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Jan Lohrengel / Andreas Müller (Hg.)
Entdeckungen des Evangeliums Festschrift für Johannes Schilling
Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Herausgegeben von Volker Henning Drecoll und Volker Leppin
Band 107
Vandenhoeck & Ruprecht
Jan Lohrengel / Andreas Müller (Hg.)
Entdeckungen des Evangeliums Festschrift für Johannes Schilling
Vandenhoeck & Ruprecht
Diese Publikation wurde finanziell gefördert von der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein und der Luther-Gesellschaft.
Mit 19 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-3237 ISBN 978-3-666-56896-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen
Vorwort
Der vorliegende Band bietet einen bunten Strauß akademischer Blumen, die Johannes Schilling zu seinem 65. Geburtstag im Jahr 2016 überreicht wurden. Freunde und Kollegen hatten sich in Kiel zu einem Kolloquium versammelt, bei dem beiliegende Beiträge zu Gehör kamen. Dieses Kolloquium stand unter dem Titel „Entdeckungen des Evangeliums“. Die Organisatoren waren sich sicher, unter einem solchen Motto die vielfältigen Interessen von Johannes Schilling am besten bündeln zu können. Außerdem erschien ein Streifzug auf dieser Spur durch alle Epochen der Kirchengeschichte geeignet, um die Beiträger mit ihren ganz unterschiedlichen Schwerpunkten in Geschichte und Kirchengeschichte zu versammeln. Wenn man versucht, das wissenschaftliche Œuvre von Johannes Schilling systematisch zu verorten, treten angesichts seiner Größe und Vielfalt auf den ersten Blick Schwierigkeiten auf. Neben zahlreichen Editionsprojekten lateinischer und deutschsprachiger Autoren stehen global- und lokalhistorische, musikwissenschaftliche, kunst- und theologiegeschichtliche Beiträge, Artikel zu zentralen kirchengeschichtlichen Begriffen genau so wie geschichtstheoretische Abhandlungen. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass der Gegenstand durch die Jahre des Wirkens von Johannes Schilling und auch durch die von ihm behandelten Epochen hindurch stets der gleiche war und sicher auch bleiben wird. Johannes Schilling fragt: Welche Rolle spielte das Evangelium in der Geschichte und der Gegenwart? Wie wurde das Evangelium von Menschen in den ganz unterschiedlichen Zeiten und Lebenssituationen verstanden, interpretiert? Manchmal geriet das Evangelium in Vergessenheit, musste erst wieder entdeckt werden. Das gilt keineswegs nur für die Reformationsgeschichte, in der wir seinen Maßstab für im besten Sinne des Wortes theologische Kirchengeschichtsschreibung zu erkennen glauben. Das Evangelium ist nicht nur für Martin Luther die alles entscheidende, gute Botschaft, die tröstet und von der man „singet, saget und frölich sei“.1 Auch Johannes Schilling könnte man diesen Ausspruch, so glauben wir, in den Mund legen. Gerade auch deswegen konnte es für einen Reformationshistoriker keinen anderen Titel für ein Festkolloquium zum 65. Geburtstag geben als „Entdeckungen des Evangeliums“. Gerhard Ebeling, der Kirchengeschichte als Auslegungsgeschichte der Heiligen Schrift verstand, ist breit rezipiert worden. Die Debatte über seinen Vorschlag ebbte zu keinem Zeitpunkt vollständig ab. In jüngster Zeit erst erschienen diverse Abhandlungen, die auf Ebelings Aussage zurückgreifen. Das Kolloquium hat diese Debatte mit aufgegriffen und damit auch versucht, einen Beitrag für das (Selbst-) Verständnis der Kirchengeschichte zu leisten. Das Hauptaugenmerk des Kolloquiums
1 WA.DB 6, 2/4.
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Vorwort
lag jedoch auf der Rezeptionsgeschichte des Evangeliums. Dabei stand die Leitfrage im Zentrum, in welchem Umfang sich kirchen- und kulturgeschichtliche Reformen sowie gesellschaftliche Veränderungen auf eine vertiefte Lektüre des Evangeliums zurückführen lassen. Auch aufgrund der interdisziplinären Orientierung des Programms haben die Referenten weiterführende Fragestellungen entwickelt. In der vorliegenden Festschrift sind die Beiträge des Kolloquiums nun in schriftlicher Form zugänglich. Die Herausgeber haben die Beiträge in zwei Abteilungen gegliedert: Solche, die im engeren Sinne mit dem vorgegebenen Thema in Verbindung stehen und solche, die als Freundesgaben im weiteren Sinne den Jubilar ehren. Der von Gerhard Fouquet gehaltene Vortrag ist zwischenzeitlich an anderer Stelle erschienen.2 Für diesen Band hat er daher dankenswerterweise einen anderen Aufsatz beigesteuert. Gerahmt wird der Band durch den öffentlichen Festvortrag von Dietrich Korsch, der Johannes Schilling in besonderer Weise charakterisiert, und dessen Gesamtbibliographie. Sowohl das Kolloquium als auch die Festschrift konnten nur gelingen, weil sich zahlreiche Menschen engagiert haben. Frau cand.theol. Sarah Hertel hat sich um die Vereinheitlichung der Druckvorlage verdient gemacht. Die Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein sowie die Luther-Gesellschaft haben das Erscheinen dieser Festschrift finanziell ermöglicht. Dafür danken wir ganz herzlich.
2 Gerhard Fouquet: Sterben auf der Romfahrt – Sprecher und Sprechen über den ‚guten Tod‘ Graf Wilhelms III. von Henneberg (1480), in: Geschichte und Region/Storia e regione 25 (2016) 1, 159–178.
Inhalt Auf den Jubilar: Johannes Schilling und die Entdeckung des Evangeliums Dietrich Korsch Das Evangelium in der Geschichte der Frömmigkeit. Konturen eines Konzepts der Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Entdeckungen des Evangeliums in der Geschichte der Kirchen Andreas Müller Do ut des – evangelische caritas bei Cyprian von Karthago . . . . . . . . . . 27 Volker Leppin Sola gratia – sola fide. Rechtfertigung nach der Römerbriefauslegung des Petrus Lombardus . . . . 47 Thomas Hahn-Bruckart Die Entdeckung des Evangeliums und die Formierung reformatorischer Identitäten. Kohäsion und Diffusion in der Wittenberger Reformation . . . . . . . . . . 65 Christopher Spehr Geistlicher Biesemknopf und kräftiger Osterhonig. Lutherische Predigtkultur um 1600 am Beispiel des schlesischen Pfarrers Valerius Herberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Freundesgaben Gerhard Fouquet „Gedechtnus“ – Kaiser Maximilian I., das Domkapitel und ein vergessenes Grabmal der Königinnen und Könige im Dom zu Speyer . . 95 Harry Oelke Der Papst als Antichrist und die ‚Gute Nachricht‘. Beobachtungen zur reformatorischen Papstkritik im Bild . . . . . . . . . . . 107
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Inhalt
Manfred Jakubowski-Tiessen „Er vereinigt sich nicht eher mit mir, bis ich ein Herrnhuter werde.“ Ein religiöser Bruderzwist an der Wende zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . 131 Wissenschaftliche Bibliographie von Johannes Schilling . . . . . . . . . . . . 149 Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Dietrich Korsch
Das Evangelium in der Geschichte der Frömmigkeit Konturen eines Konzepts der Kirchengeschichte
Die Geschichte verstehen: das ist der methodische Anspruch des Historikers. In der Geschichte leben: das ist der existentielle Horizont der Historie. Die Geschichte lieben: das ist eine individuelle Erfahrung des Historikers im Umgang mit der Historie. Das Verstehen der Geschichte ist ein voraussetzungsvolles Geschäft. Wenn wir die Voraussetzungen des Verstehens festhalten wollen, brauchen wir eine Methode. Die grundsätzliche Methode der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung ist der kritische Vergleich: der Vergleich des einen Ereignisses mit dem anderen, Abgrenzung der Ereignisse voneinander, ihre Zuordnung zueinander. Dabei muß immer schon der Zusammenhang vorausgesetzt werden, daß sie alle zu einer Geschichte gehören. Diese Idee des Ganzen schließt den Historiker selbst ein. Darum läßt sich Geschichte nur verstehen, wenn die eigene Beteiligung an ihr bewußt ist, und zwar die Beteiligung an der Erfassung der historischen Gegenstände ebenso wie an der Erarbeitung der wissenschaftlichen Methoden. Sich in der eigenen Gegenwart verstehen, ist mithin eine Voraussetzung dafür, die Gegenwart als Resultat der Geschichte zu begreifen. Ein geschichtliches Selbstverhältnis enthält immer schon ein Urteil über die eigene Gegenwart im Horizont des Ganzen in sich. Doch nach welchem Maß wird ein solches Urteil gefällt? Die grundsätzliche Bedingung besteht darin, das historische Verfahren selbst zum Vorbild zu nehmen, also die Zuordnung von Einzelnem im Horizont des Ganzen der Geschichte. Dafür gibt es, in der Geschichte wie in der Gegenwart, unterschiedliche Typen; welche Gestalt dieser Zuordnung überzeugt, ist am Ende eine Frage individueller Erfahrung. Will man solche Erfahrungen kategorisieren, so muß man sie dem Bereich von Religion zuordnen, die es eben mit dem Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen zu tun hat. Johannes Schilling geht es um das Verstehen der Geschichte, mit aller methodischen Konsequenz. Er läßt sich von der Geschichte in seiner Gegenwart erreichen, weil er um die Gegenwart als Horizont des Vergangenen weiß. Und er liebt die Geschichte, weil sich ihm ein Verständnis für den Zusammenhang des Ganzen und des Einzelnen erschlossen hat, das sich in der Geschichte wie in der Gegenwart bewährt. Warum das so ist, wie sich dies alles genauer darstellt – und inwiefern in der historischen Arbeit Johannes Schillings eine kirchengeschichtliche Konzeption von Rang beschlossen liegt, daran soll hier erinnert werden. Dabei geht es im ersten Gedankengang um den Ort der Frömmigkeit in der Geschichte, oder: warum das Verstehen von Frömmigkeit für das Verstehen von Ge-
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schichte nötig ist. Im zweiten Schritt ist es dann um Geschichten der Frömmigkeit zu tun: was sie voneinander unterscheidet – und welche Rolle dabei das Evangelium spielt. Schließlich gilt unsere Aufmerksamkeit Geschichten vom Evangelium: wie sich das Evangelium in der Geschichte der Frömmigkeit selbst eine Geschichte verschafft.
I. Frömmigkeit und Geschichte Dieser erste Sachzusammenhang bewegt sich auf einer methodischen Ebene. Wie läßt sich mit dem Gedanken des kritischen Vergleichs in der Geschichtswissenschaft so umgehen, daß er handhabbar wird? Betrachten wir zunächst das Verhältnis von Geschichte und Geschichten. Von jeder einzelnen Geschichte, jedem Ereignis, jedem irgendwie abgrenzbaren Überlieferungszusammenhang können und müssen wir annehmen, daß dieses Einzelne sich in einem größeren Kontext bewegt. Das hat zur Folge, daß stets Strukturen des Allgemeinen in diesem Einzelnen präsent sind; so geht es etwa in jeder Ordnung sozialer Zusammenhänge immer auch um Macht. Doch diese Zugehörigkeit zum Allgemeinen deckt das Individuelle noch nicht ab; im Gegenteil, wir sind als historisch Fragende gerade an dem interessiert, was sich vom abstrakt Allgemeinen unterscheidet. Darum gilt eben beides: Geschichten haben an der Geschichte Anteil, sie sind Fälle der Geschichte insgemein. Und: Geschichten widersetzen sich dem Allgemeinen, sie behaupten ihr Eigenrecht und ihren Eigensinn. Die Kunst des Historikers besteht darin, dieses Wechselverhältnis darzustellen – und dabei zugleich die Abfolge der Geschichten in der Geschichte festzustellen. Dieses noch sehr allgemein gefaßte Verhältnis von Geschichten und Geschichte läßt sich nun etwas genauer betrachten. Wir finden beide Seiten, die allgemeinumfassende und die einzelne, spezifische immer schon miteinander verwoben, und das in vielerlei Hinsicht. Wenn wir uns nun daran machen, die möglichen Zuordnungen methodisch zu unterscheiden, dann lassen sich als erstes Handlungszusammenhänge feststellen, die sich in getroffenen Entscheidungen darstellen. Also in solchen Ereignissen, in denen bestimmte Handlungsabfolgen zu einem – vorläufigen – Ende gelangen, das als solches bemerkt und berichtet wird. Für das Geflecht solcher Handlungszusammenhänge gibt es stets gemeinsame Hinsichten, die sie miteinander verbinden; sie lassen sich grundsätzlich anthropologisch ausweisen: Macht und Recht, Wissen und Glauben, um nur die vielleicht wichtigsten zu nennen. Wir gelangen auf diesem Weg zur Beobachtung von Institutionen, die sich durch die Organisation von Handlungen auszeichnen, also: Staat und Rechtspflege, Wissenschaft und Kirche, um mich auch hier nur auf die genannten Beispiele zu beschränken. Es versteht sich, daß diese Institutionen ihre eigene Geschichte entfalten. Man kann dann eine Geschichte der politischen Aktionen auf Staats- und Verwaltungsebene schreiben oder eine Wissenschaftsgeschichte, auch eine Kirchengeschichte natürlich, die die Strukturen und Entscheidungen kirch-
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licher Gremien und Verantwortungsträger rekonstruiert. Es versteht sich ebenso, daß diese Institutionen auch untereinander in Interaktion treten; es gibt wissenschaftliche und religiöse Annahmen im staatlichen Handeln und im Recht; es gibt Machtfragen in der Kirche und so fort. Gleichwohl besteht grundsätzlich die Berechtigung und auch das Bedürfnis, Geschichte unter dem Blickwinkel einer solchen handlungsspezifischen Institutionengeschichte zu erzählen. Wie man aber bereits an der Verflechtung der Handlungsdimensionen bemerken kann: die Geschichte geht nicht in dem äußeren Zusammenspiel der Institutionen auf. Es gibt vielmehr dafür, daß es tatsächlich zu den Interaktionen kommt und kommen kann, unausgesprochene oder ausgesprochene Voraussetzungen, Annahmen über die Verfaßtheit der natürlichen Welt, über die Eigenart menschlichen Lebens und Handelns, über den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen, über die Möglichkeit, all diese Hintergründe sichtbar und zugänglich zu machen. Man kann diese Dimension der Geschichte Kultur nennen, oder bescheidener und genauer: Elemente kultureller Symbolbildung. Sie haben damit zu tun, daß es eine immer schon vorauszusetzende Fähigkeit der Verständigung gibt, eine Wirklichkeit der Kommunikation, die darauf beruht, daß Menschen in der Lage sind, ihr Leben gemeinsam zu gestalten. Allerdings kommen an dieser Stelle auch die Beschränkungen deutlicher in den Blick, die der vorhin genannten Interaktion der Institutionen voraus liegen. Erst im Zusammenhang einer mehr oder weniger gemeinsamen Verlaufsgeschichte und damit auch unter Voraussetzung einer lokalen, geographischen Nähe bauen sich die kulturellen Selbstverständlichkeiten auf, die für das Handeln in institutionell abgegrenzten Zusammenhängen erforderlich sind. Sie lassen sich am deutlichsten da beobachten, wo von der unmittelbaren Zweckhaftigkeit institutionellen Handelns Abstand genommen wird; darum ist es insbesondere die Kunst, an der man diese vorlaufenden Orientierungen beobachten kann, in Plastik und Malerei, Dichtung und Musik. Auch die Geschichte dieser Voraussetzungen läßt sich schreiben – als Geistes- oder Kulturgeschichte, mit ihren je eigenen Abgrenzungen, Zusammenhängen und Interaktionen ebenso wie in ihrer Verflochtenheit mit der Institutionengeschichte. Die Architektur und die Macht, die Tragödie und das humane Handlungsbewußtsein, die Kirche und die Musik – auch das sind Themen der Kulturgeschichte. Und doch fehlt noch ein weiterer Aspekt in unserem Fächer der geschichtlichen Bezüge. Wir sind bis jetzt davon ausgegangen, daß es in der Geschichte um einzelne Ereignisse geht, die in einen Zusammenhang des Ganzen verwoben sind. Das Ganze, von dem jetzt hier die Rede ist, stellt sich nicht als solches dem historischen Bewußtsein dar. Aber bereits die Tatsache, daß wir alle Zusammenhänge des Einzelnen miteinander stets weiter verdichten können, daß wir auch umgekehrt die Horizonte, die sich zwischen den Aufmerksamkeitsrichtungen der Geschichtsschreibung auftun, immer noch weiter überschreiten können, weist auf das Phänomen hin, um das es jetzt näher gehen muß. Der besondere Aspekt des Ganzen, der damit hervorgehoben ist, geht zurück auf sein scheinbares Gegenteil, nämlich die Verfassung des einzelnen Handelns oder des Handelns einzelner Menschen. Dem
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Allgemeinbegriff der Geschichte stehen eben, genau besehen, die Geschichten gegenüber, die immer aus dem Handeln einzelner Menschen resultieren. Damit hat es nun aber eine besondere Bewandtnis. Es steckt so etwas wie ein Geheimnis im einzelnen menschlichen Handeln. Denn in allem, was wir tun – und damit auch in jedem einzelnen Handeln – setzen wir uns selbst aufs Spiel. Wir verlassen den Zustand, in dem wir uns befinden, und nehmen, auf welche Weise auch immer, einen neuen Zustand ein. Dabei setzen wir implizit voraus, daß wir uns in dieser Veränderung selbst erhalten. Auch im Rückblick auf das, was wir getan haben, wollen wir sagen können: Das war ich – und in der Folge meines Handelns (im Zusammenhang aller gegebenen und von mir nicht veränderbaren Umstände) bin ich geworden, was ich jetzt bin. In diesem Aspekt des Sich-Verlassens, das allem Handeln eigen ist, steckt nun, näher betrachtet, das Geheimnis, um das es mir zu tun ist. Denn so sehr auch das Risiko, mich durch mein Handeln selbst zu verlieren, durch Vorsicht, Klugheit, analoge Erfahrungen und dergleichen beschränkt werden kann: auszuschließen ist es niemals. Darum setzt schon das einfachste individuelle Handeln die Annahme voraus, daß es gut werden könne. Das Prädikat „gut“ stellt in diesem Zusammenhang kein Erfahrungsurteil dar, denn von dem Künftigen gibt es ja noch keine Erfahrung. Es liegt vielmehr eine Annahme darin, die man in ihrer Reichweite nur angemessen einschätzen kann, wenn man sie als eine Annahme über das Ganze versteht, das gewissermaßen im Augenblick eines jeden geschichtlich-individuellen Handelns präsent ist. Wo diese Verbundenheit empfunden wird, geschieht das Handeln – zwar immer noch im Modus des Risikos, aber doch – in einem Bewußtsein von Gewißheit, mit dem das Subjekt des Handelns sich der Zukunft aussetzt. Einer Zukunft, die, wenn man es näher bedenkt, nicht nur die Zukunft des eigenen endlichen Lebens, sondern die Zukunft der Geschichte im Ganzen in Anspruch nimmt. Dieses Bewußtsein nenne ich Frömmigkeit. Und es zeigt sich, daß der Versuch, eine Geschichte der Frömmigkeit zu schreiben, mit zu den Aufgaben gehört, die die Geschichte denen stellt, welche sie verstehen wollen. Institutionen- oder Ereignisgeschichte, Kultur- oder Geistesgeschichte und Frömmigkeitsgeschichte, das sind mindestens drei Dimensionen, die sich aus der Reflexion auf die methodische Anlage der Geschichte als Wissenschaft ergeben. Man könnte erwarten, die Frömmigkeitsgeschichte auch sogleich als Religionsgeschichte zu bezeichnen. Das wäre in gewisser Hinsicht auch möglich. Doch schlage ich für unsere Überlegungen hier vor, den Begriff der Religionsgeschichte als abstrakteren Oberbegriff zu verwenden, der alle Fragen der Symbolisierung der Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen in sich begreift, also sowohl die Geschichte der Kirche als Institution als auch die Dimension letzter Horizonte in der Kultur als auch die individuelle Zuordnung der einzelnen individuellen Handlung zum Ganzen. Es kommt dann jedesmal darauf an, die Zuordnung dieser Gesichtspunkte zum Religionsbegriff zu bestimmen; das ermöglicht es jedenfalls auch für solche Zusammenhänge eine Religionsgeschichte zu schreiben, in denen es von dem Charakter des individuellen Handelns, das der Gewißheit bedürftig ist, noch
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kein explizites Bewußtsein gibt. Man würde dann von einer Religionsgeschichte sprechen müssen, die sich noch nicht als Frömmigkeitsgeschichte herausgestellt hat. Hier beschränken wir uns auf die christliche Frömmigkeitsgeschichte; ob es dergleichen auch in anderen Religionen gibt und wie die Phänomene dann zu beschreiben wären, lassen wir dahingestellt. Frömmigkeit ist aber, soviel läßt sich mit Sicherheit sagen, für unsere Kultur eine methodisch ausweisbare Betrachtungsweise der Geschichte. Und sie hat, wie all das, was wir auf dem Wege unserer methodischen Besinnung fanden, auch ihre eigene Geschichte. Dieser wenden wir uns jetzt im zweiten Überlegungsgang zu. Denn da gibt es, natürlich, Unterschiedliches zu erzählen.
II. Geschichten der Frömmigkeit Frömmigkeit ist ein Thema der Geschichte mit einem besonderen Akzent, nämlich dem Ausgang beim Individuum und seiner Geschichte. Wie machen sich Individuen in der Geschichte bekannt – so, daß sie auch für uns spätere noch zu erkennen sind? Durch ihre kulturellen Produktionen. Diejenigen Hervorbringungen, die uns die beste Kenntnis individueller Geschichten ermöglichen, sind Texte. Denn in ihnen leuchtet ein Sinnhorizont auf, den uns weder ein Bild noch eine Skulptur noch ein Gebäude, nicht einmal ein Musikstück so klar zu erkennen erlaubt. Wer individuelle Geschichte erkennen will, braucht zuverlässige Texte. Das ist das erste. Texte der Frömmigkeit aber sind nun so geartet, daß sich in ihnen nicht nur das Individuum in seiner Subjektivität ausspricht – das gewiß auch. Sie nehmen aber gerade im Ausgang von der eigenen Individualität den Sinnhorizont des Ganzen in den Blick – und nehmen dann auch entsprechende Zuordnungen des eigenen individuellen Lebens zum Ganzen vor. Das ist das andere Moment, das uns gleich beschäftigen wird. Doch verweilen wir zunächst bei der schlichten Voraussetzung, daß wir von individuellen Menschen in der Geschichte nur wissen, daß wir ihre Geschichte nur erkennen, indem wir ihre Texte kennenlernen.
1. Der Autor und sein Text So einfach die Einsicht ist, daß Individuen in der Geschichte durch ihre Texte zu erkennen sind, so voraussetzungsreich ist sie zugleich. Denn mit unserer Besinnung auf das Verhältnis von Autor und Text treten wir in eine dreistellige Beziehung ein. Erstens gilt die Tatsache, daß ein Text einen Autor als Produzenten hat. Hinter dem Text steckt also ein produktives Subjekt, das sich in dem Text sinnerzeugend und sinnvermittelnd ausdrückt, und das sich damit bereits, in aller Individualität, in einen größeren Zusammenhang stellt. Zweitens besitzt der Text, von dem Augenblick seiner Existenz an, ein Eigenleben gegenüber seinem Verfasser. Die wechselhafte Subjektivität, die sich ausgedrückt hat, aber immer auch anders könnte, ist der
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festgelegten Schrift gewichen – eine Einschränkung, ohne Zweifel. Aber doch auch eine Festlegung, die zu der Identität dessen gehört, der sich als Autor betätigt. Das Eigenleben des Textes nun, drittens, ist es, welches die Rezipienten anspricht. Ein Text sucht Leser; sogar das eigene intime Tagebuch wartet darauf, einmal wieder gelesen zu werden, von demselben Menschen im Rückblick auf die Zeit, in der er selbst auch anders war als später. Erst recht gilt das für alle publizierten Texte, besonders für die gedruckten und gehandelten, die geradezu nach vielen Lesern verlangen. Diese Dreistelligkeit besitzt nun ihre eigenen Implikationen. Denn selbstverständlich hat der Autor, der einen Text verfaßt, schon potentielle Leser und deren imaginierte Sinnhorizonte vor Augen; er drückt sich schon im Blick auf andere und ihr Verstehen aus. Darum enthält seine Selbstfestlegung im Text auch immer die Einladung, ja die Aufforderung, eben so, als Verfasser dieses Textes, von seinen Lesern wahrgenommen und erkannt zu werden. Selbstexplikation vor anderen ist zugleich Selbstfestlegung nach innen. Die Leser wissen das – und sie rechnen ihrerseits damit, daß die Perspektive ihrer eigenen Lektüre mit ihnen als Subjekten zu tun hat, sie sich selbst im Medium von Texten bilden – und zwar sowohl im Blick auf den Autor und sein Werk als auch im Blick auf das Thema, das vom Autor individuell variiert wird. Auch der Rezeption ist ein Interesse unterlegt, das sich darin zeigt, daß Rezipienten mit den Texten produktiv umgehen. Diese wenigen Einsichten machen es deutlich, wie wichtig kritische Editionen sind. Editionen von Texten also, die die anfängliche Erscheinungsgestalt eines Textes als erste und unveränderte Aussage des Autors ermitteln, mit der er sich als Individuum in den Sinnzusammenhang seines Themas stellt. Schon da, wo bei der Verfertigung und Vervielfältigung eines Textes andere Hände beteiligt sind als die Hand des Verfassers, treten mögliche Verschiebungen auf; sei es, daß dem Autor unterstellt wird, es auch anders gemeint haben zu können; sei es, daß im Blick auf potentielle Rezipienten Anstöße verschärft oder verharmlost werden. Erst recht kommen die Verschiebungen in Betracht, wenn spätere Rezipienten zu Tradenten werden, also ihre eigene Aneignung mit ins Spiel der Überlieferung bringen. Die kritische Edition zeichnet sich gegenüber diesen Veränderungen dadurch aus, daß sie an der Idee festhält – und diese auch umsetzt! –, daß es bei der Verfassung eines Textes um die individuelle Äußerung eines historischen Subjektes geht. Das hat nun besondere Bedeutung für solche Texte, in denen sich Frömmigkeit ausspricht. Denn lassen sich Überlieferungen, die von äußeren, vom Subjekt auch wieder ablösbaren Sachverhalten sprechen, durchaus mit anderen derartigen Überlieferungen so korrelieren, daß dabei die individuelle Auffassung eines Autors durch die bessere eines anderen ersetzt werden kann (so daß am Ende nur noch interessant ist, warum sich der eine möglicherweise geirrt hat), so kommt bei Texten der Frömmigkeit doch alles darauf an, das individuelle Leben im Hintergrund zu erfassen. Natürlich nie unmittelbar – das verhindert schon das Medium des öffentlich gemachten Textes; doch aber so, daß die geäußerte Überlieferung als Ausdruck und Bestimmung individuellen Lebens verstanden werden kann – und dabei kommt es in besonderem Maße auf die Authentizität des Textes an.
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Man kann also sagen: Hinter der kritischen Edition von Texten – zumal solchen, die dem Horizont der Frömmigkeit zuzurechnen sind – steht selbst ein aus der Frömmigkeit gespeistes Interesse. Der Blick aufs ursprünglich Einzelne verdankt sich dem Bewußtsein, daß gerade am Ort dieses sich äußernden Einzelnen der Blick aufs Ganze sich öffnet. Die philologische Arbeit Johannes Schillings ist – in ihrer ganzen methodischen Strenge – von einer religiösen Intuition getragen. Sie zeigt sich auch darin als bedeutsam, daß sich seine editorische Arbeit vorzüglich Texten zuwendet, in denen solche individuellen, biographischen Züge zu erkennen sind oder die sich doch als solche darstellen, die Anregungen zu einer individuellen Aneignung geben wollen. Und sie läßt sich auch in seinem besonderen Interesse an der Lokalgeschichte erkennen, die stets den nächsten Umkreis individuellen Lebens beschreibt. Doch die kritische Edition begnügt sich nicht mit der – anspruchsvollen – Rekonstruktion des ursprünglichen Textes. Sie nimmt sogleich auch die Dimension des mitgeteilten Sinnes in den Blick. Denn Texte der Frömmigkeit, die aus der Individualität ihrer Autoren entsprungen sind, wollen ihrerseits auf die Individualität ihrer Leser einwirken. Erst im Zirkel zwischen dem individuellen Ursprung und der individuellen Aneignung vollendet sich das kommunikative Geschehen der Frömmigkeit als Moment der geschichtlichen Wirklichkeit. Damit kommen wir zum zweiten Schritt der Geschichten der Frömmigkeit. Und jetzt gibt es, endlich, auch etwas zu erzählen.
2. Der Text und die Frömmigkeit Gesta Gregorii Peccatoris heißt das Werk, das die Grundlage von Johannes Schillings Promotion in der mittellateinischen Philologie ist, die Geschichte, also: die Taten und Widerfahrnisse, des Sünders Gregor.1 Arnold von Lübeck hat es um 1200 verfaßt, indem er eine deutsche Vorlage Hartmanns von Aue im Lateinischen aufgenommen und umgestaltet hat. Über Arnold wissen wir nicht viel, über den Gregor, von dem in der Versdichtung die Rede ist, noch weniger. Aber sowohl die Wahl des Themas als auch der Gehalt des Textes sind aufschlußreich. Gregor ist ein Sünder par excellence. Nicht, weil er moralisch verwerflich wäre, sondern weil ihn sein Lebensgeschick dazu hat werden lassen. Er ist der Mann auf der Suche nach sich selbst. Dabei hat er es besonders schwer. Denn er kennt seine Herkunft nicht, wächst als ausgesetztes Kind in einem Kloster auf und wird Mönch, verläßt dann aber unter Mühen das Kloster, um als Ritter über seine eigene Identität Gewißheit zu erlangen. Das bringt ihn in schwere Zerwürfnisse, denn er ist sozusagen der doppelte Ödipus: Selbst aus einem Inzest geboren, heiratet er, einer dynastischen Regel zufolge, seine verwitwete Mutter, deren bedrohtes Königreich er 1 Schilling, Johannes: Arnold von Lübeck, Gesta Gregorii Peccatoris. Untersuchungen und Edition. Mit einem Beiheft, Göttingen 1986 (Palaestra 280).
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zuvor befreit hatte. Nicht viel später kommt heraus, wer er ist – und was er getan hat. Dann zeigt Gregor eine beeindruckende Konsequenz, indem er sein Geschick annimmt und ein Leben in permanenter Buße auf sich nimmt: siebzehn Jahre Wind und Wetter ausgesetzt auf einer Insel zubringend. Doch als in Rom ein neuer Papst gesucht wird, taucht auf einmal sein Name auf – und die cathedra Petri wird ihm, dem peccator maximus, anvertraut. Arnold hat die Geschichte Hartmanns so bearbeitet, daß er die Züge der Frömmigkeit verstärkt hat. Die sonderbare Erzählung eines – fast mythisch klingenden – Einzelfalls wird damit zu einem existentialen Muster. So tief und vorwillentlich in die Sünde verstrickt zu sein, so entschieden die Konsequenz der Buße ziehen, also so unbedingt zum Geschick des eigenen Lebens stehen: das ist nicht ein Weg ins Verderben; das ist eine Geschichte, die in die Nähe Gottes führt, ja die als exemplarisch für das Geschick des Sünders stehen kann. Von Arnold wissen wir nicht gerade viel. Aber diesen Text kennen wir. Er muß ihm, wie wir aus der Sorgfalt der Bearbeitung erkennen können, viel bedeutet haben. Und jedenfalls dem, der Arnold dazu beauftragt hat, auch, Herzog Wilhelm von Lüneburg. Gesta Gregorii Peccatoris: eine mustergültige Edition eines musterhaften Textes für die Gestalt individuell frommen Lebens. Denn dieser Gregor setzt sich mit allem, was er ist – gerade in der tiefen Sündigkeit seiner Existenz – büßend Gott aus, der ihm in dieser Buße nahe ist, ja ihn aus seiner Einsamkeit und Verlorenheit heraus befreit. Als Martin Luther im Jahr 1521 auf den Reichstag nach Worms vorgeladen wurde, war das ein Geschehen, an dem die Öffentlichkeit – in dem ganzen Maße, in dem es sie gab – großen Anteil nahm. Der, der den Anstoß zu einer gereinigten und vertieften Frömmigkeit gegeben hatte, der den äußerlichen Schein der Frömmigkeit kritisiert und dabei den Konflikt mit der kirchlichen Obrigkeit nicht gescheut hatte, ja der bereits der Exkommunikation unterworfen worden war: der wurde nun vor Kaiser und Reich zitiert, um sich zu verantworten. Das war, schon als bloße Tatsache, ein Ereignis, das die Zeitgenossen bewegte und erregte. Für die, die sich von Luthers Impulsen hatten berühren lassen, sah es nicht zu Unrecht so aus, als käme nun in Worms die Sache zu einer definitiven Entscheidung, da ja nicht die Kirche urteilen sollte, die sich angegriffen sah, sondern der Reichstag, also die Fürsten, Städte und der Kaiser als Repräsentanten der Christenheit. Luther in Worms der Reichsacht zu unterwerfen und für vogelfrei zu erklären, war freilich dann doch der obrigkeitliche Nachvollzug des kirchlichen Banns, und Luthers Verschwinden auf der Heimreise nach Wittenberg ließ die Öffentlichkeit in Unkenntnis über sein Schicksal. Passio Doctoris Martini Lutheri heißt die Flugschrift aus dem Jahr 1521, die in dieser Situation Luthers Geschichte auf dem Reichstag als eine Kontrafaktur der Passion Jesu liest.2 Luther kommt ins Verhör vor Kaiser und Reich, so wie Jesus 2 Schilling, Johannes: Passio Doctoris Martini Lutheri. Bibliographie, Texte und Untersuchun gen, Gütersloh 1989 (QFRG 57).
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dem Verfahren vor den Hohenpriestern und Pilatus unterworfen wird. Allerdings wird Luther nicht hingerichtet, soweit geht die Kontrafaktur doch nicht, aber seine Bücher sollen verbrannt werden – was nicht gelingt. Das Ende bleibt offen – nur die letzte, separat gesetzte Seite des Drucks verrät, wie man sich die Folge vorstellt: Lutherus passus est sub papistis: resurrexit in pectoribus christianis. Luther hat unter den Papisten gelitten, ist aber auferstanden in den Herzen der Christenmenschen. Kontrafakturen sind zweideutige Literaturprodukte. Sie leben vom Vorbild, das sie nachahmen und doch nicht erreichen können. Doch sie wollen ihrerseits aktualisieren und scheuen die Nachahmung nicht. Sie sind ein Musterfall literarischer Produktion, in der sich die Individualität des Autors hinter der bekannten Geschichte versteckt, um gerade so der Geschichte zu neuer Aneignung zu verhelfen. Passio Doctoris Martini Lutheri, die Edition dieses Textes ist die theologische Dissertation Johannes Schillings. Der Text weist, in aller Bedenklichkeit, die er aufwirft, auf eine neue Epoche der Frömmigkeitsgeschichte hin. Daß es nämlich jetzt, erneut, wie im Urchristentum, um Gewinn und Verlust des Ganzen geht: im eigenen Leben. Wenn man so will, wird die exklusive Geschichte Gregors zum Normalfall des christlichen Lebens. Buße ist ihr Grundmerkmal, auch wenn – und gerade weil – sie sich nicht in der Flucht auf die einsame Felseninsel vollzieht. Und alle Christen werden Papst, stehen in unmittelbarer Beziehung zu Christus, wie der Priester im Heiligtum, darin Christus gleich in seinem Verhältnis zum Vater. Gerade die Kontrafaktur der Passio Martini Lutheri ruft danach, den hier erst ziemlich grob und vorläufig anvisierten Übergang genauer zu erfassen. Johannes Schwan aus Marburg – auch seine Schriften hat Johannes Schilling ediert – Johannes Schwan gehörte zu den Menschen, für die die Begegnung mit dem Evangelium eine Lebenswende zur Folge hatte.3 Um 1485 geboren, trat der Marburger Bürgersohn Schwan 1503 ins dortige Franziskanerkloster ein, hielt sich später bei den Basler Minoriten auf. 1522 finden wir ihn in Wittenberg immatrikuliert, und 1523 erscheint eine Schrift, in der er, nach dem Vorbild des Widmungsbriefs von Luthers De votis monasticis iudicium, seinen Abschied vom Franziskanerorden kundtut, wie Luthers in der Form einer Rechtfertigung dieses Schrittes vor seinem Vater, allerdings in deutscher Sprache. Für Schwan folgt aus seiner Annahme der reformatorischen Botschaft der Übergang in eine bürgerliche Berufstätigkeit: Er wird Drucker in Straßburg. Statt mit seinem Leben ein religiöses Exempel sein zu wollen, fördert er mit der modernsten Technik der Zeit die Verbreitung eigenständiger Überzeugungen. In seinem Text von 1523 findet sich die Verkündigung des Evangeliums – daß kein Mensch außerhalb des Glaubens gerechtfertigt ist, daß alle Sünder sind und allein aus Gottes Gerechtigkeit leben – darauf zugespitzt, daß es sein eigenes, individuelles Gewissen ist, das ihn als Antwort auf die Botschaft zum Wandel seiner Lebensform nötigt. Wir haben hier genau das 3 Schilling, Johannes: Johannes Schwan aus Marburg – Sein Leben und seine Schriften, in: Schilling, Johannes: Das Evangelium in der Geschichte der Frömmigkeit. Kirchengeschichtliche Aufsätze, Leipzig 2016, 73–106.
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vor Augen, was wir zu Beginn unserer Überlegungen unter Frömmigkeit verstanden haben: Daß es das Gottesverhältnis im eigenen Gewissen, der Verantwortungsinstanz des individuellen Lebens, ist, welches für die Begründung und Orientierung des gesamten Lebens zuständig ist. Nun läßt sich bei Schwan noch ein weiterer Schritt ausmachen, der für die Erfassung eines Lebens aus dem Evangelium maßgeblich wird. Denn dieser ersten Schrift von 1523, die sich geradezu modellhaft Luthers Begründung seines Klosteraustritts anschließt, folgt noch im selben Jahr eine andere, in der sich Schwan mit seinem Urteil von Luthers Vorgaben auch wieder ablöst. Die einmal am Evangelium anhand eines anderen gewonnene Identität wird zu einem Selbstsein ganz aus Christus ohne irgendwelche Mittlerschaft, so hat Johannes Schilling es sinngemäß selbst formuliert. Das ist die Entdeckung des Evangeliums in der Geschichte der Frömmigkeit. Frömmigkeit ist immer schon interessiert an dem Ort des eigenen Lebens vor Gott und an der Gemeinschaft mit Gott. Sie vollzieht sich immer schon im Bewußtsein der Differenz zwischen der eigenen Lebensführung und dem göttlichen Willen. Und sie sucht auch stets den Ausgleich zwischen beiden, der abschließend erst im Jüngsten Gericht erwartet wird. Doch unmittelbar im endzeitlich gültigen Willen Gottes und insofern aus dem Evangelium zu leben, das alle historische Zukunft schon jetzt bestimmt, das ist die neue, dem Evangelium Christi selbst folgende Botschaft, der nicht anders als im Glauben entsprochen werden kann, die aber auch keine andere Entsprechung verlangt. Der Glaube ist, so betrachtet, eine geradezu kategoriale Unterbrechung und Neubestimmung des Lebenslaufes, und es konnte gar nicht ausbleiben, daß sich insbesondere für diejenigen, die sich zu einer ernsten religiösen Lebensführung verpflichtet hatten, also Klosterpersonen, ein Wandel ihrer Lebensform nahelegte; so gehört auch Schwan in die Reihe der „gewesenen Mönche“, die in der Reformation eine Rolle gespielt haben – wie auch überhaupt die Aufhebung und Umwandlung der Klöster sich als Konsequenz der Frömmigkeitsgeschichte in den Zeiten der Reformation darstellt. Johannes Schillings theologische Habilitationsschrift ist diesem Phänomen am Beispiel Hessens nachgegangen; unter dem Titel „Klöster und Mönche in der Reformation“ ergänzt und erweitert sie das Thema „Reichsstadt und Reformation“, von dem sein Lehrer Bernd Moeller gehandelt hat.4 Doch ist die Einstellung auf ein religiös bewußtes Leben mit der Reformation nicht auf eine besondere Lebensform beschränkt. Das ganze Leben eine Buße, sagt Luthers 1. Ablaßthese – im Bewußtsein der Tatsache, daß das nur der Fall sein kann, wenn das ganze Leben vom Evangelium bestimmt wird. Damit tritt aber das Erfordernis ein, den Gegensatz von menschlicher Sünde und göttlicher Gerechtigkeit, wie ihn das Evangelium hervorruft und zugleich überwindet, mit dem historischen Lauf des Lebens zu verschränken. Die antinomische Formel von Sünde und 4 Schilling, Johannes: Klöster und Mönche in der hessischen Reformation, Gütersloh 1997 (QFRG 67).
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Gerechtigkeit ist der dauernde Hintergrund eines Lebens, das sich durchaus auch historisch verlaufsförmig vollzieht. Man kann, etwas modellhaft, den Unterschied der Wittenberger Reformatoren Luther und Melanchthon auf diese Problemstellung abbilden. Luther, dem gelehrten Prediger, war es darum zu tun, in den alltäglichen Wechselfällen des Lebens die durchgreifende Bestimmung durch das Evangelium nicht nur zu verkündigen, sondern sichtbar zu machen. Melanchthon, dem frommen Gelehrten, ging es darum, die religiöse Gegensatzbestimmung von Sünde und Gerechtigkeit als Begleitung des Lebens zu verstehen, zu dem ja auch Sprache und Wissen, Astronomie und Recht, Naturkenntnis und Kunst gehören. Weil das Evangelium dieser Doppelseitigkeit bedarf, um als Lebensbestimmung gelingen zu können, hat sich Johannes Schilling auch nicht nur auf Luther beschränkt, sondern ganz entschieden Melanchthon zugewendet. Macht man sich, wie soeben versucht, den Sinn dieser Zweipoligkeit in der reformatorischen Theologie klar, dann werden alle Abgrenzungs- und Abstufungsversuche zwischen Luther und Melanchthon hinfällig – ohne daß man das individuelle Profil, die jeweiligen Eigenheiten und auch die Schwierigkeiten des Verhältnisses der beiden Wittenberger Protagonisten der Reformation vernachlässigen müßte. Allerdings läßt sich gerade dann, wenn es um das Evangelium als Lebensgestalt und Lebenskraft geht, auch nachempfinden, warum Johannes Schillings besondere Liebe dem Briefschreiber Luther gilt. Nicht nur, weil er selber ein homme de lettres ist, aus dessen Leben Briefe nicht wegzudenken sind; nein, es macht ja gerade Luther als Verfasser von so vielen Briefen aus, daß er seine eigene Geschichte, stets im Licht des Evangeliums, zu der Geschichte anderer ins Verhältnis setzt – die ebenso vom Evangelium betroffen sind oder sich betreffen lassen sollen. Briefe sind, so betrachtet, besondere Texte: festgesetzt und weggeschickt, aber doch ganz persönlich bleibend und auf individuelle Rezeption eingestellt. Unsere Lektüre – jedenfalls der Briefe, die nicht (das wäre ein besonderes Genre) auf öffentliche Bekanntmachung aus sind – unsere Lektüre stellt gewissermaßen einen Seitenblick dar; wir nehmen an individueller Kommunikation teil, und wir tun das dann richtig und jedenfalls Luthers Sachintention entsprechend, wenn wir den Austausch von Briefen als Modellfall einer religiösen Kommunikation verstehen, mittels derer sich das Evangelium selbst verbreitet und bezeugt. Wenn von einer Entdeckung (oder Wiederentdeckung) des Evangeliums die Rede ist, dann dürfte es nicht überflüssig sein, dieser Formulierung einen Augenblick nachzusinnen. Denn der hier verwendete Begriff der Entdeckung unterscheidet sich von seinem Gebrauch im wissenschaftlichen, insbesondere naturwissenschaftlichen Denken. Hier geht es nicht darum, etwas erstmals aufzufinden (wie einen unbekannten Kontinent) oder ein Gesetz aufzustellen (wie in der wissenschaftlichen Naturerkenntnis) oder ein Verfahren neu zu entwickeln (wie in einem technischen Prozeß) oder ein Artefakt zu konstruieren (wie einen Gebrauchsgegenstand). Hier geht es um ein Ent-decken, das Wegnehmen einer Decke gewissermaßen, die das, was von Anfang an gilt, im Verborgenen hielt, weil sich, aus welchen Gründen auch immer, so viel anderes darüber gebreitet hat. Darum kann man
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sagen, daß diese Ent-deckung dazu verhilft, den Sachgehalt des Evangeliums auch zu anderen, früheren Zeiten zu identifizieren. Das Evangelium in der Geschichte der Frömmigkeit – das ist nicht nur ein Fall im Verlauf der Geschichte, das prägt auch die Wahrnehmung der Geschichte der Frömmigkeit im Christentum überhaupt. Denn die reformatorische Grundeinsicht von Sünde und Gerechtigkeit findet sich ja bereits als tragende Struktur in der Heiligen Schrift. In ihr liegen schon genau diejenigen Bestimmungsmomente vor, die nun, unter anderen und späteren Bedingungen, als maßgeblich erkannt und gegen die verdeckende Tradition ins Feld geführt werden. Mit dieser Beobachtung wird nun freilich auch verständlich, inwiefern die Entdeckung des Evangeliums Auswirkungen für die Wahrnehmung der Geschichte überhaupt besitzt.
