es handelt sich damit bei dem Raketenteststand in Zipf um ein weltweit bedeutsames historisches Dokument ersten Ranges. Der Zusammenhang mit der Zwangs- und Sklavenarbeit macht die seit 2018 denkmalgeschützte Anlage aber insbesondere auch zu einem Ort des Mahnens und Erinnerns. Die Geschichte von „Schlier“ lädt also dazu ein, durchaus auch einmal kritisch über die Mondlandung nachzudenken.
6. Das Waldlager und die Aura der Relikte
Das auf dem Gemeindegebiet Edt bei Lambach befindliche ehemalige Konzentrationslager Gunskirchen wurde erst recht spät, nämlich am 27. Dezember 1944 von rund 400 Häftlingen in einem unberührten Waldstück errichtet. Seine Funktion ist bis heute unklar: ob etwa in der Nähe des Lagers ursprünglich Produktionsstätten – als Zwangsarbeitsstätten für die Häftlinge – gedacht waren oder es von vorneherein als reines Auffanglager konzipiert war, als welches es dann auch genutzt wurde. Zwischen 7. und 25. April 1945 kamen zwischen 17.000 und 20.000 ungarische Juden vom Bau des sogenannten „Südostwalls“, darunter auch Frauen und Kinder, nach Mauthausen und wurden dort ohne Registrierung unter primitivsten Bedingungen im sogenannten Zeltlager untergebracht. Nach wenigen Tagen mussten sie auf Todesmärschen
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Paul Mahringer
nach Gunskirchen weitermarschieren. Dabei starben zahlreiche Häftlinge an Erschöpfung oder wurden, wenn sie marschunfähig waren, auf der Stelle erschossen. Es ist davon auszugehen, dass einige Transporte auch direkt vom „Südostwall“ nach Gunskirchen führten. Auf dem Lagerareal mit seinen provisorisch errichteten Baracken drängten sich tausende Häftlinge. Die Versorgung brach wenige Tage vor der Befreiung völlig zusammen. Täglich starben ca. 150 Menschen. Sie wurden entweder in einem Massengrab beerdigt oder blieben einfach liegen. Am 3. Mai verließen die Wachmannschaften das Lager und Mitarbeiter des Roten Kreuzes trafen mit Essenspaketen ein. Von den 17.000 bis 20.000 Häftlingen waren bei der Befreiung durch amerikanische Truppen am 5. Mai 1945 ca. 15.000 am Leben. Ca. 3.000 befanden sich nach damaligen Schätzungen in Massengräbern oder unbeerdigt auf dem Lagerareal. Nach der Befreiung starben noch weitere 1000 Häftlinge. Bis heute haben sich auf dem Areal des ehemaligen Lagers Betonfundamente der elf Baracken erhalten, ebenso wie betonierte kellerartige Gruben, bei denen es sich wohl um Fäkaliengruben gehandelt haben dürfte. Zudem sind Überreste organischer Materialien wie Schuhsohlen oder textile Stoffe mit Moos und dem Waldboden verwoben oder überdeckt. Gunskirchen ist auf österreichischem Boden das einzige Waldlager und das einzige Nebenlager von Mauthausen, welches nicht zu Arbeitszwecken errichtet bzw. als reines Auffanglager genutzt wurde. Die Besonderheit der mit der Erde verwobenen organischen Überreste ist auf keinem anderen ehemaligen Lagerareal anschaulich vorhanden bzw. bekannt. Neben der geschichtlichen Bedeutung kommt den Überresten als Mahnmal und besondere Stätte des Erinnerns und Gedenkens kulturelle Bedeutung zu. Im ehemaligen Lager Gunskirchen zeigt sich anschaulich und erschreckend, wie die Relikte – besonders die mit dem Boden verwobenen organischen Materialien – die Zeugnisfunktion der Überlebenden für künftige Generationen im Sinne einer Mahnfunktion übernehmen können.46
7. Der Kampf um die Mahnmale. Das zweigeteilte Partisanendenkmal47
Wolfgang Bandion hat sich nicht nur mit den Überresten des Lagers, sondern auch mit den nachträglich errichteten Mahnmalen beschäftigt. Eine besondere Gattung stellt dabei das Partisanendenkmal dar. Gerade politisch „polarisierende“ Mahnmale waren in der 46
47
Zur Frage der Aura siehe auch: Paul Mahringer, Überlegungen zu schwierigem materiellem Erbe als landschaftsprägendes Element der Kulturlandschaft am Beispiel der Relikte des Ersten Weltkriegs am Karnischen Kamm, in: ÖZKD LXXI, 2017, Heft 4, S. 454–457 Die Passage beruht auf: Paul Mahringer, denk.mal. Das zweigeteilte Denkmal, in: Die Brücke. Kärntens Kulturzeitschrift, Nr. 14, 2019, S. 11
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unmittelbaren Nachkriegszeit immer wieder Attacken ausgesetzt, so auch in sehr krasser Weise ein heute „zweigeteiltes“ Partisanendenkmal. Die zwei Teile dieses ursprünglich zusammengehörigen Denkmals haben sich am Friedhof St. Ruprecht in Völkermarkt und beim Peršmanhof in Eisenkappel-Vellach erhalten. Das Denkmal wurde am 26. Oktober 1947 als größtes Partisanendenkmal Kärntens am Friedhof St. Ruprecht enthüllt. Es bestand aus einer auf einem Sockel befindlichen Figurengruppe von Marjan Matijević (1907–1971), zwei Männern und einer Frau, die in Richtung Saualm stürmen. Die Frau und der Mann zu ihrer Linken trugen eine Maschinenpistole, der Mann rechts eine Axt. Seine rechte offene Hand fordert zum Mitgehen auf. In der Nacht vom 9. auf den 10. September 1953 kam es zu einem Sprengstoffanschlag. 1961 wurde auf den erhalten gebliebenen Sockel statt der Figurengruppe „entschärfend“ eine Schale aufgebracht. Die zersprengten Bronzeteile der Figurengruppe wurden hingegen gelagert, 1983 wieder zusammengeschweißt und am 14. August auf einem neuen Sockel auf dem Peršmanhof neuerlich enthüllt. Seit damals hält die ursprünglich zum Mitgehen auffordernde Figur eine Handgranate in ihrer Hand. Während das als Grab fungierende Denkmal am Friedhof in St. Ruprecht 2016 vor dem Sockel neu gestaltet wurde, erlangte die Skulpturengruppe durch die künstlerische Aktion von Nicole Six und Paul Petritsch 2015 besondere Aufmerksamkeit, als sie diese temporär entführten und zum ursprünglichen Aufstellungsort zurückbrachten. Beide, heute getrennten Teile zeugen „eindrucksvoll“ vom Umgang der jungen Republik mit ihrer Vergangenheit. Während die Schale das Denkmal in St. Ruprecht in den 1960er Jahren „entschärft“ hat, erinnern die Schweißspuren an der Rückseite der Figurengruppe am Peršmanhof bis heute an die an ihr verübte Gewalttat. Es handelt sich nicht nur um eine der wenigen monumentalen Figurengruppen der unmittelbaren Nachkriegszeit in Österreich, die sich gegen den Faschismus richten, sondern auch eine der wenigen, die im sogenannten Stil des sozialistischen Realismus auf österreichischem Boden errichtet wurden. Das seit 2019 denkmalgeschützte Partisanendenkmal steht stellvertretend für die Konflikte, die sich um Mahnmale und Denkmale gegen Faschismus ereignet haben. Man denke an die Sprengung des Mahnmals am KZ-Friedhof in Ebensee. Besonders waren aber auch die sogenannten Russendenkmale – wie das Heldendenkmal am Schwarzenbergplatz – immer wieder „Anschlägen“ oder Aktionen ausgesetzt.48 So wurde etwa das Russendenk48
Zum Heldendenkmal am Schwarzenbergplatz siehe: Matthias Marschik/Georg Spitaler (Hg.): Das Wiener Russendenkmal. Architektur, Geschichte, Konflikte, Wien 2005, bzw. Paul Mahringer, Relikte. Bewusst und unbewusst gesetzte Erinnerungsmale des Kommunismus und Kalten Kriegs in Österreich nach 1945 und deren Rezeption, in: Veröffentlichung des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege e. V., Bd. 28, 2019, S. 68–75
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mal in Bad Radkersburg, welches sich ursprünglich auf dem dortigen Hauptplatz befand, in die Peripherie verbannt, mit einem weniger monumentalen Sockel versehen und damit entschärft,49 genauso wie das Heldendenkmal am Schwarzenbergplatz durch die Entfernung des dort befindlichen SUP 100 Panzers „entschärft“ wurde.
8. Indexikalische Spuren der Vergangenheit
Neben diesen bewusst gesetzten Erinnerungsmalen, die mittlerweile auch als Kunstwerke oder zumindest Geschichtszeugnisse angesehen werden können, gibt es auch noch die kleinen, unscheinbaren Spuren – man denke etwa an Gunskirchen –, die aufgrund ihrer Indexikalität und der damit direkt verbundenen Präsenz des die Zeichen anbringenden Individuums von besonderer emotionaler Wirkung sind.50 Stellvertretend dafür sei die kyrillische Inschrift eines KZ-Häftlings in einem Luftschutzbunker erwähnt, die möglicherweise mit Jakow Koganow, Häftlingsnummer 63363, in Verbindung zu bringen ist, einem Bautechniker, der am 12. 4. 1944 in das „SS-Kriegsgefangenenlager Mauthausen-Gusen“ eingewiesen wurde.51 Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die zahllosen Inschriften von ausländischen Zwangsarbeitern in den Wiener FLAK-Türmen, die somit nicht nur Symbole des Bombenterrors an der Zivilbevölkerung, sondern auch Male der Erinnerung an die Allgegenwart der Zwangsarbeiter sind, die diese Türme errichtet haben.52 Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang aber auch die Spuren des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit. So findet sich in der in der NS-Zeit errichteten MartinekKaserne unter anderem bis heute eine nachkriegszeitliche kyrillische Inschrift aus der Zeit der Nachnutzung der Kaserne durch die Sowjets. Es handelt sich vermutlich um den 49
50
51 52
Das Russendenkmal von Bad Radkersburg, in: RA2, Online-Magazin der Gemeinden Bad Radkersburg & Radkersburg Umgebung, http://www.ra2.at/das-russendenkmal-von-bad-radkersburg/. 4.3.2020 Siehe auch: Paul Mahringer, Relikte. Bewusst und unbewusst gesetzte Erinnerungsmale des Kommunismus und Kalten Kriegs in Österreich nach 1945 und deren Rezeption, in: Stephanie Herold/ Anneli Randla/Ingrid Scheurmann (Hg.), Renationalisierung oder Sharing Heritage. Wo steht die Denkmalpflege im Europäischen Kulturerbejahr 2018?, Veröffentlichung des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege e. V., Bd. 28, 2019, S. 68–75 Der Gedenkstätte Mauthausen sei an dieser Stelle für die mögliche Identifizierung des Namens gedankt. Ute Bauer: Die Wiener Flaktürme im Spiegel österreichischer Erinnerungskultur, Wien 2003, Bauer, Ute: Erinnerungsort Flakturm: Der ehemalige Leitturm im Wiener Arenbergpark, Wien 2010
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Nachnamen Baschenow, möglicherweise dessen Garagenplatz.53 Bei der Restaurierung des Palais Pallavicini im Ersten Wiener Gemeindebezirk ist die kyrillische Aufschrift „Kvartal Proveren“ (Häuserblock geprüft) aufgetaucht und denkmalpflegerisch gesichert worden, ebenso wie die Beschießungsspuren am Wiener Semperdepot, beides Relikte der direkten Kriegshandlungen. Analog dazu hat sich in Salzburg die Regenbogen-Graffiti der 42. US-Infanterie-Division, bezeichnet „Rainbow-Division“, erhalten, wobei der Regenbogen angeblich für die unterschiedlichen US-Staaten steht, aus denen sich die Division zusammensetzte.
9. Conclusio
Die Bandbreite des Mahnens und Erinnerns ist, wie Wolfgang Bandion bereits 1998 aufgezeigt hat, groß.54 Bereits damals – und damit sehr früh – zeigte er auf, dass den Relikten der Lager große Bedeutung zukommt, ebenso wie den ehemaligen Außenlagern und den dort vorhandenen Überresten. Damit hat er visuell schon sehr früh die Außenlager wieder in das allgemeine Gedächtnis und das kollektive Erinnern zurückgeführt. Er hat aber auch mit der Präsentation des „Skulpturenparks“ in Mauthausen gezeigt, dass diese bewusst gesetzten Denkmäler oder Mahnmale auch ihre besondere Bedeutung haben und Teil der Erinnerungskultur sein müssen. Der von ihm gewählte zusätzliche Versuch, das Unvorstellbare durch Kunst und durch Zeitzeugengespräche zumindest ein wenig greifbar zu machen und in Erinnerung zu halten, wurde in diesem Beitrag ergänzt durch die Sicht der Denkmalpflege, vorhandene Spuren und Relikte sichtbar zu machen. Dazu braucht es aber immer die Erklärung und den richtigen Rahmen, denn Steine sprechen nicht von selbst, sondern, wie Alois Riegl, der Ahnherr der österreichischen Denkmalpflege gemeint hat: „Nicht den Werken selbst kraft ihrer ursprünglichen Bestimmung kommt Sinn und Bedeutung von Denkmalen zu, sondern wir moderne Subjekte sind es, die ihnen dieselben unterlegen.“55 Wie sich Bedeutungen verschieben und wandeln können, wie wichtig die Aspekte der geschichtlichen Bedeutung der Denkmale als dreidimensionale Geschichtsquellen und der kulturellen Bedeutung im Sinne eines Mahnens und Erinnerns sind, sollte dieser Beitrag zeigen.
53 54 55
Für die Deutung bzw. Übersetzung als Nachname danke ich Frau Dr. Ruth Pauli. Bandion (zit. Anm. 1) Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, zitiert nach Ernst Bacher, Kunstwerk oder Denkmal? Alois Riegls Schriften zur Denkmalpflege, Wien-Köln-Weimar 1995, S. 59
„... ich habe ihn ja nicht sehen müssen ...“ Die Mühlviertler Menschenjagd in Wartberg ob der Aist in der Wahrnehmung der Lokalbevölkerung1 Andreas Baumgartner-Danilović
1. Projektsetting
Publikationen zur Geschichte des KZ Mauthausen gibt es mittlerweile doch in recht großer Zahl, viele davon auch in vielen verschiedenen Sprachen der ehemaligen Häftlinge verfasst.2 Das Thema, zu dem es ausgesprochen wenig Literatur gibt, ist das KZ Mauthausen und die Wahrnehmung der Lokalbevölkerung. Das erste Werk zu diesem Themenkomplex (das sich aber „nur“ mit Mauthausen und Schloss Hartheim befasst) war die Studie von Gordon Horwitz „In the Shadow of Death“.3 Das zweite Forschungsprojekt zu diesem Thema behandelte die Wahrnehmung von Außenlagern des KZ Mauthausen, wurde aber nie publiziert.4 Gerade die – von den Nazis sogenannte – „Mühlviertler Hasenjagd“5 ist im lokalen Narrativ fest verankert, da hier die Lokalbevölkerung in ganz unterschiedlicher Art und Weise involviert war. Aus diesem Grund wurde 2017 dazu ein Forschungs- und Zeitzeug/ innenprojekt durchgeführt, dessen Ergebnisse hier nun vorgestellt werden.
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Dieser Text orientiert sich an einem 2017 von mir durchgeführten Forschungsprojekt im Auftrag der Marktgemeinde Wartberg ob der Aist (unterstützt vom Nationalfonds der Republik Österreich und dem Zukunftsfonds der Republik Österreich). – Diese Studie wurde bislang nicht in geschriebener Form publiziert. Es existiert als Nebenergebnis dieses Projekts aber ein 30-minütiger Film mit demselben Titel. Vgl. Baumgartner (2017): „... ich habe ihn ja nicht sehen müssen“, der in den Schulen in Wartberg eingesetzt wird. Wie die bereits 1998 erstellte Bibliographie zum KZ Mauthausen deutlich zeigt, sind seitdem noch sehr viel mehr Publikationen dazugekommen. Vgl. Freund/Perz/Stuhlpfarrer (1998) Horwitz (1990) Baumgartner & Kropf (2002) Ich verwende diesen Begriff nicht mehr, auch wenn er in der lokalen Erzähltradition immer noch verwendet wird; „Mühlviertler Menschenjagd“ erscheint mir sehr viel passender.
„... ich habe ihn ja nicht sehen müssen ...“
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1.1 Forschungsfragen
Folgende Forschungsfragen standen bei dem 2017 durchgeführten Zeitzeug/innenprojekt im Fokus: • Wie haben Sie den sogenannten Anschluss erlebt? • Wann und wo haben Sie die ersten KZ-Häftlinge gesehen? Was wussten Sie vom KZ Mauthausen? • Wie haben Sie den Massenausbruch aus dem Block 20 des KZ Mauthausen und die darauf folgende Menschenjagd erlebt? • Wie war das Kriegsende in Wartberg? • Hatten Sie Kontakt zu befreiten KZ-Häftlingen? Bei Zeitzeug/innenprojekten sind vielerlei Faktoren für das Gelingen des Projekts verantwortlich. In erster Linie muss man sich aber bei Interviewprojekten zur NS-Zeit darüber im Klaren sein, dass der Faktor „Zeit“ der wohl vordringlichste ist: Die Menschen, die uns heute noch aus eigenem Erleben zur NS-Zeit Auskunft geben können, waren damals alle Kinder oder höchstens junge Erwachsene. Das bedeutet, dass die meisten Entscheidungsträger oder Meinungsführer dieser Zeit schon längst nicht mehr für Interviews zur Verfügung stehen. Das damalige Alter der Interviewten ermöglicht jedoch auch Wahrnehmungen, die Erwachsene niemals hätten haben können – Kinder konnten sich auch in der NS-Zeit um ein Vielfaches freier bewegen als Erwachsene, vor allem am Land. Als wir vor rund 15 Jahren ein großes Interviewprojekt zur Wahrnehmung der Mauthausen-Außenlager in der Lokalbevölkerung durchgeführt haben, waren die Interviewpersonen am „ergiebigsten“, die damals Kinder waren. Oft gelangten diese im Spiel sehr nahe an die Außenlager von Mauthausen heran, wurden von den SS-Wachen auch eher geduldet und weniger oft verscheucht – sie bekamen also viel mehr mit als Erwachsene. Der Faktor Zeit bedeutet heute aber auch, dass v. a. die Durchführung der Interviews die oberste Priorität hat, Zeitzeug/innen in diesem Alter können schon sehr bald nicht mehr zur Verfügung stehen. Trotz aller zeitlichen Dringlichkeit dürfen die wissenschaftlichen Standards für solche Projekte nicht ganz außer Acht gelassen werden, vielmehr müssen diese eine permanent vorhandene Basis für jede Projektentscheidung sein.
1.2 Durchführung der Interviews
Nachdem bei solchen Themenstellungen wie der „Mühlviertler Menschenjagd“ ohnehin nicht sofort mit dem Kernthema begonnen werden kann und für das Verständnis bzw.
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die Einordnung des Gesagten auch der biographische Rahmen essenziell ist, wurden die Interviews als lebensgeschichtliche Interviews mit dem Fokus auf die NS-Zeit angelegt. Es spielten also Kindheit, Elternhaus, Wahrnehmung des sogenannten „Anschlusses“, Änderungen in der Dorfgemeinschaft durch den Nationalsozialismus ebenso eine Rolle wie auch das Kriegsende und die nachfolgende „Russenzeit“. Im Fokus der Interviews standen die Erinnerungen an den Massenausbruch der KZ-Häftlinge im Februar 1945 sowie die nachfolgende „Menschenjagd“. Die Interviews wurden in den jeweiligen Dialekten bzw. Mundarten der Zeitzeug/innen geführt – auch das ist ein wichtiger Faktor für die Erzählbereitschaft der Interviewten.
1.3 Transkription der Interviews
Die Interviews wurden themenzentriert transkribiert und bereits während der Transkription sprachlich soweit bearbeitet, dass diese auch als Lesetext verständlich bleiben. Themenzentrierte Transkription bedeutet, dass nur die Erzählungen und Textpassagen verschriftlicht wurden, die auch im weitesten Sinne mit der Themenstellung des Projekts zu tun hatten. Sprachliche Bearbeitung bedeutet, dass v. a. Aussagen im Dialekt sachte an die Hochsprache angenähert werden müssen, zumal es für Transkriptionen von Dialektausdrücken keine einheitlichen Transliterations- und Transkriptionsregeln gibt. Ziel des Projektes sollte ja auch sein, lesbare und verständliche Interviews zum Thema zu erarbeiten, und dieses Ziel lässt sich nur mit leichter sprachlicher Bearbeitung erreichen. Aus allen vorliegenden Texten wurde eine zusammenfassende Erzählung der Ereignisse erarbeitet, um hier einen chronologischen und übersichtlichen Abriss präsentieren zu können.
2. Historische Rahmenbedingungen
Das KZ Mauthausen wurde am 8. August 1938 in Betrieb genommen und entwickelte sich schnell zu einer riesigen Fabrik des Todes. Bis zur Befreiung am 5. Mai 1945 wurden mehr als 200.000 Menschen aus über 70 Nationen nach Mauthausen deportiert. Die meisten, weil sie Gegner der Nazis waren oder aus anderen Gründen von den Nazis verfolgt wurden. Rund die Hälfte der KZ-Häftlinge, also um die 100.000 Menschen, wird in Mauthausen oder in einem der zahlreichen Außenlager ermordet. Für eine bestimmte Gruppe von KZ-Häftlingen war der sichere Tod vorbestimmt.
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Es waren die sogenannten K-Häftlinge – sowjetische Kriegsgefangene –, die ausschließlich für ihre Ermordung nach Mauthausen deportiert wurden. Sie wurden im Block 20, einer vom restlichen Lager abgeschotteten Baracke, untergebracht. Diese Baracke war ungeheizt, und die Häftlinge bekamen auch so gut wie keine Lebensmittel oder sonstige Versorgung. Regelmäßig wurden diese Häftlinge gruppenweise zur Hinrichtungsstätte im Keller geführt und dort erschossen. Den sicheren Tod vor Augen wagten diese Menschen in ihrer Verzweiflung einen Massenausbruch aus dem streng bewachten KZ Mauthausen. In der Nacht zum 2. Februar 1945 griffen sie, mit Stöcken und anderen Gegenständen bewaffnet, die Wachtürme der SS an und setzten mit nassen Decken den mit Starkstrom geladenen Stacheldraht außer Betrieb. Mehr als 500 Menschen konnten so entkommen, viele blieben jedoch schon wenige Meter nach der Mauer – bereits in Freiheit – erschöpft liegen und wurden von der SS sofort ermordet. Viele geflohene Häftlinge schafften es jedoch, oft entlang der Eisenbahnstrecke, weiter zu fliehen. Die Lager-SS aus Mauthausen begann daraufhin mit einer der blutigsten Menschenjagden, die das Mühlviertel jemals gesehen hatte und bezeichnete diese Jagd zynisch als „Mühlviertler Hasenjagd“. Auch aus der lokalen Bevölkerung beteiligten sich einige Menschen an diesem Massaker, viele schauten weg, und nur wenige trauten sich zu helfen. Umso höher ist der Mut der Menschen einzuschätzen, die entflohene Häftlinge nicht der SS meldeten oder die Häftlinge, die sich zum Beispiel auf dem Heuboden ihres Bauernhofes versteckt hatten, nicht dem sicheren Tod auslieferten. Von den über 500 entflohenen KZ-Häftlingen überlebten elf Menschen.
3. Die „Mühlviertler Menschenjagd“ aus der Sicht der Zeitzeug/innen 3.1 Unsere Interviewpersonen
Unsere Geschichte beginnt 1920, als mit Aloisia W.6 die älteste unserer Zeitzeug/innen geboren wurde. Sie war 1938, mit dem Einmarsch der Nazis, als einzige unserer Gesprächspartner/innen schon eine junge Erwachsene. Der jüngste der Zeitzeug/innen ist Gottfried A., der 1938 gerade erst zwei Jahre alt war 6
Die Familiennamen der Interviewpartner/innen werden auf deren Wunsch hier abgekürzt; Namen von Nazi-Tätern aus Wartberg werden mit „XXX“ wiedergegeben.
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und an diese Zeit klarerweise wenig konkrete und eigene Erinnerung hat – von ihm werden dafür aus dem Jahr 1945 besonders traumatische Erlebnisse erzählt. Vier unserer Zeitzeug/innen (Aloisia W., Josef G., Franz K. und Josef P.) wuchsen im bäuerlichen Umfeld auf, d. h. für sie gehörte schwere Arbeit am eigenen Hof zum normalen Alltag; Gisela F. stammt aus einer Handwerkerfamilie und Gottfried A.s Vater war Eisenbahner. Keine der Familien war mit Wohlstand gesegnet, alle kannten Entbehrungen aus eigenem Erleben.
3.2 Politik im Elternhaus
Alle beschreiben ihre Eltern als Gegner der Nazis, in einigen Familien gab es sogar Verhaftungen oder Schikanen durch die Nazis. Lassen wir unsere Zeitzeug/innen zu Wort kommen: Aloisia W. beschreibt den Stellenwert der Politik in ihrem Elternhaus: „Danach ist es ein paar Jahre ganz gut gegangen und dann kam die Nazi-Zeit. Unsere Eltern waren Gegner der Nationalsozialisten, weil sie kein Vertrauen ihnen gegenüber gehabt haben, man hat nicht gewusst, wie das Ganze ausgeht. Mein Vater war politisch christlichsozial orientiert, war als Vorsitzender des Ortsschulrates tätig und auch ein Jäger.“
Franz K., ebenfalls aus einer Bauernfamilie, ist sich sehr sicher: „Ja, das habe ich als Schulbub schon mitbekommen, meine Eltern waren Gegner von den Nazis. Aber man hat ja keinem Nachbarn mehr trauen können, da war man sehr vorsichtig, was man geredet hat. Da sind auch nie Freunde vom Vater vorbeigekommen und haben mit ihm politisiert, da wurde nie über Politik geredet.
Auf die Frage, warum seine Eltern Nazigegner waren, beschreibt er auch das große Misstrauen, das im ganzen Ort Einzug gehalten hatte: „Weil sie es gesehen haben, wie man bedroht und unter Druck gesetzt wurde, da war man kein freier Bauer mehr. Wenn sie dich erwischt hätten, dass du eine Sau schwarz abgestochen hättest, wärst du im KZ gelandet. Wir haben dann ja auch die Ausländer (Zwangsarbeiter/innen, Anm.) am Hof gehabt zum Arbeiten, die hätten zwar nichts verraten, aber untereinander hätten sie schon gesprochen, da waren wir uns einfach nicht mehr sicher.“
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Gisela F. erzählt eine dramatische Episode, die ihren Vater fast das Leben gekostet hätte: „Mein Vater war immer ein Gegner der Nazis. Er war sehr gescheit, ein geschickter Handwerker und ein ,Sturschädl‘, hätte bei der VOEST (=,Reichswerke Hermann Göring‘) arbeiten können, aber er wollte nicht. Mein Vater ist gern mit anderen Männern beieinander gesessen und hat mit ihnen politisiert. Ich habe einmal mit einer Kollegin den Vater in Freistadt besucht, der beim ,Volkssturm‘ war. Wir Mädchen sind in der Gaststube in einem Winkel zusammengesessen und haben geplaudert, während die Männer verbotenerweise ,schwarz Radio gehört‘ haben. Ich habe es meinem Vater nicht recht verziehen, da dies ja Lebensgefahr bedeutet hat. Denn am nächsten Tag, da war mein Vater und auch wir Kinder nicht dabei, wurde die Gruppe Männer ausgehoben, und sie sind alle wegen dieser Straftat in der Sandleiten in Pregarten erschossen worden. Es hätte ohne weiteres sein können, dass wir auch dort gewesen wären.“
Josef P. berichtet, dass Politik auch durchaus ein Vorwand war, persönliche Feindseligkeiten oder Nachbarschaftsstreitigkeiten auszutragen – diese Begebenheit hätte seinen Vater auch das Leben kosten können: „Mein Vater war Bürgermeister von Gaisbach, und mein Großvater war schon vor dem Ersten Weltkrieg Bürgermeister, mein Vater dann ab 1929 bis 1938, bis die Nazis gekommen sind. Die Nazis haben ihn auch sofort eingesperrt, einmal für 14 Tage und dann nochmals für drei Wochen. Eingesperrt war er in Linz. Verantwortlich dafür war der XXX, der war ein illegaler Nazi mit dem Goldenen Parteiabzeichen, der war dann später auch Kreisbannführer-Stellvertreter in Freistadt. Der hat ihn dann verpfiffen, dass er gegen das Regime ist. Er war schon gegen das Regime, aber nicht offen. Im Ort gab es auch noch andere, die dagegen waren, aber die sind nicht eingesperrt worden bzw. wurden nicht vom XXX verpfiffen. Beim letzten Mal war die Anklage ,Hochverrat‘. Als sie ihn dann mit dem Auto abgeholt haben und nach Linz gefahren sind, sind sie in Treffling noch einmal stehengeblieben. Vor dort sieht man schön nach Wartberg her und dann wurde ihm gesagt: ,Wartberg wirst Du Dein Lebtag nicht mehr sehen.‘ Der XXX wollte immer eines unserer Grundstücke abtauschen, was der Vater aber nicht wollte. So hat ihm der XXX gesagt: ,Wenn Du nicht tauscht, dann wirst Du das büßen müssen.‘ Mein Vater ist also wegen einem Stückl Grund verhaftet worden. Meine Mama ist dann nach Linz nachgefahren zum Vater und hat dort die ganze Nacht geflennt und gesagt, dass wir den Vater für den Bauernhof wieder brauchen. Aber das hat alles nicht genutzt, sie haben gesagt:
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,Der geht am nächsten Tag nach Dachau.‘ Der Polizeipräsident von Linz, ein Herr Glück, ist immer zu uns zum Jagen gekommen. Der hat ihn dann gesehen und gesagt: ,Sie sind ja der Herr P. aus Wartberg, warum sind Sie da?‘ und dann weiter: ,Sie wurden von Ihrem Nachbarn so verpfiffen, aber das darf ich Ihnen eigentlich nicht sagen.‘ Der Vater ist dann aber nicht nach Dachau gekommen, sondern nach drei Wochen war er wieder daheim. Aber das war nur auf den Zufall zurückzuführen, dass ihn der Glück so gut gekannt hat als Jagdleiter.“
3.3 Der „Anschluss“ in Wartberg
Der sogenannte „Anschluss“ wird zunächst von den meisten in Wartberg als relativ unspektakulär erlebt, sogar mit Anekdotischem ausgeschmückt. So berichtet Aloisia W. über den 13. März 1938: „Meine Mutter Rosina kam am 13. März – ihren Namenstag – von der Kirche zurück und sagte: ,In Wartberg geht’s zu, ein Mädchen springt auf und ab und schreit „Heil Hitler“. Es sind so viele Flieger gekommen, gestaffelt von 100 Flugzeugen abwärts bis zu einem einzigen, ich weiß nicht, was die da wollten.‘“
Auf Franz K. macht der Anschluss auch eher wenig Eindruck: „Ich erinnere mich, dass bei unserem Haus eine Gruppe von Deutschen vorbeimarschiert ist hinauf nach Wartberg, an mehr kann ich mich nicht erinnern. Da ist auch nichts drüber geredet worden. Nur die Soldaten sind vorbeimarschiert.“
3.4 Veränderungen im Ort
Mit der Zeit bekommen jedoch alle mit, dass sich der Alltag in Wartberg dann doch mehr verändert, als vorerst gedacht, seien es banale Dinge, wie eine neue Währung, oder dann doch schwerwiegendere Aspekte, wie eine geänderte Stimmung im Ort. Aloisia W.: „Es hat sich einiges verändert, u. a. kam dann die Währungsumstellung, die Reichsmark. Ich bin mit einer Bekannten zum BDM mitgegangen, mich hat das aber nicht interessiert,
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und bin wieder gegangen. Ich habe keinen Druck bekommen, wieder hingehen zu müssen. Mein Bruder aber, der später in Russland gefallen ist, war bei dem Verein dabei, damit er die schönen Lederstiefel bekommt. Später, bei der Plünderung durch die Russen, hat einer von ihnen die Stiefel angehabt, obwohl wir sie hinter dem Rossfutter versteckt haben. Ja, es hat schon einige Nazis gegeben, die den Mund sehr weit offen gehabt haben. Da sind teilweise schon heftige Dinge passiert, sind Bewohner aus Wartberg ins KZ gebracht worden. Nachdem mein Vater 1942 verstorben ist, hat der Bruder von meiner Mutter ihr sehr beigestanden und geholfen. Im Jänner 1943 wurde dieser Onkel von einem anderen aus der Nachbarschaft verraten und anschließend von der GESTAPO ins KZ gebracht, das war traurig. Er kam dann nach 14 Tagen wieder zurück, weil sie ihm nichts nachweisen konnten. Den Grund für die Festnahme weiß ich nicht, vielleicht hat er ,schwarz‘ Radio gehört. Wir haben das nicht gemacht, haben zu viel Angst davor gehabt.“
Franz K. spricht von einem Klima der Angst: „Ja, Angst auf jeden Fall. Aber schwarz geschlachtet haben wir nie, das hätten wir uns nicht getraut. Da ist ja Tag und Nacht kontrolliert worden, da war eine ständige Ungewissheit.“
Auch Josef G. spricht über die grassierende Angst: „Es hat sich in der Ortschaft niemand darüber reden getraut, auch bei uns nicht. Zu Hause wurde schon darüber gesprochen, aber mit anderen Leuten nicht. Uns Kindern wurde auch aufgetragen, darüber nicht zu sprechen. Es war eine gefährliche Zeit. Es wurde jemand aus Wartberg einmal verhaftet, weil er angeblich eine Sau ,schwarz‘ gestochen hat. Der Pfarrer hat ihm auch recht geholfen.“
Aus einigen Familien treten die Kinder den Jugendorganisationen der Nazis bei, was aber keinesfalls verpflichtend war (aber mit enormem Druck, es doch zu tun). Josef P.: „Mein Bruder war beim ,Jung-Vaterland‘, also der Jugendorganisation der Heimwehr. Da bist in der 3. Klasse Volksschule dazugegangen. Er hat eine Uniform bekommen mit einem blauen Helm, ein Messer – also eh fast wie bei den Nazis. Dann sind die Nazis gekommen, und er ist zur HJ gegangen, ein braunes Hemd bekommen – ich übrigens auch –, dann sind wir bei den Nazis gewesen. Da haben wir immer marschieren müssen und Hitlerlieder singen. In der Schule haben wir in der Früh statt dem Beten ein Kampflied gesungen, z. B. ,Es zittern die morschen Knochen–‘ oder so was Ähnliches.“
Stephan Hilge, Ist das ein Mensch?, Ätzung auf Kupfer, 1996
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3.5 Wahrnehmung des KZ Mauthausen vor dem Massenausbruch
Das KZ Mauthausen war rund 15 Kilometer von Wartberg entfernt, und Menschen in den 1930er und -40er Jahren hatten naturgemäß weniger Möglichkeiten als heute, einfach ohne konkreten Grund ihren Wohnort zu verlassen. Dementsprechend rar sind die eigenen Wahrnehmungen zum KZ Mauthausen vor dem Massenausbruch im Februar 1945 – hier ist die geographische Nähe ein entscheidender Faktor (so z. B. in Ortschaften, die näher bei Mauthausen liegen, oder entlang der Transportrouten der Häftlingszüge, in denen KZ-Häftlinge zum Alltag gehörten). Gewusst haben aber alle von dem KZ in Mauthausen, das KZ als Repressionsinstrument wurde auch dementsprechend wahrgenommen. Aloisia W. dazu: „Wir haben lange vom KZ nichts mitbekommen. Es wurde zwar darüber geredet, aber genauere Informationen hat man keine gehabt. Es ist uns nur aufgefallen, dass so viele Transportzüge vollgefüllt mit Menschen vorbeigefahren sind. Man hat sich gefragt, wo sie denn diese Leute hinbringen. Man hat in Wartberg nie KZ-Häftlinge aus Mauthausen arbeiten sehen, hat sie jahrelang nicht zu Gesicht bekommen.“
Franz K. beschreibt seine Erinnerungen: „Ja, klar ist geredet worden. Aber nicht viel mehr, als dass es denen (den Häftlingen, Anm.) nicht gut geht, aber mehr ist nicht geredet worden. Es hat ja niemand dem anderen mehr vertraut beim Reden, das habe ich als Schulbub schon gelernt. Das war, bevor die Deutschen gekommen sind, anders. Da hatten wir noch Vertrauen zueinander, aber dann hatte man einfach Angst, dass einen jemand verpfeift.“
Auf die Frage, ob er KZ-Häftlinge gesehen hat und wie er diese als Kind wahrgenommen hat: „Ja, aber nur ganz selten, eigentlich nur entlang der Eisenbahnstrecke, wo sie gearbeitet haben. Beim Schulweg haben wir über die Bahn müssen, und da haben wir sie manchmal gesehen. Da hat man sich eigentlich gar nichts gedacht dabei – das waren halt KZ-ler und aus. Ja, da sieht man halt die KZ-ler, denkt sich aber nicht viel und geht weiter. Die arbeiten da, und da ist der Posten gestanden, mehr nicht. Wir haben es aber eh gewusst, wenn einer davonläuft, dann hätte er den ,Gnadenschuss‘ bekommen. Da sind drei, vier beim Arbeiten gewesen und daneben der Posten mit seinem Gewehr. Das war kein wichtiges Thema, wir hatten genug eigene Sorgen.“
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Gisela F. bekommt indirekt die Transportzüge mit und weiß bereits als Kind über die Massenmorde an Behinderten in Hartheim Bescheid: „Wir Kinder haben auch nach der Hasenjagd keine Informationen über das Lager in Mauthausen bekommen, vielleicht haben die Erwachsenen darüber gesprochen, wir wussten aber nichts. Ich weiß nur von meinem Vater, dass er in Pregarten einen Transportzug mit Häftlingen gesehen hat. Die Menschen im Zug haben gedeutet, dass sie Durst hätten, da hat mein Vater einen Schneeballen geformt und ihnen den zugeworfen. Daraufhin hat die Bewachung zu ihm gesagt: ,Wenn er das noch einmal tut, kann er selbst auch gleich mitfahren‘. Wir haben als Kinder nichts vom KZ Mauthausen gehört, nur von Hartheim, wo Kinder umgebracht wurden. Wir haben zu der Zeit auch keine Häftlinge gesehen.“
Josef G. hingegen wird in seinen Erinnerungen sehr konkret: „Es wurde in der Umgebung schon über das KZ Mauthausen gesprochen, darüber, wie es dort zugeht und dass die Menschen vergast werden. Wie diese Informationen zu uns durchgedrungen sind, weiß ich nicht. Wir waren ganz in der Nähe von der Bahn und haben jede Woche Transportzüge auf dem Weg zum KZ Mauthausen voll mit Menschen gesehen, die durch die Gitter hinausgeschaut haben. Diese Bahn gibt es nicht mehr, sie wurde aufgelassen. Die Eltern haben schon gewusst, dass die Häftlinge keine Schwerverbrecher waren, sondern dass Unschuldige ins KZ Mauthausen gebracht wurden. Wenn man z. B. laut über die Nazis geschimpft hat, ist man schnell ins KZ gewandert. Man wusste auch, dass es andere KZ-Lager gab, wie z. B. Auschwitz, Dachau, aber man hat ja nichts dagegen tun können.“
Die bemerkenswerteste Erinnerung hat jedoch Josef P.: „Und beim Schulausflug sind wir einmal ins KZ Mauthausen gefahren (!!). Der pensionierte Lehrer XXX hat uns zu sich nach Hause mitgenommen und ins KZ, zum KZ Anschauen. Da haben wir hinspucken müssen auf die KZ-ler. Da sind wir außen rum zur Todesstiege und haben auf die KZ-ler hingespuckt, weil das für uns alles Schweine waren. Da wurden wir richtig aufgehusst, dass das alles Schweine sind.
Eine Freude haben wir gehabt, dass wir die KZ-ler anspucken konnten, so aufgehusst und deppert waren wir. Da hat die Propaganda schon gut gewirkt.“
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3.6 Der Massenausbruch im Februar 1945
Trotz der Entfernung von Wartberg nach Mauthausen schaffen es im Zuge des Massenausbruchs der sowjetischen K-Häftlinge einige bis nach Wartberg. Auch wenn die Menschenjagd in anderen, näher bei Mauthausen gelegenen Ortschaften stärker erinnert wird, so sind es doch alle Zeitzeug/innen, die zur „Mühlviertler Menschenjagd“ wichtige Erinnerungen erzählen können. Manche erzählen aus eigenem, durchaus traumatischem Erleben, andere wieder über die Erzählungen z. B. ihrer Eltern. Aloisia W. bekommt viel mit: „Wie die KZ-Häftlinge ausgebrochen sind, ist man vor ihnen gewarnt worden, da sie angeblich Schwerverbrecher waren. Man hat sich vor ihnen gefürchtet. Es wurden viele erschossen, wir haben das aber nicht mitbekommen, waren lauter Frauen im Haus. Ich habe zum ersten Mal KZ-Häftlinge gesehen, wie sie ausgebrochen sind. Es haben sich KZ-Häftlinge über Nacht im Stadel versteckt, aber in der Früh waren sie wieder weg, vor denen haben wir uns recht gefürchtet. Sie haben aber kein Häftlingsgewand mehr angehabt. Die SS war bei uns am Hof und hat gefragt, ob wir Häftlinge gesehen haben; nach ihnen gesucht haben sie aber bei uns nicht. Vor der SS haben wir keine Angst gehabt. Es ist im Ort viel darüber geredet bzw. erzählt worden, wo z. B. Versteckte oder Tote gefunden wurden, ich persönlich habe aber keine direkten Erfahrungen mit KZ-Häftlingen gemacht.“
Franz K. wird von der SS gezwungen, sich an der Suche zu beteiligen und beweist dabei erstaunlichen Mut und enorme Zivilcourage: „Da sind wir gerade beim Essen gesessen, da kommt ein SS-ler daher, packt mich an der Schulter und sagt ,Jungs, kommt mit!‘ Weil da unten beim Nachbarn, da war auch eine Landwirtschaft, da haben sie den Heuboden auf geflohene KZ-ler durchsucht. Der Vater hat nur so geschaut, aber nichts gesagt. Der SS-ler hat gesagt ,Da im Heuboden ist ein KZ-ler drin‘, und ich habe gesagt ,Da habe ich Angst, dass du den erschießt wenn du ihn erwischt.‘ Da hat der SS-ler gesagt: ,Keine Angst Junge, der wird nicht erschossen, der wird erschlagen!‘ Beim Nachbarn waren die Kinder noch jünger als wir, darum haben sie uns dazugeholt. Der SS-ler hat zuerst immer mit dem Bajonett ins Heu gestochen, da ist es weiter hineingegangen, und da hat er mir angeschafft, dass ich hineinkriechen muss, den KZ-ler zu finden. Ich bin hineingekrochen und habe gerufen: ,Da ist niemand da!‘ Der SS-ler zeigt auf ein Loch im Heu daneben und da bin ich dann auch hineingekrochen. Und ich habe wieder gerufen: ,Da ist niemand drin!‘ Wenn ich da einen KZ-ler gegriffen hätte im Heu, hätte ich trotzdem
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gesagt: ,Nein, da ist niemand! Bitte gar schön!‘ Als sie uns dann (im Volkssturm, Anm.) das Gewehr geben haben, habe ich das Gewehr wo hingelehnt und bin davon – da hätte ich der Nächste sein können, der erschossen wird. Das bekommst du als Bub schon mit, dass das nicht geht. Ich weiß nicht sicher, ob da wirklich jemand im Heuboden versteckt war, aber das hätte mein Herz nicht zusammengebracht, den dann zu verraten. Ich bin da ein paar Meter hineingekrochen und habe mir dann gedacht: ,Das reicht schon‘. Ich schätze schon, dass da einer im Heu versteckt war.“
Auf die Frage, ob sich an der Jagd auch Zivilbevölkerung beteiligt hat: „Ja, da war auch mein Vater dabei. Die haben Gräben ausheben müssen, und dann haben in den Gräben Volkssturmmänner gewartet, ob sie einen KZ-ler erwischen. Aber in unserer Gegend, also in Arnberg oder in Untervisnitz, da haben sie keinen erwischt. Mir ist auch nichts bekannt, dass einer aus Wartberg einen KZ-ler gefangen und an die SS übergeben hätte. Bei uns war es nicht mehr so arg, aber in Wartberg und v. a. Richtung Gaisbach, da war es weit ärger, weil es da noch mehr KZ-ler waren, bis Arnberg sind ja nicht mehr so viele gekommen. Es haben sich schon hier und da einige KZ-ler versteckt, aber da hat niemand etwas gesagt, dass da einer sein könnte – das tut man nicht. Das war auch für mich am Heuboden ganz klar, dass ich den nie verraten hätte, wenn da einer gewesen wäre. Das tut man nicht.“
Bei der Suche der SS kommt auch die ukrainische Zwangsarbeiterin des Hofes in Lebensgefahr, auch ihr hilft Franz K.: „Ich habe auch der Ukrainerin einmal geholfen. Als die KZ-ler in Mauthausen ausgebrochen sind, ist auch ein SS-ler gekommen, mit dem Revolver in der Hand. Ich habe gerade mit der Ukrainerin im Stall gearbeitet. Der SS-ler hat sie gefragt, ob sie irgendwelche Ausländer hier gesehen hätte. Da habe ich gleich gesagt: ,Nein, da ist niemand.‘. Sie hat sich ein bisschen dumm gestellt und vorgespielt, dass sie kein Deutsch spricht, obwohl sie eh perfekt Deutsch gesprochen hat – da haben wir einfach zusammengeholfen.“
Auch Gisela F. erzählt in ihren Erinnerungen ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass man auch in der NS-Diktatur eigenständige Entscheidungen treffen konnte – für oder gegen die Menschlichkeit: „Ich habe entflohene KZ-Häftlinge nur tot gesehen, und zwar zwischen Hagenberg und Wartberg auf der Wiese sind drei Männer mit dem gestreiften Häftlingsgewand gelegen. Sie waren nur mehr Haut und Knochen.
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Mein Vater, der zu der Zeit schon beim ,Volkssturm‘ war, hat bei der Suche nach den Häftlingen auch mitgehen müssen und hat erzählt: ,Ich habe beim Kalvarienberg hinter den Büschen einen Häftling gesehen, der sich versteckt hatte, aber ich habe ihn ja nicht sehen müssen7.‘ Hingegen ein Nachbar hat sie auch gesehen, hat sie herausgetrieben, und sie sind erschossen worden. Ansonsten habe ich von der Hasenjagd nichts gehört oder mitbekommen. Es hat auch freiwillige Helfer in der Bevölkerung gegeben.“
Gottfried A., gerade mal neun Jahre alt, macht am Bahnhof in Gaisbach nicht nur eine grausige Entdeckung, sondern wird auch gleich gezwungen, bei der Ermordung von KZHäftlingen dabei zu sein. Was das für ein Kind bedeuten mag, kann aus heutiger Sicht kaum ermessen werden. „Eines Tages bin ich in der Früh in Richtung Bahnhof gegangen, es war Winter und wahrscheinlich habe ich meine Rodel mitgehabt, das weiß ich nicht mehr ganz genau. Bei einem Haus in der Nähe ist ein Ziehbrunnen gewesen, dort habe ich einen Toten mit einem Kopfschuss im Schnee liegen sehen, überall war viel Blut. Ich bin hinunter zum Bahnhof gelaufen und habe das gemeldet. Ich war im Schock, deswegen erinnere ich mich noch so gut an diese Situation. Der Bahnhofsvorstand hat gesagt ,Buabal komm mit.‘ Es war ein Güterzug mit einem großen Bremserhaus abgestellt. Dort befanden sich zwei KZ-Häftlinge, die von SS-lern gefangen genommen wurden. Der eine Häftling war so schwach, dass ihm der andere Häftling aufgeholfen hat. Ich musste dann mit hinüber gehen und dabei sein, wie die SS-ler die beiden KZ-Häftlinge erschossen haben. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, ob ich hingeschaut habe, aber die zwei Schüsse habe ich heute noch im Kopf.“
Auch am Bauernhof von Josef G. spielen sich dramatische Szenen ab: „Es wurde beim Nachbarn oben ein Häftling im engen Kanal, wo er drinnen gesteckt ist, gefunden, und bei uns im kleinen Häuschen am Dachboden wurde auch ein Häftling gefunden. Der Mieter von diesem Häuschen ist auf den Dachboden gegangen, hat unter das Heu geschaut und ihn gesehen. Ich weiß nicht, ob der Mieter ihn verraten hat, auf jeden Fall kam ein SS-Mann, die haben sich sowieso in der Gegend ,herumgetrieben‘, und hat den Häftling vom Dachboden hinuntergestoßen. Er wurde dann den Hügel hinaufgetrieben, ich glaube, er ist nicht einmal bis zur Straße gekommen, und dann hat man schon 7
Diesen Satz „… ich habe ihn ja nicht sehen müssen …“ fanden wir so aussagekräftig, dass er gleich als Titel für dieses Projekt ausgewählt wurde.
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den Schuss gehört. Es war erst ein junger Bursche, ich meine er war nicht älter als 18 oder 19 Jahre alt. Man hat gleich gewusst, dass er das nicht überleben wird. Sie sind ein paar Tage lang in der Nacht mit den Taschenlampen auf den Hof gekommen, haben Sturm geläutet und überall im Stall und am Heuboden nachgeschaut und hineingeleuchtet, ob sich irgendwo jemand versteckt hat. Die Bauern haben die Toten bei den Füßen eingespannt und zur Straße hingezogen, dort wurden sie dann abgelegt und weggeführt, ich weiß nicht, wohin sie dann gebracht wurden.“
Und auch Josef P. wird unmittelbar Zeuge von Morden an KZ-Häftlingen: „Nur mehr beim Ausbruch, der war am Lichtmesstag im 45er Jahr. Da ist der XXX zu uns gekommen, der Blockleiter, und hat zu meinem Vater, der ja Jagdleiter war, gesagt: ,Herr P., sofort das Gewehr nehmen und alle anderen Jäger verständigen – jetzt gehen wir KZ-ler schießen.‘ Mein Vater sagte: .Das tue ich nicht!‘ Sagt der Blockleiter: ,Das musst aber machen!‘ Die sind dann in ein Waldstück gegangen. Und wir Buben sind auch KZ-ler suchen gegangen. Wir haben schulfrei gekriegt und sind mit der SS mitgegangen. Am Bahndamm sind von einem Zug sechs KZ-ler heruntergesprungen, als die Dampflok angefahren ist, und über den Bahndamm heruntergestürzt. Zwei sind im Wald drüben, in Reinholz, erschossen worden, die haben sie umstellt und erschossen. Und wir haben da zugeschaut, als sie die toten KZ-ler zusammengesammelt haben und zum Bahnhof geführt haben, ungefähr 30 KZ-ler werden das gewesen sein. Wir sind mit den SS-lern der Spur nachgegangen im Schnee. An den Spuren konnte man erkennen, dass es KZ-ler waren, denn die hatten keine Schuhe, sondern nur Fetzen um die Füße gewickelt – das hast im Schnee sofort gesehen. Wir sind den Spuren dann nach bis zu einem Bauernhof, dort haben sie sich am Heuboden versteckt. Außen am Gebäude ist eine Stiege hinaufgegangen und ein SS-ler hat gesagt: ,Die sind sicher da oben.‘ Er ist dann auf den Heuboden gegangen und hat mit dem Bajonett ins Heu gestochen, und dann hat gleich einer gejammert und geschrien. Der SS-ler hat gebrüllt: ,Heraus, heraus!‘ Und ein KZ-ler ist aus dem Heu gekrochen. Der SS-ler hat gleich alle fünf KZ-ler über die Stiege heruntergestoßen und unten auf einen großen Stein geworfen. Die sich noch gerührt haben, wurden mit dem Gewehrkolben erschlagen. Ein Bauer hat gesagt:
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,Ich war auch im Krieg (Erster Weltkrieg, Anm.), aber erschlagen geht gar nicht. Erschießt diese Leute zumindest!‘ Da hat ein SS-ler gleich zum ihm gesagt: ,Stellen Sie sich gleich an den Baum, dann werden Sie auch erschossen!‘ Und der Bauer hat gerufen: ,Bitte, bitte nicht!‘ – dann haben sie ihn wieder gehen lassen. Unterdessen kommt der XXX daher, aus Wartberg, der hat zuvor einen KZ-ler erschossen, mit dem Gewehr vom XXX, der war nämlich schon ein kranker Mann, der hat ihm das Gewehr geliehen. Und da wurde erzählt, dass der KZ-ler so arm zugrunde gegangen sei: Nach dem ersten Schuss hat er geblutet und gesagt: ,Ich bin Deutschlehrer in Russland, muss so arm hier sterben.‘ Dann hat er noch zwei Schüsse abbekommen. Und wir haben überall zugeschaut.“
Frage: Habt ihr zuschauen müssen? „Nein, das hat uns schon auch interessiert. Aber dann hat es uns geschüttelt vor lauter Grausen, wir haben da bald genug gehabt.“ Josef P. vergleicht diese Erfahrungen auch mit seinem ersten Kontakt zu KZ-Häftlingen während des Schulausflugs und stellt fest, dass er dann 1945 auf jeden Fall Mitleid gehabt hat und 1938 „aufgehusst und deppert war“.
3.7 Kriegsende in Wartberg
Zum Kriegsende läuft Wartberg noch Gefahr, Schauplatz von Kampfhandlungen zu werden, kommt aber aufgrund einer Aktion von einigen beherzten Männern glimpflich davon, die mit einer weißen Fahne den Amerikanern entgegengehen. Aloisia W. erinnert sich an das Kriegsende bzw. die ersten russischen Soldaten in Wartberg: „Wir haben am Feld mit den Polen und Ukrainern gearbeitet, auf einmal sind vom Wald her die Russen gekommen. Der Pole hat gesagt: ,Gehen wir nach Hause, dort sind bestimmt schon die Russen.‘“. Als wir zurück zum Haus gegangen sind, war bereits das ganze Haus voll mit Russen, sie sind überall herumgegangen, und einer hat bereits den Anzug meines Bruders angehabt, mit dem Flügelhorn unterm Arm. So hat die russische Besatzung angefangen. Mit den ukrainischen Arbeitern sind wir während des Krieges gut ausgekommen, sie haben sich gut unterhalten, öfter getanzt und haben sich bei uns im ,Bubenkammerl‘ getroffen. Der Ukrainer, der bei uns am Hof gearbeitet hat, hat am Morgen, nachdem
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die Russen bei uns angekommen sind, die Rösser eingespannt, den besten Wagen ausgesucht und ist mit ca. 20–30 anderen Ukrainern weggefahren. Der Pole ist noch ein paar Tage geblieben, und dann ist auch er nach Hause gegangen. Ich habe in dieser Zeit als junge Frau viel Angst haben müssen, die Vergewaltigungen sind dann losgegangen. In einer Nacht ist ein Russe bei uns ins Haus eingebrochen, aber wir haben uns bereits versteckt. Wir sind hinaus und haben uns in die Brennnesseln hineingelegt. Als wir an einem Pfingstsonntag am Weg nach Hause waren, haben wir unsere Tiere so laut schreien und brüllen gehört und uns gefragt, was denn jetzt los sei. Als wir ankamen, war der halbe Stall leer. Die Russen haben die Kühe weggetrieben, und die Sau haben sie im Hof abgestochen.“
Gisela F. beschreibt hingegen die kampflose Übergabe des Ortes und den Beginn der russischen Besatzung: „Als die Geschütze der Amerikaner auf Wartberg gerichtet waren, sind mein Vater, der Pfarrer, der auch ein sehr tapferer Mann war, und noch ein dritter Mann mit der weißen Fahne zur Wenzelskirche gegangen und haben diese geschwungen. Sie haben schon Angst davor gehabt, dass ein ehemaliger Parteigenosse vielleicht auf sie schießt, es ist aber nichts dergleichen passiert. Dann sind die Amerikaner nach Wartberg gekommen – zur Freude unserer jungen Mädchen – und haben hinter unserem Garten ein großes Zelt errichtet. Bei unserer Wasserpumpe im Garten ist jeden Tag etwas anderes Gutes gelegen, z. B. ein Kaugummi, ein Stück Schokolade, das war sehr lieb. Und dann sind die Amerikaner abgezogen, und die Russen sind Anfang September 1945 gekommen. Da gab es ein großes Entsetzen, wir wussten nicht, dass die Russen bis zu uns ins Mühlviertel kommen würden. Zu uns kam die ,Kampftruppe‘, wir Mädchen mussten uns alle verstecken. Wir haben uns hinter der Kirche in der Nähe der Gräber bei der Mauer versteckt, wir waren ja alle so mager. Die Russen haben alle sehr ,gewütet‘. Es war bei den Russen nicht so schlimm mit Vergewaltigungen. Es hat auch Frauen bei uns gegeben, die mit Russen auf der Kutsche gefahren sind, weil sie wahrscheinlich geglaubt haben, die Russen nehmen sie dann mit. Es hat aber geheißen, dass die Russen keine Frauen mitnehmen dürfen, wenn sie wieder abziehen. Im Gegensatz zu den Amerikanern, die durften Frauen mitnehmen.“
Josef G. erzählt von weiteren, sehr dramatischen Ereignissen: „Zuerst waren die Amerikaner bei uns, und wir waren froh darüber, weil es geheißen hat, dass die Russen schlechter sind. Dann allerdings sind die Amerikaner über die nächste Brücke wieder abgezogen und die Russen kamen zu uns.
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Es ist einmal ein Russe bei uns draußen stumm auf der Bank gesessen mit dem Gewehr in der Hand, mein Bruder war bereits zurück vom Krieg und stand oben, da fiel ein Schuss in Richtung meines Bruders, er hat ihn nur knapp verfehlt. Ich weiß nicht, ob der Russe versehentlich geschossen hat oder ob es Absicht war, man hätte jedenfalls nichts machen können, es wäre ihm nichts passiert, da es eine Besatzungsmacht war. Wir hatten zwei größere Schweine, die die Russen holen wollten. Daraufhin ist der Mieter von unserem kleinen Häuschen schnell zu den Amerikanern gerannt, die dann gekommen sind und eine Sau mitgenommen haben. Sie haben gesagt, dass sie, die große Familie, die eine Sau dringend selbst brauchen würden, dann haben die Russen eine Sau dagelassen.“
Josef P. berichtet nicht nur über das unmittelbare Kriegsende, sondern auch über ein Ereignis, das seinen Bruder das Leben hätte kosten können, wenn er sich nicht mit Waffengewalt befreit hätte: „Da haben wir schon lange die Amerikaner schießen gehört in der Nacht, von Westen sind die gekommen. Da sagte mein Vater: ,Jetzt kommen sie.‘ Mein Vater hat sich dann versteckt, weil er Angst hatte, dass ihn die SS nochmals holt. Den XXX aus Pregarten hat die SS noch geholt. Und den Vater hätten sie auch geholt, aber er hat sich im Wald versteckt. Am nächsten Tag sind wir draußen gestanden, da kommen die US-Panzer daher und wollen über eine Brücke fahren. Sie fragen uns, ob die Brücke mit Sprengstoff geladen (unterminiert, Anm.) sei. ,Nein‘, sagen wir, ,die Brücke ist nicht geladen.‘ Der Panzer ist dann weitergefahren, und in Königswiesen ist der Panzerkommandant noch durch den Volkssturm vom Panzer runtergeschossen worden. Ein Bruder war noch dabei beim Volkssturm. Der war ein 29er Jahrgang, die wurden noch eingezogen. Der ist dann nach Bad Leonfelden gekommen. Der Vater ist einmal mit dem Fahrrad hingefahren, um ihm eine Jause zu bringen. Da haben sie darüber geredet, dass es nicht mehr lange dauern kann. Dann ist eine neue Flakstellung errichtet worden, mein Bruder ist aber weg von dort. Bei der Gusenbrücke ist die Feldgendarmerie gestanden, die waren die Gefährlichen. Die hätten meinen Bruder und seine Kameraden sofort umgelegt, weil sie davongelaufen sind vom Volkssturm ohne Papiere. Mein Bruder und seine Begleiter haben aber dann die Feldgendarmen erschossen mit ihren Pistolen. Das war das Glück, dass sie schneller waren als die. Den ersten haben sie gleich tödlich getroffen, der zweite hat sich nochmals aufgebäumt und wurde dann endgültig getötet. Sie haben sich dann daheim versteckt, aber dann war der Krieg eh bald aus.
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Die Amerikaner waren dann eine Weile da, da haben wir Schokolade bekommen, und dann sind die Russen gekommen.“
3.8 Die Befreiung des KZ Mauthausen
Mit der Befreiung des KZ Mauthausen strömen auch Teile der befreiten Häftlinge, sofern sie dazu körperlich in der Lage waren, in die umliegenden Ortschaften. Dabei kommt es vereinzelt zu Plünderungen, einigen wenigen Racheaktionen – der Großteil der befreiten KZ-Häftlinge verhält sich jedoch korrekt. Franz K. berichtet, dass befreite KZ-Häftlinge bei ihnen am Hof verpflegt wurden: „Ja, die haben v. a. was zum Essen gesucht. Das hat man ihnen gegeben. Die haben dann bei uns in der Küche gekocht, Lebensmittel, die sie selber mitgehabt haben oder was wir ihnen halt abgegeben haben. Die waren ein paar Tage da. Gedroht hat nur einer, eigentlich wollten wir helfen. Es war auch viel mehr die Mutter, die geholfen hat, der Vater war viel mehr draußen bei der Arbeit. Es war kein gutes Gefühl, weil wir nie gewusst haben, was sie so anfangen. Wir haben schon auch Angst gehabt.“
Josef P. zu seinen Erlebnissen: „Wir haben ein paar KZ-ler verköstigt, die sind im Stadel gelegen. Einige hatten ganz argen Durchfall, da ist das Blut gekommen. Einer von ihnen war ein russischer Offizier, der auch Deutsch sprach, und die wurden von uns im Stadel verpflegt. Nach ca. acht Tagen wurde er von einem russischen Auto abgeholt und ins Lazarett gebracht.“
3.9 Umgang mit den Nazis in Wartberg nach der Befreiung
Nachdem nicht alle Wartberger, so wie die Eltern unserer Interviewpartner/innen, Gegner der Nazis waren, wurde auch der Umgang mit den Wartberger Nazis nach der Befreiung in den Interviews besprochen. Aloisia W. beschreibt ihre Wahrnehmungen: „Die Nazis aus der Ortschaft haben sich zum Teil selbst umgebracht. Ein Eisenbahner hat sich aufgehängt, ein anderer hat zuerst seine Frau und dann sich selbst erschossen. Die Russen haben auch viele von ihnen erschossen.“
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Gisela F. weiß zu berichten: „Es hat für die Parteigenossen in Wartberg keinerlei Konsequenzen nach dem Krieg gegeben (z. B. keine Gerichtsverhandlungen, keine persönlichen Racheakte). Ich hatte einen Onkel (Jahrgang 1907) mütterlicherseits, der bei der Gestapo war. Der Herr Pfarrer aus Liebenau hat angeblich etwas gegen den Nationalsozialismus von der Kanzel aus gesagt, und er hätte daraufhin ins KZ kommen sollen. Mein Onkel hat dem Herrn Pfarrer geholfen, und somit ist er nicht ins KZ gekommen. Nach Kriegsende hat der Pfarrer meinem Onkel geholfen, er musste zwar für drei Jahre nach Glasenbach (Internierungslager für Nazis bei Salzburg, Anm.), aber mehr ist nicht passiert.“
Auch Josef P. berichtet über das Ende einer Nazi-Familie: „Aber der XXX aus Obergaisbach, der liegt heute noch am Feld verscharrt. Wie die Russen gekommen sind, hat er Angst bekommen und seine Frau erschossen. Dann hat er den Hund erschossen, einen großen Wolfshund, die Hasen umgebracht, und dann hat er sich selbst erschossen. Die sind dann alle im Haus gelegen. Mein Vater war schon wieder Bürgermeister und hat gesagt, die bringen wir nach Wartberg. Der Pfarrer wollte aber nicht, dass die Toten nach Wartberg gebracht würden, sie sollten besser irgendwo eingegraben werden. Zwei Männer haben dann zwei Kühe eingespannt, ihn und sie mit den Füßen angehängt, den Hund und die Hasen dazu und aufs Feld hinausgefahren und sie dort verscharrt. Die liegen heute noch dort.“
3.10 Besatzungszeit
In anderen ähnlichen Interviewprojekten im Mühlviertel haben sich die Erinnerungen an die Nazi-Zeit mit den Erinnerungen an die russische Besatzung oft nahtlos vermischt, oft wurde in den Zeitebenen hin- und hergesprungen und manches verwechselt. Nicht so bei diesem Projekt, hier wurde im Regelfall sehr genau unterschieden, was in der Nazi-Zeit und was nach Kriegsende geschehen ist. Franz K. beschreibt ziemlich dramatische Szenen in den ersten Tagen nach Kriegsende: „Das war eine schlechte Zeit. Der Amerikaner hat sich nicht gekümmert, und die Russen sind in der Nacht immer rübergekommen, da war ja die Demarkationslinie zwischen Amerikanern und Russen am Bahndamm. Wir waren da sehr unsicher, ob nicht die Russen kommen. Wir waren ja im amerikanischen Sektor, aber hinter der Bahn waren gleich die Russen. Da hast auch nicht rüberdürfen. In der Zeit hat es auch keine Schule gegeben. Und
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als die Schule dann im Herbst 1945 wieder losgegangen ist, war ja alles russisch, die Amerikaner waren da schon weg. In Wartberg hat es eine Kommandantur der Russen gegeben, dann war es leichter. Aber Mai, Juni, Juli und August bist dir keinen Tag sicher gewesen – mit der Kommandantur ist es dann straffer geworden. Zum Essen haben wir schon genug gehabt, aber wirklich Hunger hatten wir eh kaum. Wenn du da in der Nacht schläfst, einmal haben wir zwischen den Ribiselstauden geschlafen oder einmal im Kornfeld, weil in der Nacht sind sie ja gekommen, die Russen. Da bist du dir deines Lebens nicht mehr sicher gewesen, weil die ersten Russen, die da waren, waren brutal, und der Amerikaner hat sich nicht gekümmert. Vom Folgenden rede ich gar nicht gerne. Wir, also meine Eltern und ich, waren schon zum Erschießen vorgesehen (durch die Russen). Weil der Vater angeblich einem SS-ler erlaubt hat, bei uns über Nacht zu bleiben. Da sind sie gekommen zu uns auf den Hof. Die Ukrainerin war nicht mehr da, die uns hätte helfen können. Da sind fünf Russen gewesen mit ihren Maschinenpistolen. Da stehen wir also am Hof vor diesen fünf Russen. Der SS-ler sieht das, stürmt bei der Tür herein, stößt die Russen auf die Seite, und wir können entkommen und haben wieder im Kornfeld geschlafen. Der SS-ler hat sich am Heuboden versteckt. Wir haben aber den SS-ler nie mehr wiedergesehen, wir waren in der Nacht nie zu Hause, die ganze Woche nicht. Nur untertags das Vieh gefüttert. Dann waren wir wieder auch untertags zu Hause, die Russen sind manchmal gekommen, wir haben ihnen gegeben, was sie verlangt haben. Aber ich rede darüber nicht gerne. Der SS-ler hat sich was getraut, das traut sich heute kein Soldat mehr. Der SS-ler war sogar noch in Uniform. Die Russen haben uns sogar noch nachgeschossen, da sind uns die Kugeln um die Ohren gepfiffen. Aber da war eine Böschung, über die sind die Kugeln drübergeflogen, überall waren dann die Einschusslöcher. Einen Schulkollegen von mir haben sie eh erschossen, angeblich KZ-ler (dieses Verbrechen wurden von zwei russischen Soldaten verübt, Anm.), auch seinen Vater und seinen Onkel.“
Josef P. sieht die Russen differenziert: „Die Russen haben die Frauen alle vergewaltigt, die sie in ihrem Rausch erwischt haben. Uns Buben haben sie nichts getan. Wir sind mit ihnen sogar mitgefahren, Heumachen, und haben ihnen dabei geholfen. Wir hatten viel Spaß mit ihnen. Die waren zuerst in den Arbeitsdienstbaracken und sind dann mit der ganzen Garnison verlegt worden, die hatten sogar eine Musikkapelle. Da kann ich mich noch gut erinnern: Die Russen haben immer Milch bei uns geholt und auch bezahlt, manchmal auch Speck – aber die waren immer alle anständig mit uns. Und
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da waren einmal 6–7 Russen bei uns in der Küche, es war zu Weihnachten, das erste Weihnachten nach dem Krieg. Aber die Mutter sagt, dass wir die Kerzen am Christbaum nicht anzünden können, solange die Russen da sind. Mein Vater hat gemeint: ,Worauf warten wir denn? Die werden schon nichts tun.‘ Und dann haben wir die Kerzen am Christbaum in der Stube angezündet, und die Russen in der Küche haben das gesehen. Da haben einige zu weinen begonnen ,Ich denke an Zuhause‘, da waren auch gute Menschen dabei. Die Uniformkappen haben sie abgenommen, und ganz andächtig waren sie. Klar hat es auch Gauner gegeben, aber im Großen und Ganzen waren es prima Leute, nichts gestohlen und gar nix.“
3.11 Botschaft an die Jugend von heute
Am Ende jedes Interviews baten wir unsere Interviewpartner/innen noch um einen Satz als Botschaft an die Jugend von heute: „Ich habe Angst um die jungen Leute, hoffentlich geht es ihnen nicht auch einmal so schlecht, wie es uns damals gegangen ist.“ (Aloisia W.) „Mit den Menschen musst einfach gut umgehen. Auch wenn es kritisch ist, immer schauen, ob es nicht im Guten auch geht. Man kann vieles im Reden klären“ (Franz K.). „Die Jugend soll mit dem, was jetzt ist, zufrieden sein“ (Gisela F.). „Jeder sollte dazu beitragen, dass so ein Krieg nie wieder vorkommt. Die Erwachsenen müssen das den Kindern/Jugendlichen vorleben“ (Josef G.). „So etwas darf es nie wieder geben, das war furchtbar. Das war eine verrohte Gesellschaft“ (Josef P.).
Am Ende dieser zusammenfassenden Erzählung steht der Schlusssatz aus dem Interview mit Gisela F. „… ich habe ihn ja nicht sehen müssen …“: Die Ereignisse zeigen uns, wozu Menschen fähig sein können – im extrem Schlechten ebenso wie auch im extrem Guten. Die Entscheidung gegen das Schlechte und für das Gute liegt bei uns selbst. Damals wie heute.
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Literaturverzeichnis
Baumgartner, Andreas: Die vergessenen Frauen von Mauthausen, Die weiblichen Häftlinge des KZ Mauthausen und ihre Geschichte, 3. Auflage, Wien 2006 Baumgartner, Andreas, und Kropf, Rudolf: Man hat halt damit leben müssen. Nebenlager des KZ Mauthausen in der Wahrnehmung der Lokalbevölkerung, ungedruckter Projektbericht, Wien & Linz 2002 Freund, Florian, Perz, Bertrand und Stuhlpfarrer, Karl: Bibliographie zur Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, Wien 1998 Horwitz, Gordon: In the Shadow of Death, NY 1990 Kaltenbrunner, Matthias: „K-Häftlinge“ im KZ Mauthausen und die „Mühlviertler Hasenjagd“, Diplomarbeit 2011 Marktgemeinde Wartberg ob der Aist, ARGE 2011 (Hg.): Wartberg ob der Aist, Erforschtes, Überliefertes, Erzähltes, Heimatbuch der Gemeinde, Wartberg 2011 Maršàlek, Hans: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, Dokumentation, 4. Auflage, Wien 2006 Struck, Wulf: Das Jahr 1945 und die Mühlviertler Menschenjagd in der Gemeinde Wartberg ob der Aist, ungedruckter Projektbericht, Wartberg 2015
Budapest 1944/45: Bemühungen des Vatikans zur Rettung ungarischer Juden Szabolcs Szita
Die Apostolische Nuntiatur Budapest, die diplomatische Vertretung des Heiligen Stuhls in Ungarn, hat sich während des Zweiten Weltkriegs für die Rettung der verfolgten jüdischen Menschen konsequent eingesetzt. Die Entscheidung über die Rettungsaktionen lag bei dem Apostolischen Nuntius, Titularerzbischof Angelo Rotta1 (1872–1965). Seine Residenz befand sich seit 1930 am Dísz-tér im Budaer Burgviertel. Da das Gebäude zur Zeit der Belagerung Budapests zerbombt worden war, zog der Nuntius samt seinem Amt am 21. März 1945 – die Genehmigung der sowjetischen Behörde ließ wochenlang auf sich warten – in das Kloster der Englischen Fräulein, das in der Váci-ut auf der Pester Donauseite lag.2 Die Nuntiatur arbeitete bis zum 6. April 1945, bis Rotta des Landes verwiesen wurde, in diesem innerstädtischen Ordenshaus. Als Vertreter des Vatikanstaates konnte Rotta mit der Unterstützung und der Autorität des Papstes Pius XII. und der römisch-katholischen Kirche rechnen.3 Der Nuntius trat gegen die – in Ungarn bis 1944 allerdings noch nicht so wahrnehmbare – antisemitische Hetze und Verfolgung immer wieder vehement auf. Dieses humane Verhalten fand jedoch – bis auf einzelne besondere Fälle und Personen – auf der Seite der ungarischen geistlichen Obrigkeit keinen Widerhall. Kurz nach der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht am 19. März 1944 und der Amtsübernahme der kollaborierenden Sztójay-Regierung4 ersuchte der Nuntius bei zuständigen Stellen dringlich um eine Audienz. Am 23. März stattete er dem Minis1 2 3
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Rotta, Angelo (1872–1965), italienischer römisch-katholischer Geistlicher, 1930–1945 Apostolischer Nuntius in Ungarn Nagy, Töhötöm: Jezsuiták és szabadkőművesek [Jesuiten und Freimaurer], Universum Kiadó, Szeged 1990, S. 179 Bedauerlicherweise waren die im Vatikanischen Archiv aufbewahrten Dokumente über das konsequente Auftreten des Nuntius gegen rassistische Gruppen und den grausamen Terror der Pfeilkreuzler bis dato noch nicht zugänglich und konnten trotz wiederholter Antragstellung nicht eingesehen werden. Ungarische Quisling-Regierung
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terpräsidenten Döme Sztójay einen Besuch ab.5 In Kenntnis der bevorstehenden judenfeindlichen Anordnungen der ungarischen Regierung legte er Sztójay in Vertretung des Papstes eine gemilderte Formulierung der geplanten Anordnungen nahe. Am 27. April besuchte Angelo Rotta den Sonderbotschafter und stellvertretenden Außenminister Mihály Arnóthy Jungerth6 und erläuterte, Papst Pius XII. bedauere zutiefst das den grundsätzlichsten Lehren des Evangeliums widersprechende Verhalten der ungarischen Regierung. Der Nuntius intervenierte auch im Nachhinein mehrmals beim Ministerpräsidenten, einmal sogar schriftlich, mit energischer Wortwahl. Am 15. Mai 1944, dem ersten Tag der massenhaften Verschleppung der jüdischen Bevölkerung in der ungarischen Provinz, protestierte er sofort beim Außenministerium. In der Note schrieb er: „... wie die Nuntiatur erfuhr, haben Sie die (eventuell getarnte) Deportation von Hunderttausenden vor. Jeder weiß, was die Deportationen tatsächlich bedeuten“.7 Er forderte die ungarische Regierung auf, den Krieg gegen die Juden nicht fortzusetzen, weil dies die Grenzen des Naturgesetzes und der Gebote Gottes bereits verletze. Doch die Proteste konnten die Regierung, die eine eifrige Betreiberin der Deportationen war, nicht beeinflussen. Die deutsch-ungarisch-slowakischen Verhandlungen über Eisenbahntransporte (4./5. Mai, in Wien) wurden erfolgreich abgeschlossen, und alsbald rollten die mit „Provinzjuden“ überfüllten Züge in Richtung Auschwitz-Birkenau. Wenig bekannt ist, dass sich auch der Veszprémer Bischof József Mindszenty8 engagierte. In einem Schreiben vom 19. Juni ersuchte er Reichsverweser Miklós Horthy9, wenigstens die Verschleppung der zum Katholizismus konvertierten jüdischen Kinder zu verhindern10. Über Aufnahme und Folgen des Briefes liegen keine Angaben vor. Besondere Beachtung verdient die Tätigkeit des Landesinstituts für Sozialpolitik. Sein 5 6
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Der frühere ungarische Botschafter in Berlin Döme Sztójay (1883–1946) bekleidete gleichzeitig den Ministerpräsidenten- und den Außenministerposten. Arnóthy Jungerth, Mihály (1883–1957) Diplomat, 1934–1939 ungarischer Botschafter in Moskau. In der Sztójay-Regierung war er der ständige Stellvertreter des Außenministers, Sonderbotschafter und beauftragter Minister. Ungarisches Nationalarchiv Landesarchiv (MNL OL) Külügyminisztérium Be. res. 90-24. (16/a/3) In: Vádirat a nácizmus ellen 1. [Anklageschrift gegen den Nazismus 1.] Budapest, 1958, S. 319. Horthy behauptete in seinen Memoiren, er hätte durch einen Boten erst im August über die grauenhafte Realität der Vernichtungslager erfahren. Horthy, Miklós: Emlékirataim [Meine Memoiren], Buenos Aires 1953, S. 259. Seine Behauptung wurde in der Fachliteratur mehrfach widerlegt. Mindszenty, József (1892–1975), Erzbischof von Esztergom, der letzte Fürstprimas von Ungarn, Kardinal. Er wurde sowohl von den Pfeilkreuzlern als auch von den Kommunisten verfolgt. Horthy, Miklós (1868–1957), Offizier der kaiserlich und königlichen Kriegsmarine von ÖsterreichUngarn, Vizeadmiral. Vom 1. März 1920 bis zum 16. Oktober 1944 Reichsverweser des Königreichs Ungarn. Er starb im portugiesischen Exil. Balogh, Margit: Mindszenty József (1892–1975), Elektra Kiadóház Budapest, 2002, S. 63
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Präsident war Universitätsprofessor Béla Erdödy-Harrach11; den Posten des Generalsekretärs hatte Dr. József Cavallier12 inne. Das Institut unterhielt vier Bibliotheken sowie Arztpraxen und Tagesheime, widmete sich vorwiegend der körperlichen, geistigen und seelischen Betreuung der Arbeiterschaft. Cavallier war als ein engagierter und mutiger Mensch bekannt, er wurde auch zum Vorsitzenden des ungarischen Heilig-Kreuz-Vereins13 ernannt. Zu den führenden Persönlichkeiten gehörten ferner Baron Vilmos Apor, Bischof von Győr, der Vizerektor des zentralen Seminars, József Andrássy und andere, die allesamt unmittelbar nach Kriegsende das Land verließen. Am 20. Mai meldete Hitlers Reichsbevollmächtigter für Ungarn, Edmund Veesenmayer14, einen ungarischen Spionagefall nach Berlin: Bei den Kds Budapest15 war eine Anzeige über Judenversammlungen im Haus Múzeum krt. 10 eingegangen. Die Ermittlungen ergaben, dass unter dieser Adresse der 1941 von Dr. József Cavallier gegründete, von jüdischen Geldern mitfinanzierte Ungarische Katholische Kreuzverein tätig war. Die finanzielle Unterstützung stammte vor allem von Baron Weiss (so stand es in der Meldung)16 und von dem Herrenhausmitglied Ferenc Chorin17. Hauptanliegen des Vereins war die Bekehrung der Juden zum Christentum; der Vorbereitungskurs für die Konversion dauerte mit je zwei Stunden acht Wochen lang. Als die ungarische Geheimpolizei den Vereinsraum stürmte, gab es dort gerade für 37 jüdische Personen Religionsunterricht. Die Stunde hielt Kaplan Miklós Horváth im Auftrag von Dr. Imre Saba18, Pfarrer der Kirche in der Christinenstadt. 11 12
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In der Pfeilkreuzler-Ära wurde er inhaftiert, er saß im Gefängnis von Sopronkőhida. Cavallier, József (1891–1970), herausragender Vertreter der katholischen Intelligenz und der katholischen Presse. Ab Sommer 1944 musste er untertauchen, nach ihm wurde einmal von der Gestapo, einmal von den ungarischen Pfeilkreuzlern gefahndet. Der Ungarische Heilig-Kreuz-Verein wurde zum Schutz der durch das erste Judengesetz benachteiligten jüdischstämmigen Christen gegründet. Zu seinen Aufgaben gehörte auch der Religionsunterricht von gläubigen Juden, ihre Vorbereitung auf die Konversion. Veesenmayer, Edmund (1904–1977), Dozent, Diplomat, ranghohes Mitglied der NSDAP und der SS Kommandos; die Abkürzung Kds war ein Deckname für Gestapo-Zweigstellen. Eigentlich von Weiss, Edit (1899–1967), Baronin, Mitglied der Familie des Großindustriellen Weiss Chorin, Ferenc (1879–1964), Rechtsanwalt, Fabrik- und Bergbaubesitzer. Ab 1927 Mitglied des Herrenhauses, 1928–1942 Präsident der Ungarischen Industriellenvereinigung. Infolge der Erpressung durch die deutsche Besatzungsmacht verzichtete er 1944 auf sein Vermögen und wurde daraufhin samt seiner Familie ins Ausland gebracht. Eigentlich Imre Szabó. Der deutschsprachige Bericht in: The Destruction of Hungarian Jewry by Randolph L. Braham. Pro Arte for the World Federation on Hungarian Jews, New York 1963, S. 581–582
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Die systematische Deportation von Juden aus der ungarischen Provinz, die immer häufigeren Luftangriffe und das erdrückende Milieu von Hass und Hetze machten es unausweichlich, die Frage nach der Verantwortung zu stellen. Laut Fürstprimas Serédi19 gab es „viele mühselige Verhandlungen“, aber „unter diesen Umständen konnten wir nicht mehr machen“. Sein in Esztergom verfasstes Rundschreiben vom 17. Mai 1944 wurde jedoch nicht veröffentlicht, mit der Erklärung, „um die Lage der königlich-ungarischen Regierung nicht zu erschweren und während unserer offiziellen Verhandlungen niemandem einen Vorwand zu liefern“. Dafür forderte Serédi von der Regierung in jeder offiziellen Besprechung „humanes Verhalten“. Das Verhalten des Fürstprimas bezeichneten viele – darunter der Bischof von Győr, Baron Vilmos Apor – deshalb auch als teilnahmslos. Angelo Rotta hingegen verlangte wiederholt Taten. Am 5. Juni 1944 – knapp drei Wochen nach seinem ersten Einspruch – überreichte er der ungarischen Regierung erneut eine Protestnote gegen die unmenschliche Verfolgung der Juden. Aus einem am 24. Juni 1944 in Lissabon eingetroffenen Drahtbericht ist ersichtlich, dass der gegen die Demonstrationen protestierende, gelegentlich Hoffnung hegende Nuntius auch beim Reichsbevollmächtigten Veesenmayer um eine Audienz bat, „denn dieser kam quasi mit Befugnissen eines Staatsoberhauptes nach Ungarn und führe laut Rotta das Land“.20 Am 8. Juni forderte Rotta persönlich, gegen die entrechtende Politik der ungarischen Regierung, die Juden betreffend, entschlossener aufzutreten. Dabei dürfte eine Rolle gespielt haben, dass die Budapester Nuntiatur vonseiten der ungarischen katholischen Geistlichkeit und der Gläubigen Vorwürfe erhielt: Wozu sollte es in Budapest eine Apostolische Nuntiatur geben – hieß es –, wenn niemand weiß, ob und was sie in dieser Angelegenheit unternommen hat. Es sei außerdem auch irritierend, meinten die Kritiker, dass der Apostolische Heilige Stuhl mit der für die Atrozitäten verantwortlichen deutschen Reichsregierung weiterhin diplomatische Beziehungen unterhält.21 Die diversen Proteste gegen die kaltherzige Behandlung und Verschleppung der Juden veranlassten Premierminister Sztójay, das Bischofscorps – inklusive Fürstprimas Jusztinián Serédi – am 17. Juni zu einem „Regierungsessen“ einzuladen. Der Fürstprimas nahm die Einladung nicht an, denn er war nicht geneigt, am Tisch einer Regierung Platz zu nehmen, die seine wichtigsten und legitimen Forderungen nicht erfüllt, ja, nicht einmal be19 20 21
Serédi, Jusztinian György (1884–1945), Jurist, Benedektinermönch, Kirchenjurist, Kardinal-Fürstprimas, Oberhaupt der ungarischen katholischen Kirche Chiffriertes Telegramm des portugiesischen Geschäftsträgers Branquinho aus Budapest an das Ministerium für Äußeres in Lissabon Levai, Jenő: Szürke Könyv magyar zsidók megmentéséről [Graues Buch über die Rettung ungarischer Juden] Officina, o. J., S. 41
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antwortet. Ein weiterer Grund für die Absage der Einladung war möglicherweise der am selben Tag eingetroffene Brief des Bischofs von Győr. Apor formulierte darin eindeutig: „Man soll wissen, das Verbrechen darf niemals unterstützt oder gebilligt werden, auch nicht, wenn es von Staatsbehörden verübt wird.“22 Die grausamen Deportationen liefen weiterhin auf Hochtouren. Am 25. Juni schickte Pius XII. an Staatsoberhaupt Horthy ein Telegramm.23 Darin appellierte er im Interesse der jüdischen Menschen an „die edlen Gefühle“ des Reichsverwesers und zeigte sich zuversichtlich, dass Horthy alles tun werde, was in seiner Macht steht, „damit viele armselige Menschen von Trauer und Schmerz verschont bleiben“. Am 27. Juni sandte Rotta durch Genarro Verolino24 auch dem Fürstprimas eine Note mit dem Wunsch des Papstes: „Das ungarische Episkopat sollte sich auch in der Öffentlichkeit für die christlichen Prinzipien sowie für den Schutz der durch Rassenverordnungen ins Unheil gestürzten Landsleute, insbesondere der Christen, einsetzen.“25 Das Rundschreiben des Oberhirten an die Gläubigen, in dem im Namen des Episkopats jede Verantwortung für Entrechtung und Verfolgung abgelehnt wurde, war am 29. Juni fertiggestellt, doch der Postversand wurde von Justizminister István Antal untersagt.26 Es folgten wochenlange zähe Verhandlungen, während täglich Todestransporte mit Juden aus der ungarischen Provinz Richtung Konzentrationslager abgingen. Das Ergebnis der Unterredungen hat weder die Regierungsseite noch Serédi und das Episkopat zufriedengestellt. Nach Sztójay musste die Regierung zu viele Zugeständnisse machen, während der Primas und die Bischöfe das ausgehandelte Ergebnis als unzureichend erachteten. Das Rundschreiben des Episkopats wurde schließlich am 8. Juli 1944 abends, am 9. Juli in der Früh im ungarischen Rundfunk und am 16. Juli von den Kanzeln verlesen. Die Geste hat nur bescheidene Ergebnisse erbracht. Die Budapester Nuntiatur unternahm daraufhin weitere Schritte. Am 6. Juli 1944 kam es zu einer Besprechung zwischen dem Nuntius und dem Ministerpräsidenten. Aus der dieses Treffen vorbereitenden Korrespondenz ist ersichtlich, dass es wieder einmal in erster Linie um die Judenfrage ging. Rotta bediente sich ungewöhnlich harter Worte: Er nannte die ungarischen Geschehnisse „widerlich und schändlich“. Dazu führe es, wenn man die Rassentheorie in die Praxis umsetzt. Besonders verurteilte er das Vorgehen der ungarischen 22 23 24 25 26
Ebd., S. 44 Ebd., S. 21 Verolino, Genarro (1906–2005), Rottas Sekretär, Verwalter der vatikanischen Schutzbriefe und Reisepässe Lévai, a. a. O., S. 45 Antal, István (1896–1975), Staatssekretär für Justiz, ab 1942 Propagandaminister für Landesverteidigung, in der Sztójay-Regierung Justiz- und Unterrichtsminister
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Gendarmerie, das „oft grausam und demütigend“ sei. Er beanstandete auch, dass die Besorgung der von den Juden verlangten Dokumente „auf gewisse Hindernisse und Schwierigkeiten stößt“.27 Rotta ersuchte darum, bestimmte Personen von der Kennzeichnungspflicht, d. h. vom Tragen des gelben Sterns zu befreien. Es handelte sich um die jüdischen Eltern katholischer Priester, ferner die Besitzer kirchlicher (päpstlicher) Auszeichnungen und die Mitglieder des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem (zu letzteren zählten 3–4 Personen). Schließlich schlug Rotta vor, der Reichsverweser Horthy, also das Staatsoberhaupt Ungarns, sollte wie sein slowakischer Amtskollege berechtigt sein, manchen Juden Ausnahmen zu gewähren.28 Vier Tage später, am 10. Juli, ließ Rotta dem Ministerpräsidenten die gewünschte Liste mit Namen und Angaben von 14 konvertierten Juden zukommen. Er bat wieder um die Bevorzugung der fünf genannten Personen und ihrer Familienmitglieder. Sztójay gab den Brief persönlich dem Innenminister Andor Jaross29 weiter, mit der Bemerkung, die nötigen Schritte zur Ausnahmegenehmigung sollten möglichst bald in die Wege geleitet werden. Vermutlich ist die Weisung, die Angelegenheit rasch zu erledigen, auf ausländische Interventionen zurückzuführen, auch wollte man den Nuntius und „den Heiligen Stuhl positiv beeindrucken, was in der gegenwärtigen Situation wünschenswert erscheint“.30 In der Note Nr.1495/1944 (vom 13. Juli) ersuchte die Nuntiatur das ungarische Außenministerium um die Erlaubnis, KZ-Internierte durch das Rote Kreuz mit Lebensmitteln zu versorgen. Die Sztójay-Regierung stimmte „bereitwillig“ zu und beteuerte, „die zuständigen Behörden bereits informiert“ zu haben. In ihrem Brief vom 15. Juli (Nr. 346/Res. Pol – 1944) machte die Regierung weitere große Versprechungen. Unter anderem sollten mehrere Tausend jüdische Menschen sowie jüdische Kinder unter zehn Jahren die Möglichkeit haben, in neutrale oder gar feind27
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Der Ministerpräsident wollte selber Informationen über die Missstände einholen, der Innenminister und der zuständige Oberstleutnant der Gendarmerie hatten gar keine Kenntnis davon. Zur Bearbeitung bzw. Beurteilung der Ausnahmeanträge verlangte Sztójay eine Liste mit Namen und versprach deren Genehmigung, falls es nicht allzu viele Antragsteller gibt. Das Verordnungsblatt Budapesti Közlöny brachte am 22. August 1944 die von Lajos ReményiSchneller unterzeichnete Anordnung 2040/1944. M. E. des königlich-ungarischen Ministeriums über die Berechtigung des Reichsverwesers zur Ausnahmegenehmigung. Jaross, Andor (1896–1946), Politiker der ungarischen Minderheit in der Slowakei. Ab 1936 Landespräsident der Vereinigten Ungarischen Partei, dann rechtsradikaler Kopräsident des Nationalen Verbandes der Gesetzgeber. Als Kriegsverbrecher wurde er verurteilt und hingerichtet. Die Namensliste ist nicht erhalten geblieben. Aufgrund des Datums ging es wahrscheinlich um Budapester Juden. Sztójay hielt übrigens Rottas Wunsch für „ziemlich bescheiden“. In: Vádirat a nácizmus ellen 3. [Anklageschrift gegen den Nazismus 3.] Red. Karsai, Elek, Miok, Budapest 1967, S. 171
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liche Staaten auszuwandern. Auch finanzielle Unterstützung durch das Internationale Rote Kreuz wurde in Aussicht gestellt. Damit wollte man „die humanen und ritterlichen Gefühle“ der ungarischen Regierung beweisen und „die vollkommene Beruhigung“ des Herrn Nuntius erreichen.31 Am 22. Juli wiederholte Sztójay in seinem Brief an Rotta – beinahe als sein Verdienst – die Einstellung der Deportationen. Ferner berichtete er darüber, dass die Judenverordnungen für die zum Katholizismus konvertierten Juden32 künftig nicht mehr gelten. Sie werden in Ungarn interniert und „die Möglichkeit haben, gemäß den Regeln ihrer Kirche ein frommes Leben zu führen“. Die als jüdisch eingestuften Priester und Pfarrer sowie ihre Eltern und anderen Verwandten sollten in Zukunft keinen gelben Stern an ihrer Kleidung tragen müssen und würden auch von den übrigen diskriminierenden Maßnahmen befreit. Mithilfe des Internationalen Roten Kreuzes sollten Insassen der ungarischen Internierungslager unterstützt werden.33 Größere Lager gab es in Kistarcsa, Nagykanizsa, Sárvár und zeitweilig auch in Komárom, kleinere existierten provisorisch in Nordungarn. Die Wachmannschaft letzterer wurde von der Polizei oder der Armee gestellt. Bei Hin- und Abtransporten wurden auch Gendarmen zur Sicherung, Kontrolle und bei Straßensperren eingesetzt.34 In seinem Antwortbrief vom 28. Juli äußerte sich Rotta skeptisch über den tatsächlichen Wert der Erleichterungen. Er beklagte die Obstruktion in den Ämtern; dass die Bearbeitung der Anträge auf Ausnahmegenehmigung verzögert und die Dokumente hin- und hergeschoben werden. Kurzum, die Versprechungen würden gebrochen, die Zugeständnisse seien bei weitem nicht zufriedenstellend. Er habe vonseiten der Behörden so viel Bosheit, ja, „regelrecht einen organisierten Widerstand“ erfahren, dass er zu Recht befürchtete, die in offiziellen Dokumenten festgehaltenen Beteuerungen blieben leere Worte.35 31
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LÉVAI, a. a. O., S. 68. Am 6. Juli meldete Veesenmayer dem Reichsaußenminister, dass der schwedische König und der Papst wegen der Judenfrage neuerlich Telegramme an den Reichsverweser und die ungarische Regierung geschickt haben. Gemäß Verordnung 2540/1944. M. E. vom 12. Juli 1944 wurde die Vereinigung konvertierter Juden Ungarns gegründet. Mitglieder dieser Interessenvertretung gehörten sinngemäß der Vereinigung ungarischer Juden nicht mehr an. Vádirat 3. [Anklageschrift 3.], a. a. O., S. 253 in den hunderten deutschen Konzentrationslagern wurden die bewaffneten Wacheinheiten von der SS und der Sicherheitspolizei gestellt. Ihre Tätigkeit konnten die ungarischen Behörden nicht kontrollieren und schon gar nicht beeinflussen. Lebensmittelspenden des Roten Kreuzes erreichten äußerst selten die Konzentrationslager, und wenn doch, nur für deutsche Propagandazwecke. Die Essenspakete wurden allerdings von der Wache und ihren Handlangern, den Häftlingsfunktionären, geplündert, die Häftlinge selbst hatten so nichts erreicht. Ebd., S. 255. Rotta wusste wahrscheinlich nichts über das Telegramm des Reichsaußenministeriums, das am Vortag, dem 27. Juli, Budapest auf die Fortsetzung der Deportationen drängte. Die
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Am 29. Juli erhielt das Reichsaußenministerium in der Wilhelmstraße in Berlin einen Brief aus Budapest mit dem Stempel „Geheime Reichssache“. Der Absender war der Sonderbeauftragte Veesenmayer, der auf die Evakuierung von 50.000 Budapester Juden „mit sofortiger Wirkung“ drängte. Er hielt diese Maßnahme für äußerst wichtig, „weil die Juden in Budapest wieder frech geworden sind und die Aussetzung der Deportationen dem Ansehen der ungarischen Regierung sehr viel geschadet hat“.36 Zu dieser kniffligen Frage veröffentlichte das Büro des Fürstprimas am 29. Juli 1944 ein Kommuniqué. „Hinsichtlich der derzeit häufigen Anmeldungen zur Taufe werden die Leiter der Pfarreien und Seelsorgeämter von den zuständigen kirchlichen Stellen gemahnt, die Stellungnahme der Kirche zu dieser Frage möglichst gewissenhaft und rigoros zu vertreten. (…) Also mit denjenigen, die sich taufen lassen wollen, soll man mit der nötigen Vorsicht umgehen, die Vorschriften zur Unterrichtsdauer rigoros einhalten. Der festgesetzte Termin des Religionsunterrichts (…) soll so lange verschoben werden, bis der zuständige Taufpfarrer oder dessen gesetzlicher Vollmachtträger sowohl von den nötigen Religionskenntnissen des Kandidaten als auch von dessen ernsten Absichten und aufrichtiger Sehnsucht nach Christus’ Kirche fest überzeugt ist.“37 Der stark engagierte Nuntius, der mit den ungarischen Verhältnissen bestens vertraut war, ließ sich nicht von seinen Vorhaben abbringen. Am 31. Juli 1944 wandte er sich an Justizminister István Antal mit der Bitte, zu einer Information, die bei ihm „arge Bestürzung und tiefes Entsetzen“ hervorgerufen hatte, Stellung zu nehmen. Rotta hatte erfahren, in Kürze sollten etwa 3000 politische Häftlinge in der Festung von Komárom interniert und anschließend ins Ausland verschleppt werden.38 Das wurde im Oktober traurige Realität, obwohl Justizminister Antal am 9. August diese Nachricht gegenüber Rotta dementiert hatte. Im August wurde erneut über das weitere Schicksal der konvertierten Juden gerätselt.39
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Registrierung der sogenannten Judenchristen ging da bereits dem Ende zu. Am 25. Juli berichtete Vizepräsident Sándor Török in einem Brief, „nach viel Leid und Missverständnis“ sei die Vereinigung Konvertierter Juden Ungarns gegründet worden. Ebd., S. 265 Ebd., S. 281 Fenyö, Miksa: Az elsodort ország [Das vertriebene Land], Magvető Könyvkiadó, Budapest 1986, S. 143–144 Die Geschichte der Verschleppung In: Szita, Szabolcs: A komáromi deportálás 1944 őszén [Die Deportation aus Komárom Herbst 1944]. Magyar Auschwitz Alapítvány – Holocaust Dokumentációs Központ Budapest 2002, S. 3–17 Im Primatialarchiv Esztergom wird eine dreiseitige Aufzeichnung ohne Unterschrift aufbewahrt. Unter Punkt 8 mit dem Titel „Besorgnisse für die Zukunft” schrieb der unbekannte Verfasser: „Weit und breit spricht man darüber, dass junge Mädchen sowie arbeitsfähige Männer und Frauen zusammengetrieben werden, um sie ins Ausland zu transportieren. Die fürchterliche Hetze lässt sogar berechtigte Angst vor Pogromen aufkommen.“ Hetényi Varga, Károly: Akiket üldöztek az igazságért [Die ob der Wahrheit Verfolgten], Ecclesia, Budapest 1983, S. 152
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Die zuständigen Ungarn sprachen von Internierungsstätten auf dem Lande, um die Anzahl der Budapester Juden möglichst bald verringern zu können. Die Idee stammte von den Deutschen, denn die „aufs Land vertriebenen“ Juden – nach Sárvár und Kenyérmező40 – konnten von dort leichter verschleppt werden. Innenminister Jaross schlug vor, „durch die Verschonung [der circa 20.000 Konvertierten] die Deportation der übrigen Juden zu ermöglichen“.41 Und er fügte hinzu, die Deutschen würden die Ausreise mancher Juden in die Schweiz oder nach Deutschland erst billigen, wenn die Deportation der Budapester Juden wieder aufgenommen würde. Aufgrund der bevorstehenden Deportationen traf Regierungschef Sztójay am 2. August Vorkehrungen gegen eventuelle negative Auswirkungen der geplanten Aktionen. „Damit die Weltöffentlichkeit die ungarische Regierung auf gar keinen Fall angreift“, gab er scheinheilige Anweisungen: „Jede Form der Brutalität und Privataktionen sollten vermieden werden, die humanitären und hygienischen Aspekte sollen zur Geltung kommen, die Unterbringung der Juden in den Transportwagen soll einwandfrei sein.“ In der ungarischen Sendung des Londoner Rundfunks BBC wurde am 5. August 1944 in den Nachmittagsstunden folgende offizielle Meldung verlesen: Das ungarische Außenministerium informiere die Schweizerische Botschaft in Budapest darüber, „dass der Umgang mit den Juden in mehrfacher Hinsicht gemildert wurde. Aus der Mitteilung folgerten die Engländer, dass Deportation und Zwangsarbeit der ungarischen Juden vorübergehend ausgesetzt worden ist“.42 Damit die Judenfrage „an einem Ruhepunkt anlangt“, unterbreitete Mihály Arnóthy Jungerth am 10. August dem Ministerrat einen Plan. Unter den vorzunehmenden Gesten zur Zufriedenstellung der Deutschen erwähnte er (Punkt I), dass „der Abtransport [der etwa 50.000–60.000 eingesickerten und Galizienjuden] anzubieten wäre“. In der zugespitzten außenpolitischen Lage forderte Arnóthy Jungerth „eine präzise Erklärung des Reichsverwesers“, die die Deutschen vermutlich zu mehr Gegenleistung veranlassen würden. Sie sollten zugeben, dass „die Judenfrage in Ungarn zu ihrer Befriedigung und endgültig abgeschlossen ist, und so würden wenigstens die für Judenangelegenheiten zuständigen SD-Organe das Land verlassen“.43 Er meinte ferner, die Deutschen würden die Ausreiseaktionen genehmigen und garantieren, dass die betroffenen Personen am Leben bleiben.44 40 41 42 43 44
Fantasiebezeichnung, es gibt keine Ortschaft mit diesem Namen. Es ging um weitere Deportationen nach Auschwitz-Birkenau. Vádirat 3. [Anklageschrift 3.], a. a. O., S. 365 Ebd., S. 374–375 Am 11. August wurde im Budapester Außenministerium sogar der Entwurf der deutschen (Antwort)Regierungserklärung (!) verfasst, und man rechnete damit, dass ab dem 28. August ungarische Juden „ausschließlich zwecks Arbeits- und Hilfsdienst” überstellt werden. Ebd., S. 375–376
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Am Erklärungsentwurf wurde eifrig gearbeitet. Die Version vom 12. August 1944 bestimmte die jüdischen Arbeitskräfte, die dem Deutschen Reich zur Verfügung gestellt werden sollten. Das waren „in erster Linie in das Land eingesickerte, nicht in Ungarn geborene Ostjuden“. Als solche galten alle Juden, die nicht beweisen konnten, dass sie selber oder ihre Vorfahren nach dem 1. Jänner 1867 auf dem Herrschaftsgebiet der Heiligen Ungarischen Stephanskrone zur Welt kamen oder dort lebten. Betont wurde außerdem, dass in einem Eisenbahnwagen höchstens 50 Personen (man vermied, wohlgemerkt, die Bezeichnungen Jude oder jüdische Rasse!) transportiert werden dürfen und dass sie während der Fahrt (auf ungarischem Gebiet) von ungarischen Behörden ausreichend versorgt werden müssen. Nicht unerwähnt blieben sogar der Sanitätsdienst und die bereitzustellenden Erfrischungsgetränke (!), „für die das Ungarische Rote Kreuz sorgen wird“ (Letzteres war ein wiederholtes faules Versprechen). Für die bis zum 1. August 1941 konvertierten Juden sollte eine Ausnahme gelten: Diese „bleiben in Ungarn“. Später wurde auch bestimmt, wo genau: „Sie werden in Budapest in einem abgesonderten Viertel leben.“45 Die Budapester Botschaft des Deutschen Reiches bemühte sich – mithilfe von falschen, heimtückischen Versprechungen – um die Fortsetzung der Deportationen, um weitere Arbeitskräfte aus Ungarn. In der vom 21. August datierten Note hieß es zynisch, dass die Versorgung der künftigen Transporte (sprich: der ungarischen Juden) während der Fahrt von dem ungarischen Partner „besonders wünschenswert“ sei. Die ins Reich überstellten Juden sollten unter anderem auch ausreichend Kleidung, Haushaltswaren und Decken mitbringen, sie sollten besonders gut mit Schuhen und möglichst auch mit Strohsäcken versorgt werden. In der Note wurde das „Wohlwollen der Reichsdeutschen“ betont. Die Transporte – nun als ungarische jüdische Arbeitsgruppen und später als jüdische Arbeitsdienstleistende bezeichnet – werden ihren Einsatz „unter günstigen Verhältnissen“ absolvieren.46 Wie ernst die Lage war, zeigt auch, dass der Nuntius für den 21. August 1944 eine Besprechung angesetzt hatte. Eingeladen waren der schwedische Botschafter sowie die Geschäftsführer der Botschaften der Schweiz, Spaniens und Portugals (der türkische Gesandte wurde nicht eingeladen). Besorgt wegen der erneuten, für den 25. August 1944 vorgesehenen Deportationen wollte Rotta eine gemeinsame Protestnote verabschieden lassen. Die Anwesenden waren sowohl mit Rottas Lagebericht als auch mit seinen Vorschlägen einverstanden. Die gemeinsame Protestnote forderte nun im Namen der christlichen Zivilisation die ungarische Regierung mit Nachdruck auf, künftig keine Deportationen mehr durchzuführen. Der Nuntius stellte fest, dass infolge der Dringlichkeit der Angelegenheit keine Zeit mehr bliebe, die zuständigen Regierungen zu konsultieren, und bat die Dip45 46
Ebd., S. 380 Ebd., S. 384
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lomaten, das Dokument unverzüglich vor Ort zu unterzeichnen. Die Note sollte daher nicht im Namen der Regierungen, argumentierte Angelo Rotta, sondern der Gesandtschaften überreicht werden. Diese Lösung haben alle Anwesenden akzeptiert, und eine halbe Stunde später wurde das unterzeichnete Dokument an die ungarische Regierung abgeschickt. Aus einem Telegramm des portugiesischen Geschäftsträgers Branquinho weiß man, dass Reichsverweser Horthy am selben Abend eine Kopie der Note erhielt, und „er werde sie nach glaubwürdigen Informationen der Anwesenden hoch schätzen“. Dass die Budapester Juden vorerst nicht das Schicksal der Juden aus den Komitaten erleiden mussten, ist vermutlich auch dieser Protestnote zu verdanken, doch andere Faktoren – die internationalen Relationen, die aus deutscher Sicht ungünstige Wendung des Kriegs und der plötzliche Frontwechsel Rumäniens am 23. August – spielten dabei sicherlich eine wichtigere Rolle, sodass SS-Führer Himmler47 „jegliche Deportation ins Reich“48 verbot! Die für den 25. August geplante „Konzentrierung und Aussiedlung“ der Juden Budapests blieb vorläufig aus. Anfang September begannen viele Budapester Juden und auf ungarischem Territorium eingesetzte jüdische Zwangsarbeiter im Militärdienst auf ein baldiges Kriegsende zu hoffen. Als Anzeichen dafür galten für sie etwa der Amtsantritt der Lakatos-Regierung, der Zusammenbruch der Deutschen und Italiener auf dem Balkan, die näherkommenden Truppen der Roten Armee sowie die durchgesickerten Nachrichten über den bevorstehenden „Sprung“ – über das Ausscheiden Ungarns aus dem Krieg49. Wie bereits oben ausgeführt, hat die deutsche Besatzungsmacht ihre Ansprüche auf die Nutzung ungarischer jüdischer Arbeitskraft mehrfach (nur scheinbar) herabgesetzt. Am 8. August 1944 berichtete das „Blatt Ungarländischer Juden“ über eine weitere „ritterliche Geste“: Mit Genehmigung der Ungarischen Nationalbank konnte man über jedes Geldinstitut 30 Mark „an Verwandte im Ausland schicken, deren genaue Postanschrift bekannt ist“ (Lebensmittelpakete waren nicht erlaubt).