3. Das Evangelium und die Geschichte Das Evangelium ist ein Moment in der Geschichte der Frömmigkeit. Es ist selbst geschichtlich, in seinem Ursprung in der Geschichte Jesu Christi wie in seiner reformatorischen Wiederentdeckung. Es tritt nicht wie eine Fremdbestimmung in den Lauf der Geschichte ein, als sei es eine Bewertung, die sich aus supranaturalen Ursprüngen speist. Darum steht es mit den Bewegungen der Frömmigkeit im Kontakt, läßt sich auf sie beziehen und in ihnen wiederfinden. Denn die gesamte Geschichte des Christentums wird vom Evangelium durchzogen und bestimmt. Als Moment der Geschichte der Frömmigkeit ist das Evangelium aber zugleich ihr inneres Maß. Es handelt sich nicht nur um ein historisches Phänomen unter anderen – das ist es auch –, es bringt vielmehr den strukturellen Kern der christlichen Frömmigkeit auf den Begriff. Denn immer geht es um das Gegenüber zwischen Gott und Mensch, genauer: zwischen dem sündigen Menschen und dem gnädigen Gott. Und dieses Verhältnis ist so zu denken, daß es Gott selbst ist, der auf den (sündigen) Menschen zukommt, ihm unmittelbar nahe kommt, indem er ihn anspricht. Darin gründet die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder, daraus erwächst aber auch der Glaube, der Gottes Kommen annimmt und sich ihm überläßt, indem er ihm unendlich vertraut. All diese Worte sind nichts anderes als der Versuch, das Kommen Jesu Christi in seinem vollen Sinn zu erfassen und als erfreulich und befreiend zu verstehen. Darum ist es überall im Christentum genau um diesen Sachverhalt zu tun. Daß er in dieser Deutlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte des Christentums ausgesprochen, also ent-deckt, wurde, gehört zur christlichen Geschichte selbst. Da, wo das Evangelium sich ereignet, also menschliche Subjekte bestimmt, kommt es zu einer Erfassung des Sinns des Christentums überhaupt. Und diese Erfassung erlaubt es auch, andere Formen der Selbstdarstellung des Christentums zu verstehen, als zu derselben Geschichte gehörend, auch wenn sich die jeweiligen Äußerungsformen voneinander unterscheiden. Auf diesem Hintergrund läßt sich nun auch Luthers – manchmal ätzende und verstörende – Polemik gegen die römische Kirche verstehen. Denn es geht nicht
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um die bloße Selbstbehauptung einer kirchlichen Sondergestalt gegen die andere, schon gar nicht um das Aufkommen einer subjektiven Neuerung gegen das objektiv und seit alters Geltende, sondern um die Frage, was als Maßstab gilt: das Evangelium oder die Tradition. In dieser Frage besteht nun wirklich eine Alternative. Und die besitzt einen asymmetrischen Zuschnitt. Denn das Evangelium kann, als Maßstab verwendet, in der Geschichte der Tradition unterscheiden zwischen angemessenen und weniger angemessenen Erscheinungsformen des Evangeliums. Die Tradition dagegen, wo sie sich selbst als Maßstab sieht, kann die Behauptung einer kritischen Betrachtung ihrer selbst nur als fremde Neuheit verstehen, die bestenfalls der Tradition wieder einverleibt werden muß. Dabei lebt doch auch die Tradition von der Überzeugungskraft des Evangeliums, die in ihr wirksam ist. Als Maß der Geschichte der Frömmigkeit besitzt das Evangelium nun aber auch – und das wird unter modernen Gesichtspunkten vollends deutlich – eine maßstäbliche Bedeutung für das Verstehen der Geschichte überhaupt. Wir haben anfangs ja unterschieden zwischen Institutions- bzw. Ereignisgeschichte und Geistes- oder Kulturgeschichte und beiden die Frömmigkeitsgeschichte zugeordnet. Die moderne Geschichte ist, so sehr sie sich in weltumspannenden politischen und sozialen Dimensionen erstreckt und so sehr in ihr kulturelle Vielfalt zu herrschen scheint, doch auf elementare Weise von der Individualität der in der Geschichte lebenden Menschen gekennzeichnet. Das verleiht schon von vornherein der Geschichte der Frömmigkeit einen besonderen Status, wenn es darum geht, das je einzelne Handeln in den Zusammenhang des Ganzen zu stellen. Und das nicht im Sinne einer weltgeschichtlichen Extrapolation, sondern in der Weise, daß das Ganze implizit in jedem einzelnen Handeln präsent ist. Hier kann man gar nicht anders als danach verlangen, das Selbstverständnis der geschichtlich Handelnden schon vor dem Erfolg oder Mißerfolg ihres Tuns gegründet zu sehen; und dieses Verlangen wächst um so mehr, je weiter sich die Spannweite der globalen Welt erstreckt. Die Gottespräsenz im Glauben jedenfalls, der Kern der reformatorischen Botschaft des Evangeliums, ist genau von der Art, daß sie in geschichtlich handelnden Menschen ein solches Vertrauen weckt. Man kann diesen Sachverhalt auch methodisch beschreiben. Es ist die große Herausforderung des Historismus in der geschichtswissenschaftlichen Methodik der Gegenwart, in der Vielfalt möglicher Wertungen einen objektiv verläßlichen Grund zu finden. Das Problem resultiert daraus, daß die geschichtlichen Handlungszusammenhänge in ihrer Vielzahl ihre eigenen Wertsetzungen vollziehen, sodaß ein unbeherrschbarer Pluralismus der Werte daraus resultiert. Dem muß die Geschichtswissenschaft einerseits folgen, wenn sie nicht abstrakt werden will, sie darf sich ihm aber auch nicht überlassen, weil sie damit ihre eigene Aufgabe, das Einzelne auf das Ganze zu beziehen, verraten würde. In dieser Situation legt es sich nahe, auf das Moment des individuellen Handelns zurückzukommen, von dem alle diese partikularen Wertsetzungen ausgehen. Es muß also am Ort individuellen Handelns ein solches Bewußtsein des Ganzen anzutreffen sein, das sich nicht erst über die – empirisch ohnehin ausgeschlossene – Rekonstruktion des Ganzen
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realisiert. Das Evangelium erfüllt diese Bedingung, ohne daß es zu diesem Zweck ausgedacht worden wäre. Ja, es vermag sogar das durchaus prekäre Verhältnis zwischen der einzelnen Handlung, ihrem subjektiven Ursprung und ihrem objektiven Resultat so zu schematisieren, daß das Scheitern des auf Erfolg eingestellten Handelns mit verarbeitet werden kann. Das Evangelium in der Geschichte der Frömmigkeit – es besitzt auch eine geschichtswissenschaftliche Bedeutung. Johannes Schilling ist sich genau dessen bewußt, wenn er vom Evangelium als dem „archimedischen Punkt in der Geschichte“ spricht.5 Das Evangelium in der Geschichte: das gilt nun nicht bloß am historischen Ort der Reformation, schon gar nicht allein in methodologische Hinsicht. Es ist mitten in der Geschichte zu finden. Und zwar so, daß man auch von dieser Präsenz nur wieder Geschichten erzählen kann.
III. Wahrnehmungen des Evangeliums in der Geschichte 1. Das Evangelium in geschichtlichen Gestaltungen Das Evangelium ist ein Moment in der Geschichte der Frömmigkeit. Ja, aber es ist auch ein Akteur in dieser Geschichte. Denn so wie die Frömmigkeit sich auf Kultur und Institutionen auswirkt, so eben auch das Evangelium in ihr. Darum gibt es kulturelle Hervorbringungen, in denen die Kraft des Evangeliums im Gewand der Frömmigkeit erkennbar wird – wenn man dafür ein Auge hat. Das ist Johannes Schilling gegeben. Er vermag es, Spuren und Anstöße des Evangeliums in der Kultur zu entziffern. Zuerst, und ihm am nächsten: in Büchern, in Texten, wie sie editorisch erstellt werden können und wie sie uns dann vorliegen. Nicht nur den theologischen, vielleicht nicht einmal zuerst in ihnen. Sondern mehr noch in denen, die Lebensgeschichte erzählen, bei Joseph Roth oder Stefan Zweig zum Beispiel. Und den vielen neuen Büchern unserer Gegenwart. Sodann, und vielleicht ebenso nah: in der Musik. Von der Musik der Reformationszeit angefangen über Johann Sebastian Bach und Johannes Brahms bis zu Richard Strauß und Erich Wolfgang Korngold. Alsdann die Bilder. Kaum ein Text aus seiner Feder verzichtet auf Anschauliches, und seien es nur Titelblätter der genannten und zitierten Bücher. Und immer wieder wendet er sich der Kunst der Gegenwart zu, vor allem Werken gegenständlicher Darstellung, in denen er Dimensionen des Undarstellbaren zu entdecken vermag. Nicht zu vergessen: die Architektur, dazu die Welt der Gegenstände, die das Leben umgeben. Mit Johannes Schilling ein Kloster zu besichtigen oder eine Ausstellung zu besuchen (besonders eine, die er selbst verantwortet hat) – niemand, der dabei nicht neue Einsichten und Ausblicke gewonnen hätte. Das Evangelium in der Geschichte – das ist ein Grund, vielleicht der Grund, die Geschichte lieben zu lernen.
5 Schilling, Das Evangelium in der Geschichte der Frömmigkeit, 356.
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2. Das Evangelium in der Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift Zu den großen Ideen Gerhard Ebelings gehört es, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift verstanden zu haben. Gemeint war seinerzeit, 1948, eine Alternative zum Verständnis der Kirchengeschichte als Institutionsgeschichte – gut nachzuvollziehen nicht nur nach der Geschichte der Kirchen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und auch eine Alternative zur, sagen wir: Bekenntnisgeschichte, wie man sie aus der Perspektive der bekennenden Kirche hätte versuchen können, konzentriert auf das Standhalten angesichts äußerer Bedrohungen. Nein, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift meint eben jenen Sachverhalt, daß es in der Kirche immer auch um das Auffinden und um die Verantwortung der eigenen Norm geht, der sich die Kirche geschichtlich verpflichtet weiß. „Auslegungsgeschichte“ ist, so betrachtet, der Kampf um das richtige Verständnis des Evangeliums in der Heiligen Schrift – und alles andere als das Hererzählen von exegetischen Varianten. Johannes Schilling hat sich, seit unseren gemeinsamen Göttinger Assistentenjahren, immer wieder zustimmend auf Ebelings Formel bezogen, und das zu Recht. Denn das Evangelium in der Geschichte der Frömmigkeit aufzufinden, das ist, in einem etwas weiter gespannten Rahmen, genau das, was Ebeling, aus der hermeneutischen Tradition Rudolf Bultmanns kommend, im Blick auf den biblischen Text vorschwebte. Man darf daher sagen, daß sich die kirchengeschichtliche Arbeit Johannes Schillings in dieser theologiegeschichtlichen Linie betrachten und als Erweiterung und Fortführung des Ebelingschen Ansatzes verstehen läßt.
3. Das Evangelium im Leben Die Geschichte verstehen, setzt voraus, in der Gegenwart zu leben. Das gilt auch für die Geschichte des Evangeliums. Seine Präsenz zeigt sich in individuellen Lebensgeschichten, die sich gerade durch das Evangelium miteinander verbunden wissen. Daher sind die biographischen Spuren des Evangeliums in der Geschichte, die Ausgangspunkte der Kirchengeschichte im Verständnis Johannes Schillings, auch Momente unserer geschichtlichen Welt. Wer sich auf sie einläßt, wie er das tut, erfährt sich selbst als lebendig gemacht aus demselben Grund, der in der Geschichte wirksam geworden ist. Die Präsenz des Evangeliums hat es mit der lebendigen Gegenwart, mit dem leiblichen Leben des Historikers zu tun. Wem diese Erfahrung zuteil wird, der wird, in aller methodischen Sorgfalt und Strenge, ein vom Leben bewegter Historiker, der in der Geschichte das Evangelium sucht und findet, weil er sich selbst von ihm berührt und getragen weiß. Vielleicht ist das das Geheimnis im Leben Johannes Schillings, wie wir ihn kennen: seine intensive persönliche Präsenz, im alltäglich gesprochenen Wort, im handgeschriebenen Brief, im wissenschaftlichen Vortrag. Auch für ihn selbst gilt, wie für die Menschen in der Geschichte des
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Evangeliums, daß das Evangelium im individuellen Leben beginnt. In einem Leben, das, weil es vom Evangelium bestimmt ist, nicht bei sich selbst bleibt, sondern die anderen sucht, um sich mit ihnen des gemeinsamen Ortes in der Geschichte zu vergewissern. Unser Dank an Johannes Schilling ist darum am Ende der Dank an Gott, der ihn unter uns zu dem hat werden lassen, der er ist und der unser Leben reicher macht.
Quellen- und Literaturverzeichnis Schilling, Johannes: Arnold von Lübeck, Gesta Gregorii Peccatoris. Untersuchungen und Edition. Mit einem Beiheft (Palaestra 280), Göttingen 1986. Ders.: Passio Doctoris Martini Lutheri. Bibliographie, Texte und Untersuchungen, Gütersloh 1989 (QFRG 57). Ders.: Klöster und Mönche in der hessischen Reformation, Gütersloh 1997 (QFRG 67). Ders.: Johannes Schwan aus Marburg – Sein Leben und seine Schriften, in: Ders., Das Evangelium in der Geschichte der Frömmigkeit. Kirchengeschichtliche Aufsätze, Leipzig 2016, 73–106.
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Do ut des – evangelische caritas bei Cyprian von Karthago
Entdeckungen des Evangeliums – der Titel des vorliegenden Bandes lässt zunächst vermuten, dass es hier um Ereignisse geht, die Luthers Turmerlebnis vergleichbar sind. Ereignisse, die nicht nur für den entsprechenden Protagonisten persönlich von großer Bedeutung waren, sondern letztlich auch zu Reformen oder gar zur Reformation der Kirche geführt haben. In meinem folgenden Beitrag werde ich weder ein medialisierbares Ereignis noch eine Kirchenreformen auslösende Entdeckung des Evangeliums in den Blick nehmen. Es wird vielmehr darum gehen, wie das Evangelium, ja wie die Bibel überhaupt in einer Zeit großer Not von einem nordafrikanischen Bischof entdeckt und auf seine ganz konkrete zeithistorische Situation angewandt wurde. Evangelium wird dementsprechend nicht im reformatorischen Sinne enggeführt und ausschließlich auf die gute Botschaft der Rechtfertigung beschränkt, sondern im weiteren Sinne als die Entdeckung der guten biblischen Botschaft für das Leben von Menschen respektive Christenmenschen verstanden. Entdeckungen des Evangeliums in diesem weiteren Sinne spielen am Institut für Kirchengeschichte in Kiel nicht nur im Bereich der Reformationsgeschichte eine wichtige Rolle. Vielmehr werden sie auch bei der Beschäftigung mit der Geschichte spätantiker Diakonie respektive Caritas fokussiert. Bekanntlich stellt die ältere Diakoniegeschichte ein Desiderat der Forschung dar. Eine neue, der aktuellen Forschung verpflichtete Geschichte der für die frühe Christenheit so wichtigen Diakonie steht bis heute aus. Seit der bahnbrechenden Darstellung von Gerhard Uhlhorn (1826–1901)1 aus dem Jahr 1882 hat es einen solchen großen Wurf zur Diakoniegeschichte nicht mehr gegeben. Adolf von Harnack (1851–1930) hat – anders als Gerhard Uhlhorn – festgestellt, dass die christliche caritas keineswegs vollkommen losgelöst von der paganen Antike entstanden ist.2 Man kann Harnacks Position in dem Sinne zusammenfassen: „Die Nächstenliebe kam nicht erst mit dem Christentum in die Welt!“ Harnacks Überlegungen sind an diesem Punkt
1 Vgl. Uhlhorn, Gerhard: Die christliche Liebestätigkeit in der Alten Kirche, Stuttgart 1882, 1895, Nachdruck Darmstadt 1959. Das Überblickswerk von Gottfried Hammann, Geschichte der christlichen Diakonie, Göttingen 2003 ist sehr oberflächlich und stellt in erster Linie die Entwicklung des Amts des Diakons dar. Oberflächlich ist vor allem auch die Darstellung der Zeit der Alten Kirche. 2 Vgl. Harnack, Adolf von: Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41924, 170 f. Anm. 3. Harnacks Kritik gipfelt in dem Satz: „Auch Griechen und Römer kannten die Philanthropie sehr wohl.“ 2
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nach wie vor wegweisend. In seiner bis heute lesenswerten Darstellung Mission und Ausbreitung des frühen Christentums konzentrierte sich der Berliner Patristiker allerdings auf die Institutionen bzw. konkreten Umsetzungen der Diakonie. Christliche Begründungsmuster für wohltätiges Handeln hat er bewusst ausgeblendet.3 Genau im Bereich der Begründungsmuster für Wohlfahrt lassen sich aber spezifische Entdeckungen des Evangeliums beobachten. Diesen möchte ich mich im Folgenden widmen, weil ich die antiken und spätantiken Ansätze zur Begründung von Diakonie auch heute noch beachtenswert finde. In einer Zeit, in der Diakonie immer größere Probleme hat, ihr spezifisches Profil gegenüber anderen Anbietern auf dem Markt der Wohltätigkeit zu behaupten, sind die antiken Begründungsmuster von Wohltaten und Almosen jedenfalls nach wie vor von Interesse. Einen guten Einblick in die altkirchlichen Diskurse zu diesem Thema bietet Cyprian von Karthagos Schrift De opere et eleemosynis.4 Ich werde mich daher zunächst der Biographie und dem geschichtlichen Kontext des nordafrikanischen Bischofs widmen. Anschließend werde ich die genannte Schrift selbst im Überblick vorstellen. Schließlich werde ich einige Punkte hervorheben, an denen Cyprian auf besonders originelle Weise Entdeckungen des Evangeliums mit seiner Theologie und vor allem auch dem Denken seiner Zeit verbindet.
Biographie Cyprians und sein geschichtliches Umfeld Über die Biographie Cyprians sind wir durch seine Briefe, vor allem aber auch durch die Schrift seines Schülers Pontius informiert, die dieser wohl kurz nach dem Tod seines Lehrers verfasst hat.5 Pontius bietet dabei keine Biographie im modernen Sinn – vielmehr geht es ihm darum, seinen verstorbenen Bischof als Vorbild im Glauben darzustellen.6 Dabei betont er immer wieder dessen Wohltätig 3 Vgl. Harnack, Mission, 176. 4 Cyprians Schrift ist ediert und kommentiert von Poirier, Michel (Hg.): Cyprien de C arthage. La bienfaisance et les aumônes, Paris 1999 (SChr 440). Eine deutsche Übersetzung findet sich in der Bibliothek der Kirchenväter: Baer, Julius (tr.): Des Heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Traktate. Des Diakons Pontius Leben des Hl. Cyprianus, Kempten/München 1918, hier 260–284 (BKV 34). Einleitend vgl. zu der Schrift Sallmann, Klaus: Die Literatur des Umbruchs von der Römischen zur Christlichen Literatur 117 bis 284 n. Chr., München 1997, § 478,15, 568 f. (HLLA 4). 5 Zu Leben und Werk Cyprians vgl. als Überblick Hoffmann, Andreas: Art. Cyprian von Karthago, in: LACL 3(2002), 169–174; ders.: Cyprian. Theologie des Bischofsamtes, in: Geerlings, Wilhelm (Hg.): Theologen der christlichen Antike. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 33–52; ferner a. Bobertz, Charles Arnold: Cyprian of Carthage as Patron: A Social Historical Study of the Role of Bishop in the Ancient Christian Community of North Africa, Yale Diss. 1988; Baumkamp, Eva: Kommunikation in der Kirche des 3. Jahrhunderts, Tübingen 2014 (STAC 92); Bakker, Henk u. a. (Hg.): Cyprian of Carthage. Studies in His Life, Language and Thought, Leuven 2010 (Late Antique History and Religion); Brent, Allen: Cyprian and Roman Carthage, Cambridge 2010. 6 Vgl. a. Pontius: Vit. Cypr. 3, hg. v. Hartel, Gvilelmvs: Thasci Caecilii Cypriani Opera omnia, Vindobonae 1871, XC–CX, hier XCIII (CSEL III/3). Zur historischen Zuverlässigkeit der Vita vgl.
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keit.7 Cyprian kam Anfang des 3. Jahrhunderts als Sohn wohlhabender Eltern zur Welt. Entsprechend der familiären Tradition wurde er wahrscheinlich zum Rhetor8 ausgebildet und partizipierte somit an den höchsten damaligen Gesellschaftsschichten.9 Er war dementsprechend mit dem Leben der römischen Oberschicht in Nordafrika vertraut.10 Zum Christentum wurde er durch einen Presbyter, einen Priester namens Caecilianus erst Mitte der 40er Jahre, also schon im fortgeschrittenen Alter gebracht. Wohl schon vor seiner Taufe verschenkte er einen großen Teil seines Vermögens an die Armen.11 Wörtlich berichtet Pontius: „Er verkaufte sein Eigentum und verteilte fast den ganzen Erlös, um zahlreichen Bedürftigen den nötigen Unterhalt zu gewähren. So erwarb er sich zwei Verdienste zu gleicher Zeit: er entsagte nicht nur dem eitlen Streben dieser Welt, das am meisten Verderben stiftet, sondern er übte auch Barmherzigkeit, die Gott sogar den ihm dar gebrachten Opfern vorgezogen hat und an der es selbst jener hat fehlen lassen, der sich rühmte, alle Gebote des Gesetzes beobachtet zu haben. So gelangte er in dem eilfertigen Eifer seiner Frömmigkeit beinahe schon eher zur Vollkommenheit, als er den Weg zu ihr kennen lernte.“12 a. Bobertz, Cyprian, 253–258, der zumindest apologetische und panegyrische Tendenzen in der Vita unterstreicht, vgl. dort vor allem 258. 7 Vgl. Pontius, Vit. Cypr. 6, (ed. Hartel, XCVI). Bischöfe werden hier als „pietatis antistes“ bezeichnet. Cyprian sei aber schon vor Übernahme des Amtes wohltätig gewesen. 8 Vgl. Hieronymus: De vir. inlustr., 67 (Richardson, Ernest Cushing [Hg.]: Hieronymus. Liber de viris inlustribus [TU XIV/1], Leipzig 1896, 38). Baumkamp, Kommunikation, 115 hält es für unklar, ob Cyprian Rhetor gewesen ist. Vgl. aber a. Noormann, Rolf: Ad salutem consulere. Die Paränese Cyprians im Kontext antiken und frühchristlichen Denkens, Göttingen 2009, 13 f. (FKDG 99). 9 Montgomery, Hugo: Saint Cyprian’s Secular Heritage, in: Studies in Ancient History and Numismatics. FS Rudi Thomsen, Aarhus 1988, 214–223, 215 vermutet, dass Cyprian zu dem kleinen Kreis gehört habe, aus dem die Dekurionen der Stadt ausgewählt wurden. 10 Im Brief der römischen Kleriker (Cypr. ep. 8 I,1; Diercks, G.[erardus] F.[rederik] (Hg.): Sancti Cypriani Episcopi Epistularivm, Turnholt 1994, 40 [CChr.SL IIIB III,1]) wird Cyprian als insignis persona bezeichnet, vgl. Baumkamp, Kommunikation 114. Sie schließt auch aus weiteren Indizien ebd. 115 darauf, dass Cyprian zur lokalen Elite gehört hat. Vgl. ferner Hunink, Vincent: St Cyprian, a Christian Gentleman and Roman Gentleman, in: Bakker, Henk u. a. (Hg.): Cyprian of Carthage. Studies in His Life, Language and Thought, Leuven 2010, 29–41 (Late Antique History and Religion). 11 Vgl. dazu a. Baumkamp, Kommunikation, 116. 12 Pontius, Vit. Cypr. 2 (ed. Hartel, XCII), zitiert nach tr. Baer, 10. Umstritten ist, wie viel seines Besitzes Cyprian tatsächlich veräußert hatte. Pontius, Vit. Cypr. 15 (ed. Hartel, CVI) erwähnt, dass der Bischof seine Gärten wiedererlangt habe. Bemerkenswert ist dabei dort die Feststellung: „ad hortos, inquam, quos inter initia fidei suae uenditos et de Dei indulgentia restitutos pro certo iterum in usus pauperum uendidisset, nisi inuidiam de persecutione uitaret“. Pontius geht offensichtlich davon aus, dass der Einsatz für Wohltätigkeit in der paganen Umwelt bzw. im Kampf um öffentliche Anerkennung negativ rezipiert wurde. Hintergrund ist wahrscheinlich eine dadurch entstehende Konkurrenz als Patrone. – Pontius berichtet auch an einer anderen Stelle (Vit. Cypr. 13; ed. Hartel, CV), dass der Bischof offensichtlich noch längst nicht alle Mittel für die Reichen verausgabt hatte. Vgl. hierzu a. Wischmeyer, Wolfgang: Von Golgatha zum Ponte Molle. Studien zur Sozialgeschichte der Kirche im dritten Jahrhundert, Göttingen 1992, 147 (FKDG 49).
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Bald schon wurde er selber zum Presbyter und keine drei Jahre nach seiner Taufe 248/49 zum Bischof geweiht. Die Zugehörigkeit Cyprians zur karthagischen Aristokratie bedeutete bei seiner Wahl wohl auch einen Prestigegewinn für die Gemeinde.13 Da bei der Wahl des Bischofs fünf andere Presbyter übergangen worden waren, hatte Cyprian mit einer deutlichen Opposition in seiner Diözese zu kämpfen. Diese verstärkte sich nach Cyprians Rückzug während der Decischen Verfolgung auf das Land. Nach derselben entbrannte ein heftiger Streit darüber, wie mit den während der Verfolgung vom Christentum Abgefallenen umzugehen sei. Cyprian erhielt bei seinem Konflikt mit dem Rigoristen Novatian sogar Rückendeckung aus Rom – allerdings überwarf er sich dort bereits 254 n. Chr. mit dem Bischof Stephan I. über das Thema „Ketzertaufe“. Cyprian war somit ein Bischof in der nordafrikanischen Metropole Karthago, dessen Stimme selbst in der Hauptstadt des Römischen Reiches wahr- und ernstgenommen worden ist. Nach der Decischen Verfolgung, genauer im Jahr 252, gab es eine große Pest in Karthago. Cyprian hat sich hier nach den Aussagen des Pontius sehr für die Bedürftigen eingesetzt. Dabei erwähnt er womöglich auch die Abfassung der Schrift, der wir uns im Folgenden noch genauer widmen wollen. Wörtlich heißt es: „Zuerst versammelt er (scil. Cyprian) das Volk und hielt ihm den reichen Segen der Barmherzigkeit vor Augen. Er belehrte es an Beispielen aus der göttlichen Schrift, wieviel die Übung der Nächstenliebe dazu beitrage, sich bei Gott Verdienste zu erwerben. Sodann fügte er noch hinzu, es sei nichts Wunderbares, wenn wir nur den Unsrigen die schuldigen Liebesdienste erwiesen: denn nur der könne vollkommen werden, der irgendwie mehr tue als der Zöllner und Heide, der Böses mit Gutem überwinde und nach dem Vorbilde der göttlichen Gnade auch seine Feinde liebe und der nach der Mahnung und Aufforderung des Herrn für das Wohl seiner Verfolger bete.“14
In der valerianischen Verfolgung wurde Cyprian nach Curubis verbannt. Wohl angesichts der Kritik an seiner Flucht während der Decischen Verfolgung entwich der Bischof nicht aus der Verbannung, sondern ließ sich nach Karthago zur Verurteilung zurückbringen. Dort wurde er am 14. September 258 hingerichtet. Bereits Cyprians Vita macht zwei Dinge deutlich. Cyprian lebte zum einen in einer von Krisen geschüttelten Zeit. Nicht nur die Verfolgungen der Christen, auch sonstige Katastrophen wie vor allem die Pest haben den nordafrikanischen Gemeinden zu seiner Zeit stark zugesetzt. Auch wenn die Bezeichnung des 3. Jahrhunderts als einer Zeit der Krise in der Forschung durchaus kontrovers diskutiert worden ist, lässt sich für Karthago in dieser Phase des Übergangs zur Spätantike eine Fülle von Katastrophen ausmachen, die den Bischof der Stadt zu Reaktionen nötigte.15 13 Vgl. Baumkamp, Kommunikation, 116 f. 14 Pontius, Vit. Cypr. 9 (ed. Hartel, XCIX), dt. zitiert nach tr. Baer, 18 f. 15 Vgl. u. a. Alföldy, Géza: Römische Sozialgeschichte, Stuttgart 42011, 225 unter Rückgriff auf Cyprians Äußerungen um 253 n. Chr.: „Die Lebensmittel waren knapp, die Preise stiegen, die Bergwerke waren erschöpft, die handwerklichen Fähigkeiten sanken; dazu kam noch, dass es für
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Zum anderen übernahm der Bischof der nordafrikanischen Metropole gleichsam die Rolle eines Patrons.16 Dies ist insbesondere von Charles A. Bobertz17 und Hugo Montgomery18 herausgearbeitet worden. Letzterer hat dabei deutlich gemacht, dass Konversionsprozesse keineswegs einen vollständigen Bruch mit antiken Rollen und Denkmustern bedeuteten. Cyprian unterstützte nicht nur seine Gemeinde materiell, er sorgte vielmehr auch nachweislich durch seinen Briefwechsel19 für den Erhalt der Gemeindestrukturen während seiner Flucht zur Zeit der Decischen Verfolgung.20 Der Bischof übernahm also explizit Aufgaben des antiken Patrons. U. a. der Anfang 251 n. Chr. geschriebene Brief 41 Cyprians legt davon deutliches Zeugnis ab.21 Cyprian ordnet darin aus seinem Versteck während der Decischen Verfolgung die Gemeinde, um sie unversehrt zu erhalten. Dabei wendet er sich gegen die Aktionen des Felicissimus, der einen Teil des Kirchenvolkes von seinem Bischof zu entfremden versuchte. Cyprian reagiert darauf wie ein Patron und schreibt seinen Stellvertretern: „Ich hatte euch als meine Stellvertreter abgeordnet, um die Bedürfnisse unserer Brüder mit jenen Geldmitteln zu befriedigen und solchen, die etwa auch ihr Gewerbe wieder ausüben wollten, mit einem ausreichenden Zuschuß in ihren Absichten beizustehen, um des weiteren auch ihr Alter, ihre Verhältnisse und ihre Würdigkeit zu ermitteln, wie auch ich, dem die Sorge obliegt, jetzt jeden einzelnen zu kennen wünsche und allen Würdigen, Demütigen und Friedfertigen zu Gliedern der kirchlichen Verwaltung befördern möchte.“22
die Landwirtschaft an Bauern fehlte (Ad Demetr. 3 f.). In der Agrarproduktion zeigten sich, in erster Linie wegen des wachsenden Mangels an Arbeitskräften, zunehmend Schwierigkeiten. Das Phänomen der agri deserti, die Entvölkerung der Ländereien, die nicht mehr bebaut wurden, ist ein häufiger Gegenstand zeitgenössischer Klagen, und die Flucht der Landbevölkerung war im 3. Jahrhundert ein häufiges Phänomen. Die Bevölkerungszahl und die allgemeine Lebenserwartung gingen – nicht zuletzt infolge der sich wiederholenden Epidemien – wohl überall zurück.“ Zur Diskussion über die Attribuierung der Zeit als Zeit der Krise vgl. ebd., 259 f. 16 Vgl. zur Rolle Cyprians als Patron bereits kurz Baumkamp, Kommunikation, 117. 17 Vgl. u. a. Bobertz, Charles Arnold: Patronage Networks and the Study of Ancient Christianity, in: Livingstone, Elizabeth A. (ed.): Studia Patristica 24 (1993), 20–27; ausführlicher ders., Cyprian; Vgl. aber auch zu Bischöfen, die den Euergetismus aus ihrem ehemaligen aristokratischen Umfeld in die Kirche hineingetragen haben, Wischmeyer, Ponte Molle, 128 f.; 145. 18 Vgl. Montgomery, Heritage, bes. 215 f.; 219. 19 Vgl. Bobertz, Networks, 23: „Undoubtedly our clearest glimpse of the role of patronage might have played in pre-Constantinian Christianity comes from the letters of Cyprian of Carthage.“ 20 Zu Cyprians Haltung zum Decischen Opferbefehl vgl. Stritzky, Maria B. von: Erwägungen zum Decischen Opferbefehl und seine Folgen unter besonderer Berücksichtigung der Beurteilung durch Cyprian, in: RQ LXXXI (1986), 1–25. Auch während der Valerianischen Verfolgung hat Cyprian durch seinen Briefwechsel zum Erhalt der Gemeindestruktur beigetragen, vgl. Baumkamp, Kommunikation, 316–326. 21 Vgl. ep. 41, abgedruckt in ed. Diercks, 196–198. 22 Cypr. ep. 41,1 (ed. Diercks, 196 f.); dt. in Baer, Julius (tr.), Des Heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Briefe, München 1928, 132 (BKV 60).
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Mit den Mitteln des Bischofs bindet dieser letztlich also nicht nur seine Gemeindeglieder, sondern auch seinen Verwaltungsstab in Loyalität an sich. Dass Felicissimus die Unterstützung und die Erhebungen verhinderte, macht deutlich, wie in kirchlichen Auseinandersetzungen der Erwerb von Loyalitäten durch das Verhalten als Patron gesteuert wurde. Innerkirchliche Machtstrukturen wurden jedenfalls durch die Verteilung von Geldern verstärkt. Cyprian betont, dass Spenden aus der Hand des Bischofs entgegenzunehmen seien.23 Cyprian hat aber nicht nur selber als Bischof die Rolle eines Patrons übernommen. In den genannten Untersuchungen ist weitgehend übersehen worden, dass er solche Aufgaben in der Zeit der Krise auch anderen Gemeindegliedern nahelegt. Insbesondere in seiner Schrift De opere et eleemosynis empfiehlt er jedenfalls, der aktuellen Krise auch mit denselben Motiven wie der antike Patron zu begegnen. Diese Motive sind aufs engste mit biblischen Begründungsmustern der Wohlfahrt verbunden. Eben dieser Verbindung soll im Folgenden genauer nachgegangen werden.
Die Schrift De opere et eleemosynis Die Schrift De opere et eleemosynis selbst gibt keine expliziten Hinweise auf ihre Datierung. Die Aufforderung zur Unterstützung in Not ist vielmehr sehr allgemein formuliert und kann in die gesamte fast zehnjährige Amtszeit Cyprians eingeordnet werden. Sie ist nach der Meinung ihres Herausgebers Michel Poirier möglicherweise zwischen den Jahren 253 und 256 publiziert worden.24 Ich halte es nach wie vor aber auch für denkbar, dass Pontius mit der im Pestjahr 252 erwähnten Schrift zur Almosensammlung das uns interessierende Büchlein gemeint hat. Auch wenn sich nicht alle Inhalte vollkommen mit den Angaben des Pontius decken, geht die Argumentation der Schrift doch in eine vergleichbare Richtung.25 Der Titel der Schrift ist nicht ganz leicht zu übersetzen. Er lässt sich wohl – entsprechend der Verwendung des Begriffes opus bereit bei Tertullian – am überzeugendsten mit „Über Wohlfahrt und Almosen“ wiedergeben.26 23 Cypr. ep. 41,2 (ed. Diercks, 197). Vgl. zur Rolle des Bischofs beim Almosen auch Baumkamp, Kommunikation, 144–148, bes. 147. Schon bei Justin findet man den Bischof, genauer den „Vorsteher“ (gr. προεστώς) in der Rolle des Fürsorgers (gr. ἐπικουρεῖ) für die Gemeinde, vgl. Justin Apol. 67 (Charles Munier [ed.]: Saint Justin. Apologie pour les Chrétiens, Fribourg 1995, 122 [Par. 39]). Auch Origenes geht comm. ad. Mt XVI 22 (Klostermann, Erich [ed.]: Origenes. Matthäuserklärung I. Origenes Werke X, Leipzig 1935, 552 f. [GCS 40]) davon aus, dass die Mittel der Gemeinde durch Bischöfe und Diakone gut und uneigennützig verteilt werden. Zur Verwaltung der Gemeindekasse durch den Bischof vgl. a. Staats, Reinhart, Depositia pietatis – Die alte Kirche und ihr Geld, in: ZThK 76, (1979), 1–29. 24 Vgl. Poirier, Cyprien, 21. 25 Vgl. a. Sallmann, Literatur, 569. Anders Poirier, Cyprien, 57 f., der in der Schrift vielmehr ein zeitloses Statement zum Almosen bzw. zur Pflege der Gemeindekasse sieht. 26 Vgl. a. Poirier, Cyprien, 24.
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Die Schrift ist rhetorisch insbesondere in ihrem zweiten Teil auffällig ausgefeilt. Ich halte es daher für wahrscheinlich, dass es sich um die Ausarbeitung einer in Notzeiten tatsächlich gehaltenen Rede handelt. De opere et eleemosynis ist klar aufgebaut: Das Werk gliedert sich in fünf Abschnitte, die ich im Folgenden kurz wiedergeben möchte. 1. In einer Einleitung, die die ersten drei Kapitel umfasst, gibt Cyprian den Grundtenor seiner Ausführungen an.27 Dabei beschreibt er den Zugang zum in Christus den Gläubigen angebotenen Heil: Dieses wird ihnen in besonderer Weise durch das Almosengeben zuteil. Denn obwohl sie durch Christus bereits gerettet sind, sind sie doch gebrechlich und abermals der göttlichen Hilfe bedürftig.28 Genau diese Hilfe kommt den Menschen aber durch die Werke der Gerechtigkeit zu, auf die Gott selbst sie hinweist. Almosen ermöglichen auch noch nachträglich allen Schmutz abzuwaschen (cap. 1).29 Almosen dienen nach Spr 16,6 dazu, von Vergehen wieder gereinigt zu werden, ja sogar nach Sir 3,30 zum Auslöschen derselben. Dabei unterscheidet Cyprian die prinzipielle Erlösung von den Sünden durch Christi Sühnetod am Kreuz respektive dessen Nachvollzug durch die Taufe einerseits und die Reinigung von den Sünden andererseits, die der Christenmensch erst nach der Erlösung begangen hat.30 Seine Argumentation muss in einer Zeit, in der intensiv über die Buße als Weg zur Sündenvergebung im Verfolgungszeitalter diskutiert worden ist, besonders interessiert aufgenommen worden sein. Nicht nur die Buße, sondern auch die Almosen ermöglichen das Freiwerden von Sünden! Cyprian nimmt damit eine Argumentation auf, die sich bereits im 2. Clemensbrief um die
27 Zu den Quellen, die Cyprian in diesen Kapiteln nutzt, vgl. ebd., 166–169. 28 Zu dem Dilemma postbaptismaler Sünden im Einleitungskapitel von de opere vgl. Noormann, salutem, 125–129. 29 Der Zusammenhang zwischen Almosen und dem Heil des Spenders findet sich bereits im Hirten des Hermas, vgl. sim. I 7–11 (ed. Körtner, Ulrich H. J./Leutzsch, Martin: Papiasfragmente. Hirt des Hermas, Darmstadt 1998, 244–248 [SUC 3]); IX 30,4 f. (ed. Leutzsch 348); X 4,2–4 (ed. Leutzsch 356–358), und dazu Ritter, Adolf Martin: Christentum und Eigentum bei Klemens von Alexandrien auf dem Hintergrund der frühchristlichen „Armenfrömmigkeit“ und der Ethik der kaiserzeitlichen Stoa, in: ders.: Charisma und Caritas, Göttingen 1993, 283–307, hier 288. 30 Cyprian steht mit diesen Gedanken nicht allein. Vgl. dazu a. Puzicha, Michaela: Christus peregrinus. Die Fremdenaufnahme (Mt 25,35) als Werk der privaten Wohltätigkeit im Urteil der Alten Kirche, Münster 1980, 145 (MBTh 47), die summiert: „Denn die Zeit zwischen Taufe und Tod ist uns von Gott als ein spatium gegeben, das wir mit guten Werken anfüllen müssen.“ Es geht also um „Taufbewährung“, vgl. ebd. 146. Zum Gedanken der Sündentilgung an dieser Stelle vgl. Hauschild, Wolf-Dieter: Art. Armenfürsorge II. Alte Kirche, in: TRE 4 (1979), 14–23, hier 20: „Wenn Cyprian (De opere 2) die soteriologische Bedeutung des Almosens der Wirkung der Taufe gleichsetzt, dann ist das auf die rhetorische Übertreibung des Predigers, der die Gemeinde zur Armenhilfe motivieren will, zurückzuführen, zeigt aber im Kern die altkirchliche Beurteilung des Almosens: Als Ausdruck helfender Zuwendung zum Bruder und Verzichtsleistung, die Gottes Willen erfüllt, ist es ein ‚Verdienst‘, dem jenseitiger Lohn gebührt […]“ Vgl. zu dem Gedankengang auch Noormann, salutem, 112 f. Noormann fasst ebd. 283 das Verhältnis von Werk und Lohn so zusammen, dass Gott faktisch belohnt, was er selbst gegeben hat.
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Mitte des 2. Jh.s findet.31 Dort wurden jedenfalls Almosen der Buße für die Sünder gleichgesetzt. Cyprian erweist in diesem Zusammenhang auch zum ersten Mal – sicher sehr eigenwillig – auf das Neue Testament, das Evangelium Christi. Dieser habe schließlich auch zu seinen Jüngern gesagt: „Gebt vielmehr Almosen und seht, alles ist euch rein!“ (Lk 11,40) Almosen dienen also gleichsam dazu, die Taufgnade wieder herzustellen (cap. 2). Da auch Geheilte sich immer wieder Wunden zuziehen können, bedarf es solcher Mittel wie der Almosen zur Läuterung (cap. 3). 2. Seine grundsätzliche These sichert Cyprian in einem zweiten Teil mit Schriftzitaten aus dem Alten und dem Neuen Testament ab (cap. 4–8).32 Dabei beginnt er mit einem Verweis auf den Propheten Jesaja, der angesichts der Sünden des Volkes zur Wohltätigkeit auffordert (Jes 58; cap. 4). Gott selbst hat nach Cyprian im Alten Testament gesagt, dass man ihm durch gerechte Werke bzw. Verdienste der Barmherzigkeit Genugtuung leisten solle, da Gebet und Fasten allein nicht reichen (vgl. cap. 5 unter Berufung auf Sir 29,15; Spr 21,13; Ps 40,2; Dan 4,24 und vor allem Tob 12,8).33 Dass Almosen tatsächlich sogar vom Tod befreien können, beweise in der Apostelgeschichte die Totenauferweckung der Tabitha, um die die von ihr unterstützen Witwen gebeten hätten (Act 9,36 ff.; cap. 6). Auch Christus selbst habe Almosen eindeutig gefordert (vgl. Lk 12,33; Mt 6,19 ff.; Mt 19,21).34 Mit der Parabel vom Kaufmann und der von ihm gefundenen kostbaren Perle, die jener zum Erwerb des Himmelreichs verkaufte, würde jedenfalls deutlich, dass man das durch Christus erhaltene ewige Leben erwerben könne (cap. 7).35 Auch Christi Wort an Zachäus würde dasselbe illustrieren (Lk 19,8 f.). Jesu Gerichtsworte würden verdeutlichen, dass Almosen zu geben heilsnotwendig ist (Mt 3,10; 5,7; 7,19; Lk 3,9; 16,11 f.). 31 Vgl. 2 Clem 16,4 (ed. Wengst, Klaus: Didache [Apostellehre], Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Schrift an Diognet, Darmstadt 1984, 260 [SUC 2]). Dort heißt es wörtlich: καλὸν οὖν ἐλεημοσύνη ὡς μετάνοια ἁμαρτίας […] ἐλεημοσύνη γὰρ κούφισμα ἁμαρτίας γίνεται. Vgl. zu der breiten Tradition im frühen Christentum a. Garrison, Roman: Redemptive Almsgiving in Early Christianity (JSNTS 77), Sheffield 1993, bes. 132. Zum Bußverständnis Cyprians vgl. a. Noormann, Rolf: Secundum euangeli legem. Die biblische Begründung des Bußverfahrens zur Wiederaufnahme abgefallener Christen bei Cyprian von Karthago, in: RQ CV (2010), 169–191. 32 Cyprian hat bei seinem Rückgriff auf Bibelstellen eine Art Testimoniensammlung ver wendet, die auch in seiner Schrift Ad Quirinum III ihren Niederschlag gefunden hat. Im weiteren Verlauf der Schrift greift er zunehmend inkonsequenter auf diese Sammlung zurück, vgl. Poirier, Cyprien, 33–40. 33 Vgl. ähnlich auch Cypr., Orat. 32 (Hartel, Gvilelmvs [Hg.]: Thasci Caecilii Cypriani Opera omnia, Vindobonae 1868, 290 [ CSEL III/1]), tr. Baer (wie Anm. 4), 192: „Denn er, der am Tage des Gerichts die guten Werke und Almosen (operibus et eleemosynis) belohnen wird, leiht auch heute schon jedem ein gnädiges Ohr, der mit guten Werken (cum operatione) zum Gebet kommt.“ Vgl. ferner Noormann, salutem, 278. Ganz ähnlich argumentierte bereits 2. Clem 17,4. Dort heißt es wörtlich: κρείσσων νηστεία προσευχῆς, ἐλεημοσύνη δὲ ἀμφοτέρων. ἀγάπη δὲ καλύπτει πλῆθος ἁμαρτιῶν, προσευχὴ δὲ ἐκ καλῆς συνειδήσεως ἐκ θανάτου ῥύεται. μακάριος πᾶς ὁ εὑρεθεὶς ἐν τούτοις πλήρης· ἐλεημοσύνη γᾶρ κούφισμα ἁμαρτίας γίνεται. 34 Vgl. hierzu a. Noormann, salutem, 105 Anm. 160. 35 Vgl. zum Erwerb der Schätze im Himmel nach Cyprian a. Noormann, salutem, 154 f.