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Himmler, Heinrich (1900–1945), hochrangiger Politiker der NSDAP, Reichsführer SS, nach Hitler der einflussreichste Leiter der Nationalsozialisten A Wilhelmstraße és Magyarország. Német diplomáciai iratok Magyarországról 1933–1944 [Die Wilhelmstraße und Ungarn. Deutsche diplomatische Dokumente über Ungarn 1933–1944], Kossuth Könyvkiadó, Budapest 1968, S. 900 Führende ungarische Politiker hatten um diese Zeit den Wunschtraum, ohne Verluste, ohne schwerwiegende Folgen aus dem Krieg auszuscheiden. Die Unschlüssigkeit des Reichsverwesers, der Pfeilkreuzlerputsch und der neue Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn am 15. Oktober 1944 führten aber nicht zum gewünschten „Sprung”, sondern hatten einen Regierungswechsel zur Folge.
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Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Meldung des Reichsbeauftragten. Laut Veesenmayer waren Adolf Eichmann und sein Kommando besorgt, weil beängstigend viele Juden über die Grenzen in die Slowakei oder nach Rumänien flohen (die Anzahl der Geflüchteten wurde vom ungarischen Innenministerium – stark übertrieben – auf 100.000 (!) geschätzt). Eichmann betonte dabei seine eigene und die Wichtigkeit seines Sonderkommandos, indem er in Erwägung zog, dass „es durch die bewaffneten Juden eventuell zu Zwischenfällen kommen könnte“.50 Weder die Änderungen an den Fronten noch die Wunschträume der ungarischen Regierung hatten Einfluss auf die deutsche Vorgehensweise. Eine gewisse Entspannung trat ein, als die versierten Vorkämpfer der Rechtsradikalen, die engagierten Befürworter der Ausrottung von Juden etwas in den Hintergrund gedrängt wurden. Die gekündigten Staatssekretäre gaben ihr Ziel jedoch nicht auf, sondern bereiteten mit Veesenmayers klandestiner Unterstützung und Hilfe von deutschen Spionen die Durchführung weiterer Deportationen vor. Selbst in den Botschaften der neutralen Staaten herrschte oft Verunsicherung und Angst. Das Botschaftspersonal jener Länder, die der Sowjetunion die diplomatische Anerkennung verweigert haben, befürchtete Anfang September – wohl zu Recht – das rasche Anrücken der Sowjetarmee. Die Diplomaten erhofften vom Nuntius Schutz, der aber diesbezüglich keine Anweisungen aus Rom erhielt. Rotta versuchte sie zu beruhigen und sagte, er würde – falls die Behörden der sowjetischen Besatzungsmacht damit einverstanden sind – seinen Posten behalten, „da die katholische Kirche in Ungarn über bedeutende moralische und finanzielle Interessen verfügt“.51 Die geübten deutschen Okkupanten stellten nach wie vor eine massive Bedrohung dar, drängten immer stärker auf die Fortsetzung von Deportationen. Die Rettungsaktionen bedurften in dieser Situation neuer, wirksamerer Methoden. Die Apostolische Nuntiatur folgte dabei dem Beispiel der Budapester Gesandtschaften neutraler Staaten und versah ihre Schützlinge mit sogenannten Schutzbriefen. In der Kopfleiste dieser auf Schreibmaschinen hergestellten Dokumente stand NUNCIATURE APOSTOLIQUE EN HONGRIE und darunter war zu lesen: Zweite Ausfertigung52. Die Papiere enthielten Personalien und Adressen der geschützten Personen, die Unterschrift des päpstlichen Botschafters sowie den Stempel der Nuntiatur und das Ausstellungsdatum. 50 51
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Vádirat 3. [Anklageschrift 3.], a. a. O., S. 391 Branquinhos chiffriertes Telegramm vom 8. September 1944, Valóság, Juli/1992, S. 98. In dem aus Lissabon geschickten Telegramm vom 9. September wurde auch erwähnt, dass sich Flüchtlinge im Budapester Botschaftsgebäude Portugals aufhielten. „Durch den Einmarsch der Russen wird sich ihre Situation wahrscheinlich ändern.“ Ebd. Die Erstausfertigungen blieben wahrscheinlich in der Nuntiatur zur Aufbewahrung.
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Wann die ersten Schutzbriefe der Nuntiatur ausgehändigt wurden, ist nicht überliefert. Fest steht allerdings, dass die Ausweise lediglich innerhalb der Hauptstadt gültig waren. Anfang November wurden bereits über 1000 Schutzbriefe verteilt. Es ist nicht bekannt, auf welchen Wegen, aber Fakt ist, dass auch Mitglieder des zionistischen Widerstands in den Besitz solcher Schutzbriefe kamen. Eine israelische Denkschrift hält fest, dass Imre Katz, Mitglied von Hanoar Hatzioni53, von der Nuntiatur solche Dokumente erhielt, mit denen er Juden aus dem zentralen Budapester Ghetto retten konnte.54 Durch die Operation Eisenfaust (auch Unternehmen Panzerfaust) hatte sich die Situation in Ungarn weiter zugespitzt. In den Morgenstunden des 15. Oktober 1944 entführten der SS-Obersturmbannführer Otto Skorzeny55 und seine Kommandoeinheit den Sohn des Reichsverwesers, Miklós Horthy jun., und brachten ihn über Wien ins Konzertrationslager Mauthausen bei Linz. Nachdem das Budaer Burgschloss nach einem kurzen Geplänkel besetzt worden war, fanden die nahen Verwandten des Reichsverwesers Horthy (Ehefrau, Schwiegertochter und Enkelsohn) im nahe gelegenen Gebäude der Nuntiatur Zuflucht. Monsignore Rotta und sein Berater hielten sich zu dieser Zeit gerade auf dem Lande auf. Bei ihrer Rückkehr wurden sie am Eingang der Nuntiatur von einem deutschen Offizier empfangen. Der verblüffte Nuntius erfuhr dann von Veesenmayer, dass der Reichsverweser und seine Familie „die Einladung des Führers annahmen, sich unter dessen Schutz stellten und noch heute nach Bayern abreisen“.56 Der Reichsverweser trat – gezwungenermaßen – von seinen Posten zurück. Die durch die Deutschen initiierte und unterstützte Machtergreifung von Ferenc Szálasi57 und seiner rechtsradikalen Anhängerschaft am 15. Oktober 1944 nahm kaum mehr als ein paar Stunden in Anspruch. Der diplomatische Geschäftsführer Portugals berichtete: „... unter den Diplomaten wird weder der Absage des Reichsverwesers noch dem Glauben geschenkt, dass Herr Szálasi speziell durch diese Geste die Regierung des Landes übernehmen konnte. Tatsache ist aber, dass er regiert.“58 53 54 55 56 57
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Hanoar Hatzioni war eine zionistische Bewegung jüdischer Nationalisten. Gur, Dávid: Együtt az ár ellen [Gemeinsam gegen den Strom], Pesti Kalligram Kft, Budapest 2015, S. 101 Skorzeny, Otto (1908–1975), Offizier der Waffen-SS, zuletzt SS-Standartenführer. Während des Zweiten Weltkriegs leitete er mehrere Kommandoaktionen. Die Familie wurde im Schloss Hirschberg bei Weilheim untergebracht und von der SS bewacht. Szálasi, Ferenc (1897–1946), ehemaliger Major im Generalstab, rechtsradikaler Parteiführer der Pfeilkreuzler. Mit Unterstützung der Deutschen Wehrmacht kam er am 15. Oktober 1944 an die Macht. Während seines Regimes verwandelte er das Land in einen Kriegsschauplatz. Bis zu seiner Flucht nach Deutschland fungierte er als „Führer der Nation“, als „Staatsoberhaupt der Hungaristen“. 1946 wurde er von einem Volksgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Branquinhos chiffriertes Telegramm No L./177 vom 19. Oktober 1944, Valóság, Juli/1992, S. 99
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Über die Mitarbeiter der Budapester Nuntiatur stehen – mangels zugänglicher Dokumente – nur wenige Informationen zur Verfügung, dennoch kann man die Tätigkeit einiger Personen nachzeichnen. So ist bekannt, dass für die Erstellung und Bearbeitung der Schutzbriefe Rottas vertrauteste Gehilfen verantwortlich waren: sein Assistent Verolino, der Universitätsprofessor Dr. Elemér Schwartz und József Cavallier, der auch an der Verteilung der Schutzbriefe teilnahm.59 Nach dem plötzlichen, gewaltsamen Regierungswechsel blieb Rotta nicht untätig. Unverzüglich (am 18. Oktober 1944) schickte er an das vatikanische Staatssekretariat einen ausführlichen Bericht über die entstandene Lage. Er beschrieb darin das Schicksal des Reichsverwesers Horthy und meldete, dass dessen Familie in der Nuntiatur Zuflucht gesucht hatte. Die Hungaristen (Pfeilkreuzler) „nahmen die Verfolgung der Juden erneut mit großer Grausamkeit auf und ermordeten im Chaos der vergangenen Tage recht viele von ihnen“. Der Nuntius war ferner der Ansicht, die ungarische Polizei wie auch ein Großteil der im Land stationierten ungarischen Armee hätten sich auf die Seite der Deutschen gestellt.60 Unter Außerachtlassen des diplomatischen Protokolls und weiterer Vorschriften suchte Rotta den knapp 34-jährigen Außenminister der neuen „Hungaristen“-Regierung Gábor Kemény61 auf. Der mehr als doppelt so alte erfahrene Diplomat des Vatikanstaats „hat eindringlich zur Mäßigung gemahnt“.62 Vergebens. Der Hass wütete weiter, der immer grausamere Terror gehörte zum Alltag. Für das weltweite Ansehen der Apostolischen Nuntiaturen spricht, dass sich in diesen Wochen viele Rabbiner und Vertreter diverser jüdischer Komitees an die Washingtoner Botschaft des Vatikanstaates wandten und um Hilfe baten. Ihres Erachtens wäre in dieser Situation die Einflussnahme des Heiligen Vaters notwendig gewesen: Er sollte sich über Radio Vatikan an das ungarische Volk wenden und die Staatsbürger auffordern, wenn irgendwie nur möglich, jüdische Menschen aufzunehmen und zu schützen. Die Verschlechterung der Lage der ungarischen Juden und die neuerliche Verfolgungswelle waren bereits
59 60 61
62
Saád, Béla: Tíz arckép [Zehn Porträts] Ecclesia, 1983, S. 95 Vádirat a nácizmus ellen 4. [Anklageschrift gegen den Nazismus 4.] Red. Karsai, Elek-Karsai, László, Balassi Kiadó, Budapest 2014, S. 87 Baron Kemény, Gábor (1910–1946), Doktor der Rechte, Stuhlrichter, Verfasser rechtsradikaler Zeitungsartikel. Ab 1941 Leiter der Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten der Pfeilkreuzler-Partei, ab 16. Oktober 1944 Außenminister der Szálasi-Regierung. 1946 in Budapest als Kriegsverbrecher verurteilt und hingerichtet. Napolitano, Matteo Luigi: Budapest igazai. A Soá és a vatikáni diplomaták [Die Gerechten von Budapest. Die Shoah und die vatikanischen Diplomaten], Szent István Társulat, Budapest 2014, S. 98. Gábor Kemény und Angelo Rotta führten zwischen 21. Oktober und 11. November fünf- bis sechsmal Gespräche miteinander.
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sowohl in Washington63 als auch in Rom bekannt. Der Heilige Stuhl schickte Anweisungen nach Budapest. Diesen folgend intervenierte Nuntius Rotta noch energischer gegen die Maßnahmen der Regierung Szalasi. Am 23. Oktober 1944, eine knappe Woche nach der Machtergreifung der Pfeilkreuzler, forderte er für jüdische Frauen in Mischehen die vollkommene Befreiung von antijüdischen Verordnungen. Außerdem sollte der bereits angeordnete Arbeitsdienst (in Wahrheit Zwangsarbeit) jüdischer Frauen – Familienmütter und schwangerer Frauen – nicht eingeführt werden; generell sollten Mütter mit Kleinkindern vom Arbeitsdienst befreit werden.64 Ein weiterer Vorschlag Rottas bezog sich auf Juden, die bereits früher eine Ausnahmegenehmigung erhalten hatten65: Wenn überhaupt, sollten sie an ihrem Wohnort zum Arbeitsdienst eingesetzt werden und danach in ihre Wohnungen zurückkehren können. Auch das ungarische Episkopat wurde aktiv. Der Primas erklärte den 29. Oktober zu einem Bet- und Spendentag zugunsten der Flüchtlinge. Papst Pius XII. schickte an Serédi ein offenes Telegramm, in dem er „den aus religiösen, rassistischen oder politischen Gründen Verfolgung und Gewalt ausgesetzten Personen“ sein Mitgefühl zum Ausdruck brachte.66 Am 21. Oktober 1944 führte der Nuntius mit Ministerpräsident Szálasi ein ausführliches Gespräch. Sie diskutierten mehrere Themen. Rotta interessierte besonders, wie Ungarn bzw. die gegenwärtige ungarische Regierung zur katholischen Kirche stehe, wie der Konfessionsunterricht künftig erfolgen solle und wie die sogenannte Judenfrage demnächst gehandhabt werde. Der Doyen des Budapester Diplomatenkorps intervenierte vor allem – wie auch früher immer wieder bei der Sztójay-Regierung – für das gepeinigte, durch Deportationen dezimierte Judentum.67 Doch rasch stellte sich heraus, dass die Standpunkte unvereinbar waren. Der Regierungschef bezeichnete sich zwar als frommen Katholiken, aber den Glaubensunterricht zählte er zu den Staatsaufgaben, und die gesellschaftliche Ausgrenzung des Judentums nannte er ein unwiderrufliches Faktum, ein nationales Interesse ersten Ranges. Das 19 Seiten starke Protokoll der Verhandlung ist in Verolinos Archiv erhalten geblieben. Dieses Dokument zeigt eindeutig, dass das Schicksal der ungarischen Juden die Kernfrage der Diskussion war. Der Heilige Stuhl überbrachte durch Rotta vier Forderungen an den ungarischen Ministerpräsidenten: Man sollte a) die bestehenden, bisher erteilten Ausnahmegenehmigungen aufrechterhalten, b) die Ausreisedokumente der neutralen Staaten 63 64 65 66 67
Mehrere Budapester jüdische Familien erhielten von christlichen Kirchen der USA Schutzbriefe. MNL OL K 63 1944-43-12. 998 Die Regierung versprach dann, die Ausnahmebestimmungen wieder in Kraft treten zu lassen. Vádirat…4. [Anklageschrift…4.] S. 109–110 MNL OL K 64, 1944, 100.cs, 43. t.
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für die Juden akzeptieren, c) die Gültigkeit der (jüdisch-christlichen) Mischehen anerkennen, die Eheleute nicht zur Trennung zwingen und d) Bewegungsfreiheit für die Bewohner der Judenhäuser gewährleisten.68 Ministerpräsident Szálasi lehnte alle Vorschläge bzw. Forderungen strikt ab. Er betonte, die Aufgabe der Regierung bestehe darin, die ungarische Nation von den Juden zu „befreien“. Assistent Verolino bestritt Behauptungen des Ministerpräsidenten, unter anderem die stereotype Aussage, „ein Jude ändert sich nicht einmal durch die Annahme des Christentums“. Die ablehnende Haltung von Szálasi ließ Rotta nur energischer agieren. Auf seinen Einwand, die Lage in Ungarn sei „nicht von Gott gesegnet“, erwiderte Szálasi, er würde „seine Konfession mehr lieben, als Gottes Namen in die Angelegenheit hineinzuziehen“. Im Hinblick auf die ausländischen Reisepässe stellte er fest, sie werden nur dann akzeptiert, wenn die ausstellenden Staaten Ungarn anerkennen. Das Gespräch mit Szalasi erwies sich als Gespräch mit einem Tauben. Offensichtlich wurde lediglich, dass die humanitäre Absicht des Nuntius, die verbliebenen ungarischen Juden zu retten, kaum zu verwirklichen war und am verblendeten Judenhass des frömmlerischen Ministerpräsidenten scheitern sollte. Doch der diplomatische Vertreter des Vatikans ließ sich nicht entmutigen und unternahm weitere Schritte, um Menschenleben zu retten. Er schlug der ungarischen Regierung vor, Budapest zur offenen Stadt zu erklären, aber auch damit stieß er bei Szálasi auf verschlossene Ohren. Der „Führer der Nation“ wollte die Hauptstadt um jeden Preis verteidigen und predigte Durchhalten, einen heldenhaften Kampf und den baldigen Endsieg. Rotta wartete nicht auf Wunder, sondern begann unverzüglich ein Netz von Budapester Häusern und Institutionen unter dem Schutz des Vatikanstaates auf- und auszubauen. Die motorisierten Einheiten der Roten Armee rückten unterdessen rasch und unaufhaltsam, aus Rumänien kommend, näher. In Budapest spitzte sich die Lage zu. Die Zivilbevölkerung musste viel Leid ertragen. Viele verloren all ihren Besitz und/oder erlitten Gewalt und Willkür. Tausende von arbeitsfähigen Männern und Frauen wurden verschleppt, auch kirchliche Einrichtungen blieben nicht verschont. Das Sondereinsatzkommando Eichmann, dessen Mitglieder sich in Budapester Villen reicher Juden breitmachten, verfolgte das Ziel, jüdische Arbeitskräfte aus Ungarn ins Reich zu dirigieren. Die jüdischen Arbeitsdienstkompanien, die damals noch unter dem Schutz von Gesandtschaften neutraler Staaten standen, kamen hauptsächlich in Budapest zum Einsatz. Da die Güterzüge vorwiegend für militärische Zwecke benötigt wurden, befahl Eichmann ab Anfang November, die Deportationen als Fußmärsche durchzuführen. An der Organisation und Realisierung dieser Aktionen waren ungarische Pfeilkreuzler- und 68
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Armeeeinheiten beteiligt. Die einen schrecklichen Anblick bietenden Marschkolonnen wurden von der Budapester Sammelstelle aus (der Ziegelei an der Bécsi út, der Wiener Straße) in Bewegung gesetzt. In der Ära Szálasi wurde zwischen 22. und 24. Oktober 1944 im Festungssystem von Komárom eine „Haftanstalt“ der Armee eingerichtet. Da die deutsche Besatzungsmacht immer mehr Arbeitskräfte anforderte, funktionierte diese bereits im November als „Durchgangslager“. Unter den Insassen gab es politische Häftlinge und Gemeinverbrecher, verhaftete Angehörige der Kirche69 und bei Razzien festgenommene Roma-Familien, auch Hunderte wegen ehelicher Untreue verurteilte Männer und Frauen, Bergleute aus Tatabánya und Dorog sowie als Partisanen verdächtigte Serben. Das Gefängnispersonal stellte das ungarische Militär. Die SS benutzte das Festungssystem auch als Waffendepot und Eingangslager. Zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit von Häftlingen wurde die in den Konzentrationslagern gängige Verfahrensweise der Selektion angewendet. In Komárom kam es im November allerdings zu keinem Arbeitseinsatz. Die Häftlinge wurden aber in Kategorien eingestuft, und die deutschsprachigen Häftlingskarteien wurden gemäß dieser Einteilung erstellt. Aus Komárom wurden wöchentlich in Güterwaggons zusammengepferchte Häftlingstransporte – im offiziellen Sprachgebrauch „der Abschaum der Gesellschaft“ – in die Konzentrationslager von Buchenwald, Flossenbürg, Dachau, Ravensbrück oder Spandau überstellt. Selbst Frauen mussten Zwangsarbeit leisten – in Fabriken, bei der Holzverarbeitung oder bei Aufräumungsarbeiten. Die meisten von ihnen landeten – ausgemergelt und halb erfroren – im KZ Bergen-Belsen. Die Sorgen des Nuntius Rotta hatten sich bewahrheitet. Auch die innenpolitische Lage verschlechterte sich von Tag zu Tag. Es gab fast keine Ungarn mehr, die gegen die Massendeportationen, gegen die „Säuberung“ Ungarns protestiert hätten. Die Grausamkeit löste bei vielen Niedergeschlagenheit und Furcht aus, selbst verschleppt zu werden. Doch es gab auch christliche Priester und Ordensschwestern, die von den Gräueltaten – etwa den Morden auf öffentlichen Plätzen und am Donau-Ufer – zutiefst erschüttert zur Hilfe und Rettung bereit waren. Sie bestanden nicht auf den amtskirchlichen Vorschriften, also auf einer drei bis sechs Monate dauernden Vorbereitung auf die Taufe – nicht selten begnügten sie sich mit zwei, drei Tagen Religionsunterricht. János Antal, Rektor des Salesianerkollegiums in Rákospalota bot zahlreichen Juden Unterschlupf. Er wurde denunziert und festgenommen, aber auf Intervention von Nuntius Rotta wieder freigelassen. Der katholische Priester Ferenc Bady war ein mutiger Schutzbriefkurier. 69
Unter den in die Sternfestung verschleppten Häftlingen konnte die Identität von sechzehn Geistlichen festgestellt werden. Ihre Inhaftierung hat der Befehlshaber der Sicherheitspolizei u. d. SD in Ungarn und Chef der Einsatzgruppe 6 angeordnet. Szita, a. a. O., S. 10
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Auch Géza Izay verteilte im Auftrag der Nuntiatur Schutzbriefe an die Hilfebedürftigen. Baronin Gizella Apor rettete als Freiwillige des Roten Kreuzes das Leben vieler Verfolgter.70 Nunmehr wurden bei der Menschenrettung neue, effizientere Methoden angewendet. Man versuchte nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Gruppen in Sicherheit zu bringen. Sándor Ujváry71 und seine Kameraden suchten ab Ende Oktober 1944 nach neuen Wegen und Lösungen bei den Hilfsaktionen. Sie bauten Kontakte auf und aus, erkundeten die Sammelstellen der zur Verschleppung bestimmten Budapester Juden und die Routen der Fußmärsche. Am 19. November erhielt Ujváry von der päpstlichen Nuntiatur (Nunciatura Apostolica di Budapest) den Auftrag, die unter Schutz der Nuntiatur stehenden, nach dem Westen verschleppten Juden aufzuspüren und nach Ungarn zurückzuholen. Ujváry setzte seine persönliche Sicherheit aufs Spiel, indem er sich auch von Oberstleutnant der Gendarmerie László Ferenczy72 ein Ermächtigungsschreiben73 verschaffte (der Gendarmerieoffizier war ein alter Bekannter von ihm und handelte wohl aus Berechnung). So verfügte Ujváry bereits über drei Auftragsdokumente; neben den schon erwähnten auch über das des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Durch seinen entschlossenen Auftritt gelang es ihm, seine festgenommenen Mitarbeiter zu befreien. Ein bedeutender Erfolg war, dass er auf dem Budapester Rangierbahnhof Józsefváros 25 Mitglieder der für das Ghetto tätigen Transportgruppe (T-Gruppe)74 unmittelbar vor ihrer „Einwaggonierung“ rettete. 70 71
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Napolitano, a. a. O., S. 113–114 Ujváry, Sándor (1904–1988), Schriftsteller, Journalist, Verleger. 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und inhaftiert. Ihm gelang es, während der Deportation zu fliehen. Er war ein mutiger Menschenretter im Dienst des Roten Kreuzes. Notfalls rettete er mit gefälschten Dokumenten, worüber auch Angelo Rotta Bescheid wusste. Der Nuntius segnete ihn und erteilte ihm auch für seine illegalen Aktionen die Absolution, mit der Begründung, Ujváry hatte Menschenleben gerettet und damit nach Gottes Willen gehandelt. Nach dem Krieg erhielt Ujváry auf Vorschlag des Delegierten vom Roten Kreuz, Hans Weyermann, den Verdienstorden des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Genf. Ferenczy, László (1898–1946), Oberstleutnant der Gendarmerie; ab 1920 gehörte er dem Gendarmeriekorps an. In Kaschau (Košice) war er als Ermittler tätig und hatte die über die Grenze geflüchteten slowakischen Juden festzunehmen. Im Sommer 1944 leitete er die Verschleppung der Juden aus der ungarischen Provinz, später unterstützte er aktiv die Pfeilkreuzler. Vom Volksgericht zum Tode verurteilt, wurde er 1946 hingerichtet. Ferenczy akzeptierte Ujvárys IKRK-Ermächtigungsschreiben und stellte ihm sogar ein weiteres ähnliches Dokument aus, das bestätigte, dass Ujváry als „Verbindungsmann” zwischen der Gendarmerie und dem IKRK fungierte. Mit diesem Papier konnte Ujváry dann die Pfeilkreuzler erfolgreich manipulieren, verunsichern. Er erteilte Anweisungen und Befehle, die in vielen Fällen auch befolgt wurden. Lévay, a. a. O., S. 191 Ebd., S. 188 und 200. Die T-Gruppe bestand aus Hilfsarbeitsdienst leistenden Juden, die in Budapest bei Transporten eingesetzt wurden.
Budapest 1944/45: Bemühungen des Vatikans zur Rettung ungarischer Juden
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Vom Bahnhof Józsefváros wurden die zur Zwangsarbeit bestimmten jüdischen Frauen und Männer in Güterwagen größtenteils an die ungarische Westgrenze zum Bau des „Südostwalls“ gebracht. Die Errichtung dieses langgestreckten Befestigungssystems war militärisch vollkommen sinnlos; die ausgehobenen „Panzergräben“ erwiesen sich beim Vorrücken der Sowjetarmee als veraltet und völlig nutzlos. In dem schneereichen, besonders frostigen Winter 1944 wurden die Häftlinge brutal angetrieben, die kräfteraubenden Bauarbeiten forderten zahlreiche Todesopfer. Die gut organisierten Lebensretter mieteten mit der finanziellen Unterstützung des IKRK-Delegierten Friedrich Born75 Lastkraftwagen. Diese wurden mit dem Abzeichen des Roten Kreuzes versehen, um die Rettungsaktionen glaubwürdig zu gestalten. Aus der Ziegelei sn der Bécsi út gerettete, alte und kranke Juden und Jüdinnen erhielten gefälschte Papiere und wurden unter Berufung auf das Rote Kreuz und die Nuntiatur Budapest in Krankenhäusern untergebracht. Besonders viele Menschen nahmen die Spitäler der Heiligen Elisabeth und der Barmherzigen Brüder auf; das Pflegepersonal wusste meist über die wahre Identität der Kranken Bescheid.76 In den letzten Monaten des Jahres 1944 haben sich Beauftragte des Roten Kreuzes und junge jüdische Widerstandskämpfer große Verdienste erworben, indem sie ganze Gruppen aus Kinderheimen retteten und die Kleinen mit Lebensmitteln versorgten. Bei dieser aufopferungsvollen, äußerst riskanten Tätigkeit war ihnen Gábor Sztehlo77 behilflich. Dieser evangelische Pfarrer beteiligte sich auch an der Befreiung des Zionistenführers Ottó Komoly78 und dessen Mitstreiter aus dem Pfeilkreuzler-Haus in der Kapás-Straße79. Doch es gab auch niederträchtige, hasserfüllte Menschen, die sich auf die Seite der Verfolger, Erpresser und Beutejäger stellten. Diese empfanden angesichts der Leiden ihrer Mitmenschen kein Mitgefühl, sondern grenzenlosen Hass: Gegen die wenigen Ausnahmeregelungen oder die Milderung der Repressionen, auch gegen die erworbenen Taufscheine 75 76 77
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Born, Friedrich (1903–1963), Schweizer Wirtschaftsdiplomat. Zwischen Mai 1944 und Juni 1945 IKRK-Delegierter in Ungarn Lévay, a. a. O., S. 193 Szthelo, Gábor (1909–1974), evangelischer Pfarrer. Zur Zeit der Schreckensherrschaft rettete er 2000 Menschenleben. Eines der geretteten Kinder war György Oláh, der 1994 den Nobelpreis für Chemie erhielt. In Budapest erinnert eine Büste an den Pfarrer, der 1972 in Jerusalem mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde. Komoly, Ottó (1892–1945), Ingenieur, herausragender ungarischer Zionisten-Politiker. Ab 1943 Vorsitzender des Budapester Hilfs- und Rettungskomitees. Am 1. Januar 1945 wurde er von den Pfeilkreuzlern ermordet. Die Pfeilkreuzler-Partei besetzte zu unterschiedlichen Zwecken (Sitz, Versammlungssaal, Sammelstelle für Raubgut, Arrest) in jedem Budapester Stadtbezirk mehrere Gebäude. Diese wurden „Pfeilkreuzler-Häuser” genannt. Über die Befreiung der IKRK-Mitarbeiter Ottó Komoly, Kálmán Tisza und István Földes in: Lendvay, a. a. O., S. 199
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protestierten sie heftig. Ende 1944 wurde von solchen Fanatikern das Kontrollkomitee für Judentaufe ins Leben gerufen. Sie erklärten in einem Kommuniqué die in Budapester Ghettos gesperrten Juden zu ihren größten Feinden. Die Massaker an den Juden wurden bis in den Januar 1945 fortgesetzt. Es ist nicht auszuschließen, dass die ungarischen Pfeilkreuzler-Banditen alle „Ghetto-Juden“ erbarmungslos niedergemetzelt hätten. Dass es nicht dazu kam, ist den Truppen der Roten Armee zu verdanken. Am 8. Januar vertrieben sie die Wehrmachtseinheiten und ihre ungarischen Verbündeten aus Pest, dem Budapester Stadtteil am linken Donauufer. Die Budapester Vertretung des Heiligen Stuhls Vatikan stand den nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht in Lebensgefahr geratenen Juden bei. In Ungarn fanden die Aktionen der Nuntiatur, das Leben vieler Verfolgter zu retten, in den vergangenen Jahrzehnten kaum Beachtung. Die vorliegende Studie bestätigt durch unzählige, bisher unbekannte Angaben und Tatsachen, dass ungarische kirchliche Amtsträger und Zivilpersonen tausende Verfolgte – unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit – durch Schutzbriefe gerettet haben. Die Lebensrettung wurde von Angelo Rotta und Genarro Verolino geleitet. Jahrzehnte später wurden beide in Jerusalem mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Übersetzerin: Agnes Tasnadi.
Gedenkarbeit im Umfeld von Mauthausen, betrachtet im Kontext europäischer Erinnerungskultur Peter Gstettner
Der weltberühmte israelische Schriftsteller Amos Oz sagte einmal in einem Interview, das die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ am 28. 10. 2004 veröffentlichte: „Du kannst die Vergangenheit ignorieren, aber die Vergangenheit ignoriert dich nicht. Du kannst entweder davonlaufen oder dich umdrehen und auf sie zurückschauen, aber du kannst sie nicht ausradieren. (…) Man muss nicht zum Sklaven der Vergangenheit werden, aber in diesem Teil Europas muss man niederknien und die Vergangenheit auf die Schulter laden. Dann kann man hingehen, wo immer man will.“1 Ich stelle dieses Zitat an den Anfang meiner Abhandlung, weil hier jemand über Europa spricht, der von diesem „alten“ Kontinent abstammt. Weil die Familiengeschichte von Amos Oz eine europäische Geschichte ist, spricht er auch zu uns, wenn er meint, wir sollten uns unserer Vergangenheit stellen und die daraus erwachsende Verantwortung auf unsere Schultern laden – nicht als „Sklaven“, denen vorgefasste Meinungen aufgeladen werden, die sie dann „abarbeiten“ müssen, sondern als freie, selbstbestimmte Menschen, die sich das Wissen über die NS-Zeit in öffentlichen Debatten aneignen und die gegen Schweigen und Verleugnen auftreten, wenn das Recht auf Aufdeckung der Wahrheit beschnitten wird. Amos Oz verstarb im Dezember 2018 mit 79 Jahren. Er hat sich als Schriftsteller und politischer Aktivist zeit seines Lebens für Menschenrechte und friedliche Konfliktlösungen eingesetzt. Er hat die Verantwortung für die Geschichte und Geschicke seines Landes und der Menschen in Europa auf seine Schultern geladen und dabei den „aufrechten Gang“ auch denen gezeigt, die ihn als „Verräter“ an der „zionistischen Sache“ bezeichnet haben. Seine „Sache“ war es, den Dingen auf den Grund zu gehen und den Menschen „die Straßenlichter anzumachen, um ihnen die Realität unserer Leben zu zeigen“ – so der damalige israelische Staatspräsident Rivlin in seiner Trauerrede bei der Beisetzung von Amos Oz.2 1 2
Amos Oz im Gespräch mit Gisela Dachs in: „Die Zeit“, 28. 10. 2004 Zitiert nach „Israelnetz“, 02.01.2019, „Amos Oz beigesetzt; aufgerufen am 02.03.2020
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Auch in Österreich gibt es international bekannte Schriftsteller/innen, die, insbesondere seit der sogenannten Waldheim-Debatte, den „ausgetretenen Pfad des Vergessens in umgekehrter Richtung beschreiten: vom Vergessen zurück ins Erinnern“.3 Dazu gehören Ruth Beckermann, Thomas Bernhard, Peter Handke, Elfriede Jelinek, Eva Menasse, Gerhard Roth, Peter Turrini u.v.a. Sie haben diesen Weg beschritten, der mühsam zu gehen war, weil er bestenfalls nur biographische Brücken von der erlebten Vergangenheit, der eigenen Kindheit in die heutige Gegenwart der Schreibenden anbietet. Für die in Wien geborene Ruth Klüger bedeutet dies allerdings, dass eine unüberbrückbare Kluft den Weg zertrennte, denn die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren für sie „eine Zeit der Falschheit“. In diese Zeit fiel der Beginn der „Wohlstandsjahre“, in denen man versuchte, alles zu glätten und zu vergessen, vor allem die unangenehmen Erlebnisse und die Erinnerungen an die NS-Zeit. „Erinnerung ist immer unverdaulich“, sagt Ruth Klüger und meint damit nicht nur die geschriebene und erzählte Erinnerung, sondern auch die Orte, die mit ambivalenten Erinnerungen besetzt sind, Orte, die einem vertraut und unheimlich zugleich sind. Wien ist für sie wegen dieser ambivalenten Gefühle so eine unverdauliche Kost, weil die Stadt mit der Grundbefindlichkeit von „Heimat“ nicht mehr übereinstimmt. Die frühere Stadt ist ihr fremd und unheimlich geworden: „Neulich war ich in der Lindengasse, in der Gegend, in der ich als Kind gelebt habe. Die Vertrautheit mit den Gassen, der untrügliche Orientierungssinn war mir zugleich unheimlich. Wien ist für mich keine warmherzige Stätte, ich könnte mir nicht vorstellen, permanent hier leben zu müssen, obwohl ich gern zu Besuch komme. Ich muss mich stets vergewissern, dass ich hier wieder wegkomme.“ 4 Es ist vor allem die Nachkriegsgeschichte, die Österreich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in besonderer Weise „auszeichnet“. Claus Gatterer, der Südtiroler Journalist und Publizist, der seit 1948 in Österreich lebte und zwischen Österreich und Südtirol/Italien pendelnd kritische, bilaterale Medienarbeit machte, hat in seinen Tagebüchern eine interessante Beobachtung verzeichnet, die nicht im Widerspruch zur oben zitierten Empfindung von Ruth Klüger („Erinnerung ist immer unverdaulich“) steht. Gatterer charakterisiert die österreichische Erinnerung als eine „ungeheure politische und ideologische Verdauungsfähigkeit“. Österreich habe Schönerer und Hitler verdaut und ausgeschieden, es habe überhaupt alle Extremismen in sich aufgenommen und ausgeschwitzt. Diese Fä3 4
Klara Obermüller: Literarische Archäologie Österreichs. In: Hosemann, Jürgen (Hrsg.) 2011, S. 88 Ruth Klüger im Interview mit Petra Rathmanner „Erinnerung ist immer unverdaulich“ in der Wiener Zeitung vom 6. 8. 2010, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/zeitgenossen/39980-Ruth-Klueger, aufgerufen am 02.03.2020. Ihr Buch „Weiter leben. Eine Jugend“ (München 1993) gehört heute zur Standard-Lektüre in den österreichischen Schulen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen.
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higkeit sei „das Geheimnis des österreichischen Mittelmaßes (…) und der Halbheit in allen Modedingen sozialer Art“.5
1. War die Waldheim-Debatte ohne Folgen?
In diesem Sinn kann auch die spezifisch österreichische Waldheim-Debatte aufgefasst werden, die nicht mit der Aufdeckung von Waldheims lückenhafter Erinnerung als sozialer Schock begann, sondern als eine internationale mediale Polit-Show, die erst allmählich von den österreichischen Politikwissenschaftler/innen und Historiker/innen zu jenem ernsthaften Thema gemacht wurde, das in Österreich gewissen Kreisen noch lange Zeit „Verdauungsschwierigkeiten“ bereitete. Heute füllt der Inhalt dieser Debatte viele Regale in den angesehensten europäischen Bibliotheken. Nicht alle diese Bücher hatten für die praktische Erinnerungsarbeit die gleiche Relevanz, zumal die meisten Initiativen zu Beginn ihre Überzeugungskraft nicht aus dem Lesen und Referieren von Büchern renommierter Fachhistoriker/innen, sondern aus den Gesprächen mit Zeitzeug/innen bezogen. Bei allen mir bekannten Gedenkstätten waren es Basisinitiativen der Zivilgesellschaft, Bürgerinitiativen und Geschichtswerkstätten, die das Erbe der Zeitzeugen-Erinnerungen übernahmen und den verbalen Polit-Bekenntnissen, wie „Niemals vergessen“, „Wehret den Anfängen“ usw., konkrete Aktivitäten entgegenstellten. Die Zeitzeug/innen halfen ihnen anfangs beim Wiederentdecken der vergessenen Tatorte. Sie gaben den Initiativen den Auftrag: „Das müssen eure Lernorte der Zukunft werden!“ So lernten die jungen Initiativen unter anderem auch, die Konnotationen jener überkommenen Erinnerungszeichen zu entschlüsseln, die von der Tätergeneration als „Heldendenkmäler“ in jeden Friedhof und auf jeden Dorfplatz eingepflanzt wurden. Sie lernten die mentalen Barrieren der Kriegsgeneration kennen, die sich am nachhaltigsten gegen die Aufklärung der Nazi-Verbrechen verwahrte, besonders aber die Schuld an jenen Massakern abstritt, die in den letzten Monaten und Wochen des Zweiten Weltkrieges quasi „en passant“ unmittelbar im eigenen Dorf, im eigenen Stadtteil, in der eigenen Straße stattfanden. Die Beispiele für die Verbrechen in der Endphase des für die Nazis schon längst verlorenen Krieges sind zahlreich. Im Burgenland gehört das Massaker beim Kreuzstadl in Rechnitz dazu, bei dem 180 ungarische Juden und Jüdinnen in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 erschossen wurden, in der Steiermark das Massaker am Präbichl vom 8. 5
Zitiert nach einer Einladung des Republikanischen Clubs – Neues Österreich zu einer Lesung aus den Tagebüchern von Claus Gatterer am 11. 3. 2020; das Zitat stammt aus einer Tagebucheintragung C. Gatterers vom 3. Juni 1982.
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April 1945, das im Verlauf des Todesmarsches ungarischer Juden und Jüdinnen nach Mauthausen stattfand, in Niederösterreich das Massaker vom 6. April 1945 in Krems-Stein an der Donau, als im größten Gefängnis der „Ostmark“ bereits freigelassene Häftlinge wieder aufgegriffen und erschossen wurden, in Kärnten das Massaker am Peršmanhof vom 25. April 1945, bei dem 11 Zivilpersonen, unter ihnen 7 Kinder, die am Bauernhof einer kärntner-slowenischen Familie weilten, ermordet wurden, und in Mauthausen selbst die Jagd auf die aus dem Todesblock des Lagers am 2. Februar 1945 ausgebrochenen Häftlinge, die während der „Mühlviertler Hasenjagd“ erschossen wurden. Was unsere Generation bis heute beschäftigt, ist die Frage: Warum war die Verdrängung dieser Verbrechen aus dem Gedächtnis der Bevölkerung am nachhaltigsten?6 Eine Erklärung dafür könnte die räumliche und zeitliche Nähe zum jeweiligen heimatlichen Umfeld gewesen sein. Die eigentlichen Kriegsschauplätze waren ja weit weg und nicht unmittelbar erfahrbar, jetzt aber, in der Endphase des Krieges, geschahen Mord und Totschlag vor der eigenen Haustüre. Der „Feind“ war gleichsam vorgerückt und jetzt für jedermann sichtbar und greifbar geworden. Vielleicht wurden diese Verbrechen auch deshalb so rasch „vergessen“, weil sie nicht so ohne weiteres den deutschen Nazis in die Schuhe geschoben werden konnten, waren doch die Morde oft von militärisch nicht organisierten oder von untergeordneten und kurzfristig einberufenen Paramilitärs, von lokalen Volkssturmmännern, Hitlerjungen und Hilfspolizisten begangen worden. Dass sich Bekannte, Nachbarn, Mitbürger, die sonst als unpolitische Bystander nie aufgefallen waren, „im letzten Gefecht“ als fanatische Mittäter an Massenmorden beteiligt haben, muss ein moralischer Schock gewesen sein, der zur Verdrängung der schrecklichen Realität führte. Und erst viel später dürfte die Einsicht gedämmert haben, wie schnell humane Orientierungen, wie Gerechtigkeit und Mitgefühl zu Bruch gehen und in ihr Gegenteil umschlagen konnten.
2. Die Neutralisierung der Vergangenheit
Wenn es richtig ist, dass jede Erinnerungsarbeit zum Ziel hat, der „Neutralisierung der Vergangenheit“ entgegenzuwirken und die Löschung der Geschichte durch Erinnern und Gedenken aufzuhalten, dann wäre es hoch an der Zeit, dass Österreich eine Kehrtwendung in seiner offiziellen Erinnerungspolitik vollzieht. Voraussetzung dafür wäre, radikale 6
Vgl. dazu beispielhaft meinen Beitrag „Erinnerungsarbeit entlang flüchtiger Spuren: Der Todesmarsch über den Päbichl 1945. In: Halbrainer, Heimo/Ehetreiber, Christian (Hrsg.) 2005, S. 171– 184
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Konsequenzen aus der Einsicht zu ziehen, dass die Nachkriegszeit eine „Zeit der Falschheit“ (Ruth Klüger) war und dass die heute wieder vorherrschende Erinnerungspolitik keine wahre Alternative zum damaligen politischen Bestreben ist, Österreich als „erstes Opfer“ Hitler-Deutschlands zu definieren. Die Tendenz der Nachkriegszeit, sich rasch mit den ehemaligen Nationalsozialisten auszusöhnen, hat heute Parallelen in den Versuchen, neofaschistische Organisationen und nationalistische Parteien als dem „demokratischen Verfassungsbogen“ zugehörige Partner zu akzeptieren und ihnen Regierungskoalitionen anzubieten. Damit bekommt der Neofaschismus die Chance, gemeinsam mit den Regierenden die kollektiven Verdrängungsleistungen so zu steuern, dass die NS-Vergangenheit entschärft und die Geschichtsschreibung zu einem nebulosen Täter-Opfer-Gemisch wird. Unter dem Deckmantel der staatstragenden Parteien wird sodann die „Löschung der belasteten Vergangenheit“ so weit betrieben, bis die in den Lagern oder auf den Todesmärschen ermordeten Menschen als anonyme Opfer irgendwelcher „Kriegswirren“ erscheinen. Letztlich werden die Opfer wieder an die Peripherie des gesellschaftlichen Gedächtnisses gedrängt, die Verbrechensorte und Massengräber, so vorhanden, bekommen den Status von zu vernachlässigenden Gedenk- und Erinnerungsorten, welche als Brachland und später als unbelastetes Weide- oder Bauerwartungsland am „freien“ Immobilienmarkt zum Kauf angeboten werden. Die Subjekte der Erinnerung werden damit nochmals zu Objekten politischen Handelns. Ihre Geschichten kommen allenfalls noch als historische „Sachverhalte“ in den Reden, Erklärungen und Pressemeldungen anlässlich von offiziellen Gedenktagen vor. In der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur rangieren solche Fehlentwicklungen einer Gesellschaft, die die Geschichten und Leidensorte von NS-Opfern „unsichtbar“ macht, unter dem Terminus „sekundäre Viktimisierung“. Dieses Konzept umfasst alle ignoranten und verletzenden Verhaltensweisen, die den Opfern und ihren Nachkommen nochmals vor Augen führen, dass die NS-Gewalttaten zu bagatellisieren und die Folgen von Diskriminierung und Verfolgung zu vernachlässigen sind. Diese Argumentationsmechanismen werden in Gang gesetzt, damit sich die Opfer selbst Schuldvorwürfe machen und ihr Glaube an eine gerechtere Gesellschaft der Zukunft unterminiert wird. Die sekundäre Viktimisierung zieht als Nebeneffekt nach sich, dass die auf den scheinbar unverletzlichen Fundamenten ruhende Leistungs- und Wohlstandsgesellschaft endgültig verfestigt wird. Alle Gesellschaftsmitglieder sollen in ihrem Glauben bestärkt werden, man müsse sich nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft schultern, um im harten Konkurrenzkampf um Macht und Einfluss bestehen zu können. Um bei dem Bild von Amos Oz zu bleiben: Den etablierten Vertretern der Gesellschaft, die sich auch für die entsprechende „message control“ verantwortlich fühlen, sind die Gesten des Niederkniens und des Schulterns der Vergangenheit unbekannt. Diese Eliten glauben zu wissen, was für den Weg nach oben qualifiziert: die Fähigkeit, die eigene Vergangenheit und das Leid anderer zu ignorieren,
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auch über Leichen zu gehen, wenn es sein muss, um „zukunftsfit“ zu sein. Dieser Habitus gehört zum Repertoire der sekundären Viktimisierung, weil er den Opfern, den Verfolgten und Internierten nochmals vor Augen führt, dass sie ihren Opferstatus zu Unrecht in Anspruch nehmen, denn heute gelte das Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied!“ Die Nachkriegsgesellschaften glaubten offenbar, sich im Wege der sekundären Viktimisierung einen moralischen Vorteil erarbeiten zu können: Man brauchte nun die Fakten der verbrecherischen Vergangenheit nicht mehr explizit zu leugnen, es genügte, wenn man bei der nachträglichen Deutung des Geschehens die „Gnade der späten Geburt“ geltend machte und die Absicht der „Versöhnung“ in die Auslage stellte. Ruth Klüger, die als Kind das KZ Theresienstadt und die Lager Auschwitz und Groß-Rosen überlebt hat, sieht hinter dieser Strategie die Absicht, die „neue Zeit“ dafür zu nutzen, die Last der Kriegsschuld abzuschütteln, um wieder demonstrativ an der „Stärkung der eigenen moralischen Überlegenheit“ arbeiten zu können. Das klare Benennen des Unrechts und die ungeklärten Fragen nach Schuld und Sühne werden in den Abstellraum der Geschichte oder in die dunklen Keller der Vergangenheit verbannt. Die Erinnerung daran, dass die Strategien der Viktimisierung diejenigen zutiefst verletzten, die bereits vor mehr als 75 Jahren schon einmal zu bedrohlichen „Volksfremden“ erklärt wurden, wird heute oft vergessen. Auch die Folgen dieser Strategie, die in eine tödliche Eiszeit der Gefühle und in eine Eskalation der Gewalt geführt haben, werden verdrängt. Es ist kein Zufall, dass die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger davon spricht, Wien sei für sie keine „warmherzige Stadt“. Diese Wortwahl lässt darauf schließen, dass für sie das heutige Wien mit ihren damaligen Erlebnissen zu einer „tödlichen Eiszeit der Gefühle“ verschmolzen ist.
3. Das Vergessen und der Kreislauf der Angst
Wolfgang Sofsky schrieb schon vor Jahren, dass der Preis des Vergessens sehr hoch ist. Eine staatliche Ordnungsmacht, die ihr politisches Handeln auf nationalen Egoismus, Ellenbogenmentalität und Machterhalt stützt, verbreitet nicht nur Angst, sondern verstärkt die Gewaltbereitschaft aller. In seinem historisch-analytischen „Traktat über die Gewalt“ schrieb Wolfgang Sofsky: „Erneut kehrt die Angst zurück, steigt an, wechselt Grund und Form. Die Gewalt schwindet mitnichten, sie ändert nur ihr Gesicht. (…) Das Regime der totalen Ordnung schafft den Untertan, den Konformisten, den Außenseiter – und das Menschenopfer, das dem Gott des Staates dargebracht wird.“7 7
Wolfgang Sofsky 1996, S. 13
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Wer an dieser Stelle nicht nur an die „Menschenopfer“ denkt, die das NS-System gefordert hat, das ja auch einen extremen Typ von staatlicher Ordnungsmacht verkörperte (vgl. Bauman 1992), sondern auch an die anonymen „Menschenopfer“, die heute Woche für Woche an den Stränden Libyens, Griechenlands und Italiens angespült werden, der hat sich zumindest ein Sensorium für die zeitlose Verletzlichkeit des Menschseins bewahrt. Die Menschenopfer, die der „Festung Europa“ und dem Mittelmeer dargebracht werden, gehen nicht nur zulasten der korrupten und kriminellen Regierungen der Herkunftsländer, sondern auch zulasten jener westlichen staatlichen Ordnungsmächte, die fundamentale Menschenrechte missachten. Gegen die globale Verdrängung dieser „Wohlfahrtsstaaten“ anzukämpfen, kann eine Entwicklungsstrategie sein, das menschliche Bewusstsein für das Humane, für die Würde des Menschen zu einer neuen Wachheit zu erwecken. Gelingen wird dies freilich nur dann, wenn sich diese Bewusstseinsentwicklung nicht abstrakt vollzieht, sondern innerhalb konkreter Handlungsfelder und einer „Ethik des Mitgefühls“, die sich auf die Lebenden und die Toten bezieht. Denn „wo kein Grab ist, hört die Trauerarbeit nicht auf. Oder wir werden wie die Tiere und leisten gar keine. Mit Grab meine ich nicht eine Stelle auf einem Friedhof, sondern das Wissen um das Sterben, den Tod eines Nahestehenden“.8 Die „Ethik des Mitgefühls“ kann nicht neutral gegenüber dem menschlichen Handeln sein. Sie zwingt uns, eine Entscheidung zu treffen: aufseiten der Opfer die Stimme zu erheben oder für das Schweigen der Täter Partei zu ergreifen. Der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat dies für sich so entschieden. In seinem Buch „Gesang der Toten. Erinnerungen und Zeugnis“ schreibt er: „Dass die Welt über Auschwitz sehr wohl Bescheid wusste und trotzdem schwieg, das ist der Grund, warum ich geschworen habe, nie zu schweigen, wann immer und wo auch immer menschliche Wesen leiden und Erniedrigung aushalten müssen. Wir müssen immer Partei ergreifen. Neutralität hilft immer dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Schweigen ermuntert den Folterknecht, niemals den Gefolterten. Manchmal müssen wir direkt eingreifen. Wenn menschliche Leben bedroht sind, wenn die menschliche Würde in Gefahr ist, dann werden nationale Grenzen und Empfindlichkeiten irrelevant. Wo immer Männer oder Frauen verfolgt werden wegen ihrer Rasse, ihrer Religion oder ihrer politischen Anschauungen, dieser Ort muss – im selben Moment – der Mittelpunkt des Universums werden.“9 Beim Lesen dieses Buches bekam ich zum ersten Mal eine Idee davon, dass die primär Viktimisierten auch eine besondere Sensibilität für mögliche sekundäre Viktimisierungen anderer haben. In diesem Sinne hätte Elie Wiesel, wenn er noch leben würde, unseren 8 9
Klüger 1993, S. 94 Zitiert nach Elie Wiesel 1989, S. 179
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politischen Eliten wahrscheinlich gesagt: „Lasst die Toten von Mauthausen und Auschwitz mit eurem Bemühen um ‚Aufarbeitung‘ und ‚Wiedergutmachung‘ in Ruhe. Kümmert euch lieber um die Gegenwart. Die Welt weiß doch Bescheid, was da gegenwärtig in Europa läuft. Es gilt Stellung zu beziehen und die zu bekämpfen, die alles Vergangene vergessen wollen, auch die ungezählten Toten ohne Namen, die Europa im Mittelmeer untergehen lässt … Engagiert euch für das öffentliche Gedenken an jenen Orten, wo die Nachkommen der Opfer heute noch immer keinen angemessenen Ort für ihre Trauer haben. Oder wisst ihr vielleicht einen besseren Ort, der heute Mittelpunkt eurer ‚Erinnerungsarbeit‘ sein könnte?“ Zugegeben, wir wissen keinen besseren Ort. Deshalb waren es in Österreich von Anfang an zwei Organisationen der Zivilgesellschaft, die „Lagergemeinschaft Mauthausen“ und das „Mauthausen Komitee Österreich“ (MKÖ), die dafür kämpften, dass die Orte und Schicksale, von denen die Nachwelt sich ein Gedächtnis bilden sollte, einen bleibenden Erinnerungswert erhalten. Eine Vielzahl von selbständigen, politisch unabhängigen Initiativen bildete sich in der Folge an den Orten der ehemaligen Mauthausen-Außenlager. Sie setzen sich dafür ein, dass den anonym gemachten Toten, denen die Gesellschaft bislang sowohl Grabsteine als auch würdige Gedenkorte verweigert hat, ein „Ehrenplatz“ eingeräumt wird.10 Diese Initiativen sind es, die die Gesellschaft unermüdlich daran erinnern, was eigentlich jede zivilisierte mitteleuropäischen Gesellschaft in höchstem Maße irritieren müsste: Da gibt es im Herzen Europas, in Österreich, eine „Kulturnation“, die sich in der NS-Zeit mehr oder weniger an allen Naziverbrechen beteiligt hatte und die sich nun den Anschein gibt, als seien die ehemaligen Mordstätten „unschuldige“ Wiesen- oder Waldflächen, auf denen ganz „normale“ Schrebergärten- oder Bungalowsiedlungen, Betriebsgebäude oder Wohnhäuser gebaut werden. Es mag schon stimmen, dass viele dieser Orte noch einer wissenschaftlichen Erforschung oder einer archäologischen Untersuchung bedürfen, um ihre Geschichte mit Beweisen abzusichern. Dass es dabei Schwierigkeiten gibt und selbst kleine wissenschaftliche Sondierungen der Erlaubnis des Grundeigentümers und der Finanzierung durch die öffentliche Hand bedürfen, ist ebenfalls klar. Es darf aber heute schon prognostiziert werden: Selbst wenn alle empirischen Ergebnisse vorlägen, würde es nichts an den Fakten und ihrer „Wahrheit“ ändern. Denn unumstößliche Wahrheiten und hundertfach bezeugte Tatsachen bedürfen keiner zusätzlichen empirischen Evidenz. Wenn die gesellschaftliche Einsicht vorherrscht, hier muss einem zivilisatorischen Grundbedürfnis nach Erinnerung 10
Die Projekte von Künstlern wie Georg Eisler, Adolf Frohner, Alfred Hrdlicka u. a. haben schon früh in der Erinnerungsarbeit des MKÖ eine, wenn auch viel zu wenig bedachte Rolle gespielt. Die Ideen dafür und die publizistischen Umsetzungen stammten zumeist von Prof. Wolfgang J. Bandion.
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entsprochen werden, dann kann auf zusätzliche Beweisführungen für die Motive und Umstände der Massenmorde verzichtet werden. Denn „Grabsteine erinnern nicht nur an den Tod, sie erzählen vor allem davon, dass und wann die Toten gelebt haben und dass sie den Lebenden fehlen. Ohne Grabsteine, auf denen ihre Namen stehen, bleiben sie die, zu denen man sie vor über 75 Jahren gemacht hat: Ausgestoßene“.11
4. Die erinnerungslose Zeit hat keine Zukunft
Noach Flug, Überlebender von Auschwitz und Groß-Rosen, der im Mai 1945 im Mauthausen-Außenlager Ebensee befreit wurde, sagte am 23. Juni 2010 als Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees in seiner Rede im Deutschen Bundestag anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages: „Die Erinnerung, meine Damen und Herren, ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig, und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen, und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum, und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären.“12 Der damals 85-jährige Holocaust-Überlebende Noach Flug beendete seine Ansprache mit einem persönlichen Appell an die junge Generation: „Die jungen Menschen bitte ich, unsere Erinnerungen aufzunehmen in ihre Räume und in ihre Welt, damit sie heute und in Zukunft Sensibilität für aktuelles Unrecht entwickeln, wo auch immer und gegen wen auch immer es geschieht.“ Dieses Zitat untermauert meine Prognose: Die Zukunft des Gedenkens wird weder von tagespolitischen Entscheidungen noch von einer noch ausstehenden empirischen Untersuchung abhängen, sondern von der ethisch-moralischen Einstellung unserer Gesellschaft, von einer Haltung, die sich letztlich in sichtbaren Formen der Parteinahme für eine würdige Form des Erinnerns an die Opfer des mörderischen Rassenwahns wird manifestieren müssen. Dieses normative Postulat geht davon aus, dass es nicht unsere eigenen Erinnerungen an Erfahrenes, Gelerntes und Gelesenes sind, die uns die Kriterien für das Erinnerungswerte liefern. Es sind die politischen Entscheidungen, die sich pragmatisch auf eine be11
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Zitat von Waltraud Barton (2014), Initiatorin des Vereins www.IM-MER.at, der sich erfolgreich für eine würdige Gedenkstätte für die in Maly Trostinec ermordeten österreichischen Juden und Jüdinnen eingesetzt hat. Zitiert nach dem Internet-Eintrag https://www.auschwitz.info/de/essentials/wichtige-reden/2010noach-flug.htm; aufgerufen am 02.03.2020; zitiert auch in der Gedenkrede des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff für den am 8. August 2011 verstorbenen Zeitzeugen Noach Flug.
Stephan Hilge, Vergasung, Ätzung und Zuckertusche auf Kupfer – Siebdruck, 1998
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stimmte Geschichtsversion stützen und festlegen, welche Orte zu Stätten der kollektiven Erinnerung werden. Eine Konsequenz daraus ist folgende: Die bestehenden Denkmäler und Gedenkorte repräsentieren keine neutralen historischen Fakten, sondern rekonstruieren und kodieren historische Ereignisse in Form von gesellschaftlich angebotenen Deutungen. Zu diesen in Stein gemeißelten Monumenten verhalten wir uns dann individuell verschieden, z. B. emotional oder intellektuell, distanziert oder „betroffen“. Zwei Dinge sollten jetzt klarer geworden sein. Erstens: Der gesellschaftliche Kontext, in dem die politische Entscheidung, was erinnert werden soll, getroffen wird, ist durch unser Wissen und durch unseren Willen kaum beeinflussbar. Anders ausgedrückt: „Es geht also wieder einmal nicht nur einfach um das Gedächtnis, sondern um die staatlich sanktionierte Erinnerung an das Gedächtnis.“13 Zweitens: Es ist das wahrnehmende Subjekt, das in jedem Fall eine Position bezieht. Diese Position wird irgendwo zwischen genauem Hinschauen und raschem Wegschauen geformt und zwischen Betroffensein und Nichtheranlassen als „Meinung“ gefestigt. Die Positionierung gilt als ein Gradmesser für das persönliche Nahe- oder Distanzverhältnis des Subjekts zu den dargestellten Szenen oder erzählten Geschehnissen. Diesen Zusammenhang zu verstehen ist wichtig, denn er impliziert: Durch das passive Betrachten von Denkmälern oder durch den Besuch von ehemaligen NS-Tatorten kommt nicht „automatisch“ historisches Wissen und schon gar nicht eine adäquate Erinnerungskultur zustande. Das involvierte Subjekt muss sich immer interaktiv mit der Präsentationsform des Dargebotenen verbinden. Deshalb sind sowohl die Erinnerungen an die Vergangenheit wie auch das Vergessen von Vergangenem immer aktive Aneignungsprozesse des Subjekts, weil offenbar jedes Geschehen im Gedächtnis des Menschen auf noch unerforschte Weise mentale Spuren, manchmal auch materielle Relikte an Ort und Stelle, hinterlässt, Spuren, die auch auf Verborgenes bzw. Unsichtbares hinweisen. Dabei spielt der psychologische Faktor „Zeit“ eine herausragende Rolle. Die Zeit begünstigt nicht nur das Vergessen, sondern verändert auch die Wahrnehmung der Vergangenheit, indem sie die „Asymmetrie zwischen Real- und Rezeptionsgeschichte“ verstärkt, wodurch sich leichter „Erfahrungs- und Deutungszäsuren“ ausmachen oder einebnen lassen.14 So kann es vorkommen, dass die verflossene Zeit die NS-Tatorte neutralisiert und eine Vielzahl peripherer oder damit nicht in Zusammenhang stehender Ereignisse und Orte im Bewusstsein vorschaltet. Was wir konkret an Erinnerungsorten zu gestalten versuchen, z. B. Denkmäler oder Kunstwerke zu installieren, geschieht also gegen den Zeitfluss und gegen den „Zeitgeist“, der immer wieder einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen will. Dieser 13 14
Zitat aus Levy, Daniel/Sznaider, Natan 2001, S. 277 Sabrow 2009
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„Zeitgeist“ rechnet mit dem Umstand, dass die Zeit, die zwischen den Verbrechen und der Erinnerung liegt, lang ist und immer länger wird. Im Alltag sprechen wir oft von der Zeit, die vergeht bzw. die vergangen ist, mit einem nostalgischen und ehrfurchtsvollen Unterton. Zum Beispiel: „Vorbei ist vorbei. Was geschehen ist, ist geschehen. Lassen wir die Toten ruhen. Lenken wir den Blick auf die Zukunft“ usw. Dadurch entsteht das Gefühl, dass „Zeit“ per se etwas Positives und Kostbares wäre, das nicht leichtfertig verschleudert werden darf. Das Positive resultiert auch aus der weitverbreiteten Meinung, die Zeit würde alle Wunden heilen. So wird die verflossene Zeit scheinbar zum Bündnispartner einer Politik, die sich mit der Vergangenheit aussöhnen will, indem sie das „heilsame Vergessen“ propagiert. Es ist eine verhängnisvolle Illusion, der sich eine „sanitäre Gesellschaft“ gerne hingibt, dass die Wunden der Vergangenheit durch die erinnerungslose Zeit „geheilt“ werden. Diese Illusion lässt sich auch politisch aufrechterhalten und ideologisch verwerten, denn die Täter geraten dadurch aus dem Blickfeld. Es sind also die Täter selbst, sagt der österreichische Schriftsteller Jean Améry, Überlebender von Auschwitz, Buchenwald und BergenBelsen, die erreichen wollen, dass die Zeit möglichst still und heimlich vergeht und dass ihre Taten und die Tatorte aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden. Mit dem Zeit-Argument soll die schuldhafte Verstrickung der Tätergesellschaft in die NS-Verbrechen zum Nicht-Thema werden. Einmal entthematisiert, brauchen sich die Täter der Unmoral und Unmenschlichkeit ihrer Taten nicht mehr zu stellen. Das stille Verstreichenlassen der Zeit, so Jean Améry15, begünstigt also nicht nur das Vergessen, sondern arbeitet auch der Unmoral der Tätergesellschaft in die Hände. Die Gesellschaft „vergisst“ ihre dunkle Vergangenheit und lässt sich freisprechen von jeglicher Schuld. Dass sie damit auch gleichzeitig etwas Wesentliches vergessen hat, nämlich die schmerzliche Arbeit an der Erinnerung auf sich zu nehmen, fördert sowohl das Leben mit Gedächtnislücken als auch das mit einem scheinbar „reinen Gewissen“. Und alle Manöver der eigenen Schmerzvermeidung begünstigen die Viktimisierung anderer.16 Auch das ehemalige KZ Mauthausen bzw. die heutige Gedenkstätte wird vom „Zeitgeist“ bedrängt. Der „Zahn der Zeit“ und die Modernisierung haben auch diesem Gedenkort, der zwar nach 1945 nie völlig aus dem österreichischen Gedächtnis verschwunden ist, stark zugesetzt. Was Mauthausen als KZ-Areal einmal war, lässt sich heute kaum mehr denken, geschweige denn nachempfinden. Von den Gebäuden und Liegenschaften, die in der Expansionsphase zu dem riesigen KZ- und Steinbruchbetrieb gehörten (Donauhafen, Straßen, Bahntrassen, Rampen, SS-Wohnanlagen und Garagen, Werkstätten, Schießstätten, Aschenhalden, Zeltlager u.v.a.m.), blieb letztlich nur ein kleiner Teil erhalten. Auf 15 16
Jean Améry 1977 Vgl. dazu ausführlicher mein Buch „Erinnern an das Vergessen“ (Gstettner 2014)
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dem Areal, das 1947 der Republik Österreich als „Denkmal Mauthausen“ von den Alliierten übergeben wurde, begann der Abverkauf bald danach. Auch in den folgenden Jahren fanden noch Bestandsveränderungen statt, sei es, weil Häftlingsbaracken nicht vor dem Verfall gerettet werden konnten oder an anderen Orten gebraucht wurden, sei es, weil noch vorhandene SS-Baracken dem „Denkmalpark“ oder dem neuen Besucherzentrum weichen mussten.17 Die große Zahl der Toten, in Mauthausen waren es von 1938 bis 1945 ca. 110.000, beschäftigt die Phantasie der Besucher ebenso wie die Orte der anonymen Massengräber. Die Tatsache, dass die meisten Massengräber erst durch Bestattungen und Umbettungen nach 1945 entstanden sind und die Toten trotzdem „namenlos“ blieben, lässt die Frage aufkommen, wie nachlässig, vertuschend und pietätlos die Nachkriegsgesellschaft mit den KZ-Toten umgegangen ist. Diese Frage stellt sich nicht nur in Mauthausen, wo die Gräberfelder annähernd genau registriert wurden, sondern verstärkt bei den Außenlagern und anderen NS-Mordstätten, wie z. B. bei den Euthanasie-Anstalten und Gestapo-Gefängnissen, alles Orte, die zum Teil nicht einmal mit Gedenktafeln gekennzeichnet sind. Wo sind die Toten begraben? Und vor allem: Wer waren die Mörder und wer waren die Opfer? Was haben sie erlitten, wie haben sie ums Überleben gekämpft und warum haben sie diesen Kampf verloren?
5. Erinnerungsarbeit muss Grenzen überschreiten
Bestimmte Regionen und Orte können mit einem Übermaß an verdrängter Geschichte belastet sein. In Kärnten sind es die gesellschaftlich bevorzugten Geschichtsumdeutungen, die zusätzlich dazu beitragen, dass NS-Massenverbrechen sukzessive verharmlost werden. In einem ersten Schritt wird dem Holocaust das Prädikat der Einzigartigkeit abgesprochen. In Kärnten gehört zu dieser Strategie etwa die Aufrechnung der Verbrechen der Nazis mit den „Verbrechen der Anderen“. So bekommen die Verbrechen der Nazis auf einmal ein Pendant. Die Befreiung vom Nazismus erscheint jetzt doppelbödig, denn unterschwellig wird stets die Frage in den Raum gestellt, ob zum Beispiel der Befreiungskampf der Partisanen nicht ebenso viel Leid über die Menschen in Kärnten und Slowenien gebracht hat, wie die deutsche Besatzungs- und Terrorherrschaft. Als Beweis dafür dienen oft „Orte mit doppelter Vergangenheit“. Auch in Kärnten bzw. in den ehemals deutsch besetzten Gebieten von Slowenien (Untersteiermark und Oberkrain) gibt es „Orte mit doppelter Geschichte“. Das sind Orte, an denen zu verschiedenen Zeiten verbrecherische 17
Vgl. zur Entwicklung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen die Studie von Bertrand Perz 2006
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Taten geschahen, zumeist von Vertretern unterschiedlicher totalitärer Systeme. Für einige dieser Orte ist es typisch, dass ihre Geschichte nur im jeweiligen nationalen Kontext erzählt wird – entweder als Geschichte der NS-Verbrechen oder als Geschichte der Nachkriegsverbrechen. Die Geschichte von Begunje, die den Leser/innen dieses Beitrags vermutlich unbekannt ist, soll etwas ausführlicher dargestellt werden: Begunje (deutsch Vigaun), ein kleiner slowenischer Ort knappe 30 Autominuten südlich vom Loiblpass, war ab 1941 zugehörig zu dem vom damaligen Kärntner SS-Gauleiter Friedrich Rainer verwalteten Gebiet der Oberkrain. Hier, im Norden Sloweniens, lag von 1941 bis 1945 das für die deutsch besetzte Zone zentrale Gestapo-Gefängnis. In einer ehemaligen Schlossanlage aus dem 16. Jahrhundert, dem „Schloss Katzenstein“, das bis zum Überfall Hitler-Deutschlands auf Jugoslawien als Frauengefängnis und psychiatrisches Krankenhaus diente, inhaftierte die Gestapo Menschen, die sie für Mitglieder oder Sympathisanten des slowenischen Widerstandes hielten, insgesamt über 12.000 Männer, Frauen, Kinder und Greise. Alle Verdächtigen wurden zunächst als Geiseln gefangen genommen, unter Folter verhört und dann Tage und Wochen bezüglich ihres Todesurteils oder ihrer Freilassung im Ungewissen gelassen. Die Mehrzahl der als Geiseln gefangenen Häftlinge (über 800) wurde im Gefängnis selbst oder im Wald eines nahen Tales ermordet. Heute erinnern dort Gedenksteine und Gedenkplätze an die Massaker. Ungefähr 1.000 Gefangene wurden in das KZ Mauthausen deportiert, mehrere Dutzend direkt in das Mauthausen-Außenlager am Loiblpass. Mehr als 5.000 Häftlinge wurden in andere deutsche Konzentrationslager verschleppt. Am 4. Mai 1945 gelang es einer Partisaneneinheit nach zweitägiger Belagerung, die zuständige NS-Gefängnisverwaltung von Begunje zur Kapitulation zu bewegen und 632 Gefangene zu befreien.18 Ab 1946 diente das Schloss Katzenstein als Polizeischule, und heute beherbergt es wieder eine psychiatrische Krankenanstalt. Der von einer hohen Mauer umgebene Garten, in dem sich mehrere Massengräber befinden, wurde nach dem Krieg zu einer Gedenkstätte umgestaltet. Das Geisel-Museum von Begunje wurde im Todeszellentrakt des ehemaligen Gestapo-Gefängnisses eingerichtet und 1960 eröffnet. Was den Besucher/innen nicht gezeigt wird und was auch nicht in den dort aufliegenden Schriften steht, ist die Nachkriegsgeschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das Schloss Katzenstein bis Jahresende 1945 den siegreichen Partisanen als „Straf- und Besserungsanstalt“ für Gegner des neuen Regimes und für ehemalige mutmaßliche Nazianhänger. Auch 43 Österreicher/innen aus Kärnten sollen dort festgehalten worden sein. Wie viele von ihnen nicht mehr heimkehrten, ist nicht bekannt. Der NS-Oberbürgermeister von Klagenfurt/Celovec und seine Familie sollen jedenfalls in Begunje zum letzten Mal 18
Vgl. dazu die systematische protokollartige Arbeit von Stane Sinkovec über das Gestapo-Gefängnis von Begunje von 1941 bis 1945 (deutsche Übersetzung 2014)
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lebend gesehen worden sein, ebenso der Südkärntner Nazi-Bürgermeister von Ferlach/ Borovlje. Vermutlich wurden die amtsbekannten NS-Gefolgsleute in Begunje oder in anderen jugoslawischen Haftlagern erschossen. Die meisten der mutmaßlichen slowenischen Gegner der neuen Machthaber wurden entlassen oder an andere Orte zur „Umerziehung“ verbracht. Die europäische Perspektive, die sowohl übernationalen Erinnerungskulturen als auch länderspezifischen Widerstandstraditionen einen relativ breiten Raum einräumt, blieb in allen Fällen wissenschaftlicher Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Bundeslandes außerhalb des engen „patriotischen“ Gesichtsfeldes. Die unter einem ethnischen Gesichtspunkt verfasste Geschichtsschreibung der slowenischen Volksgruppe in Kärnten fand bisher auch keinen Anschluss an das „europäische Widerstandsgedächtnis“. All das macht verständlich, dass in einer so selektiv konstruierten Erinnerungslandschaft leicht politische Meinungen gedeihen können, wie sie in Kärnten – und nicht nur hier – immer wieder geäußert werden. Solche Äußerungen reichen von der Leugnung der Existenz von Gaskammern bis zu kleineren Verharmlosungen von NS-Verbrechen und augenzwinkernden Zweideutigkeiten, wie sie etwa die These von der „Selbstbefreiung Kärntens“ darstellt.19 Fassen wir zusammen: Das offizielle österreichische Opfergedenken, das sich schwerpunktmäßig auf Mauthausen bezieht, hat bisher weder alle Außenlager erreicht noch sich den „kleinen Verbrechen am Rande“, den unsystematischen Morden am Straßenrand, am Dorfplatz, an der Friedhofsmauer, im Polizeirevier, im Gefängniskeller, im Krankenzimmer usw. zugewandt. Bis zu einem gewissen Grad blieben aber gerade diese Mordgeschehen im Gedächtnis der lokalen Bevölkerung präsent, denn so abseitig konnten die Tatorte gar nicht sein, dass nicht im Unterbewusstsein der Menschen das Faktum erhalten blieb, dass „der Mann von nebenan“ auch ein Mörder gewesen sein konnte. Was vor allem die Mauthausen-Außenlager im Süden Österreichs betrifft, so steht des Weiteren noch aus: Jenseits der empirischen Beweislast, die bei historischen Recherchen und Gerichtsprozessen eine Rolle spielte, wird heute von den politischen Instanzen verlangt, eine moralische Position zum vergangenen Geschehen einzunehmen. Dies gehört jedenfalls zu den pädagogischen Zielen jeder Erinnerungsarbeit. So eine Position sind wir den Menschen schuldig, die in der NS-Zeit „bis in ihre letzten Lebenssekunden Haltung, Konsequenz, Verantwortung und Mut zeigten. Um diese Menschen zu ehren, errichten wir Denkmäler und Gedenkstätten. Denn wir wollen uns ins Gedächtnis rufen, wie rasch der Schritt in die Diffamierung und Verfolgung des Andersdenkenden getan ist. Wir erinnern uns nicht, um unser Gewissen zu beruhigen oder uns selbst zu rechtfertigen, sondern 19
Vgl. dazu meinen Beitrag „Die Legende von der Selbstbefreiung Kärntens. In: DÖW-Jahrbuch, Wien 2006, S. 80–105
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weil wir wissen, dass wir es selbst sind, die zur Gefahr des Anderen werden können. Deshalb ist jedes Denkmal eine Frage an uns, ein Stachel in unserem Fleisch.“20 Die freien Erinnerungsinitiativen zeigen, dass man sich durchaus auch für Taten verantwortlich fühlen kann, an denen man nicht beteiligt war und die schon mehrere Generationen zurückliegen. Wenn dieses Verantwortungsgefühl auch Handlungen nach sich zieht, an denen sich wiederum andere Jugendliche orientieren können, so ist das Resultat oft die Ausweitung von Empathie und Engagement auf unbekannte „Fremde“, die in der Mitte unserer Gesellschaft das Schicksal von heimatlosen Flüchtlingen und asylsuchenden Obdachlosen erleiden müssen. Auch wenn dieses Phänomen vielleicht mit der Gründung von Gedenkstätten und Erinnerungspfaden wenig zu tun hat, so steht das Engagement der jungen Leute doch in Opposition zu den zentralen politischen Vorgaben, die sich eher am „Zeitgeist“ und Verdrängungsbedarf der Mehrheitsgesellschaft orientieren. Die Vergangenheit, die – bewusst oder unbewusst, intentional oder zufällig – unserer Bearbeitung entzogen wurde, ist eine schwere Hypothek, denn diese Vergangenheit lässt sich nicht einfach beiseiteschieben oder entsorgen. Sie liegt als Aufgabe des bewussten Aneignungsprozesses noch vor uns. In diesem Sinne könnte man von der Vergangenheit als von einer „unbearbeiteten Wildnis“ sprechen, von einem unfruchtbar gemachten Brachland, das sich mit der Zeit unmerklich und unaufhaltsam ausbreitet. Die bewusste und gezielte Bearbeitung der Vergangenheit bedeutet dann die Umwandlung dieses Brachlandes in jene Erinnerungskulturlandschaft, die sich jene aneignen können, die etwas zur Gestaltung der Zukunft beitragen wollen. Nach diesem Bild wäre dann die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ ein Schritt, die Wildnis wieder bewohnbar zu machen. Genügsamkeit und Selbstzufriedenheit sind auf diesem Weg untaugliche Begleiter, da sie die Einsicht negieren, wie tief die unbewältigte Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht. Marlene Streeruwitz schrieb dazu: „Wir wuchsen im besetzten Österreich auf, wie es in unseren Lehrbüchern dann hieß und in den Lehrbüchern der Alliierten Befreiung genannt wird. Die Väter waren aus dem Krieg als Verlierer zurückgekommen. Hatten die Rolle des Eroberers, Verteidigers, Beschützers nicht erfüllen können. Die Eltern hatten zugesehen, wie die Juden abgeholt worden waren. Und dann war das falsch gewesen. Viel Schuld. Wenig Schuldbewusstsein. Und uns war alles verschwiegen worden. Auf die Bedrohung durch das Nichtgesagte gab es nur Angst. Entsetzliche Angst. Lebensbestimmende Angst. Und die Entscheidung, zu wem man gehören wollte, zu denen, die abholen, oder zu denen, die abgeholt wurden. (...) So bleibt Angst erhalten. So wird sie erhalten. Zur Konstruktion eines Anderen, das im Zaum gehalten werden muss. Gebändigt. Angst ist der Klebstoff für Masse. Angst garantiert sprachlose Verständigung in der Einigung auf einen Feind. Und 20
Steinbach 2003, S. 20
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irgendwann dann. Wenn die Angst gut erlernt ist, dann kann man auf die Jagd gehen. Und sie genießen. Ungeniert.“21 Es ist keine einfache Aufgabe, dem gesellschaftlichen Druck irgendwelcher von oben verordneten Denk- und Handlungsmuster zu widerstehen und ihnen nicht blind zu folgen. Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit, dass sich durch eine richtige erinnerungskulturelle Wegführung die Chance zum Erfahrungsmachen eröffnet, wie wir durch unser eigenes Handeln in die gegenwärtige Welt verstrickt sind, wie wir mit unseren Mitmenschen besser umgehen können und wie wir trotz „dunkler Vergangenheit“ auch heute Fremdes positiv empfinden können und in die eigene Lebenswelt zu integrieren vermögen. Wenn wir uns die Vergangenheit in der geschilderten Art und Weise aneignen können, so kommt uns die dunkle Vergangenheit schon ein Stück heller vor. Und alle, die nur Bedrückendes und Unbewältigtes über das in der Kindheit Erlebte berichten können, werden über die Verflochtenheit von Vergangenheit und Gegenwart anders befinden, als unsere Vorfahren dies konnten. Dann könnte sich Österreich in der Erinnerungslandschaft Europas neu positionieren und aus dem Kreislauf von schuldhaftem Handeln, von Mundtotmachen und Schweigen, von fehlender Angstbewältigung, von aufkommendem Fremdenhass und totalem Kontrollbedürfnis befreien. Das wäre auch das Ende der sekundären Viktimisierung, das Ende der Wiederkehr der Angst vor neuen „Besetzungen“ und der Beginn der wirklichen Befreiung, die darin besteht, niemals wieder ungeniert auf „Treibjagd“ gehen zu wollen oder so einer Jagd zusehen zu müssen.
Literatur Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne, Stuttgart 1977 Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992 Gstettner, Peter: Die Legende von der Selbstbefreiung Kärntens. Alte Töne und neue Varianten am Rande des Gedankenjahres 2005. In: DÖW-Jahrbuch „Erinnerungskultur“, Wien 2006, S. 80–105 Gstettner, Peter: Erinnern an das Vergessen. Gedenkstättenpädagogik und Erinnerungspolitik, Klagenfurt/Celovec 2012 Halbrainer, Heimo/Ehetreiber, Christian (Hrsg.): Todesmarsch Eisenstraße 1945. Terror, Handlungsspielräume, Erinnerung: Menschliches Handeln unter Zwangsbedingungen, Graz 2005 Klüger, Ruth: Weiter leben. Eine Jugend, München 1993 21
Streeruwitz 2000, S. 132
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Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001 Obermüller, Klara: Literarische Archäologie Österreichs. In: Hosemann, Jürgen (Hrsg.): Die Zeit, das Schweigen und die Toten. Zum Werk von Gerhard Roth, Frankfurt/M. 2011, S. 75–89 Perz, Bertrand: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006 Sabrow, Martin: Erinnerungsorte der DDR, München 2009 Sinkovec, Stane: Das Gestapogefängnis von Begunje/Vigaun in Oberkrain 1941–1945, Klagenfurt/Celovec 2014 Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Frankfurt/M. 1996 Steinbach, Peter: Die Enthausung des Menschen. In: Heesch, Johannes/Braun, Ulrike (Hrsg.): Orte erinnern: Spuren des NS-Terrors in Berlin, Berlin 2003, S. 10–22 Streeruwitz, Marlene: Alles, was falsch ist. In: Österreich. Berichte aus Quarantanien, Frankfurt/M. 2000, S.123–133 Wiesel, Elie: Gesang der Toten. Erinnerungen und Zeugnis, Freiburg 1989
Juristische Vergangenheitspolitik oder: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Rechtsanwendung Ulrich Wagrandl
1. Einleitung
Das Niemals vergessen, dem unser Jubilar Wolfgang Bandion sein Leben gewidmet hat, hat neben der eminent politischen auch eine rechtliche Seite. Denn die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Europa und das Wachhalten der Erinnerung an deren Opfer ist nicht nur angewandte Geschichtsforschung, sondern auch eine Form der Vergangenheitspolitik, die in einem liberalen und demokratischen Staat notwendig ist und die im Medium des Rechts stattfindet. Naheliegendes Beispiel waren die Kriegsverbrecherprozesse, in denen Geschichtswissenschaft und Rechtsanwendung eine augenfällige Verbindung eingegangen sind. Aber nicht nur auf der Ebene individuell-konkreter Rechtsfindung (das Aburteilen einzelner Taten und einzelner Menschen), sondern auch auf der Ebene genereller Rechtssetzung findet diese Art der Politik statt. Nicht nur müssen die Urteile, mit denen Kriegsverbrecher bestraft werden, auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, sondern auch die Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft müssen gesetzlich geregelt werden, z. B. die Kriegsopferversorgung, die Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung, die Restitution geraubten Vermögens, die Rückkehr von Vertriebenen, die Entfernung belasteter Personen aus ihren Machtstellungen usw. Alle diese Materien verlangen politische Entscheidungen, die in ihrer Gesamtheit Vergangenheitspolitik ausmachen: Wie hoch sind die Entschädigungen, wer bekommt sie, wie einfach oder schwerfällig sind die Verfahren, welche politischen Parteien werden von den von dieser Regelung Begünstigten gewählt, welche Partei wählen die hievon Ausgeschlossenen? Daneben gibt es aber auch Gesetze, deren Hauptzweck und Sinn es ist, Vergangenheitspolitik zu sein, und die man als memory laws bezeichnen kann.1 Es geht um Gesetze, die unmittelbar regeln, wie über Geschichte gesprochen werden darf, welche Erinnerungen erwünscht sind, und welche nicht. Dies ist bei den Gesetzen gegen Holo1
Vgl. zum Thema allgemein Law and Memory. Towards Legal Governance of History, ed. Uladzislau Belavusau und Aleksandra Gliszczyńska-Grabias (Cambridge: 2017)
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caust-Leugnung, die in den 1980er und 1990er Jahren aufkamen, noch recht unproblematisch, da ihre Zielsetzung die Bekämpfung des neonazistischen Antisemitismus ist. In den letzten Jahren erlebt diese Art des Umgangs mit Geschichte aber eine „Hochkonjunktur“, die im jüngst beschlossenen polnischen Gesetz gipfelt, das es verbietet, die vom Deutschen Reich in Polen errichteten Konzentrationslager als „polnische KZ“ zu bezeichnen.2 Während dieses Anliegen verständlich sein mag, ist die angedrohte strafrechtliche Sanktion fragwürdig, und auch die vermutete Absicht, Polen wolle seinen eigenen Beitrag zum Holocaust herunterspielen, gibt zu denken. Überdies bezweckt das Gesetz kaum den Schutz der Holocaust-Opfer, sondern dient vielmehr polnisch-nationalistischen Zielen. Den memory laws in ihrer Stoßrichtung strukturell ähnlich sind die Lehrpläne, aufgrund derer der Geschichtsunterricht in den Schulen stattzufinden hat und die natürlich auch Rechtsakte sind (nämlich Gesetze und Verordnungen). Auch das ist ein weites Feld für geschichtspolitische Absichten. Vom typisch Rechtlichen schon weit entfernt, aber klarerweise oft in Rechtsform institutionalisiert sind schließlich öffentliche Erinnerungsveranstaltungen (wie Gedenktage, Denkmäler, Museen usw.). Dieser Beitrag will sich daher dem Verhältnis von Geschichte und Recht widmen, genauer gesagt erkunden, wie Geschichtswissenschaft und Rechtsanwendung im Kontext der Vergangenheitspolitik zusammenwirken, aber auch auseinandergehen. Dabei nimmt das Recht hier eine schillernde Rolle ein. Gegenüber der Geschichte wird es zumeist passiv gedacht, in dem Sinne, dass das Recht geschichtlichen Entwicklungen unterliegt oder den Gegenstand historischer Forschung bildet. Die andere Seite der Medaille ist aber, die aktive Rolle des Rechts zu erkennen, das nicht nur Teil von Geschichte ist, sondern unser Verhältnis zu ihr steuert. Durch die Linse der Vergangenheitspolitik wird es möglich, diese Doppelrolle adäquat zu beschreiben. Aber auch die Grenzen des Zusammenwirkens beider Herangehensweisen sollen behandelt werden, insbesondere mit einem Fokus auf die Fälle, in denen das Recht legitime geschichtspolitische Erwartungen enttäuscht.