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3. Nach der biblischen Begründung diskutiert Cyprian eine ganze Reihe von Einwänden gegen das Almosengeben. Dabei setzt er sich zunächst mit der Furcht auseinander, durch Almosen unvermögend zu werden (cap. 9–15). Wiederum mit Schriftargumenten begründet er, dass derjenige nie darben wird, der den Armen gibt (cap. 9; Spr 28,27 u. a.). Grundidee ist dabei, dass das Gebet der dankbaren Bedürftigen dafür sorgt, dass Gott den Gebern umso mehr schenkt.36 Vor allem werden sie am jüngsten Tag ins Reich Gottes eingehen. Es gilt ja – in Anlehnung an das Gespräch Jesu mit dem reichen Jüngling – ohnehin, nicht auf seinen Reichtum, sondern vielmehr auf sein Seelenheil zu achten.37 Dieses ist durch den Reichtum gefährdet, weil er immer mehr Begierden auslöst (cap. 10; vgl. a. 1 Tim 6,7–10). Cyprian begründet mit dem Vorbild des Elias, der in der Wüste vom Raben gespeist wurde, dass der Gerechte sich nicht sorgen müsse, keine Mittel zum Leben zu haben. Auch Christus selbst ermutigte zur Sorglosigkeit (cap. 11; vgl. Mt 6,26). Wer ihm nicht vertraut, ist nach Cyprian nichts anderes als ein Pharisäer (cap. 12; vgl. Lk 16,14). Er ist vielmehr Gefangener und Sklave seines Geldes, gebunden mit den Fesseln seiner eigenen Habsucht (cap. 13). An dieser Stelle werden die rhetorischen Fähigkeiten des Autors immer deutlicher.38 So fordert Cyprian nun: „Teile deine Einkünfte mit deinem Gott, lass Christus an deinem Gewinn teilnehmen, mache dir Christus zum Teilhaber an deinem Besitz, damit auch er dich zum Miterben seines himmlischen Reiches macht.“
Irdischer Reichtum muss also – wie bereits zuvor von Klemens von Alexandrien festgestellt39 – zweckgemäß eingesetzt werden, nämlich um sich damit himmlische Güter zu erwerben (cap. 14; vgl. Apk 3,17 f). Cyprian entdeckt in diesem Zusammenhang wiederum das Evangelium: Er stellt den Geizigen das Beispiel der armen Witwe vor Augen, die Jesus für ihre Gesinnung gelobt hatte.40 Schließlich mache sich der Wohltätige letztlich Gott zum Schuldner (Spr 19,17: deo faenerat; cap 15). 4. Nachdem Cyprian die Furcht, selbst durch Almosen arm zu werden, thematisiert hat, beschäftigt er sich mit dem – bereits von Cicero ventilierten41 – Einwand, dass sie das Erbe für die Nachkommen schmälern (cap. 16–20). Auch dieses verantwortungsethische Argument verfängt nach Cyprian nicht, da Christus der eigentliche Adressat der Almosen ist. Er bzw. Gott ist aber über alles zu lieben, das Himmlische bedeutsamer als das Irdische. Der Dienst an Gott ist dementsprechend 36 Diese „Ausgleichstheorie“ findet sich schon beim Hirten des Hermas, sim II,5 (ed. Leutzsch, 248), vgl. Ritter, Christentum, 289. 37 Vgl. zur Einschätzung des Reichtums bei Cyprian auch ders.: Ad Donatum 12 (Simonetti, Manlio [Hg.]: Sancti Cypriani episcopi Opera. Ad Donatum i.a., 10 f. [CChr.SL IIIA2]). Reichtum kann demnach schnell verloren gehen und bereitet den Reichen daher oft mehr Angst als Freude. 38 Zur Rhetorik in De opere vgl. Poirier, Cyprien, 40–45. 39 Ob Cyprian die kleine Schrift Quis dives salvetur des Clemens kannte, ist ungewiss bzw. sogar unwahrscheinlich. An dieser Stelle liegt dennoch eine vergleichbare Argumentationsstruktur vor. 40 Vgl. hierzu a. Noormann, salutem, 287 f. 41 Vgl. Cicero, De off. I 44 (Büchner, Karl [Hg.]: Marcus Tullius Cicero. Vom rechten Handeln, Düsseldorf/Zürich, 42001, 40).
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auch demjenigen an den eigenen Kindern vorzuziehen (vgl. Mt 10,37; cap. 16). Hierfür bietet Cyprian gleich mehrere Beispiele, so die Witwe von Sarepta, die vor ihren Kindern dem fremden Elia von der kärglichen verbliebenen Speise gegeben hatte (vgl. 1 Kön 17,10 ff.; cap 17). Der Witwe wurde nämlich reich vergolten, was sie gegeben hatte (… multiplicata sunt uiduae et cumulata quae praestitit …) – in diesem Fall galt die antike Maxime do ut des. Hier wird es ähnlich wie im paganen Bereich innerweltlich angewandt: Wer gibt, der wird auch empfangen. Das gute Werk der Witwe diente letztlich somit auch ihren Kindern. Je größer die Zahl der Kinder ist, umso mehr Wohltätigkeit sollte man nach dem Vorbild des Hiob üben (cap. 18; vgl. Hi 1,1.2.5). Denn umso mehr Seelen kann der Wohltäter durch seine Almosen erlösen. Eltern empfehlen nämlich durch ihre Wohltaten ihre Kinder gleichsam Gott. Bei ihm ist das Erbe für die Kinder am besten aufgehoben, da er ohnehin der wirkliche Vater der Kinder ist (cap. 19). Cyprian führt bei seiner Argumentation auch interessante profane Argumente an: „Das Vermögen, das man Gott anvertraut, reißt weder der Staat an sich, noch vergreift sich an ihm der Fiskus, noch wird es durch irgendwelche gerichtlichen Schikanen zerrüttet. Sicher ist das Erbe angelegt, das unter Gottes Obhut ruht.“42
Als weiteres biblisches Vorbild ermahnte Tobit sogar seine Kinder zum Almosen (cap. 20; vgl. Tob 14,10 f.). In diesem Zusammenhang bezeichnet Cyprian zum ersten Mal die Almosen auch mit einem in der Antike meist anders verstandenen Begriff, nämlich als munus, als gute Spende. In seiner Schrift verwendet Cyprian diesen Begriff mit einer auffälligen semantischen Breite.43 Daher appliziert er ihn im Folgenden auf einen zunächst einmal vollkommen differenten Bereich. 5. Den Gedanken des munus, der Stiftung, führt Cyprian nämlich nun weiter aus (cap. 21–23). Er vergleicht jetzt die Almosen mit einem munus unter den Augen Gottes. Munera, d. h. vor allem Schauspiele und Feste, wurden von reichen Persönlichkeiten in der Antike unter großem Aufwand vor allem deswegen gestiftet, um „Beifall der Großen“ (ut possint placere maioribus, cap. 21) zu erhalten. Oft standen z. B. Stiftungen von Spielen am Anfang einer politischen Karriere. Der Aufwand bei den munera vor Gott muss nach Cyprian noch größer ausfallen, da auch das zu erreichende Ziel ein viel größeres ist: Es geht weder um den Erhalt eines Viergespanns, 42 Dt. zitiert nach tr. Baer, 276 (cap. 19; vgl. u. a. a. Ps 36,25 f.); vgl. zur Vermischung von paganen und christlichen Motiven an dieser Stelle auch Noormann, salutem, 155. 43 Vgl. dazu a. Poirier, Cyprien, 31–33. 191 f.; ferner ders.: Charité individuelle et action sociale, réflexion sur l’emploi du mot munus dans le De opere et eleemosynis de Cyprien, in: Studia Patristica 12 (1975), 254–260. Zur semantischen Breite von munus auch im christlich liturgischen Kontext vgl. Casel, Odo: ΛΕΙΤΟΥΡΓΙΑ – Munus, in: Oriens Christianus III/6 (1930), 289–302; vgl. zum munus-Begriff bei Cyprian ferner Hoffmann, Andreas: Kirchliche Strukturen und römisches Recht bei Cyprian von Karthago, Paderborn 2000 (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 92), 172 bes. Anm. 150; vgl. ferner auch Canetti, Luigi: Christian Gift and Gift Exchanges from Late Antiquity to the Early Middle Ages, in: Carlà, Filippo/Gori, Maja (Hg.): Gift Giving and the „Embedded“ Economy in the Ancient World, Heidelberg 2014, 337–351, bes. 337 f.
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der hohen kaiserlichen Beamten vorenthalten war, noch um den Erhalt der Konsulwürde, sondern um die Verleihung des ewigen Lebens. Nachdem Cyprian mit der Bibel und einer ausgeprägten Theologie zum Almosen aufgefordert hat, zieht er gegen Ende seiner Rede also die stärksten Register: Er spricht die antiken Menschen bei ihrer Ehre an. Almosen führen nicht zu der eitlen und sich rasch verändernden Gunst (fauor) des Volkes, sondern zum Lohn (praemium) des Himmelreiches (cap. 21). Cyprian unterscheidet dementsprechend gleichsam zwischen den pompa diaboli und den pompa Christi. Die einen sind die bekannten irdischen Schauspiele, bei den anderen wird der Besitz in Armenspeisen und - kleidung investiert. In einem fiktiven Dialog des Teufels mit Christus charakterisiert jener in immer stärker selbstdestruktiver Weise seine Spiele als solche, die von Verschwendungssucht und Sinnlosigkeit geprägt sind und letztlich dazu führen, dass alles in torhafter Nichtigkeit endet. Der Teufel scheint sich in seiner Rede gleichsam an sinnloser Verschwendung und dem letztlichen Untergang zu erfreuen. Bei den Almosen hingegen wird Christus selbst gekleidet und gespeist und gewährt dafür ewiges Leben (cap. 22).44 Diese Aussage sichert Cyprian mit einem ausführlichen Zitat von Mt 25,3–46 ab.45 Christus hat demnach dadurch zu den Werken der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ermuntert, dass er die Vernachlässigung des Armen und Bedürftigen mit einer Kränkung seiner selbst gleichgesetzt hat (cap. 23). Auch auf der Basis dieser Ausführungen über die weltlichen Spiele kommt Cyprian zu dem Schluss, dass es besser ist, durch die Ausrichtung auf Gott und ständige Wohltaten diesen zu gewinnen, irdische in himmlische Gewänder auszutauschen (cap. 24). Cyprian stützt dies mit einem längeren Zitat aus dem Galaterbrief ab, nach dem man nicht müde werden sollte, Gutes zu tun, um entsprechend zu ernten (Gal 6,9). Ein Vorbild für ein solches Handeln und eine solche Gesinnung sieht Cyprian letztlich in der Urgemeinde. Auch die ersten Christen gaben ihren gesamten Besitz, um Früchte ewigen Besitzes zu ernten (25).46 Wer für den anderen sorgt und alle gleichermaßen behandelt, der ist nach Cyprian Kind Gottes, der ahmt dessen Güte (bonitas) und Freigiebigkeit (largitas) nach.47 Denn niemand ist bei ihm von seinen Gaben und Wohltaten (beneficiis eius et muneribus) ausgeschlossen. Im letzten Kapitel seiner Ausführungen überhöht Cyprian schließlich, was er im paganen Kontext als das Prinzip des do ut des herausgearbeitet hat. Für die erbrachten Wohltaten und guten Werke stellt er Herrlichkeit und erhabene Freude in Aussicht (cap. 26). Dementsprechend schlussfolgert der Bischof: 44 Eine ähnliche Gegenüberstellung findet sich bereits bei Tertullian, der allerdings keine positive, christliche Umdeutung der liberalitas-Praxis bietet. Dort heißt es Apol. 39,6 (Georges, Tobias [tr.]: Tertullian. Apologeticum, Freiburg i. Br. 2015, 236 [FC 62]): „Quippe non epulis inde nec potaculis ne ingratis uoratrinis dispensatur, sed egenis alendis humandisque …“ Tertullian betont allerdings, dass die Gastmähler der Christen, die Agapen, im Gegensatz zu den paganen einen anständigen Anlass hätten und auch den Armen zugute kämen. 45 Vgl. hierzu a. Noormann, salutem, 240. 46 Vgl. hierzu a. Noormann, salutem, 138. 47 Vgl. hierzu a. Poirier, Cyprien, 188–191.
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„Etwas Herrliches und Göttliches, liebste Brüder, ist heilbringende Wohltätigkeit, ein starker Trost der Gläubigen, ein heilsamer Hort unserer Sicherheit, ein Bollwerk der Hoffnung, ein Schutz des Glaubens, ein Heilmittel gegen die Sünde; eine Sache, die ganz in der Macht des Einzelnen steht, eine Sache, erhaben und doch leicht zugänglich, frei von der Gefahr der Verfolgung, die Krone des Friedens, der wahre und größte Gottesdienst, notwendig für die Schwachen, ruhmvoll für die Starken, ein Gottesdienst, mit dessen Hilfe der Christ geistliche Gnade erlangt, mit dem er Christus als huldvollen Richter gewinnt und Gott zu seinem Schuldner macht.“48
Die Werke der Barmherzigkeit bringen dem Wohltäter so letztlich eine weiße Krone ein, zu der er in den Zeiten der Verfolgung noch eine pupurne erhalten kann.49 Damit stellt Cyprian den Lesern seiner Schrift zugleich eine alternative Form von Martyrium vor.50
Die Verschränkung von biblischer und paganer Argumentation Cyprians paränetischer Ansatz ist nicht nur stark von der Entdeckung des Evangeliums, sondern auch von paganem Gedankengut geprägt. Rolf Noormann hat in seiner beachtenswerten Heidelberger Habilitationsschrift auf die Bedeutung Senecas in diesem Zusammenhang hingewiesen.51 Auf Noormanns Gedanken aufbauend werde ich im Folgenden das Verhältnis von biblischer Tradition und paganen Konzepten im Hintergrund der Argumentation Cyprians reflektieren. Dies lohnt sich umso mehr, als in der Argumentation für Almosen im 4. Jahrhundert viele Argumente Cyprians, bei denen er pagane und biblische Gedanken verknüpft, sich bei Theologen wie Ambrosius, Hieronymus und selbst Basileios von Kaisarea wiederfinden.52 Der Grundansatz Cyprians macht deutlich, wie stark Menschen seiner Zeit von einer tiefen Erlösungssehnsucht geprägt waren.53 Das dritte Jahrhundert mit seinen Veränderungen in den Institutionen – als Reaktionen auf eine institutionelle Krise sowie die Transformationsprozesse in Gesellschaft, Kunst, Kultur und Mentalität – brachte u. a. auch die Hinwendung zu Erlösungsreligionen und die Abwendung von der irdischen Welt mit sich.54 Nicht nur das Christentum, auch andere Reli 48 Cyprian, Oper. 26 (ed. Poirier, 156), dt. ed. Baer, 283 f. Vgl. a. Noormann, salutem, 241. 49 Vgl. hierzu a. Puzicha, Christus peregrinus, 149; Noormann, salutem, 271 f. 50 Vgl. a. Poirier, Cyprien, 192–194. 51 Vgl. Noormann, salutem, u. a. zusammenfassend 343. 52 Vgl. grundsätzlich zu den Ansätzen der genannten Theologen Finn, Richard: Almsgiving in the Later Roman Empire. Christian Promotion and Practice 313–450, Oxford 2006 (OCM). 53 Vgl. dazu a. Alföldy, Sozialgeschichte, 227. 54 Vgl. dazu u. a. a. Johne, Klaus Peter/Hartmann, Udo: Krise und Transformation des Reiches im 3. Jahrhundert, in: dies. und Gerhardt, Thomas (edd.): Die Zeit der Soldaten-Kaiser. Krise und Transformation des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (235–284), Berlin 2008, 1025–1053, hier 1047. Dort stellen die Autoren im Blick auf die Transformationsprozesse im 3. Jh. u. a. fest: „Herauszuheben ist hier zweifellos ein Mentalitätswandel, der sich vor allem in der Hinwendung zu Erlösungsreligionen und der Abwendung von der irdischen Welt zeigt.“
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gionen wie besonders die Mysterienkulte bemühten sich erfolgreich darum, dieser Sehnsucht gerecht zu werden. Wenn auch das Heilswerk in Christo bzw. die Taufe der soteriologische Grundakt für Cyprian waren, so musste nicht nur er sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Menschen, die durch ihre Aktualsünden sich aus der Taufgnade herausgefallen sahen, diese wieder erlangen können. Für Cyprian stellte sich also nicht die Frage: Wie bekomme ich einen gerechten Gott, sondern wie bekomme ich (wieder) einen der Rechtfertigung entsprechenden Menschen?55 Vor dem Hintergrund dieses Diskurses behandelte er auch die Frage nach den Almosen. Es ist bemerkenswert, wie stark Cyprian dabei mit biblischen Texten argumentiert. Die Bibel liefert ihm nicht nur ethische Leitsätze, sondern auch Vorbilder für gottwohlgefälliges Verhalten. Cyprian bleibt aber nicht bei einem verhaltensbegründenden Biblizismus stehen. Vielmehr verknüpft er auf äußerst feinfühlige Weise biblische Texte, seine Entdeckungen des Evangeliums, mit paganen Verhaltensidealen.56 Dabei lässt er sich stärker auf die paganen Ideale ein, als er vielleicht selbst beabsichtigt hat – Angela Ganter stellte dementsprechend fest, dass Cyprian in seinem Werk eigentlich eine „Gegenwelt“ zur paganen Antike hat entwickeln wollen, in der Tat aber mehr eine „Parallelwelt“ geschaffen hat – dies gilt auch für den Bereich der Wohlfahrt.57 Dem möchte ich abschließend an drei Punkten nachgehen:
Das antike Patronat und die christliche liberalitas Wer Almosen gibt, tut letztendlich nichts anderes als ein antiker Patron.58 Er sorgt sich um die Gemeinschaft, in deren Zentrum er steht. In der Antike wird diese Auf 55 Mit der Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Werkgerechtigkeit beschäftigt sich auch Puzicha, Christus peregrinus, 162–165. Sie stellt grundsätzlich in der Alten Kirche die Vorgängigkeit der unverdienten Rechtfertigung des Menschen vor seinem Handeln heraus (a. a. O. 164). Die differenzierten Ausführungen Cyprians berücksichtigt sie dabei allerdings nicht. Zutreffend charakterisiert Noormann, salutem, 359 das Leitmotiv der cyprianischen Paränese: „Sei (und bleibe), der du (schon) geworden bist.“ 56 Schon Montgomery, Heritage, 218 f. hat festgestellt, dass Cyprian die antiken Werte viel stärker beibehalten hat, als er selbst in seinem Bericht über seine Taufe angibt. 57 Vgl. Ganter, Angela: Was die Römische Welt zusammenhält. Patron-Klient-Verhältnisse zwischen Cicero und Cyprian, Berlin/Boston 2015, 334 (Klio.B 26). Ähnlich bereits Wischmeyer, Ponte Molle, 146. 58 Zur Rolle von Patronen in Geschichte und Gegenwart vgl. Bobertz, Cyprian, 10–49. Einen allgemeinen kurzen Überblick über die Rolle des Wohltäters in der Antike liefert Leppin, Hartmut: Euergetismus – antike Wohltätigkeit, in: Stiegemann, Christoph (Hg.): Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, Paderborn 2015, 101–105, zum Patronat bes. 102. Eine klassische Darstellung zum Thema bietet nach wie vor Veyne, Paul: Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, München 1994. Die französische Originalausgabe erschien bereits 1976. Zu verweisen ist ferner u. a. auf Krause, Jens-Uwe: Spätantike Patronatsformen im Westen des Römischen Reiches, München 1987.
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gabe eines Patrons in der Regel mit liberalitas bezeichnet.59 Diese kann in der Form von Zuwendungen und Stiftungen einen deutlichen Ausdruck erhalten. Konkret können solche Stiftungen in Bauwerken oder eben auch in der Finanzierung von Spielen in Arena oder Theater bestehen. Selbst Geldspenden sind Bestandteil der antiken liberalitas, wenn auch in der Regel nicht an Arme und Bedürftige. Wir haben bereits gesehen, dass Cyprian als Bischof selber eine Art Patronatsrolle übernommen hat. In seiner Schrift De opere et eleemosynis greift er – wie wir bemerken konnten – das Ideal des antiken Patronats auf. Er deutet es aber zugleich massiv um. Denn während die Patrone vor allem danach strebten, den Mitmenschen und insbesondere den gesellschaftlichen Verantwortungsträgern durch großzügiges Verhalten zu gefallen und damit zugleich Loyalitäten zu erkaufen, hat Cyprian einen anderen Adressaten bei der Übernahme von Patronatspflichten im Blick.60 Auch wenn ihm selbst bewusst ist, dass das Verteilen von Gaben zum Ausbau von Macht dienen kann, geht er auf diesen Aspekt in der vorliegenden Schrift nicht ein. Vielmehr betont er hier, dass der Patron bei der Ausübung der munera keineswegs den Mitmenschen, sondern Gott zu gefallen trachte. Selbst wenn er Almosen – übrigens anders als bei der antiken liberalitas – den armen und bedürftigen Mitmenschen gibt, ist Gott der letzte Adressat. Das vertraute Verhaltensmuster wird demnach, begründet durch die ausgiebige biblische Hinführung, nun gleichsam transzendiert. Aus den pompa diaboli im Theater sind somit die pompa Christi vel Dei in der Versammlung der Armen und Bedürftigen der Stadt geworden. Cyprian verschränkt dabei seine Argumentation mit einem ausführlichen Verweis auf das Evangelium: Mt 25 macht deutlich, wie man Gott als eigentlichen Adressaten der liberalitas-Praxis erreichen kann. Die Stiftungen der Almosen für die Armen erreichen letztlich Gott selbst, denn in jenen begegnet man Gott.
Die Aufforderung zur Nachahmung Gottes Cyprian erwähnt die Möglichkeit für die Wohltäter, die um die gleichmäßige und gerechte Verteilung der Gaben Gottes bemüht sind, Gott damit nachzuahmen. In diesem Zusammenhang spricht der Bischof von der largitas und bonitas Gottes, die von den Menschen ebenfalls umzusetzen seien. Damit kommt er einem Konzept 59 Zur antiken liberalitas vgl. u. a. Kloft, Hans: Liberalitas principis. Herkunft und Bedeutung. Studien zur Prinzipatsideologie, Köln 1970; Wesch-Klein, Gabriele: Liberalitas in rem publicam. Private Aufwendungen zugunsten von Gemeinden im römischen Afrika bis 284 n. Chr., Bonn 1990. Ein neuerer Ansatz zur liberalitas aus archäologischer Sicht findet sich bei Weis, Anne: Liberalitas and Lucrum in Republican City Planning: Plautus (Curc. 466–83) and L. Betilienus Vaarus, in: Haltenhoff, Andreas u. a. (ed.): Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft, München/Leipzig 2005, 225–253 (BzA 227). Sie untersucht am Beispiel von Aletrium, wie sich die liberaltas auf die ganz konkrete Stadtplanung ausgewirkt hat. 60 Vgl. zur Großzügigkeit insbesondere gegenüber Freunden u. a. Cicero, De off. I 43 (ed. Buchner, 40): „Videndum est igitur, ut ea liberalitate utamur, quae prosit amicis, noceat nemini.“
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sehr nahe, das im Griechischen als philanthropia bezeichnet wird. Die Übertragung dieses Terminus ins Lateinische scheint nicht festzustehen – in der Vulgata (Tit 3,4) wird φιλανθρωπία beispielsweise mit humanitas übersetzt. Dieser Begriff wird aber bei Cyprian für Gott nicht verwendet.61 Für die philanthropia Gottes scheint er auch die Begriff operatio oder clementia verwendet zu haben.62 Eine eindeutige terminologische Parallele zum Philanthropie-Konzept der Antike lässt sich bei ihm somit nicht ausmachen, wohl aber eine strukturelle. Das Attribut philanthropos war in der Antike zunächst mit den Göttern in Verbindung gebracht. Schon bei Xenophon war Philanthropie aber auch ein Charakteristikum des idealen Herrschers als Ausdruck von dessen Herzensgüte. Sie charakterisierte nach Isokrates insbesondere Herrscher, die zwischen der Gottheit und den Menschen stehen.63 Inhaltlich ging es dabei meist um die gütige Haltung des Herrschers bzw. seinen Gnadenerweis gegenüber den Untergebenen.64 Noch in der römischen Kaiserzeit ist diese Tugend von zahlreichen Autoren insbesondere mit der göttlichen Sphäre in Verbindung gebracht worden. Von der göttlichen Philanthropie ist auch im deuteropaulinischen Schrifttum die Rede: Tit 3,4 wird Philanthropia als göttlicher Gnadenerweis verstanden – in diesem Sinne bleibt der Begriff in der Kaiserzeit und der Spätantike ein stehendes Attribut Gottes und Christi, aber auch der heidnischen römischen Gottkaiser. Ausübung von Philanthropie ist in der paganen Antike dabei gleichsam Nachahmung der Götter. Ähnliches findet sich noch bei Konstantin. Nach Euseb ahmte jener die Menschenliebe Gottes nach.65 Bisher hat in der Forschung keine Beachtung gefunden, dass Cyprian in seiner Schrift De opere et eleemosynis ebenfalls empfiehlt, das, was man göttliche Philan thropie nennen kann, nachzuahmen. Dabei geht es Cyprian nicht um das Ideal herrscherlicher Philanthropie. Dadurch, dass er die Nachahmung Gottes in enge Verbindung mit dem Verhalten der Urgemeinde bringt, öffnet er vielmehr die Herr 61 Vgl. Bouet, P., u. a. (Hgg.): Cyprien. Traités. Concordance. Documentation lexicale et grammaticale, Hildesheim u. a. 1986, 446 (AlOm – Reihe A 67). Allenfalls caritas wäre noch ein weiteres mögliches Synonym für φιλανθρωπία im Lateinischen. Dieser Begriff ist bei Cyprian häufiger sowohl für Gott Vater als auch für Christus verwendet, aber auch für die Menschen, vgl. ebd., 107 f. 62 So Poirier, Cyprien, 30. Damit würde die Liebe Gottes zu den Menschen entsprechend der Verwendung des Begriffs φιλανθρωπία bei den Kirchenvätern charakterisiert. Der Begriff bezeichnet aber nicht Aktionen von Menschen. Ähnliches gilt für den Terminus clementia, vgl. ebd. 47; der Begriff clementia findet sich in cap. 3 der Schrift. 63 Vgl. Isokrates, Euag. 43 (ed. Mathieu, Georges/Brémond, Émile, Isocrate. Discours II, Paris 1967, 157 [CUFr]); Paneg. 29 (ed. Mathieu/Brémond, 21). 64 Vgl. die ptolemäischen Enteuxeis, dazu Hunger, Herbert: Φιλανθρωπία. Eine griechische Wortprägung auf ihrem Wege von Aischylos bis Theodoros Metochites, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 100 (1963), 1–21; zur Philanthropie in der Antike und in Byzanz ferner auch ders.: Prooimion. Elemente der byzantinischen Kaiseridee in den Arengen der Urkunden, Wien 1964, 143–153, hier 5 (WBS 1). 65 Vgl. Euseb, Triakontaeterikos 2 (Heikel, Ivar A. [Hg.]: Eusebius Werke I. Über das Leben Constantins. Constantins Rede an die Heilige Versammlung. Tricennatsrede an Constantin, Leipzig 1902 [GCS], 200, Z. 11 f.).
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schertugend für die ganze Gemeinde. Jeder Christ und jede Christin kann Nachahmer Gottes werden, wenn er oder sie Philanthropie üben. Durch den Rückgriff auf die Apostelgeschichte wird somit die Herrschertugend gleichsam ‚demokratisiert‘.66
Do ut des Eines der Hauptargumente Cyprians für das Almosengeben besteht in der Vorstellung, dass sich die Almosen spätestens im jüngsten Gericht auszahlen werden. Damit übernimmt er eine Argumentation, die sich auch im Grundansatz teleolo gischer Ethik der Antike wiederfindet: Ich gebe, damit Du gibst! Das Prinzip des do ut des ist auch der biblischen Literatur keineswegs fremd. Zu verweisen ist etwa auf Lk 6,36–38. Dort heißt es allerdings eher mit Blick auf das Richten: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt. Vergebet, so wird euch vergeben. Gebet, so wird euch gegeben (gr. δίδοτε, καὶ δοθήσεται ὑμῖν; lat.: Date, et dabitur vobis). … denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messet, wird man euch wieder messen.“
Diese Worte Jesu bei Lukas verweisen also eher auf eine Zurückhaltung insbesondere in Fragen des Richtens wegen möglicher innerweltlicher Konsequenzen. In der römischen Religiosität stammt das Ideal des do ut des allerdings ursprünglich aus dem religiösen Kontext.67 Man opferte dementsprechend den Göttern, um von ihnen öffentlich Heil, die salus publica zu erlangen. Selbst der Handel mit den Göttern war also den Römern keineswegs fremd. Allerdings zielte auch er immer auf innerweltliches Heil ab. 66 Poirier, Cyprien, 56 behauptet, dass Cyprian in der vorliegenden Schrift keine individuelle Unterstützung von Bedürftigen vorsieht, sondern vielmehr eine über den Bischof bzw. kirchlich organisierte. Dafür liefert Poirier aber keine überzeugenden Argumente. Die Gemeindekasse und auch die Rolle des Bischofs wird in der Schrift nicht thematisiert! Auch in seinem Beitrag Charité bietet Poirier letztlich keine eindeutigen Hinweise. Er meint dort, dass die Bezeichnung der karitativen Tätigkeit in den Kapiteln 20–22 der Schrift als munus deutlich machen, dass die Gaben nicht mehr rein individueller, sondern öffentlicher Art seien. Die Leiturgia verkörpere nun der entsprechende Gottesdienst. Cyprians Text gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass die Geber ihre Gaben in die Gemeindekasse oder in den Gottesdienst einbringen. Vielmehr liegt das tertium comparationis der munera ja gerade darin, dass man durch das Ausrichten von Spielen wie Almosen Anerkennung erhält. 67 Vgl. zum Prinzip des do ut des bzw. der „Reziprozität“ in der antiken paganen Religiosität u. a. Stöcklin-Kaldewey, Sara: Kaiser Julians Gottesverehrung im Kontext der Spätantike, Tübingen 2014, 53–56 (STAC 86). Zur Reziprozität bzw. dem Geschenkeaustausch allgemein und auch spezifisch christlich vgl. a. die Beiträge u. a. vom Koenraad Verboven, Sabien Colpaert, Lellia Cracco Ruggini, Luigi Canetti, in: Carlà, Filippo/Gori, Maja (Hg.): Gift Giving and the „Embedded“ Economy in the Ancient World, Heidelberg 2014.
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Während die pagane und selbst die biblische Verhaltensmaxime Do ut des also innerweltliche Intentionen verfolgte, erhielt sie bei Cyprian gleichsam – auf der Basis seiner Entdeckung des Evangeliums – eine eschatologische Neuprägung. Diese soteriologische Neuinterpretation stand vollkommen außerhalb pagan-antiker Vorstellungsmuster. Sie konnte gerade in einer Zeit, die sich nach Erlösung sehnte, aber besonders populär werden.68 Biblische eschatologische Tradition, die bei Cyprian angesichts der Christenverfolgungen ohnehin beliebt war,69 und die damit verbundenen Vorstellungen vom jüngsten Gericht und pagane Verhaltensmuster wurden somit vor dem Hintergrund der ausgeprägten Erlösungssehnsucht der Zeit auf eine nahezu geniale Weise verbunden.70 Wer jetzt Almosen gab, sollte zukünftig Heil erlangen!
Schluss Kann man bei Cyprian von einer Entdeckung des Evangeliums reden? In jedem Fall rekurrierte der nordafrikanische Bischof bei seiner Begründung von Almosen stark auf die biblische Botschaft. Diese interpretierte er als wegweisend in einer sich nach Erlösung sehnenden Gesellschaft. Zentral ist für ihn der Gedanke, dass das Almosen letztlich eine angemessene Antwort auf Gottes Heilshandeln darstellt.71 Cyprian bleibt allerdings nicht bei einer theologisch enggeführten Begründung des Almosens stehen.72 Er brachte das Evangelium vielmehr in enge Korrelation zum römisch-hellenistischen Ethos.73 Ob man dabei von einer Hellenisierung des Christentums oder nicht vielmehr von einer Christianisierung des Hellenismus sprechen muss, kann und sollte diskutiert werden. Indem Cyprian Almosen gleichsam als Bußleistung verstand, förderte er – wohl eher ungewollt als gewollt – eine Art von Werkgerechtigkeit, die letztlich zu den zentralen Diskussionen im Refor 68 Zur eschatologischen Haltung Cyprians seit 251 n. Chr., vgl. Alföldy, Sozialgeschichte, 269. Zur Adaption des Prinzipes do ut des im missionarischen Kontext auch noch in späterer Zeit vgl. König, Daniel: Bekehrungsmotive. Untersuchungen zum Christianisierungsprozess im römischen Westreich und seinen romanisch-germanischen Nachfolgern (4.–8. Jahrhundert), Husum 2008, 100–129 (HS 493). 69 Zur Eschatologie und deren Verhältnis zur Paränese bei Cyprian vgl. Noormann, Salutem, 257–290; 360; 106–112. 70 Auch Puzicha, Christus peregrinus, 140–178 hebt die eschatologische Motivation für die Begründung der Barmherzigkeit hervor. Dabei weist sie allerdings nicht auf die enge Verschränkung mit paganen Argumentationsmustern hin. 71 Poirier, Cyprien, 50 formuliert zugespitzt: „Dieu est à l’origine de l’aumône et de la bienfaissance.“ 72 So Poirier, Cyprien, 52: „L’initiative de l’aumône n’est pas à chercher dans ce traité du côté de l’homme, de sa philanthropie naturelle ou de son effort ascétique ou moral, mais du côté de la clementia salvatrice de Dieu. […] Elle sort de Dieu et va à Dieu, elle relève totalement de la theologie.“ 73 Dieser bei Cyprian vorgezeichnete Weg wird im 4. Jahrhundert fortgeführt und vertieft, vgl. etwa Finn, Almsgiving, 221–257.
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mationszeitalter führte. Insofern war Cyprians Entdeckung des Evangeliums zwar kein karthagensisches Turmerlebnis, wohl aber eine Adaption des Evangeliums in seine Zeit mit einer langen Wirkungsgeschichte.
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Volker Leppin
Sola gratia – sola fide Rechtfertigung nach der Römerbriefauslegung des Petrus Lombardus
1905 hat Heinrich Suso Denifle einen materialreichen Anhangsband zu seiner großen Lutherbiographie vorgelegt,1 der vor allem dem Nachweis diente, dass Luthers reformatorische Entdeckung keineswegs so neu gewesen sei, wie dieser selbst und ihm folgend die Lutherforscher behaupteten, dass vielmehr „alle“ Römerbriefausleger seit dem Ambrosiaster die Stelle Röm 1,17 „vom rechtfertigenden Gott und seiner rechtfertigenden Gnade, von der Gerechtigkeit des Glaubens verstanden haben“.2 Dieser Veröffentlichungskontext hat freilich dazu geführt, dass die vorgetragenen Beobachtungen kaum als ernsthafter Forschungsbeitrag gewürdigt wurden. Zu sehr war das, was in ihnen als wissenschaftliche Leistung vorlag, von Denifles polemischem Bemühen ummantelt, Luthers reformatorischer Entdeckung mit der Originalität zugleich die moralische Integrität und theologische Seriosität zu bestreiten.3 So gab sich die evangelische Lutherforschung nicht viel Mühe, Denifles Anstöße ernsthaft als solche zu begreifen und wischte sie mit dem Hinweis beiseite, Luther habe „nicht in erster Linie die Bibelausleger, sondern die Systematiker im Auge“ gehabt, als er in seiner Erinnerung an die reformatorische Entdeckung4 davon sprach, er sei gewohnt gewesen, Gerechtigkeit nur als iustitia distributiva zu begreifen.5 1 Denifle, Heinrich: Quellenbelege. Die abendländischen Schriftausleger bis Luther über Justitia Dei (Röm. 1,17) und Justificatio. Beitrag zur Geschichte der Exegese, der Literatur und des Dogmas im Mittelalter, Mainz 1905; zu Petrus Lombardus: 56–64. 2 Denifle, Heinrich: Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung, 2. Aufl. hg. v. Albert Maria Weiß, Mainz 1906, 424. 3 Eine Einordnung und kritische Würdigung von Denifles Lutherforschung findet sich bei Körner, Bernhard: Pater Heinrich Denifle, Martin Luther und die Reformation, in: Sohn, Andreas u. a. (Hgg.): Heinrich Suso Denifle (1844–1905). Un savant dominicain entre Graz, Rome et Paris. Ein dominikanischer Gelehrter zwischen Graz, Rom und Paris, Paris 2015, 245–261. 4 Zur Fraglichkeit einer Rekonstruktion von Luthers Entwicklung anhand des Rückblickes von 1545 s. Leppin, Volker: „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in: ders.: Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation, Tübingen 2015, 261–277 (SMHR 86); Hamm, Berndt: Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Bultmann, Christoph/Leppin, Volker/Lindner, Andreas (Hgg.): Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007, 111–151, hier: 112–114 (SMHR 39). 5 So Holl, Karl: Die iustitia dei in der vorlutherischen Bibelauslegung des Abendlandes, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Band 3: Der Westen, Tübingen 1928, 171–188.
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Nun gibt es genug Gründe zu fragen, ob die Unterscheidung von Systematik und Exegese für das Mittelalter oder die Reformationszeit überhaupt angemessen ist. Allein schon deswegen scheint es sinnvoll, Denifles Hinweisen im Einzelnen nachzugehen und die mittelalterlichen Kommentare zum Römerbrief eingehend zu analysieren. Dies ist bislang noch nicht geschehen – was bedeutet: In unserer Kenntnis der Römerbriefauslegung des Mittelalters klafft noch eine erhebliche Lücke.6 Die vorliegende Studie kann nur an einem Punkt versuchen, die Richtung anzudeuten, in welche weitere Untersuchungen gehen müssen.7 Sie widmet sich dem Römerbriefkommentar des Petrus Lombardus. Dieser ist Teil einer umfassenden und außerordentlich einflussreichen8 Paulinenkommentierung des Petrus Lombardus auf Grundlage der Glossa ordinaria9, für deren Auswertung methodisch bedeutsam ist, dass in ihr die eigene Position des Lombarden deutlicher erkennbar ist, als in den meisten Passagen der Sentenzensammlung: Diese bietet ja vorwiegend eben die Aussagen der Väter, während Petrus Lombardus in dem Kommentar, freilich gebunden an den biblischen Text und unterfüttert wiederum durch zahlreiche Väter Allerdings folgen dann doch noch einige Seiten, in denen Holl innerhalb eines ganz von seinem Lutherverständnis geprägten Rasters versucht, die Differenzen zwischen mittelalterlicher und reformatorischer Schriftauslegung hervorzuheben; dies nimmt auf Hirsch, Emanuel: Initium Theologiae Lutheri, in: Lohse, Bernhard (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968, 64–101, hier: 64 (WdF 123). 6 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet allerdings Peppermüller, Rolf: Abaelards Auslegung des Römerbriefes, Münster 1972 (BGPhTh. NF 10). 7 An einer umfassenden Dissertation über die Rechtfertigungslehre in Pariser Römerbriefkommentaren des Mittelalters arbeitet derzeit Jonas Frank, Tübingen. Dem Gespräch mit ihm verdanke ich wichtige Anregungen für diese Studie, insbesondere auch Hinweise auf die Zusammenhänge zwischen der Römerbriefauslegung des Lombarden und der Abaelards. 8 S. Affeldt, Werner: Die weltliche Gewalt in der Paulus-Exegese. Röm 13,1–7 in den Römerbriefkommentaren der lateinischen Kirche bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Göttingen 1969, 156 [FKDG 22]. Auch Holl, 181, gesteht zu, dass Denifle die Bedeutung des Lombarden für die Römerbriefauslegung zu Recht hervorgehoben habe, dieser sei „der maßgebende Mann für die Folgezeit“ geworden; zum Einfluss auf Luther s. die Bemerkungen von Jun Matsuura in AWA 9, CXXIX: „Somit steht fest, daß Luther […] bereits im Herbst 1509 zum Kommentar des Lombardus zu Rm 1,17 gegriffen hat“. Grundlage hierfür war die Magna glossatura, mit der Paulusexegese des Lombarden (ebd. CXXVIII; zu der Rolle der Auslegung des Lombarden als Glossatura magna. S. Colish, Marcia L.: From Sacra pagina to theologia: Peter Lombard as an Exegete of Romans, Medieval Perspectives 6 [1991], 1–19, hier: 1). 9 Zier, Mark: Peter Lombard and the Glossa Ordinaria: A Missing Link?, in: Pietro Lombardo. Atti del XLIII Convegno storico internazionale, Spoleto 2007, 360–409, hat den bemerkenswerten Nachweis geführt, dass die ältere Annahme, die Collectanea f. des Lombarden seien eine bloße Bearbeitung der Glossa ordinaria s. Affeldt, 158; Matsuura AWA 9, CXXVIII, den Sachverhalt nicht trifft. Zier weist eine weitgehende textliche Interdependenz zwischen dem Pauluskommentar des Lombarden und der Glossa ordinaria nach. Nach seiner Studien hat Petrus Lombardus sich zunächst des Materials der ersten Redaktion der Glossa ordinaria bedient, wurde dann aber „a principal source“ für deren weitere Bearbeitung (a. a. O. 380 f). Dessen ungeachtet war der Kommentar als „Magna glossatura“ außerordentlich verbreitet (s. Nilgen, Ursula: Die frühen illuminierten Lombardus-Kommentare zum Psalter und zu den Paulusbriefen, in: Berndt, Rainer [Hg.]: Bibel und Exegese in der Abtei Saint-Victor zu Paris. Form und Funktion eines Grundtextes im euro päischen Rahmen, Münster 2009, 391–419, hier: 394).
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zitate, seine eigene Deutung des Paulus fortlaufend präsentiert.10 Treffend fasst Philipp W. Rosemann zusammen: „In this work, we encounter the Lombard as it were torn between sacra pagina and systematic theology, that is to say, between the traditional mode of reflection on the faith, guided as that mode was by the narrative of the faith in a logical system of doctrine“.11 Die traditionelle, auch in die Edition in der Patrologia Latina12 eingegangene Textfassung der Pauluskommentierung von Petrus Lombardus entstammt einer Zeit nach 1154.13 Die erste Redaktion allerdings ist etwas älter und wohl wenige Zeit nach dem kurz vor dem Palmsonntag (4. April) 1148, im Anschluss an die in Reims von Eugen III. geleitete Synode, über Gilbert von Poitiers abgehaltenen Konsistorium14 entstanden.15 Damit wäre sie etwas älter als die Sentenzensammlung, die wahrscheinlich in den Jahren 1155–1158 redigiert wurde,16 und gut ein Jahrzehnt jünger als der Römerbriefkommentar Abaelards.17 Die Sentenzen sind also nur begrenzt zur Interpretation heranzuziehen beziehungsweise umgekehrt sind 10 Einen interessanten Vergleich zwischen der Auslegung in den Kommentaren und in der Sentenzensammlung hat Dahan, Gilbert: Le Livre des Sentences et l’exégèse biblique, in: Pietro Lombardo. Atti del XLIII Convegno storico internazionale, Spoleto 2007, 333–360, hier: 356–360, angestellt, und dabei insbesondere den Unterschied zwischen „exégèse complète“ in den Kommentaren und „certains éléments de cette exégèse dans les sentences“ hervorgehoben (357). 11 Rosemann, Philipp W.: Peter Lombard, Oxford 2004, 45; vgl. ähnlich schon Colish: Peter Lombard, 193. 12 Für den Römerbrief: PL 191, 1301–1534. 13 Dies geht aus der Benutzung der Schrift De fide orthodoxa des Johannes Damascenus hervor, die Petrus Lombardus erst auf einer Romreise 1154 kennenlernte (Magistri Petri Lombardis Sententiae in IV Libris distinctae. Bd. 1, Teil 1: Prolegomena, Quaracchi 1971 [SpicBon IV], 63*). 14 S. zu diesen Vorgängen, insbesondere der zeitlichen Trennung des Konsistoriums vom Konzil, Pelster, Franz: Petrus Lombardus und die Verhandlungen über die Streitfrage des Gilbertus Porreta in Paris (1147) und Reims (1148), Miscelanea Lombardiana, Novara 1957, 65–73, hier: 67, der ebd. 69 f, auch nachweist, dass Petrus Lombardus selbst bei dem Konzil zugegen war. 15 Zur Argumentation und den Bezügen auf Gilbert s. Sententiae Prolegomena 85*–88*. Die ältere Redaktion ist in zwei vatikanischen und zwei Pariser Manuskripten erhalten (ebd. 65*– 68*). Eine kritische Edition, die diese zu berücksichtigen hätte, steht noch aus. Angesichts der deutlichen Verweise auf Gilbert Poreta wird man die Angabe, die Pauluskommentare seien 1140 entstanden (PETRI LONGOBARDI, Magistri Sen-| tentiarum, Parisiens. quondam Episcopi in omnes | D. Pauli Apost. Epistolas COLLECTANEA F.,| ex DD. Augustino, Ambrosio, hieronymo, aliisque | nonnullis S. scripturae primariis Interpretibus, summar arte diligentiaque contexta, Paris: Erben Jodocus Badius Ascensius 1535, Titelbl.), zu korrigieren haben. Der früher übliche Verweis auf eine Notiz bei Gerhoch von Reichersberg im „Libellus de ordine donorum Spiritus Sancti“ über Petrus Lombardus, die zu einer Datierung vor 1142 führte (s. etwa Delhaye, Philippe: Pierre Lombard. Sa vie, ses oeuvres, sa morale, Montréal/Paris 1961, 21; ihm folgend Affeldt, 156), ist nach den Darlegungen Sententiae Prolegomena 83* nicht zwingend, da er sich lediglich in einem 1168 geschriebenen und vielfach bearbeiteten Kodex befindet und vermutlich als spätere Hinzufügung zum Original Gerhochs zu identifizieren ist. 16 Sententiae Prolegomena 32*. 17 Rolf Peppermüller datiert den Römerbriefkommentar Abaelards in Abaelard, Expositio in epistolam ad Romanos/Römerbriefkommentar, übers. u. eingel. von Rolf Peppermüller, Bd. 1, Freiburg u. a. 2000 (FC 26/1), 23, auf ca. 1133/37. Zu den Bemühungen der Gelehrten des 12. Jahr-
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die Pauluskommentare als wichtige Voraussetzung für die Entstehung der Sentenzen zu betrachten.