2. Was ist und wozu dient Vergangenheitspolitik?
Um das Verhältnis von Recht und Vergangenheitspolitik zu beleuchten, ist es notwendig, kurz darzustellen, was hier unter Vergangenheitspolitik verstanden wird. Die begriffliche Vielfalt in diesem Feld ist groß: Geschichtsbewusstsein, Geschichtsbilder, Geschichtskultur, Erinnerungskultur, Vergangenheitsbewältigung, Geschichtsaufarbeitung, Vergangenheits2
Vgl. z. B. Aleksandra Gliszczyńska-Grabias und Wojciech Kozłowski, „Calling Murders by Their Names as Criminal Offence – a Risk of Statutory Negationism in Poland“, Verfassungsblog, 1. 2. 2018
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politik und Geschichtspolitik bieten sich für unser Thema an. Manuel Becker hat hierzu eine eindrucksvolle theoretische Auseinandersetzung vorgelegt.3 Im Einzelnen ist fraglich, ob jedem dieser Begriffe ein eigener Anwendungsbereich gegeben werden muss oder ob nicht ihre analytische Kraft unter zu viel Kleinteiligkeit leidet. Daher werden diese Konzeptionen in dieser Arbeit mitunter synonym verwendet. Für das weitere Vorgehen schließe ich mich Beckers Definition von Vergangenheitspolitik an. Er führt zunächst aus, dass dieser Terminus in der Forschung recht einhellig für die spezifisch juristische Behandlung der Hinterlassenschaft eines vergangenen Regimes verwendet wird; wie also vor Gericht und im Gesetz mit den Folgen insbesondere des Nationalsozialismus umgegangen wird.4 Dies trifft sich mit Norbert Freis Verwendung des Begriffs, der ihn auf die spezifische juristische Behandlung von Naziverbrechern in der Bundesrepublik der 1950er Jahre anwendet.5 Erhellend ist aber auch Beckers übergreifende Formulierung von Geschichtspolitik, deren Teil Vergangenheitspolitik ist. Er geht unter anderem von der normativen Prämisse aus, dass Geschichtspolitik auch in liberalen Demokratien stattfinden kann und darf, es sich also nicht bloß um ein Legitimationsinstrument autoritärer Regime handelt. Legitimation ist denn auch die erste Funktion von Geschichtspolitik, und es ist klar, dass sich die Nachfolgestaaten Hitler-Deutschlands hauptsächlich über den Bruch mit diesem Regime definieren („Niemals wieder“). Damit zusammen hängt die weitere Funktion von Geschichtspolitik, nämlich die Schaffung von Identität: Eine gemeinsame Geschichte ist nun einmal eines der wichtigsten Integrationsmittel, das dem Staat als „imaginierter Gemeinschaft“6 zur Verfügung steht. Daneben schafft Geschichtspolitik Orientierung, indem sie historische Komplexitäten reduziert, und bietet der Politik ein normativ eingegrenztes Handlungsfeld: Das „aus der Geschichte Gelernte“ muss man, je nachdem, vermeiden oder nachahmen.7
3. Recht im und nach dem Nationalsozialismus
Der Zusammenhang von Vergangenheitspolitik und Recht, den diese Arbeit beschreiben will, erklärt sich also schon aus der begrifflichen Ausgangslage. Aber er ist doch für die 3
Manuel Becker, Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“. Konzeptionen und Kontroversen, Wiesbaden 2013, 51–202 4 Becker, Geschichtspolitik, 175–176, 199 5 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, Neuausgabe 2012, 13–14. Frei ist allerdings kritischer und bezieht den Begriff vor allem auf die rechtliche Rückgängigmachung vieler Entnazifizierungsmaßnahmen. 6 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London-New York 1983, Nachdruck 2016, 187–206 7 Becker, Geschichtspolitik, 191–199
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Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Bewältigung seines auf uns gekommenen Erbes besonders relevant. Die Regierungsweise des Nazi-Regimes war nämlich, wie kaum eine andere, ihrerseits rechtlich geprägt, was man kurz und bündig „NSLegalismus“ nennen könnte. Sie war nicht bloß nackte Gewalt und gewissenlose Willkür. Die besondere Perfidie des Nationalsozialismus zeigt sich viel eher in der rechtlichen Verbrämung seiner Herrschaft.8 Dementsprechend hat der Nationalsozialismus viel Rechtsmaterial hinterlassen. Die Instrumentalisierung des Rechts wurde mittels dreierlei Strategien verfolgt. Einerseits die Nichtbestrafung offensichtlicher Gesetzesbrüche: So waren die Zerstörungen und Morde, die in der Pogromnacht 1938 stattfanden, auch nach dem damals geltenden Recht illegal. Verfolgt wurde kaum eines dieser Verbrechen. Andererseits wurden diskriminierende Gesetze eingeführt, wie z. B. die „Nürnberger Rassengesetze“ und unzählige Folgebestimmungen, die ihre Intention gar nicht verbargen. Die dritte, am schwersten greifbare Strategie war die Uminterpretation bestehender, an sich unbedenklicher Gesetze. Dies erfolgte teilweise in vorauseilendem nationalsozialistischen Gehorsam, wofür sich unbestimmte Rechtsbegriffe, sogenannte Generalklauseln, wie „die guten Sitten“ oder „Treu und Glauben“ am besten eigneten. Teilweise wurde die Uminterpretation aber auch ausdrücklich angeordnet, wie z. B. in § 1 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes vom 16. Oktober 1934, wo es heißt: „Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen.“ Und während diese Anordnung für die Auslegung der Rechtsvorschrift noch einen Sinn haben mag, schreibt Abs. 3 desselben Paragraphen vor, dass dies auch für die Ermittlung von Sachverhalten, also für die Sammlung der Fakten („Tatbestände“ in alter Terminologie) gilt.9 Was hiermit in verschleierter Weise erreicht werden sollte, war, den Behörden maximale Willkür einzuräumen, um auch nicht diskriminierende Gesetze in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen. Interessant ist hierbei, dass sich die Uminterpretation eher an berufsmäßige Juristen wie Richter, Staatsanwälte und höhere Beamte richtete, die die juristische Interpretation handwerklich beherrschten und so über diesen Weg erreicht werden konnten, während spezifische diskriminierende Gesetze eher für die niedere, nicht juristisch geschulte Verwaltungsebene erlassen wurden, für die langwierig und kompliziert begründete Neuinterpretationen nicht handhabbar gewesen wären. Formen des juristischen Widerstands mussten daher divergieren: Gegen diskriminierende Gesetze konnten übergesetzliche, naturrechtliche Gerechtigkeitsvorstellungen ins Spiel gebracht werden, gegen Uminterpretationen half ein gesetzespositivistisches Kleben am Buchstaben. Bei all dem ist es freilich ein rechtsphilosophisches wie ver8
9
Vgl. zum Nachfolgenden Clemens Jabloner, „Richter im Zwiespalt“. In: Methodenreinheit und Erkenntnisvielfalt. Aufsätze zu Rechtstheorie, Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte, hg. von Thomas Olechowski und Klaus Zeleny, Wien 2013, 359–376 Steueranpassungsgesetz, RGBl. 1934 S. 925
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fassungsrechtliches Problem, ob man die Anordnungen des NS-Staates aus heutiger Sicht überhaupt „Recht“ nennen will.10 Der Legalismus des nationalsozialistischen Regimes ist also der historische Grund, dem Recht besondere Aufmerksamkeit im Kontext der Vergangenheitspolitik zu widmen. Deren typisches Mittel sind Kriegsverbrecherprozesse gewesen, darunter insbesondere das Internationale Militärtribunal in Nürnberg, aber auch unzählige nationale Prozesse gegen Personen, die sich teils mehr, teils weniger in den Nationalsozialismus verstrickt haben. In Österreich wurde beispielsweise ein eigenes Kriegsverbrechergesetz erlassen, das Kriegsverbrechen, Kriegshetzerei, Quälen und Misshandlungen, Verletzungen der Menschlichkeit und der Menschenwürde, missbräuchliche Bereicherungen, Denunziation und „Hochverrat am Österreichischen Volk“ als Delikte bestraft, in den meisten Fällen war die Verhängung der Todesstrafe möglich. Die Tatbestände sind vage und nehmen oft darauf Bezug, dass die Tat „natürlichen Anforderungen der Menschlichkeit und den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts oder des Kriegsrechts widerspricht“.11 Ebenso prägend sind zahllose Sondergesetze und Spezialvorschriften, die sich damit befassen, wie das nationalsozialistische Unrecht wieder beseitigt werden kann. Menschen, die sich schuldig gemacht haben, wurden in Österreich z. B. mit gesetzlich vorgesehenen, sogenannten „Sühnefolgen“ belegt. Personen, die schon vor 1938 Mitglieder der NSDAP in Österreich waren (sogenannte „Illegale“), Angehörige von SS, SA, NSKK und NSFK sowie sonstige Mitglieder der NSDAP konnten etwa zu Zwangsarbeit herangezogen werden, durften ihr Vermögen nicht veräußern, wurden, falls sie Staatsbeamte waren, mit sofortiger Wirkung entlassen, ihre Renten wurden gekürzt, private Verträge, die diese Personen geschlossen hatten, konnten vom Staat gekündigt werden, etwaige staatliche Leistungen an sie wurden eingestellt und mussten zurückgezahlt werden, ebenso wurden ihnen allfällige Steuergutschriften wieder entzogen.12 Später wurden noch Verschärfungen hinzugefügt, etwa viele Berufsverbote und z. B. eine besondere Vermögensabgabe, die sogenannte Sühneabgabe, die aus einem Zuschlag zur Einkommenssteuer und einer Einmalzahlung bestand.13 Der Wiedergutmachung dienten nicht weniger als sieben Rückstellungsgesetze, die die Restitution von beweglichem und unbeweglichem Vermögen 10
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In Deutschland berühmt und auch von den Gerichten angewandt ist die sogenannte „Radbruch’sche Formel“, die dem Nationalsozialistischen Recht über weite Strecken den Rechtscharakter abspricht; vgl. Gustav Radbruch, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946): 105–108. Vgl. das Verfassungsgesetz vom 26. Juni 1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (Kriegsverbrechergesetz), StGBl. Nr. 32/1945 Vgl. die §§ 17–23 des Verfassungsgesetzes vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz), StGBl. Nr. 18/1945 Vgl. das Bundesgesetz vom 6. Februar 1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten (Nationalsozialistengesetz), BGBl. Nr. 25/1947
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aus staatlichem und privatem Besitz, aber auch von gelöschten Firmenbezeichnungen, aufgelösten juristischen Personen, Patent- und Markenrechten sowie Ansprüchen aus Verträgen zum Gegenstand hatten.14 Der NS-Legalismus führte so zu einem Aufarbeitungs- und Wiedergutmachungslegalismus eigener Prägung, da der Verwaltungsaufwand, den diese Gesetze bedeuteten, enorm gewesen sein muss, ein Verwaltungsaufwand, der, wie das Beispiel der Kunstrestitution zeigt, teilweise noch nicht vorbei ist. Diese kursorische Übersicht über die gesetzlich gesteuerte Vergangenheitspolitik zeigt die Verbindung, die Geschichtsforschung und Rechtsanwendung hier eingehen müssen, ganz augenscheinlich. Denn die erwähnten Gesetze nehmen alle auf historische Gegebenheiten Bezug. Das ist einerseits nicht verwunderlich; Gerichte und Behörden können sich nur mit der Vergangenheit beschäftigen, da die Fälle, die vor ihnen landen, eben schon geschehen sind. Andererseits aber nimmt die Bedeutung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse zu, je länger die abzuurteilenden Taten zurückliegen oder je weiter weg sie stattgefunden haben und je weniger lebende Zeugen es dafür gibt. Heutige Restitutionsverfahren könnten ohne Historikerinnen und Historiker gar nicht geführt werden, denn die notwendigen Informationen harren oftmals noch ihrer ersten Aufspürung, Sichtung und Erfassung, was als archivarische Aufgabe das Kerngeschäft der Geschichtswissenschaft ist. Was meinen wir aber eigentlich mit Recht im Kontext der Vergangenheitspolitik? Eine wichtige Präzisierung ist es, von Rechtsanwendung zu sprechen. Dies meint die Handhabung bestehender Normen und die Subsumtion gegebener Sachverhalte unter sie, aber auch die in diesem Zuge auftretende Setzung neuer Normen. So besteht ein Gerichtsurteil einerseits aus der Anwendung der Gesetze auf den konkreten Fall, aber auch in der Hervorbringung einer neuen Norm, nämlich des Urteils selbst, das anordnet, was nun mit dem Angeklagten zu geschehen hat. Dass auch Urteile Rechtsnormen sind, ist für die weitergehende Auseinandersetzung noch von Bedeutung, denn deren normative Funktion ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen gerichtlicher und geschichtlicher Herangehensweise. Rechtsanwendung meint aber nicht Rechtswissenschaft, also die Erforschung des Rechts, sondern bezeichnet seine Praxis.
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Diese Gesetze gelten noch und sind im Rechtsinformationssystem des Bundes online abrufbar, vgl. z. B. nur das Bundesgesetz vom 26. Juli 1946 über die Rückstellung entzogener Vermögen, die sich in der Verwaltung des Bundes oder der Bundesländer befinden (Erstes Rückstellungsgesetz), BGBl. Nr. 156/1946.
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4. Verbindendes und Trennendes
Was verbindet und was trennt nun die geschichtswissenschaftliche Annäherung an die Vergangenheit von der juristischen? Der berühmte italienische Historiker Carlo Ginzburg nennt als wichtigste Gemeinsamkeit den Beweis:15 Historikerinnen sollen ihre Aussagen anhand der Quellen beweisen können, und die Richterin darf ihr Urteil nur auf solche Fakten stützen, die bewiesen sind. Doch liegen in dieser Gemeinsamkeit auch Divergenzen, die vor allem das (Selbst-)Verständnis der Historiographie betreffen. Denn die Auswahl der Quellen, die eine bestimmte Aussage stützen sollen, erfolgt notwendigerweise von einem gewissen Standpunkt aus. Dieser ist einerseits durch die jeweilige Forschungsfrage definiert, die vorgibt, welche Quellen überhaupt relevant sein könnten. Andererseits ist der Standpunkt der Forscherin wie auch der Richterin normativ bestimmt, das heißt, er ist das Ergebnis bestimmter Wertungen. Das Gericht wählt seine Fakten und Beweise durch die Brille des Rechts aus und muss sie dementsprechend beurteilen. Dies sollte möglichst unparteiisch geschehen. Wie die Forschungsfrage in der Geschichtswissenschaft, so gibt im Recht die Formulierung des gesetzlichen Tatbestandes vor, welche Fakten überhaupt von Bedeutung sind, und welche getrost weggelassen werden können. Für die rechtliche Beurteilung eines mutmaßlichen KZ-Wärters und sohin Kriegsverbrechers ist seine soziale Herkunft und Bildung rechtlich irrelevant, aus historischer Sicht aber wohl unverzichtbarer Bestandteil des Gesamtbildes. Es kommt zu dieser Auswahl aber unweigerlich eine normative Komponente hinzu. Historikerinnen und Historiker verstehen sich schon lange nicht mehr als „objektive“, „neutrale“ Berichterstatter. Nicht nur sind sie sich der unvermeidlichen weltanschaulichen Prägung bewusst, die jede und jeder hat; sondern sie unternehmen ihre Forschungsvorhaben mitunter auch in bewusster politischer oder moralischer Absicht. Und in der Tat mutet die Forderung, gegenüber dem Nationalsozialismus neutral zu sein, eigenartig an. Außerdem hat die Geschichtswissenschaft mittlerweile große Vorbehalte, sich der staatlichen Legitimierung anzudienen. Das Gericht hingegen ist Maßstäben verpflichtet, die es nicht selbst gesetzt hat oder ändern kann,16 und das richterliche Berufsethos verlangt Unparteilichkeit auch angesichts des Schreckens. Die Frage der Legitimierung stellt sich für das Gericht nicht; es ist von dieser abhängig und erzeugt sie mit. Ein weiterer problematischer Punkt, an dem rechtliche und geschichtswissenschaftliche Behandlung der Vergangenheit auseinandertreten, ist die Endgültigkeit der Beurteilung. 15 16
Vgl. Carlo Ginzburg, „Checking the Evidence: The Judge and the Historian“, Critical Inquiry 18 (1991): 79–92 Vgl. Michael Stolleis, „Der Historiker als Richter – der Richter als Historiker“, in: Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, hg. von Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis, München 2000, 173–182 (178)
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Das Recht drängt auf zügigen Abschluss. Straftaten verjähren, Fristen verstreichen, Berufungen und Revisionen gehen nicht endlos weiter. Der Friedensfunktion des Rechts kommt oft ein Vorrang gegenüber der Gerechtigkeitsfunktion zu: Jeder Streit muss einmal ein Ende haben. Doch ist die Endgültigkeit, die einem gerichtlichen Urteil innewohnt, ihrerseits wiederum ein Element der sogenannten „historischen Gerechtigkeit“, die man im Kontext der Vergangenheitspolitik vom Gericht erwartet. Das Gericht soll ein für alle Mal sagen, wie es gewesen ist und wer die Schuldigen sind. Die damit einhergehende Schlussstrichfunktion hat wiederum zwei Seiten. Sie ermöglicht den Opfern das Gefühl, dass ihnen durch diesen konkreten Akt Gerechtigkeit widerfahren ist: Im endgültigen Akt des Urteils drückt der Staat seine Anerkennung für das geschehene Leid aus und nimmt das Opfer als Opfer wahr. Das funktioniert nur durch sinnfällige, nach außen tretende und öffentlichkeitswirksame Handlungen, die deshalb notwendigerweise eine gewisse Endgültigkeit haben müssen. Sie sollen eben in ihrem Bestand gesichert sein und nicht jederzeit widerruflich. Das ist auch der Grund, warum der Wunsch nach „historischer Gerechtigkeit“ eben besonders an Gerichte herangetragen wird. Ein Bericht einer Historikerkommission mag viel ausführlicher und besser recherchiert sein, das öffentliche Ritual des Gerichtsurteils hat aber eine eigene Qualität, an die ein historischer Forschungsbericht nicht herankommt.17 Stolleis schreibt dazu: „Nicht ein fehlsamer Mensch (voller Vorurteile, Unwissen, Nichtverstehen und Irrtum) hat entschieden, sondern eben die ‚Dritte Gewalt‘, die eben wegen dieser Entscheidungslast eine besondere Unabhängigkeit genießt.“18 Dabei könnte einem Historikerbericht aus historiographischer Perspektive viel mehr vertraut werden, als den in Geschichte dilettierenden Gerichten.19 Die andere Seite des Schlussstrichs liegt in der Versuchung, nach der gerichtlichen Aburteilung das Werk der Aufarbeitung als getan zu betrachten. In dieser Weise wird die Forderung nach einem Schlussstrich medial auch oft erhoben. Daher wird die Nähe, die Historikerinnen und Gerichte oftmals eingehen, auch kritisiert: Die Geschichtswissenschaft sollte sich ihres Vorteils stärker bewusst werden, dass ihre „Urteile“ einem stetigen Prozess der Revision und Neubewertung unterliegen, der für endgültige historische „Wahrheiten“ nicht taugt.20 Das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Rechtsanwendung kristallisiert sich dort heraus, wo Historiker als Sachverständige vor Gericht auftreten. Auch der umge17
Vgl. zu den Ritualen des Rechts z. B. Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt am Main, 2013, 151 18 Stolleis, Historiker, 177 19 Vgl. Armand Derfner, „Why Do We Let Judges Say Anything about History when We Know They’ll Get it Wrong?“, The Public Historian 27, no. 1 (2005): 9–18 20 Vgl. Brigitte Studer, „Geschichte als Gericht – Geschichte vor Gericht. Oder: Wie justiziabel ist die Historie?“ Traverse. Zeitschrift für Geschichte 8 (2001): 97–104
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kehrte Fall kann sich ereignen, wenn z. B. Historikerkommissionen sich einer Juristin als Sachverständige bedienen, wo es um komplizierte rechtliche Fragen geht, die es nun historisch zu beurteilen gilt. Dies ist jedoch die weniger problematische Variante. Historiker als Sachverständige unterliegen jedoch einer zweifachen Gefahr. Sie könnten sich versucht sehen, durch die Art und Weise der Darstellung ein bestimmtes Verfahrensergebnis zu fördern; dies aus dem Gedanken, dass sie nicht, wie Richter, zur Unparteilichkeit verpflichtet sind. Sie werden vielleicht sogar von Anwälten für die eine oder andere Seite eingespannt oder aber durch untergriffige Befragung der Gegenseite zu Aussagen verleitet, die sie sonst nicht so getroffen hätten. Als Sachverständiger vor Gericht unterliegt man aber auch und vor allem einem erhöhten Maßstab, was die eigene Arbeitsweise und Methodik betrifft, denn Sachverständigengutachten müssen methodisch dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Dass dieser aber theoretisch umstritten ist, ist notorisch und kann dazu führen, dass innergeschichtswissenschaftliche Debatten plötzlich vor Gericht ausgetragen werden müssen.21 Dass die Geschichtswissenschaft sich ihre Maßstäbe „selber macht“ und sie nicht, wie ein Gericht, gesetzlich vorgeschrieben bekommt, entspricht zwar unserem modernen Verständnis von Wissenschaftsfreiheit, macht die Sache in der Öffentlichkeit zu kommunizieren jedoch nicht leichter.22 Aus diesem Spannungsfeld folgen für Geschichte und Gericht unterschiedliche Wahrheitsbegriffe. Die italienische Historikerin Isabella Rosoni schreibt zur Wahrheitsfindung vor Gericht prägnant: „La verità così attenuta assomiglia più ad una verità politica che ad una verità storica. È una verità che serve a giustificare politicamente il gesto violento del punire.“23 Die Version der Ereignisse, die vor Gericht verhandelt wird und ins Urteil einfließt, ist tatsächlich kein Selbstzweck. Das Gericht hat die Wahrheit nicht zu erforschen, weil es eine Art staatlicher Wahrheitsbehörde wäre. Vielmehr erfüllt dies die eher dienende Funktion, einen staatlichen Zwangsakt zu begründen. Dieser Zwangsakt benötigt das Endgültige, Definitive des Urteils, das oben schon angesprochen wurde, zu seiner Stütze. Das Unbehagen, das einen angesichts von Justizirrtümern befällt, die Jahre später irgendwie wieder beseitigt werden müssen, beweist dies. Im vergangenheitspolitischen Kontext ist die Wahrheitsfunktion des Gerichts aber eine mindestens genauso wichtige, ja vielleicht 21
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Diese Probleme beschreibt Jonathan D. Martin in: „Historians at the Gate: Accommodating Expert Historical Testimony in Federal Courts,“ New York University Law Review 78 (2003): 1518– 1549, für das Recht der USA, die Erwägungen sind aber verallgemeinerbar. Vgl. auch Raphael Gross, „Mächtiger als Gerichte? Geschichte und historische Gerechtigkeit“, in: Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, hg. von Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis, München 2000, 164–172 Isabella Rosoni, „Verità storica e verità processuale. Lo storico diventa perito“, Acta Histria 19 (2011): 127–140 (129). „Die derart erreichte Wahrheit ähnelt mehr einer politischen als einer historischen. Es ist eine Wahrheit, die dazu dient, den gewaltsamen Akt des Bestrafens zu rechtfertigen.“ (UW)
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sogar wichtigere als die, Gerechtigkeit herzustellen, wie neuere vergangenheitspolitische Formen, z. B. sogenannte Wahrheitskommissionen, beweisen. Die vor Gericht erreichte Wahrheit ist politisch aus mehreren Gründen. Wie schon erwähnt dient sie zunächst dazu, einen politischen, das heißt in diesem Zusammenhang staatlichen Akt zu begründen und zu rechtfertigen. Das Urteil wird akzeptiert, weil es auf wahren Tatsachen beruht. Politisch ist diese Wahrheit aber auch, weil sie zwischen verschiedenen Versionen ein und desselben Geschehens erstritten ist. Die Strafverteidiger des Angeklagten müssen alles dafür tun, um jene Beweise unglaubwürdig zu machen, die ihren Mandanten schaden. Daher kann der im Urteil festgestellte Tathergang, der Grundlage der Strafsanktion ist, davon abweichen, „wie es wirklich war“. Die Wahrheitsfindung vor Gericht ist außerdem politisch, weil sie rechtlich gesteuert ist. Die Beweisaufnahme folgt nicht geschichtswissenschaftlichen Kriterien, sondern den Regeln des Prozessrechts. Über manche Themen darf gar kein Beweis erhoben werden, manche Beweismittel sind unzulässig, manche wären zulässig, können aber von dem, der sie hat, nicht erlangt werden, manche dürfen unterdrückt werden: Der Beschuldigte muss nichts zu seiner eigenen Verurteilung beitragen. Die Erhebung des wahren Sachverhalts vor Gericht ist also keine wissenschaftliche Tätigkeit, sondern die Anwendung von Verfahrensrecht,24 und diese Trennung ist unüberbrückbar. Besonders deutlich wird das in den für die Restitution geraubten Vermögens so wichtigen Zivilverfahren, wo es also nicht um die Bestrafung der Schuldigen, sondern um die (Rück-)Erlangung der geraubten Sache oder um Schadenersatz geht. Im Zivilverfahren herrscht nämlich der sogenannte Grundsatz der „formellen Wahrheit“ (auch „Dispositionsmaxime“). Das Gericht ist an die Behauptungen der Prozessparteien gebunden und darf Beweise nur in diesem Rahmen aufnehmen (also nicht dazu, worüber die Parteien erklären, einig zu sein, auch nicht darüber, was keine der Parteien behauptet hat), und den Parteien steht es frei, das Verfahren durch Vergleich, Anerkenntnis, Verzicht, Klagsänderung oder Klagsrücknahme inhaltlich zu gestalten.25 Durch diese Einflussmöglichkeiten wird die „Wahrheit“, die dann letztendlich Grundlage des Urteils sein soll, sehr fragwürdig.
5. Erfüllte und enttäuschte Erwartungen
Juristinnen und Juristen hören es nicht gerne, dass man mit juristischen Instrumenten und Verfahren über ihren rechtlichen Zweck hinaus gesellschaftliche und politische Anliegen 24 25
Vgl. Clemens Jabloner, „Am Beispiel der Historikerkommission: Zeitgeschichtliche Forschung in juristischer Perspektive“, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16 (2005): 163–185 Vgl. z. B. Walter Rechberger und Daphne-Ariane Simotta, Grundriss des österreichischen Zivilprozessrechts (8. Auflage), Wien 2010, 224–227
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verfolgen kann. Die Kriegsverbrecherprozesse, die sich im Gefolge des Zweiten Weltkriegs ergaben und die eine juristische Aufarbeitung der Ereignisse in Gang gesetzt haben, die letztlich immer noch nicht abgeschlossen ist (es werden zwar kaum mehr nationalsozialistische Kriegsverbrecher verurteilt, aber z. B. ist die Rückgabe geraubter Kunst noch lange nicht erledigt), haben – weit über den unmittelbaren Sinn hinaus, die Täter gewisser Taten aufzuspüren und zu bestrafen – eine eminent politische Dimension. Geht es doch, wahrscheinlich sogar vorrangig, darum, das Gerichtsverfahren als Bühne eines kollektiven Bekenntnisses zu benutzen, ein Bekenntnis zu historischer Gerechtigkeit, zum „Niemals Wieder“, zur Wiedergutmachung und was sonst noch für Formeln hierfür existieren. Dieser Verweis ist nicht zynisch zu verstehen, sondern als Anerkenntnis, dass es – wiederum für Juristinnen und Juristen zunächst unangenehm – in vergangenheitspolitischer Zielsetzung gerade nicht auf rechtliche Details ankommt. Dass diese aber zurückschlagen, ist ein Grund dafür, warum die rechtliche Behandlung vergangenen Unrechts wohl immer hinter den Erwartungen zurückbleiben muss. Was die rechtliche Behandlung einer schmerzvollen Vergangenheit leisten kann, wird unter dem Begriff der transitional justice diskutiert. Diese umfasst zwar nicht nur rechtliche Maßnahmen, doch stehen solche exemplarisch dafür, worum es geht. „Transitional justice“ meint die Herbeiführung liberaler, rechtsstaatlicher Verhältnisse nach einer Periode menschenrechtsverletzender, unrechtsstaatlicher Diktatur.26 Ein Mittel dafür ist die Bestrafung jener, die sich als Mitwirkende des vergangenen Regimes solcher Taten schuldig gemacht haben. Diese Prozesse haben unter anderem den Sinn, den Zorn und die Empörung der Opfer demokratisch einzuholen: Einerseits erfahren die Opfer öffentliche Anerkennung, andererseits vermeiden sie ebenso unrechtsstaatliche Ausbrüche von Racheaktionen.27 Während also die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen den Prozess als Gelegenheit verstehen, gehört und anerkannt zu werden, Schweigen brechen zu können, Schuldige nennen zu dürfen, wollen Regierungen hingegen einen klaren Bruch mit der Vergangenheit ausdrücken, dazu international einen festen Entschluss signalisieren und gleichzeitig das nationale Bewusstsein von der Last, Schuldige in den eigenen Reihen zu haben, durch „Selbstreinigung“ befreien. Die Eigenlogik des Gerichtsverfahrens ist nicht selten ein Strich durch diese Rechnungen. Den Opfern muss die Neutralität, Objektivität und Äquidistanz des Gerichts als Verhöhnung erscheinen. Wie kann man angesichts des Holocaust neutral sein? Und wie können solche Formalitäten wie Verjährungsfristen der Gerechtigkeit im Wege stehen? 26 27
Vgl. z. B. Pablo De Greiff, „Theorizing Transitional Justice“, in: Transitional Justice, ed. Jon Elster, Rosemary Nagy and Melissa Williams, New York 2012, 31–79 So Mihaela Mihai, Negative Emotions and Transitional Justice, New York 2016, 123–158
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Rechtsstaatliche Gebote wirken hier wie Komplizenschaft mit den Tätern. Und in der Tat dienen die Strafprozessordnungen, nach denen Staatsanwaltschaften und Gerichte vorzugehen haben, zwar der Wahrheitsfindung, aber vorrangig dienen sie dem Schutz des Beschuldigten vor staatlicher Willkür; Schutz davor, dass der Staat bei der Wahrheitsfindung über die Stränge schlägt. Den Anliegen der Opfer dient der Strafprozess nicht, dem Schutz des Beschuldigten aber schon, das muss man erst einmal verdauen. Die Anwälte des Täters nehmen die Opfer ins Verhör und versuchen, jede Aussage unglaubwürdig zu machen. Aussagen, für die es keine Beweise gibt, zählen wenig. Für manches gibt es Beweise, diese dürfen aber aus irgendwelchen Gründen nicht verwertet werden. Und wenn doch alles bewiesen werden kann, dann ist die Strafe meist lächerlich kurz im Vergleich zum angerichteten Unrecht. „Transitional justice“ kann sich auch selbst überschlagen. Der politische Zweck, den rechtliche Verfahren im Kontext von „transitional justice“ haben, kann sogar so weit gehen, dass rechtlich Sinnloses angeordnet wird, wenn es nur genug Symbolkraft hat. Und wiederum: Worüber die Juristin den Kopf schüttelt, das kann sie doch als Staatsbürgerin gutheißen. Im Jahr 2009 wurde beschlossen, die Verurteilten der NS-Justiz zu rehabilitieren. Dazu wurde ein Gesetz erlassen, das besagt, dass alle aufgrund bestimmter nationalsozialistischer Rechtsvorschriften gefällten Urteile „rückwirkend als nicht erfolgt gelten“.28 Dies allein ist in rechtstechnischer Hinsicht fragwürdig, da die rückwirkende Aufhebung von Urteilen diese ja trotzdem nicht ungeschehen macht. Aber es war ein vergangenheitspolitisch begründbarer Schritt. Nun ist es aber so, dass unmittelbar nach Kriegsende bereits ein wirkungsgleiches Gesetz erlassen wurde, und zwar das Aufhebungs- und Einstellungsgesetz vom 3. Juli 1945, das ebenso bestimmt, dass Verurteilungen „als nicht erfolgt gelten“, wenn diese auf gewissen nationalsozialistischen Rechtsvorschriften beruhen.29 Dies wurde in einem weiteren Gesetz aus dem Jahr 2005, dem „Bundesgesetz über die Anerkennung der Leistungen im österreichischen Widerstand sowie zur abschließenden Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsakte“, in knapper Weise nochmals „festgestellt“.30 Der Kreis der Urteile, die jeweils als nicht erfolgt zu gelten haben, wird von Gesetz zu Gesetz weiter. Das Rehabilitationsgesetz aus 2009 umfasst z. B. erstmals auch die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte und versucht zukünftigen Weiterungen zuvorzukommen, indem in einer Generalklausel bestimmt wird, dass „alle sonstigen verurteilenden Entscheidungen, soweit in diesen typisch nationalsozialistisches Unrecht zum Ausdruck kommt, die gegen österreichische Staatsbürger im In- und Ausland sowie gegen nicht österreichische Staatsbürger im Inland mit 28 29 30
Vgl. § 1 Abs. 1 Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz, BGBl. I Nr. 110/2009 Vgl. § 1 Abs. 1 Aufhebungs- und Einstellungsgesetz, StGBl. Nr. 48/1945 und die dazu ergangene Verordnung, StGBl. Nr. 155/1945 Vgl. § 1 Abs. 1 Anerkennungsgesetz, BGBl. I Nr. 86/2005
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dem Ziel der Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes ergangen sind“, ebenso als nicht erfolgt gelten.31 Nachdem in den beiden Gesetzen aus 2005 und 2009 aber immer auch diejenigen Urteile mit erwähnt werden, die schon 1945 aufgehoben wurden, ist es so, dass gewisse Opfer der NS-Justiz mittlerweile also schon drei Mal rehabilitiert worden sind. Gibt es dafür auch dreifachen Schadenersatz? Gesetzliche Vergangenheitspolitik kann auch kostengünstig sein. Die unmittelbar nach dem Krieg angeordnete Aufhebung typisch nationalsozialistischer Urteile hatte allerdings, anders als die Anerkennung 2005 und die Rehabilitation 2009, durchaus noch praktische Effekte, da die Betroffenen dieser Urteile ja noch lebten und ihr Strafregister bereinigt sehen wollten (so sie nicht in der NS-Zeit vertrieben, hingerichtet oder einfach ermordet wurden, muss man ohne Zynismus hinzufügen). Das zweite und das dritte Gesetz sind demnach rechtlich ziemlich gehaltlos, sieht man von der Erweiterung der erfassten Urteile ab. Wir haben es aber mit einer vergangenheitspolitischen Doppelung zu tun. Die Rehabilitierung direkt nach dem Krieg diente praktischen Zielen und verfolgte politische Zwecke nur mittelbar, indem die Aufhebung der Urteile eines Verbrecherregimes naturgemäß einen Bruch mit diesem ausdrückt. Das zweite und das dritte Gesetz hingegen sind ausschließlich vergangenheitspolitisch zu verstehen. Sie wollen die Ablehnung des Nationalsozialismus bekräftigen, das Bekenntnis zur Wiedergutmachung einlösen und das Zeichen setzen, dass das „Niemals vergessen“ nicht vergessen worden ist. Interessant ist die politische Reaktion auf das jüngste Rehabilitationsgesetz, die den Beigeschmack einer unschönen „Opferkonkurrenz“ nicht loswird. Zwei Jahre später wurde nämlich ein nahezu wortgleiches Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz beschlossen (mit Endung auf -ierung, nicht auf -ation), das sich auf die Zeit des Austrofaschismus bezieht. Es gelten all jene Urteile der Sonder-, Stand- und Strafgerichte als nicht erfolgt, „soweit sie wegen Taten, die zwischen 6. März 1933 und 12. März 1938 im Kampf um ein unabhängiges, demokratisches und seiner geschichtlichen Aufgabe bewusstes Österreich (…) begangen wurden oder wegen des Ausdrucks einer darauf gerichteten politischen Meinung erfolgten“.32 Interessant ist auch, dass dieses Gesetz einstimmig angenommen wurde, also auch unter Einschluss der FPÖ, während das Aufhebungsgesetz 2009 gegen diese Partei beschlossen wurde, worüber die Website des Parlaments Auskunft gibt.33 Wohl, weil auch Vorfahren 31 32 33
Vgl. § 1 Abs. 2 Z. 2 und 4 des Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetzes Vgl. § 1 Abs. 1 Bundesgesetz über die Aufhebung und Rehabilitierung (Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz 2011), BGBl. I Nr. 8/2012 Zum Aufhebungsgesetz 2009: vgl. , zum Aufhebungsgesetz 2011: vgl.
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aus den eigenen Reihen vom Austrofaschismus verfolgt wurden? Und auch dieses Gesetz hat einen Vorläufer:34 Im Dickicht der Vergangenheitspolitik ist man schnell verloren.
6. Schluss
Das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Rechtsanwendung ist ein spannungsreiches. Der notwendigen gegenseitigen Zuarbeit in verschiedenen Kontexten, die vom Sachverständigendienst einer Historikerin vor Gericht bis zum Expertenwissen eines Juristen in einer Historikerkommission reicht, stehen auch Probleme gegenüber. Diese betreffen vor allem die Rolle und das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft. Die Justiz ist eher weniger gefährdet durch diese Form der Zusammenarbeit. Die Geschichte hingegen sieht sich mit der Forderung nach „historischer Wahrheit“ und „historischer Gerechtigkeit“ konfrontiert, einer Forderung, die zu den Ansprüchen, die diese Disziplin an sich selbst stellt, quer liegt. Denn sie kann weder endgültige Urteile fällen, noch selbst politische oder rechtliche Konsequenzen setzen. Sie bleibt auf den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) verwiesen, der sich in einem (endlosen) Diskurs ergeben muss. Das alles ist aber unbefriedigend. Doch die justizielle Behandlung der Vergangenheit ist nicht unbedingt besser. Diese hat zwar die Aura der Staatsmacht um sich und vermag in ritualisierter Form öffentliche, endgültige Akte zu setzen, die dem Wunsch der Opfer nach Klarheit entsprechen. Doch die vor Gericht erzeugte Wahrheit ist nicht die historische. Die Geschichtswissenschaft ist also näher an der Geschichte dran, dafür politisch weniger wirkmächtig. Gerichtsurteile haben eine politische Kraft, die der historischen Forschung nicht zukommt, sind aber von der Wahrheit zwangsläufig weiter entfernt. Daraus kann man nun entweder schließen, dass Geschichte und Gerichte noch enger zusammenwirken sollen, oder, im Gegenteil, dass die Sphären schärfer getrennt werden müssen. Je stärker Historikerinnen und Historiker für sich die moralische Pflicht empfinden, mit ihrer Arbeit zu politischem Fortschritt beizutragen, umso eher werden sie zu Ersterem tendieren. Doch muss klar sein, dass Vergangenheitspolitik vorrangig Politik, nicht Wissenschaft ist.
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Das Bundesgesetz vom 21. Dezember 1945 betreffend die Einstellung von Strafverfahren und die Nachsicht von Strafen für Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus, BGBl. Nr. 14/1946
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7. Literatur- und Quellenverzeichnis Literatur
Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London-New York 1983. Manuel Becker, Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“. Konzeptionen und Kontroversen, Wiesbaden 2013. Uladzislau Belavusau und Aleksandra Gliszczyńska-Grabias eds., Law and Memory. Towards Legal Governance of History, Cambridge 2017. Armand Derfner, „Why Do We Let Judges Say Anything about History when We Know They’ll Get it Wrong?“, The Public Historian 27, no. 1 (2005): 9–18. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Carlo Ginzburg, „Checking the Evidence: The Judge and the Historian,” Critical Inquiry 18 (1991): 79–92. Aleksandra Gliszczyńska-Grabias und Wojciech Kozłowski, „Calling Murders by Their Names as Criminal Offence – a Risk of Statutory Negationism in Poland“, Verfassungsblog, 2018/2/01, https://verfassungsblog.de/calling-murders-by-their-names-as-criminal-offencea-risk-of-statutory-negationism-in-poland/, DOI: https://dx.doi.org/10.17176/20180201165352 Pablo De Greiff, „Theorizing Transitional Justice“. In: Transitional Justice, edited by Jon Elster, Rosemary Nagy and Melissa Williams, 31–79, New York 2012. Raphael Gross, „Mächtiger als Gerichte? Geschichte und historische Gerechtigkeit“. In: Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, hg. von Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis, München 2000, 164–172. Clemens Jabloner, „Am Beispiel der Historikerkommission: Zeitgeschichtliche Forschung in juristischer Perspektive“, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16 (2005): 163–185. Clemens Jabloner, „Richter im Zwiespalt“. In: Methodenreinheit und Erkenntnisvielfalt. Aufsätze zu Rechtstheorie, Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte, hg. von Thomas Olechowski und Klaus Zeleny, 359–376, Wien 2013. Jonathan D. Martin, „Historians at the Gate: Accommodating Expert Historical Testimony in Federal Courts“, New York University Law Review 78 (2003): 1518–1549. Mihaela Mihai, Negative Emotions and Transitional Justice, New York 2016. Gustav Radbruch, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946): 105–108.
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Isabella Rosoni, „Verità storica e verità processuale. Lo storico diventa perito“, Acta Histriae 19 (2011): 127–140. Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt am Main 2013. Michael Stolleis, „Der Historiker als Richter – der Richter als Historiker“. In: Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, hg. von Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis, München 2000, 173–182. Brigitte Studer, „Geschichte als Gericht – Geschichte vor Gericht. Oder: Wie justiziabel ist die Historie?“ Traverse. Zeitschrift für Geschichte 8 (2001): 97–104.
Quellen (Chronologisch)
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Juristische Vergangenheitspolitik oder: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Rechtsanwendung
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Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz, Bundesgesetzblatt I Nr. 110/2009, https://www.ris.bka. gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20006523 Abstimmungsverhältnisse im Parlament: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ I/I_00359/index.shtml, abgerufen am 12.2.2018 Bundesgesetz über die Aufhebung und Rehabilitierung (Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz 2011), Bundesgesetzblatt I Nr. 8/2012, https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung. wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20007687 Abstimmungsverhältnisse im Parlament: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ A/A_01773/index.shtml, abgerufen am 12. 2. 2018
Die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes und das Doppelbestrafungsverbot Martin Kaplans
Der Geehrte dieser Festschrift, Professor Wolfgang Bandion, dem ich freundschaftlich verbunden bin, fand trotz seines umfassenden wissenschaftlichen Œuvres stets Zeit für sein nun schon viele Jahrzehnte andauerndes Engagement für das Comité International de Mauthausen (CIM) und das Mauthausen Komitee Österreich. Die Ursprünge des CIM gehen auf die Widerstandsaktivitäten im Konzentrationslager Mauthausen zurück. Im sogenannten „Mauthausen Schwur“ vom 16. Mai 1945 kommt in diesem Zusammenhang das Bekenntnis zu Freiheit und internationaler Solidarität eindrucksvoll zum Ausdruck.1 Ein Satz des Mauthausen Schwurs hat mich zu dem vorliegenden Beitrag inspiriert, den ich dem Jubilar Professor Wolfgang Bandion mit dem Ausdruck tiefsten Respekts und in freundschaftlicher Verbundenheit herzlichst widmen darf: „So, wie die Welt durch die gemeinsame Anstrengung aller Völker von der Bedrohung durch die hitlerische Übermacht befreit wurde, so müssen wir diese erkämpfte Freiheit als das gemeinsame Gut aller Völker betrachten.“
Für die Freiheit vom Regime der Nationalsozialisten mussten zu viele Menschen ihr Leben lassen. Zu viele gaben ihr Leben wegen ihres unbeirrten Bewahrens dieser inneren Überzeugung, die das menschenverachtende Gedankengut des Nationalsozialismus ablehnte. Es musste also mit dem Untergang des nationalsozialistischen Regimes sichergestellt werden, nationalsozialistisches Gedankengut aus der Gesellschaft zu entfernen und es niemals wieder aufkeimen zu lassen. Diese Notwendigkeit bestand nicht nur mit Blick auf die Bewältigung der Gräuel des nationalsozialistischen Regimes. Vielmehr war die Ausmerzung nationalsozialistischen Gedankengutes Bedingung für ein Wiederentstehen einer die menschlichen Grundwerte achtenden Demokratie.2 Gleichermaßen war es notwendig, 1 2
„Mauthausen Schwur“. Mauthausen Komitee Österreich, abgerufen am 15.2.2020, https://www. mkoe.at/sites/default/files/files/Mauthausen-Schwur.pdf Vgl. dazu anstelle vieler: Platzgummer, Winfried: „Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich.“ In: Österreichische Juristenzeitung, Wien: Manz, 1994. 753–763, 753 f.
Die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes und das Doppelbestrafungsverbot
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die nationalsozialistische Führungselite unschädlich zu machen und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtstellung des Nationalsozialismus zu vernichten.3 Schon aufgrund dieser Zielsetzung konnte für die Umsetzung nur der Weg der Gesetzgebung beschritten werden.4 Denn der Rechtsstaat durfte seinen Gegnern nicht mit derselben Willkür und Härte entgegentreten, mit denen die Nationalsozialisten ihre Gegner behandelten.5 Diese Umstände forderten die österreichische Rechtsordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Gesetzgeber hatte Maßnahmen zu treffen, sowohl nationalsozialistisches Gedankengut zu entfernen als auch die nationalsozialistische Führungselite unschädlich zu machen und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtstellung des Nationalsozialismus zu vernichten.6 Somit war die Lösung der Nationalsozialisten-Frage mit rechtsstaatlichen Mitteln Bedingung für das Entstehen einer demokratischen Kultur, was der Sektionsrat im Bundeskanzleramt und Privatdozent an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Leopold Werner, mit den folgenden Worten eindrucksvoll zuspitzt:7 „Die rechtsstaatliche Idee siegte über die Idee der Macht. Das österreichische Volk zog also noch im Stadium seiner innerpolitischen Befreiung vom Nationalsozialismus einen scharfen Trennungsstrich zwischen sich und dem Nationalsozialismus, indem es sich auch in diesem Belange zum Kulturgut des Rechts bekannte und jedwede, die Barbarei kennzeichnende Gewaltmethode von sich wies. Triumph des Rechts über die Gewalt!“
1. Problemaufriss
Unter dem unmittelbaren Eindruck des nationalsozialistischen Unrechtsregimes dennoch einen derart rechtsstaatlich geprägten Weg zu beschreiten, erfordert ein höchstes Maß an Überlegenheit gegenüber dem so unbegreiflichen Ausmaß an Leid und Hass sowie das unbedingte Bemühen um Humanität. Schon dieser Weg führt eines vor Augen: Das Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit erfordert seinerseits die bedingungslose Anerkennung der Grund- und Menschenrechte, die sich einerseits unmittelbar in den Grund- und Men3
4 5 6 7
Werner, Leopold. Nationalsozialistengesetz und Verbotsgesetz 1947. Wien: Manz, 1947, 2 ff.; Heller, Ludwig Viktor, Edwin Loebenstein und Leopold Werner: Das Nationalsozialistengesetz. Das Verbotsgesetz 1947, Wien: Manz, 1948, I/5 Werner 1947, 4 Platzgummer 1994, 753 Heller, Loebenstein und Werner 1948, I/5 Werner 1947, 4 f.
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schenrechten und andererseits in differenzierter Ausprägung in der Rechtsordnung widerspiegelt. Der vorliegende Beitrag will vor diesem Hintergrund anhand der jüngeren Rechtsprechung grundrechtliche Fragen in Zusammenhang mit dem Verbotsgesetz und dem damit einhergehenden verfassungsrechtlichen Bekenntnis zu einer – wie es der Oberste Gerichtshof (OGH) treffend zum Ausdruck bringt – „verfassungsgesetzlich verbürgten und strafrechtlich abgesicherten Distanzierung der Republik Österreich vom nationalsozialistischen Unrechtsregime“8 darstellen. Im Zentrum steht dabei das im Art. 4 des siebenten Zusatzprotokolls (ZP) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgeschriebene und in Österreich im Verfassungsrang stehende Recht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden, und damit in Zusammenhang stehende Fragen der Anwendung des Verbotsgesetzes. Als Ausgangspunkt dient ein im Jahr 2016 verwirklichter Sachverhalt eines Rechtsanwalts, der in einem Strafverfahren nach dem Verbotsgesetz ein Plädoyer9 hielt und wegen dessen Inhalts belangt wurde. Der Rechtsanwalt wurde zunächst wegen der inkriminierten Übertretung des Verbotsgesetzes verfolgt. Dieses strafrechtliche Verfahren wurde eingestellt, und der Rechtsanwalt wurde in einem Verwaltungsstrafverfahren wegen der Übertretung des Verwaltungsstraftatbestandes des Art. III Abs. 1 Z. 4 des Einführungsgesetzes zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen 2008 (EGVG) bestraft. Aus Anlass dieser Bestrafung befasste der Rechtsanwalt den Verfassungsgerichtshof (VfGH), der über die Rechtmäßigkeit der Bestrafung, insbesondere mit Blick auf das Verbot der Doppelverfolgung, zu entscheiden hatte. Schließlich wurde der Rechtsanwalt auch disziplinarrechtlich belangt und sein Verhalten somit in einem dritten Verfahren untersucht. Dieser Sachverhalt bietet eine Fülle an rechtlichen Fragestellungen mit Blick auf das Verbot der Doppelbestrafung bzw. -verfolgung, denen ich die folgenden Seiten widme.