Iustitia und iustificatio im Verständnis des Lombarden Bemerkenswert ist die Definition von Gerechtigkeit, die Petrus Lombardus zur Auslegung von Röm 1,17 bietet: „Haec est iustitia dei, quæ in testamento veteri velata, in nouo reuelatur. Quae ideo iustitia dei dicitur, quia impartiendo eam iustos facit.“18
Den in der Wendung „impartiendo eam“ ausgedrückten Gedanken, dass die Gerechtigkeit in erster Linie etwas ist, an dem Gott als Subjekt den Menschen Anteil gibt, hat der Lombarde wörtlich von Haimo von Auxerre übernommen19, dem er überhaupt sehr viel verdankt. Wie die Aufnahme von De spiritu et littera 3220 in die Sentenzensammlung zeigt, war Petrus Lombardus sich wenigstens später auch dessen bewusst, dass er mit diesem Gedanken einer Gerechtigkeit, die sich in der Gerechtmachung des Menschen erweist, mit Augustin einigging. Entsprechend hat Petrus Lombardus die Vorstellung, dass die Gerechtigkeit zuteilende Gerechtigkeit sei, auch in die Sentenzensammlung aufgenommen: „Sic etiam dicitur iustitia Dei non solum illa qua ipse iustus est, sed etiam illa quam dat homini cum iustificat impium.“21
Mit Rolf Peppermüller kann man sogar sagen, dass ein solches Verständnis der Gerechtigkeit Gottes im Frühmittelalter jedenfalls bei der Auslegung von Röm 1,17 der Normalfall war und Abaelard mit seiner Vorstellung von der iustitia als Vergeltung nach den Werken eine Sonderstellung einnahm22. hunderts um eine literale Analyse des Paulus s. Colish, Marcia L.: Peter Lombard as an Exegete of St. Paul, in: Jordan, Mark D./Emery Jr., Kent (Hgg.): Ad litteram. Authoritative Texts and Their Medieval Readers, Notre Dame/London 1992, 71–92, hier: 72. 18 Petrus Lombardus, Collectanea f. VIvD; PL 191, 1323A. 19 Haimo von Auxerre: Expositio in D. Pauli epistolas (als Haimo von Halberstadt: PL 117, 372D; vgl. zur Identifikation als Haimo von Auxerre aus dem 9. Jahrhundert Affeldt, 121). Die Stelle fand keinen Eingang in die Sentenzensammlung (s. Petri Lombardi Sententiae in IV libris distinctae. Bd. 1, Bd. 2, Grottaferrata 1971 [Spicilegium Bonaventurianum 4], 597; Grottaferrata 1981 [Spicilegium Bonaventurianum 5], 584). 20 Augustin, De spiritu et littera c. 32, Nr. 56: „sicut iustitia Dei, qua iusti eius munere efficimur“ (CSEL 60, 215,11 f; vgl. mit leichten Abweichungen Lombardus, Sentenzen 1, 149,11). 21 Lombardus, Sententiae l. 3 d. 35 c. 3 (134) (Lombardus, Sententiae 2, 201,23–25); vgl. hierzu Johann Schupp: Die Gnadenlehre des Petrus Lombardus, Freiburg 1932, 28 (Freiburger Theologische Studien 35). 22 Peppermüller, 121. Allerdings gibt es im Psalmenkommentar auch bei Petrus Lombardus eine solche Vorstellung von der vergeltenden Gerechtigkeit: „Et nota, quod quatuor sunt retributiones. Retribuuntur enim mala pro malis aut bona pro bonis, vel bona pro malis, vel mala pro bonis.
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Die damit bestimmte Verwurzelung der Gerechtigkeit in Gott begründete der Lombarde auch grammatisch, freilich nicht ganz eingängig: So wie die fides Christi nicht die sei, „qua credit Christus“, so sei auch die iustitia Dei nicht einfach diejenige, „qua iustus est Deus“23. Während aber die erste Konstruktion sich ohne Weiteres als Genitivus obiectivus auflösen lässt, gilt dies für die iustitia Dei nicht, in welcher anstelle des von Petrus Lombardus hier offenbar bestrittenen Genitivus possessivus ja ein Genitivus auctoris treten müsste, da Petrus Lombardus gerade den Ursprung der Gerechtigkeit in Gott hervorheben will.24 Den Vorgang der Zuteilwerdung der Gerechtigkeit rückte Petrus so in den Mittelpunkt, dass er die iustitia Dei geradezu als iustificatio, und zwar als „iustificatio qua iustificamur“ beschreiben konnte.25 Diese ist, dem Ambrosiaster folgend,26 eine solche iustificatio, welche ihrerseits durch die Gabe des Glaubens an die Verheißungen Gottes erfolgt: Ausdrücklich gilt: Gott „dat fidem homini per quam iustificatur, qui credit deum iustum et veracem in promissis.“27 Der Glaubensbegriff hat dabei, angeleitet durch die Wendung „ex fide in fidem“ in Röm 1,17 und wiederum Ambrosiaster folgend, eine doppelte Konnotation: Dieser hatte die fides Dei als des Verheißenden und die fides hominis, der eben dieser Verheißung glaubt,28 unterschieden, und eben dies nahm Petrus Lombardus auf:29 Glaube ist demnach ein interdependenter Vollzug, der seinen Grund in einem von Gott her begründeten Treueverhältnis besitzt30 und vom Menschen adäquat erwidert wird. Dies geht sogar so weit, dass im Vorgang der Rechtfertigung nicht allein der Mensch gerecht wird, sondern auch Gott sich im Glaubenden als gerecht erweist: „quia in credente iustus apparet deus“.31 Damit wird auch deutlich, dass die Anteilhabe an der Gerechtigkeit Gottes nicht unbedingt eine effektive Gerechtwerdung ausdrücken Duae priores pertinent ad justitiam, tertia ad misericordiam. Quartam nescit Deus“ (PL 191, 1053C; vgl. Schupp, 27 f). 23 Petrus Lombardus, Collectanea f. XVIIrA; PL 191, 1360C. 24 So ist beim Lombarden zwar eine nicht ganz exakte Argumentation zu finden, Holl, 182, überzieht dies aber, wenn er in diesen Überlegungen „Widersprüche“ identifiziert. 25 Petrus Lombardus, Collectanea f. XVIIrA; PL 191, 1360C. 26 Ambrosiaster, Commentaria in epistolam ad Romanos: „Quae ex Deo est iustitia in fide, ipsam iustitiam dicit revelari in Evangelio; dum donat homini fidem per quam iustificetur“ (PL 17, 58C). 27 Petrus Lombardus, Collectanea f. VIvD; PL 191, 1323A. Der zweite Teil der Formulierung begegnet fast wörtlich bei Lombardus’ Zeitgenossen Herveus von Bourg-Dieu: „Quam revelat Evangelium, dum dat fidem homini, per quam iustificatur qui credit Deum iustum et veracem in promissis“, (PL 181, 608B). 28 Ambrosiaster, Commentaria in epistolam ad Romanos: „Ex fide in fidem. Quid aliud est, ex fide in fidem, nisi quia fides Dei est in eo, quod de se repromisit; et fides hominis, qui credit promittenti; ut ex fide Dei promittentis in fidem hominis credentis“ (PL 17, 58C-D). 29 Petrus Lombardus, Collectanea f. VIvD.; PL 191, 1323B : „Ex fide in fidem, quasi dicat, iustitia dei revelatur, tendens ex fide dei promittentis in fidem hominis, qui credit ei“; vgl. Glossa ordinaria, wo zur Stelle ebenfalls die Formulierung „ex fide […] promittentis in fidem hominis qui credit ei“ erscheint (PL 114, 471D). 30 Vgl. in diesem Sinne auch Schupp, 28. 31 Petrus Lombardus, Collectanea f. VIvD; PL 191, 1323B.
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muss: Der Lombarde kann auch Augustins Formulierung aufnehmen: „iusti habebuntur, iusti deputabuntur“.32
Sola gratia Dieses Verständnis von Gerechtigkeit drückt eine solche Präponderanz Gottes aus, dass es nicht erstaunen kann, dass Petrus Lombardus die Rechtfertigung als reines Gnadengeschehen fasst: „Iustitia dei est, qua gratis iustificat“.33 Entsprechend gilt: „Vita autem aeterna, quae est finis iustorum sola dei gratia datur“.34 Dieses Sola gratia ist im Blick auf jegliches Handeln des Menschen allumfassend: In Auslegung von Röm 5,15 bietet Petrus Lombardus die zunächst etwas irritierende Redeweise von einer „causa Christi“ und einer „causa Adae“.35 Da als causa Adae das peccatum originale angegeben wird, kann es sich hierbei nicht um eine Wirkursache für die jeweils im Genitiv genannten Personen handeln. Eher geht es offenbar aufgrund des biblischen Verses, der von der Ursächlichkeit Adams für den Tod vieler spricht („unius delicto multi mortui sunt“), um die durch die jeweilige Person hervorgerufene Ursache für die Folgewirkungen. In diesem Sinne wäre dann das peccatum originale die von Adam selbst hervorgerufene Ursache des Todes vieler, und, da als causa Christi die „gratia abundans“ genannt wird, diese die von Christus hervorgerufene Ursache für das Leben.36 Eben dieses aber äußert sich nun als bona: Die gratia abundans ist jene, „ex qua omnia bona sunt homini, sine qua nil habet boni“.37 Der Mensch also wird in seiner urständlichen Verfassung ganz auf die Seite des Nichtguten gestellt und nur durch die Gnade in den Status versetzt, in irgendeiner Weise am Guten zu partizipieren. Der Gedanke eines aus dem natürlichen Menschen kommenden Gutes ist Petrus Lombardus gänzlich fremd, da der natürliche Mensch hier nur als durch die Sünde verdorbener Mensch existiert: Die natura depravata macht uns gemäß Eph 2,3 zu filii irae.38 Petrus wendet damit eine glaubenstheologische Aussage Prospers von Aquitanien, die ihm durch Haimo von 32 Ebd. XIIvD; PL 191, 1346C; vgl. Augustin, De spiritu et littera c. 26,45 (CSEL 60, 199, 24 f). 33 Ebd. VIvD; PL 191, 1323A; vgl. ebd.: „Et hoc est, quod ait, Iustitia enim dei reuelatur in eo, scilicet euangelie. Iustitia dei est qua gratis iustificat impium per fidem sine operibus legis“; vgl. hierzu wiederum Ambrosiaster. Commentaria inn epistolam ad Romanos : „Iustitiam Dei dicit, quia gratis iustificat impium per fidem“ (PL 17, 58C). 34 Ebd. XXXIvF; PL 191, 1412A–B; vgl. in der Glossa ordinaria: „Vita autem aeterna, quae est finis iustorum sola gratia datur per Christum“ (PL 114, 489D). 35 Ebd. XXVIrB; PL 191, 1393A. 36 Ebd. XXVIrB; PL 191, 1393A, wo für Adam mortificare, für Christus vivificare verwendet wird. 37 Ebd. XXVIrB; PL 191, 1393A; vgl. ebd. XVIIIrB; PL 191, 1365B: „vbi fides non erat, bonum opus non erat“. Der Gedanke, dass die fides „omnium bonorum est fundamentum“, findet sich so bereits bei Abaelard (s. Abaelard, Expositio in epistolam ad Romanos/Römerbriefkommentar, übers. u. eingel. von Rolf Peppermüller. Bd. 3, Freiburg u. a. 2000 [FC 26/3], 844,8 f); vgl. hierzu Peppermüller 80. 38 Petrus Lombardus, Collectanea f. XXIIIvF; PL 191, 1385B.
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Auxerre vermittelt worden war, christologisch. Prosper hatte laut Haimo erklärt: „Fides enim est iustitiae fundamentum, quam nulla opera bona praecedunt, et ex qua omnia bona“.39 In Auslegung der Röm-Stelle benannte der Lombarde anstelle der fides die an Christus gebundene Gnade als Ursache alles Guten, was die Aussage über den bei Haimo beziehungsweise Prosper gegebenen Bereich ethischen Handelns hinaus ausdehnte und die Möglichkeit, auch das Gute in der Schöpfung auf die gratia zurückzuführen, jedenfalls eröffnete. Entsprechend ist für Petrus Lombardus auch die Alleinigkeit Christi als des Erlösers fester Bestandteil der Theologie, insofern die fides sana darin besteht, zu glauben, dass keinem Menschen das Heil zukommt, „nisi per vnum mediatorem dei, et hominum, hominem Christum Iesum“,40 weswegen auch der vor der Inkarnation lebende Mensch ausdrücklich durch den Glauben an Christus „in carne venturum“ erlöst werde.41 Zu diesem grundsätzlich Gutes wirkenden Gnadenhandeln Gottes gehörte nun aber selbstverständlich der Bereich des Menschen in vorderster Linie hinzu, auf den sich der Gnadenwillen Gottes vermittels der Prädestination richtet, die ihrerseits als einfache Prädestination ausschließlich Gnadenhandeln Gottes ist: „proprie autem praedestinatio est praescientia et praeparatio beneficiorum dei, quibus certissime liberantur quicuncue liberantur. Praedestinatio igitur est gratiae praeparatio, quae sine praescientia esse non potest“42
So erklärte Petrus Lombardus, die Beobachtung, dass schon in der Anfangspassage des Römerbriefes, Röm 1,1–7 die Rede von der Gnade mit der von der Prädestination verbunden war, insofern in Röm 1,4 vom „praedestinatus […] Filius Dei“ die Rede ist. Ihr folgend erklärte er Christus zum fons gratiae, aus welchem die Gnade in alle Glieder ausströmte43. Damit war grundsätzlich schon die Christwerdung eines jeden Menschen nur als Ausfluss der Gnade denkbar,44 und ebenso auch das Heil des Menschen, das sich ausschließlich den Werken Christi verdankt: „Et illum ergo et nos praedestinauit, quia et in illo vt esset caput nostrum, et in nobis vt eius corpus essemus, non pręcessura merita nostra, sed opera future sua praesciuit. Haec se deus esse facturum profecto ab ęterno praesciuit. Ipsa est igitur praedestinatio sanctorum, quae in sancto sanctorum maxime claruit.“45 39 Haimo, De varietate librorum II,14 (PL 118, 896C). Bei Prosper ließ sich die Aussage nicht verifizieren, aber bei Ambrosius von Mailand: „Fundamentum ergo est iustitiae fides“ (Ambrosius, De officiis ministrorum [PL 16, 70A]). 40 S. Petrus Lombardus, Collectanea f. XXVIIrC; PL 191, 1396D. 41 S. ebd. XXVIIrC; PL 191, 1396D. 42 Ebd. XLIIvD; PL 191, 1449C; die Rede von der Prädestination als gratiae praeparatio entstammt Augustin, s. Augustin, De praedestinatione sanctorum: „Inter gratiam porro et praedestinationem hoc tantum interest, quod praedestinatio est gratiae praeparatio, gratia vero iam ipsa donatio. “ (PL 44, 974). 43 Petrus Lombardus, Collectanea f. IIvF; PL 191, 1309C. 44 Petrus Lombardus, Collectanea f. IIvF; PL 191, 1309C: „Ita enim ab initio fidei suae homo quicumque gratia fit christianus, sicut gratia homo ille ab initio factus est Christus.“ 45 Ebd. IIvF; PL 191, 1309C.
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Der Gebrauch der Präpositionen: non […] merita nostra, sed opera […] sua macht deutlich, dass allein das Handeln Christi Grundlage der Prädestination der Christinnen und Christen ist, diese also sich ausschließlich dem Gnadenhandeln Gottes verdankt46 – wobei die voluntas des Menschen aus dem durch das Gesetz aufgewiesenen Stand der Schwäche zu neuer Kraft geformt wird47. Die Selbstreferentialität von Gottes Gnadenhandeln drückt der Lombarde in einem Ambrosiasterzitat aus: „Miserebor cui misertus ero, id est illius miserebor vocando et gratiam apponendo, cui praescius eram, quod misericordiam daturus essem“.48 So erfolgt die Prädestination, wie Petrus Lombardus zu Röm 8,27 f, erklärt, „Secundum propositum dei, id est secundum praescientiam et praedestinationem“.49 Die theologische Zuspitzung geht sogar noch weiter, insofern Petrus Lombardus an der oben zitierten Stelle wohlweislich zwischen merita und opera unterscheidet. Selbst Christus nämlich sind keine praecedentia merita zuzuschreiben, ja, das Heil „Neque enim Christo tributum est, nec nobis pro aliquot merito“, sondern erfolgt ganz aus Gnade: „gratis tributum est“.50
Sola fide Die Auffassung von Prädestination, wie der Lombarde sie entfaltet, lässt offenkundig meritorisches Denken nicht zu. Dies gilt nicht allein, wie es in manchen Formulierungen erscheint, für merita, die vor der iustificatio ausgeschlossen sind, wenn Petrus Lombardus etwa erklärt: „Iustificari ex fide, non ex lege, non ex nobis, id est non propter aliquod meritum nostrum quod praecesserit fidem“.51 Doch gibt es auch deutlich radikalere Formulierungen, wenn er etwa erklärt, dass Gott „sine meritis alterum elegit et alterum odit“.52 Folglich gilt: „Humana igitur merita conticescant hic.“53 Angesichts dessen wird sogar der Gedanke eines Gerichtes nach den 46 Im vorliegenden Zusammenhang von geringerer Bedeutung ist die Unterscheidung von Präszienz und Prädestination, die der Lombarde hier vornimmt, indem er die Präszienz der zukünftigen Werke Christi zur Grundlage der Prädestination der Glaubenden erklärt, so dass diese Prädestination allem Handeln gegenüber vorgängig ist und doch das Handeln Christi mehr ist als der bloße Vollzug von Prädestiniertem. 47 Petrus Lombardus, Collectanea f. XVIIrC; PL 191, 1361C: „Non igitur iustificati sunt per legem, non per propriam voluntatem, sed per gratiam Christi: non quod sine voluntate nostra fiat, sed voluntas nostra ostenditur infirma per legem, vt sanet gratia voluntatem“. 48 Ebd. XLVrC; PL 191, 1459C; vgl. Ambrosiaster, Commentaria in epistolam ad Romanos: „Moysi enim dicit: Miserebor cui misertus ero: et misericordiam praestabo, cui misericordiam praestitero. Ergo misericordia, miserebor, inquit, eius cui misertus ero, hoc est, eius miserebor, cui praescius eram quod misericordiam daturus essem“ (PL 17,142D). 49 Petrus Lombardus, Collectanea f. XLIIrB; PL 191, 1448C. 50 Ebd. XLIIIrA; PL 191, 1310A. 51 Ebd. XXIIrA; PL 191, 1378C; vgl. auch ebd. XVIIrA; PL 191, 1360B: „iustificans eum, qui ex fide est Iesu Christi“. 52 Ebd. XLVrB; PL 191, 1459B. 53 Ebd. IIvF; PL 191, 1310A.
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Werken fraglich: Nach ihren Werken werden nur die Ungläubigen beurteilt, denjenigen aber, die Gott befreit, „non reddit secundum opera sua“.54 Dass gleichwohl weder Werke noch Verdienste aus diesem Denken gänzlich ausgeschlossen sind, machen im selben Zusammenhang Äußerungen über die Verworfenen deutlich, denn im Blick darauf, dass diese nach ihrem Tod keine Verdienste mehr ansammeln können, erklärte der Lombarde: „Nullus enim meretur nisi dum in corpore est“.55 Die irdische Existenz ist so für den Erwerb eines Verdienstes geöffnet, freilich auf eine Weise, die ihrerseits jedenfalls den Gedanken eines irgendwie vor Gott zu bringenden eigenen Verdienstes nicht mehr zulässt. Was bleibt, ist der Glaube, und zwar ausdrücklich der Glaube allein: „sed sola fide sine operibus praecedentibus fit homo iustus“.56 Eben dies, dass der Glaube Vorbedingung jeder Rechtfertigung ist, gilt auch für Juden, weswegen das Gesetz, das der Lombarde, auch etwa dort, wo er betont, dass es keine Gerechtigkeit ex operibus legis gebe,57 durchweg als das alttestamentliche Gesetz versteht, keine Bedeutung mehr haben kann58. Der Glaube ist gemäß Hebr 11,1 im Gefolge Abaelards59 auf das bezogen, was wir nicht sehen, ja, in einer weiteren Deutung der Formulierung „ex fide in fidem“ neben der oben angeführten, kann der Lombarde auch erklären, Paulus meine hiermit eine Entwicklung von dem Glauben, der sich jetzt noch auf Verborgenes richtet, zu dem himmlischen Glauben, in welchem das Geglaubte erfasst und wahrhaft genossen wird.60 Das, worauf sich der Glaube hier auf Erden richten kann, ist zunächst personal Christus selbst. Zum Glauben an ihn aber lädt das Evangelium ein,61 das nun für und neben Christus ein solches Gewicht zugesprochen bekommen kann, dass auch das Evangelium selbst zu jener „virtus Dei“ wird, die die Sünden vergibt und, indem sie die Gerechtigkeit als Grundlage des Heils vermittelt,62 den Menschen vom zweiten Tod erlöst,63 so dass es „valens in salutem omni credenti“ genannt werden 54 Ebd. XIvD; PL 191, 1341A. 55 Ebd. XIvE; PL 191, 1341C. 56 Ebd. XVIIIrB; PL 191, 1365A; vgl. ähnlich die Glossa ordinaria: „sed sola fide sine operibus praecedentibus homo fit iustus“ (PL 114,481A). 57 Petrus Lombardus, Collectanea f. XVIvD; PL 191, 1358C-D. 58 Ebd. VIrC; PL 191, 1322C. 59 Abaelard, theologia Scholarium l.1, 1: „Est quippe fides existimatio rerum non apparentium, hoc est sensibus corporeis non subiacentium“ (Peter Abaelard : Theologia Scholarium. Lat.Dt., hg. v. Matthias Perkams, Freiburg u. a. 2010, 82 [Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 24]); vgl. Abaelard, Expositio 3, 660, 23 f „Quoniam fides de non apparentibus est“; vgl. Peppermüller, 81. Zu Bernhards Kritik an den Folgerungen Abaelards aus dieser Stelle s. Schult hess, Peter/Imbach, Ruedi: Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium, Zürich/Düsseldorf 1996,141 f. 60 Petrus Lombardus, Collectanea f. VIvE; PL 191, 1324A. 61 Ebd. VIrC; PL 191, 1322B. 62 Ebd. VIvD; PL 191,1360C. 63 Ebd. VIrC; PL 191, 1360C: „Euangelium igitur est virtus dei, quia inuitat ad fidem, et dat salutem omni credenti dum peccata remittit: et iustificat, vt a secunda morte detineri non valeat, signatus mysterio crucis.“
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kann64 – was der Lombarde zusätzlich dadurch erläutert, dass diese Verheißung allein den Glaubenden und niemand anderem gelte.65 Als Kraft ist das Evangelium aber in erster Linie verbal vermittelt, ja, gewinnt die Gestalt einer heilsbringenden doctrina evangelica.66 Vor diesem Hintergrund kann Petrus Lombardus auch das „Fides ex auditu“ aus Röm 10,17 aufgreifen und begründen: Nur wenn etwas ausgesprochen werde, könne es auch gehört und geglaubt werden.67 In einem Randgedanken zu Röm 3,27 erwägt der Lombarde sogar, dass es denkbar wäre, dass dieser rechtfertigende Glaube, sich nicht in Werken äußert. Hierzu dient ihm das Beispiel Abrahams, der Isaak nur opfern wollte, nicht aber tatsächlich opfern musste.68 So gilt auch für den Christen: „Nam fides que per dilectionem operatur, et si non fit in quo exterius operetur, in corde tamen seruiens fervensque servatur“.69 Freilich handelt es sich hierbei lediglich um Zugeständnisse mit deutlichem Ausnahmecharakter, insbesondere für die Situation, in welcher ein Glaubender nicht mehr die Zeit hat, tatsächlich gute Werke auszuführen.70 Leitend ist demgegenüber die Auffassung, in welcher Petrus Lombardus dem Jakobusbrief folgt: „Fides sine operibus mortua est“ (Jak 2,26). Dass die dem Glauben folgenden Werke nicht als Eigentätigkeit des Menschen zu verstehen sind, macht dabei der Umstand deutlich, dass es sich um „opera bona quae facimus in charitate“, handelt,71 die Liebe ihrerseits aber – wie die fides selbst – durch den Heiligen Geist im Menschen bewirkt worden ist.72 Als solche Gabe des Heiligen Geistes gestaltet sie den Glauben in lebendiger Weise neu: In Auslegung von Röm 1,17 legt Petrus Lombardus über die fides catholica73 dar: 64 Ebd. VIrC; PL 191, 1322D. 65 Ebd. VIrB-C; PL 191, 1322B. 66 Ebd. VIrB-C; PL 191, 1322D. 67 Ebd. LvE; PL 191, 1479C. 68 Ebd. XVIIIrB; PL 191, 1364D–1365A: „Iustificari per fidem sine operibus legis non quin credens post per dilectionem operari debeat, vt Abraham voluit filium immolare“. 69 Ebd. XVIIIrB; PL 191, 1364D; vgl. Abaelards Auslegung von Röm 3,22: „‚Iustitia‘, dico, habita super omnes fideles, hoc est: in superiori eorum parte, id est in anima, ubi tantum dilectio esse potest, non exhibitione operum exteriorum“ (Abaelard, Expositio 2, 276,3–6; vgl. Peppermüller, 85). 70 Petrus Lombardus, Collectanea f. XVIIIvF; PL 191, 1367B: „Ei vero qui non operatur id est qui non habet tempus operandi sicut Abraham habuit, Credenti autem in eum qui iustificat impium, id est si credit in Christum qui gratis peccata impio dimittit, Fides eius sola reputatur ad iustitiam, id est, sufficit ad iustitiam, quam opera non meruerunt“. 71 S. ebd. XVIvD; PL 191, 1358D. Dass die fides iustificans allein eine solche sein könne, die mit der caritas verbunden ist, war auch für Abaelard selbstverständlich, der erklärte, „cum apud Deum sola amantis fides ad iustitiam sufficiat“ (Abaelard, Expositio 2,304,3 f; vgl. Peppermüller, 83); vgl. zur Verwendung der Jak-Stelle in der Röm-Auslegung bei Abaelard Abaelard, Expositio 2, 456,18–20. 72 S. Petrus Lombardus, Collectanea f. XLIvF; PL 191, 1447E; Vgl. ebd. XXIIvE; PL 191, 1381B: „Haec autem charitas, vt ait apostolus, diffusa est in cordibus nostris per spiritum sanctum qui datus est nobis“. 73 Vgl. die Verwendung dieses Begriffs in diesem Zusammenhang bei Abaelard, Expositio 1, 134,5; vgl. hierzu Peppermüller, 81.
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„Fides enim qua creditur, cum charitate virtus est, et hoc est fundamentum omnium bonorum, in qua nemo perit. Haec fideles facit, et vere Christianos. Alia vero daemonum est, et nomine tenus Christianorum, nam et demones credunt, et contremiscunt. Haec est, informis qualitas mentis: quae dicitur informis, quia sociam non habet charitatem, quę est forma omnium virtutum.“74
Für das Verständnis dieser Passage ist zweierlei zu beachten: Erstens ist bemerkenswert, wovon der Lombarde die fides catholica als den lebendigen Glauben abgrenzt. Wenn der Gegenbegriff der Glaube der Dämonen ist, so liegt der Gegensatz offenbar zwischen einem bloßen Fürwahrhalten und einer existentiellen Aneignung, entsprechend der Unterscheidung, die Abaelard hier bereits vorgenommen hat: „Credunt itaque daemones quoque et reprobi Deum, credunt deo, sed non in Deum, quia non diligunt nec diligendo se ei incorporant, id est ecclesiae, quae eius corpus est.“75
Eine Umsetzung des lebendigen Glaubens in moralische Handlungen ist damit zwar impliziert und intendiert, steht aber weniger im Vordergrund als der Gegensatz des bloß Kognitiven zum Affektiv-Relationalen, das den christlichen Glauben auszeichnet. Zweitens aber, und bedeutsamer, zeichnet sich in diesen Äußerungen des Petrus Lombardus ein vorsichtiger Versuch ab, den an den Pariser Schulen allmählich eingeübten Gebrauch aristotelischer Kategorien auf das Verhältnis von fides und caritas76 anzuwenden:77 Für die Patristik stand außer Frage, dass die caritas die höchste aller Tugenden ist. So hatte Hieronymus sie als die „mater virtutum“ bezeichnet,78 Julian Pomerius sprach, ebenfalls im 5. Jahrhundert von ihr als „vita virtutum“,79 und Petrus Abaelard hatte sie in einem Hymnus gar als „virtutum […] consummatio“ bezeichnet.80 Vor diesem Hintergrund lag die Formulierung „forma virtutum“ nahe, zumal diese, freilich nicht auf caritas angewandt, schon 74 Petrus Lombardus, Collectanea f. VIvF; PL 191, 1324B; zu dieser Stelle als Ausdruck eines „augustinisme de bon aloi“ s. Delhaye, 53. 75 Abaelard, Expositio in epistolam ad Romanos/Römerbriefkommentar, übers. u. eingel. von Rolf Peppermüller. Bd. 2, Freiburg u. a. 2000, 304,17–20 (FC 26/2); vgl. zum Hintergrund der Vorstellung des Dämonenglaubens bei Augustin Peppermüller, Abaelards Auslegung 80. 76 Vgl. zum caritas-Verständnis von Petrus Lombardus Nielsen, Lauge A.: Peter Lombard in the theological Context of the 12th Century: the theological Virtue of Charity, in: Pietro Lombardo. Atti del XLIII Convegno storico internazionale, Spoleto 2007, 411–431. 77 Colish, Marcia L.: Peter Lombard. 2 Bde., Leiden u. a. 1994, 92 (Brill’s Studies in intellectual history 41), hebt die hervorragende Rolle des Lombarden für die Aufnahme des Aristoteles in die Theologie hervor: „In tackling the recalcitrant problem of theological language, and in clarifying his terms and using them with rigor and consistency, he goes farther toward the development of a practicable vocabulary than was achieved by any European thinker prior to the reception of Aristotle, which was to alter fundamentally the terms of the debate in the sequel“. 78 Hieronymus, Epistola 82,521 (Pl 22, 742). 79 Pomerius, Julian: De vita contemplativa c. 13 (PL 59, 493B). 80 Petrus Abaelard: Hymnus feria quarta ad Laudes (PL 178, 1784C); zum vor allem vom Verständnis als Kraft im Menschen geleiteten Verständnis der Liebe in Abaelards Römerbriefvorlesung s. Georges, Tobias, Quam nos divinitatem nominare consuevimus. Die theologische Ethik des Peter Abaelard, Leipzig 2005, 199–206 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 16).
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bei Augustin und Ambrosius begegnete,81 also ihrer Tradition nach nicht zwingend mit dem Aristotelismus verbunden war. Dass es nun aber dieser war, der für die Formulierung des Lombarden leitend wurde, zeigt die entgegengesetzte Formulierung „informis“, die einen technischen Gebrauch von forma im aristotelischen Sinne der Wesensgebung voraussetzt. Es scheint, dass Petrus Lombardus der erste war, der diese aristotelische Konzeption auf die caritas und ihre in 1 Kor 13,13 ausgedrückte Vorrangstellung gegenüber den beiden anderen theologischen Tugenden anwandte.82 Dass er sich damit aber in einem Trend der Aristotelisierung befand, zeigt der Umstand, dass dieselbe Kombination wenig später bei Alanus ab Insulis begegnet.83 Die Zuordnung von caritas und Formierung des Glaubens bei Petrus Lombardus ist also verstehbar als Teil des allmählichen Aristotelisierungsprozesses der Pariser Theologie im 12. Jahrhundert84 noch vor der umfassenden Aristotelesrezeption, die dann Ende des Jahrhunderts einsetzte. Entsprechend führt der Lombarde den Gedanken der fides informis auch als Erläuterung von Augustinzitaten in eigener Rede in Sent 3 d. 23 c. 4 ein: „Fides igitur quam daemones et falsi christiani habent, qualitas mentis est, sed informis, quia sine caritate est. Nam et malos fidem habere, cum tamen caritate careant, Apostolus ostendit.“85
So lässt sich also die begriffliche Aristotelisierung als Interpretation der Väter theologie verstehen und dient im vorliegenden Zusammenhang vor allem dazu, in der Paulusexegese dem Gedanken, dass der Glaube, der zur Rechtfertigung führte, nicht tot sein dürfe, aus der Jakobusexegese Geltung zu verschaffen, ohne die Alleinigkeit des Glaubens in Frage zu stellen.86 Zu diesem tritt auch die sakramentale Erlösung nicht in Konkurrenz, sondern in ein subsidiäres Verhältnis, insofern der Lombarde die Taufe als fidei sacramentum bestimmt, das für den parvulus bewirkt, was der Glaube für den adultus erlangt:87 Durch beides wird der impius zum pius, der infidelis zum fidelis,88 in der 81 Augustin: Opus imperfectum contra secundam responsionem Iuliani (PL 45, 1206); Ambrosius: Enarratio in psalmum XLIII (PL14, 1141C). 82 Auch Holl, 182, weist auf die Scharnierfunktion des Lombarden in dieser Frage hin. 83 Alanus de Insulis: Dicta alia (PL 210, 262B); vgl. zu der Rezeption antiker Philosophie bei Alanus ab Insulis, die sich noch weitgehend ohne direkten Bezug auf Aristoteles selbst vollzog, Dreyer, Mechthild: More mathematicorum. Rezeption und Transformation der antiken Gestalten wissenschaftlichen Wissens im 12. Jahrhundert, Münster 1996, 148–162 (BGPHThMA.NF 47). 84 Die allmähliche Form dieser Aristotelisierung bringt Schupp, 172, in seiner an Thomas von Aquin orientierten Darstellung auf den Begriff, wenn er dem Lombarden einen „Mangel an aristotelischer Metaphysik“ vorwirft. 85 Lombardus, Sententiae 3 d. 23 c. 4 (Lombardus, Sententiae 2, 144,3–5); vgl. hierzu Schupp, 161. 86 Vgl. in diesem Sinne auch etwa Anselm, Monologion c. 78: „Inutilis erit fides, et quasi mortuum aliquid, nisi dilectione valeat et vivat“ (S. Anselmi Opera Omnia, hg. v. Franz Salesius Schmitt. Bd. 1, Seckau 1938 [Stuttgart 1968], 84,16 f). 87 S. Petrus Lombardus, Collectanea f. XXVIIvD; PL 191, 1397A. 88 S. ebd. XXVIIvD; PL 191, 1397A; vgl. zu dieser Definition der iustificatio Lombardus, Sententiae l. 2 d. 5 c. 4: „Operans quidem gratia dicitur, qua iustificatur impius, id est de impio fit
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Taufe freilich lediglich hinsichtlich des Anklagezustands.89 Diese Analogie zum Glauben wird allerdings offenkundig dadurch überschritten, dass Petrus erklärt, dass die Wiedergeburt aus Wasser und Geist bewirke, dass die Sünde nicht mehr in den Gliedern des Getauften regiere90 – darin äußert sich, dass Christus vom Gesetz in der Weise befreit hat, dass er vom consensus zur Sünde und von deren operatio befreit hat.91 Was aber getan wird, sind nun die Werke – und ihnen kann der Lombarde sogar in bestimmter Hinsicht und sehr begrenzt eine Beteiligung an der Rechtfertigung zusprechen: In einer fiktiven, gegen seine Argumentation gerichteten Frage erscheint als Voraussetzung des Fragenden die Wendung: „opera bona quae facimus in charitate iustificant“,92 und der Lombarde widerspricht dieser Voraussetzung nicht ausdrücklich, macht sie sich insofern also zu eigen. Das Argumentationsziel hierbei ist zu widerlegen, dass die opera legis rechtfertigende Wirkung haben konnten. Im Folgenden betont Petrus dann noch einmal, dass Gott beschlossen hat, „per sacramentum mysterii fidei, quod in Christo est, hominem iustificari, non per legem“.93 Er bewilligt allerdings auch in diesem Zusammenhang den Gedanken einer Rechtfertigung durch Gesetzeswerke, insofern das „non per legem“ sich ausdrücklich nur auf das Zeremonialgesetz bezieht, nicht aber auf die „moralia, quae vtique iustifcant“.94 Sofern aber in dieser Weise von einer Verdienstlichkeit der Werke zu reden ist, stellt der Lombarde die Werke unter das Vorzeichen göttlicher Urheberschaft: „non ergo dicit Apostolus, mercedem reddi secundum meritum operis tanquam opera quae deus remunerat ex nobis sint, immo ex gratia Dei sunt“.95 So steht dieser der speziellen Debatte um die fortdauernde Geltung des Alten Bundes geschuldete Nebengedanke im Rahmen des Römerbriefkommentars im pius, de malo bonus“ (Lombardus, Sententiae 1, 352,22 f); vgl. Schupp, 30. Für die Taufe führt Petrus Lombardus a. a. O. XIXrB-C; PL 191, 1369A an, dass diese den mit dem originale peccatum gleichgesetzten fomes peccati, die concupiscentia, in seinem Status so ändert, dass er „ante baptismum culpa est et poena, post baptismum autem poena est et non culpa“. Es wird also der Schuldstand der Ursünde getilgt, ihre vom fomes peccati nicht unterschiedene Realität als Strafe für den Fall Adams hingegen nicht. Dies entspricht der Vorstellung Abaelards, wonach den Glaubenden „per sacramenta ecclesiae peccatum originale condonatum est“, weswegen in ihnen auch nicht Adams Sünde bestraft wird, sondern die je eigene neue (Abaelard, Expositio 2, 402,2–6) – wenn Peppermüller, 105, unter Berufung auf diese Stelle also grundsätzlich die Vererbung der culpa ausgeschlossen sieht, überspitzt dies Abaelards Interpretation, welche das Ende der culpa in der Regel mit den kirchlichen Sakramenten verbindet, diese freilich wiederum der Liebe unterordnet, welche sogar rechtfertigt „antequam sacramenta suscipiantur“ (Abaelard, Expositio 2, 298,9). 89 Petrus Lombardus, Collectanea f. XXIVvE; PL 191, 1387D: „Sicut enim ab vno illo homine sunt, sic ab eodem peccato immunes esse non possunt, nisi ab eius reatu per Christi baptismum absolvantur“. 90 S. ebd. XXXvD; PL 191, 1407B. 91 S. ebd. XXXVIIvE; PL 191, 1433A. 92 S. ebd. XVIvD; PL 191, 1358D. 93 S. ebd. XVIvE; PL 191, 1359A. 94 S. ebd. XVIvE; PL 191, 1359B. 95 S. ebd. XIXrA; PL 191, 1367C-D.
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Zusammenhang einer reflektierten und differenzierten Zuordnung von Werken und Rechtfertigung: Ausdrücklich gilt, dass eine Rechtfertigung ohne vorausgehende Werke erfolgt, und diese allgemeine Aussage auch die moralia einschließt, die also aus sich heraus keine rechtfertigende Wirkung haben können.96 Die Qualität eines Werkes nämlich beruht auf der intentio97 – hier integriert der Lombarde offenkundig das Ethikverständnis Petrus Abaelards98 in seiner Rekonstruktion des Rechtfertigungsgeschehens. Auch für die Werke aber, die in diesem Sinne aus der guten intentio, mithin dem Glauben, hervorgehen, gilt ausdrücklich nicht, dass sie die iustita konstituieren, sondern dass sie der schon geschenkten iustitia folgen: „Lex autem quae dicitur fidei, opera quidem mandat, sed credendo impetrat, vt fiant, et illa opera sequuntur iustitiam. Non enim ex ipsis est iustitia, sed ipsa sunt ex iustitia“.99
Die Werke sind also in der Sprache späterer Dogmatik – wie schon bei Abae lard100 – heilskonsekutiv, nicht heilskonstitutiv, weswegen auch unter Einbeziehung der Werke zu Röm 3,20 gesagt werden kann, dass die gratia Christi „non meritis […], sed gratis datur“,101 ja, zu Röm 2,13 kann der Lombarde ausdrücklich erklären, das „factores legis iustificabuntur“ an dieser Stelle sei so zu verstehen, „gratia iustificat eos, vt adimpleant legem, quia non faciunt vt iustificantur, sed iustificantur vt faciant“.102 Die überwältigende Bedeutung der gratia in der Römerbriefexegese des Petrus Lombardus schließt also auch für den Glaubenden jegliche heilsbegründende Wirkung von opera oder merita aus. Die einzelnen angeführten Formulierungen, die eine rechtfertigende Wirkung der Werke anklingen zu lassen scheinen, sind entweder, was sich aus dem Kontext einer akuten Auseinandersetzung erklären ließe, im Sinne nicht gänzlich aufgelöster Restbestände anderer Rechtfertigungsvorstellungen zu verstehen oder im Sinne der den Kommentar überwiegend prägenden rechtfertigungstheologischen Perspektive einer iustificatio sola fide zu verstehen.
96 S. ebd. XVIIIvB; PL 191, 1364C. 97 S. ebd. XVIIIvB; PL 191, 1365B. 98 Eine ausführlichere Darstellung des „intentionalism“ von Petrus Lombardus findet sich bei Colish, Peter Lombard 471–516. Marenbon, John: Peter Abelard and Peter the Lombard, in: Pietro Lombardo. Atti del XLIII Convegno storico internanionale, Spoleto 2007, 225–239, 228, weist darauf hin, dass der Lombarde bei aller Nähe zu Abaelard in der Frage der Bedeutung der intentio dessen Konsequenz von der moralischen Indifferenz der Akte jenseits der intentio nicht teilt; auch Hoffmann, Tobias: Moral Action as Human Action: End and Object in Aquinas in Comparison with Abelard, Lombard, Albert, And Duns Scotus, The Thomist 67 (2003), 73–94, 77, weist darauf hin, dass der Lombarde sich von Abaelard insofern unterscheidet, als er bestimmten Akten zuschreibt, intrinsisch schlecht zu sein. 99 Petrus Lombardus, Collectanea f. XVIIIrA; PL 191, 1364B. 100 Abaelard: Expositio 3, 680, 6–15. 101 Petrus Lombardus, Collectanea f. XVIIrB; PL 191, 1361B. 102 Ebd. XIIvD; PL 191, 1346D.
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Schluss Der Blick auf den eindrucksvollen Römerbriefkommentar des Petrus Lombardus wurde nicht zuletzt dadurch lange Zeit verstellt, dass Denifle auf ihn in einem konfessionalistisch interessierten Zusammenhang hingewiesen hat – und sich die evangelische Seite ihrerseits in apologetischer Absicht einer offenen Annäherung an diesen Text verschlossen hat. Versucht man ihn hundert Jahre nach diesen Kontroversen einer angemessenen historischen Einordnung zuzuführen, so wird er als eine Quelle der Pariser Debatten des 12. Jahrhunderts verständlich, wie sie sich im Schatten Abaelards vollzogen. Dessen Interesse an ethischen Fragen trug dazu bei, dass sich neben der die Theologie weiterhin bestimmenden Frage nach der Trinitätslehre nun auch ein besonderes Interesse an der Rechtfertigungslehre herauskristallisierte, das sich in einer intensiven Kommentierung des Römerbriefes niederschlug. Diese fand noch weitgehend im selbstverständlichen Gerüst der Vätertheologie statt, nur vereinzelt zeigen sich bei Petrus Lombardus Aufnahmen aristotelischer Terminologie. Insgesamt ist sein Römerbriefkommentar ein textnaher, aus Augustin und dem Ambrosiaster gespeister Nachvollzug der Theologie des Paulus, in welchem Petrus Lombardus die Rechtfertigung sola fide in den Vordergrund stellt, gleichzeitig aber dem Gedanken der Lebendigkeit des Glaubens in der Weise Ausdruck gibt, dass er fides und caritas eng miteinander verbindet und aus beiden Werke hervorkommen sieht, die das Heil nicht konstituieren, sondern dem immer schon von Gott geschenkten Heil folgen. Man kann sein Werk mithin als Ausdruck der intensiven, augustinisch inspirierten Paulusexegese des 12. Jahrhunderts verstehen, der in der festen Überzeugung gipfelt, dass aus Röm 1,17 folgt: „[…] ex fide est iustitia, et ita ex fide est salus, non ex lege“.103
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Thomas Hahn-Bruckart
Die Entdeckung des Evangeliums und die Formierung reformatorischer Identitäten Kohäsion und Diffusion in der Wittenberger Reformation
Die Frage nach dem, was lutherische Identität ist, was reformatorische Identitäten seien, mag angesichts gegenwärtiger erinnerungskultureller Herausforderungen als besonders aktuell erscheinen, sie findet sich als Gegenstand der Reflexion und Diskussion mit unterschiedlichen Konjunkturen und Explikationsgraden – und freilich nicht unter moderner wissenschaftlicher Nomenklatur – aber bereits seit dem frühen 16. Jahrhundert. In historischer Perspektive lässt sich gerade an der Wittenberger Reformation deutlich erkennen, wie zum einen Kräfte auf eine Kohäsion hinwirkten, eine Identitätsformierung als „Wittenberger“ erkennbar wurde, zum anderen aber auch eine Auffächerung stattfand, die schließlich zu Exklusionsprozessen führte. Diese beiden Spannungspole finden sich mit unterschiedlicher Gewichtung als grundsätzliche Frage nach Einheit und Vielfalt der Reformation auch in der Forschung, sei es, dass die heterogene Vielfalt an theologischen Gedanken, Vorstellungen und Ansätzen im Umfeld Wittenbergs betont wird, sei es, dass die Anfänge der Reformation dezidiert als „Lutherrezeption“ profiliert werden oder dass statt von einer Einheit von einer Kohärenz im Sinne der inneren Gemeinsamkeit von Ideen, Programmen und Veränderungen gesprochen wird.1 Was im Folgenden untersucht werden soll, sind Semantiken und Strategien, die sich in der frühen Wittenberger Reformation aufweisen lassen im Hinblick darauf, wie dort Identität und Alterität konstruiert wurden und wie Prozesse der Inklusion und Exklusion in performativem Sinn Gestalt gewonnen haben.2 Der Fokus soll dabei auf den Jahren bis 1524/25 liegen. Danach sind die Bruchlinien und Scheidungen klarer und führen in langer Perspektive zu konfessionellen Verfestigungen; bis dahin ist es meiner Wahrnehmung nach eher ein Navigierungsprozess, der auch gewisse Unschärfen beinhalten konnte. 1 Vgl. Hamm, Berndt/Moeller, Bernd/Wendebourg, Dorothea: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995. Zur These der Heterogenität der Reformation vgl. v. a. die Arbeiten von Goertz, Hans-Jürgen: Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517–1529, München 1987; Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 1995. 2 Eine grundlegende Diskussion methodischer und theoretischer Ansätze findet sich bei Lobenstein-Reichmann, Anja: Sprachliche Ausgrenzung im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2013 (Studia Linguistica Germanica 117).
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Wenn ich in diesem Zusammenhang von Semantiken und Strategien spreche, dann in dem Sinn, dass es um die Exploration sprachlicher Felder und ihren Einsatz im Dienste der Formierung bestimmter Identitäten geht. Im Hintergrund steht die These, dass mentale Muster und Identitäten wesentlich über den Zusammenhang von Sprache und Macht konstruiert und perpetuiert werden.3 Verwoben ist dies im Fall Wittenbergs immer auch mit theologischen Kriterien, die ihre identitätsformende Wirksamkeit aber erst durch eine griffige Sprachgestalt, einprägsame Sprachbilder und klare sprachliche Identifikationsmöglichkeiten entfalten. Gehört zum Begriff der Strategie wesentlich die Konnotation der zielgerichteten Absicht, der Bewusstheit und Planung, so ist natürlich fraglich, ob diese Eigenschaften im Falle sprachlichen Ein- und Ausgrenzungshandelns in dieser Weise durchgängig anzutreffen sind. Solches Handeln wird nicht immer bewusst und im enger defi nierten Sinne ‚strategisch‘ vollzogen. Dennoch erscheint mir der Begriff in diesem Zusammenhang sinnvoll, um anzuzeigen, dass es auf die Erreichung eines bestimmten Handlungsziels gerichtete Mechanismen sind, die sprachlich evozierte Inklusion und Exklusion bedingen.4 Dabei möchte ich den Fokus zum einen darauf legen, ob und – wenn ja – in welcher Weise sich aus der Entdeckung des Evangeliums in Wittenberg so etwas wie eine gemeinsame Identität ergab, die soziologisch gesprochen vor allem als Gruppenkohäsion zu fassen ist, das heißt als eine um einen gemeinsamen Kern gruppierte und den inneren Zusammenhalt artikulierende sprachliche Handlungsdynamik, zum anderen darauf, wie diese Prozesse intensiviert wurden durch die Kontrastierung mit anderen, nicht mehr in die eigene Gruppe integrierbaren Identifizierungsmöglichkeiten.5 Im Folgenden sollen daher einige Phasen der frühen Wittenberger Reformation daraufhin befragt werden, inwieweit sich dort Prozesse der Identitätsbildung vornehmlich anhand sprachlicher Indikatoren beobachten und nachweisen lassen. Zunächst sollen dabei die Elemente in den Blick genommen werden, die Indikatoren für Kohäsionsmomente sind.
3 Damit lehne ich mich an zentrale Hypothesen der Historischen Diskursanalyse an, die sich in je unterschiedlicher Akzentuierung vor allem mit den Namen Foucault und Bourdieu verbinden. Zur Einführung in die historisch arbeitende Diskursanalyse vgl. Landwehr, Achim: Histo rische Diskursanalyse, Frankfurt/New York 22009. 4 Vgl. die Diskussion in Lobenstein-Reichmann, Ausgrenzung, 26–27. 5 Zu den Dynamiken kollektiver Identitätsbildung vgl. Pohlig, Matthias: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617, Tübingen 2007 (SuR.NR 37), 35–38 u. 42–49. In der englischsprachigen Forschung ist in diesem Zusammenhang von „We-Images“ die Rede, also den Selbstbildern, die entworfen werden im Gegenüber zu einem als anders, im Falle eines in besonderer Weise Normativität generierenden bzw. beanspruchenden eigenen Identitätsbildungsprozesses als ‚deviant‘ empfundenen Gegenübers. Vgl. z. B. Mennell, Stephen: The Formation of We-Images. A Process Theory, in: Calhoun, Craig (Hg.): Social Theory and the Politics of Identity, Oxford/Cambridge 1994, 175–197.
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1. Kohäsionsmomente Dass die Entwicklung einer auf Grundlage des wieder entdeckten Evangeliums erneuerten Theologie in Wittenberg im Kontext einer universitären Diskussionsge meinschaft zu verorten ist, hat nicht zuletzt die umfangreiche Studie von Jens Martin Kruse zu den Anfängen der Reformation im Kontext der Wittenberger Universitätstheologie auf überzeugende Weise gezeigt.6 Die theologischen Veränderungen bei Amsdorff, Karlstadt und Dölsch waren zwar von Luther angeregt, vollzogen sich aber unter unterschiedlichen Voraussetzungen und unter eigenständiger Augustin-Lektüre und Rezeption anderer Autoritäten. Was sich trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen in einem längeren Diskussionsprozess herauskristallisierte, war so etwas wie ein methodischer und inhaltlicher Grundkonsens.7 Nach Luther selbst sind die Anfänge dieser Reformdiskussionen im Jahr 1516 zu suchen.8 Geradezu euphorisch schreibt er über die neu gewonnene Weggemeinschaft am 18. Mai 1517 an Lang in Erfurt: „Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante“.9 Man geht im Kontext dieses Briefes wahrscheinlich nicht fehl, wenn man die Formulierung „Unsere Theologie und der Heilige Augustin“ so interpretiert, dass damit „die gemeinsame Grundlage und das übereinstimmende Bewusstsein einer Reihe von Wittenberger Universitätsprofessoren“ gemeint ist, auch wenn die 1. Person Plural immer auch ein Pluralis auctoris oder modestiae darstellen kann.10 In dieser Perspektive hätte Luther den in Wittenberg eingeschlagenen theologischen Weg als Gemeinschaftsunternehmen wahrgenommen und auf diese Weise die ihnen gemeinsame theologische Grundlage charakterisiert.11 In sprachstrategischer Hinsicht wird hier relativ 6 Vgl. Kruse, Jens-Martin: Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522, Mainz 2002 (VIEG 187). 7 Vgl. Kruse, Universitätstheologie, 109. 8 Vgl. rückblickend WA. B 1, 389,21–390,24 (Nr. 174) vom 15.5.1519. Auch ein Brief Langs vom 10.3.1516 bestätigt einen theologischen Neueinsatz zu dieser Zeit, der sich in einem „Wiederaufleben“ („reviviscere“) einer an der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern orientierten Theologie zeige. 9 WA.B 1, 99,8–9 (Nr. 41). 10 Vgl. Kruse, Jens-Martin: Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Bedeutung der Wittenberger Universitätsprofessoren für die Anfänge der Reformation, in: Luther 73 (2002) 10– 31, hier 19. 11 Vgl. zu dieser Deutung Kruse, Universitätstheologie, 111. Allerdings dürfte Oberman Luthers Selbstverständnis korrekt treffen, wenn er von ihm als „leading member of the Wittenberg team“ spricht, das docendi causa zwar nicht in allem übereinstimme, aber einen gemeinsamen Ansatz verfolge: „Yet it is not Luther’s own theological program to which the ‚theologia nostra‘ refers, but to that of a team of Wittenbergers“; vgl. Oberman, Heiko: Headwaters of the Reformation. Initia Lutheri – Initia Reformationis, in: Ders. (Hg.): Luther and the Dawn of the Modern Era. Papers for the fourth International Congress for Luther Research, Leiden 1974, 40–88, hier 45–46 (SHCT 8). Man sollte aber auch beachten, dass Luther gelegentlich von „mea doctrina“ und „theologia mea“ sprechen kann; vgl. WA. B 1, 389,21–390,24 (Nr. 174) und Oberman, Headwaters, 43.
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unscheinbar durch Pronominalgebrauch ein zentrales Kohäsionsmoment markiert und potentiell abgegrenzt, die „theologia nostra“. Folgt man dieser Spur des Pronominalgebrauchs, fällt ein weiterer Aspekt ins Auge, der Teil akademischer Identitätsformierungen ist. Leif Grane gab seiner 1994 erschienen Studie über „Luther in the German Reform Movement“ in den Jahren 1518–1521, die vor allem nach Luthers Verhältnis zum Humanismus fragt, den Titel „Martinus noster“. Damit griff er terminologisch einen zentralen Topos humanistischer Inklusionsstrategien auf, die insgesamt ein vielgestaltiges und dynamisches Gefüge unterschiedlicher Aspekte beinhalten, die vor allem Eckhard Bernstein herausgearbeitet hat.12 Trotz seines prononcierten Titels gibt Grane in seinem Buch erstaunlicher Weise nur einen einzigen Beleg für den Terminus „Martinus noster“ und reflektiert den Begriff selbst auch nicht näher. Er zieht im Hinblick auf die Wahrnehmung Luthers durch einen Großteil der Humanisten bis 1520 lediglich allgemein das Fazit: „He was Martinus noster, just as Reuchlin and Erasmus were ‚ours‘“.13 Betrachtet man den zeitgenössischen Umgang mit dem der scholastischakademischen Konvention entsprechenden Ehrentitel des „Magister noster“, so ist zumindest vor dem Hintergrund des karikierenden Spiels mit dieser Titulatur in den Dunkelmännerbriefen davon auszugehen, dass man humanistischerseits reflektiert mit derselben operierte. Die von Grane angezeigte ‚Nostrifizierung‘ mag also tatsächlich angehen, wenn Luther von humanistischer Seite verschiedentlich – es gibt mehr Belege als den einen bei Grane – als „Martinus noster“ bezeichnet wird: So spricht Scheurl erstmalig in einem Brief vom 24. November 1518 12 Bernstein hat sich in seinen Untersuchungen mit den Mechanismen humanistischer Gruppenidentitätsbildung beschäftigt und für den Prozess des Schaffens und Perpetuierens einer humanistischen Gruppenidentität sechs miteinander verbundene Faktoren herausgearbeitet: 1. Den Gebrauch des Lateinischen und die Annahme lateinischer Namen, 2. Das Kreieren von Feindbildern, gegen die man sich zusammenschloss, 3. Die Gründung humanistischer Sodalitäten, 4. Die Schaffung eines Gefühls der Zusammengehörigkeit durch Korrespondenz, 5. Die Betonung humanistischer Freundschaft, 6. Humanistische Reisen als gemeinschaftsbildende Maßnahmen. Vgl. Bernstein, Eckhard: From Outsiders to Insiders. Some Reflections on the Development of a Group Identity of the German Humanists between 1450 and 1530, in: Mehl, James V. (Hg.): In laudem Caroli. Renaissance and Reformation studies for Charles G. Nauert, Kirksville 1998, 45–64 (SCTS 49). Vorzustellen ist dies als ein fortdauernder dynamischer Prozess der Selbstverständigung – das Entstehen von so etwas wie einer Gruppe mündete hier nicht in eine feste Struktur, sondern vielmehr wurde „das Prozesshafte perpetuiert“ (so Müller, Harald: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen 2006, 66 [SuR.NR 32]). 13 Grane, Leif: Martinus noster. Luther in the German Reform Movement, Mainz 1994 (VIEG 155), 164. Die Passage, der das Zitat entstammt, ist im Inhaltsverzeichnis mit der Angabe „Luther as ‚Martinus noster‘“ versehen. In der dem Zitat vorangehenden Fußnote wird allerdings nur ein Beleg genannt, wo tatsächlich von „Martino nostro“ die Rede ist (MBW Nr. 70), die anderen Stellen unterstreichen lediglich die „friendly attitudes“ der Korrespondenten im Hinblick auf Luther (Briefwechsel des Beatus Rhenanus. Ges. u. hg. v. Adalbert Horawitz/Karl Hartfelder, Leipzig 1886, 151–152 [Nr. 105]; CR 94, 307,13–308,2 [Nr. 136]). Auch auf 291 ist bei Grane als Fazit der vielschichtigen Dynamik, die in der humanistischen Unterstützung Luthers wirkte, zu lesen: „On this background Luther was recognised as ‚Lutherus noster‘ or ‚Martinus noster‘“ – aber auch hier ohne jeden Beleg für diese Titulatur.
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explizit von „Martinus noster“14, ebenso Crotus Rubeanus in mehreren Briefen.15 Bekannt ist dessen Rektoratsblatt, auf dem im Sinne einer idealen Sodalitas die Wappen der frühen Wittenberger Reformatoren zusammen mit denen führender Humanisten abgebildet sind.16 Bekanntlich ließ sich Luther nicht ohne weiteres in dieser Weise vereinnahmen und zeigte eine gewisse Reserviertheit gegenüber den häufig überschwänglichen Solidaritätsbekundungen von humanistischer Seite, auch wenn diese sehr wesentlich zur frühen Verbreitung reformatorischer Gedanken einen entscheidenden Beitrag geleistet haben dürften.17 Aber zumindest der Begriff „Martinus noster“ fand auch in Wittenberg Verwendung, was einige Formulierungen in der Wittenberger Korrespondenz dieser Zeit belegen. So schreibt Karlstadt in einem Brief vom 11. Juni 1518: „Vivat Martinus noster […]“, und in anderen Konstellationen verwenden es ebenso Melanchthon und Spalatin.18 Die Bezeichnung wurde also verwendet – und das nicht nur von Humanisten außerhalb Wittenbergs, sondern auch vom Kreis um Luther selbst. Auch Melanchthon wurde spätestens nach seiner Antrittsrede von Luther entsprechend ‚nostrifiziert‘,19 ab Dezember 1518 ist dann in der Korrespondenz vielfach von „Philippus noster“ die Rede.20 Ein Indiz dafür, dass das „noster“ tatsächlich im Sinne einer Nostrifizierung verstanden werden konnte, ist, dass die Bezeichnung Karlstadts als „noster Carolostadius“ in der späteren Textüberlieferung mitunter zu „iam non noster Carolostadius“ abgeändert werden konnte.21 Insgesamt lässt sich damit in Witten 14 Vgl. Christoph Scheurls Briefbuch – ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und ihrer Zeit. Bd. 2, Soden, Franz von/Knaake, J. K. F. (Hgg.), Potsdam 1872, 62 (Nr. 177): „Martinus noster salvus rediit Wittenbergam pridie kalendas Novembris, desideranter exceptus applausu ingenti, mox Altenburgium a principe evocatus“. 15 So schreibt er am 29.4.1520 an Johann Hess: „Eckius est profectus Romam, nova monstra pariet mundus, in exilium […] imo in extremas insulas deportanda a Martino nostro“ (Krafft, Karl u. Wilhelm (Hgg.): Briefe und Documente aus der Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert nebst Mittheilungen über Kölnische Gelehrte und Studien im 13. und 16. Jahrhundert, Elberfeld 1875, 21) und am 5.12.1520 an Luther, er sei „familiariter salutare Martinum nostrum“ (WA.B 2, 226,3 [Nr. 358]). 16 Vgl. dazu Bernstein, Eckhard: Der Erfurter Humanistenkreis am Schnittpunkt von Humanismus und Reformation. Das Rektoratsblatt des Crotus Rubeanus, in: Füssel, Stephan/Pirozynski, Jan (Hgg.): Der polnische Humanismus und die europäischen Sodalitäten (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 12), Wiesbaden 1997, 137–165; Posset, Franz: Polyglot Humanism in Germany circa 1520 as Luther’s Milieu and Matrix: The Evidence of the „Rectorate Page“ of Crotus Rubeanus, in: RenRef 27 (2003) 5–33. 17 Vgl. Moeller, Bernd: Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, in: ZKG 70 (1959) 46–61. 18 So Melanchthon an Vadian in der zweiten Jahreshälfte 1519 (MBW.T 1, 160,8–9 [Nr. 70]) und an Johann Vigilius am 24.4.1520 (Krafft, Briefe, 20), Spalatin an Veit Bild am 2.9.1518 (zit. bei Junghans, Helmar: Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985, 309). Das KarlstadtZitat findet sich bei Barge, Hermann: Andreas Bodenstein von Karlstadt. Bd. 1: Karlstadt und die Anfänge der Reformation, Leipzig 1905, 126. 19 Vgl. Kruse, Universitätstheologie, 148. 20 Vgl. WA.B 1 Nr. 120, Nr. 144, Nr. 161; WA.B 2 Nr. 352; WA.B 3 Nr. 750. 21 So in den Resolutiones zur Leipziger Disputation; vgl. WA 2, 393,25 und die diesbezüglichen textkritischen Anmerkungen.
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berg und über Wittenberg hinaus ein Netz von Nostrifizierungen erkennen, die zwischen Konventionalität und echter Identifizierung changieren und keine ganz scharfen Relationen erkennen lassen. Was sich im Sinne kohäsiver Kräfte also feststellen lässt, ist die Gruppierung um eine aus dem wiederentdeckten Evangelium entwickelten „theologia nostra“, die einen klaren Trägerkreis hat, zunächst aber keine scharfen Ränder in der über diesen Wittenberger Trägerkreis hinausgehenden Anhängerschaft.
2. Diffusionsmomente Als wesentliches Moment des Auseinandergehens mit humanistischen Kräften und der Diffusion innerhalb der Wittenberger Reformation hat sich die durch verschiedene Adaptionen der Wittenberger Theologie einstellende ‚Unruhe‘ ergeben22 – ein Faktor, der für den Fortgang der Wittenberger Reformation selbst von eminenter Bedeutung werden sollte. Luther begann, Differenzierungen in seiner sich auf martinische Gesinnung berufenden Anhängerschaft anhand dieses Themas der öffentlichen Unruhe und des „Aufruhrs“ vorzunehmen. Nicht erst während der sogenannten Wittenberger Unruhen 1521/22, sondern bereits 1520 (und auch 1518) war es in Wittenberg zu Konflikten gekommen, die in besonderer Weise Zusammenstöße zwischen Bürgern und Studenten beinhalteten und die auch die Autorität des Kurfürsten berührten.23 Luther griff das „Übel des Aufruhrs“ (malum seditionis) 1520 in zwei Predigten auf und sagte über die Unruhestifter, dass man nun erkennen könne, „welche in Wahrheit und welche zum Schein unsere Theologie gehört haben (qiu vere et qui ficte nostram theologiam audierunt)“. Weiter sagt er: „Ich sehe gar wohl den Satan, welcher, da er sieht, dass er zu Rom und bei den Auswärtigen nichts ausrichte, dies Übel (malum) erfunden hat, damit er von innen (intus), und zwar auf das allerärgste (pessime), Schaden tue (noceat).“24 Der Teufel sehe, dass er von außen, durch 22 So empfiehlt Erasmus Luther bereits 1519 „civilis modestia“ (WA.B 1, Nr. 183) und äußert gegenüber Lang Befürchtungen bezüglich eines Aufruhrs (vgl. Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami. Bd. 3, ed. P. S. Allen, Oxford 1992, 609,14–15 [Nr. 983]). Zu den Grenzziehungen der Humanisten vgl. auch Weiß, Ulman: Das Erfurter Pfaffenstürmen 1521: „Haec prima Lutheranorum adversus Clericos seditio…“. In: JbGF 5 (1979) 233–279, hier 238. 23 Vgl. Krentz, Natalie: Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg, Tübingen 2014, 107–124 (SMHR 74); Kaufmann, Thomas: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012, 201–206 (SMHR 67). 24 WA.B 2, 144,12–16 (Nr. 313) (Bericht Luthers über die Predigten an Spalatin): „[…] prodeunt tandem cogitationes cordium, quibus intelligi possit, qui vere et qui ficte nostram theologiam audi erunt. […] Ego belle video Satanam, qui cum Romae et apud exteros nihil videat sese promovere, hoc malum invenit, ut intus et pessime noceat.“ Weiter heißt es: „Res fuit principio parva, sed ecce, quanto magis tractatur, tanto acrius corripit et accuit corda, quod proprie diabolici ingenii est, ut, unde putes mederi, inde morbum ille augeat“. Deutsche Übers. in Anlehnung an W2 21, 280.
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das Papsttum, nichts mehr ausrichten könne und versuche nun, von innen (intus) zu schaden – eine Klassifikation, die in hoher Frequenz in der Folgezeit wiederkehren sollte.25 Außerdem entscheiden sich Kohäsion und Diffusion hier an der Frage der Aufnahme der „theologia nostra“ unter dem Vorzeichen der Bereitschaft zu soziale Unruhe generierenden Aktionsformen. Das Feld von Normativität und Devianz beginnt sich zu öffnen und erste Schärfe zu entwickeln. In diesem Zusammenhang kommt es nun auch zu der ersten sprachlich prägnanten Abgrenzung im späten Frühjahr 1521 anlässlich des sogenannten Erfurter Pfaffensturms durch sich auf Luther berufende Studenten und Bürger. Luther schreibt in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Brief an Spalatin: „In Erfurt hat der Satan durch seine Helfershelfer uns böse nachgestellt, indem er die Unsrigen (nostros) mit gemeinem Gerücht brandmarkte. Aber es wird ihm nichts nützen. Es sind nicht unsere Leute, die das tun (non sunt nostri, qui haec faciunt).“26 Auffällig sind hier zwei Dinge: zum einen der auf die Rede von den „Unseren“, den nostri (wohl den Wittenbergern), klar gezogene terminologische Trennungsstrich (non sunt nostri) – hier wird Exklusion erstmals terminologisch fixiert –; zum anderen die Diabolisierung der sich fälschlicherweise auf Luther berufenden Gegner als Personen. Bereits über die ersten Unruhen in Erfurt hatte Luther an Melanchthon geschrieben: „[…] wenn es auch gut ist, dass diesen unheilbaren Sündern (incessabiles illos impios) [scil. den Papisten] Einhalt geboten wird, so bringt diese Aktion unserem Evangelium (evangelio nostro) [nur] Schande und begründete Ablehnung ein. […] Heftig stört mich nämlich jene Zuneigung der Leute zu uns (in nos), aus der wir klar sehen, dass wir (nos) vor Gott noch nicht würdige Diener seines Wortes sind und dass Satan mit unseren Bemühungen (nostra studia) sein Spiel und seinen Spott treibt.“27 Wesentlich für den Aufbau der Lutherschen Stellungnahme und die Konstruktion divergierender bzw. sogar opponierender Identitäten ist die sprachliche Opposition von illos und nos, wobei letzteres mit Namen oder Substantiven verbunden werden kann (evangelio nostro, nostra studia). Auffällig ist, dass es nun nicht mehr die „theologia nostra“, sondern das „evangelium nostrum“ ist, dem hier Schaden zugefügt wird. Auch wenn beide Begriffe nah beieinander liegen, so scheint mir diese Verschiebung doch eine Betonung des existentiell Grundlegenden anzuzeigen, das zur Disposition steht, oder zumindest auf eine basalere Gestalt der 25 Vgl. zu diesen Zusammenhängen insgesamt Kaufmann, Anfang, 185–265. 26 WA.B 2, 376,15–18 (Nr. 422): „Erfordiae Satanas suis studiis nobis insidiatus est, ut nostros mala fama inureret. Sed nihil proficiet; non sunt nostri, qui haec faciunt. Ita, cum resistere nequeat veritati, stulto stultorum in nos zelo cogitat infamare eam. Miror ista sustineri a senatu eius oppidi.“ Deutsche Übers. in Anlehnung an Martin Luther. Briefe von der Wartburg 1521/1522, übers. u. eingel. v. Herbert von Hintzenstern, Eisenach 1984, 58. 27 MBW.T 1, 285,59–64 (Nr. 139), geschrieben vor dem 12.5.1521 an Melanchthon: „Nam etsi bonum est incessabiles illos impios coerceri, modus tamen iste evanglio nostro parit et infamiam et iustam repulsam. […] Vehementer enim me offendit ista gratia hominum in nos, ex qua liquido videmus nondem esse nos dignos coram Deo verbi sui ministros, et Satanam in nostra studia ludere et ridere“. Deutsche Übers. in Anlehnung an Hintzenstern, Briefe, 16.
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Heilsbotschaft zu verweisen als dessen akademisch-theologische Explikation.28 Die Wittenberger und die Erfurter sind in dieser Perspektive deutlich zu scheiden, was sich sowohl auf der Ebene lokaler Universitätszugehörigkeiten verstehen lässt – es sind keine nach Erfurt gekommenen Wittenberger Studenten, die hier aktiv werden – als auch auf der Ebene inhaltlicher und handlungsleitender Ausrichtungen. Die Strategie des Teufels ist in der Deutung dieses Briefes die, durch die Mobilisierung der ‚Dummen‘ zu blinder Agitation das Anliegen der ‚Unsrigen‘ öffentlich in Verruf zu bringen. Auf andere Weise habe er die ‚Wahrheit‘, um die es letztlich gehe, nicht angreifen können. Bleibt man bei dieser Kategorie der „Unsrigen“, so lässt sich beobachten, dass diese auch von der Wittenberger Studentenschaft aufgegriffen wurde, und dass Luther in Bezug auf Wittenberg doch recht weitherzig an diesem Begriff festhielt. Denn auch in Wittenberg war es zu gewaltsamen Aktionen gekommen. Das gewaltsame Vorgehen von Studenten gegen nach Wittenberg gekommene Antonitermönche im November 1521 gefiel Luther zwar nicht, gleichwohl mahnte er Spalatin zu Gelassenheit und identifizierte die agitierenden jungen Männer explizit mit der eigenen Sache: „Dass wir mit den Unsrigen (cum nostris) bei den Gegnern oder bei denen, die in Gottes Sache zu viel weltliche Klugheit anwenden, notgedrungen in üblen Ruf kommen können, hätte dich nicht beeindrucken dürfen […] Das Evangelium wird nicht stürzen, wenn ein paar von unseren Leuten (aliqui nostrum) sich in kleinem Umfang versündigen!“29 Luther spricht hier von „unseren Leuten“, auch wenn er ihnen etwas distanziert zu großen Übermut bescheinigt. Und auch hier ist es wieder das Evangelium, das der Sache nach zur Disposition steht, durch die Vorkommnisse in Wittenberg aber nicht gefährdet wird. Auch das nicht Zustimmungsfähige wird in Wittenberg von „den Unsrigen“ begangen.30 Betrachtet man die Briefe Luthers von der Wartburg, dann scheint er Wittenberg lange als eine Art selbstregulatives System gesehen zu haben: mit dem Professorenkreis, dem er vertraute und den er als Gemeinschaft verstand, im Zentrum. Diese Einschätzung änderte sich erst, als dieser Kreis zum einen mit dem Auftreten dreier Männer aus Zwickau offensichtlich überfordert war, zum anderen als es zu einem nur schwer zu regulierenden Ausgreifen der Bewegung über Wittenberg hinaus kam, wobei besonders Eilenburg eine Rolle spielte, schließlich durch das Tätigwerden des Reichsregiments und die Fokussierung der kurfürstlichen Räte auf Karlstadt. 28 Vgl. Spehr, Christopher: Art. Evangelium/Evangelien, in: Das Luther-Lexikon, Leppin, Volker/Schneider-Ludorff, Gury (Hgg.), Regensburg 22015, 212–213. 29 Luther an Spalatin am 11.11.1521; WA.B 2, 402,16–403,27 (Nr. 438): „Quod vero male audire nos cum nostris cogimur, vel ab aduersariis vel nimio ciuiliter prudentibus in re diuina, nihil debuisti moueri […]. Non ruet ideo Euangelium, si aliqui nostrum peccant in modestiam.“ Deutsche Übers. in Anlehnung an Hintzenstern, Briefe, 100–101. 30 So schreibt Luther in seinem „Missive“ an Hartmut von Cronberg vom 26./27.3.1522 über die Geschehnisse in Wittenberg: „Alle meyne feynd sampt allen teuffellnn, wie nahe sie myr komen sind (vill mal), haben sie mich doch nicht troffen, wie ich itzt troffen byn von den unßern […]“; WA 10II, 56,10–11.
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Daher gewinnt in den ersten Monaten des Jahres 1522 die Auffächerung der beginnenden Reformation in Wittenberg auch auf sprachlicher Ebene insofern neue Gestaltungsformen, als dass von nun an bestimmte Referenzierungen und Prädikationen für – wenn man so will – ‚innerreformatorische Gegner‘ kreiert oder aufgegriffen wurden, die eine hohe Persistenz aufweisen sollten.
3. Referenzierungen Eine erste konkrete Benennung potentieller innerreformatorischer Gegner hängt zusammen mit dem erwähnten Auftreten dreier Männer aus Zwickau, die Ende Dezember 1521 nach Wittenberg kamen und sich auf eine besondere Geistbegabung und visionäre Offenbarungen beriefen.31 Melanchthon war aufs Tiefste verunsichert und wandte sich mit einem Brief an Luther auf der Wartburg.32 An den Kurfürsten hatte er von „viros propheticos et apostolicos“ geschrieben, ohne dass ganz deutlich wird, ob es sich dabei um eine explizite Selbstzuschreibung der Gruppe gehandelt hat oder um eine Fremdzuschreibung angesichts ihres impliziten Anspruchs und faktischen Auftretens.33 Von Luther sind drei Briefe erhalten, in denen er auf diese Nachrichten reagiert und mit dem semantischen Feld des Prophetentums ironisch distanzierend spielt. Melanchthon gegenüber spricht er ganz allgemein von „prophetae“34, qualifiziert das in den beiden folgenden Briefen aber weiter. So schreibt er in einem Brief an Amsdorff – ein Lokalattribut hinzufügend – von den „Zwickauer Propheten“35 und baut dies in einem Brief an Spalatin zu „jenen Zwickauer neuen Propheten“ aus.36 Mit beidem, dem Aufrufen der Verbindung zu Zwickau sowie der Betonung der Novität sind Konnotationen verbunden, die der Rubrizierung eine zusätzliche Färbung geben.37 Die direkte Verketzerung durch den biblisch vorgebildeten Begriff „falsche Propheten“ unterbleibt allerdings 31 Zu diesem Themenkomplex vgl. Kaufmann, Thomas: Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation, Mühlhausen 2010 (Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft 12). 32 Dieser Brief von Ende Dezember 1521 ist nicht erhalten. 33 MBW.T 1, 417,12–14 (Nr. 192). 34 Vgl. den Brief Luthers an Melanchthon vom 13.1.1522; WA.B 2, 424, 9 u. 427,101 (Nr. 450). 35 Vgl. den Brief Luthers an Amsdorff vom 13.1.1522; WA.B 2, 423,61 (Nr. 449): „Prophetae Cignaei […]“. 36 Brief Luthers an Spalatin vom 17.1.1522; WA.B 2, 444, 17–18 (Nr. 452): „Tu quoque cura, ne princeps noster manus cruentet in prophetis illis nouis Cygnęis.“ 37 Zur Imagination Zwickaus als Ort der geistlichen Unruhe, des Aufruhrs und der ‚Ketzerei‘ vgl. das Material in ThMA 3, 81–94; vgl. auch Bräuer, Siegfried: Spottgedichte, Träume und Polemik in den frühen Jahren der Reformation. Abhandlungen und Aufsätze, Goertz, Hans-Jürgen/ Wolgast, Eike (Hgg.), Leipzig 2000, 9–58; Kaufmann, Müntzer, 25–30; Wappler, Paul: Thomas Müntzer in Zwickau und die „Zwickauer Propheten“, Gütersloh 1966, 15–17 (SVRG 182). Günter Mühlpfordt sieht im Terminus „neue Propheten“ Luthers erste eigene Prägung zur Bezeichnung abweichender Reformationsanhänger; vgl. Mühlpfordt, Günter: Luther und die „Linken“ – Eine
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zunächst. Nach seiner Rückkehr nach Wittenberg stilisierte Luther sich in den Invokavitpredigten nicht expressis verbis, aber doch der Tendenz nach als den wahren Propheten, der in göttlichem Auftrag das Evangelium in Wittenberg wieder zum Leuchten bringe und als der rechtmäßige Hirte, dem der Teufel in seine Herde gefallen sei, die Unruhen beende.38 Durch die Synthetisierung der Ereignisse während seiner Abwesenheit und deren spätere Verbreitung schuf Luther quasi einen Ereigniszusammenhang der Wittenberger ‚Unruhen‘, der auf einen Höhepunkt zulief, für das ein neues Verbalsubstantiv Verwendung finden sollte: das „Bildstürmen“.39 Mit diesem Begriff rückte etwas in den Fokus, das nach heutiger historischer Einschätzung eher kleinen Umfang gehabt hatte,40 als Bildersturm in späteren Zeiten und auch schon durch die Druckverbreitung der Predigten Anderes evo zieren sollte: nämlich radikale Volksmassen, die tumultuarisch agieren. So sind bildstürmen und Bildstürmer frühe Prägungen, bei denen Luther gewaltsames Vorgehen radikalisierter Volksmassen mit aufrief.41 Das wirkmächtigste Schlagwort, das in dieser Zeit Verwendung fand, ist das des „Schwärmers“. Metaphorisch greift es wohl auf das Bild der umherschwärmenden Bienen zurück, das schon in der Alten Kirche für Ketzer verwendet wurde.42 Als Verb belegt ist es bei Luther seit 1521, wo es zunächst im Hinblick auf altgläubige Protagonisten verwendet wird, die „daherschwärmen“.43 Und Luther hatte im Hinblick auf die ‚Papisten‘ auch schon von „Gewürm und Geschwürm“ gesprochen.44 Untersuchung seiner Schwärmerterminologie, in: Vogler Günter (Hg.): Martin Luther. Leben – Werk – Wirkung, 21986, 325–345, hier 327. 38 Vgl. Bubenheimer, Ulrich: Martin Luthers Invocavitpredigten und die Entstehung reli giöser Devianz im Luthertum. Die Prediger der Wittenberger Bewegung 1521/22 und Karlstadts Entwicklung zum Kryptoradikalen, in: Mühlpfordt, Günter/Weiß, Ulman (Hgg.): Kryptoradika lität in der Frühneuzeit, Stuttgart 2009 (Friedenstein-Forschungen 5), 17–37. 39 Inwiefern er tatsächlich in den Invokavitpredigten verwendet worden ist, muss offen bleiben. Mühlpfordt, Luther, 330–331 ist in dieser Hinsicht recht zuversichtlich; belegt ist der Begriff aber erst in der recht späten Überlieferung Aurifabers (WA 10III, 28,33). Schriftlich verwendet ihn Luther spätestens im Herbst 1524 (WA 15,393,20). Daneben findet sich – ebenfalls in der Überlieferung Aurifabers – in den Invokavitpredigten das eine Lehnübersetzung aus dem Griechischen darstellende Nomen agentis „Bild(er)stürmer“ (WA 10III, 26,33; 27,33; 28,27). Zum Konstruktionscharakter der Wittenberger ‚Unruhen‘ bzw. Bewegung vgl. Krentz, Natalie: Auf den Spuren der Erinnerung. Wie die „Wittenberger Bewegung“ zu einem Ereignis wurde. In: ZHF 36 (2009) 563–595. 40 Vgl. Krentz, Ritualwandel, 200–210. 41 Vgl. Mühlpfordt, Luther, 331. 42 Vgl. Koep, L., Art. Biene, in: RAC 2 (1954), 274–282, hier 280; Mühlpfordt: Luther, 332 unter Rückgriff auf Veit Ludwig von Seckendorf: Ausführliche Historie des Luthertums und der Heilsamen Reformation […], Leipzig 1714, 1922. Zur historiographischen Einordnung vgl. Leppin, Volker: Art. Schwärmer, in: TRE 30 (1999), 628–629. 43 So Luther gegen Eck am 27.3.1521 (WA 7, 646,31): „Das du auch daher schwyrmist […]“. 44 WA 6, 417,24–25, wo er sich über die dränglerische Betriebsamkeit in Rom äußert, oder in der „Treuen Vermahnung, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung“ (WA 8, 684,5): „das gantze gewurm und geschwurm Bepstlichs regements“. „Geschwürm“ lässt sich dabei als Nebenform zum älteren „Geschwärme“ interpretieren; vgl. Art. geschwürm. in: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch 6, Berlin/New York 2011, 1426.
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In Zwickau begegnet eine Semantik des ‚Schwärmerischen‘ im Frühjahr 1521 in den Auseinandersetzungen um Thomas Müntzer in zwei Spottgedichten, dort verknüpft mit der Geistthematik.45 Als Substantiv begegnet es dann erstmals im Sommer 1522 in „Luthers Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch“, wo er – nun ironisch relativierend – von „unßern schwermernn, die sich unßers namen rhuemen“ spricht.46 Der Begriff begegnet in der Folgezeit v. a. in Predigten, wo die „Schwärmer“ so profiliert werden, dass sie das Evangelium nicht richtig erfasst hätten und demselben Schande bereiteten.47 Nachdem Luther für einige Monate nur gelegentlich das Verbalsubstantiv „Schwärmen“ gebraucht hat, erhält die Rede von den „Schwärmern“ ab dem Sommer 1524 dann neue Dynamik, nun auch in der politischen Kommunikation im Hinblick auf Orlamünde, wo Karlstadt wirkt.48 Im Herbst 1524 beginnt dann die weitere Qualifizierung des Schwärmerbegriffs durch Komposita: Es sind „spiritus schwermer“ und „schwermer geister“49 – die Geistthema tik wird nun auch hier explizit eingeflochten und stellt die Verbindung zum Pro phetendiskurs her.
4. Argumentatio ad hominem Es ist aufschlussreich, wie in diesem Zusammenhang Karlstadt profiliert wird. Über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Karlstadt und Luther ist viel geschrieben worden, wobei man die zunehmend divergierenden Wege der beiden entweder stärker in der strategischen Ausrichtung konkreter Reformmaßnahmen oder in tiefer liegenden theologischen Differenzen verortet hat.50 Auffällig ist zumindest, dass Karlstadt – der gerne als charismatische Führungsgestalt der reformatorischen Maßnahmen während der sogenannten Wittenberger Unruhen apostrophiert wird – für Luther während seines Wartburgaufenthalts zunächst so gut wie keine Rolle spielte. Selbst auf die öffentlichkeitswirksame Abendmahlsfeier Karlstadts an Weihnachten 1521 gibt es keine Reaktion Luthers. Das ändert sich erst, als die Ent wicklungen über Wittenberg hinaus nach Eilenburg ausgreifen, das Reichsregiment 45 ThMA 3, 82,9–12: „O Thoma Müntzer du heylier man / Wan dich der schwirmig geyst komtt an / So predigst das creutz mit grosem vleys / Sich das dich der teuffell nicht eins bescheiß“; ThMA 3, 85,4–6: „Do du schwirmbst mitt ungestum und fewr geschrey / Es sein nicht hundstag, sonder itzt komtt der mey / Yedoch hab ich mich nicht gantz recht bedacht / Ob solchs der gutt ader böß geyst hatt gemacht“. 46 WA 10II, 243,33. 47 Vgl. WA 11, 42,37 (vom 1.3.1523); WA 12, 497,15; 503,20; 505,25 (vom 6.4.1523). 48 WA.B 3, 258,23–24; 310,44 (Korrespondenz zwischen Luther und Herzog Johann Friedrich im Juni 1524); WA 15, 345,20 (Martin Reinhards Handlung Luthers mit dem Orlamünder Rat von Ende September 1524). 49 So Luther in einer Predigt vom 2.10.1524 (WA 15, 699,4). 50 Zur Forschungsgeschichte vgl. Keßler, Martin: Das Karlstadt-Bild in der Forschung, Tübingen 2014 (BHTh 174).
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aktiv wird und mit der Wittenberger Stadtordnung, in deren Entwicklung Karlstadt involviert war, endgültig eine konfliktive Situation mit der Landesherrschaft entsteht. Von den kurfürstlichen Räten im Rahmen von Verhandlungen im Februar 1522 zum Rädelsführer einer zu sehr akzelerierten und weitreichenden reformatorischen Bewegung in Wittenberg stilisiert, wird erst jetzt eine deutlich negativierte Sicht auch bei Luther greifbar. Nach seiner Rückkehr von der Wartburg formulierte Luther in seinen Invokavitpredigten, der Teufel sei ihm „von der Seite“ in seine Wittenberger Herde gefallen.51 Genau dieses Bild, dass der Teufel oder ein Wolf ihm in der Gestalt Karlstadts in seine Herde gefallen seien, kommunizierte Luther immer wieder in verschiedenen Briefen und in verschiedene Richtungen im Frühjahr 1522.52 Ein weiteres Element, das für die folgende Zeit prägend werden sollte, ist damit das der Personifizierung. Bestimmte Einzelpersonen erscheinen mit ihrer Persönlichkeit als zentrale Repräsentanten einer falschen Theologie und einer falschen Frömmigkeit und es wird ein bestimmter Umgang mit ihnen empfohlen und praktiziert. Edwards spricht in seinem Buch „Luther and the False Brethren“ in diesem Zusammenhang von einer „ad hominem attack“.53 Dabei gab es aber auch hier nicht nur Exklusionsbestrebungen – manifestiert im Umgang mit Karlstadt –, sondern ebenso Kohäsionsmomente. Das lässt sich sehen an der Gestalt Gabriel Zwillings, der als Klosterbruder Luthers während dessen Abwesenheit eine entscheidende Rolle im Vorantreiben der Reformen in Wittenberg spielte, sowohl was den Abendmahlsempfang in beiderlei Gestalt als auch was die Bilderentfernung sowie die Klosterauflösung anging, sogar als „zweiter Martin“ und eigentlicher Initiator der Reformen hervorgehoben werden konnte,54 in der Memoria der ‚Wittenberger Unruhen‘ aber kaum eine Rolle spielt. Erklärbar ist dies dadurch, dass Zwilling nach der Rückkehr Luthers ausgesprochen schnell einlenkte und auch nicht publizistisch tätig geworden war. „Gabriel erkennt sich […] und ist zu einem andern Manne verändert“, schreibt Luther Mitte März 1522 an Wenzeslaus Link.55 Luther konnte ihn sogar für eine Predigttätigkeit nach Altenburg empfehlen, wenngleich er ihn in Briefen mehrfach zu geistlicher Demut ermahnte.56 Dass Zwilling nicht durch Schriften hervorgetreten ist, scheint ein wesentliches Element zu sein, 51 LStA 2, 532,34–533,2: Der Teufel „schla(e)fft nitt / sond(ern) er sicht das ware liecht auff geen / das es jm nit vnder die auge(n) gieng / wollte er gerne zu(o) der seyten einreyssen / vn(d) er wirt es thu(o)n / werden wir nicht auffsehen“. 52 So in Briefen an Friedrich den Weisen (WA.B 2, Nr. 456), Nikolaus Hausmann (Nr. 459), Nikolaus Gerbel (Nr. 460) und Wenzeslaus Link (Nr. 462) vom März 1522. 53 Edwards, Mark U.: Luther and the False Brethren, Stanford 1975, 22. 54 Vgl. den Brief Sebastian Helmanns an Johann Heß vom 8.10.1521, in: Müller, Nikolaus (Hg.): Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522. Die Vorgänge in und um Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthalt, Leipzig 21911, 16: „Deus suscitanit nobis alium prophetam, M onachum eius dem ordinis, qui adeo syncere, adeo candide Euangelium predicat, ut ab omnibus Alter Martinus Nominetur“. 55 WA.B 2, 478,6 (Nr. 462): „Et Gabriel quidem sese agnoscit, et in alium virum mutatus est“. Deutsche Übersetzung in Anlehnung an Walch2 XV, 2610. 56 Vgl. Luthers Briefe an Zwilling vom 17.4. und 8.5.1522 (WA.B 2 Nr. 478 u. 487).
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weshalb Luther ihn aus der Memoria der sogenannten Wittenberger Unruhen mehr oder weniger ‚verschwinden‘ lassen konnte. Er scheint eine außergewöhnliche Redebegabung gehabt zu haben, aber er war kein theologischer Publizist. Was Karlstadt und die Zwickauer verband, sie aber von Zwilling unterschied, war ihre Renitenz gegen – wie Luther sie verstand – brüderliche Ermahnungen und ihr damit einhergehendes Wahrheitsbewusstsein. Entsprechend kam es zu einem sich immer stärker steigernden Vorgehen gegen Karlstadt, der zunächst von Luther stigmatisiert, dann mit einem Predigtverbot belegt, sodann unter strenge Zensur gestellt und schließlich aus Sachsen ausgewiesen wurde. Es hatte immer wieder Kontaktaufnahmen und Gespräche zwischen Luther und Karlstadt bis zur Mitte der 1520er Jahre gegeben, aber zu einer dauerhaften Verständigung kam es nicht mehr. Hatte Luther Karlstadt früher als „Bilderstürmer“ eingeordnet, den der Satan treibe, und seine Anhänger als „Schwärmer“, so reihte er ihn seit 1524 auch in die Gruppe der „neuen Propheten“ ein, eine Vereinnahmung, gegen die sich Karlstadt verwahrte, wobei Luther aber blieb: „Ir steet dennoch bey den newen propheten.“57 Ende 1524 warnte Luther die gemäßigten Anhänger der Reformation in Straßburg, wo Schriften Karlstadts gedruckt wurden und dieser z. T. offene Ohren zu finden schien, davor, dass „sich new propheten an etlichen enden auff werffen“.58
5. Aggregative Verdichtung Das Ineinanderblenden dessen, was vorher mit den semantischen Feldern von Bildstürmern und Propheten unterschiedliche Aspekte evozierte, stellt strukturell ein Element dar, das charakteristisch werden sollte für Luthers weitere Wahrnehmung bzw. Konstruktion innerreformatorischer Devianz. Dieses Phänomen zeigt sich auch im Umgang mit Thomas Müntzer. Müntzer, ursprünglich mit loser Verbindung nach Wittenberg und 1520 von Luther sogar auf eine Pfarrstelle in Zwickau empfohlen, entwickelte eine reformatorische Theologie, die sowohl in der Applikation des Glaubens als auch in der sozialen Gestaltung des Christentums von Luther differierte und in der Bereitschaft, mit politischen Ordnungen zu brechen, revolutionäre Züge trug. Die Schrift, in der dieses Ineinanderblenden vor allem deutlich wird, ist Luthers Schrift „Wider die himmlischen Propheten“ aus dem Winter 1524/2559 – „himmlische Propheten“ insofern, als dass die Gemeinten vorgäben, dass die himmlische Stimme allein zu ihnen spreche.60 Angesprochen wird 57 Reinhard, Martin: Wes sich Dr. Andreas Bodenstein von Karlstadt mit Doktor Martino Luther beredt zu Jena […], 1524; WA 15, 334–341, hier 339,27. 58 Eyn brieff an die Christen Zu Straspurg widder den schwermer geyst; WA 15, 391–397, hier 393,1–2. 59 WA 18, 62–214. 60 Der gedankliche Ansatz zu dieser Bezeichnung findet sich in einem offenen Brief gegen Müntzer vom Juli 1524, wo es über dessen Anhängerschaft ironisch heißt: „Vom hymel komen sie und hören Gott“; WA 15, 211,24–25, vgl. Mühlpfordt: Luther, 327.