2. Die gesetzlichen Grundlagen 2.1 Das Verbotsgesetz
Der zentrale Ausfluss Österreichs Distanzierung vom nationalsozialistischen Unrechtsregime ist das Verbotsgesetz: Am 8. Mai 1945 beschloss die Provisorische Staatsregierung das Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz). Das Verbotsgesetz in seiner Stammfassung von 194510 verfügt die Auflösung der NSDAP, ihrer Wehrverbände 8 9 10
OGH 17.10.2019, 15 Os 69/19i Wiedergegeben unten 3. Sachverhalt StGBl. 13/1945
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(SS, SA, NSKK, NSFK), ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände sowie aller nationalsozialistischen Organisationen und Einrichtungen und verbietet die Neubildung derselben (§ 1 Verbotsgesetz). Darüber hinaus erklärt § 2 Verbotsgesetz die Mandate der Mitglieder von Gebietskörperschaften und Berufsvertretungen, die aufgrund der in § 1 Verbotsgesetz genannten Organisationen oder Einrichtungen oder ihrer Mitglieder erlangt worden sind, für erloschen. Schließlich untersagt das Verbotsgesetz (§ 3) die Betätigung für die NSDAP, ihre Organisationen und Ziele. Einen Verstoß gegen dieses Verbot belegte § 3 Abs. 2 Verbotsgesetz mit der Todesstrafe11 und dem Verfall des gesamten Vermögens. An diese Bestimmungen schließen Anordnungen über die Registrierung von Nationalsozialisten an (Art. II) sowie umfangreiche Strafbestimmungen für Personen, die in der Zeit von 1. Juli 1933 bis 13. März 1938 Mitglieder der NSDAP oder ihrer Wehrverbände waren oder diese Organisationen finanziell förderten (Art. III). Mit der Aburteilung dieser Straftaten betraut Art. V des Verbotsgesetzes – höchst unglücklich bezeichnete12 – Volksgerichte.13 Für die heute gültige Fassung des Verbotsgesetzes ist schließlich die Novelle des Verbotsgesetzes durch das Nationalsozialistengesetz14 von maßgebender Bedeutung: An die Stelle des § 3 Abs. 2 Verbotsgesetz trat ein umfassender Katalog von Straftaten (§§ 3a–3g). Mit dem Nationalsozialistengesetz fand die – heute inhaltlich noch unveränderte – Bestimmung des § 3g Eingang in das Verbotsgesetz. § 3g Verbotsgesetz beinhaltet einen Auffangtatbestand zu den ihm vorangestellten §§ 3a–3f und erfasst jede nationalsozialistische Betätigung, sofern die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung strenger zu bestrafen ist. Die letzte Änderung des Verbotsgesetzes erfolgte durch die Verbotsgesetz-Novelle 1992.15 Neben einer Reduktion der Strafrahmen fügt der Gesetzgeber einen neuen Straftatbestand in das Verbotsgesetz ein. Gemäß § 3h ist zu bestrafen, wer in einem der dort bezeichneten Medien oder sonst öffentlich auf eine Weise, dass es vielen Menschen zugänglich wird, den nationalsozialistischen Völkermord oder andere nationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost, gutheißt oder zu rechtfertigen versucht. Der Justizausschuss des Nationalrates war dabei von den folgenden Erwägungen getra-
11
12 13
14 15
In besonders berücksichtigungswürdigen Fällen konnte anstatt der Todesstrafe auf schweren Kerker von zehn bis zwanzig Jahren erkannt werden (§ 3 Abs. 2 Verbotsgesetz); zur Abschaffung der Todesstrafe siehe gleich unten. Ähnlich Platzgummer 1994, 757 Zum Verfahren und zur Zuständigkeit der Volksgerichte siehe auch Kaplans, Martin und Susanne Reindl-Krauskopf: „Die Laienrichter der Zweiten Republik.“ In: Laien in der Gerichtsbarkeit, hrsg. von Gerald Kohl und Ilse Reiter-Zatloukal, Wien: Verlag Österreich, 2019, 223–235 Bundesverfassungsgesetz vom 6. Februar 1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten, BGBl. 25/1947 BGBl. 148/1992
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gen:16 Vom neuen Tatbestand des § 3h Verbotsgesetz solle nationalsozialistische Betätigung in Form der sog. „Auschwitz-Lüge“ erfasst sein. Der Justizausschuss verkenne nicht, dass die Leugnung nationalsozialistischer Verbrechen schon bis zu diesem Zeitpunkt nach der Rechtsprechung des OGH nach § 3g Verbotsgesetz strafbar gewesen sei. Vielmehr solle die Leugnung nationalsozialistischer Verbrechen aus dem Tatbestand des § 3g Verbotsgesetz herausgehoben werden. Durch die Neufassung des § 3h Verbotsgesetz bedürfe es bei vorsätzlicher Begehung nicht mehr – wie noch in § 3g Verbotsgesetz – des Nachweises eines besonderen Vorsatzes im nationalsozialistischen Sinn. Der neue Tatbestand stelle klar, dass qualifiziert öffentliche Äußerungen, die nationalsozialistische Verbrechen leugnen, das Zusammenleben in der Gesellschaft in einem Maß beeinträchtigten, dass eine strafrechtliche Verfolgung geboten sei. Darüber hinaus konstatiere der Tatbestand, dass der nationalsozialistische Völkermord und die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als historische Tatsache notorisch seien und im Strafverfahren keiner weiteren beweismäßigen Erörterung bedürften. Diese letzte Erwägung findet auch in der Rechtsprechung des OGH ihren Niederschlag: Der OGH sieht in den nationalsozialistischen Verbrechen nicht nur eine „notorisch[e] zeitgeschichtlich[e] Tatsache“, er sieht durch die Bestimmung des § 3h Verbotsgesetzes auch ein verfassungsgesetzliches Beweisthemenverbot.17 Der OGH sinnt dem § 3h Verbotsgesetz demnach eine – über einen gesetzlichen Straftatbestand hinausgehende – verfahrensrechtliche Dimension zu, sodass eine Beweisaufnahme über die Tatsachen des § 3h Verbotsgesetz nicht in Betracht kommt. Mit der prozessualen Einstufung als Beweisthemenverbot ist nach der Systematik der Beweisverbote in der StPO jede Beweisaufnahme über die betreffende Tatsache untersagt. Bloß zur Illustration: Ein Beweisthemenverbot besteht etwa auch in Bezug auf das Beichtgeheimnis (§ 144 StPO).18 Damit entfaltet § 3h Verbotsgesetz gleich eine zweifach durchschlagende Wirkung auf sämtliche Strafverfahren, einerseits in einer prozessualen, andererseits in einer materiell-rechtlichen Ausprägung. Als Strafe sah das Verbotsgesetz in der Fassung des Nationalsozialistengesetzes für zahlreiche Tatbestände noch die Todesstrafe vor. Die Todesstrafe im Verbotsgesetz wurde erst im Jahr 1968 gemäß Art. II des Strafrechtsänderungsgesetzes 196819 abgeschafft. Gemäß dieser Novelle trat an die Stelle der Todesstrafe die Strafe des lebenslangen schweren Ker16 17
18 19
Ausschussbericht 387 BlgNR 18. GP 4 f. OGH 16.2.1994, 13 Os 135/92; vgl. auch OGH 14.11.2017, 20 Ds 11/17y; 17.10.2019, 15 Os 69/19i; dazu auch Lässig, Rudolf: „Verbotsgesetz 1947.“ In: Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, hrsg. von Frank Höpfel und Eckart Ratz, Wien: Manz, 132. Lieferung, 2015, § 3h Verbotsgesetz, Rz. 7 Michel-Kwapinski, Alexandra: „§ 166 StPO.“ In: Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung, hrsg. von Helmut Fuchs und Eckart Ratz, Wien: Manz, 132. Lieferung, 2015, Rz. 2 Bundesgesetz vom 7. Feber 1968 über die Aufhebung aller die Todesstrafe und das standgerichtliche Verfahren betreffenden strafrechtlichen Bestimmungen, BGBl. 74/1968
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kers. Die Strafe des schweren Kerkers entfernte der Gesetzgeber mit dem Strafrechtsanpassungsgesetz 197420, das nur noch eine einheitliche Freiheitsstrafe vorsieht, aus dem Rechtsbestand.21 Neben dem Verbotsgesetz beschloss die Provisorische Staatsregierung das Kriegsverbrechergesetz22, das als reines Sonderstrafgesetz schwere Rechtsbrüche, die unter anderem bei der Vorbereitung des Krieges und in der Kriegsführung sowie in der Ausübung dienstlicher Gewalt oder sonstiger durch Gewaltmaßnahmen errungener Herrschaft begangen wurden, unter Strafe stellte.23 Das in Verfassungsrang stehende Kriegsverbrechergesetz war demnach ein ausschließlich rückwirkendes Strafgesetz.24 Auch mit dem Vollzug des Kriegsverbrechergesetzes war das sog. Volksgericht betraut (§ 13 KVG). Das Kriegsverbrechergesetz wurde schließlich im Jahr 1957 aufgehoben.25
2.2 Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG
Nach der Verwaltungsstrafbestimmung des Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG ist zu bestrafen, wer nationalsozialistisches Gedankengut im Sinne des Verbotsgesetzes verbreitet und die Tat nicht nach anderen Verwaltungsstrafbestimmungen mit strengerer Strafe bedroht ist. Unter dem Begriff „Verbreiten“ sei – nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) – in Rückgriff auf den Wortsinn jede Handlung zu verstehen, die nationalsozialistisches Gedankengut einem größeren Personenkreis zugänglich macht; darunter sei etwa das Verteilen von Flugzetteln zu verstehen.26 Die Wiedergabe des Liedtextes eines NS-Liedes als Reaktion auf eine offenkundig falsche Wiedergabe des Textes dieses Liedes ist noch nicht als „Verbreiten“ zu werten.27 Die Tathandlung des Verbreitens kann durch Unterlassen (z. B. durch Untätigbleiben oder Nichtverhindern) nicht erfüllt wer20
Bundesgesetz vom 11. Juli 1974 über die Anpassung von Bundesgesetzen an das Strafgesetzbuch, BGBl. 422/1974 21 Art. III Strafrechtsanpassungsgesetz 1974; dazu auch Platzgummer 1994, Fn. 63 22 Verfassungsgesetz vom 26. Juni 1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten, StGBl. 32/1945 23 Heller, Loebenstein und Werner 1948, I/6 24 Lässig 2015, Vorbemerkungen, Rz. 1 25 § 13 Abs. 2 des Bundesverfassungsgesetzes vom 14. März 1957, womit Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes, BGBl. Nr. 25/1947, abgeändert oder aufgehoben werden (NS-Amnestie 1957), BGBl. 82/1957 26 VwGH 8.8.2008, 2006/09/0126 27 VwGH 4.8.1992, 89/10/0122; vgl. auch zur Strafbarkeit wegen der Herausgeberschaft einer Zeitung VwGH 8.8.2008, 2006/09/0126
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den.28 Im Sinne des § 5 Abs. 1 Verwaltungsstrafgesetz (VStG) genügt – sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt – zur Strafbarkeit nach Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG fahrlässiges Verhalten.29 In Zusammenschau der Rechtsprechung des VwGH scheint der Begriff „Verbreiten“ dann doch eingeschränkter zu verstehen zu sein: Ist mit der „Verbreitung“ etwa Kritik verbunden, ist der Tatbestand des Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG noch nicht erfüllt. So verlangt der VwGH – ähnlich wie auch der OGH bei § 3g Verbotsgesetz30 – eine „propagandistisch[e] Darstellung“ nationalsozialistischen Gedankengutes.31 Daran anknüpfend ist auch Wagrandls Zuspitzung treffend: Eine liberale Demokratie könne öffentliche Kritik am Nationalsozialismus nur begrüßen, auch wenn das die Darstellung seines Gedankenguts bedinge.32
2.3 Zusammenspiel und Unterschied der Strafbestimmungen
Mit Blick auf den gewählten Themenaufriss sind zwei Aspekte an der Schnittstelle zwischen Verbotsgesetz und Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG herauszustreichen: zum einen Unterschiede in Umfang und Zweck der beiden Tatbestände, zum anderen die prozessuale Dimension, die sich aus Art. III Abs. 4 EGVG ergibt. Der Zweck der Strafbestimmung im EGVG bestand darin, eine wesentlich leichter handhabbare verwaltungsstrafrechtliche Bestimmung für das Verbreiten nationalsozialistischen Gedankengutes iSd Verbotsgesetzes zu schaffen, weil sich das Verbotsgesetz aufgrund seiner hohen Strafdrohung als schwer handhabbar erwiesen habe.33 Vor diesem Hintergrund sieht der VfGH einen Unterschied im Anwendungsbereich der Tatbestände des Verbotsgesetzes und der Strafbestimmung im EGVG:34 „Die beiden gesetzlichen Tatbestände umschreiben indessen nur scheinbar Identes. Während nämlich das VerbotsG im wesentlichen ein vorsätzliches Verhalten mit gerichtlicher Strafe bedroht, das darauf abzielt, das Wiedererstehen des Nationalsozialismus in Österreich zu bewirken, stellt Art. IX Abs. 1 Z 7 EGVG 1950 ein Verhalten unter Verwaltungsstrafe, das dem im VerbotsG umschriebenen zwar ähnelt, dem aber der für die Strafbarkeit nach dem VerbotsG geforderte besondere Vorsatz mangelt, in Österreich wieder ein nationalso28 29 30 31 32 33 34
VwGH 4.8.1992, 89/10/0122 Vgl. VwGH 16.12.1991, 90/10/0194; vgl. auch VfGH 11.10.2017, E 1698/2017 OGH 17.7.1992, 16 Os 7/92 VwGH 4.8.1992, 89/10/0122 Wagrandl, Ulrich. Wehrhafte Demokratie in Österreich, Wien: Verlag Österreich, 2019, 184 f. AB 879 BlgNR 16. GP VfSlg. 12.002/1989
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zialistisches Regime zu installieren; vielmehr geht es hier um die verwaltungsstrafrechtliche Ahndung eines Verhaltens, das dadurch, daß es – wenngleich fälschlich – den Eindruck erweckt, es werde Wiederbetätigung iS des VerbotsG betrieben (dem aber tatsächlich der dahin gehende Vorsatz mangelt), objektiv als öffentliches Ärgernis erregender Unfug bestimmter Art empfunden wird.“
Das Verbotsgesetz und die Strafbestimmung des EGVG verfolgen nicht nur einen unterschiedlichen Zweck, auch in der Deliktsstruktur sind sie auf der subjektiven Tatseite unterschiedlich ausgestaltet: Das Verbotsgesetz, insbesondere § 3g und § 3h, erfordert einen auf die nationalsozialistische Betätigung gerichteten bedingten Tatvorsatz35, wohingegen Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG schon fahrlässiges Handeln genügen lässt. Daher erfasst Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG – selbst bei der hier vertretenen eingeschränkten Interpretation des Begriffes „Verbreiten“ – einen weiteren Anwendungsbereich als etwa die §§ 3g und 3h Verbotsgesetz.36 Umgekehrt bedeutet das: Wer nationalsozialistisches Gedankengut iSd Verbotsgesetzes verbreitet – so der Tatbestand des Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG – und darauf bedingten Tatvorsatz hat, macht sich nach dem Verbotsgesetz strafbar. Gemäß § 21 VStG, wonach mangels anderer Anordnungen eine Tat als Verwaltungsübertretung nur dann strafbar ist, wenn die Tat nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung erfüllt, kommt eine Bestrafung nach Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG folglich nicht in Betracht, wenn die Tat gleichzeitig nach dem Verbotsgesetz zu bestrafen ist.37 Aus dieser Subsidiarität des Verwaltungsstrafrechtes folgt schließlich, dass Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG – unpräzise formuliert – fahrlässige Wiederbetätigung erfasst. In prozessualer Hinsicht schafft die Bestimmung des Art. III Abs. 4 EGVG eine Verbindung zwischen den Tatbeständen des Verbotsgesetzes und dem Tatbestand des Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG: Wird ein gerichtliches Strafverfahren anders als durch Schuldspruch oder Rücktritt von der Verfolgung (Diversion) beendet, hat die Staatsanwaltschaft oder das Strafgericht die Verwaltungsbehörde von der Beendigung des Verfahrens zu verständigen. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen für das Verfahren: Erstens hat ein Verwaltungsstrafverfahren erst stattzufinden, wenn die Strafbarkeit nach dem Verbotsgesetz abgeklärt ist. Zweitens ist für den Fall der Einstellung des Strafverfahrens oder des gerichtlichen Freispruchs die verwaltungsbehördliche Strafverfolgung gesetzlich vorgesehen. Dies zeigt 35 36
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Lässig 2015, § 3h, Rz. 5 So etwa auch Wagrandl 2019, 184; anderer Ansicht Merli, Franz: „Das Verbot der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes im EGVG“. In: Juristische Blätter, Wien: Verlag Österreich, 1986, 767–771, 770 Siehe auch Grabenwarter, Christoph und Mathis Fister: Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Wien: Verlag Österreich, 6. Auflage, 2019, 14
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sich auch darin, dass Art. III Abs. 5 EGVG die Zeit von der Erstattung einer Strafanzeige bis zur Mitteilung iSd Abs. 4 leg. cit. in die Verfolgungsverjährung (§ 31 Abs. 1 VStG) nicht mit einrechnet. Der umgekehrte Fall, dass etwa die Verwaltungsstrafbehörde einer gerichtlichen Entscheidung über die Strafbarkeit nach dem Verbotsgesetz vorgreift, ist rechtlich ausgeschlossen, weil (auch) die Verwaltungsstrafbehörde gemäß § 78 Abs. 1 StPO zur Anzeige an die Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, wenn ihr der Verdacht einer gerichtlich strafbaren Handlung bekannt wird. Auch wenn die Subsidiarität des Verwaltungsstrafrechtes eine doppelte Bestrafung materiellrechtlich auszuschließen vermag, hindert die Nachrangigkeit des Verwaltungsstrafrechtes nicht die mehrfache Verfolgung, wie der im Folgenden geschilderte Sachverhalt zeigt.
3. Sachverhalt
Ein Rechtsanwalt, der in einem Strafverfahren nach dem Verbotsgesetz als Pflichtverteidiger bestellt war, hielt in diesem Verfahren am 18. März 2016 ein Plädoyer. Den Inhalt dieses Plädoyers gab das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich wie folgt wieder: „[E]r [der Angeklagte] befindet sich außerhalb der anerkannten Geschichtsschreibung, er macht irgendwie Mauthausen zu einer Art Mythos, weil er sagt, da marschieren die Leute in die Öfen, bitte, das ist überhaupt nie passiert. Es ist strittig, ob in Mauthausen Vergasungen und Verbrennungen stattgefunden haben, es ist für Hartheim erwiesen und was man seinerzeit – mittlerweile ist das wieder umgeändert worden – in Mauthausen zu Gesicht bekommen hat, ist eine sogenannte Gaskammer, die nachträglich eingebaut worden ist. Es ist, wie gesagt, unbekannt, ob die jemals dort vorhanden war, weil beim Eintreffen der Amerikaner war das Konzentrationslager komplett leer geräumt, es hat sich keine Gaskammer und kein Verbrennungsofen dort befunden. Es ist also, wenn er sagt, er möchte dort wieder etwas herstellen, was es eigentlich nicht gegeben hat, eine Spintisiererei und realitätsfremd.“
Aufgrund dieser Äußerungen erhob die Staatsanwaltschaft Wels Anklage gegen den Verteidiger, weil der Verteidiger das Verbrechen des § 3h Verbotsgesetz begangen habe. Nachdem der Weisungsrat38 des Bundesministeriums für Justiz mit diesem Fall befasst wurde und 38
Die Staatsanwaltschaften befinden sich in einer Weisungshierarchie, an deren Spitze der Bundesminister für Justiz steht. Für den ministeriellen Weisungsbereich ist ein Beirat (sog. Weisungsrat) eingerichtet (§ 29b Staatsanwaltschaftsgesetz [StAG]). Der Bundesminister für Justiz hat den Weisungsrat unter anderem zu befassen, wenn eine Weisung zur Sachbehandlung in einem bestimmten Verfahren erteilt werden soll (§ 29c Abs. 1 Z. 1 StAG). Dazu hat der Bundesminister
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eine Empfehlung aussprach, erteilte der Bundesminister für Justiz der Oberstaatsanwaltschaft Linz die Weisung, die Staatsanwaltschaft Wels anzuweisen, von der Anklage zurückzutreten. Auszüge der Begründung dieser Weisung lauten wie folgt: „Die unrichtige Bestreitung der Existenz einer bestimmten Gaskammer kann zwar nach spezieller Lage eines Falles durchaus eine Tathandlung im Sinne des § 3h VG darstellen, hierzu müsste allerdings die Äußerung verallgemeinernden Charakter haben und solcherart auf den Kernbereich der nationalsozialistischen Verbrechen abzielen. Ein derartiger verallgemeinernder Bedeutungsgehalt ist im gegenständlichen Verteidigervortrag jedoch nicht erkennbar. Die inkriminierten Äußerungen dürfen hier nämlich nicht aus dem Gesamtkontext des Plädoyers vom 18. März 2016 herausgelöst betrachtet werden. Dessen gesamtem Wortlaut ist vielmehr zu entnehmen, dass der Angeklagte die nationalsozialistischen Massenmorde und die hiermit verbundene Existenz von Konzentrationslagern und Gaskammern als historische Tatsache angesprochen (arg ,es ist für Hartheim erwiesen‘) und in keiner Weise bagatellisiert hat.“
Nachdem die Staatsanwaltschaft von der Anklage zurückgetreten war, stellte der Vorsitzende des Schwurgerichtshofes das Strafverfahren gemäß § 227 Abs. 1 StPO mit Beschluss ein. Der Vorsitzende verständigte gemäß Art. III Abs. 4 EGVG die Sicherheitsbehörde vom Rücktritt der Anklage. Daraufhin verhängte die Landespolizeidirektion Oberösterreich wegen Verstoßes gegen Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG über den Verteidiger eine Geldstrafe in der Höhe von € 500,–, die die Behörde aufgrund eines Einspruches des Verteidigers mit Strafbescheid bestätigte. Die gegen den Strafbescheid erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich als unbegründet ab. Diese Entscheidung bekämpfte der Verteidiger beim VfGH. Der Verteidiger erachtete sich durch die verwaltungsbehördliche Bestrafung im Recht gemäß Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (7. ZPEMRK), wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden, verletzt. „Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen wordem Weisungsrat einen Erledigungsentwurf vorzulegen. Zu diesem Erledigungsentwurf hat der Weisungsrat eine schriftliche Äußerung zu erstatten. Wenn der Bundesminister der Äußerung des Weisungsrates nicht entspricht, hat er die Äußerung des Weisungsrates samt einer Begründung, weshalb der Äußerung nicht entsprochen wurde, in einem Bericht an den Nationalrat und den Bundesrat zu veröffentlichen (§ 29c Abs. 3 StAG). Der Bundesminister ist folglich nicht an die Äußerung des Weisungsrates gebunden.
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den ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden“ (Art. 4, 7. ZPEMRK).
4. Der EGMR und das Doppelbestrafungs- bzw. Doppelverfolgungsverbot
In Zusammenhang mit dem in der EMRK normierten Doppelbestrafungs- bzw. Doppelverfolgungsverbot (ne bis in idem-Prinzip) war der EGMR mit Sitz in Straßburg, welcher die Einhaltung der EMRK in den Vertragsstaaten des Europarates sicherstellt, bereits mehrfach befasst und hatte insbesondere zu klären, wie der Begriff „strafbare Handlung“ zu verstehen ist. Die Klärung dieses Begriffs ist für die Frage relevant, wann der Anwendungsbereich des Doppelbestrafungs- bzw. Doppelverfolgungsverbotes eröffnet ist. Dabei bestanden zunächst mehrere Ansätze: Im Fall Gradinger stellt der EGMR auf dasselbe Verhalten („the same conduct“) ab.39 Im Fall Oliveira vertrat der EGMR die Ansicht, dass das die Verfolgung begründende Verhalten dasselbe sei, dasselbe Verhalten jedoch mehrere strafbare Handlungen begründen könne und die verwirklichten strafbaren Handlungen in verschiedenen Verfahren abgeurteilt werden könnten („being tried twice for the same offence whereas in cases concerning a single act constituting various offences [concours idéal d’infractions] one criminal act constitutes two separate offences“).40 Im dritten Fall, dem Fall Fischer, der wieder einen Sachverhalt aus Österreich betrifft, kann bereits eine differenzierte Beurteilung des EGMR beobachtet werden:41 Grundsätzlich bestätigt der EGMR die Zulässigkeit der Verfolgung wegen mehrerer Straftaten aufgrund eines einzigen Aktes. Nach der Ansicht des EGMR müsse jedoch zusätzlich geprüft werden, ob die Straftatbestände die gleichen wesentlichen Elemente aufweisen („has to examine whether or not such offences have the same essential elements“). Um diese verschiedenen Ansätze zu vereinheitlichen, nahm der EGMR in der Entscheidung Zolotukhin, eine Entscheidung der Großen Kammer (GK), eine Harmonisierung 39
40 41
EGMR 23.10.1995, 15.963/90 Gradinger gegen Österreich. In diesem Fall hatte der EGMR die Frage zu klären, ob jemand bei der fahrlässigen Tötung einer Person im Straßenverkehr in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand zusätzlich auch nach der Verwaltungsstrafbestimmung der Straßenverkehrsordnung bestraft werden dürfe, obwohl die angewandte Strafnorm des § 81 Z. 2 Strafgesetzbuch (in der Fassung BGBl. 60/1974) schon als Qualifikationsnorm die Tatbegehung in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand berücksichtigte. EGMR 30.7.1998, 84/1997/868/1080 Oliveira gegen Schweiz EGMR 29.5.2001, 37.950/97 Fischer gegen Österreich. In diesem Fall stellte der EGMR – wiederum eine fahrlässige Tötung im Straßenverkehr, begangen von einem alkoholisierten Täter – eine Verletzung des Täters im Recht des Art. 4, 7. ZPEMRK fest; vgl. zu dieser Rechtsprechungslinie weiters auch EGMR 30.5.2002, 38.275/97 W.F. gegen Österreich; 6.6.2002, 38.237/97 Sailer gegen Österreich.
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der dargestellten Ansätze vor:42 Der Begriff „strafbare Handlung“ sei derart zu verstehen, dass er die Verfolgung oder Anklage einer zweiten strafbaren Handlung verbiete, wenn diese Handlung auf identischen Tatsachen oder Tatsachen beruhe, die im Wesentlichen dieselben seien („arises from identical facts or facts which are substantially the same“). Den vorläufigen Endpunkt nimmt die Rechtsprechung des EGMR in der – ebenfalls von der GK gefassten – Entscheidung A und B ein:43 Die EMRK verbiete nicht, den Vorgang der Verurteilung in verschiedene Phasen oder Teile aufzuteilen. Verschiedene Sanktionen für eine Straftat dürften nacheinander oder parallel verhängt werden. Die Mitgliedstaaten sollten in der Lage sein, ergänzende rechtliche Reaktionen auf sozial unerwünschtes Verhalten zu setzen, um in einem kohärenten Ganzen verschiedene Aspekte eines sozialen Problems anzusprechen. Die derart kumulierten rechtlichen Antworten dürften jedoch keine übermäßigen Belastungen für den Betroffenen darstellen. Art. 4 des 7. ZPEMRK stehe einer Rechtsordnung nicht entgegen, die eine Verwaltungsstrafe verhängt und den Täter schließlich wegen eines zusätzlichen Elements (z. B. betrügerischen Verhaltens), das die Verwaltungsstrafbestimmung nicht anspricht, bestraft. Nach der Ansicht des EGMR solle ein Gleichgewicht zwischen den Interessen der durch das ne bis in idem-Prinzip geschützten Menschen einerseits und Interessen der Gemeinschaft, einen kalibrierten Regulierungsansatz („calibrated regulatory approach“) verfolgen zu können, andererseits hergestellt werden. Zur Vornahme dieser Abwägung lässt sich der Gerichtshof von mehreren Überlegungen leiten, die er teilweise auch bereits in früheren Entscheidungen anstellte: So liege etwa ein Verstoß gegen Art. 4 des 7. ZPEMRK vor, wenn eine hinreichend enge Verbindung zeitlicher und inhaltlicher Art nicht bestehe.44 Aus diesen Erwägungen entwickelt der EGMR schließlich vier maßgebende Faktoren, ob ein hinreichend enger Zusammenhang besteht:45 • Verfolgen die verschiedenen Verfahren zusammenhängende Zwecke und sprechen die Verfahren nicht nur abstrakt, sondern auch konkret verschiedene Aspekte sozialen Fehlverhaltens an? 42 43
44
45
EGMR (GK) 10.2.2009, 14.939/03 Zolotukhin gegen Russland EGMR (GK) 15.11.2016, 24.130/11 und 29.758/11, A und B gegen Norwegen; dazu auch Grof, Alfred: „Das Doppelbestrafungsverbot im Spiegel der neuesten Judikatur der europäischen Höchstgerichte.“ In: Österreichisches Anwaltsblatt, Wien: Manz, 2018, 669–677; Staffler, Lukas: „Parallele Verfahren in idem factum als zulässige Doppelverfolgung?“ In: Österreichische Juristenzeitung, Wien: Manz, 2017, 161–167 Dazu verweist der EGMR auf Entscheidungen aus der jüngeren Vergangenheit, wie etwa EGMR 27.11.2014, 7356/10 Lucky Dev gegen Schweden oder EGMR 27.1.2015, 17.039/13 Rinas gegen Finnland EGMR, Fall A und B, Rz. 132
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• Ist die Dualität der Verfahren eine vorhersehbare Folge einer vorgeworfenen Handlung (idem)? • Werden beide Verfahren so geführt werden, dass Doppelgleisigkeiten in der Sammlung sowie der Bewertung der Beweismittel möglichst vermieden werden, insbesondere durch ein angemessenes Zusammenspiel der verschiedenen zuständigen Behörden, sodass die erhobenen Beweise in beiden Verfahren verwertet werden können? • Wird die Sanktion des ersten Verfahrens bei der Bemessung der Sanktion des zweiten Verfahrens berücksichtigt, sodass die verhängte Gesamtstrafe verhältnismäßig ist und den Betroffenen nicht übermäßig belastet? Über diese Kriterien hinaus berücksichtigt der EGMR weitere Faktoren, teilweise mit Verweis auf frühere Entscheidungen:46 • Die Kombination von Verwaltungsstrafverfahren und gerichtlichen Strafverfahren entspreche eher dem Art. 4 7. ZPEMRK, wenn das Verwaltungsstrafverfahren Handlungen betrifft, die nicht zum Kernstrafrecht („hard core of criminal law“) zählen.47 • Das Verwaltungsstrafverfahren dürfe kein signifikantes Maß an Stigmatisierung aufweisen, die eine unverhältnismäßige Belastung der betroffenen Person mit sich bringe. • Beide Verfahren müssten in einem engen zeitlichen Zusammenhang stehen. Die Verfahren müssten allerdings nicht gänzlich parallel laufen, sondern könnten auch stufenweise durchgeführt werden, wenn dies aus Gründen der Effizienz und der ordnungsgemäßen Rechtspflege begründet sei. Je schwächer der zeitliche Konnex ausgeprägt sei, desto höher ist die Begründungspflicht des Staates. Im Fall A und B kam der EGMR zum Ergebnis, dass keine Verletzung des Art. 4 des 7. ZPEMRK vorliege. Der diesem Fall zugrunde liegende Sachverhalt betraf Abgabenhinterziehungen:48 Die Beschwerdeführer vor dem EGMR wurden einerseits jeweils wegen schweren Steuerbetrugs gerichtlich verurteilt, andererseits wurde über die Beschwerdeführer ein mit strafendem Charakter versehener Steuerzuschlag (in der Höhe von 30 %) verhängt. Der EGMR sah darin eine mehrfache Sanktionierung derselben Handlung.49 Da die Bestrafung wegen des Betruges – anders als die Abgabenhinterziehung, die nur zur Abschreckung bestraft werden sollte – zusätzlich einen Strafzweck wegen des schuldhaften Betrugs verfolgte, fand der Gerichtshof keinen Anstoß daran, den – im Vergleich zur 46 47 48 49
EGMR, Fall A und B, Rz. 133 f. Mit Verweis auf EGMR (GK) 23.11.2006, 73.053/01 Jussila gegen Finnland EGMR, Fall A und B, Rz. 11 ff. EGMR, Fall A und B, Rz. 148 ff.
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Nichtzahlung von Steuern – sozial inadäquateren Fall des Betruges nicht im verwaltungsbehördlichen Strafverfahren, sondern in einem gerichtlichen Strafverfahren abzuhandeln.50 Darüber hinaus würde keine Verletzung des Art. 4 7. ZPEMRK vorliegen, weil die Durchführung von zwei Verfahren für den Betroffenen vorhersehbar gewesen sei, die Verfahren miteinander verbunden gewesen seien und im (nachfolgenden) gerichtlichen Strafverfahren die zuvor im administrativen Verfahren verhängte Strafe berücksichtigt worden sei.51 Daher sei der Betroffene zwar von zwei verschiedenen Behörden in unterschiedlichen Verfahren mit verschiedenen Strafen belegt worden, zwischen all dem habe jedoch ein zeitlich und inhaltlich hinreichend enger Zusammenhang bestanden.52
5. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes VfSlg. 20.207/2017
Mit Erkenntnis vom 11. Oktober 201753 stellte der VfGH fest, der beschwerdeführende Rechtsanwalt sei durch das angefochtene Erkenntnis weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden und wies die Beschwerde als unbegründet ab. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers, die verwaltungsstrafrechtliche Verfolgung verstoße gegen das Doppelverfolgungsverbot, hält der VfGH die Entscheidung A und B gegen Norwegen54 des EGMR entgegen, wonach unter bestimmten Voraussetzungen die zweifache Verfolgung und Bestrafung desselben Verhaltes zulässig sei.55 Unter Bezugnahme auf die dargestellte Rechtsprechung des EGMR stellt der VfGH zum einen auf die Zielsetzung des Gesetzgebers ab:56 Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG ziele auf die Vermeidung von Störungen der öffentlichen Ordnung, die gerade vom Verbotsgesetz nicht mehr erfasst seien, ab. Daher sei der Tatbestand des EGVG auch wesentlich weiter gefasst als § 3h Verbotsgesetz, der im Übrigen zum Zeitpunkt der Einführung des EGVG-Tatbestandes noch nicht bestanden habe. Zum anderen genüge für den Tatbestand des Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG Fahrlässigkeit, wohingegen § 3h Verbotsgesetz Vorsatz erfordere. Daher würden die beiden Straftatbestände unterschiedliche Zwecke verfolgen. Die beiden Straftatbestände würden darüber hinaus verschiedene Strafen (Geldstrafe und Freiheitsstrafe) vorsehen. 50 51 52 53 54 55 56
EGMR, Fall A und B, Rz. 144 ff. EGMR, Fall A und B, Rz. 146 EGMR, Fall A und B, Rz. 147 E 1698/2017, VfSlg. 20.207/2017 Ausführlich zum Fall A und B siehe schon oben 4. Der EGMR und das Doppelbestrafungs- bzw. Doppelverfolgungsverbot VfSlg. 20.207/2017, Rz. 23 VfSlg. 20.207/2017, Rz. 33 ff.
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6. Das disziplinarrechtliche Verfahren
Der Disziplinarrat der oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer verhängte über den Rechtsanwalt mit Erkenntnis vom 27. Februar 2017 eine Geldstrafe in der Höhe von € 10.000,–, weil er die Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes nach § 1 Abs. 1 erster und zweiter Fall Disziplinarstatut für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (DSt)57 begangen habe. Der gegen diese Entscheidung erhobenen Berufung des Rechtsanwaltes gab der OGH als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter nicht Folge. Die Begründung des OGH lautet – soweit für die Beurteilung der Entscheidung mit Blick auf das Doppelverfolgungs- bzw. Doppelbestrafungsverbot von Relevanz – auszugsweise:58 Auch wenn § 3h Verbotsgesetz strafrechtlich nur die Leugnung und das Verharmlosen der nationalsozialistischen Verbrechen in ihrem Kern unter strafrechtliche Sanktion stelle, dürfe ein Rechtsanwalt, der im Hinblick auf sein rechtliches Fachwissen und die Verpflichtung, die Gesetze zu beachten, eine besondere Vertrauensstellung in der Öffentlichkeit in Anspruch nehme, in der Ausübung seines Berufs nicht einmal den Eindruck erzeugen, er wolle – im Widerspruch zur Wertung des Verbotsgesetzes – derartige notorische Tatsachen bezweifeln oder relativieren. Der Rechtsanwalt habe zwar § 3h Verbotsgesetz nicht verletzt, dieser Umstand allein schließe allerdings noch nicht die disziplinarrechtliche Verantwortung des Rechtsanwaltes aus. Schon das Erzeugen des Anscheins einer Rechtsverletzung könne standesrechtlich strafbar sein. Dieser Umstand hätte dem Rechtsanwalt auch nicht verborgen geblieben sein können, weil er der ständigen Rechtsprechung entspreche. Zwar bestehe für die im vorliegenden Fall aufgeworfene Rechtsfrage noch keine einschlägige Judikatur. Der Rechtsanwalt hätte sich allerdings vor dem Hintergrund der hochsensiblen Materie des Holocaust, wie die Existenz des Verbotsgesetzes selbst 60 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes zeige, der beispiellosen Besonderheit dieses Themas bewusst sein müssen. Die nicht vollständige Durchdringung dieses Themas – vor allem bei der Übernahme einer Verteidigung eines nach dem Verbotsgesetz Angeklagten – sei grob fahrlässig. Daher sei „von einer aufgrund der gesetzlichen Vorgaben bestimmbaren Standesauffassung auszugehen, nach der sich der Rechtsunterworfene ausrichten konnte“. Schließlich sei bei der Bemessung der Strafe der für das Ansehen der Rechtsanwaltschaft abträgliche hohe Erfolgsunwert der Handlung sowie als einziger Milderungsgrund die bisherige Unbescholtenheit des Rechtsanwaltes berücksichtigt worden. 57 58
Bundesgesetz vom 28. Juni 1990 über das Disziplinarrecht der Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter, BGBl. 474/1990 OGH 14.11.2017, 20 Ds 11/17y
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7. Eigene Bewertung und Conclusio
Zur Verdeutlichung wird für die eigene Bewertung zunächst der zeitliche Kontext der Verfahren dargestellt: Das Strafverfahren nach § 3h Verbotsgesetz stellte der Vorsitzende des Schwurgerichtshofes mit Beschluss vom 17. Oktober 2016 ein und verständigte am 28. Oktober 2016 die zuständige Sicherheitsbehörde. Das damit eingeleitete Verwaltungsstrafverfahren beendete die Landespolizeidirektion Oberösterreich mit dem Strafbescheid vom 27. Jänner 2017. Dieser Bescheid wurde mit der Abweisung der Beschwerde durch das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich vom 3. April 2017 rechtskräftig. Die an den VfGH erhobene Beschwerde blieb erfolglos. Schließlich verhängte der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Oberösterreich am 27. Februar 2017 eine Geldstrafe (€ 10.000,–) über den Rechtsanwalt. Diese Strafe bestätigte der OGH mit Urteil vom 14. November 2017. Im vorliegenden Fall erfolgten also Verfolgungshandlungen von drei Behörden und zwei Bestrafungen.
7.1 Zur Entscheidung des VfGH
Aus doppelverfolgungsrechtlicher Sicht existiert nur in Bezug auf die Verfolgung nach dem Verbotsgesetz und die nach der Einstellung anschließende Verfolgung nach dem EGVG höchstgerichtliche Rechtsprechung des VfGH: Zusammengefasst schließt der VfGH einen Verstoß gegen Art. 4 des 7. ZPEMRK aus. Die Begründung stützt der VfGH unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR im Fall A und B gegen Norwegen insbesondere auf die unterschiedliche Zielsetzung und Struktur der Straftatbestände.59 Die Argumentation des VfGH ist schon vor dem Hintergrund der Entstehung des nun in Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG verorteten Straftatbestandes nachvollziehbar: Dieser Verwaltungsstraftatbestand soll dort zur Anwendung kommen, wo das Verbotsgesetz nicht greift.60 Dementsprechend ist der Tatbestand des Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG auch viel weiter gefasst als etwa § 3h Verbotsgesetz, weil Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG nicht die vorsätzliche Betätigung erfordert, sondern schon Fahrlässigkeit genügen lässt. Auf weitere Kriterien, die der EGMR entwickelte, geht der VfGH nicht explizit ein.61 Unbeachtet lässt der 59 60 61
VfSlg. 20.207/2017, Rz. 35 Siehe dazu schon oben 2.3 Zusammenspiel und Unterschied der Strafbestimmungen So auch Birklbauer, Alois: „Subsidiarität und Doppelbestrafungsverbot bei Verstößen gegen das Verbotsgesetz und das Verwaltungsstrafrecht“. In: „… um alle nazistische Tätigkeit und Propaganda in Österreich zu verhindern“, hrsg. von Mathias Lichtenwagner und Ilse Reiter-Zatloukal, Graz: Clio, 2018, 59–66, 66
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VfGH etwa die Erfordernisse, bei der Beweiserhebung und -bewertung Doppelgleisigkeiten möglichst zu vermeiden, die Strafverfahren in einen zeitlich engen Konnex zu setzen sowie die Vorhersehbarkeit einer möglichen Doppelverfolgung oder -bestrafung. Dennoch ergibt sich auch unter Berücksichtigung der vom EGMR formulierten weiteren Kriterien kein Verstoß gegen Art. 4 des 7. ZPEMRK: Erstens ist die Subsidiarität der verwaltungsstrafrechtlichen Bestimmung gegenüber den Tatbeständen des Verbotsgesetzes nicht nur bloß materiellrechtlich abgesichert (§ 21 VStG). Auch prozessual hat die Verwaltungsstrafbehörde zunächst das Ergebnis eines gerichtlichen Strafverfahrens abzuwarten und kann erst anschließend wegen Art. III Abs. 1 Z. 4 EGVG verfolgen bzw. bestrafen.62 Insofern ist eine sukzessive Verfolgung vorhersehbar. Diese sukzessive Verfolgung stellt in Verbindung mit der einjährigen Verfolgungsverjährung (§ 31 Abs. 1 VStG) zweitens auch einen ausreichend engen zeitlichen Konnex zwischen dem gerichtlichen und dem verwaltungsbehördlichen Strafverfahren her. Drittens dürfte auch die vom EGMR geforderte Konzentration der Beweissammlung und -bewertung hinreichend ausgestaltet sein. Der Verwaltungsbehörde ist es im vorliegenden Fall zwar nicht verwehrt, eigene Beweise zu sammeln, ihr steht es jedoch auch frei, über den Amtshilfeweg in die im gerichtlichen Strafverfahren erhobenen Beweisergebnisse Einsicht zu nehmen. Somit liegt es an der Verwaltungsbehörde, das Ermittlungsverfahren für den Beschuldigten möglichst wenig eingriffsintensiv zu gestalten und derart eine Verletzung des Doppelverfolgungsverbotes möglichst zu vermeiden. Differenzierter ist die Bewertung der Beweise. Eine Bindung der Verwaltungsbehörde an eine strafgerichtliche oder staatsanwaltschaftliche Entscheidung besteht grundsätzlich nicht.63 Gerade in einem nach dem Verbotsgesetz durchzuführenden geschworenengerichtlichen Verfahren kann der Entscheidung zur Beweiswürdigung mangels Begründung auch kaum etwas entnommen werden. Eine Durchlässigkeit vom strafgerichtlichen Verfahren hin zum verwaltungsbehördlichen Verfahren ist folglich nicht vorgesehen und faktisch auch schwer umsetzbar. Letztlich aber muss – wenn schon die Verfolgung in verschiedenen Verfahren zulässig ist – die Behörde eine eigenständige Bewertung der vorliegenden Beweise vornehmen können. Der EGMR scheint den Fokus vor allem auf die Sammlung der Beweismittel zu legen („the establishment of facts in one set is also used in the other set“64). Schon der Umstand, dass die verschiedenen einschreitenden Behörden das Verhalten des Betroffenen unterschiedlichen Tatbeständen subsumieren, zeigt, dass zumindest eine eigene Bewertung von Beweisen durch die Behörde notwendig sein kann. Dies ist auch im vorliegenden Fall gegeben: Die Behörde hatte jedenfalls auf der 62 63 64
Dazu ausführlich unter 2.3 Vgl. VwGH 3.9.2003, 2000/03/0369; 20.2.2002, 2001/12/0094; dazu auch Hengstschläger, Johannes und David Leeb: Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, Wien: Manz, 2005, § 38, Rz. 22 EGMR, Fall A und B, Rz. 132
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subjektiven Tatseite eine eigene Beurteilung vorzunehmen. Daher ist es meines Erachtens im vorliegenden Fall nicht als Verletzung des Doppelverfolgungsverbotes zu werten, wenn eine Verwaltungsbehörde eine eigene Bewertung oder auch Erhebungen von Beweisen vornimmt.