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in der Schrift meistens Karlstadt, das Karlstadt-Bild ist aber maßgeblich geprägt von Erfahrungen mit Müntzer. Ausgiebig begegnet der Prophetenbegriff – hier nun auch in der Zuspitzung „falsche Propheten“ –, ein eigenes Kapitel widmet sich dem Bildstürmen. „Schwärmen und Stürmen“ seien zu unterbinden, „rottischem, sturmischem und schwermischem geyste“ muss widerstanden werden.61 Es sind „Rottengeister“, die den Pöbel verführen und zum Aufruhr reizen.62 Was bereits an diesen wenigen Beispielen deutlich wird, ist, wie sehr bisher zumindest sprachlich differenzierte Momente nun auf einer Ebene begegnen. Schon vor dem Bauernkrieg und vor dem Auftreten der Täufer haben sich die Kategorien für ihre Wahrnehmung und Einordnung ausgeprägt und verdichtet; noch stärker sollten sie in der Folgezeit aktionale Konsequenzen zeitigen. Die Kohäsion einer Wittenberger reformatorischen Identität würde voranschreiten; die Ausscheidung diffundierender Elemente war im Wesentlichen bereits geschehen.
6. Fazit Versucht man, die aufgezeigten Schlaglichter im Sinne einer sprachlichen Handlungsdynamik in ein bestimmtes Gefüge zu bringen, so lässt sich in einer ersten Phase beobachten, wie über den Pronominalgebrauch Kohäsionsmomente greifbar werden: nos und noster erscheinen dabei als erste Indikatoren eine distinkten Identitätsformierung. Damit verbunden wird zweitens die Distanzierung von anderen Optionen v. a. aktionaler Aneignung: non sunt nostri. Zum entscheidenden Punkt der Akzentuierung der eigenen Positionen wird drittens das Thema der äußeren Unruhe und des Aufuhrs. Eine Abwertung alternativer Verwirklichungsformen erfolgt viertens durch die Diabolisierung der Gegner bzw. ihrer Agitation: der Teufel versucht von innen zu zerstören, er ist Luther in seine Wittenberger Herde gefallen. Dabei können bestimmte Personengruppen ausgemacht werden, die auf je ihre Weise theologische und geistliche Eigenmächtigkeit (Propheten) oder ein falsches Verständnis des Evangeliums in unkontrollierte soziale Aktion der Volksmassen umsetzen (Bilderstürmer). Eine Festschreibung dieser Position erfolgt schließlich durch die aggregative Verdichtung zu einem publizistisch konturierten Gesamtphänomen und die gelungene Behauptung der Deutungshoheit durch Luther im öffentlichen und privaten Diskurs. Auf lange Sicht sollten die in dieser Frühzeit der Reformation gebildeten Kategorien – besonders die des „Schwärmers“ – in der Ausprägung eine lutherischen konfessionellen Identität eine ausgesprochene Wirkmächtigkeit entfalten und gleichzeitig als „Anti-Schwärmer-Diskurs“ die innerkonfessionelle Selbstverständigung
61 WA 18, 68,24. 62 Vgl. auch Ristau, Harald: Understanding Martin Luther’s Demonological Rhetoric in his Treatise against the Heavenly Prophets, Lewiston 2010.
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über Legitimität und Grenzen innerlutherischer Pluralisierung offen halten.63 In dieser Perspektive findet sich konfessionskulturell ein dynamische Element, das immer wieder neu nicht nur ein Abgrenzen nach außen, sondern auch eine Selbstvergewisserung nach innen beinhaltete.
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Christopher Spehr
Geistlicher Biesemknopf und kräftiger Osterhonig Lutherische Predigtkultur um 1600 am Beispiel des schlesischen Pfarrers Valerius Herberger
„Christliebendes Hertz / das heutige Evangelium ist zwiefach und geduppelt / denn es ist von zwey tröstlichen schönen Historien zusammen gezwist / und gefüget. Derowegen betrachte es mit duppelter zwiefacher andacht / es wird dir vielmehr als zwiefachen Trost und frommen bringen.“1
Mit diesen Worten eröffnete Valerius Herberger, lutherischer Prediger in Fraustadt, seine Postillenpredigt für den dritten Sonntag nach Epiphanias. In direkter Anrede an die Hörer griff er das Sonntagsevangelium (Mt 8,1–13) Die Heilung eines Aussätzigen und Der Hauptmann von Kapernaum auf und entfaltete es als Botschaft an das „christliebende Hertz“.2 Dieses galt ihm in Anlehnung an Luther als menschliches Lebenszentrum, Ort des Glaubens und Organ des Evangeliums, durch das Entdeckungen des Evangeliums überhaupt möglich werden.3 Seine Predigten verstand Herberger als Herzenspredigten, die von Jesus Christus als Herzensbotschaft zeugen und zu Herzen gehen sollten. Herbergers Herzenstheologie, die er nicht allein in der zitierten Predigt, sondern insgesamt in seinem zweibändigen Predigtwerk mit dem sprechenden Titel „Hertz-Postilla“ entfaltete, war für die lutherische Predigtkultur um 1600 programmatisch. Keineswegs war diese Predigtkultur verkopft, undynamisch, rückwärtsgewandt und einer in Formalismus erstarrten Theologie entsprungen, wie mit Blick 1 Hertz-Postilla Valerij Herbergeri, in welcher alle ordentliche SontagsEvangelia vnd auch aller fürnehmen berühmeten Heiligen gewöhnliche Feyrtags-Texte / durch gantze Jahr auffgeklitzschet / den Kern außgeschelet / auffs Hertz andechtiger Christen geführet / vnd zu heilsamer Lehr / notwendiger Warnung / nützlichem Trost / andechtigem Gebet / vnsträfflichem Leben / vnd seliger Sterbenskunst abgerichtet werden. Mit lieblichen Eingängen / liechten verständlichen Erklärungen / vnd hertzrührenden Valet-Segen einig vnd allein aus den Hertzblätlin vnd Adern / aus dem Marck und Safft der abgehandelten Texte geflösset / Bevoraus dem liebreichen süssen trewen Hertzen JESU zu Lobe. Demnach alle Gottergebenen Evangelischen Hertzen / die lust haben alle Sontage / Feyertage vnd Feyrstunden Christlich zu heiligen zu Liebe. Durch fleissiges Gebet / lesen vnd nachdencken / Hertz / Mund vnd Feder / bey dem Kriplein Christi zur Frawenstadt gestellet. Band 1, Leipzig [1613], 172. 2 Herberger, Valerius: Am dritten Sonntage nach der heiligen drey Könige, in: Ders.: HertzPostilla, 170–179. 3 Zum Begriff „Herz“ bei Luther vgl. Stolt, Birgit: Martin Luthers Rhetorik des Herzens, Tübingen 2000, 49–57 (UTB 2141); Slenczka, Notger: Art. Herz, in: Volker Leppin/Gury SchneiderLudorff (Hgg.): Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, 293 f.
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auf die lutherische Orthodoxie bisweilen immer noch behauptet wird.4 Vielmehr entwickelte sich in der Zeit der Frühorthodoxie neben dem akademischen Streit um die orthodoxen Lehrgehalte eine vitale lutherische Frömmigkeitskultur, deren Blüten von der bildenden Kunst über die metaphorische Sprachkunst und Poesie bis hin zur umfangreichen Choral- und Figuralmusik reichten.5 Die Produktion und Verbreitung von Gebets- und Andachtsbüchern, geistlichem Liedgut sowie Predigtbänden u. a. ergänzten die Entwicklung.6 Durch diese und andere Medien wurde das Evangelium in Kirche, Staat und Gesellschaft vermittelt und der Glaube verlebendigt. Allerdings wäre es kirchen- und kulturhistorisch zu kurz gegriffen, wollte man diese Frömmigkeitskultur mit Blick auf Johann Valentin Andreae und Johann Arndt als „Frühpietismus“ bezeichnen.7 Der Vielfalt und Ausdrucksstärke einerseits und dem historischen Pietismus Spenerscher und Franckescher Prägung andererseits, der als sozial fassbare Bewegung auftrat, wird eine solche Einordnung nicht in gebührender Weise gerecht. Doch was charakterisierte die angedeutete lutherische Frömmigkeitskultur näherhin? Was zeichnete sie aus? Und worin bestand ihr Beitrag für die Kirchengeschichte? Obwohl es eine lohnenswerte Aufgabe wäre, die reichhaltige Frömmigkeitskultur in ihren verschiedenen Ausdrucks- und Stilformen hier zu entfalten,8 möchte ich mich im Folgenden – in Fortschreibung und Erweiterung der Forschungsgebiete des Jubilars – auf die lutherische Predigtkultur um 1600 konzentrieren und anhand von Valerius Herbergers Evangelienpostille exemplarisch einige „merkwürdige“ Beobachtungen zusammentragen und Entdeckungen ventilieren. Vorangestellt seien ein paar Bemerkungen zur Predigtkultur um 1600.
1. Predigtkultur um 1600 Die Reformation war bekanntlich eine Predigtbewegung. Die evangelische Predigt war für die Reformation unabhängig von theologischen Ausdifferenzierungen und Lagerbildungen grundlegend, zumal ihr eine heilsmittlerische Funktion zuerkannt 4 So prägte z. B. Heussi, Karl: Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen 81933, 329 folgende Vorstellung für Generationen von Theologiestudenten: „Der Intellektualismus der Theologie war der Frömmigkeit wenig günstig. Trotzdem lebte unter diesen erstarrten Formen eine tiefe Religiosität.“ 5 Vgl. Spehr, Christopher: Art. Im Zeitalter der lutherischen Bekenntnisbildung und Orthodoxie, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 32017, 510–520, hier: 518 f. 6 Vgl. z. B. den grundlegenden Beitrag von Althaus, Paul: Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur, Gütersloh 1927. Einen eher gegensätzlichen Ansatz zwischen lutherischer Orthodoxie und Frömmigkeitsbewegung verfolgt Brecht, Martin: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: Ders. u. a. (Hgg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 113–203. 7 Zum Begriff „Frühpietismus“ vgl. Wallmann, Johannes: Die Anfänge des Pietismus, in: Ders.: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 2008, 22–66, hier: 32–34. 8 Vgl. hinsichtlich des Liedgutes z. B. Brecht, Geschichte des Pietismus 1, 188–194.
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wurde. Für den evangelischen Gottesdienst spielte sie die zentrale Rolle. Nicht nur als Predigt im sonntäglichen Hauptgottesdienst, sondern auch in den Wochengottesdiensten oder in Form von Katechismuspredigten gehörte sie zum Kernbestand evangelischer Verkündigung.9 Hinzu traten im Gefolge der Reformation Trau- und Taufpredigten, die ebenso das evangelische Leben prägten wie die Leichenpredigten, die vermögende Personen in den Druck gaben und die eine Auflage von 100 bis 300 Exemplaren erreichen konnten.10 Im Durchschnitt hatte ein Pfarrer des späten 16. und 17. Jahrhunderts jährlich gut 200 Predigten zu halten, die zwischen ein und zwei, bisweilen auch drei Stunden dauern konnten.11 Um 1600 erlebte die lutherische Predigtkultur eine Umbruchsphase, die mit einem signifikanten „Frömmigkeitsschub“, mystischen Impulsen und einem Gene rationenwechsel der Prediger zusammenhing.12 Damit einhergehend hatten sich im lutherischen Bereich verschiedene Predigtstile ausgeprägt, die allesamt einer lebenspraktischen Vermittlung der doctrina verpflichtet waren. Um die Rezeptions fähigkeit beim Hörer zu steigern, bedienten sich zahlreiche Prediger bis weit ins 17. Jahrhundert hinein der Emblemata oder Dingallegorie als stilistischer Eigenart.13 9 Vgl. Beutel, Albrecht: Art. Predigt. II. Geschichte der Predigt, in: RGG4 6 (2003), 1585–1591, hier: 1587 f. 10 Aus der umfänglichen Forschungsliteratur zur Leichenpredigt sei exemplarisch genannt Winkler, Eberhard: Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener, München 1967 (FGLP 10/34); Moore, Cornelia Niekus: Patterned Lives. The Lutheran Funeral Biography in Early Modern Germany, Wiesbaden 2006 (Wolfenbütteler Forschungen 111); Löffler, Katrin: Die protestantische Leichenpredigt im 17. Jahrhundert. Valerius Herberger und Johann Benedikt Carpzov im literaturgeschichtlichen Vergleich, in: Stefan Michel/Andres Straßberger (Hgg.): Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699), Leipzig 2009, 329–361 (LeucoreaStudien 12); Dickhaut, Eva-Maria (Hg.): Leichenpredigten als Medien der Erinnerungskultur im europäischen Kontext, Stuttgart 2014 (Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften 5). 11 Vgl. Beutel, Albrecht: Lehre und Leben in der Predigt der lutherischen Orthodoxie. Dargestellt am Beispiel des Tübinger Kontroverstheologen und Universitätskanzlers Tobias Wagner (1598–1680), in: Ders.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 161–191, hier: 164. 12 Häufig wird dieser Schub in Anlehnung an Winfried Zeller (Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts, Bremen 1962, XIII–LXVI) als Reaktion auf die sogenannte „Frömmigkeitskrise“ um 1600 beschrieben, die allerdings kritisch zu rekontextualisieren ist. Vgl. hierzu ausführlich Matthias, Markus: Gab es eine Frömmigkeitskrise um 1600?, in: Hans Otte/Hans Schneider (Hgg.): Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“, Göttingen 2007, 27–43 (SKGNS 40); Wallmann, Johannes: Zur Frömmigkeitskrise des 17. Jahrhunderts, in: Ders.: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 2008, 118–131; Sparn, Walter: Die Krise der Frömmigkeit und ihr theologischer Reflex im nachreformatorischen Luthertum, in: Ders.: Frömmigkeit, Bildung, Kultur. Theologische Aufsätze I: Lutherische Orthodoxie und christliche Aufklärung in der Frühen Neuzeit, Leipzig 2012, 61–92 (MThSt 103). Zum Begriff Frömmigkeit vgl. Sparn, Walter: Art. Frömmigkeit II. Fundamentaltheologisch, in: RGG4 3 (2000) 389 f. 13 Zur Emblematik in der orthodoxen Predigt vgl. Müller, Hans Martin: Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York 1996, 79 f. Zu den Pflanzenemblemata vgl. Marten, Maria: Buchstabe, Geist und Natur. Die evangelisch-lutherischen Pflanzenpredigten in der nachreformatorischen Zeit, Bern u. a. 2010 (Vestiga bibliae 29/30).
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Als Emblematik, die in ähnlicher Weise auch in der katholischen Barockpredigt zur Anwendung kam und aus der Rhetorik stammte,14 dienten Alltagsgegenstände, Pflanzen oder Tiere, die allegorisch in der Predigt und darüber hinaus gedeutet wurden. Auch wenn es für heutigen Geschmack skurril erscheint: diese Formen ermöglichten eine Identifizierung des Hörers mit dem Text. Die Lebenswelt des Hörers wurde in der Predigt vergegenständlicht und biblisch-theologische Aussagen konnten so durch anschauliche Begriffe verständlich gemacht werden. Häufig knüpfte der Prediger auch an Dinge an, die im Predigttext vorkamen, und entfaltete diese umfänglich. Ziel jeder Predigt war es, den Hörer zu belehren, zu ermahnen und zu trösten. Diesem Ziel suchten die Prediger durch einen klaren Aufbau und eine nachvollziehbare Struktur zu entsprechen. Selbstverständliche Grundlage war der vorgeschriebene Bibeltext. Über Martin Luther war die mittelalterliche Perikopenordnung in die lutherische Predigtkultur vermittelt worden, während sich im reformierten Bereich die lectio continua ganzer biblischer Bücher etabliert hatte.15 Um die Predigtkompetenz der Pfarrer zu stärken, entstanden vornehmlich im Luthertum gedruckte homiletische Florilegien, Predigthandbücher und Postillen. Insbesondere letztere boten als Musterpredigten Perikopenauslegungen aller Sonn- und Festtage im Kirchenjahr und sollten der Erbauung dienen.16 Während der Absatzmarkt spätmittelalterlicher Plenarien oder Evangelienbücher durch die Reformation zum Erliegen gekommen war, setzte sich die Postille als neue Literaturgattung durch. Insbesondere Luthers Postillen sprengten den üblichen Rahmen religiöser Gebrauchsliteratur bei weitem und entwickelten sich durch zahlreiche Auflagen und Übersetzungen – bis 1617 erschienen 47 Ausgaben von Luthers „Winterpostille“ und bis 1609 81 Ausgaben der „Hauspostille“ – neben der „Deutschen Bibel“ und den Katechismen zu den wirkmächtigsten Werken des frühen Protestantismus. Dass Luthers Postillen – anders als die Mehrheit seiner übrigen Schriften – eine derart große Verbreitung erfuhren, war nicht zuletzt obrigkeitlichen Anweisungen geschuldet, durch welche die Geistlichen angehalten wurden, zur Predigtvorbereitung lutherische Postillenwerke zu nutzen. Das Schmähwort „Postillenreiter“, mit dem ein Pfarrer bezeichnet werden konnte, der lediglich die Postille auf der Kanzel vortrug,
14 Grundlegend für die Emblematik, die seit 1531 als symbolische Weltsicht begegnet und die Dichtung im Barock prägen sollte: Alciati, Andrea: Emblematum liber […], Augsburg 1531. Vgl. Henkel, Arthur/Schöne, Albrecht (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Darmstadt 22013. 15 Zur Gesamtproblematik vgl. Bloth, Peter C.: Art. Schriftlesung I. Christentum, in: TRE 30 (1999), 520–558. 16 Vgl. Frymire, John M.: The Primacy of the Postils. Catholics, Protestants, and the Dissemination of Ideas in Early Modern Germany, Leiden/Boston 2010 (SMRT 147); Zschoch, Hellmut: Theologie des Evangeliums in der Zeit. Martin Luthers Postillenwerk als theologisches Programm, in: Albrecht Beutel/Reinhold Rieger (Hgg.): Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie. Festschrift für Ulrich Köpf, Tübingen 2011, 575–599; Christopher Spehr, Art. Postillen, in: Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hgg.): Das Luther-Lexikon, Regensburg 22015, 551–556.
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sollte erst Anfang des 18. Jahrhunderts populär werden. Darüber hinaus dienten die Postillen – ausgehend von Luthers „Hauspostille“ – zur Erbauung des lutherischen Hauses, so dass eine Vielzahl von Postillen in Bürgerhäusern zum Bücherschatz zählte. Bedeutende Postillenautoren zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren unter anderem Johann Arndt, Johann Gerhard, Johannes Heermann und besagter Valerius Herberger. Für das gesamte 17. Jahrhundert werden ungefähr 700 gedruckte Postillen gezählt.17 Angesichts dieser Fülle ist es überraschend, dass die Postillen, die nach lutherischem Vorbild auch katholische Prediger anfertigten, in ihrem theologie- und predigtgeschichtlichen Reichtum – insbesondere für das späte 16. bis 18. Jahrhundert – bis heute kaum eingehender erforscht sind. Anders als die Leichenpredigten, die seitens der Historiker im Rahmen der Biographieforschung große Beachtung finden, warten die Postillen nicht nur als Teil der Predigtgeschichte noch immer auf eine Tiefenerschließung. Ausnahmen bilden hier lediglich die Johann-Arndtund die Johann-Gerhard-Forschung, in denen die Postillen einen wesentlichen Bestandteil der Untersuchung ausmachen.18
2. Der Fraustädter Prediger Valerius Herberger Einer der bedeutendsten lutherischen Postillenautoren war Valerius Herberger.19 Seine zweibändige Evangelienauslegung „Hertz-Postilla“, die 1613/14 in Leipzig erschien und seit 1691 unter dem Kurztitel „Evangelische Hertz-Postilla“ verbreitet 17 Vgl. Niebergall, Alfred: Die Geschichte der christlichen Predigt, in: Karl Ferdinand Müller/ Walter Blankenburg (Hgg.): Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes. Bd. 2, Kassel 1955, 181–353, hier: 293. 18 Zu Arndt vgl. u. a. Schneider, Hans: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621), Göttingen 2006 (AGP 48) (Literaturübersicht a. a. O., 265–278); Otte/Schneider, Frömmigkeit oder Theologie; Sommer, Wolfgang: Frömmigkeit und Weltoffenheit im deutschen Luthertum, Leipzig 2013 (Leucorea Studien 19); Zu Gerhard u. a. Friedrich, Markus/Salatowsky, Sascha/Schorn-Schütte, Luise (Hgg.): Konfession, Politik und Gelehrsamkeit. Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582–1637) im Kontext seiner Zeit, Stuttgart 2017; Doc trina et pietas. Zwischen Reformation und Aufklärung. Texte und Untersuchungen, Abt. 1: Johann Gerhard-Archiv, hg. v. Johann Anselm Steiger, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 ff. Hier insbesondere Gerhard, Johann: Postilla (1613), kritisch hg. v. Johann Anselm Steiger, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014–2017 (Doctrina et pietas, Abt. 1, 7,1–7,3). 19 Zu Herberger vgl. in Auswahl: Lauterbach, Samuel Friedrich: Vita, Fama Et Fata Valerii Herbergeri: Das merckwürdige Leben, guter Nach-Ruhm, und seliger Abschied, Des theuren und um die Kirche Gottes hoch-verdienten Theologi, Hn. Valerii Herbergers, Weiland Predigers zur Fraustadt in Groß-Pohlen […], Leipzig 1708; Jannasch, Wilhelm: Art. Herberger, Valerius, in: NDB 8 (1969) 576 f.; Schott, Christian-Erdmann: Fraustadts Bedeutung für die Kirchengeschichte, in: JSKG 75 (1996), 23–44; Ders.: Art. Herberger, Valerius, in: RGG4 3 (2000), 1640; Illig, Thomas/ Steiger, Johann Anselm: Art. Herberger, Valerius, in: Frühe Neuzeit in Deutschland. 1520–1620. Literarturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd. 3, hg. v. Johann A. Steiger u. a., Berlin/Boston 2014, 266–278.
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wurde, erlebte als Trost- und Erbauungsbuch bis 1740 mindestens 22 Auflagen.20 Neben Johann Arndts „Vier Bücher vom Wahrem Christentum“ zählte es zu den populärsten Erbauungsbüchern des Luthertums im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Dieses Postillenwerk wurde durch die postum veröffentlichten „Epistolischen Hertz-Postilla“ (1693)21 und die „Stoppel-Postilla“ (1715)22 ergänzt. Herberger, der am 21. April 1562 im polnischen Fraustadt (heute Wschowa) geboren worden war, ging auf die dortige Lateinschule, später auf die im benachbarten Freystadt. Von dort wechselte er 1582 an die Universität Frankfurt (Oder) und noch im selben Jahr – mit einem Stipendium versehen – zum Theologiestudium an die Universität Leipzig. Bereits 1584 wurde Herberger durch den Stadtmagistrat zurück nach Fraustadt gerufen, wo er Prediger und Lehrer an der Lateinschule, 1590 Diakon der Pfarrkirche St. Marien und 1598 Oberpfarrer und erster Prediger in seiner Geburtsstadt Fraustadt wurde. Die Maßnahmen der Gegenreformation, die in dem in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts noch mehrkonfessionellen Polen umgesetzt wurden und unter dem katholischen König Sigismund III. Wasa Unterstützung fanden, machten auch vor dem 1552 lutherisch gewordenen Fraustadt nicht Halt.23 Auf königlichen Befehl musste die lutherische Gemeinde 1604 die Stadtpfarrkirche an die katholische Kirche abtreten. Immerhin wurde den Lutheranern gestattet, ihren Gottesdienst weiterhin öffentlich auszuüben. Am Rande der Stadt errichteten sie aus zwei Bürgerhäusern eine Notkirche namens „Kripplein Christi“, deren Name Programm war.24 Im Innenraum der drei Emporen fassenden Diaspora-Kirche hatte Herberger neben Bibelversen schlichte Merk- und Trostverse anbringen lassen, wie zum Beispiel: „Hast du geweinet bitterlich, / Zum Kripplein Christi finde dich. Und wär’ dein Herzleid noch so groß, / So wirst du hie des Kummers los!“25 Die konfessionelle Konfrontation gehörte zum Fraustadter Alltag, spielte aber in Herbergers auf Irenik ausgerichteten Erbauungsschriften kaum eine Rolle. Nachdem er sich auf der Kanzel gegen katholische Lehraussagen gewandt hatte, woraufhin er mehrfach vor ein dem König unterstehendes Gericht in Troppau geladen 20 Die Auflagen variieren zwischen 22 und 24. Während Schütz, Werner: Geschichte der christlichen Predigt, Berlin/New York 1972, 125 (Sammlung Göschen 7201) 24 Auflagen bei dem Leipziger Verlag Johann Friedrich Geditsch zählt, wird die Ausgabe von 1740 selbst als 22. Auflage tituliert. 21 Herberger, Valerius: Epistolische HertzPostilla […] / Jn welcher Alle ordentliche Sonntagsund hohen Fest-Episteln durchs gantze Jahr deutlich erkläret / auffs Hertze andächtiger Christen geführet / und zu heylsamer Lehre […] abgerichtete werden […], 2 Teile, Leipzig 1693. 22 Herberger, Valerius: Spicilegium Novi Testamenti sive Paralipomena, Oder Geistreiche Stoppel-Postilla, Aller und jeder Evangelischen Texte, die an denen heiligen Sonn- oder gewöhnlichen Fest-Tagen nicht vorkommen und abgehandelt werden […], 2 Teile, Leipzig 1715. 23 Vgl. Moritz, Hugo: Reformation und Gegenreformation in Fraustadt. 2 Teile, Posen 1907/08. 24 Zur Kirche vgl. Kohte, Julius: Die Kunstdenkmäler der Landkreise des Regierungsbezirkes Posen, Berlin 1898, 180–188. 25 Zitiert nach Buchholz, Ilse: Valerius Herberger. Prediger am „Kripplein Christi“ zu Fraustadt in Polen, Berlin 1965, 60.
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worden war, das ihn aber offenbar nicht bestrafte,26 enthielt er sich in seinen Predigtwerken der antikatholischen Polemik. Hinzu trat bei ihm ein von vielen Zeit genossen geschätztes friedfertiges und duldsames Wesen. Als Prediger und Seelsorger war Herberger weit über Fraustadt hinaus bekannt. Großen Anklang fanden seine volkstümlichen Predigten, aufgrund derer der Vertreter einer kirchlich-mystischen Jesus- und Herzensfrömmigkeit als „Hertzberger“ oder „Hertzprediger“27 überaus geschätzt und verehrt wurde.28 Seine verschiedenen Erbauungsbücher und Kommentare wie die aus Wochenpredigten hervorgegan genen „Magnalia Dei“ (1603–1622) trugen ihm zahlreiche Vergleiche mit Martin Luther und die Bezeichnung „kleiner Luther“ ein und wurden, wie das von ihm während der Pestepidemie 1613 in Fraustadt gedichtete Abschiedslied „Valet will ich dir geben“29, dessen Strophenanfänge den Vornamen des Dichters bilden, vom Pietismus des 17./18. Jahrhunderts und der Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert intensiv rezipiert.30 Trotz verschiedener auswärtiger Berufungsangebote zum Schulrektor, Pfarrer oder Superintendenten blieb der seit 1590 mit der Ratsherrentochter Anna Rüdinger verheiratete Herberger in Fraustadt, wo er sich auch sozial durch den Aufbau verschiedener wohltätiger Stiftungen engagierte. Er starb am 18. Mai 1627 infolge eines Schlaganfalls in seiner Heimatstadt Fraustadt. Seine zahlreichen, bisher von der Forschung kaum vollständig erfassten Publikationen, zu denen das „Psalterparadies“ (eine Auslegung der ersten 23 Psalmen), oder die „Trauerbinden“ (eine Sammlung von Leichenpredigten) zählten, waren weit verbreitet und inspirierten das Luthertum des 17. und frühen 18. Jahrhunderts.
3. Herbergers Predigtweise Charakteristisch für Herbergers Predigt war die Anrede des Hörers. Ihn wollte er als ein rechter Hertz-Prediger durch den Bibeltext lehren, trösten und erbauen sowie zu einem christlichen Leben ermutigen. Jesus Christus sollte sich durch das Wort 26 Vgl. Illig/Steiger, Herberger, 276. 27 Vorrede zu Herberger, Spicilegium 1. Teil, (5). 28 Zur Mystik im 17. Jahrhundert vgl. Wallmann, Johannes: Mystik und Kirchenkritik in der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts. Johann Arndt, Joachim Lütkemann, Philipp Jakob Spener, in: Ders.: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 2010, 103–126. 29 Der Erstdruck findet sich mit einer Melodie von Melchior Teschner in: Herberger, Valerius: Ein andechtiges Gebet / damit die Evangelische Bürgerschafft zur Frawenstadt Anno 1613. im Herbst / Gott dem HERRN das hertz erweichet hat / daß er seine scharffe Zornruthe […] in Gnaden hat nidergelegt. So wol ein tröstlicher Gesang / darinnen ein frommes Hertz dieser Welt Valet gibet […], Leipzig 1614, l 4r–m 3v. 30 Vgl. Evangelisches Gesangbuch (EG) 523; Sobiela-Caanitz, Mechthild: Art. Herberger, Valerius, in: Wolfgang Herbst (Hg.): Wer ist wer im Gesangbuch?, Göttingen 2001, 143. Zur Rezeption Herbergers vgl. Schott, Christian-Erdmann: Die Herberger-Renaissance im 19. Jahrhundert, in: JSKG 66 (1987), 125–139.
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der Predigt in die Herzen der Zuhörer einbilden. Insofern zielte Herbergers artifiziell-rhetorische Strategie auf die persuasio des Adressaten, wofür er umfangreiche exempla, Metaphern, Gleichnisse und rhetorische Stilmittel wie Sprichwörter, Merksätze, Wortspiele oder Reime nutzte.31 Zentral war ihm eine emblematischanschauliche Darstellungsweise,32 die hier kurz anhand zweier Evangeliumspredigten vorgestellt werden soll. Seine bereits eingangs zitierte Predigt vom dritten Sonntag nach Epiphanias – Herberger spricht von den „heiligen drey Königen“33 – trägt die Überschrift: „Geistlicher Bisemknopff / auff künfftigen Nothfall / das ist / von dem rechten Leibund Seelen-Arzt / alljährigen Tröster und Helffer Jesu Christo / zu welchem sich alle frommen Hertzen bald von anfang des Jahrs und ihres Lebens mit gleubigem Gebet in allen Orten und Nöthen biß auff ihr letztes Stündlein frewdig mögen wenden.“34 Ein Biesemknopf, Bisemkopff oder Bisam-Knopf, ist nicht mit der Heilpflanze Wiesenknopf zu verwechseln und auch nicht mit dem „Biesenknopf “, der Kugeldistel. Beim Biesemknopf handelt es sich um einen Duftstoffbehälter, genauer um eine Kugel mit Parfüm.35 Der in der Literatur seit ca. 1500 gebräuchlichere Name, unter dem das Parfümgefäß z. T. auch noch heute bekannt ist, lautet „Bisamapfel“. Bisam oder Moschus galt im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit als das kostbarste Parfüm, das nicht nur zum luxuriösen Wohlgeruch, sondern auch zur Abwehr unguter Gerüche diente. Vornehmlich wurde der wertvolle Moschus-Riechapfel aber als Allheilmittel – nicht zuletzt zur Pestbekämpfung – eingesetzt. Bereits seit dem 16. Jahrhundert konnte der Begriff auch allgemein auf kugelige Duftstoffbehälter übertragen werden, die mit je unterschiedlichen wohlriechenden Stoffen als Medizin gefüllt waren. In seiner Predigt griff Herberger diesen Gegenstand auf, transzendierte ihn aber durch das Adjektiv „geistlich“.36 Ein geistlicher Biesemknopf war somit eine himmlische Arznei, die Christus als der rechte Leib- und Seelen-Arzt den Gläubigen verschrieb. Dieses Bild partizipierte an der im zeitgenössischen Luthertum verbreite-
31 Vgl. Meid, Volker: Sprichwort und Predigt im Barock. Zu einem Erbauungsbuch Valerius Herbergers, in: ZVK 62 (1966), 209–234. 32 Zur Emblematik in der orthodoxen Predigt vgl. Müller, Hans Martin: Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York 1996, 79 f. 33 Herberger, Hertz-Postilla, 131: „Am grossen Newjahre / sonst der heiligen drey Könige genennet“. 34 Herberger, Hertz-Postilla, 170. 35 Vgl. Bisam-Kugel, Bisam-Knöpffe, Ambra-Aepffel, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 3, Leipzig 1733, 1933 f.; Smollich, Renate: Der Bisamapfel in Kunst und Wissenschaft, Stuttgart 1983 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie 21); Mohrmann, Ruth-Elisabeth: Zwischen Amulett und Talisman. Bisamäpfel als Standesabzeichen?, in: Gertrud Blaschitz u. a. (Hgg.): Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz 1992, 497–516. 36 Herberger, Hertz-Postilla, 170.
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ten „theologia medicinalis“, die sich medizinischer Topik bediente.37 Übrigens war Herbergers Metapher keine Neuschöpfung, sondern ein bereits seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gebräuchliches Bild. Als Titel findet sich die Methapher erstmals auf der Schrift „Der Geistliche Bisemknopf. Wider die erschreckliche Plag und Strafe der Pestilenz“, die der Eisenheimer Pastor Leonhard Werner 1564 publizieren ließ.38 Deutlich verbreiteter als die Schrift des Unterfranken – und wahrscheinlich von Herberger rezipiert – war das mehrfach aufgelegte Buch des Leipziger Superintendenten und Theologieprofessors Georg Weinrich aus dem Jahr 1598: „Geistlicher Bysemknopff. Aus Bewehrten Speciebus der Himlischen Apoteck zugerichtet, vnnd in jetzo regierenden gefehrlichen Sterbensleufften jederman nützlich zu gebrauchen“.39 Im Aufbau seiner Postillenpredigt lehnt sich Herberger an die klassisch orthodoxe Predigtdisposition an. Nach der Überschrift, einem Eröffnungsgebet und einer wenige Zeilen umfassenden thematischen Einführung folgt der Bibeltext Mt 8,1–13 – selbstverständlich aus der Lutherbibel –, welcher unter dem Titel „Die zwey heutigen Evangelischen Wunderwerck“40 subsumiert wird. Sodann bietet Herberger das Exordium (Encomion Evangelii), in dem er über Christus als Arzt handelt, der Sünden vergibt und alle Gebrechen heilt.41 Gleichzeitig werden im Exordium eine ganze Reihe weiterer Themen angezeigt. So greift er z. B. den Ort Kapernaum auf und fragt nach dem „edelste[n] Kleinot“ in einer Stadt.42 Was das ist, beantwortet er sogleich: 1. Gute Prediger, 2. Treue Regenten, 3. Eine wohlgezogene Bürgerschafft. „Wo diese drey Stück zu finden seyn / da ist ein reiches Capernaum / das ist / Schöndorff oder Trostburg.“43 Im Folgenden entfaltet Herberger die zuvor genannten drei Stände, indem er z. B. Rechenschaft über seine Predigtweise gibt: „Alle unsere Arbeit wird dahin gerichtet / daß de[s] HErrn Jesu Person / Ampt und Wohltaten erkant / bekannt / gerümet und gepreiset werden. Es ist eben,
37 Zur „theologia medicinalis“ im Luthertum vgl. Steiger, Johann Anselm: Medizinische Theologie: Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit, Leiden u. a. 2005 (SHCT 121). 38 Werner, Leonhard: Der Geistliche Bisemknopff. Wider die Erschröckliche Plag vnn Straff der Pestilentz. Woher auch solche Plag, sampt andern Kranckheyten vnd Leiblichen schmertzen, jhren vrsprung haben, vnd was für hülffliche mittel, wege vnd Artzney, (zu abwendung solcher straffen), sich die guthertzigen Christen haben zugebrauchen vnd zu getrösten […], Frankfurt a. M. 1564. 39 Weinrich, Georg: Geistlicher Bysemknopff. Aus Bewehrten Speciebus der Himlischen Apoteck zugerichtet, vnnd in jetzo regierenden gefehrlichen Sterbensleufften jederman nützlich zu gebrauchen […], Leipzig 1598. 40 Herberger, Hertz-Postilla, 171 f. 41 Vgl. Steiger, Johann Anselm: Christus medicus. Zu einem zentralen Aspekt der Theologie des Fraustädter Pfarrers Valerius Herberger, in: Marek Hałub/Anna Mańko-Matysiak (Hgg.): Śląska Republika Uczonych. Schlesische Gelehrtenrepublik. Bd. 5, Dresden u. a. 2012, 129–147. 42 Herberger, Hertz-Postilla, 172. 43 Ebd.
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als wenn der HErr Jesus selber predigte / denn er saget ja von allen trewen Evangelischen Predigern: Wer euch höret / der höret mich“.44 Seine Ausführungen enden mit der dispositio, der Nennung der dreiteiligen Predigtgliederung, die dem Schema propositio (1), tractatio (2) und applicatio (3) entlehnt sind, hier aber einen Schwerpunkt in der applicatio haben. Als Themen betont er entsprechend: 1. Einig und allein zu JEsu Christo sollen sich alle ehrliebende Hertzen das künfftige Jahr wenden in allen ihren Nöthen / sie seyn wer sie wollen / sie wohnen / wo sie wollen / ihr Elend sey so groß / als es immer seyn möge. 2. Wie sich denn alle fromme Hertzen gebührlich sollen verhalten in ihrem anligen. 3. Was sie für ein Hertz jederzeit von Anfang des Jahres biß zu Ende / bey dem HErrn Jesu werden finden.45
Im ersten Stück46 führt Herberger aus der Lebenswelt der Zuhörer den „Biesemknopf “ als Beispiel für eine mütterliche Vorsichtsmaßnahme gegenüber ihrem Kind an, das durch den Gegenstand vor schlechten Gerüchen in unreinen Gassen bewahrt werden soll.47 Diese Vorsichtsmaßnahme überträgt Herberger auf die Christenheit und betont, dass man sich in der Not einzig und allein an Jesus Christus, den geistlichen Biesemknopf, wenden solle. Im zweiten Stück48 lehrt Herberger seine Gemeinde die Verhaltensregeln: 1. Bete („ora“), 2. Glaube festiglich („crede“),49 dass dir der Herr Jesu könne helfen, 3. Gehe hin und Opfere die Gabe, die Mose befohlen hat („obtempera verbo dei. Age poenitentiam. Penesae Lazaro“) – die Dankesgabe ist gemeint, 4. Gebe dich in das Gebet der Gemeinde („non contemne inter cessionem Ecclesiae“) und 5. Sei allezeit demütig mit Gebet und Gebärden („semper humilis“). Durch dieses Verhalten sei man in der Not gewappnet. Das dritte Stück50 dient schließlich dem biblischen Trost gegen die plötzliche Not und der Erbauung. Auffällig ist das häufige Einfügen von Bibelstellen, die nicht nur den Predigttext betreffen, sondern auch andere Bibelverse mit einbeziehen. Das lutherische Schriftprinzip mit der Überzeugung, dass die Heilige Schrift sich selbst auslege, wird durch diese Methode befördert. Ebenfalls finden sich verschiedene Sprichwörter, durch die rhetorisch Volkstümlichkeit vermittelt wird. Ein Valet-Segen,51 in dem noch einmal wesentliche Gedanken aufgenommen wurden, rundet jede Postille ab.
44 Ebd. 45 Herberger, Hertz-Postilla, 173. 46 A. a. O., 173 f. 47 A. a. O., 173. 48 A. a. O., 175–177. 49 A. a. O., 175. 50 A. a. O., 177–179. 51 A. a. O., 179.
Geistlicher Biesemknopf und kräftiger Osterhonig
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Eine zweite Predigt, die hier kurz erwähnt werden soll, ist die Predigt am Osternachmittag.52 Weil Herberger die gesamte Ostergeschichte in einer Evangelienharmonie bereits in der Postille für den Vormittag am Ostersonntag dargeboten hatte,53 enthielt er sich hier des Bibeltextes. Auch sonst unterscheidet sich diese Nachmittagspredigt von der Vormittagspredigt durch einen deutlich einfacheren Aufbau. Inhaltlich geht es um „lauter geistliches Osterhonig“54, um Seelenspeise und österliche Süßigkeit. Das Bild gewinnt Herberger durch die Geschichte aus Ri 14, in der Simson einen Löwen erlegt. Ein Bienenschwarm lässt sich im Aas des Löwen nieder und bringt Honig hervor. Simson wird auf Christus bezogen und die Auferstehung als Süßigkeit bezeichnet. So betont Herberger: „Das walt die österliche Kirchsonne / ja die österliche glentzende Hertzsonne der gantzen Christenheit / unser erstandener Seeligmacher JEsus / welcher heute mit den österlichen Krafftstralen seiner Süssigkeit alle andechtige Hertzen auff der Erdkaul beleuchtet / seinem heiligsten Namen zu Lob und Preiß / uns aber zu gewissen nutz und frommen / Amen.“55 Obgleich sich noch zahlreiche weitere Beobachtungen an Herbergers Hertz-Postille machen ließen, breche ich den kleinen Einblick in den Reichtum des Postillenwerkes ab. Die im Lehrgehalt allesamt lutherisch-orthodoxen Predigten des Fraustädter Pfarrers zogen als Erbauungsschriften weite Kreise. Ihr direkter Anredestil, die zahlreichen Bibelverse und zeitgenössischen Vergleiche zeichneten Herbergers plastische Predigten aus und sorgten mit dafür, dass Menschen auch im 17. Jahrhundert das Evangelium entdeckten – mittels geistlichem Biesemknoof und kräftigen Osterhonig.
Quellen- und Literaturverzeichnis Herberger, Valerius: Ein andechtiges Gebet / damit die Evangelische Bürgerschafft zur Frawenstadt Anno 1613. im Herbst / Gott dem HERRN das hertz erweichet hat / daß er seine scharffe Zornruthe […] in Gnaden hat nidergelegt. So wol ein tröstlicher Gesang / darinnen ein frommes Hertz dieser Welt Valet gibet […], Leipzig 1614. Ders.: Epistolische HertzPostilla […] / Jn welcher Alle ordentliche Sonntags- und hohen FestEpisteln durchs gantze Jahr deutlich erkläret / auffs Hertze andächtiger Christen geführet / und zu heylsamer Lehre […] abgerichtete werden […], 2 Teile, Leipzig 1693. Ders.: Spicilegium Novi Testamenti sive Paralipomena, Oder Geistreiche Stoppel-Postilla, Aller und jeder Evangelischen Texte, die an denen heiligen Sonn- oder gewöhnlichen Fest-Tagen nicht vorkommen und abgehandelt werden […], 2 Teile, Leipzig 1715. Hertz-Postilla Valerij Herbergeri, in welcher alle ordentliche SontagsEvangelia vnd auch aller für nehmen berühmeten Heiligen gewöhnliche Feyrtags-Texte / durch gantze Jahr auffgeklitzschet / 52 Herberger, Valerius: Die ander Predigt am heiligen Ostertage / nach Mittage, in: Ders., Hertz-Postilla, 402–407. 53 A. a. O., 392–394. 54 A. a. O., 402. 55 Ebd.
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den Kern außgeschelet / auffs Hertz andechtiger Christen geführet / vnd zu heilsamer Lehr / notwendiger Warnung / nützlichem Trost / andechtigem Gebet / vnsträfflichem Leben / vnd seliger Sterbenskunst abgerichtet werden. Mit lieblichen Eingängen / liechten verständlichen Erklärungen / vnd hertzrührenden Valet-Segen einig vnd allein aus den Hertzblätlin vnd Adern / aus dem Marck und Safft der abgehandelten Texte geflösset / Bevoraus dem lieb reichen süssen trewen Hertzen JESU zu Lobe. Demnach alle Gottergebenen Evangelischen Hertzen / die lust haben alle Sontage / Feyertage vnd Feyrstunden Christlich zu heiligen zu Liebe. Durch fleissiges Gebet / lesen vnd nachdencken / Hertz / Mund vnd Feder / bey dem Kriplein Christi zur Frawenstadt gestellet. Band 1, Leipzig [1613]. Weinrich, Georg: Geistlicher Bysemknopff. Aus Bewehrten Speciebus der Himlischen Apoteck zugerichtet, vnnd in jetzo regierenden gefehrlichen Sterbensleufften jederman nützlich zu gebrauchen […], Leipzig 1598. Werner, Leonhard: Der Geistliche Bisemknopff. Wider die Erschröckliche Plag vnn Straff der Pestilentz. Woher auch solche Plag, sampt andern Kranckheyten vnd Leiblichen schmertzen, jhren vrsprung haben, vnd was für hülffliche mittel, wege vnd Artzney, (zu abwendung solcher straffen), sich die guthertzigen Christen haben zugebrauchen vnd zu getrösten […], Frankfurt a. M. 1564. Althaus, Paul: Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur, Gütersloh 1927. Beutel, Albrecht: Art. Predigt. II. Geschichte der Predigt, in: RGG4 6 (2003), 1585–1591. Ders.: Lehre und Leben in der Predigt der lutherischen Orthodoxie. Dargestellt am Beispiel des Tübinger Kontroverstheologen und Universitätskanzlers Tobias Wagner (1598–1680), in: Ders.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 161–191. Bisam-Kugel, Bisam-Knöpffe, Ambra-Aepffel, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 3, Leipzig 1733, 1933 f. Bloth, Peter C.: Art. Schriftlesung I. Christentum, in: TRE 30 (1999), 520–558. Brecht, Martin: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: Ders. u. a. (Hgg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 113–203. Buchholz, Ilse: Valerius Herberger. Prediger am „Kripplein Christi“ zu Fraustadt in Polen, Berlin 1965. Dickhaut, Eva-Maria (Hg.): Leichenpredigten als Medien der Erinnerungskultur im europäischen Kontext, Stuttgart 2014 (Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften 5). Doctrina et pietas. Zwischen Reformation und Aufklärung. Texte und Untersuchungen, Abt. 1: Johann Gerhard-Archiv, hg. v. Johann Anselm Steiger, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 ff. Friedrich, Markus/Salatowsky, Sascha/Schorn-Schütte, Luise (Hgg.): Konfession, Politik und Gelehrsamkeit. Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582–1637) im Kontext seiner Zeit, Stuttgart 2017. Frymire, John M.: The Primacy of the Postils. Catholics, Protestants, and the Dissemination of Ideas in Early Modern Germany, Leiden/Boston 2010 (SMRT 147). Henkel, Arthur/Schöne, Albrecht (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Darmstadt 22013. Heussi, Karl: Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen 81933. Illig, Thomas/Steiger, Johann Anselm: Art. Herberger, Valerius, in: Frühe Neuzeit in Deutschland. 1520–1620. Literarturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd. 3, hg. v. Johann A. Steiger u. a., Berlin/Boston 2014, 266–278. Jannasch, Wilhelm: Art. Herberger, Valerius, in: NDB 8 (1969), 576 f. Lauterbach, Samuel Friedrich: Vita, Fama Et Fata Valerii Herbergeri: Das merckwürdige Leben, guter Nach-Ruhm, und seliger Abschied, Des theuren und um die Kirche Gottes hoch-verdienten Theologi, Hn. Valerii Herbergers, Weiland Predigers zur Fraustadt in Groß-Pohlen […], Leipzig 1708. Löffler, Katrin: Die protestantische Leichenpredigt im 17. Jahrhundert. Valerius Herberger und
Geistlicher Biesemknopf und kräftiger Osterhonig
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Gerhard Fouquet
„Gedechtnus“ – Kaiser Maximilian I., das Domkapitel und ein vergessenes Grabmal der Königinnen und Könige im Dom zu Speyer I. Der Dom zu Speyer und seine Kaisergrabmäler waren einer der Höhepunkte, als König Maximilian I. vom 6. bis zum 11. Juni 1494 mit großem Gefolge aus Reichsfürsten und Delegationen der Könige von England, Frankreich, Neapel, Spanien und Portugal die Stadt am nördlichen Oberrhein besuchte.1 Am Ende der Adventus-Feierlichkeiten fand am 9. Juni eine Seelenmesse für die Vorgänger König Maximilians im Speyerer Dom statt. Der Domprediger und Humanist Jakob Wimpfeling hielt eine ‚Oratiuncula‘, einen direkt an Maximilian I. gerichteten Lobpreis und zugleich eine lateinische Laudatio auf die in der Domkirche begrabenen römischen Könige und Kaiser. Sie hätten sich, so hebt die Rede an, „durch vortreffliche Taten und ehrenwerte Tugenden unsterblichen Ruhm“ erworben, indem sie „diesen hochheiligen Tempel errichtet […] und hier den ruhmwürdigsten Begräbnisort erwählt“ hätten. Unter ihnen seien „jener großherzige und überaus kluge Rudolf von Habsburg“, auch Albrecht, „von dem Du, Maximilian, den hochedlen Ursprung herleitest.“ In diesem Gotteshaus, fuhr der Lobredner fort, der den König überraschend mit dem nur unter Seinesgleichen üblichen ‚Du‘ anredete, sei täglich „das Gedächtnis jener Könige rege. Hier wird andauernd das Lobopfer für sie dargebracht.“ Allein 12.167 Messen seien im verflossenen Jahr gefeiert worden. Und solange diese Kirche bestünde, könnte deren Zahl nicht verringert werden, denn die Könige und Kaiser hätten ihre Jahrgedächtnisse hier gestiftet, auch „der hochberühmte, friedfertigste, überaus geschickte Friedrich, Dein Vater […].“ Und so habe auch König Maximilian, Kaiser Friedrichs „erlauchtester Spross“, den Speyerer Dom und seine Vorgänger in besonderer Weise geehrt, indem er „eine so feierliche und ehrenvolle Versammlung, ausgezeichnet durch soviel Gesandte von Fürsten und Königen, zu ihrem Ruhm und ihrem Heil“ veranstaltete. Nach dem Vater-unser-Gebet für die verstorbenen Vorgänger Maximilians I. richtete Jakob Wimpfeling zum Schluss seines Königslobs 1 Zu den Quellen: Pfeiffer, Maximilian: Der Besuch König Maximilians I. in Speier 1494. Mit einem verschollenen authentischen Bericht in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 32 (1912) 61–108. Dazu demnächst auch Fouquet, Gerhard: Der Besuch Maximilians I. 1494 in Speyer und die Bedeutung der Stadt im Reich des Spätmittelalters, in: ZGO 165 (2017).
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noch ein Distichon, einen Zweizeiler an die Königin Bianca Maria Sforza, ihren Namen Maria mit dem der Himmelskönigin kontrastierend: „Diva Maria polum materno iure gubernat./Tu cum rege tuo blanca Maria solum.“2 Nach so viel Preis und Ehr im riesigen Gehäuse der Grabeskirche seiner Vorgänger konnte und wollte König Maximilian wohl nicht zurückstehen. Bei der Besichtigung der Kaisergräber samt den Reliquienschätzen des Domes tags darauf dürfte ihm aufgefallen sein, dass die Grabmonumente nur Inschriften zierten. Bischof Matthias Ramung hatte 1478 noch zusätzlich zwei Inschriftentafeln und zwei Reliefs, welche Bildnisse der acht im Dom bestatteten Herrscher zeigen, im Königschor anbringen lassen.3 „Prachtlos“ seien „die Gräber“, urteilte wenige Jahre zuvor selbst der gerade zitierte Lobredner Jakob Wimpfeling in seinen „Laudes ecclesiae Spirensis“ (1486): „ast humili saxo molliter ossa cubant./Funeribus, tibi, delegit quod regia tecum/maiestas requiem, gloria grandis erit.“4 Und der englische Europareisende Thomas Coryat, der 1611 auch Speyer besuchte, bestaunte zwar den Ölberg im Kreuzgang des Domes – „one of the most exquisite works in all Europe“ –, beschrieb „the bodies of eight German Emperors and two Empresses“ im einzelnen und entzifferte die Inschriften. Doch bei den Grabmonumenten Konrads II. und seiner Gemahlin Gisela hielt er schon eine kritische Bemerkung für angebracht: „Their Monuments I saw in the middle of the Quire, being not built with that royall magnificence as the Tombes of great Potentates are in this ambitious age.“5 Und so dürfte auch Maximilian I. nichts Spektakuläres bei den Kaisergräbern gesehen haben. Denn selbst die um 1291 entstandene Grabplatte Rudolfs von Habsburg, die heute in der Vorkrypta aufgerichtet in der Mitte der Westwand dem Eingang gegenüber angebracht ist, befand sich damals mit einiger Sicherheit nicht im Dom. Sie stand vielmehr „als Epitaph oder als Kenotaph in der Kapelle des Johanniterhofes“ in Speyer.6 Eine Zeichnung der Grabplatte aus dem frühen 16. Jahrhundert, versehen mit dieser lokalen Zuweisung, zeigt dies klar. Jedenfalls scheint Ma 2 „Maria im Himmel regiert mit dem Rechte der Mutter die Pole/Du mit dem Könige Dein Blanca Maria die Welt“. Text: Wimpfeling, Jakob: Oratiuncula in praesentia regis et reginae Romanorum in templo Spirensis (nach 1494.06.09) Bayerische Staatsbibliothek München (digitale Sammlungen); Pfeiffer, Besuch, 82–85. 3 Köster, Gabriele: Zwischen Grabmal und Denkmal. Das Kaiserdenkmal für Speyer und andere Grabmonumente für mittelalterliche Könige und Kaiser im 15. und 16. Jahrhundert, in: Ottomeyer, Hans/Götzmann, Jutta (Hgg.): Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962–1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. 29. Ausstellung des Europarates in Berlin und Magdeburg, 2 Bde., Dresden 2006, Tlbd. 1, 399–409, 404. 4 „es ruhen die Gebeine weich unter bescheidenem Stein./Daß die hohen Könige dich zur Totenruhe erwählt haben, wird für immer dein großer Ruhm sein.“ Text und Übersetzung nach: Düchting, Reinhard/Kohnle, Antje (Hgg.): Jakob Wimpfeling, Lob des Speyerer Doms. Laudes ecclesiae Spirensis. Faksimile der Inkunabel von 1486. Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Inc. 141, Wiesbaden 1999, 82 f. 5 Coryat, Thomas: Coryat’s Crudities (1611), 3 Bde., London 1776, Bd. II, 372–377, 373 (Zitat). 6 Kubach, Hans Erich/Haas, Walter (Hgg.): Der Dom zu Speyer. Textband, München 1972, 912 u. 967.
Kaiser Maximilian I., das Domkapitel und ein vergessenes Grabmal
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ximilian I., vermutete Alphons Lhotsky, nach seinem Domerlebnis den Plan gefasst zu haben, „eine monumentale Grabanlage“ im Königschor für alle seine dort ruhenden Vorgänger errichten zu lassen.7 Das, was Alphons Lhotsky 1952 nur vermutete, war eigentlich schon seit 1883 bzw. 1906 bekannt. Denn es gab tatsächlich ein solch prächtiges Grabmal, allerdings als unvollendetes, nie in Speyer aufgestelltes Werk. Hermann von Grauert, Professor für Geschichte in München, hatte im Jahre 1883 im Reichsregister Maximilian I., das im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv verwahrt wird, eine Notiz, datiert vom 5. Februar 1514, entdeckt. In ihr erteilte Kaiser Maximilian I. dem Salzburger Bildhauer Hans Valkenauer den Auftrag für ein im Aufriss entworfenes Monument, das über den Kaisergräbern in Speyer errichtet werden sollte.8 In seinem Vortrag bei der Einweihung der neuen Kaisergruft im Speyerer Dom am 10. Juli 1906 erinnerte Hermann von Grauert daran noch in dem Glauben, dass dieser Vertrag wie so Vieles im Planen Maximilians I. unausgeführt geblieben sei. Doch da fand wenige Monate später im Jahre 1907 Franz Martin in Salzburg tatsächlich neun Statuen und etliche Teilstücke des Grabmals. Im Jahre 1911 publizierte Hermann von Grauert darüber in der etwas entlegenen ‚Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik‘. Er beschrieb die schwierigen Fundumstände im damaligen ‚Museum Carolino-Augusteum‘ Salzburgs, auch im Schloss des Fürsten von Schwarzenberg in Aigen bei Salzburg, im Aiglhof des Salzburger Benediktinerstifts St. Peter sowie an anderen Orten und ordnete das Geschehen um die Errichtung des Grabmals historisch ein.9 Maximilian Pfeiffer, Bibliothekar an der damaligen Münchner Hof- und Staatsbibliothek, rezipierte Grauerts Schrift im Jahre 1912 in seiner Abhandlung über den Besuch Maximilian I. 1494 in Speyer, und Philipp Maria Halm beschrieb die gefundenen Kaiserstatuen 1926 im Rahmen einer Untersuchung zur süddeutschen Plastik – dabei blieb es.10 Das „vergessene Kaiserdenkmal“ wurde wieder vergessen. Selbst in der nach der Domrenovierung im Jahre 1972 erschienenen grundlegenden Darstellung des Domes zu Speyer von Hans Erich Kubach und Walter Haas11 findet sich dazu nichts –, bis Gabriele Köster im Katalog der Europaratsausstellung ‚Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation‘ darauf hinwies und das Salzburg Museum im Jahre 2010 den dort heute lagernden
7 Lhotsky, Alphons: Zur Geschichte des Grabmals König Rudolfs I., in: Festschrift Edmund E. Stengel, Münster/Köln 1952, 424–427, 426 (Zitat). 8 Grauert, Hermann: Ein vergessenes Kaiserdenkmal, in: IWW 5 (14. Januar 1911), Nr. 2, 33–56, 34 f. Abbildung des Vertrages im Reichsregister Maximilians I.: Husty, Peter: Ein vergessenes Kaiserdenkmal. Kaiser Maximilians Auftrag an Hans Valkenauer für den Dom in Speyer, in: Husty, Peter/Laub, Peter (Hgg.): Ars Sacra. Kunstschätze des Mittelalters aus dem Salzburg Museum, Salzburg 2010, 199–207, 201. Ich danke Herrn Kollegen Husty für seine Hinweise. 9 Grauert, Kaiserdenkmal, 35–41. Weitere Informationen über die Fundsituation und die Fundgeschichte bis in die 1990er Jahre: Husty, Kaiserdenkmal, 203–207. 10 Pfeiffer, Besuch, 100–108; Halm, Philipp Maria: Studien zur süddeutschen Plastik. Altbayern und Schwaben, Tirol und Salzburg, Bd. I, Augsburg 1926, 176–184 u. 222–224. 11 Kubach/Haas, Dom.
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Fragmenten eine Ausstellung widmete.12 Grund genug, sich im Anschluss an Hermann von Grauerts Untersuchung von historischer Seite aus noch einmal mit diesem Kunstwerk auseinanderzusetzen und die überlieferten Quellen vornehmlich in den Protokollen des Domkapitels zu sichten und danach zu befragen.13
II. Die frühesten Nachrichten über Planungen, ein Königsgrabmal im Speyerer Dom anfertigen zu lassen, stammen nicht aus dem Jahre 1514. Sie sind vielmehr – das hat schon Hermann von Grauert gefunden – bereits für den 18. Januar 1503 bezeugt, als Bischof Ludwig von Helmstatt (1478–1504)14 vermutlich in kaiserlichem Auftrag Verhandlungen mit seinen Domherren über die Neugestaltung der Kaisergräber aufnahm. Dem Dom solle dadurch, notierte der Protokollant der Sitzung des Domkapitels, „ein groß zirde“ beigelegt und der Kreuzchor „geschigklicher gemacht“ werden. Von hohem Interesse ist darüber hinaus, dass Bischof Ludwig dafür eine grundlegende Veränderung der Kaisergräber vorschlug. Sie sollten „unten in der kirchen gesenckt und eben gemacht“ werden „mit blatten“. Man hielt die Einwilligung Maximilians I. wie seine finanzielle Beteiligung für nötig. Wenn der Kaiser wieder in der Nähe Speyers sein werde, sollte eine Gesandtschaft der Sache halber zu ihm abgeordnet werden.15 Im Jahre 1508 ließ sich der Kaiser die Grabplatte Rudolfs von Habsburg durch den Maler Hans Knoderer kopieren; das Gemälde befindet sich heute im Wiener Kunsthistorischen Museum.16 Bewegung in die Angelegenheit kam nach den Protokollen des Domkapitels erst wieder am 23. November 1512: Die Kaiserliche Majestät sei in eigener Person an ihn herangetreten, gab Domdekan Heinrich von Helmstatt zu Protokoll. Der Kaiser wolle ein Grabmal aus Marmor zu Ehren seiner Vorgänger „mit zwolf bilden uf 12 Köster, Grabmal, 399–402 u. 406 f.; Husty, Kaiserdenkmal. Darüber hinaus die neuerliche kunsthistorische Einordnung des Kaiserdenkmals mit der hypothetischen Rekonstruktion der Reihung der zwölf Kaiserinnen- und Kaiserfiguren: Czerny, Wolfgang: Totengedenken im Spätmittelalter. Überlegungen zum Werk Hans Valkenhauers, insbesondere zu dem nicht vollendeten Kaisermonument für den Dom zu Speyer, in: Österreichische Zwitschrift für Kunst und Denkmalpflege 65 (2011), 295–311. 13 Krebs, Manfred (Hg.): Die Protokolle des Speyerer Domkapitels, 2 Bde.: 1500–1517/1518– 1531, Stuttgart 1968–1969 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg A 17 u. 21). 14 Fouquet, Gerhard: Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350–1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel, 2 Bde., Mainz 1987, Bd. II, Nr. 195, 574–576 (QMRKG 57). 15 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 926. Mit falscher Datierung (1503 Januar 20): Grauert, 42; Pfeiffer, Besuch, 100; Husty, Kaiserdenkmal, 200. 16 Lhotsky, Geschichte, 427. Abbildung bei: Schramm, Percy Ernst/Filitz, Hermann: Denkmale der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 2: Ein Beitrag zur Herrschergeschichte von Rudolf I. bis Maximilian I. 1273–1519, München 1978, 50 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 7); Krieger, Karl-Friedrich: Rudolf von Habsburg, Darmstadt 2003, 230 f.
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das zirlichst machen“ lassen. Er habe ihm eine „visirung“, eine Zeichnung des Grabmals, präsentiert und 1.000 Gulden dafür zugesagt. An einen Meister in Salzburg solle der Auftrag ergehen. Das Domkapitel ließ dem kaiserlichen Sekretär P eter Stoß, der auf eine Antwort wartete, am 4. Dezember ausrichten, dass dem Stift ein solch kostspieliges Kunstwerk finanziell sehr bedenklich erscheine. Auch dürfe der Königschor dadurch nicht „verschlagen“ werden. Überhaupt bräuchte es für ein derart schwierig zu dimensionierendes Monument eines kunstfertigen Meisters. Das Stift sei aber willens, nach Vermögen „den baw zu volnbringen“.17 Kaiser Maximilian I. ließ dem Domkapitel wenige Tage später eine „obligacion“, einen Vertrag über die Errichtung des Grabmals aus Marmor, zugehen. Domdekan Heinrich von Helmstatt und zwei Domherren sollten sie unterfertigen.18 Doch allzu eilig hatte man es im Domkapitel nicht damit, so scheint es. Die Domherren ließen am 4. Dezember 1512 Peter Stoß einen Brief zustellen, „underteniglich“ in der Diktion zwar, aber von seiner Aussage her klar. In ihm hoben sie noch einmal hervor, dass sie zwar grundsätzlich gewillt seien, den kaiserlichen Wünschen zu willfahren. Es fiele ihnen aber schwer, „ein solchen baw anzunemen und sich verpflichten.“ Sie hätten keine Risszeichnungen für das geplante Grabmal gesehen, es gäbe keinen Kostenvoranschlag. Bauprobleme am Dom hätten sie zudem aktuell genug, „groß baw“ seien vorhanden, denn die vier Türme müssten renoviert werden.19 Zwölf Tage später – offenbar hatte nun auch Bischof Philipp von Rosenberg (1504–1513)20 interveniert – bequemte sich dann doch das Domkapitel dazu, die Obligation, wie von Maximilian I. gefordert, auszufertigen und den Vertrag dem kaiserlichen Sekretär und Propst von St. Sebald in Nürnberg, Melchior Pfinzing, nach Weißenburg zu senden.21 Bei dem von Maximilian I. favorisierten Bildhauermeister handelte es sich um den genannten Hans Valkenauer. Er hatte zahlreiche, heute noch erhaltene Grabmäler und andere Werke geschaffen, u. a. das bekannte Epitaph für Kunz Horn und seine Frau Barbara Krell an der Südwand der Nürnberger Lorenzkirche.22 Der gleichfalls schon erwähnte Vertrag Hans Valkenauers mit dem kaiserlichen Hof vom 5. Februar 1514 sah folgendes Werk vor:23 Aus rotem, in Adnet bei Salzburg gebrochenem Marmor sollte ein „kronartiges Denkmal“ geschaffen werden: zwölf Säulen im Rund, gleichsam ein Monopteros, davor die Statuen der in Speyer 17 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 3683 u. 3691. Zu Domdekan Heinrich von Helmstatt: Fouquet, Domkapitel, Bd. II, Nr. 191, 570 f. 18 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 3701; Grauert, Kaiserdenkmal, 43. 19 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 3691. 20 Fouquet, Domkapitel, Bd. II, Nr. 311, 751–753. 21 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 3701. Zu Melchior Pfinzing: Wiesflecker, Hermann: Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, Bd. V: Der Kaiser und seine Umwelt. Hof, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, München 1986, 292, 312 f. u. 322. 22 Thieme-Becker, Bd. 34, Leipzig 1926, 74. Zu dem Epitaph: Fehring, Günther P./Ress, Anton: Die Stadt Nürnberg, bearb. v. Wilhelm Schwemmer, München 21977 (ND München 1982), 81; Boockmann, Hartmut: Die Stadt im späten Mittelalter, München 1986, 186 f. 23 Grauert, Kaiserdenkmal, 34 f.; Husty, Kaiserdenkmal, 200 f. (mit Transkription des Vertrages).
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bestatteten Königinnen und Könige, darüber als Abschluss eine „durchsichtige“, eine filigran ausgearbeitete Krone. Die Rekonstruktion von Philipp Maria Halm aus den erhaltenen Fragmenten vermittelt ein eindrückliches Bild von diesem Auftrag (Abb. 1).24 Der Werkvertrag mit Hans Valkenauer regelte auch die Modalitäten über die Abwicklung des Auftrags: Als Vorschuss für den Meister wurden 100 Goldgulden festgelegt, auszuzahlen bei Beginn der Arbeit. Figuren und Architekturteile sollten als „gerauchwerkht“ angelegt werden, also noch nicht vollständig ausgearbeitet sein, um sie ohne Gefahr größerer Beschädigungen nach Speyer transportieren und dort das Werk vollenden zu können. Wenige Tage nach Vertragsschluss hob Maximilian in einem Brief an den Bischof von Speyer, Georg Pfalzgraf bei Rhein (1513–1529),25 die überragenden Fähigkeiten des Bildhauers hervor. Im Auftrag des Salzburger Erzbischofs Leonhard von Keutschach etwa habe er ein „köstlich grab“ geschaffen.26 Im November 1514 kam eine Anfrage des Kaisers nach Speyer, wieweit denn die Verhandlungen mit dem Meister aus Salzburg gediehen seien, den er gedingt habe.27 Doch im Oktober 1515 und März 1516 stand es um den Fortgang noch immer unbestimmt. Allerdings hatte das Kapitel den Domvikar Johannes Hausner nach Salzburg geschickt, um sich ein Bild zu machen.28 Am 22. März 1516 erstattete Hausner den Domherren Bericht: Mit dem Salzburger Meister sei noch einmal ein neuer Vertrag abgeschlossen worden, der Kaiser habe dem Meister kleine Perlen im Wert von 200 Gulden als Vorschuss geschickt.29 Hans Valkenauer fing daraufhin tatsächlich mit dem Werk an. Das Domkapitel in Speyer bat er, ihm Kopien der Wappen „der keyser und konig hie im stieft liegen“ zuzusenden. Domscholaster Thomas Truchseß von Wetzhausen, Domherr Johannes Kranich von Kirchheim und Vikar Johannes Hausner erhielten am 31. März 1516 den Auftrag, einen geeigneten Maler mit dem Bild zu beauftragen; dem Scholaster oblag zusätzlich, die Reiserechnung Hausners nach Salzburg zu prüfen und ihm wöchentlich 5 Goldgulden zu bewilligen.30 Am 6. September 1516 beauftragte das Domkapitel den überwiegend in Eichstätt residierenden Domherrn Martin Gotsmann von Thurn, den Fortgang des 24 Abgedruckt in: Husty, Kaiserdenkmal, 206. Überdies ließ das Salzburg Museum das Werk aus den vielen, dort verwahrten, von Valkenauer bearbeiteten Werkstücken, aus Fragmenten von Statuen samt komplett erhaltener Krone visuell rekonstruieren: Moser, Michael T./Grimm-Pitzin ger, Albert/Hanke, Klaus: Das unvollendete Kaiserdenkmal für den Dom zu Speyer. Lasergestützte Dokumentation zur 3D-Analyse und Rekonstruktion, in: Husty/Laub: Ars Sacra, 209–214, 213. 25 Zu Bischof Georg: Fouquet, Gerhard: Kaiser, Kurpfalz, Stift: Die Speyerer Bischofswahl von 1513 und die Affäre Ziegler, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 83 (1985) 193–271. 26 Grauert, Kaiserdenkmal, 36. Zum Auftrag des Salzburger Erzbischofs: Thieme-Becker, Bd. 34, Leipzig 1926, 74. 27 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 4163; Grauert, Kaiserdenkmal, 43; Pfeiffer, Besuch, 105. 28 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 4397 u. 4443; Grauert, Kaiserdenkmal, 43 f. 29 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 4507. 30 Ebd., Nr. 4513; Grauert, Kaiserdenkmal, 44. Zu den beiden Domherren: Fouquet, Domkapitel, Bd. II, Nr. 78, 411 f. u. Nr. 380, 842–844.
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Hans Valkenauer, Kaiserstatue, 1516/18 (Salzburg Museum)
Werkes in Salzburg zu besichtigen, „ob auch laut des gedings daran gearbeit wird“, und beurlaubte ihn dafür. Man gab ihm „ein furschrieft“ an den Salzburger Bürger Virgilius Froschlmoser, „so von wegen key. mt. solich arbeit sollicitirt“. Gotsmann hatte die klare Anweisung, Froschlmoser zu ermahnen, die 300 Goldgulden, die ihm auf der letzten Frankfurter Messe über einen Kaufmann überwiesen worden seien, gemäß des Werkvertrages zu verwenden.31 Der Domherr berichtete dem Kapitel am 5. November 1516 schriftlich, dass „die arbeit an der begrebd“ nicht nach Wunsch vorangeschritten sei. Im Domkapitel beschloss man daher, Kaiser Maximilian I. um die Beschleunigung der Arbeiten zu bitten und Vigilius Froschlmoser gegen einen anderen kaiserlichen Beauftragten auszutauschen. Insbesondere sollte der Meister nun lediglich nach Fortgang seines Auftrages bezahlt werden. Die Ar 31 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 4675. Zu Martin Gotsmann von Thurn: Fouquet, Domkapitel, Bd. II, 542 f.
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beiten am Grabmal stockten entweder aufgrund der ungenügenden Beaufsichtigung, an der schleppenden Entlohnung oder des mangelnden Willens des Meisters Valkenauer halber.32 Im Juni 1517 war das Monument immer noch unvollendet. Wiederum wurde Domherr Martin Gotsmann nach Salzburg gesandt, „das werckh der newen koniglichen begrebde, wie daran gearbeit werde zubesichtigen.“33 Gotsmann erstattete über seine Mission am 5. Januar 1518 Rapport: Meister Valkenauer arbeite „farlessiglich“, und das Werk habe trotz hoher Kosten in den verflossenen zwei Jahren keinen Fortgang genommen. Darauf beschloss das Domkapitel, erneut den Kaiser schriftlich über den Sekretär Stephan Western anzugehen. Zugleich sollte am Rande des Reichstages Bischof Georg oder einer seiner Gesandten direkt bei Maximilian I., sobald er nach Augsburg komme, intervenieren: Mit Hans Valkenauer müsse über „ein ander geding“, über Vertragsänderungen, verhandelt werden, „noch dem das erst nit gehalten“.34 Im April wurden die Speyerer Domherren noch präziser. Sie schickten nun den in diplomatischen Angelegenheiten erprobten Domkantor Philipp von Flersheim, den späteren Bischof von Speyer,35 und Martin Gotsmann selbst zum kaiserlichen Hof auf dem Augsburger Reichstag: In ihrer Instruktion standen die Klagen des Kapitels – das Werk gehe zu langsam vonstatten und verursache zu viele Kosten – sowie der schon fast verzweifelte Vorschlag: Das unfertige Grabmal, „der Stein“, möge, in welchem Zustand auch immer, nach Speyer gebracht und dort vollendet werden.36 Maximilian I. war im Mai 1518 damit einverstanden, worauf Domherr Martin Gotsmann von Thurn nach Salzburg geschickt wurde, um die Angelegenheit in Gang zu bringen.37 Der Abgesandte brachte am 19. Juni aus Salzburg die gute Nachricht zurück: Hans Valkenauer wolle das Werk nun in aller Schnelle beenden. Deswegen wurde Martin Gotsmann gleich wieder nach Augsburg gejagt, wo er zusammen mit Philipp von Flersheim bei Maximilian I. erneut vorstellig werden sollte. Denn der Kaiser hatte in der Zwischenzeit einen anderen Salzburger Meister, Wolfgang Kaltenperger, mit der Ausführung des Denkmals beauftragt. Sein Generalschatzmeister Jakob Villinger38 erhielt den Auftrag, Kaltenperger 200 Goldgulden anzuweisen. Doch in Augsburg konnte Villinger das Geld nicht auftreiben, weil der dortige Geldmarkt durch Transaktionen des englischen Königs kurzzeitig ausgetrocknet war.39 Dennoch verpuffte der Vorstoß der Speyerer Gesandten und ihre Instruktion für die Verhandlungen, den Kaiser zu bitten, „das der erst meins 32 Krebs, Protokolle, Bd. I, Nr. 4689. 33 Ebd., Nr. 4836. 34 Ders., Protokolle, Bd. II, Nr. 4991. 35 Fouquet, Domkapitel, Bd. Nr. 143, 502–506; Ders., Pfälzer Niederadel am Königshof und an Fürstenhöfen im späten Mittelalter, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 108 (2010) 399–413, passim. 36 Krebs, Protokolle, Bd. II, Nr. 5045. 37 Ebd., Nr. 5080. 38 Zu Villinger: Wiesflecker, Maximilian I., Bd. V, S. 258–261 u. passim. 39 Dazu Grauert, Kaiserdenkmal, 48 f.
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ter Hans Volkenauer, den key. mt. vermeynt absteen zulassen, by der arbeit blib und ime gelt verordent wird, damit er die arbeit volnendet in eym jare, wie er anzeigt,“ wurde zur Makulatur.40 Überdies inszenierten die Salzburger Steinmetzen einen Streik gegen ihren Meistergenossen Wolfgang Kaltenperger. Dieser Konflikt bewog den Salzburger Stadtrat dazu, die Steinmetzen anzuweisen, „sy sollen ine arbeiten lassen als einen redlichen Meister.“41 Wie die Sache ausging, steht dahin. Jedenfalls – alle Hoffnungen erwiesen sich als trügerisch. Kaiser Maximilian I. starb über dieser wie über manch anderen unerledigten Sache am 12. Januar 1519, und das Domkapitel blieb auf seinen Kosten sitzen. Das Grabmal für den Speyerer Königschor wurde nie fertig. In Angelegenheiten „begrebd“ sandte das Domkapitel zwar seinen Mitkanoniker Martin Gotsmann im Frühjahr 1519 noch einmal nach Salzburg. Es fertigte Domvikar Johannes Hausner im März 1520 zum Hof des neuen Königs Karl V. nach Augsburg ab. Den Domkantor Philipp von Flersheim ließ man dem Habsburger Ende Juli 1520 in die Niederlande hinterher reiten und schickte ihn in der leidigen Angelegenheit auch noch im Januar 1521 zum Reichstag nach Worms. Aber alles Drängen, Warten und Hoffen war vergeblich – nutzlos schon deswegen, weil Meister Hans Valkenauer darüber gestorben war und Wolfgang Kaltenperger an dem Werk nicht mehr arbeitete oder nie seinen Meißel daran gesetzt hatte.42
III. Im „Gedechtnus“, dem kulturellen Programm Kaiser Maximilians I., wie es die erhaltenen Fragmente seiner lateinischen Autobiographie, überdies der ‚Weißkunig‘, der auf den König selbst bezogene Fürstenspiegel, aber auch die Heldenepen ‚Freydal‘ und ‚Theuerdank‘ so eindrucksvoll demonstrieren, sollte auch das Königsgrabmal im Speyerer Dom eingeschlossen sein.43 Maximilian I. lebte ebenso aktiv als passionierter Weidmann wie als großer ‚Ritter‘. Er stand mit Ross und Lanze, im Wettstreit Mann gegen Mann im Turnier, am liebsten wie auf dem Wormser Reichstag 1495 tunlichst gegen die Stärksten, in der Feldschlacht als Feldherr und Heerführer ‚seinen König‘.44 Ein rechnender fürstlicher Haushälter wie der Speye-
40 Krebs, Protokolle, Bd. II, Nr. 5105. 41 Aus den Salzburger Stadtratsprotokollen von 1519/20 zitiert nach: Grauert, Kaiserdenkmal, 49 f. 42 Krebs, Protokolle, Bd. II, Nr. 5238, 5379, 5493, 5549 u. 5643. 43 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2); Paravicini, Werner: Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, München 32011, 108–112 (EDG 32). 44 Spieß, Karl-Heinz: Idealisiertes Rittertum. Herzog Karl der Kühne und Kaiser Maximilian I., in: Wrede, Martin (Hg.): Die Inszenierung der heroischen Monarchie. Frühneuzeitliches Königtum zwischen ritterlichem Erbe und militärischer Herausforderung, München 2014, 57– 75, passim (Historische Zeitschrift, Bh. NF 62); Spieß, Karl-Heinz: Königliche und fürstliche Performanz im Spätmittelalter, in: Oschema, Klaus/Andenna, Cristina/Melville, Gert/Peltzer, Jörg
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rer Bischof und kurpfälzische Kanzler, Matthias Ramung, war er nicht.45 Und so fehlte es ständig an Geld, an berechnender Voraussicht, und daher wurde weder in Speyer sein geplantes Königsgrabmal vollendet, noch die konzipierte ‚Ehrenpforte‘ umgesetzt oder in der St. Georgs-Kapelle in der Burg von Wiener Neustadt die jahrelang wieder und wieder erarbeiteten Entwürfe für sein eigenes Grabmal, das „großartigste Kaisergrab des Abendlandes“, mit seinen überlebensgroßen Bronzestatuen ins Werk gesetzt.46 Im heutigen Speyer wäre es vielleicht an der Zeit, jenem anderen Auftrag eines Grabdenkmals Kaiser Maximilians I. für seine Vorgänger im Dom zu Speyer, das unvollendet blieb und daher vergessen wurde, ein „Gedechtnus“ zu tun.
Quellen- und Literaturverzeichnis Coryat, Thomas: Coryat’s Crudities (1611), 3 Bde., London 1776. Düchting, Reinhard/Kohnle, Antje (Hgg.): Jakob Wimpfeling, Lob des Speyerer Doms. Laudes ecclesiae Spirensis. Faksimile der Inkunabel von 1486. Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Inc. 141, Wiesbaden 1999. Krebs, Manfred (Hg.): Die Protokolle des Speyerer Domkapitels, 2 Bde.: 1500–1517/1518–1531, Stuttgart 1968–1969 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg A 17 u. 21). Wimpfeling, Jakob: Oratiuncula in praesentia regis et reginae Romanorum in templo Spirensis (nach 1494.06.09) Bayerische Staatsbibliothek München (digitale Sammlungen). Boockmann, Hartmut: Die Stadt im späten Mittelalter, München 1986. Czerny, Wolfgang: Totengedenken im Spätmittelalter. Überlegungen zum Werk Hans Valkenauers, insbesonders zu dem nicht vollendeten Kaisermonument für den Dom zu Speyer, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 65 (2011), 295–311. Fehring, Günther P./Ress, Anton: Die Stadt Nürnberg, bearb. v. Wilhelm Schwemmer, München 2 1977 (ND München 1982). Fouquet, Gerhard: Kaiser, Kurpfalz, Stift: Die Speyerer Bischofswahl von 1513 und die Affäre Ziegler, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 83 (1985), 193–271. Ders.: Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350–1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel, 2 Bde., Mainz 1987 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 57). Ders.: Pfälzer Niederadel am Königshof und an Fürstenhöfen im späten Mittelalter, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 108 (2010), 399–413. Ders.: Der Besuch Maximilians I. 1494 in Speyer und die Bedeutung der Stadt im Reich des Spätmittelalters, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 165 (2017).
(Hgg.): Die Performanz der Mächtigen. Rangordnung und Idoneität in höfischen Gesellschaften des späten Mittelalters, Ostfildern 2015, 151–163, 156 f. 45 Dazu demnächst Fouquet, Gerhard: Jenseits der Kathedralstädte? Bischöfliche Ökonomien im 14. und 15. Jahrhundert. Der Speyerer Bischof Matthias Ramung (1464–1478) und die Ratio seiner Haushaltsführung, in: Bihrer, Andreas/Fouquet, Gerhard (Hgg.): Stadt ohne Bischof, Ostfildern 2017. 46 Wiesflecker, Hermann: Die Fundamente des habsburgischen Weltreiches, Wien/München 1991, 385.
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Ders.: Jenseits der Kathedralstädte? Bischöfliche Ökonomien im 14. und 15. Jahrhundert. Der Speyerer Bischof Matthias Ramung (1464–1478) und die Ratio seiner Haushaltsführung, in: Andreas Bihrer/Gerhard Fouquet (Hgg.): Stadt ohne Bischof, Ostfildern 2017. Grauert, Hermann: Ein vergessenes Kaiserdenkmal, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 5 (14. Januar 1911), Nr. 2, Sp. 33–56. Halm, Philipp Maria: Studien zur süddeutschen Plastik. Altbayern und Schwaben, Tirol und Salzburg, Bd. I, Augsburg 1926. Husty, Peter: Ein vergessenes Kaiserdenkmal. Kaiser Maximilians Auftrag an Hans Valkenauer für den Dom in Speyer, in: Peter Husty/Peter Laub (Hgg.): Ars Sacra. Kunstschätze des Mittelalters aus dem Salzburg Museum, Salzburg 2010, 199–207. Köster, Gabriele: Zwischen Gabmal und Denkmal. Das Kaiserdenkmal für Speyer und andere Grabmonumente für mittelalterliche Könige und Kaiser im 15. und 16. Jahrhundert, in: Hans Ottomeyer/Jutta Götzmann (Hg.): Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962–1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. 29. Ausstellung des Europarates in Berlin und Magdeburg, 2 Bde., Dresden 2006, Tlbd. 1, 399–409. Krieger, Karl-Friedrich: Rudolf von Habsburg, Darmstadt 2003. Kubach, Hans Erich/Haas, Walter (Hgg.): Der Dom zu Speyer. Textband, München 1972. Lhotsky, Alphons: Zur Geschichte des Grabmals König Rudolfs I., in: Festschrift Edmund E. Stengel, Münster/Köln 1952, 424–427. Moser, Michael T./Grimm-Pitzinger, Albert/Hanke, Klaus: Das unvollendete Kaiserdenkmal für den Dom zu Speyer. Lasergestützte Dokumentation zur 3D-Analyse und Rekonstruktion, in: Husty/Laub: Ars Sacra, 209–214. Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2). Paravicini, Werner: Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, München 32011 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 32). Pfeiffer, Maximilian: Der Besuch König Maximilians I. in Speier 1494. Mit einem verschollenen authentischen Bericht in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 32 (1912), 61–108. Schramm, Percy Ernst/Filitz, Hermann: Denkmale der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 2: Ein Beitrag zur Herrschergeschichte von Rudolf I. bis Maximilian I. 1273–1519, München 1978 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 7). Spieß, Karl-Heinz: Idealisiertes Rittertum. Herzog Karl der Kühne und Kaiser Maximilian I., in: Martin Wrede (Hg.): Die Inszenierung der heroischen Monarchie. Frühneuzeitliches Königtum zwischen ritterlichem Erbe und militärischer Herausforderung, München 2014 (Historische Zeitschrift, Bh. NF 62), 57–75. Ders.: Königliche und fürstliche Performanz im Spätmittelalter, in: Klaus Oschema/Cristina Andenna/Gert Melville/Jörg Peltzer (Hg.): Die Performanz der Mächtigen. Rangordnung und Idoneität in höfischen Gesellschaften des späten Mittelalters, Ostfildern 2015, 151–163. Wiesflecker, Hermann: Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, Bd. V: Der Kaiser und seine Umwelt. Hof, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, München 1986. Ders.: Die Fundamente des habsburgischen Weltreiches, Wien/München 1991.
Harry Oelke
Der Papst als Antichrist und die ‚Gute Nachricht‘ Beobachtungen zur reformatorischen Papstkritik im Bild
1. Luthers Weg zum Verständnis vom Papst als Antichrist Es war der Konflikt mit dem Papst, der Luthers Ringen um die Reform der Kirche zu einem Ereignis der Weltgeschichte gemacht hat. Erst die Nichtbereitschaft des Papstes, den Weg der Reformation mitzugehen, die Neuentdeckung des Evange liums anzuerkennen, verwandelte Luthers Reformansinnen in eine kirchengeschichtliche Fundamentaldifferenz. Das Beharren des Papstes auf die Superiorität in Lehrentscheidungen einerseits, die Verweigerung dieses Anspruchs durch Luther andererseits, das waren die Konfliktlinien, an deren Ende die Christenheit in Konfessionskirchen geteilt jeweils eigene Wege ging.1 Bemerkenswert dabei ist, dass der Konflikt von Luther nicht bewusst herbeigeführt wurde. Luther legte es nicht von vornherein auf einen Konfrontationskurs mit dem Papsttum an, sondern die dramatische Zuspitzung war der Entwicklung der Causa Lutheri geschuldet. Es gibt keine Anzeichen, dass der Theologiestudent und junge Mönch Luther dem Papst überhaupt besondere Beachtung geschenkt hätte. Die 95 Thesen von 1517 boten eine bußtheologisch motivierte Ablasskritik, die aber insgesamt den Papst nicht in Frage stellte. Die Ablasskritik Luthers bedeutet noch keinen Fundamentalkonflikt mit der römischen Kirche. Das änderte sich erst, als, initiiert durch den Dominikanerorden im Sommer 1518, der Prozess in Rom gegen Luther eröffnet wurde.2 Das kirchenrechtlich getragene Ketzerverfahren führte zur Eskalation. Die Stationen lassen sich nachzeichnen: (1) Ein Pronvinzialkonvent der Dominikaner eröffnete bereits im Januar 1518 an der Universität Frankfurt/Oder die Auseinandersetzung um Luthers Thesen. Hauptakteur war Johann Tetzel, der die Gewichte verschob und die von Luther theologisch gefasste Ablassfrage unter den Gesichtspunkt der Jurisdiktion stellte. 1 Vgl. dazu insgesamt Moeller, Bernd: Luther und das Papsttum, in: Beutel, Albrecht (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005 u.ö., 106–115; und Lohse, Bernhard: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 110–125. 2 Fabisch, Peter/Iserloh, Erwin (Hgg.): Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), 2 Bde., Münster 1988–1991 (CCath 41/42); vgl. dazu Brecht, Martin: Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521. Bd. 1, Stuttgart 21983, 231–263; auch Bäumer, Remigius: Lutherprozess und Lutherbann, Münster 1972 (KLK 32).
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Luthers Gegner nahmen Luthers vorsichtige Papstkritik der Thesen ins Visier und verschärften den Ton, indem sie Luthers Hinweis auf die nicht vorhandene Gewalt des Papstes über das Fegefeuer als Ketzerei brandmarkten. (2) Das Verhör in Augsburg im Oktober 1518 vor dem großen Cajetan, Ablassverfechter und Papststütze, war kein nebensächliches Streitgespräch, sondern eine Pflichtveranstaltung innerhalb des Prozessverfahrens. Cajetan hatte allein die päpstliche Vollmacht im Auge und argumentierte kirchenrechtlich. Auf inhaltliche Argumente und biblische Begründungen Luthers ging er kaum ein. Luther widerrief nicht. Er verließ Augsburg mit dem Eindruck, die Papstkirche und die Bibel markierten einen Gegensatz. Er begriff das für sich selbst als Zäsur: „Da habe ich gegen den Papst zu streiten angefangen“.3 (3) In der Folgezeit begann sich bei Luther die Antithese Evangelium vs. Papstkirche auszubilden. In einem Brief an seinen Vertrauten Wenzelslaus Linck vom 18. Dezember1518 spricht Luther erstmals davon, dass in der Kurie der Antichrist regiere.4 (4) Die Leipziger Disputation 1519 mit Johann Eck beförderte noch einmal entscheidend Luthers kritische Haltung gegen den Papst. Durch die große öffentliche Anteilnahme an dieser akademischen Disputation und deren hoher Gewichtung vollzog sich in Leipzig eine Weichenstellung für die weitere Entwicklung der Reformation.5 Luther bestritt mit Blick auf das Wort von der Schlüsselgewalt Mt 16,16–19 die Begründung des Papstamtes als göttliches Recht. Eck fuhr zur Stärkung der Papstautorität die Bulle Unam Sanctam von 1302 auf: die Anerkennung der Superiorität des römischen Bischofs sei heilsnotwendig. Luther parierte das mit einem Argument, das nicht von ihm stammte, sondern dass er explizit von Jan Hus, dem in Konstanz vom Konzil als Ketzer Verurteilten, entlieh. Eck fasste nach und am Ende stand Luthers Aussage von Konzilien, die auch faktisch geirrt hätten. Luther nahm das nie zurück. Nach der Leipziger Disputation verfestigte sich Luthers Kritik am Papsttum in grundsätzlicher Weise. In seiner nach wenigen Monaten erschienenen zweiten Psalmvorlesung (Operationes in Psalmos) konnte man erstmals lesen, dass der Papst der „rechte Endchrist“ wäre.6 Luther beschäftigte sich angesichts der in Leipzig ausgetauschten Argumente nach der Disputation weiter mit Hus. Aus Prag erhielt er aus dem hussitischen Professorenkreis dessen romkritische Schrift „De ecclesia“ zugeschickt.7 Er schien von der Lektüre angetan und schrieb an Georg Spalatin: „Kurz, wir sind alle Hussiten, 3 „Ibi ego primum disputare coepi papam“, WAT 5; 80, 5. 4 WA.B 1; 270, 11–13. 5 Vgl. dazu WA 59; 433–605. 6 WA 6; 322,18 f. 7 Der utraquistische Professor der Prager Universität und Propst Václav Roždalovský übersandte Luther am 17. Juli 1519 als Reaktion auf dessen positiv wahrgenommenen Auftritt in Leipzig eine Handschrift, vgl. Rotkegel, Martin: Jan Hus in der Reformation und im Protestantismus, in: MdKI 66 (2015), 30–33, 30.