7.2 Zur Entscheidung des OGH
Der OGH spricht Fragen der Doppelbestrafung in seiner Entscheidung über das Rechtsmittel gegen die Disziplinarentscheidung nicht an. Daher erscheint mir – vor dem Hintergrund der jüngeren Rechtsprechung des EGMR in den schon dargestellten Fällen Zolotukhin sowie A und B – ein genauerer Blick auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Doppelbestrafung bzw. der nunmehrigen „Dreifach“-Verfolgung lohnenswert. Fraglich ist zunächst die Anwendbarkeit des Art. 4 des 7. ZPEMRK in disziplinarrechtlichen Verfahren: Art. 4 des 7. ZPEMRK knüpft beim Begriff des Strafrechtes („offence“, „infraction“ bzw. in der deutschen Übersetzung „strafbar[e] Handlung“) an Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) an.65 Daher ist zunächst zu klären, ob das disziplinarrechtliche Verfahren bzw. die Disziplinarstrafe für Rechtsanwälte in den Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK fällt. Der EGMR verneint für den disziplinarrechtlichen Bereich die Anwendbarkeit des strafrechtlichen Teiles der Garantien des Art. 6 EMRK: Art. 6 EMRK sei bloß in dem Umfang, wie er auch für zivilrechtliche Verfahren gelte, auf Disziplinarverfahren anzuwenden.66 Nach dieser Einordnung des EGMR würde sich der Schutzbereich des Art. 4 des 7. ZPEMRK nicht auf das Disziplinarverfahren erstrecken. Dieses Ergebnis scheint auch auf der Linie des Explanatory Reports zum 7. ZPEMRK liegen, wonach der Anwendungsbereich der Art. 4 beispielhaft für das Disziplinarverfahren der Beamten ausgeschlossen sei.67 Zu einer anderen Einordnung in Bezug auf Art. 6 EMRK gelangt der VfGH: Beginnend mit VfSlg. 11.506/1987 vertritt der VfGH die Ansicht, schwere Disziplinarstrafen im Bereich der freien Berufe, wie etwa ein dauerndes oder vorübergehendes Berufsverbot, 65 66
67
Grabenwarter, Christoph und Katharina Pabel: Europäische Menschenrechtskonvention, München: C. H. Beck, 2016, 6. Aufl., § 24, Rz. 164 mwN. EGMR 19.2.2013, 47.195/06 Müller-Hartburg gegen Österreich; vgl. auch EGMR (GK) 19.4.2007, 63.235/00 Vilho Eskelinen gegen Finnland; dazu auch Steininger, Christoph und Gerhard Nogratnig: „Das Konstrukt des ‚disziplinären Überhangs‘ – ein Problemaufriss (Teil I)“ in Österreichische Richterzeitung, Wien: Vereinigung der österr. Richter, 2019, 103–108, 105 mwN. Council of Europe. Explanatory Report to the Protocol No. 7 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms (Straßburg: 1984, European Treaty Series No. 117)
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seien als Strafe iSd Art. 6 EMRK anzusehen.68 Dabei komme es nicht auf die tatsächlich verhängte Strafe, sondern auf die Strafdrohung an. Zu einer anderen, auf der Linie des EGMR liegenden Auffassung gelangt der VfGH in Bezug auf Beamte, wonach eine Disziplinarstrafe gegen einen Beamten nicht den Anwendungsbereich der strafrechtlichen Garantie des Art. 6 EMRK eröffne. Diese Differenzierung stößt meines Erachtens zutreffend auf Kritik, weil auch das Beamtendienstrecht die Entlassung vorsieht.69 Dennoch bleibt im Ergebnis, dass der VfGH für Art. 6 EMRK in Bezug auf das Disziplinarrecht der freien Berufe einen weiteren Anwendungsbereich anerkennt als der EGMR. Daher bleibt betreffend das Disziplinarrecht der freien Berufe noch offen, ob gleichzeitig auch Art. 4 des 7. ZPEMRK anzuwenden ist: Der VfGH erblickt bei einer disziplinarrechtlichen Verurteilung eines Rechtsanwaltes im Nachgang zu einer gerichtlichen Verurteilung keine Verletzung des Art. 4 des 7. ZPEMRK, weil es „ein legitimes Interesse einer Standesgemeinschaft darstelle, sich im Falle gerichtlicher Verurteilungen – denen Verhaltensweisen des Betroffenen zugrunde liegen, von denen auch eine Gefährdung des Ansehens des Standes oder der ordnungsgemäßen Erfüllung bestimmter standesspezifischer Berufspflichten ausgeht – in Wahrnehmung des sogenannten ‚disziplinären Überhanges‘ disziplinarrechtliche Reaktionen vorzubehalten.“70 In diesem Zusammenhang liegt nach der Ansicht des VfGH ein „eigener – eine gesonderte disziplinäre Bestrafung rechtfertigender – Aspekt“ vor. Der VfGH prüft folglich inhaltlich, ob ein Verstoß gegen das Verbot der Doppelverfolgung bzw. -bestrafung vorliegt. Er spricht zwar nicht aus, ob der Anwendungsbereich des Art. 4 des 7. ZPEMRK überhaupt eröffnet ist, meines Erachtens deutet jedoch gerade das Abstellen auf einen rechtfertigenden Aspekt auf die Anwendbarkeit des Art. 4 des 7. ZPEMRK hin. Mit anderen Worten: Wäre schon die Anwendbarkeit des Art. 4 des 7. ZPEMRK zu verneinen, bestünde nicht das Bedürfnis, die (weitere) Bestrafung in irgendeiner Form zu rechtfertigen. Meines Erachtens ist es nur konsequent – wenn der VfGH eine bestimmte Disziplinarstrafe schon als Strafe iSd Art. 6 EMRK einordnet –, auch das Verbot der Doppelbestrafung bzw. verfolgung auf das Disziplinarrecht anzuwenden.71 Es würde ein Wertungswiderspruch entstehen, wenn das Verwaltungsstrafrecht, das teils sehr niedrige Strafdrohungen (wie es auch der vorliegende Sachverhalt zeigt) umfasst, im vollen Anwendungsbereich des Art. 4 des 7. ZPEMRK liegt, Disziplinarverfahren, in denen teils sehr hohe Strafen 68 69 70 71
Insbesondere zu Rechtsanwälten siehe VfSlg. 11.512/1987, 15.495/1999, 16.268/2001, 17.440/2005 Steininger und Nogratnig 2019, 108 VfSlg. 17.763/2006 mwN In diese Richtung auch Glaser, Severin und Christopher Kahl: „Art. 4 7. ZPEMRK“. In: Rill - Schäffer - Kommentar Bundesverfassungsrecht, hrsg. von Benjamin Kneihs und Georg Lienbacher, Wien: Verlag Österreich, 2018, 21. Lieferung, Rz. 19
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(im vorliegenden Fall € 10.000,–) bis hin zu einem Berufsverbot verhängt werden können, hingegen im grundrechtlichen Schutz zurückblieben. Auf der Hand liegt freilich, dass die Rechtsprechung des EGMR die weite Auslegung des Art. 6 EMRK des VfGH – und die meines Erachtens daraus resultierende Anwendbarkeit (auch) des Verbotes der Doppelbestrafung bzw. -verfolgung – nicht gebietet. Insofern ist es – wiederum nach der Rechtsprechung des EGMR – nicht geboten, bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Doppelverfolgung oder -bestrafung auf die in der Entscheidung A und B entwickelten Kriterien zurückzugreifen. Das hat der VfGH im Disziplinarrecht bisher auch nicht getan, sondern auf den rechtfertigenden Aspekt des „disziplinären Überhanges“ zurückgegriffen. Diese Linie übernimmt auch der OGH als nun zuständiges Höchstgericht in Disziplinarsachen der Rechtsanwälte.72 Folglich ist die Rechtmäßigkeit der Doppelverfolgung bzw. -bestrafung in einem dem Strafverfahren nachgelagerten Disziplinarverfahren nicht zwingend nach den in der Entscheidung A und B entwickelten Kriterien zu beurteilen, weil der EGMR die Anwendung des Art. 4 des 7. ZPEMRK nicht ausdrücklich auf das disziplinarrechtliche Verfahren gegen einen Rechtsanwalt erstreckt. Gleichzeitig liegt es jedoch nahe, dass der VfGH und der OGH die Anwendbarkeit des Art. 4 des 7. ZPEMRK im disziplinarrechtlichen Verfahren gegen einen Rechtsanwalt annehmen, aber auch eine breite Rechtfertigung für die Doppelbestrafung anerkennen. Somit liegt die für diese Betrachtung anlassgebende Entscheidung des OGH auf der bisherigen Rechtsprechungslinie. Ob bei der Vollziehung des Disziplinarrechtes der Rechtsanwälte die in der Entscheidung A und B entwickelten Kriterien Niederschlag finden, bleibt abzuwarten. Wünschenswert wäre es – gerade mit Blick auf die teils sehr niedrigen Strafen im Verwaltungsstrafrecht bei vollem Anwendungsbereich des Art. 4 des 7. ZPEMRK – allemal.
72
OGH 8.5.2015, 20 Os 1/15w; so auch Lehner, Stefan: „§ 23 DSt“. In: Rechtsanwaltsordnung: Rechtsanwaltsordnung, Disziplinarstatut und Richtlinien für die Berufsausübung. hrsg. von Karl F. Engelhart u. a., Wien: Manz, 2015, 9. Auflage, Rz. 7
Die Israelitische Kultusgemeinde in herausfordernden Zeiten1 Raimund Fastenbauer
Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) ist dem österreichischen Gesetz nach eine öffentlich-rechtliche Körperschaft mit konfessionellem Charakter und vertritt die Interessen ihrer Mitglieder. Hier taucht bereits das erste definitorische Problem auf: Im Selbstverständnis will man sich nicht auf die rein juristische Ebene zurückziehen. Das Judentum ist seinem grundsätzlichen traditionellen Selbstverständnis nach eine Religionsnation, ein durch eine gemeinsame Religion geprägtes Volk. Ein Jude kann durchaus Atheist sein, aber nicht Mitglied einer anderen Religionsgemeinschaft. Die Kultusgemeinde ist eine Einheitsgemeinde, die Juden unterschiedlicher religiöser Praxis – von streng orthodox bis liberal und nicht praktizierend – umfasst; sie hat somit auch Mitglieder, die sich als Juden nicht religiös, sondern aufgrund gemeinsamer nationaler Geschichte, Volkszugehörigkeit oder der erlebten Familiengeschichte und Familienbande definieren. Sie sehen die Kultusgemeinde ebenso als ihre Vertretung an. Andere Juden, die der IKG nicht mehr angehören, wählten aber bewusst den Weg der Assimilation in die Mehrheitsgesellschaft und sprachen, wenn zurückgestoßen, von einer „Schicksalsgemeinschaft“, der sie entgegen ihrem Willen quasi zwangsweise zugehörig seien: „Wir sind durch eine sonderbare grausame Laune der Geschichte alle in einen Topf geworfen worden.“2 Umgekehrt die jüdische Gemeinde in Österreich als Minorität oder Volksgruppe wie etwa die Kärntner Slowenen zu definieren, würde jüdischerseits auf entschiedenen Widerspruch stoßen, sehen sich die Juden in Österreich doch nicht als Minorität, sondern als mitprägenden Teil der österreichischen Gesellschaft. Das Selbstverständnis der IKG war in der Zweiten Republik nach der Shoah ein anderes als etwa zur Zeit der Ersten Republik: „(...) hat aus der grundlegenden Veränderung der Verhältnisse die richtige Folgerung gezogen und die ursprünglich rein religiöse und karitative, aber sonst vollständig einflusslose Vertretung 1 2
Mit meinem Freund Wolfgang J. Bandion verbindet mich Biographisches wie Politisches: eine gemeinsame Volksschulzeit wie das konsequente Auftreten gegen jeden Antisemitismus. Bruno Kreisky, zitiert in: Herlinde Kölbl, Jüdische Portraits – Photographien und Interviews (Frankfurt am Main 1989), S. 142 ff.
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zu einem politischen Instrument ausgestaltet.“3 Ein wesentliches Element der Israelitischen Kultusgemeinde in der Zweiten Republik als Vertretung der Shoah-Überlebenden war die entsprechende Interessenvertretung in ökonomischer und moralischer Hinsicht, sei es hinsichtlich Entschädigung (das Wort „Wiedergutmachung“ wird ungern verwendet), der Restitution, die erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts, fast 60 Jahre nach der Shoah, abgeschlossen wurde („Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“), oder moralisch als Forderung nach Einbekenntnis einer Verantwortung Österreichs in Abkehr von der jahrzehntelang dominanten Staatsideologie von Österreich als „erstem Opfer“, was rein völkerrechtlich-formal seine Berechtigung hatte. Die Wiener Kultusgemeinde, vor 1938 eine der reichsten Gemeinden in Europa, konnte in den Nachkriegsjahren nur mit der Hilfe internationaler jüdischer Organisationen ihre Tätigkeit wiederaufnehmen. Lange erhielten nur politisch Verfolgte, nicht KZ-Überlebende, geringfügige Unterstützungen. Das Narrativ vom „erstem Opfer« war aber widersprüchlich, denn obwohl Opfer sprachen viele Österreicher vom „verlorenen Krieg“ und Kriegerdenkmäler entstanden, während jüdische Friedhöfe verfielen. Wiens Bürgermeister Körner sprach 1947 in der „Wiener Zeitung“ vom „Märchen des Antisemitismus“.4 Die Solidarität mit dem Staat Israel, jenem Staat, in dem inzwischen nahezu die Hälfte der jüdischen Weltbevölkerung lebt, war seit seiner Gründung 1948 ein zweiter Eckpfeiler der politischen Arbeit der IKG – ist die Beziehung zum Land Israel (Eretz Israel) als geistiger Heimat doch ein Grundpfeiler jüdischen Selbstverständnisses. Die innerjüdische Diskussion zwischen Zionisten und bürgerlichen oder linken Assimilanten war durch die Macht des Faktischen zugunsten des Zionismus entschieden worden.5 Der gelegentliche Versuch, diese Diskussion um jüdisches Selbstverständnis quasi von außen wiederbeleben zu wollen, ist oft eine nur oberflächlich versteckte Form, via scheinbar doch „legitimen“ Antizionismus als eine von mehreren jüdischen Richtungen, Antisemitismus zu verschleiern.6 Diese neuen Formen des Antisemitismus, die sich gegen Israel in Form einer doppelten Moral, Dämonisierung oder Delegitimierung richten und die in Richtung des gesellschaftlichen „Mainstreams“ vordringen, erfüllen auch die IKG zusehends mit Unbehagen. Israel 3 4 5 6
Helga Embacher, Neubeginn ohne Illusionen (Wien 1995), S. 75 Wiener Zeitung, 09.02. 1947 Vgl. etwa die Ausführungen über die jüdischnationale Bewegung in: Chilufim – Zeitschrift für Jüdische Kulturgeschichte 7/2009 Vgl. Jean Amery, Der ehrbare Antisemitismus. In: http://www.keepandshare.com/doc/1216940/derehrbare-antisemitismus-pdf-june-1-2009-8-01-pm-41k?dn=y (14.03.2011). Amery schrieb diesen Text während des Aufkommens des Antizionismus in der Neuen Linken. Seine Aussage dazu: „Antisemitismus [sei enthalten im] Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke.“
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fungiert dabei in der Völkergemeinschaft – die arabische Propaganda übernehmend, die das Recht der Juden auf einen eigenen Nationalstaat zusehends infrage stellt – quasi als „Jude unter den Völkern“. War bei Heinrich Heine die Taufe das „Entreebillet in die bürgerliche Gesellschaft“, ist es heute häufig die Israelkritik seitens einzelner jüdischer Menschen, die dann als „jüdische Kronzeugen“ auftreten, um etwas zu sagen, was in der dann formulierten Schärfe von Nichtjuden – um sich keinem Antisemitismusvorwurf auszusetzen – nicht gesagt worden wäre.7 Die Bereitschaft des Wiener Gemeinderats, auf Initiative eines Mitglieds, das gleichzeitig Funktionär der Islamischen Glaubensgemeinschaft war, parteiübergreifend eine antiisraelische Erklärung anlässlich eines Schiffszwischenfalls im Juni 2010 abzugeben, belastete nicht nur das interkonfessionelle Klima, sondern auch das Verhältnis der IKG zur politischen Szene, da die Ursache der überschnellen Reaktion des sich zu außenpolitischen Fragen selten äußernden Wiener Gemeinderats im besten Fall im Interesse an Wählerstimmen aus Migrantenkreisen gesehen werden kann. Besonders bemerkenswert waren für die IKG, die den Rücktritt des Hauptinitiators, SPÖ-Gemeinderat Omar Al-Rawi, forderte, die mangelnde Zivilcourage von Abgeordneten, die sich nicht der Zustimmung zu einer schnell durchgezogenen antiisraelischen Resolution entzogen, sondern sich nachträglich auf Parteidisziplin, das Bemühen, eine noch einseitigere Resolution verhindert zu haben usw., ausredeten oder darauf hinwiesen, bei der Abstimmung nicht im Saal gewesen zu sein. Das Verhältnis zur muslimischen Gemeinde ist seit dem Protest der IKG wegen auf Demonstrationen verwendeter, eindeutig antisemitischer (antijüdischer) Slogans oder Zeichnungen (z. B. Gleichsetzung von Hakenkreuz und Davidsstern) längere Zeit gespannt; der Protest wurde weitgehend ignoriert und derartige Motive, wenn sie unter dem Titel der „Kritik an Israel“ vorgebracht werden, als legitim angesehen, wogegen Kritik daran angeblich „antiislamisch“ wäre. Diese Aktion war nur die letzte in eine Reihe von politischen Schockerlebnissen für die jüdische Gemeinde – von der Causa Kreisky-Peter-Wiesenthal über Waldheim bis hin zum Erstarken der FPÖ. Dies umso mehr, als gerade für nicht streng religiöse Gemeindemitglieder die Identifikation mit dem Staat Israel die Aufrechterhaltung einer jüdischen Identität ermöglicht.8 Diese Identifikation wurde durch die Leitung der Gemeinde aber erst nach mehreren Jahrzehnten mit einem selbstbewussten Auftreten und dem Glauben an die Sinnhaftigkeit einer jüdischen Existenz in der Diaspora verbunden; vorher war das Eintreten für lokale 7
Vgl. Raimund Fastenbauer, Die geistige Krise des Zionismus. In: Brigitte Bailer (Hrsg.), Israel – Geschichte und Gegenwart, Wien 2009, S. 29 ff., und Wolfgang Benz, Israelkritik, Antizionismus und Antisemitismus. In: Ebenda, S. 77 ff. 8 Embacher, Neubeginn ohne Illusionen, S. 84 ff.
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Belange oft durch ein Naheverhältnis zu österreichischen politischen Parteien, sei es KPÖ oder SPÖ, gehemmt. „Wenn man dem Judentum in Österreich keine Zukunft einräumt, dann braucht man auch kein Vermögen, und deshalb wurde der Großteil des Vermögens verkauft.“9 Das Problem der Verschlechterung der Position Israels in Europa und der Weltgemeinschaft in den letzten Jahren kann aber nicht ausschließlich auf Antisemitismus und politischen Opportunismus zurückgeführt werden. Der Umstand, dass in einem postnationalen geeinten Europa die Durchsetzung klarer nationalstaatlicher Ziele seitens Israels nicht (mehr) verstanden wird und es umgekehrt den Palästinensern gelungen ist, sich als quasi letzter unterdrückter Posten des Kolonialismus in der Dritten Welt darzustellen, ist ebenfalls von Bedeutung. Während Klerikalismus seitens der christlichen Kirchen in Europa auf totale Ablehnung stoßen würde, kann Gleiches, von islamischer Seite kommend, in Europa auf ein gewisses Maß an Verständnis zählen.10 Darin verbindet sich traditioneller Antisemitismus der extremen Rechten mit „neuem“ Antisemitismus der extremen Linken.11 Dabei wird in perfider Form versucht, die verfolgten Juden von gestern zu den Verfolgern von heute zu machen und damit das Geschehen der Shoah zu relativieren und zu minimieren.12 Besonders schmerzhaft ist dabei für jüdische Gemeindemitglieder, dass Antisemitismus hier auch von Funktionären politischer Parteien ausgeht, denen man vorher im Hinblick auf ihre antifaschistischen Traditionen angehörte, sei dies nun die KPÖ oder die SPÖ. Für Letztere sei beispielhaft die Stellungnahme des SPÖ- und Gewerkschaftsfunktionärs Walter Sauer aus dem Jahr 2008 genannt, der im Zusammenhang mit Gaza von „Völkermord“ sprach, „den Staatsideologie und Staatspraxis des Judentums an den Palästinensern verursachen.“13 Sowohl der Bundesgeschäftsführer der SPÖ als auch der Gewerkschaftsbund distanzierten sich allerdings von diesen Äußerungen, ohne dass es aber zu weiteren Konsequenzen gekommen wäre. Im Zusammenhang mit der Erklärung des Wiener Gemeinderats wegen des Schiffszwischenfalles 2010 kam es zu demonstrativen Parteiaustritten jüdischer Mitglieder.14 9 Zitat von Simon Wiesenthal ebenda, S. 182 10 Vgl. Im Fahrwasser der Hamas – Die links-jihadistische Querfront. In: Jungle World – Die linke Wochenzeitung 31/2010, S. 3 ff. 11 Vgl. Raimund Fastenbauer, Österreichs Schulterschluss gegen Israel. In: Die Gemeinde 6/2002, S. 15 ff. und 7/2002, S. 17 ff., sowie Manfred Gerstenfeld, Europe’s Crumbling Myths – The Post-Holocaust Origins of Today’s Antisemitism, Jerusalem 2003 12 Initiative Sozialistisches Forum (Hrsg.), Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten – Über Israel und die linksdeutsche Ideologie, Freiburg 2002 13 Brief des Albert-Schweitzer-Hauses an Mag. Lederer nach einer Veranstaltungsabsage am 17. 5. 2008, veröffentlicht auf der Website www.juedische.at (14.03.2011) 14 Die Presse, 12. 7. 2010
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Als besonderes Beispiel für das Tandem des Daseins als Takt- und Ratgeber der Politik und Betroffener soll als Exkurs die Frage Entschädigung, Restitution und „unbewältigte Vergangenheit“ abgehandelt werden. Unter Verwendung des nationalen Narrativs von Österreich als dem „ersten Opfer des Nationalsozialismus“ wurde die politische und moralische Verantwortung für die Lösung dieser Frage lange von der österreichischen Regierung abgelehnt. Erst um die Jahrtausendwende, also mehr als 50 Jahre nach 1945, wurden die Fragen der Entschädigung und Restitution, wenngleich lediglich gestenhaft, einer Regelung in finanzieller Hinsicht zugeführt. Ein quasi moralischer „Schlussstrich“ wird von der jüdischen Gemeinde abgelehnt, dies umso mehr, als Jahrzehnte hindurch die Verantwortung weg von Österreich auf die Nationalsozialisten abgeschoben werden konnte. Nach einer Jahrzehnte währenden Zeit der Verdrängung dieser Thematik – etwa in der Ära Kreisky, der als Bundeskanzler, wenngleich selbst jüdischer Herkunft, kein Problem darin sah, ehemalige Nationalsozialisten, Mitglieder seiner Partei, als Minister in die Regierung zu nehmen –,kam erst infolge der Causa Waldheim zu einer kritischeren Betrachtung des Verhaltens von Österreichern in der NS-Zeit und Nachkriegsgeschichte. Bundeskanzler Vranitzky sprach erstmals von einem „Österreich der Opfer und Täter“, und der ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung, die bei Amtsantritt im EU-Raum weitgehend boykottiert wurde, blieb es vorbehalten, mit dem Abschluss des Washingtoner Abkommens zwischen den USA, Österreich und der Kultusgemeinde die Restitutionsfrage finanziell mit einer Abschlagszahlung in der Größenordnung von etwa zehn Prozent des geraubten jüdischen Gutes abzuschließen. Dies sei im Folgenden genauer beleuchtet. In den ersten Nachkriegsjahren war für die Situation hinsichtlich Rückstellung und Restitution die Wortmeldung des Innenministers Helmer am 9. November 1948 kennzeichnend gewesen: „Wir leben nicht mehr im Jahr 1945. Die Engländer bekämpfen jetzt die Juden. (...) Schon die Grausamkeiten der Juden im Palästinakrieg haben ihr Echo gefunden. (...) Ich bin dafür, dass man die Sache in die Länge zieht.“15 Schließlich wurde beschlossen, die Anmeldefrist für Rückstellungen nicht zu verlängern. Am gleichen Abend sprach der ÖVP-Bundeskanzler Figl bei einer Gedenkkundgebung der Kultusgemeinde anlässlich des zehnten Jahrestages der Reichskristallnacht: „(...) und ganz Österreich beugt mit mir in dieser Stunde das Haupt in Trauer (...), wenn man auch zu Ehren dieses Landes nicht oft genug daran erinnern kann, dass all diese Verbrechen (...) jenseits unserer Grenzen erdacht und organisiert worden sind.“16 In der Folge forderte Figl die 15
Robert Knight (Hrsg.), „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen.“ – Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt 1988, S. 146. Zur konsequenten Hinhaltetaktik der österreichischen Regierung siehe auch Ruth Beckermann, Unzugehörig, Wien 2005, S. 89 ff. 16 Knight, Ich bin dafür, S. 147
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Opfer auf, „den Schutt von ihren Herzen wegzuräumen“,17 sprich: auf zu weitgehende Forderungen zu verzichten und sich am Wiederaufbau im nationalen Interesse zu beteiligen. Staatssekretär Graf sprach auf selbiger Sitzung über die jüdische Gemeinde: „Die Leute, auf die es ankommt, tragen nicht dazu bei, den Frieden zu schaffen. (...) Die Leute sprechen (...) vom österreichischen Volk als Mörderbande.“18 Auf Druck der Kultusgemeinde wurde von der US-Besatzungsmacht schließlich eine Verlängerung der Fristen durchgesetzt. Die Praxis war so, dass – wie etwa im Fall Walter Kastner – dieselben Personen, die einst mit der Arisierung beauftragt waren, nun die Rückstellung durchführen sollten. Massive Interessen wirtschaftlicher und politischer Natur standen einer großzügigen Rückstellung entgegen. Der Staat Israel schloss schließlich 1953 mit Deutschland das Luxemburger Abkommen, das umfangreiche „Wiedergutmachungszahlungen“ in zwischenstaatlicher und individueller Form zur Folge hatte. Hinsichtlich Österreich verzichtete Israel auf Forderungen, „die über die Rückstellung von Eigentum und die Entschädigung von Einzelpersonen“ hinausgehen.19 Im November 1953 betonte IKG-Präsident Maurer anlässlich einer Gedenkfeier für das Novemberpogrom, dass von 9000 Juden in Wien nur 2500 eine ökonomisch gesicherte Existenz hätten.20 1954 gab das Claims Committee in den USA während eines Staatsbesuchs von Bundeskanzler Raab den Gesamtwert des in Österreich beschlagnahmten jüdischen Eigentums mit 1,2 Milliarden US-Dollar, den Wert des erblosen jüdischen Vermögens mit 200 Millionen US-Dollar an. Im Februar 1955 fasste IKG-Amtsdirektor Krell die jüdischen Forderungen nochmals mit 615 Millionen Schilling zusammen (165 Millionen Schilling für zerstörte Synagogen, Mittel für den Bau von Wohnungen für 800 Bedürftige, eine Abfindung für erbloses Vermögen in der Höhe von 150 Millionen Schilling sowie individuelle Entschädigungen in der Höhe von 300 Millionen Schilling).21 Sowohl Bundeskanzler Raab als auch Vizekanzler Schärf und sogar die österreichischen Kommunisten wiesen diese Forderungen zurück.22 Im Sommer 1955 wurde schließlich von Österreich der Hilfsfonds für im Ausland lebende Verfolgte mit 550 Millionen Schilling, auszahlbar über zehn Jahre, eingerichtet; für die zerstörten Synagogen war ein Betrag von fünf Millionen Schilling vorgesehen und 17 Ebenda, S. 148 18 Ebenda 19 Evelyn Adunka, Die vierte Gemeinde, Wien 2000, S. 185 20 Ebenda, S. 187 21 Ebenda, S. 188 22 Ebenda, S. 190
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für in Österreich lebende ehemalige Verfolgte wurde ein Fonds aus erblosem Vermögen zugesagt. 1960 erklärte sich Österreich auf Intervention von Nachum Goldmann zur Errichtung eines Abgeltungsfonds für Vermögensverluste in der Höhe von sechs Millionen US-Dollar, zur Zahlung eines weiteren Betrags für die zerstörten Synagogen in der Höhe von 30 Millionen Schilling sowie zu jährlichen Zuwendungen für das laufende Budget der IKG bereit.23 Eine Gleichstellung mit deutschen Opfern war durch all dies nicht gegeben, wofür Goldmann auch kritisiert wurde.24 In der Ära Kreisky kam die Diskussion über weitere Schritte total zum Erliegen: „Wir haben getan, was wir tun konnten.“25 1978 sagte Bruno Kreisky anlässlich des 40. Jahrestages des „Anschlusses“: „Mehr noch als die österreichischen Juden haben die Österreicher ihren Blutzoll bezahlen müssen.“26 Sein Lob für den christlichsozialen Antisemiten Leopold Kunschak und seine tolerante Haltung gegenüber Nationalsozialisten rechtfertigte er mit der Aussage: „Als Racheengel hätte ich nicht die moralische Stellung gehabt, die ich in Österreich eingenommen habe.“27 Als Simon Wiesenthal Friedrich Peters – seine Partei hatte die sozialistische Minderheitsregierung unterstützt und von einer Wahlrechtsreform profitiert – Mitgliedschaft bei einer Mordbrigade der SS aufdeckte, wurde er von Kreisky massiv persönlich angegriffen, angeblicher „Mafiamethoden“ beschuldigt und selbst der Zusammenarbeit mit der Gestapo verdächtigt. Die katholische Zeitung „Furche“ zitierte den sozialistischen Justizminister in diesem Zusammenhang mit den Worten: „Jeder Kriegsverbrecherprozess kostet unsere Partei hunderte Mitglieder und tausende Wählerstimmen.“28 Seit dieser Zeit sollten auch keine derartigen Prozesse mehr stattfinden. Die Wahl Bruno Kreiskys war somit alles andere als ein Zeichen der Überwindung des Antisemitismus, sondern eine Anpassung an andere Zeiten: „Wir haben nichts gegen die Juden, wenn sie nur alle wie Kreisky wären.“29 1995 kam es zur Zahlung eines Einmalbetrages von 70.000 Schilling an alle Opfer des Nationalsozialismus. 1996 wurde die Kunstsammlung in der Kartause Mauerbach aufgelöst und versteigert, nachdem die Republik jahrelang die Suche nach Erben nur höchst halbherzig betrieben hatte. Aufgrund der internationalen Diskussion über das Raubgold in der Schweiz bzw. in Schweizer Banken, die auf die Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich einer offenen 23 Ebenda, S. 197 24 Ebenda, S. 199 25 Ebenda, S. 200 26 Die Gemeinde 4/1978 27 Kölbl, Jüdische Portraits, S. 144 28 Die Furche, 1. 11. 1969 29 Martin van Amerongen, Bruno Kreisky und seine unbewältigte Gegenwart, Graz-Wien-Köln 1977, S. 81
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Regelung für die ehemaligen Zwangsarbeiter übergriff, sowie angesichts der Notwendigkeit, das Image der in der EU wegen der Teilnahme der FPÖ geächteten „schwarz-blauen“ Regierung zu verbessern, begannen um 2000 neuerliche Verhandlungen zwischen Österreich, der IKG und – nicht zuletzt wegen der dort anhängigen Sammelklagen – den USA als „facilitator“, um Lücken der bisherigen unzulänglichen Restitutionsgesetze zu füllen. Am 17. Jänner 2001 wurde eine erfolgte Einigung schriftlich in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten.30 Sie umfasst für noch lebende NS-Opfer eine Abgeltung von Mietrechten, für Hausrat und persönliche Wertgegenstände in der Höhe von 7000 US-Dollar (insgesamt 150 Millionen US-Dollar), einen allgemeinen Entschädigungsfonds in der Höhe von 210 Millionen US-Dollar, Naturalrestitution von entzogenem Vermögen, das sich noch heute im Besitz der öffentlichen Hand befindet, diverse Sozialmaßnahmen etwa im Pflegegeldbereich auch für im Ausland Wohnende sowie Zusatzmaßnahmen wie die Rückstellung der Hakoah-Sportstätte und Gelder für die Sanierung der jüdischen Friedhöfe (Letzteres wurde erst 2010 realisiert). Betrachtet man die zeitlichen Verzögerungen in der Umsetzung von Entschädigungsansprüchen und die Frustration in der Israelitischen Kultusgemeinde gegenüber „neuem“ Antisemitismus, kann man zusammenfassend sagen, dass auf Tat und Rat – wenn überhaupt – erst mit ziemlicher Verspätung gehört wurde, was im Hinblick auf das internationale Image Österreich sicherlich nicht zum Vorteil gereichte, die Bezeichnung als „Betroffener“ ist im sachlichen und moralischen Sinn aber jedenfalls sehr passend. Ein Schwerpunkt der politischen Arbeit der IKG war in den folgenden Jahren die Einflussnahme auf die Gedenkpolitik in Österreich hinsichtlich der NS-Verbrechen. Jahrzehnte hindurch wurde der Kriegsdienst vieler Österreicher im Ersten und Zweiten Weltkrieg mit „soldatischer Pflichterfüllung“ gleichgesetzt, ohne die Funktion der Wehrmacht als Akteur von Angriffskriegen im Dienste eines verbrecherischen Regimes zu beleuchten. Am 8. Mai, dem Tag der Kapitulation Deutschlands am geschichtsträchtigen Heldenplatz, trafen sich nach wie vor Angehörige von deutschnationalen Burschenschaften31 zu einem „Totengedenken“, in Wahrheit aber zu einem verdeckten Trauern ob der Niederlage der Deutschen Wehrmacht. Vor einem Denkmal für Gefallene (darunter auch SS-Angehörige), entworfen in den Dreißigerjahren von einem illegalen Nationalsozialisten, legten in- und ausländische Politiker an Gedenktagen Kränze nieder. 30
Ursula Kriebaum/Ernst Sucharipa, Das Washingtoner Abkommen – Die österreichische Restitutionsvereinbarung vom 17. Jänner 2001. In: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (Hrsg.), Die Republik und das NS-Erbe, Wien 2005, S. 164–185, hier S. 165 31 https://www.ikg-wien.at/wp-content/uploads/2016/11/Beilage_1.pdf „Ostmärkische Speerspitze der Ewiggestrigen“, Beitrag in der Presse von R. Fastenbauer, 27. 11. 2014
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Gegenkundgebungen konnten nur unter Schwierigkeiten abgehalten werden. In der Folge beteiligte sich die IKG federführend am Entstehen der Initiative „Zeichen setzen“, gemeinsam mit Aktivisten der Sozialdemokratie, der Grünen und verschiedener Nichtregierungsorganisationen. Juden davon abzuhalten, gegen Ewiggestrige zu demonstrieren, wäre politisch schwer zu rechtfertigen gewesen. In der Folge wurde das „Totengedenken“ eingestellt, und es entstand das „Fest der Freude“ als Freudenfest ob der Befreiung vom Nationalsozialismus. Trotz derartiger Erfolge sprechen wir heute von einem Steigen des Antisemitismus; Österreich konnte sich dieser gesamteuropäischen Entwicklung nicht entziehen. Problematisch ist, dass er von verschiedenen Richtungen kommt und jede Richtung ihn nur beim Anderen sehen will und dies zur Ablenkung benutzt. Trotz öffentlicher Erklärungen gegen den Antisemitismus, beispielsweise etwa am Akademikerball, häuften sich auf der Rechten die „Einzelfälle“, darunter widerliche Lieder von der siebenten Million, Beleidigungen von Shoah-Überlebenden etc., während die politisch Verantwortlichen jedoch auf den Antisemitismus unter Flüchtlingen hinweisen. Aufseiten der Linken bricht immer wieder antisemitischer Antizionismus durch, verbunden mit überbordender Israelkritik und BDS- Sympathie. Gleichzeitig führt die pauschalisierende Islamfeindlichkeit auf der Rechten zu einem Solidarisierungseffekt mit den Angegriffenen, ohne zu erkennen, dass die Opfer des Einen, Täter gegenüber dem Anderen, dem Juden sein können. Während die christliche Seite, allerdings erst nach der Shoah, sich kritisch mit antijüdischen Stellen in ihren Heiligen Schriften auseinandersetzte, ist der Islam, gerade auch wegen der Stärke des politischen Islam, sei es nun durch den Einfluss der Moslembrüderschaft oder der Türkei, dazu noch nicht in der Lage. Der gestiegene Antisemitismus findet auch bereits in der gesellschaftlichen Mitte Widerhall und hat dazu geführt, dass manche europäische Staaten religiöse Grundlagen jüdischen Lebens wie Beschneidung oder die Produktion von Koscherfleisch (Schächten) in einer Querfront von extremen Rechten und selbsternannten Humanisten infrage stellen. Diese nicht erfreuliche Gesamtlage lässt Juden an der Zukunft für jüdisches Leben in Europa mehr als 70 Jahre nach der Niederlage des Nationalsozialismus zweifeln.
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Franz Ringel, Portraitwidmung Wolfgang J. Bandion, Buntstift, 1991
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Ferdinand Welz, Portraitmedaille Av., Bronze, 1992
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Ernst Skrička, Jubilierender Engel, Radierung, 2016
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Alt-Bischof von Linz Maximilian Aichern O.S.B. Evgeny Alekseevich, CIM Délégué de la Biélorussie Botschafterin der Republik Griechenland in der Republik Kosovo, Chryssoula Aliferi Dipl.-Kfm. Dr. Ewald Andratsch Peter Ansari Sekt.-Chef a.D. Dr. Clemens-Martin Auer S.A.I.R. Simeon, Archiduc d’Autriche Prälat Bernhard Bakovsky Can. Reg., Propst des Stiftes Klosterneuburg Dipl.-Ing. Alexander Balendo, CIM Délegué de la Biélorussie Botschafter der Republik Italien in Österreich, Dr. Sergio Barbanti Rupert Bärenthaler-Pachner, BEd Gräfin Elenka v. Batthyány Fürst Ladislaus Batthyany-Strattmann v. Német-Ujvár Prof. Ernst Arnold Bauer Min. Rat Mag. Michael Bauer Marie-Theres Bauer v. Redwitz Tamara Baumgartner Danilović, Präsidentin der Amicale de Mauthausen Serbien Univ.-Lekt. Mag. Andreas Baumgartner-Danilović, Generalsekretär CIM Generalabt MMag. Dipl.-Bw. Frank Bayard, Hochmeister des Deutschen Ordens Nico Berchem, l’Amicale de Mauthausen Luxembourg Dir. Günter Bergauer, MBA Dr. Martina Berhel Botschafter i.R. Dr. Christian Berlakovits Botschafter der Republik Albanien in Österreich, Roland Bimo Prälat Dr. Korbinian Birnbacher O.S.B., Erzabt des Stiftes St. Peter, Salzburg Botschafter i.R. Dr. Martin v. Bolldorf-Grazigna Msgr. Dr. Franz Xaver Brandmayr, Dompropst von Wr. Neustadt, Rektor em. S. Maria dell‘ Anima Dr. Helmut Brandstätter, Abg. z. NR. Attaché Mag. Andreas Brandstetter Vizekanzler a.D. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Brandstetter Elisabeth Bronold-Mayr Univ.-Prof. em. Dr. Ernst Bruckmüller
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Gräfin Maria Octavia v. Brühl Hon.-Prof. MMag. Markus Bugnyar, Rektor des Österreichischen Hospizes, Jerusalem Dr. Nicolaus Buhlmann Can.Reg. Philipp Buschmann Vizekanzler a.D. Dr. Erhard Busek Graf Christoph v. Calice Botschafter des SMOM in Kasachstan und in Moldawien, Peter Canisius v. Canisius Botschafterin der Tschechischen Republik in Österreich, Dr. Ivana Červenková Botschafter i.R. Freiherr Alexander v. Christiani-Kronwald Gesandte Mag. Marina Chrystoph, Österreichisches Kulturforum Paris Bischof Dr. Josef Clemens, Città del Vaticano Gräfin Katharina v. Coudenhove-Kalergi Gräfin Mayumi v. Coudenhove-Kalergi Gräfin Marie v. Czernin-Chudenitz Gesandter Mag. Gregor Cszörsz Präsidentin Marjon de Klijn, CIM Déleguée des Pays-Bas Dr. Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Religionsgemeinschaft Österreich Graf Maximilian v. Deym Botschafter i.R. Dr. Karl Diem Vortr. Hofrat Mag. Hermann Dikowitsch, Amt der NÖ Landesregierung Prof. Guy Dockendorf, Präsident der Comité International de Mauthausen (CIM) Wirkl. Hofrat Mag. Nicolaus Drimmel, Amt der NÖ Landesregierung Geschäftsführer Thomas Eichler Botschafter Dr. Johannes Eigner, Österreichische Botschaft in Moskau Prälat Dr. Burkhard Ellegast O.S.B., Abt em. des Stiftes Melk Prälat German Erd O.Cist., Abt des Stiftes Stams Univ.-Prof. em. Dr. Rolf Eschenbach Domkapitular Mag. Toni Faber, Dompfarrer von St. Stephan Dr. Raimund Fastenbauer, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien a.D. Sekt.-Chef Hermann Feiner, Bundesministerium für Inneres Hanna Feingold, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg Dr. Annemarie Fenzl Univ.-Prof. Dr. Hansjörg Feulner Dipl.-Kfm. Anneliese Figl Apostol. Protonotar Hans-Peter Fischer, Rektor des Campo Santo Teutonico Christoph Fischer P. Wolfgang Fischer-Felgitsch O.S.B., Prefettura della Casa Pontificia
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Dr. med. Anton Freunschlag György Frisch, CIM Délegué de la Hongrie Mag. Christian Fritzsche Freiherr Georg v. Frölichsthal Prälat Maximilian Fürnsinn Can.Reg., Propst em. des Stiftes Herzogenburg Bischof Dr. Anba Gabriel, koptisch-orthodoxe Diözese in Österreich Dr. Ignacio Garcia Lascurain Bernstorff Gesandter i.R. Prof. Anton Ferdinand Gatnar Bundesministerin a.D. Elisabeth Gehrer Generaldirektor Dr. Günter Geyer Botschafter des Königreichs der Niederlande in Österreich, Aldrik Gierveld P. Felix Gradl O.F.M. Oberst Christoph Graf, Kommandant der Päpstlichen Schweizergarde Mag. Dr. Christine Maria Grafinger Prof. Dietmar Grieser Pjotr Grigoriev CIM, russländischer Delegierter Propst und Pfarrer P. Clemens Grill O.S.B. Mag. Dieter Grohmann Dr. Gerald Gruber, Ordinariatskanzler der Erzdiözese Wien Arch. Dipl.-Ing. Johann Grubmüller Mag. Gerald Grünberger Univ.-Prof. em. Dr. Peter Gstettner Mag. Robert Gulla Prof. Gerhard Gutruf Kabinettsdirektor i.R. Dr. Heinz Anton Hafner Aglaë Hagg Thun-Hohenstein Gesandter Dr. Michael Haider, Österreichisches Kulturforum New York Bischof von Eichstätt Dr. Gregor Maria Hanke O.S.B. Graf Franz Clemens v. Harnoncourt-Unverzagt Landeshauptmann von Salzburg Dr. Wilfried Haslauer RA Dr. Willibald und Maria Hauer Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien a.D. Dr. Michael Häupl Gesandter i.R. Dipl.-Ing. Dr. Rudolf Heinrich Heide Heintschel v. Heinegg Mons. Markus Heinz, Segreteria di Stato Vaticana Graf Andreas Henckel v. Donnersmarck Prälat Gregor Henckel Donnersmarck O.Cist., Abt em. des Stiftes Heiligenkreuz
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Sen. Lect. Mag. art. Stephan Hilge Dr. med. Ignaz Hochholzer Prof. Oskar Höfinger Mag. Martin Hofmann Ulrich Hofstätter, Hofgalerie Wien Herzog Nikolaus v. Hohenberg Erzbischof von Luxemburg Dr. Jean-Claude Kardinal Hollerich S.J., Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft Botschafterin Franziska Honsowitz-Friessnigg, Österreichische Botschaft beim Heiligen Stuhl Zweiter Landtagspräsident des Landes Salzburg Dr. Sebastian Huber Univ.-Prof. DDr. Johannes Huber Mag. Bernhard Huber, Deutschordenszentralarchiv Wien Prof. Ernst Leopold Husa Edith Gottfrieda Husa Freifrau Francisca Hussarek v. Heinlein Dr. Jörg Iro Univ.-Prof. Dr. iur. Eduard Ivanov Dr. Walter Janauer Mons. Dr. Michael Kahle, Officiale della Congregazione per il Culto Divino e la Disciplina dei Sacramenti Landeshauptmann von Kärnten Dr. Peter Kaiser Dr. Martin Kaplans Daniel Kapp, Vorstand der Freunde der Hebräischen Universität Jerusalem Dipl.-Ing. Bela Karacsonyi RA Dr. Georg Karasek Arsenios Kardamakis, Griechisch-orthodoxer Metropolit von Austria – Exarch von Ungarn und Mitteleuropa Mag. Steve Kayser, Luxembourg Konsistorialrat P. Johannes Kellner O.T., Prior der Ballei Österreich P. Karl Kern S.J. Graf Karl v. Khevenhüller-Metsch Svetlana Kim-Pacher M.A. Univ.-Prof. em. Dr. Walter Kirchschläger, Luzern Dr. med. Robert Klier Mag. Michael Klinger MBA, MSc Marita Klinger-Lohr-v. Primavesi Botschafter i.R. Dr. Alfons Maria v. Kloss
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Botschafterin der Republik Griechenland in Österreich, Catherine Koika Dipl.-Kfm. Itaru Komuro Prof. Dr. Alexey Konopatchenkov, CIM Vice-Président Karlheinz Kopf, Generalsekretär der Wirtschaftskammer Österreich P. Josip Koren O.F.M., Kroatische Katholische Mission, Wien Botschafterin Dr. Elisabeth Kornfeind, Österreichische Botschaft in Brüssel Mag. Christoph Korosec Botschafterin des Fürstentums Liechtenstein in Österreich, Maria-Pia Kothbauer Prinzessin v. u. z. Liechtenstein Dr. med. Alexander Kottas v. Heldenberg Laszlo Kövi Botschafterin der Republik Polen in Österreich, Jolanta Róża Kozłowska Dr. Wilhelm Kraetschmer Dr. Boleslaw Jan Krawczyk, Pfarre St. Leopold Freiherr Erik Sydney v. Kroiher Botschafter i.R. Dr. Erwin Kubesch Hofrat Dr. Georg Johannes Kugler Alt-Bischof von St. Pölten DDr. Klaus Küng Mag. Philippe-Giuseppe Kupfer Chantal Lafaurie, CIM Déléguée de la France Domkapitular Msgr. DDr. Michael Landau Albert Langanke, CIM Generalsekretär a.D. Kabinettsvizedirektor Dr. Markus Langer Erzpriester DDr. Alexander Lapin Prof. Dr. Titus Leber Hofrat Msgr. Dr. Heribert Lehenhofer Dr. Andreas Leiner, Statthalter des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem Prof. Erich Leitenberger Min. Rat Mag. Adi Leitner Johannes Liebhart Botschafter Dr. Michael Linhart, Österreichische Botschaft in Paris Botschafterin i.R. Univ.-Prof. Dr. habil. Irena Lipowicz Botschafter der Russischen Föderation in Österreich, Dmitrij Ljubinskij Mag. Gerald Loacker, Abg. z. NR. Primar Univ. Prof. Dr. Gottfried Locker Erzbischof Dr. Pedro López Quintana, Apostolischer Nuntius in Österreich Med. Rat Dr. Stefan Lörincz
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Tabvla Gratvlatoria
Freiherr Olivier v. Loudon Gesandter Andrei Lozovik, Geschäftstrager der Botschaft der Republik Belarus in Österreich Conte Don Ferrante Lucchesi Palli dei Principi Campofranco Contessa Camilla Lucchesi Palli dei Principi Campofranco Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien Dr. Michael Ludwig Botschafter i.R. Dr. Markus v. Lutterotti Msgr. Dr. Leo v. Maasburg RA Mag. Jakob Mahringer Dr. Paul Mahringer Dr. Cyril Mallet Univ.-Prof. em. Dr. Wolfgang Mantl Rektor Dr. Christoph Martin Konv. Kapl. a.h. Prof. Ali Mayer Graf Alexander v. Meraviglia-Crivelli KR Willi Mernyi, Vorsitzender des Österreichischen Mauthausen Komitees Camille Mersch, CIM Délégué de Luxembourg Dr. med. Marietta Metzler-Rintersbacher Botschafter i.R. Dr. Felix Mikl Landeshauptfrau von Niederösterreich Mag. Johanna Mikl-Leitner Dipl.-Ing. Dr. Richard Mischak Paul Mitter Univ.-Prof. Dr. med. Johannes Mlczoch Dr. Edith Mock Botschafterin der Republik von San Marino in Österreich, Elena Molaroni Hans Moßhammer, Gast- und Landwirt Mag. Simon Mraz, Österreichisches Kulturforum Moskau RA Dr. Johannes Mühllechner Dr. Ariel Muzicant, Vizepräsident des Europäischen Jüdischen Kongresses Benjamin Nägele M.A.I.S., Generalsekretär der Israelitischen Religionsgemeinschaft Österreich Botschafter der Republik Ungarn in Österreich, Dr. Andor Nagy Bundesminister a.D. Hon.-Prof. Dr. Heinrich Neisser Apost. Protonotar Prälat Prof. Dr. Johannes Neuhardt Mag. Thomas Neuhauser Landeshauptmann des Burgenlandes a.D. Hans Niessl Univ. Prof. Dr. Kiyoko Nishikawa Gesandter Dr. Jakub Novak, Botschafter der Tschechischen Republik in Österreich Prof. Heinz Nußbaumer
Tabvla Gratvlatoria
Dir. Rudolf Oezelt Med.R. Dr. Gerald Oppeck Botschafter i.R. Dr. Gustav Ortner Mag. Andreas Pacher M.A., LL.M. Graf Alexander v. Pachta-Reyhofen Landtagspräsidentin von Salzburg Dr. Brigitta Pallauf Botschafter Mag. Martin Pammer Aldo Parmeggiani, Camerlengo Campo Santo Teutonico Dom João Luìs Passanha Dr. Tetiana Pastushenko, CIM Déleguée de l’Ukraine Botschafter Dr. Stefan Pehringer, Österreichische Botschaft in Ottawa Graf Markus Pejacsevich de Veröcze Bundesminister a.D. Dr. Wolfgang Peschorn, Präsident der Finanzprokurator Prof. Dr. Michael Pfeffer Mag. Theresa Philippi LL.M. Botschafter i.R. Alexander Philon, CIM Délégué de la Grèce Graf und Marchese Ferdinand v. Piatti Prof. Dr. Franz Pichorner, Stellvertretender Generaldirektor des KHM Wien Erzbischof Dr. Gábor Pinter, Apostolischer Nuntius in Honduras Landeshauptmann von Tirol Günther Platter Freiherr Donat Praetorius v. Richthofen Dr. Michael Preiser Landeshauptmann von Niederösterreich a.D. Dr. Erwin Pröll Landeshauptmann von Oberösterreich a.D. Dr. Josef Pühringer Mag. Josef Pumberger Mag. Ing. Willy Pypen, CIM Délegué de la Belgique Mag. Paul Rachler M.A. Mag. Ali Rahimi Univ.-Doz. Dr. Vincenc Rajsp Prof. Gerd Ramacher Landeshauptmann von Oberösterreich a.D. Josef Ratzenböck Mag. Franco Reale LL.M., Vize-Camerlengo Campo Santo Teutonico Freiherr Georg v. Reichlin-Meldegg Hofrat Dr. Robert Rill Dipl.-Ing. Dr. Erwin Rotter Prof. Jean-Louis Roussel, CIM Délégué de la France Heinrich Günter Ruf
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Prior P. Mag. Dominic Sadrawetz O.S.A., Komtur ad interim O.E.S.S.H. Botschafter der Republik Frankreich in Österreich, François Saint-Paul Bailli Graf Norbert v. Salburg-Falkenstein, Prokurator des Großpriorates von Österreich des SMOM (Sovrano Militare Ordine di Malta) Erbprinz Emanuel zu Salm und Salm-Salm Botschafter Dr. Georges Santer, Luxembourg Botschafter der Republik Kasachstan in Österreich, Kairat Sarybay Univ.-Prof. Dr. Kikuo Sato Weihbischof Dr. Franz Scharl, Erzdiözese Wien Mag. Michael Schaumann Mag. Albin Scheuch, Pfarrer von Mannersdorf am Leithagebirge P. Mag. Matthias Schlögl O.S.A., Pfarrer von St. Augustin Wien Gesandter Dr. Andreas Schmidinger, Österreichisches Kulturforum Prag RA Dr. Robert Schneider Univ.-Ass. Dr. Teresa Schön Dr. Walter Schön Botschafter des SMOM in Österreich, Prinz Sebastian zu Schönaich-Carolath Graf Vinzenz v. Schönborn-Buchheim Botschafter des SMOM in der Slowakei, Prinz Alfred v. Schönburg-Hartenstein Dr. Peter Schönthal Prälat Dr. Raimund Schreier O.Praem., Abt des Stiftes Wilten Botschafterin Mag. Melitta Schubert, Österreichische Botschaft in Luxemburg Hofrat Prälat Dr. Gerhard Schultes Landeshauptmann der Steiermark Hermann Schützenhöfer Bischof von St. Pölten Dr. Alois Schwarz Fürst Karl Johannes zu Schwarzenberg Dr. med. Georg Sedlaczek Graf Nikolaus v. Ségur-Eltz Hofrat Dkfm. Mag. Helmut Skala Botschafterin der Republik Slowenien in Österreich, Ksenija Skrilec Vizekanzler a.D. Dr. Michael Spindelegger Landeshauptmann von Tirol a.D. DDr. Herwig van Staa Fürst Georg v. Starhemberg Freiherr Richard v. Steeb, Kanzler des Großpriorates Österreich des SMOM Dr. Markus Steindl Landeshauptmann von Oberösterreich Mag. Thomas Stelzer Dr. Karl Heinz Stradal
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Gen.-Sekr. Gertraud Stradal, Freunde des Wiener Dom- und Diözesanmuseums Graf Alexander v. Strasoldo Jürgen Strasser v. Messensee Botschafter des Königreiches Spanien in Österreich, Juan Sunyé Mendía Univ.-Prof. em. Dr. Szabolcs Szita CIM, Délegué de la Hongrie Mag. Witold Szymanski Dr. Johann Taibl Mag. Klaudia Tanner, Bundesministerin für Landesverteidigung Udo v. Thianich-Schwamberger Baronin Angela v. Thierry Gesandter Dr. Wolfgang Thill, Österreichische Botschaft in Pretoria Senator h.c. KR Alfred Tomek Freiherr Hubertus v. Trauttenberg MilDekan LLic. Dr. Harald Tripp LL.M., Ordinariatskanzler der Militärdiözese Österreich Dr. Andreas Tuchacek Privatdozentin Dr. Christa Agnes Tuczay, Vizepräsidentin der Internationalen Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft Wien Britischer Botschafter in Österreich, Leigh Turner Dkfm. Martha Maria Turnovszky-Ginzkey Erzpriester Vladimir Tyschuk, Pfarrer der russisch-orthodoxen Kathedrale z. Hl. Nikolaus in Wien Mag. Ken Uematsu Botschafter des SMOM in Ungarn, Imre Ugron v. Abramfalva Mag. Michael Ulrich Botschafter des Großherzogtums Luxemburg in Österreich, Marc Ungeheuer Botschafter des Königreichs Belgien in Österreich, Willem van den Voorde Dr. Claus Vogler Botschafter i.R. Dr. Ranko Vujacic, Leiter der Diplomatischen Akademie von Montenegro a.D. Botschafter i.R. Dr. Martin Vukovich Dir. Walter und Marit Wagner Dr. Ulrich Wagrandl MMag. Johannes Wais Graf Franz Clemens zu Waldburg-Zeil-Hohenems Gräfin Johanna v. Waldburg-Zeil Gfin. Harrach Botschafter i.R. Dr. Wolfgang Waldner, Staatssekretär a.D. Prof. P. Dr. Karl Wallner O.Cist., Pontificie Opere Missionarie Austria Landeshauptmann von Vorarlberg Mag. Markus Wallner Thomas Edmund Weickenmeier
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MedRat Dr. Peter Weimann Univ.-Prof. em. Dr. Manfried Welan, Präsident des Wiener Landtags a.D. Gräfin Marie-Theres Welser v. Welsersheimb Don DDDr. Michael Weninger, Ambasciatore em. Msgr. Franz Wilfinger, Pfarrer em. Paulanerkirche Wien-Wieden Gesandter i.R. Prinz Hans Martin zu Windisch-Graetz Univ.-Prof. Dr. Jean-Marie Winkler, Rouen Gen.Dir. Hofrat Priv.-Doz. Dr. Helmut Wohnout Botschafter i.R. Dr. Wolfgang Wolte Graf Gundaker E. v. Wurmbrand-Stuppach Dipl.-Ing. Dr. Stefan Zapotocky DDr. Lukas Wenzel Zeinler Prior Dr. Augustinus Zeman O.S.B., Schottenstift Wien Dr. Albrecht Zimburg v. Reinerz Botschafter i.R. Panagiotis Zografos, Athen Mag. Dr. Stefan Zotti M.E.S. Bischof von Eisenstadt Dr. Ägidius J. Zsifkovics Erzbischof Dr. Peter Stephan Zurbriggen, Apostolischer Nuntius em. .
Ferdinand Welz, Portraitmedaille Rv., Bronze, 1992
Bildnachweise Umschlagabbildung und S. 2: Jeweils im Besitz des Künstlers S. 11: Archidiocèse de Luxembourg Eine persönliche und biographische Spurensuche S. 17, 25, 27, 29, 36: Sammlung Bandion SAPIENTIA S. 37: Sammlung Bandion Rajšp S. 143, 146: Österreichisches Staatsarchiv, AVA, CUM. Karton 115 Pichorner S. 161: Kunsthistorisches Museum Wien S. 163: Wienbibliothek im Rathaus, Tagblattarchiv / Fotosammlung, TF 999047 Kayser S. 207: Privatsammlung Steve Kayser TEMPERANTIA S. 275: Sammlung Bandion Wohnout S. 284, 299: Österreichisches Pilger-Hospiz, Jerusalem Rachler S. 327, 329, 331, 337, 339: Sammlung Paul Rachler Erd S. 390, 395, 410, 412: Stift Stams Thianich-Schwamberger S. 448, 449, 458: Sammlung Bandion S. 450: Schatzkammer und Museum des Deutschen Ordens, Wien, Inv. Nr. G-028 S. 453: Kunsthistorisches Museum Wien, Weltliche Schatzkammer S. 455: Stift Klosterneuburg S. 461: Kunsthistorisches Museum Wien, Weltliche Schatzkammer
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Bildnachweis
Wais S. 471: mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien; Alfred Hrdlicka-Archiv, Wien S. 472: Stephansdom (Barbara-Kapelle), Wien; Wikimedia Commons; Alfred Hrdlicka-Archiv, Wien S. 482: Ev. Gedenkkirche Plötzensee, Kirchengemeinde Charlottenburg-Nord, Berlin; Alfred Hrdlicka-Archiv, Wien FORTITVDO S. 487: Sammlung Bandion Henckel Donnersmarck S. 495, 502: Sammlung Bandion Clemens S. 507, 510: Sammlung Bandion B. Huber S. 572: DOZA, Bildsammlung, Lade 15 S. 573: Schatzkammer des Deutschen Ordens, Münzsammlung S. 574: Deutschordenskirche zum Hl. Blasius in Friesach S. 575: DOZA, Bildsammlung, Lade 15 Drimmel S. 611: Privatsammlung Deym S. 619: Kunsthistorisches Museum Wien S. 621: Sammlung Bandion S. 624, 629: Privatsammlung Dr. Wilhelm Kraetschmer IVSTITIA S. 639, 640: Sammlung Bandion Aichern S. 643, 646, 649, 650: Sammlung Bandion Konopatchenkov S. 657: Im Besitz des Künstlers Winkler & Mallet S. 659: Privatsammlung Cyril Mallet - Longueville sur Scie, Frankreich S. 662: Lern- und Gedenkort Schloß Hartheim
Bildnachweise
S. 664, 667: IST Bad Arolsen S. 665: Campmauthausen.org Mahringer S. 682: Sammlung Bandion Baumgartner-Danilović S. 700: Sammlung Bandion Gstettner S. 744: Sammlung Bandion TABVLA GRATVLATORIA S. 799, 800, 801, 812: Sammlung Bandion
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Autorinnen und Autoren
Maximilian Aichern, em. Diözesanbischof von Linz Ilse Aichinger, Schrifststellerin († 2016) Clemens Martin Auer, langjähriger Sektionschef, Sonderbeauftragter für Gesundheit im Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Andreas Baumgartner-Danilović, Generalsekretär des Internationalen Mauthausen-Komitees, Wien Ernst Bruckmüller, em. Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien Markus St. Bugnyár, Rektor des Österreichischen Pilger-Hospizes in Jerusalem, Priester der Diözese Eisenstadt Nicolaus U. Buhlmann, Chorherr des Stiftes Klosterneuburg, Historiker und Theologe Erhard Busek, Vizekanzler a. D., Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa Josef Clemens, Titularbischof von Segermes, Vatikan Maximilian Deym, Gutsverwalter, em. Kanzler des Konstantinischen St. Georgsordens Nicolaus Drimmel, Jurist, Generalsekretär des Österreichischen Gemeindebundes German Erd, Prälat, Abt des Stiftes Stams Toni Faber, Dompfarrer von St. Stephan, Mitglied des Domkapitels, Wien Raimund Fastenbauer, Generalsekretär des Bundesverbandes der Israelitischen Kultus gemeinden in Österreich a.D.
Autorinnen und Autoren
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Hansjörg Feulner, Universitätsprofessor für Liturgiewissenschaften und Sakramententheologie, Universität Wien Ignacio Garcia Lascurain Bernstorff, Historiker, Universidad Católica Lumen Gentium, Mexiko Christine Maria Grafinger, em. Archivarin der Vatikanischen Bibliothek, em. Vizecamerlengo der Erzbruderschaft beim Campo Santo Teutonico Dietmar Grieser, Schriftsteller Peter Gstettner, Universitätsprofessor i.R., Universität Klagenfurt, Vorstandsmitglied des Mauthausen-Komitees Österreich Gregor Henckel Donnersmarck, Prälat, em. Abt des Stiftes Heiligenkreuz Martin Hofmann, Internationales Zentrum für Migrationspolitikentwicklung Jean-Claude Hollerich, Kardinal, Erzbischof von Luxemburg, Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft Johannes Huber, em. Universitätsprofessor, Gynäkologe und Theologe Bernhard Huber, Historiker, Archivar des Deutschordens-Zentralarchivs, Wien Eduard Ivanov, Professor für Internationales Recht an der Nationalen Forschungsuniversität Hochschule für Wirtschaft, Moskau Martin Kaplans, wissenschaftlichr Mitarbeiter am Verfassungsgerichtshof Georg Karasek, Rechtsanwalt in Wien, Stiftungsvorstand am Theater in der Josefstadt Steve Kayser, Historiker und Kulturanthropologe, Luxemburg Alexey Konopatchenkov, Vorsitzender der Gesellschaft der ehemaligen russischen Häftlinge Mauthausen, Moskau
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Autorinnen und Autoren
Irena Lipowicz, Universitätsprofessorin für Verwaltungsrecht und Kommunalverwaltung, Kardinal Stefan Wyszyński-Universität, Warschau Paul Mahringer, Leiter der Abteilung für Inventarisation und Denkmalforschung im Bundesdenkmalamt Cyril Mallet, Kabinettsdirektor der Stadt Grand-Couronne, Forscher an der Universität Rouen Normandie Friederike Mayröcker, Schrifststellerin, Wien Willi Mernyi, leitender Sekretär des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Vorsitzender des Mauthausen Komitees Österreich Johannes Neuhardt, Apostolischer Protonotar, em. Domdechant, Gründer des Dommuseums Salzburg Andreas Pacher, Knowledge Manager an der TU Wien, Forscher an der Diplomatischen Akademie Wien Theresa Philippi, Juristin, Bereichsleiterin an der Fachhochschule Technikum Wien Franz Pichorner, stellvertretender Generaldirektor des Kunsthistorischen Museums Paul Rachler, Historiker, Zukunftsfonds der Republik Österreich sowie Archivar und Mitarbeiter der Vereinigung der Österreichischen Industrie Vincenc Rajšp, em. Vorstand des Historischen Instituts der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Ljubljana. Teresa Schön, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien Michael Spindelegger, Vizekanzler a. D., Generaldirektor des Internationalen Zentrums für Migrationspolitikentwicklung, Wien Szabolcs Szita, em. Universitätsprofessor, Gründer des Holocaust Dokumentations zentrums, Budapest
Autorinnen und Autoren
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Udo Thianich-Schwamberger, Geschäftsführer der CURA Group Austria, Wien Harald Tripp, Militärerzdekan, Ordinariatskanzler im Militärordinariat der Republik Österreich, Militärpfarrer Wien Ulrich Wagrandl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Verfassungsgerichtshof Johannes Wais, Theologe, Gymnasialprofessor und Autor, Wien Michael Weninger, Botschafter i.R., Priester und Jurist beim Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog, Vatikan Jean-Marie Winkler, Universitätsprofessor, Institut für Germansitik, Universität Rouen Normandie Helmut Wohnout, Historiker, Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs Stefan Zotti, Europäische Kommission, Generaldirektion Bildung und Kultur, Brüssel
Personenregister
Die Mitglieder der Herrscherfamilien sind entweder unter ihrem Geschlechternamen oder ihrem Vornamen angeführt Abensperg und Traun, Graf, Hugo, Ritter des Deutschen Ordens 554 Adam, Walter, Oberst, Ritter des Ordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem 606, 612, 613, 614 Adenauer, Konrad, Deutscher Bundeskanzler 132 Ahmed III., Sultan des Osmanischen Reiches 630 Aichern, Maximilian, Altbischof von Linz 9, 641, 803, 815 Aichinger, Ilse, Schriftstellerin 31, 32, 815 Albert III., Graf von Tirol, Vogt von Trient und Brixen 387 Albornoz, Egidio, Kardinal, Erzbischof von Toledo 369 Ali Pascha, Muhammad, Ägyptischer Stadt halter 278 Ali Pascha, Ibrahim, General 278 Allenby, Edmund, Britischer Feldmarschall 342 Alfonso, N., Graf von Caserta und Herzog von Castro 597, 633, 634 Al-Rawi, Omar, Politiker der SPÖ 792 Altan de, Cesare Antonio, Prior der Lombardei und Venetien des Souveränen Malteser Ritterordens 517 Améry, Jean, Schriftsteller 746 Andrássy, Gyula, Ungarischer Ministerpräsident 306, 319, Andrássy, Josef, Vizerektor, Priester 717 Apor, Baron, Vilmos, Seliger, Bischof von Györ 717, 718, 719 Aragon v., Katharina, Königin von England, Gattin König Heinrichs VIII von England 317 Attems, Graf, Karl Michael, Erzbischof von Görz 139, 140 Auersperg, Graf, Joseph Franz Anton, Bischof von Gurk 145, 146, 147, 148, 149
Aznar, José-Camón, Historiker 443 Baggot, Jim, Wissenschaftsautor 55 Bandion, Wolfgang Johannes, Kulturhistoriker 11, 13, 14, 15, 21, 26, 27, 30, 31, 65, 156, 253, 290, 291, 359, 447, 468, 492, 514, 545, 618, 637, 641, 642, 644, 645, 649, 650, 651, 672, 688, 691, 742, 753, 770, 790, 799 Barberini, Francesco, Kardinal, Mäzen 358 Barone, Domenico, Italienischer Staatsrat 378 Bauer, Ernst Arnold, Professor, Maler 11, 803 Bauer, Otto, Staatssekretär 159, 163 Baur, Belagius, 17. Abt von Stams 406 Bautista, de Toledo, Juan, Architekt 428 Bedrot, Christian, 16. Abt von Stams 406, 402 Beethoven van, Ludwig, Komponist 102, 103, Bergoglio, Jorge-Maria, Papst Franziksus 69, 70, 72, 74, 78, 360, 382, 383, 384, 385, 535, 539 Beroldingen, Lukas, Präsidialchef des Bundeskanzleramtes 24 Bertello, Giuseppe, Kardinal, Präsident des vatikanischen Governatorats 383 Beust, Graf, Friedrich Ferdinand, Österreichischer Reichskanzler, Außenminister 304, 306, 307, 309, 318, 319 Bieda di, Rainero, Papst Paschalis II. 493, 529 Böhm, Carl, Schausteller 211 Bonaparte, Napoleon III., Kaiser der Franzosen 304, 373 Bonaparte, Eugenie, Kaiserin der Franzosen 304, 319, 320, 322 Bonaparte, Joseph, König von Sizilien 631 Boncompagni, Ugo, Papst Gregor XIII 349 Borghese, Camillo, Papst Paul V. 372, 449 Borgia de, Rodrigo, Papst Alexander VI. 349, 357, 371, 400
Personenregister
Borgia de, Alfonso, Papst Calixtus III. 356 Bouillon v., Gottfried, König von Jerusalem 340 Bramante, Donato, Maler, Baumeister, Architekt 371 Brandstätter, Helmut, Abg. z. Nationalrat 23, 803 Braschi, Graf, Giovanni Angelo, Papst Pius VI. 372 Braun v., Wernher, Raketenwissenschaftler 684, 686, 687 Briand, Aristide, Französischer Außenminister 130 Brixen v., Poppo, Papst Damasus II. 364 Brugsch, Heinrich, Ägyptologe, Preußischer Konsul in Kairo 321 Brusson, Paul, Präsident der Amicale Belgiens von Mauthausen 644 Burgund v., Gerhard, Papst Nikolaus II. 367 Burgund v., Maria, 1. Ehefrau von Kaiser Maximilian I. 402 Burjan, Hildegard, Selige, Gründerin der Caritas Socialis 123 Burkhart, Benedikt, Goldschmied 402 Buttarelli, Giovanni, Europäischer Datenschutzbeauftragter 237, 238 Caboga-Czerva, Graf, N., Feldzeugmeister, Direktor der Generalgeniedirektion 312, 519 Cadorna, Raffaele, Italienischer General 374 Caetani, Benedetto, Papst Bonifaz VIII. 355, 357, 368 Callo, Marcel, Seliger, Märtyrer 642, 648, 649 Cammeo, Federico, Jurist 379 Camors, Gaston, Schausteller 205 Camors, Francis, Schausteller 205 Camors, Stephane, Schausteller 217 Campion, Marcel, Schausteller 226, 229 Canetti, Veza, Schriftstellerin 34, 35 Canetti, Elias, Schriftsteller, Nobelpreisträger 35 Cappellari, Bartolomeo Alberto, Papst Gregor XVI. 373 Carafa, Gian Pietro, Papst Paul IV. 347 Casaroli, Agostini, Kardinalstaatssekretär 381, 644
821 Cassidy, Leon , Unternehmer 212 Castelli, Pietro, Baumeister, Architekt 379 Cavalieri de, Pio Franchi, Hagiograph 513, 514 Cavallier, József, Universitätsassistent 717 Cavour v., Camillo, Ministerpräsident des Königreichs Italien 373 Chiaramonti, Luigi, Papst Pius VII. 373 Chiesa della, Giacomo, Papst Benedikt XV. 377, 380, 523 Chorin, Ferenc, Mitglied des Herrenhauses 717 Clairvaux v., Bernhard, Heiliger 489, 495, 496, 501, 503 Colonna v., Oddo, Papst Martin V. 369 Consalvi, Ercole, Kardinal, Diplomat 373 Conti di Segni, Lotario de’, Papst Innozenz III. 530, 368 Coolidge, Archibald, Diplomat, Historiker 161 Cossa, Baldassare, Gegenpapst Johannes XXIII. 394 Coudenhove, Graf, Maximilian, Landkomtur des Deutschen Ordens 553 Coudehove-Kalergi, Richard, Schriftsteller 129, 130 Craxi, Bettino, Italienischer Ministerpräsident 381 Dalla Torre del Tempio di Sanguinetto, Giacomo, Großmeister des Souveränen Malteser Ritterordens 494 Delors, Jaques, Präsident der Europäischen Kommission 133 Demel, Bernhard, Priester, Deutscher Orden 545 Denifle, Heinrich, Dominikaner, Kirchenhistoriker 350 Dietmayr, Berthold, Abt von Melk 428, 434 Dillingen v., Hartmann, Bischof von Augsburg 391 Disney, Walt, Unternehmer, Schausteller 202 Dornberger, Walter, Raketenwissenschaftler 687 Dudik, Beda, Historiker, Benediktiner 302, 305 Durnwalder, Luis, Landeshauptmann von Südtirol 413 Dvořák, Max, Kunsthistoriker, Universitätsprofessor 160 Dziwisz, Stanislaw, Kardinal, Alterzbischof von Krakau 649, 24
822 Edling v., Rudolf Joseph, Erzbischof von Görz 140 Ehrle, Franz, Kardinal, Präfekt der Vatikanischen Bibliothek 350, 351, 352 Stuart, Eleonore, Tochter von König Jakob I. von Schottland, Ehefrau von Sigmund von Tirol 396 Elisabeth, Kaiserin von Österreich 633, 635, 636, 637 Ellenberger, Hugo, Professor, Volksbildner 13 Endlicher, Anton, Architekt 283, 284, 285, 286, 290, 291, 292, 293 Eppan v., Egno, Fürstbischof von Trient und Brixen 389 Erdödy-Harrach, Béla, Universitätsprofessor 717 Ernst, Erzherzog von Österreich, Feld marschallleutnant 316 Esteva, Mauro, Generalabt des Zisterzienserordens 413 Faber, Anton, Dompfarrer von St. Stephan Wien 469, 804 Farnese, Alessandro, Papst Paul III. 628 Farnese, Francesco, Herzog von Parma 628, 629, 630 Farnese, Pier Luigi, Herzog von Parma 628 Farnese, Alessandro, Kardinalnepot 628 Farnese, Antonio, Herzog von Parma 630 Farnese, Elisabeth, Erbin Antonios 630 Ferdinand I., Römischer Kaiser 408, 430, 447, 459 Ferdinand II., Erzherzog von Österreich, Landesfürst von Tirol 162, 407, 408 Ferdinand II., Römischer Kaiser 448, 469, 546, 576 Ferdinand II., König beider Sizilien 632, 635, 636 Ferdinand III., Römischer Kaiser 456, 457, 462, Ferstel v., Heinrich, Architekt 284, 298, 352 Festings, Matthew, Großmeister des Souveränen Malteser Ritterordens 539 Figl, Leopold, Bundeskanzler 132, 794 Flug, Noach, Holocaust-Überlebender 743 Folliot, de Crenneville, Graf, Franz, Ritter des Deutschen Ordens 554 Fraknoi, Vilmos, Weihbischof, Titularabt von
Personenregister
Szekszárd, Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Gründer des Ungarischen Historischen Instituts in Rom 357 Franck, Fernand, Erzbischof von Luxemburg 413 Frankl v., Ludwig August, Arzt, Schriftsteller, Sekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien 258, 291 Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich, Kronprinz 316, 636 Franz I., König beider Sizilien 653 Franz I./II., Römischer Kaiser, Kaiser von Österreich 150, 159, 162, 452, 533, 632, 633 Franz II., Herzog von Parma 635, 636 Franz Josef I., Kaiser 319, 320 Freudenthaler, Christian, Professor 645 Friedrich Kardinal, Landgraf von Hessen 622 Frid, Friedrich, Förderer des Campo Santo Teutonico im 15. Jhd., Mitbegründer der Erzbruderschaft der Schmerzhaften Mutter am Campo Santo 348 Friedrich III., Römischer Kaiser 414, 430, 451 Friedrich IV., Herzog von Österreich, Graf von Tirol 394, 395, 396, 409 Friedrich Wilhelm, Deutscher Kronprinz 303, 304, 313, 319 Gabriel, Mariya, EU-Kommissarin 110 Gaismaier, Michael, Bauernführer 407 Garibaldi, Giuseppe, Freiheitskämpfer, Protagonist des Risorgimento 374, 633 Gasparri, Pietro, Kardinal, Kardinalstaatssekretär 377, 378 Gasperi de, Alcide, Italienischer Ministerpräsident 132 Gatterer, Claus, Journalist, Publizist 736 Gauß, Karl-Markus, Schriftsteller 46, 378 Gelasius I., Papst 364 Gemelich, Bernhard, 26. Abt von Stams 410 Georg I., König der Hellenen 310 Ghislieri, Antonio Michele, Papst Pius V. 347, 372 Giolitti, Giovanni, Italienischer Ministerpräsident 377 Glashow, Sheldon, Nobelpreisträger 55 Glück, Gustav, Galeriedirektor des Kunsthistorischen Museums Wien 160
Personenregister
Golderner, Johannes, Weihbischof, Augustinereremit, Mitbegründer der Erzbruderschaft der Schmerzhaften Mutter am Campo Santo 349 Gorbach, Josef, Prälat 613, 616 Granicher, Vigil, 34. Abt von Stams 411 Gräupl, Edwin, Statthalter der Österreichischen Ordensprovinz, Ritter des Ordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem 610, 617 Grieser, Dietmar, Schriftsteller 31, 34 Grimoard de, Guillaume, Papst Urban V. 259 Groller, v. Mildensee, Maximilian, Oberst, Archäologe und Kartograph 305 Gruber, Johann, Priester, Märtyrer 641, 642, 643 Grunwald, Max, Rabbiner in Wien 292 Guérot, Ulrike, Politikwissenschaftlerin 104, 106 Gulda, Friedrich, Komponist, Klaviervirtuose 22 Gutknecht, Brigitte, Juristin 118, 119, 121, 122 Haase, Hugo, Maschinenbauer 201, 212 Habsburg-Lothringen, Otto, Erzherzog von Österreich, Kronprinz 412, 413 Habsburg-Lothringen, Karl, Erzherzog von Österreich 413 Habsburg-Lothringen, Georg, Erzherzog von Österreich 413 Habsburg-Lothringen, Lorenz, Erzherzog von Österreich 413 Habsburg-Lothringen, Simeon, Erzherzog von Österreich 413 Hackmann, Eugen, Griechisch Orthodoxer Erzbischof von Czernowitz 297 Hanke, Hubert, Prior des Deutschen Ordens in Troppau 581 Harpner, Gustav, Präsident des Kriegsgeschädigtenfonds 162 Heine, Heinrich, Schriftsteller 607, 792 Heinke, Freiherr, Franz Josef, Jurist, Österreichische Hofkanzlei 144 Heinrich, Herzog von Kärnten, Graf von Tirol 392 Heinrich III., Römischer Kaiser 367 Heinrich VIII., König von England 317 Hense, Ansgar, Staatskirchenrechtler 236
823 Herberstein, Graf, Karl Johann, Bischof von Laibach 138, 139, 140, 141, 142, 144, 149 Hergenröther, Joseph, Kardinal, Historiker 353, 354, 356, 357, 358 Herrera de, Juan, Architekt 482 Herz-Lämel, Elise, Gründerin der Lämel Schule, Jerusalem 291 Heuss, Theodor, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland 105 Hilge, Stephan, Bildhauer, Maler 657, 700, 744, 805 Himmel von Agisburg, Heinrich, Generalmajor 323 Hitler, Adolf, Deutscher Reichskanzler 28, 34, 46, 130, 480, 615, 656, 675, 698, 699, 717, 736, 738, 739, 748, 755, 770 Hlawati, Franz, Hofkaplan, Domkapitular 606, 612 Hofbauer, Clemens Maria, Stadtpatron von Wien 15, 23, 28 Höfinger, Oskar, Bildhauer 15, 23, 649, 650, 805 Hohenems, Graf, Markus Sittikus, Fürsterzbischof von Salzburg 414, 415 Hohenlohe-Schillingsfürst, Fürst zu, Konstantin, Obersthofmeister und General der Kavallerie 28, 309, 317, 320 Holey, Karl, Universitätsprofessor, Dombaumeister 422 Holstenius, Lukas, Humanist, Kustos der Vatikanischen Bibliothek 358 Hompesch, Ferdinand, Großmeister des Souveränen Malteser Ritterordens 494, 534 Horký, Ludvík, Apostolischer Protonotar 24 Horthy v., Miklos, Ungarischer Reichsverweser 602, 716, 719, 720, 725, 727, 728 Horthy, Miklos Junior, Sohn des Reichsverwesers Horthy 727 Hrdlicka, Alfred, Bildhauer, Maler 24, 30, 468, 469, 470, 471, 472, 473, 474, 477, 478, 479, 480, 481, 482, 483, 484, 486, 640, 643, 644, 646, 675, 682 Hubble, Edwin, Astronom 50 Innitzer, Theodor, Kardinal, Erzbischof von Wien 28, 30, 610, 611, 612, 613, 615, 676, Isaak II. Angelos, Byzantinischer Kaiser 626
824 Jacobini, Ludovico, Erzbischof, Apostolischer Nuntius 347 Jäger, Melchior, 23. Abt von Stams 408, 409 Jakob I., König von England 396 Janig, Carl, Rektor des Päpstlichen Instituts Santa Maria dell’Anima 346 Janssen, Johannes, Historiker, Professor 346 Jaross, Andor, Ungarischer Innenminister 720 Jemec, Andrej, Maler, Mitglied der slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste 16 Joseph II., Römischer Kaiser 411, 449, 569 Juan Carlos, König von Spanien 24, 634 Kafka, Helene, Schwester Restituta, Selige, Märtyrerin 30, 469, 472, 479 Kaltenbrunner, Ferdinand, Historiker 354, 356 Karl der Große, Kaiser 442, 128, 348, 366, 442 Karl der Kühne, Herzog von Burgund 402 Karl I., Herzog von Parma 630 Karl II., König von Spanien 431 Karl III., König von Neapel und Sizilien 432, 630 Karl IV., Römischer Kaiser 393 Karl V., Römischer Kaiser 130, 159, 279, 371 Karl VI., Römischer Kaiser 159, 410, 426, 427, 429, 432, 433, 436, 437, 438, 440, 442, 443, 444, 449 Karl VII., König von Frankreich 396 Karl VII., König von Neapel und Sizilien 630 Katharina v. Sachsen, 2. Ehefrau von Sigmund von Tirol 396 Kastner, Augustin, 31. Abt von Stams 410 Keitel, Wilhelm, General, Oberkommando der Wehrmacht 656 Kelsen, Hans, Jurist 118, 119 Kern, P., Karl, Jesuit 11, 806 Kirchberg v., Bruno, Bischof von Brixen 391 Kirill, Patriarch von Moskau und ganz Russland 535 Kirsch, Johann-Peter, Direktor des Römischen Instituts der Görres Gesellschaft 351 Knoll, Pius, Altphilologe 346 Kocka, Jürgen, Sozialhistoriker 86 Kohl, Helmut, Deutscher Bundeskanzler 134 Kolbe, Maximilian, Heiliger, Märtyrer 642
Personenregister
König, Franz, Kardinal, Erzbischof von Wien 24, 29, 641, 644, 650 Konrad IV., Römisch Deutscher König 389 Konradin, Herzog von Schwaben, letzter Staufer 389, 390, 391 Korinek, Karl, Präsident d. Verfassungsgerichtshofes 119, 121, 122, 188, 260, 261, 262, 264 Krejci, Heinz, Jurist, Universitätsprofessor 117 Krugman, Paul, Ökonom 78 Kugler, Georg, stellvertretender Generaldirektor des Kunsthistorischen Museums in Wien 163, 807 Kunschak, Leopold, Präsident des Österreichischen Nationalrates, Gründer der christlicher Arbeiterbewegung 796, 123 Kupelwieser, Leopold, Maler 298 Kutschker, Johann Rudolf, Kardinal, Erzbischof von Wien 346 Laemmer, Hugo, katholischer Theologe 347 Lafontaine, Oskar, Ministerpräsident 24, 469 Lagery de, Odo, Papst Urban II. 491 Langanke, Albert, em. Generalsekretär d. CIM 26, 807 Lányi v., Josef, Bischof 602, 603 Lein, Hermann, Sektionschef 30 Lämel v., Simon, Großkaufmann 291 Leo der Große, Papst 364 Leo III., Papst 126, 366 Leo IV., Papst 364, 367 Leopold I., Römischer Kaiser 129, 431, 438, 462, 622, 627, 635 Leopold III., Markgraf von Österreich, Heiliger 441, 129, 426, 431, 441 Leopold V., Erzherzog von Österreich, Regent von Tirol und Vorderösterreich 410 Leyen von der, Ursula, Präsidentin der Europäischen Kommission 110 Lodron, Graf, Paris, Fürsterzbischof von Salzburg 414, 415, 416, 418, 419 Ludovisi, Alessandro, Papst Gregor XV. 358, 372 Ludwig II., König von Bayern 234 Lugga, Thomas, 24. Abt von Stams 409 Luther, Martin, Augustinereremit, Reformator 371, 473
825
Personenregister
Macharski, Franciszek, Kardinal, Erzbischof von Krakau 28, 648 Mack, Heinrich, Konstrukteur 204, 199, 206, 214, 215, 216, 217, 223, 224, 226 Macron, Emmanuel, Präsident der Republik Frankreich 115 Mädel, Johann Friedrich, Kosmologe 49 Mallet, Cyrill, Schriftsteller 658 Mantl, Wolfgang, Politikwissenschaftler, Jurist, Universitätsprofessor 118, 808 Margarethe, Gräfin von Tirol und Görz, genannt Margarethe Maultasch 393, 402, 404, 628 Maria Karolina, Erzherzogin von Österreich, Königin von Neapel 630, 635 Maria Klementine, Erzherzogin von Österreich, Königin von Neapel 635 Maria-Theresia, Erzherzogin, Königin 411, 437, 438, 445, 450, 454, 458, 635 Marini, Gaetano, Archivar im Vatikanischen Archiv 356 Maršálek, Hans, Obmann der Österreichischen Lagergemeinschaft 642, 650 Martinucci, Pio, Custos der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek 346 Mascacgni, Arsenio, Maler, Mönch 422 Mastai-Ferretti, Graf, Giovanni Maria, Papst Pius IX. 280, 346, 369, 373, 374, 375, 517, 568, 594, 604 Matijevic, Marjan, Künstler 689 Matthäi, Christoph II., Propst von Klosterneuburg 427 Matthias, Römischer Kaiser 279 Maximilian, Kaiser von Mexiko (vormals Erzherzog Ferdinand Maximilian) 595 Maximilian, Römischer Kaiser 359, 396, 399, 405, 411, 430, 451, 463, 625 Maximilian II., Römischer Kaiser 408 Maximilian III., Erzherzog von Österreich, Hochmeister des Deutschen Ordens (genannt der Deutschmeister) 408, 410, 428, 450, 451 Mayröcker, Friederike, Schriftstellerine 31, 36 Mazurkiewicz, Piotr, Professor, Experte bei der Kommission der Bischofskonferenzen bei der Europäischen Union 239
Medici de, Giovanni, Papst Leo X. 335, 349, 351, 352, 353, 356, 357, 358, 359, 376, 518, 548, 558, 559, 560, 568, 581 Medici de, Giulio, Papst Clemens VII. 371 Meinhard II., Gründer des Stiftes Stams 1273 387, 388, 392, 400, 410, 413 Mennini, Luigi, Bankier, Vorstand des IOR 380 Messensee, Strasser v., Jürgen, Maler 16, 17, 807 Metternich, Fürst, Clemens Wenzel, Staatskanzler 278, 279, 280, 302 Metz, Johann Baptist, Theologe, Priester 483, 484 Miklas, Wilhelm, Österreichischer Bundespräsident 602, 610, 611, 612, 615 Milde, Vinzenz Eduard, Fürst-Erzbischof von Wien 281 Mock, Alois, Vizekanzler, Außenminister 133 Momo, Giuseppe, Architekt 379 Monnet, Jean, Unternehmer 104 Montbel de, Giovanni, Richter an der Römischen Rota 347 Montejoye-Vaufrey, Graf, Franz, Ritter des Ordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem 606 Moritz v. Sachsen, Kurfürst, Herzog des albertinischen Sachsens 406, 407 Morrone da, Pietro, Papst Cölestin V. 392 Mösinger, Georg, Professor, Orientalist 346 Mundy, Freiherr, Jaromir, Mediziner 519 Murat, Joachim, König von Sizilien 631 Mussolini, Benito, Italienischer Ministerpräsident 377, 378, 600, 616 Nietzsche, Friedrich, Philosoph 48, 49 Nogara, Bernardino, Bankier 380 Nüll van der, Eduard, Architekt 283 Odescalchi, Benedetto, Papst Innozenz XI., Seliger 561 Olga, Königin der Hellenen 310 Orbán, Viktor, Ungarischer Ministerpräsident 102 Orlando, Vittorio Emanuele, Italienischer Ministerpräsident 377 Ottenthal v., Emil, Historiker 354 Ottokar II., König von Böhmen, Herzog von Österreich, der Steiermark, von Kärnten und Krain 388
826 Overbeck, Friedrich, Maler 349 Pacelli, Eugenio, Papst Pius XII. 122, 378, 379, 380, 715, 716, 719, 729 Pacelli, Francesco, Jurist, Bruder von Papst Pius XII. 378 Paganelli, Bernardus, Papst Eugen III. 489 Parentucelli, Tommaso, Papst Nikolaus V. 370, 371 Parma, Herzog v. Javier, Herzog von Parma 632 Pascha, Kiamil, Großwesir 285, 287, 288, 289 Pasolini, Pier Paolo, Filmregisseur, Dichter und Publizist 472 Pastor, Freiherr v. Camperfelden, Ludwig, Diplomat, Historiker 346, 347 Paul I., Russischer Zar 533, 534, 535, 536 Pecci, Vincenzo, Papst Leo XIII. 335, 351, 352, 356, 357, 358, 359, 376, 518, 548, 558, 559, 560, 568, 581 Pedro, Herzog von Kalabrien, Großmeister des Heiligen Konstantinischen Ritter-Ordens vom Heiligen Georg 635 Philipp V., König von Spanien 432, 630 Piccolomini, Enea Silvio, Papst Pius II. 356 Pierotti, Ermete, Architekt 283, 284 Piketty, Thomas, Wirtschaftswissenschaftler 74, 77 Pilz, Hugo, Unternehmer 210 Pippin III., König der Franken, genannt Pippin der Jüngere 356 Pitra, Jean-Baptiste, Kardinal, Kardinalbibliothekar der Römischen Kirche 347, 516 Pizzamano, Josef, Österreichischer Konsul in Jerusalem 281, 282, 283, 284, 287, 288, 289, 291, 293, 294 Plener v., Ignaz, Österreichischer Ministerpräsident 310 Polak, Bernhard, Priester, Deutscher Orden 562 Pöttering, Hans-Gerd, Präsident des Europäischen Parlaments 125 Pöttickh, von Pettenegg, Edurad Gaston, Bischof, Ritter des Deutschen Ordens 545, 546, 547, 549, 551, 553, 555, 565 Prandtauer, Jakob, Architekt 427, 428, 433, 434 Rainer, Erzherzog von Österreich 296, 297
Personenregister
Raitenau v., Wolf Dietrich, Fürsterzbischof von Salzburg 415 Rampolla del Tindaro, Mariano, Kardinal, Kardinalstaatssekretär 376 Ratti, Achille, Papst Pius XI. 523, 524, 599, 604, 605, Ratzinger, Josef, Papst Benedikt XVI. 382, 384, 385 Rauscher v., Josef Othmar, Kardinal, Erzbischof von Wien 281, 283, 284, 286, 287, 289, 293, Rempfer, Marvin, Unternehmer 212, 213 Renner, Karl, Staatskanzler 470, 163 Reyer v., Franz, Legationssekretär 277, 294 Rezzonico, della Torre, Carlo, Papst Clemens XIII. 568, 345 Richthausen, Freiherr v. Chaos, Johann Konrad, Erbmünzmeister 462 Rickhey, Georg, Generaldirektor 686 Riegler, Josef, Vizekanzler 121 Rienzo di, Cola, Humanist, Politiker 369 Rietz v., Ulrich, 6. Abt von Stams 393 Roesner, Carl, Architekt 284 Roncalli, Angelo, Papst Johannes XXIII., Heiliger 22, 380 Rosin, Meir, Künstler 339 Rossi, Opilio, Apostolischer Nuntius 24 Rotta, Angelo, Apostolischer Nuntius 715, 716, 718, 719, 720, 721, 722, 724, 725, 726, 727, 728, 729, 730, 730, Rotterdam, von, Erasmus, Humanist, Theologe 106, 129, Rovere della, Francesco, Papst Sixtus IV. 345, 370, 371 Rovere della, Giuliano, Papst Julius II. 371, 406 Rudolf, Erzherzog von Österreich, Kronprinz 316 Rudolf IV., Erzherzog, genannt Rudolf der Stifter 259, 451, 460, 564 Ruffo, della Scaletta, Rufo, Minister beim Heiligen Stuhl 526 Sacconi, Carlo, Kardinal, Diplomat 357 Sammer, Alfred, Prälat 22 Savoyen, Prinz, Eugen, Feldherr 39 Scamozzi, Vincenzo, Architekt 415
Personenregister
Schälzky, Robert, Hochmeister des Deutschen Ordens 580, 584, 586, 589, 590 Scheucher, Hannes, Maler 16, 275, 487, 639 Scheuer, Manfred, Bischof von Linz 413 Schick, Conrad, Architekt, Archäologe 338 Schill, Adolf, Architekt 352 Schmidleithner, Irmgard, ÖGB Vizepräsidentin 26 Schnitzer, Reb Mosche Mordechai, Künstler 132, 134, 290, 292 Schönborn, Christoph, Kardinal, Erzbischof von Wien 52 Schopenhauer, Arthur, Philosoph 49 Schubert, Franz, Komponist 472 Schuman, Robert, Französischer Ministerpräsident 122, 131 Schütze, Rudolf, Schausteller 216, 223 Schütze, Ronny, Schausteller 223, 224, 225 Schwartz, Elemér, Universitätsprofessor 728 Schwarzenberg zu, Friedrich, Fürst-Erzbischof von Salzburg 151 Seipel, Ignaz, Prälat, Bundeskanzler 585 Sellés-Ferrando, Xavier, Diplomat, Kultur attaché 24 Segre, Roberto, Generalmajor, Chef der Militärmission 1918/19 158, 160 Sforza, Bianca Maria, 2. Ehefrau von Kaiser Maximilian I. 400 Sibilia, Enrico, Apostolischer Nuntius 611 Sicard, v. Sicardsburg, August, Architekt 283, 284 Sickel v., Theodor, Professor, Historiker 353 Sigmund, Herzog von Österreich, Regent von Tirol 394, 395, 396, 410 Simeon, Erzherzog von Österreich, Präsident der Königlichen Kommission für Österreich und Liechtenstein des Heiligen Konstantinischen Ritterordens vom Heiligen Georg 413, 803 Sizzo-Noris, Graf, Gustav, Statthalter der Österreichischen Ordensprovinz, Ritter des Ordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem 607 Skorzeny, Otto, SS Obersturmbannführer 727 Skricka, Ernst, Maler 16, 800 Smith, Adam, Nationalökonom 78 Soana v., Hildebrand, Papst Gregor VII. 362, 367
827 Sobieski, Jan, Polnischer König 627 Sofsky, Wolfgang, Soziologe, Autor 740, 752 Solari, Lola, Gründerin der Europäischen Frauenunion 133 Solari, Santin, Baumeister, Architekt 415 Sommi-Picenardi, Guido, Prior der Lombardei und Venetien des Souveränen Malteser Ritterordens 517, 518, 519, 520 Spada, Massimo, Bankier 372 Squicciarini, Donato, Erzbischof, Apostolischer Nuntius 29 Staa van, Herwig, Altlandeshauptmann von Tirol 412, 413, 811 Stahlmann, Heinrich, Unternehmer 212 Stefančič, Dušan, Obmann Internationales Mauthausen Komitee 650 Stein , Edith, Heilige, Märtyrer 642 Stephan II., Papst Stephan II. 365 Stickler, Alfons-Maria, Kardinal 14, 53 Stöckl, Sebastian, 35. Abt von Stams 411 Stritzl-Artstatt v., Friedrich, Rechtsanwalt 162 Süleyman I., Sultan des Osmanischen Reiches 494 Sztójay, Döme, Ungarischer Ministerpräsident 715, 716, 718, 719, 720, 721, 723, 729 Tarnóczy v., Maximilian Joseph, Fürst-Erzbischof von Salzburg 150 Tegernsee v., Friedrich, 2. Abt von Stams 392 Tegetthoff v., Wilhelm, Österreichischer Vizeadmiral, Kommandant der österreichischungarischen Kriegsmarine 306, 317 Thirring, Walter, Physiker 63 Thun-Hohenstein, Graf, Leo, Kultus- und Unterrichtsminister 260 Thun-Hohenstein, Graf, Galeas, Großmeister des Souveränen Malteser Ritterordens 520 Tinnefeld, Marie-Therese, Datenschutzexpertin 237 Trani, Graf v., Ludwig, Bruder von König Ferdinand II. u. Prinz beider Sizilien 636 Tripp, Harald, Militärerzdekan, Ordinariatskanzler 360, 810 Trump, Donald, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 68, 80, 83 Tusk, Donald, Ratspräsident 107, 108
828 Umberto I., König von Italien 376 Unterberger, Christoph, Maler 349 Valerga, Joseph, Lateinischer Patriarch von Jerusalem 281, 298, 594, 596 Valette de la, Jean Parisot, Großmeister des Souveränen Malteser Ritterordens 494 Veesenmayer, Edmund, Reichsbevollmächtigter für Ungarn 717 Viktor Emanuel III., König von Italien 600, 632 Vogelweide von der, Walther, Minnesänger, Dichter 501, 503 Vogrin, Lovro, Theologe, Priester 151 Waal de, Anton, Rektor des Campo Santo Teutonico 347, 350 Wagner, Alois, Erzbischof 14 Wagner, Richard, Komponist 472 Waitz, Georg, Professor, Historiker 353 Waldheim, Kurt, Österreichischer Bundespräsident, Generalsekretär der Vereinten Nationen 471, 675, 736, 737, 792, 794 Weidner, Hermann, Betriebsführer von „Schlier“ 686, 687 Weinbacher, Jakob, Weihbischof, Großprior des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jeru salem in Österreich 615 Weitenhiller v., Moritz, Beamter, Herausgeber 549 Welch, Jack, Unternehmer 79 Welsch, Bernhard, 15. Abt von Stams 402 Wiesenthal, Simon, Gründer des Dokumentationszentrums Jüdischer Verfolgter des Naziregimes 23, 650, 792, 796
Personenregister
Wilhelm II., Deutscher Kaiser 313, 596 Wilson, Woodrow, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 161 Wittelsbach v., Elisabeth, Römisch Deutsche Königin, Ehefrau von Konrad IV. 389, 390, 392 Wojtyła, Karol, Papst Johannes Paul II., Heiliger 24, 641, 648, 649 Wolfratshause v., Heinrich, Fürstbischof im Hochstift Regensburg 391 Wotruba, Fritz, Architekt, Bildhauer 470, 649 Wurmbrand-Stuppach, Graf, Ludwig, Ritter des Deutschen Ordens 554 Zacchi, Cesare, Erzbischof, Apostolischer Nuntius 23 Zacharias, Papst Zacharias 356 Zacherl, Peter, Baumeister, Diözesanbaumeister Salzburg 422 Zängerle, Roman Sebastian, Bischof von Seckau 150, 151 Zasius, Ulrich, Humanist 406 Zeilinger, Anton, Quantenphysiker, Präsident der Österr. Akademie der Wissenschaften 61 Zingerle, Pius, Orientalist, katholischer Theologe, Benediktiner 346 Zirnkittl, Englbert, Schuhmacher 198 Zschokke, Hermann , Weihbischof 298