Der Papst als Antichrist und die ‚Gute Nachricht‘
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ohne es gewußt zu haben, ja sogar Paulus und Augustinus sind bis in die Formulierungen hinein Hussiten“.8 Diese Neubewertung von Hus durch Luther ist bemerkenswert. Denn selbst im evangelischen Lager sah man Hus zu diesem Zeitpunkt mit Vorbehalten, da man auch in ihm den Grund für die ausgreifenden hussitischen Unruhen erkannte. Was bewog Luther zu dieser Neubewertung Hus’? Martin Rothkegel hat zuletzt darauf aufmerksam gemacht, dass Luther sein eigenes Erleben in den Turbulenzen der reformatorischen Bewegung seit Leipzig verstärkt in einen eschatologischen Zusammenhang gesehen hat.9 Diese hereinbrechende endzeitliche Entwicklung kann Luther mit Blick auf den Feuertod Hussens in Konstanz nun zurück bis zum Konstanzer Konzil spannen. Im Zuge der Beschäftigung mit Hus im Nachgang zur Leipziger Disputation erkannte Luther, dass der Papst „alß eyn rechter Endchrist hie gehandellt“ habe.10 Für Luther stand fest, dass mit der Enthüllung des Papstes als Antichrist in Konstanz der Beginn endzeitlicher Ereignisse eingesetzt hatte, die sich fortan weiter steigerten und bis in seine Gegenwart hineinreichten. Es ist eine eschatologisch bedingte Schicksalsgemeinschaft, die nach Luthers Auffassung im Jahr 1520 beide miteinander verbindet: Mit dem einen begann der endzeitliche Kampf mit dem Papsttum, mit dem anderen, Luther selbst, würde dieser an sein Ende geführt werden (Typus-Antitypus).11 Luthers Identifikation des Papstes mit dem Antichristen wurde zum Katalysator für die eschatologische Gegenwartsdeutung: „UND hie sehen wir, das nach dieser Zeit, so der Bapst offenbart, nichts zu hoffen noch zu gewarten ist, denn der Welt ende vnd aufferstehung der Todten. Hie ist die Schrifft aus vnd hat alle Weissagung ein ende“.12 Luther erkennt die Bedeutung der Reformation jetzt darin, den Antichristen entlarvt zu haben, damit fällt ihr eine heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Seine Kritik richtete sich auf die Institution Papsttum, nicht gegen die einzelnen Personen. Die Auseinandersetzung mit dem Papst bekommt seit 1520 den Zuschnitt eines Fundamentalkonflikts und hat fortan eine existenzielle, eschatologische und ekklesiologische Bedeutung. Luther wich bis zum Ende nicht mehr von dieser Einsicht ab, er sprach von seinem Lebenswerk.
8 „Breviter: summus omnes Hussitae ignorantes. Denique Paulus et Augustinus ad verbum sunt Hussitae“, WA.B 2; 42. 9 Vgl. Rothkegel, Jan Hus, 30 f. 10 WA 7; 430. In dieser Deutlichkeit gegenüber der Haltung des Papstes zu Huss in Luthers Auseinandersetzung mit der Bannandrohungsbulle 1521 formuliert. 11 Auf die typologische Gegenüberstellung von Hus und Luther macht Rothkegel aufmerksam, wonach sich nach dem Selbstverständis Luthers bei ihm selbst erfülle, was in Hus verheißen wurde. Hus kann so zum „Emblem der Luther-Bewegung“ werden, ders., Jan Hus, 31. Luthers Wirken rückt auf diese Weise in einen eschatologischen Zusammenhang. Vgl. dazu auch Leppin, Volker: Art. Antichrist, in: Ders./Gury Schneider-Ludorff (Hgg.): Luther-Lexikon, Regensburg 2014, 62 f. 12 WA.DB 11/II; 113,11–13.
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2. Der Auftakt reformatorischer Bildpolemik Luthers Identifikation des Papstes als Antichrist wurde umgehend zum Motor der reformatorischen Publizistik, vor allem jenes Teils, der sich propagandistisch für Luthers Reformanliegen einsetzte. Es war jene Phase der frühen Reformation, in der der Konflikt Luthers aus den Universitätsgebäude Wittenbergs hinaustrat und im theologischen Diskurs einer schichten- und ständeübergreifenden reforma torischen Öffentlichkeit im ganzen Reich bald die theologischen Konturen der Rechtfertigung allein aus Glauben annahm.13 Keine andere Aussage des Reformators hat zeitgleich auf die reformatorische Propaganda so entfesselnd, inspirierend und im Verhältnis zur altgläubigen Seite so polarisierend gewirkt wie Luthers päpstliche Antichrist-Identifikation. Eine exponierte Rolle dabei spielte die Bildpropaganda.14 Luther lehnte zwar religiöse Bilder ab. Allerdings waren Bilder jenseits des kultischen Gebrauchs, vor allem für die didaktische Unterweisung über den evange lischen Glauben, als Lehrbilder schon bald willkommen.15 Zwischen kultischer und didaktischer Funktion eröffnete sich dann eine Nische, wenn Bilder zum Zwecke der Propaganda der Reformation eingesetzt wurden. In diesen Fällen handelte es sich nicht um eine religiöse Bildlichkeit, sondern die Bilder zeigten im weitesten Sinne eine Lehrabsicht, freilich polemisch zugespitzt. Der reformatorische Bilderkampf setzte korrespondierend mit Luthers Antipapst-Erkenntnis gleich 1521 gewaltig ein: Es war Lucas Cranachs d. Ä. Bildensemble „Passional Christi und Antichristi“, das den Auftakt machte.16 Es handelte sich dabei um 13 antithetische Bildpaare, die immer den gleichen Aufbau zeigen: eine Szene aus dem Leben Christi zeigt ein positives Ideal, das auf der gegenüberliegenden Seite mit der vermeintlichen negativen Wirklichkeit konfrontiert wird, die dem verweltlichten Leben des Papstes und seiner Kurie geschuldet ist. Unter das Bild gesetzte Bibelbezüge stellen jeweils explizit den Christus- bzw. Antichrist-Bezug her. 13 Vgl. zum Medieneinsatz der reformatorischen Bewegung Schilling, Johannes: Die reformatorische Bewegung im Spiegel der zeitgenössischen Flugschriften, in: Ebernburg Hefte 27 (1993), 7–21 (BPfKG 60 (1993), 155–169); Ders.: Flugblätter und Flugschriften der Reformationszeit, in: RGG4 3 (2000), 169 f. 14 Vgl. Beyer, Franz-Heinrich: Eigenart und Wirkung des reformatorisch-polemischen Flugblatts im Zusammenhang der Publizistik der Reformationszeit, Frankfurt a. M. u. a. 1994; Oelke, Harry: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter, Berlin/ New York 1992, 91–320 (AKG 57). 15 Vgl. dazu Loewenich, Walther von: Art. Bilder, VI. Reformatorische und nachreformatorische Zeit, in: TRE 6 (1980), 546–557, 546–551, 556 f. (Lit.). 16 Vgl. Scherer, Wilhelm: Passional Christi und Antichristi. Lucas Cranachs Holzschnitte mit dem Text von Melanchthon, Berlin 1885; Nachweise in VD 16: L 5579, L 5582–5587, L 5589; Kunz, Armin: Papstspott und Gotteswort. Cranachs Buchgraphik im ersten Jahrzehnt der Reformation, in: Strehle, Jutta/Kunz, Armin: Druckgraphiken Lucas Cranachs d. Ä. Im Dienst von Macht und Glauben, Wittenberg 1998, 157–259; und auch Beyer, Eigenart, 13–24.
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Abb. 1a Tempelaustreibung Christi
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Abb. 1b Der Papst als Wucherer
Das zwölfte Bildpaar (Abb. 1a/b)17 zeigt beispielsweise „Christus“, der den Tisch der Geldwechsler umstürzt und die Händler aus dem Tempel treibt. Der Papst als „Antichrist“ ist hier als Wucherer ins Bild gesetzt, der das Geld für seine Ablassbriefe direkt vor dem im Hintergrund sichtbaren Altar kassiert. Die Referenzen zur Bibel im Subtitel sind überlegt gesetzt: das Einschreiten von Christus wird mit der entsprechenden neutestamentlichen Erzählung gestützt (Joh 2, [14–16]), darüber hinaus wird die materielle Unverrechenbarkeit christlichen Handelns herausgestellt (Mt 10,[8]), [„Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch“], und schließlich noch auf ein geldkritisches Diktum des Petrus verwiesen (Apg 8,[20], [„Dein Geld fahre mit dir ins Verderben, weil du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlangt.“]). Der Papst wird in seiner Identität als „Antichrist“ mit Bezug auf die grundlegende Bibelstelle 2 Thess 2[1–11]18 mit dem Hinweis, dass er „vntherdruckt die heylig schrifft“, auch im Text entsprechend eindeutig herausgestellt. Die Publikation war ein Paukenschlag: Das was bisher hinter vorgehaltener Hand erzählt worden war, wurde jetzt bildlich gezeigt. Das Passional erschien in 17 Hier exemplarisch mit dem bibelbezogenen Subtext wiedergegeben. 18 Vgl. dazu unten Abschnitt 3.
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mehreren Varianten in deutscher, lateinischer und bald auch niederdeutscher Sprache (1521). Noch im gleichen Jahr musste nachgedruckt werden. Neben Cranach waren andere Formschneider kopierend tätig. Das provokante „Bilderbuch“ mit den kurzen Bibelhinweisen im Subtext verkaufte sich über den Tag hinaus mit großem Erfolg.19 Bezeichnend für die Anfänge der reformatorischen Propaganda ist der Umstand, dass sie von den Exponenten der Bewegung mitgetragen, ja sogar gefördert wurden: Melanchthon und der Jurist Johann Schwertfeger schrieben den Begleittext. Die Grundidee der antipäpstlichen Gegenüberstellung ging auch auf Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ von 1520 zurück.20 In der Adelsschrift beschreibt Luther beispielsweise den dem Papst zu entrichtenden Fußkuss als teuflische Hoffart. Die dritte Antithese (Abb. 2a/b) zeigt Christus, der den Fuß Petri wäscht und ihn dabei küsst. Im Gegenbild küssen Könige den Pantoffel des Papstes. Die Bildantithesen rüttelten auf, die Identifikation des Papstes als Antichrist erschreckte, weiter verstärkt durch den Umstand, dass der Papst auf der anderen Seite mit der guten Nachricht des Evangeliums konfrontiert wurde, denn das positive Christusbild und sein biblischer Referenzpunkt untermauerten den Wahrheitsanspruch. Die zweite Bildantithese des Passional (Abb. 3a/b) illustriert die Dornenkrönung Christi: Christus gefesselt seinen Peinigern ausgeliefert erleidet die Schmach von Purpurmantel und Dornenkrone. Auf der anderen Seite wird die feierliche Krönung des Papstes mit der Tiara ins Bild gesetzt. Es besteht kein Zweifel: Der Papst genießt die weltliche Macht, während im Hintergrund repräsentative Kanonen- und Büchsenschüsse die Szenerie begleiten. Das Bildbeispiel wird auch von Luther in der Adelsschrift thematisiert. Dort macht er auf den Gegensatz zwischen der unermesslichen Pracht des Papstes und dem zu Fuß gehenden Christus aufmerksam. Markantes bietet auch die sechste Antithese. In der zweiten Auflage von Cranachs Bilderreihe wird die Kreuztragung Christi konterkariert mit dem Bild des Papstes, der sich in der Sänfte tragen lässt (Abb. 4a/b). Der Auftakt des evangelischen Bilderkampfes mit dem Passional befeuerte die im Aufbruch befindliche reformatorische Bewegung. Fortan begleiteten Titelillustrationen der Flugschriften und mehr noch die illustrierten Flugblätter die reformatorische Bewegung in den turbulenten Jahren vom Wormser Reichstag bis zum Bauernkrieg. Das Motiv vom Papst als Antichrist kontrastiert mit der abweichenden Evangeliumsnachricht ist darin leitend und wirkmächtig.
19 Vgl. Wefers, Sabine (Hg.): Hus – Luther – Cranach. Handschriften und Drucke der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Jena 2015, 26–28. 20 Vgl. Scherer, Passional, XIV, dort auch die Nachweise für die nachfolgenden Hinweise auf Luthers „Adelsschrift“. Die Beobachtungen Scherers sind evident, doch eine monokausale Herleitung aus Luthers Schrift wäre sicher zu einseitig.
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Abb. 2a Fußwaschung durch Christus
Abb. 2b Könige küssen Füße des Papstes
Abb. 3a Dornenkrönung Christi
Abb. 3b Krönung des Papstes
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Abb. 4a Kreuz tragender Christus
Abb. 4b In einer Sänfte getragener Papst
3. Zur Motivgeschichte des Antichristen Der biblische Bezugspunkt für die Vorstellung vom Antichristen liegt neben der Erwähnung in den Johannesbriefen vor allem in 2 Thess 2,1–11, in Vers vier heißt es: „[…] der da ist der Widersacher und sich überhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, also daß er sich setzt in den Tempel Gottes als ein Gott und gibt sich aus, er sei Gott“. War es hier vor allem der Bericht von einer widergöttlichen Kraft, so begann man schon in der Antike daran anknüpfend eine endzeitliche Gestalt zu konstruieren. Bald entwickelten sich Grundzüge einer Biografie des Antichrists.21 Wichtig für die weitere Überlieferungstradition wurde im 10. Jahrhundert Adso von Montier-en-Der, dessen Antichrist-Vita für das Mittelalter einflussreich war.22 21 Vgl. zur biblischen und antiken Tradition des Motivs Preuß, Hans: Der Antichrist, Berlin 1909. 22 Im weiteren Verlauf des Mittelalters wird die Antichristerzählung maßgeblich durch die Darstellungen von Thomas von Aquin, Albertus Magnus und Bonaventura bestimmt. An einem Beispiel aus dem Passional lässt sich die Rezeption der mittelalterlichen literarischen Tradition in der Ikonografie der Reformationszeit fassen. Zum mittelalterlichen Vorstellungskreis gehört der Antichrist als Hurenkind aus dem Stamme Dan, der als Affe des Herrn galt. Der Vergleich mit Christus ist bis in Details hinein nachvollzogen. Wie jener darf der Antichrist dreieinhalb Jahre in Jerusalem wirken. Freilich vollzieht er dabei ein großes Blendwerk, täuscht schließlich den Tod am Ölberg vor, um sich am dritten Tag der staunenden Menge als Auferstandener zu präsentie-
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Einzelne Päpste sind schon frühzeitig Ziel von literarischer Kritik gewesen. Paul Lehmann hat auf die Parodien des Mittelalters verwiesen, die in ihrer kritisierenden, streitenden und triumphierenden Aufmachung immer auch ein Unbehagen am weltlichen Treiben des hohen Klerus transportierten. Den Bruch mit Rom zu erzeugen, war freilich (noch) nicht ihr Ziel.23 Der Antichrist wurde im Mittelalter immer mehr der eschatologisch motivierte Gegenspieler der Christusfigur. Die Identifikation des Antichristen mit dem Papst trieb die Antithese schließlich weiter ins Extrem. Schon früh fand die antiklerikale Stimmung hier ein Ventil. Das früheste überlieferte literarische Beispiel der Antithese Christus-Papst hat Hans Preuß bei den Spiritualen des Minoritenordens im 13. Jahrhundert ausfindig gemacht.24 Sie war primär durch ein radikalisiertes Armutsideal motiviert und bezog sich nicht auf das Papsttum im allgemeinen, sondern betraf einzelne besonders ausschweifend residierende Inhaber des römischen Bischofsstuhls. In der Folgezeit äußerte sich vor allem Wyclif (1328–84) mit seinem aufsehenerregenden Traktat „De Christo et suo adversario Antichristo“ in diesem Sinn.25 Es fiel vor allem in Böhmen auf fruchtbaren Boden. Die Schriften von Huss und anderen Exponenten der kirchenkritischen Bewegung basieren auf der fortlaufenden Gegenüberstellung von Christus und Papst. Allerdings ist der Vergleich hier in erster Linie die Folge einer sittlichen Kritik. Im Gegensatz zu vorangegangenen Parodien gewinnt die antithetisch vorgebrachte Papstpolemik um 1400 in Böhmen indes deutlich schärfere Züge. Sie zielte auf die bewusste Negation des jeweiligen Papstes aus Glaubensüberzeugung und steuerte letztlich auf eine eigene, unabhängige Nationalkirche zu.
ren. Den Gipfel der Täuschung markiert die Himmelfahrt. Christus befiehlt jetzt, dass der Antichrist getötet werden soll. Der angewiesene Erzengel Michael erschlägt daraufhin den Frevler mit dem Blitz. Daraus entwickelt sich im 16. Jh. das Motiv der Höllenfahrt, das im 13. Bildpaar des Passional einen Reflex findet: auf der linken Bildseite findet sich Christi Himmelfahrt dargestellt, die von Putten begleitet vor den Augen seiner Jünger stattfindet. Auf der rechten Seite der Höllensturz des Papstes als Antichrist, der von Dämonen umgeben zu den anderen Verdammten in das Fegefeuer bzw. in die Hölle hinabrast, vgl. dazu Hans Preuß: Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik: ein Beitrag zur Theologie Luthers und zur Geschichte der christlichen Frömmigkeit, Leipzig 1906, 16–27, 39; vgl. auch Scherer, Passional; und Leppin, Volker: Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen, in: KuD 45 (1999) 48–63. 23 Vgl. Lehmann, Paul: Die Parodie im Mittelalter, München 1922, 43–135; zudem Reumann, Kurt: Das antithetische Kampfbild. Beiträge zur Bestimmung seines Wesens und seiner Wirkung, Berlin 1966, 19. Berichtet wird, Hus selbst habe Bibel und Papst als kontrastierende Bilder auf gegenüberliegende Wände einer Kirche malen lassen, ebd., Anm. 23; Oelke, Konfessionsbildung, 226–229. 24 Vgl. Preuß, Vorstellungen, 45–49. 25 Wyclif, John: De Christo et suo adversario antichristo; ein polemischer Tractat (hg. v. Rudolf Buddensieg), Gotha 1880; Eckert, Thomas: Nichthäretische Papstkritik in England vom Beginn des 14. bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Diss. Hamburg WS 1990/91.
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Auch die in Böhmen zuerst auftauchenden Bildantithesen stellten Christus als Gegenpol zum Papst heraus. Bereits vor dem Konstanzer Konzil, also um 1400, hat man sie vor einer schaulustigen Menge öffentlich durch Prag getragen. Diese frühen Beispiele wurden schließlich im hussitischen Raum zu ganzen Bilderhandschriften zusammengefügt. Zwei Exemplare von ihnen mit dem Titel „Spiegel allen Christentums“ existieren, eine in Göttingen (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek), die andere unter dem Namen „Jenaer Kodex“. Für uns stellen sich die Fragen: Wie werden darin die Antithesen inhaltlich und strukturell gestaltet? Lassen sich Ähnlichkeiten zu Cranachs Passional erkennen? Erlaubt das Rückschlüsse auf den Zusammenhang der sogenannten Vorreformation und der Wittenberger Reformation? Wir konzentrieren uns für einen Moment auf diese Bilderhandschrift, und zwar in Gestalt des Jenaer Kodex’.26 Es handelt sich dabei um ein um 1500 in Böhmen entstandenes, 120 Blätter umfassendes Buch, das sich aus neun handschriftlichen Teilen und einer Inkunabel zusammensetzt. Die Texte, meist in böhmischer Sprache, mit kunstvollen Miniaturen und kolorierten Holzschnitten spiegeln das antipäpstliche Gedankengut von Jan Hus und seinen hussitischen Anhängern. Einen Schwerpunkt – wie auch in Cranachs Passional – bildete die antithetische Gegenüberstellung von Christus und dem Papst als Antichrist. Die Antithesen zeigen nicht nur den gleichen strukturellen Aufbau mit einem bildlichen Gegensatzpaar, auch die angeschlagenen Themen zeigen verblüffende Parallelen: Auch hier wird die Vertreibung der Händler durch Christus gezeigt (Abb. 5), andererseits krönt Kaiser Konstantin den Papst (Abb. 6, vgl. Abb. 3a/b). Die Fußwaschung der Jünger durch Christus (Abb. 7) wird konterkariert durch die Darstellung von Mönchen, die dem Papst mit dem Fußkuss huldigen (Abb. 8, vgl. Abb. 2a/b). Die Antithese hat ältere Wurzeln, denn sie wird, wie andere auch, schon bei Wyclif thematisiert.27 Schließlich taucht hier bereits auch schon die bildliche Antithese von der Kreuztragung Christi (Abb. 9) auf, der ein prachtvoll gekleideter Papst entgegengestellt wird, der an der Spitze eines Zuges mit Würdenträgern reitet (Abb. 10, vgl. Abb 4a/b). Die ikonographische Nähe der Motive von Cranachs Passional mit denen der hussitischen Bilderhandschrift sind bis in einzelne Details hinein evident. Unser Befund macht die Frage drängend: Gibt es eine Abhängigkeit zwischen dem in Wittenberg in der Cranach-Werkstatt gefertigten Passional und der im Jenaer Kodex fixierten Bilderhandschrift von 1500? Lässt sich Luthers starke Beschäftigung mit Böhmen im Anschluss an die Leipziger Disputation in diese Richtung deuten? Die Frage, ob das Passional Christi und Antichristi unter Einfluss vom Jenaer Kodex 26 Kamil/Boldan u. a.: The Jena Codex. Facsimile, Prag 2009. 27 Vgl. Reumann, Kampfbild, 17, Nr. 11; vgl. auch die weiteren Motive Wyclifs, von denen etliche von der hussitischen Bilderhandschrift aufgegriffen werden (Christus flieht weltliche Herrschaft – der Papst strebt nach Weltherrschaft; Christus lehnt Ruhm und Geld ab – der Papst ist von Geldgier besessen, u. a.) ebd., 16 f.
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(„Hussitencodex“) entstand, ist berechtigt. Sie ist alt und wird seit dem 18. Jahrhundert diskutiert. Fest steht, dass die Bilderhandschrift sich 1526 noch in Böhmen befand, aber danach tatsächlich nach Wittenberg gelangte, wo sie in den Bestand der Bibliotheca Electoralis des sächsichen Kurfürsten Johann Friedrich I. aufgenommen wurde.28 Für Luther darf als wahrscheinlich gelten, dass er 1536, als er in Wittenberg die Gefängnisbriefe des Hus edierte, den Band, so oder so, kannte.29 Die festgestellten Motivanalogien bei den Bildern sprechen für eine Kenntnis der Bilderhandschrift in Wittenberg. Wie diese Abhängigkeit entstehen konnte, ist bis heute schwer zu bestimmen. Die Bilderhandschrift war zum Zeitpunkt der Entstehung von Cranachs Passional noch nicht in Wittenberg, aber freilich sind auf anderem Wege – direkt und indirekt – vermittelte Kenntnisse von ihr denkbar (Skizzen, Berichte usw.). Es spricht viel dafür, dass es dieses Wissen um 1520 in der Cranach-Werkstatt gegeben hat. Da auch eine Motivabhängigkeit der hussitischen Bilderhandschrift schon von Wyclifs Vorgabe festzustellen ist, wird im Passional Christi ein Beispiel für eine dreigliedrige Interdependenz zwischen der sog. Vorreformation und der Reformation selbst greifbar, für die die Namen Wyclif – Hus – Luther stehen.30
28 Der Kodex kam als Folge des Schmalkaldischen Krieges 1549 nach Jena, seit 1558 findet er sich in der in diesem Jahr als akademische Bibliothek inaugurierten Universität Jena; vgl. Wefers, Hus, 30–33; vgl. Mutschler, Hussitencodex, 71. Das hochwertige Kulturerbe rückte im 20. Jahrhundert in den Fokus der Weltpolitik. Die Verlagerung des Kodex’ nach Prag erfolgte durch die Übergabe der Handschrift 1951 aus der Hand des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck „als ein Zeichen der Freundschaft und Achtung des deutschen Volkes gegenüber dem tschechoslowakischen Volk“ (Neues Deutschland, 26.10.1951), ein Geschenk das im Zeichen der Entspannung innerhalb der kommunistischen Bruderländer stand und mit Blick auf den am 23. Juni 1950 erklärten gegenseitigen Verzicht auf Gebiets- und Grenzansprüche von der Sowjetunion gewollt war. Auch der Gegenbesuch des tschechoslowakischen Präsidenten in Berlin (Ost) gehörte in diesen entspannungspolitischen Zusammenhang: Er brachte im Gegenzug das Fragment des althochdeutschen Heiland aus dem 9. Jahrhundert als Gastgeschenk mit, das in das 1952 neu eingerichtete Ostberliner Museum für Deutsche Geschichte ging (heute Deutsches Historisches Museum). Der Jenaer Kodex findet sich heute unter der Signatur IV B 24 im Bestand der Bibliothek des Prager Nationalmuseums, vgl. ebd., 71, 74; und Wefers, Hus, 30 f. 29 Als Vorlage für die Briefe dienten ihm die entsprechenden Brief-Texte im Jenaer Kodex. 30 Vgl. Benrath, Gustav Adolf: Die sogenannten Vorreformatoren in ihrer Bedeutung für die frühe Reformation, in: Moeller, Bernd (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, 157–166; Schilling, Heinz, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: Moeller, Reformation, 13–34; dazu die Textsammlung Benrath, Gustav Adolf: Wegbereiter der Reformation, Wuppertal, 1988 (zuerst: Bremen 1967); zur humanistischen Papstkritik vgl. Fabisch, Peter: Iulius exclusus e coelis. Motive und Tendenzen gallikanischer und bibelhumanistischer Papstkritik im Umfeld des Erasmus, Münster 2008.
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Abb. 5 Tempelaustreibung Christi
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Abb. 6 Kaiser Konstantin krönt Papst
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Abb. 7 Fußwaschung durch Christus
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Abb. 8 Mönche küssen Füße des Papstes
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Abb. 9 Kreuz tragender Christus
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Abb. 10 Papst reitet herrschaftlich
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4. Antithetik als Strukturprinzip Das im Passional angewandte Strukturprinzip erreichte seine volle Wirkung durch die direkte Gegenüberstellung eines Positivideals (Christus) mit dem negativen Gegenbild (Papst). Beide Pole stehen sich diametral gegenüber und verstärken sich gegenseitig in der Wirkung, die erzielt wird.31 Wie die Beispiele aus Cranachs Passional zeigen, präsentierte die frühe reformatorische Bildpublizistik diese Gegenüberstellung noch mittels zweier voneinander abgesetzter, eigenständig komponierter Illustrationen. Die Antithese bezieht ihre Überzeugungskraft einerseits aus der äußeren Übereinstimmung der beiden Grundsituationen – wie in Abb. 2a/b der Gestus des Kniens vor einer anderen Person (Situationsreim) – von der dann aber im Rahmen der weiteren Motiventfaltung abstrahiert wurde, um gerade das gegensätzliche Verhalten von Christus und Papst besonders zu betonen. Die zweigeteilte Antithese gibt dem Betrachter pro forma die Möglichkeit, sich für eine der zwei Seiten zu entscheiden, was sich freilich bei genauem Hinsehen schnell nur als scheinbare Alternative herausstellt. Eine echte Wahl hat der Betrachter nicht, denn die Bildantithetik ist suggestiv und dabei präjudizierend. Die aus dem Passional abgeleitete Intention der Tagespublizistik zielte auf die positive Darstellung der eigenen Ziele sowie auf eine schonungslose Brechung mit der altkirchlichen Seite. Wurden beide Aussagerichtungen von den Illustratoren auf einem Blatt vereint, musste der davon ausgehende Appell angesichts der direkten Konfrontation von ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Kirche auf den/die Betrachter/in eine zumindest aufrüttelnde, bisweilen sicherlich sogar schockierende Wirkung erzielen. Die intendierte Zuwendung zur „wahren“ Kirche schien gewiss.32
5. Radikalisierung der ikonografischen Gestaltung und Folgen Die weiter voranschreitende reformatorische Bewegung zeitigte schon bald erste Erfolge und schuf neue Situationen im Verhältnis zwischen den sich formierenden Religionsparteien. Entsprechend selbstbewusster zeigte sich die Bildpropaganda. Die Bildpaare des Passionals mit ihrer antithetischen Struktur wirkten in der Bildpublizistik der Reformationszeit nachhaltig weiter. Gerne wurden dann auch biblische Texte herangezogen, die in die bildliche Dimension übertragen wurden und als Legitimation der eigenen, evangelischen Seite dienten. Die Illustration „Der 31 Vgl. dazu und zum Folgenden Reumann, Kampfbild, 28–61; und Oelke, Konfessionsbildung, 247–251. 32 Beliebt waren aktualisierte Gleichnisse des Neuen Testaments, mit deren bipolarer Struktur die gute und die schlechte Kirche in der Zusammenschau eines Bildes gezeigt wurden, so etwa das Haus des weisen und das Haus des unweisen Mannes (Mt 7), Arbeiter im Weinberg (Mt 20), der Schafstall Christi (Joh 10); vgl. die Beispielblätter bei Bott, Gerhard (Hg.): Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Nürnberg 1983, 240–248.
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Papst als böser Schächer am Kreuz“ (1530/35) thematisiert die bekannte biblische Vorstellung vom guten und bösen Schächer, die mit Christus den Kreuzestod erleiden müssen, und überträgt sie in den aktuellen Religionskonflikt (Abb. 11). Links wird der reuige Schächer gezeigt, der noch bis zum letzten Atemzug Christus als Gottessohn erkennt und dessen Seele vom Engel in den Himmel getragen wird. Der Text stellt einen Bezug zur evangelischen Kirche her. Auf der rechten Seite stellt der Papst den bösen Schächer dar. Hier ist es der Teufel, der die unbußfertige Seele holt, das unfruchtbare Holz wird von einem weiteren Teufel unten in Brand gesetzt. Der Papst wird, bestraft zu ewiger Höllenpein, als Antichrist gekennzeichnet. Der Text weist zusätzlich darauf hin, dass er Christus verfolge und nur die Hohenpriester der Juden und den Teufel anerkenne. Die bipolare Struktur von These und Antithese, wie wir sie im Passional gesehen haben, wird nunmehr zusammengezogen: Hier wird der Betrachter nicht mehr vor die Möglichkeit einer Wahl zwischen zwei Bildern gestellt, sondern die Situation erscheint komprimiert und in großer Eindeutigkeit auf einem Bild. Mit dem voranschreitenden historischen Prozess rückt die reformatorische Bewegung nicht mehr nur Christus, sondern sich selbst als Gegenpol zur altkirchlichen Seite ins Bild. Diese Entwicklung stand zunächst im Zusammenhang mit den raschen Erfolgen der Evangelischen bei der Durchsetzung ihrer Reformen. Als dann in den 1540er Jahren die Bedrohung durch die Türken, das seit 1545 in Trient tagende Konzil und der schließlich verloren gegangene Schmalkaldische Krieg die religionspolitische Situation der Protestanten zu ihren Ungunsten veränderte, spiegelte das die Bildpublizistik. Das Flugblatt „Erhalt uns, Herr, bei Deinem Wort“ ist dieser akuten Bedrohungssituation um 1550 geschuldet (Abb. 12). Es gehört mit zu den publizistischen Widerstandsaktivitäten der evangelischen Seite gegen das kaiserliche Interim (1548–1550 in Magdeburg), mit denen die Aufgabe der evangelischen Reformen, ausgenommen Priesterehe und Laienkelch, bis zu einer Einigung in der Religionsfrage rückgängig gemacht werde sollte.33 Der fein gearbeitete Holzschnitt präsentiert im Text das bekannte Luther-Lied. Wir konzentrieren uns auf das Bild.34 Es ist kompositionell in eine obere und untere Ebene geordnet, die jeweils eine Dreiteilung aufweist. Auf der oberen Hälfte werden zentral Christus als Weltenrichter und links und rechts nebengeordnet Gott und der Heilige Geist gezeigt. Für unseren Zusammenhang wichtig ist die untere, die irdische Ebene. Links findet sich auf einem kleinen Hügel eine geschlossen formierte Gruppe mit Reformatoren und protestantischen Herrschern. Ihre erhöhte Anordnung rückt sie in die Gottesnähe. Luthers Fingerzeig korrespondiert mit der entsprechenden Geste Christi. Mit der Gruppe stehen auf der rechten Seite fürstliche und bürgerliche Frauen, Kinder 33 Vgl. Kaufmann, Thomas: Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2), Tübingen 2003. 34 Vgl. dazu Oelke, Harry: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steur des Papsts und türken Mord …“. Ein Kinderlied Luthers im Medienereignis Reformation, in: LuJ 73, 2008, 141–168; zu den bildstrukturellen Beobachtungen im Folgenden vgl. Reumann, Kampfbild, 28–61.
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Abb. 11 Der Papst als böser Schächer
und ein älterer Mann in Beziehung. Das zentrale Geschehen vollzieht sich indes in der Mitte. Zwischen diesen beiden Gruppen stürzen als diffuse Ansammlung von päpstlichen und heidnischen Gegnern der Papst, seine Geistlichkeit und ein Türke (Turban), von den Bannstrahlen aus der Wolkencorona getroffen, in die geöffnete Höllengrube hinab. Der Papst, an seiner Tiara erkennbar, wird in diesem Zusammenhang als Antichrist gezeichnet, der seiner verdienten Höllenstrafe entgegenstürzt. Bei Cranachs Passional galt die Christusfigur dem Betrachter als ein positiv besetztes Ideal, das ihm jedoch keine vollständige Identifikation ermöglichte. Es beließ ihn stets in einer gewissen Distanz, der Sieg Christi über den Papst war ‚nur‘ ein Stellvertretersieg: innere Erlösung? Ja, aber keine konkrete Lösung des bedrängenden Lebensproblems (Distanzideal) für den Betrachtenden. Die hier vorgenommene Gegenüberstellung von evangelischen Gläubigen und altkirchlichen Exponenten erhöht das Identifikationsangebot des Blattes, während Christus in Verbindung mit Luther nunmehr die Rolle der maßstabsetzenden Instanz (Plusideal) zugeschrieben wird. Das Werben für die reformatorischen Inhalte und deren Durchsetzung war mit Argumenten und Affekten verbunden. Argumente lieferten Luther und andere Re-
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Abb. 12 Erhalt uns, Herr
formatoren in ihren Texten, die als Flugschriften verbreitet wurden. Affekte hingegen erzeugten Bilder, allein oder in Verbindung mit kurzen Texten. Kein anderes Motiv war mehr geeignet, mehr Aufmerksamkeit und ein Tremendum zu erzeugen, als die Darstellung des Papstes als Antichrist. Durch die Diabolisierung der römischen Seite wurden Angst und Schrecken geschürt. Die eschatologische Deutung, die in der Identifikation des römischen Bischofs als Antichrist das Ende als eingeleitet erkannte, verschärfte für den Betrachter die existentielle Dimension des Konflikts. Durch die direkte Verbindung dieses negativen Pols mit einem positiven Pol, der zunächst Christus, dann die reformatorische Bewegung selbst ausmachte, waren der Untergang des einen ursächlich mit dem Aufstieg zur rettenden Instanz der anderen Seite verknüpft. Ließ man sich auf die Macht dieser gegensätzlichen Bilder und deren permanente Wiederholung in immer wieder neu variierten Motiven ein, dann gab es so etwas wie einen konfessionellen point of no return: die von den Bildern ausgelöste Dynamik trieb die Betrachtenden gewissermaßen auf die Kirchentrennung und damit auf die Konfessionskirche zu. Im Grunde war die Kirchenspaltung in Luthers früher Festlegung auf den Papst als Antichrist angelegt. Der katholische Luther-Forscher Erwin Iserloh ist einmal gefragt worden, ob das kirchliche Trennungsszenario hätte gestoppt werden können. Seine Antwort: Ja, aber es hätte umsichtiger Theologen mit Managerqualitäten
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Abb. 13 Entlaufener Ablasskramer
bedurft. Die gab es aber offensichtlich nicht. Aus der Fundamentaldifferenz entwickelte sich die Abgrenzung vom Papst als ein protestantischer Identitätsfaktor ersten Ranges. Das wird deutlich beim Blick auf die Publizistik des 100jährigen Reformationsjubiläums. Anlässlich der Jubelfeier von 1617 erschien das Flugblatt „Entlauffener Ablasskramer“ (Abb. 13). Luther, ausgestattet mit der Bibel, tritt dem Papst, dargestellt als apokalyptische Tiergestalt, entgegen. Der Ablassverkäufer ergreift die Flucht. Der Holzschnitt macht klar: die aus der Causa Lutheri hervorgegangene fundamentale Abgrenzung vom Papst als Antichristen war nach 100 Jahren zum Leitfaktor einer protestantischen Selbstverständnisses als Kirche geworden.
Der Papst als Antichrist und die ‚Gute Nachricht‘
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Schluss Die bilanzierende Bestandsaufnahme der Reformation anlässlich des 500jährigen Jubiläums wird diese Fundamentaldifferenz immer mitbedenken müssen. Das Erbe der Reformation ist in dieser Hinsicht ambivalent, es ist Last und Chance: Einerseits bleibt die Herausbildung der Konfessionskirchen ein Problem, das nachhaltig in die Gegenwart hineinreicht und die ökumenische Arbeit, zumal nach den Beschlüssen des Ersten Vatikanischen Konzils, herausfordert. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass die im Zeichen der Abgrenzung vom Papst vollzogene Spaltung erstmals und nachhaltig durch den Augsburger Religionsfrieden aufgefangen wurde: Die reichsrechtliche Grundlegung für die Integration von einem zweitem religiösem Leitsystem, dem Luthertum. Das deutsche Staatskirchenrecht hat hier eine Erfahrung in sich aufgenommen, die es von vergleichbaren Rechtskorpora in Europa signifikant unterscheidet. Angesichts der modernen Herausforderungen durch das auszulotende Verhältnis der Religionen dürfte das einen nicht unerheblichen Vorteil ausmachen.
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„Er vereinigt sich nicht eher mit mir, bis ich ein Herrnhuter werde.“ Ein religiöser Bruderzwist an der Wende zum 19. Jahrhundert
I. Hans Bruhns war ein ehrbarer Kaufmann in Meldorf in Dithmarschen. Er wurde 1749 in der nordfriesischen Gemeinde Viöl geboren, wo sein Vater von 1730 bis zu dessen frühen Tod 1753 als Diakon wirkte.1 Dass Hans Bruhns im Gegensatz zu seinem älteren Bruder keine akademische Ausbildung erhielt, hatte vermutlich finanzielle Gründe. So hat er den Beruf des Kaufmanns ergriffen und war damit in die Fußstapfen seiner Großväter, des Flensburger Kaufmanns und Bürgermeisters Hans Iversen Loyt und des Wismarer Kaufmanns Johann Bruhns, getreten. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Handlungsgehilfe konnte Hans Bruhns, wie er schreibt, „ohne Vermögen nur mit fremden Zins-Geldern ausgerüstet“ in Meldorf eine eigene Ellenhandlung (Tuchhandlung) eröffnen.2 Aus dem Volkszählregister von 1803 ist zu entnehmen, dass in seinem Geschäft zwei Handlungsgehilfen und zwei weibliche Dienstboten beschäftigt waren.3 Die Geschäfte liefen nicht immer gut. Er sei zwar vor Unglücksfällen bewahrt worden, habe aber auch keine besonderen „Glücks-Zufälle“ gehabt, wie er ferner erwähnt. Besonders die von Na 1 Der Vater von Hans Bruhns, der Pastor Friedrich Erdmann Bruhns, wurde 1709 als Sohn des Kaufmanns Johann Bruhns in Wismar geboren. Er starb 43 oder 44jährig im Jahr 1753 in Viöl. In erster Ehe war er mit Magdalena Christina Thomsen verheiratet. Sie starb 1740. Etwa ein Jahr später heiratete er die 1718 geborene Margarethe Loyt, die Tochter des Flensburger Kaufmanns und Bürgermeisters Hans Iversen Loyt. Sie war die Mutter der Brüder Hans und Friedrich Erdmann Bruhns. Arends, Otto Friedrich: Gejstligheden i Slesvig og Holsten fra Reformationen til 1864, Bd. 1, Kopenhagen 1932, 96; Moller, Olaus Heinrich: Beytrag zur Kirchen- und Predigergeschichte der im Herzogtum Schleswig belegenen Aemter Apenrade, Hadersleben, Tondern usw., Flensburg 1769, 16. 2 Staatsarchiv Basel (StAB), Privatarchive 653, V, 6: Hans Bruhns an Christian Friedrich Spittler, Meldorf Oktober 1810. Hans Bruhns betont in dem Brief an Spittler, dass er in Meldorf keinen Menschen kannte, als er dort seine Textilhandlung eröffnete. Da sein Bruder 1782 als Konrektor nach Meldorf berufen wurde, muss Hans Bruhns also schon vorher sein Geschäft in Meldorf eröffnet haben. Später hat Bruhns öffentliche Ämter in Meldorf wahrgenommen wie z. B. das Amt des Schulvorstehers. Siehe Stadtarchiv Meldorf I, Nr. 377; Chronologische Sammlung der im Jahre 1792 ergangenen Verordnungen und Verfügungen für die Herzogthümer Schleswig und Holstein, der Herrschaft Pinneberg, Grafschaft Ranzau und Stadt Altona, Kiel 1793, 157. 3 www.danishfamilysearch.dk/cid2026300 vom 5.1.2017.
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poleon verfügte Kontinentalsperre gegen England, welcher sich Dänemark Ende 1807 anschloss, habe seinen Handel stark beeinträchtigt. Auch führten Missernten und Viehseuchen, welche manchen seiner bäuerlichen Schuldner finanziell ruiniert hätten, bei ihm zu Zahlungsausfällen.4 Immerhin muss der Tuchhandel in Meldorf später wieder so lukrativ gewesen sein, dass es sich für den ältesten Sohn lohnte, nach dem Tod des Vaters die Tuchhandlung weiterzuführen.5 Hans Bruhns knapp drei Jahre älterer Bruder Friedrich Erdmann hat den Beruf des Pfarrers angestrebt und in den Jahren 1767–1770 in Halle Theologie studiert. Nach dem 1772 in Flensburg abgelegten theologischen Examen war er zunächst – wie zu jener Zeit nicht unüblich – einige Jahre als Hauslehrer tätig. 1780 wurde er schließlich Rektor der Schule in Friedrichsberg bei Schleswig und schon zwei Jahre später, 1782, Konrektor der Lateinschule zu Meldorf, ein Amt, das er 15 Jahre innehatte, bis er 1797 zum Kompastor in Neumünster berufen wurde.6 Als Konrektor der Meldorfer Gelehrtenschule hatte er Religion, Latein, Griechisch, Geographie und Geschichte zu unterrichten.7 Die Tatsache, dass sein Bruder sich einige Zeit zuvor in Meldorf niedergelassen hatte, hat Friedrich Erdmann Bruhns sicherlich mit dazu bewogen, sich als Konrektor an der Lateinschule in diesem Ort zu bewerben. Außerdem bedeutete das Amt des Konrektors auf einer Lateinschule für ihn eine soziale und natürlich auch materielle Besserstellung. Eine Wohnung wurde gestellt, als Gehalt wurden 500 Mark geboten mit der Aussicht auf Erhöhung bei zunehmender Schülerzahl. Während in der Friedrichsberger Schule nur die ersten Grundlagen der Bildung gelegt wurden, so dass die Schüler danach in die erste Klasse der Schleswiger Domschule eintreten konnten,8 bereitete die Meldorfer Lateinschule die Schüler bereits auf das Studium an der Universität vor. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Lateinschule in Meldorf sich im 18. Jahrhundert einen sehr guten Ruf erworben hatte. Seit 1772 wurde sie von dem Rektor Johann Gottlob
4 StAB, Privatarchive 653, V, 6: Hans Bruhns an Christian Friedrich Spittler, Meldorf Oktober 1810. 5 Callisen, Heinrich: Lebensbeschreibung, abgedruckt aus dessen Chirurgie, nebst hinzugefügten biographischen Anmerkungen, welche die Callisensche Familie betreffen, Kopenhagen 1824, 10. Der älteste Sohn hieß Erdmann Johann Bruhns. 6 Nur zwei Jahre später, 1799, wurde Friedrich Erdmann Bruhns Pastor primarius in Neumünster. 1812 legte er sein Amt aus Altergründen nieder. Er starb am 6. Februar 1831 in Bordesholm. Siehe Achelis, Thomas Otto: Matrikel der schleswigschen Studenten 1517–1864, Bd. 2, Kopenhagen 1966, 366; Arends, Otto Friedrich: Gejstligheden i Slesvig og Holsten fra Reformationen til 1864, Bd. 1, Kopenhagen 1932, 96. 7 So sind die Anforderungen in der Stellenanzeige beschrieben, die am 3. August 1782 in der Kaiserlich privilegierten Hamburgischen Neuen Zeitung veröffentlicht wurde. Vgl. Stats=Anzeigen, Schlözer, August Ludwig (Hg.): Bd. 1, Göttingen 1782, 299 f. 8 „Tabellarischer Extract aus den wegen der Lateinischen Schulen in den Herzogthümern ad Rescriptum Cancellariae vom 19. July 1777 eingegangenen Nachrichten“, in: Niemann, August: Miscellaneen historischen, statistischen und ökonomischen Inhalts zur Kunde des deutschen und angränzenden Nordens, besonders der Herzogthümer Schleswig und Holstein, Bd. 2, St. 1, Altona und Leipzig 1799, nach 162.
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Jäger geleitet, welcher mit Unterstützung des Meldorfer Propstes Jakob Jochims9 maßvolle Reformen im Unterricht im Geist einer sachorientierten pragmatischen Aufklärung durchzusetzen vermochte.10
II. Meldorf war Ende des 18. Jahrhunderts ein beschaulicher Ort mit etwa 2.000 Einwohnern. Als Sitz der obrigkeitlichen Behörden der Landschaft Süderdithmarschen und aufgrund der dort ansässigen Handwerker und Kaufleute wie auch der im Frühjahr und Herbst stattfindenden Märkte hatte der Ort eine zentrale Funktion für die Bevölkerung dieser Region. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bekam Meldorf jedoch noch eine weit über Dithmarschen und das Herzogtum Holstein hinausgehende Bekanntheit im kulturell-literarischen Leben des Alten Reiches. Denn einer der profiliertesten Vermittler der zeitgenössischen Dichtung und emsiger Herausgeber von Zeitschriften und Anthologien lebte in diesem Ort. Es handelt sich um Heinrich Christian Boie, der 1744 in Meldorf als Pastorensohn geboren wurde, nach dem Besuch der Gelehrtenschule in Flensburg im Sommersemester 1764 in Jena mit dem Studium der Theologie begann, aber schon bald mit Erlaubnis des Vaters zur Jurisprudenz wechselte. Nach einer zweijährigen Unterbrechung konnte er 1769 als begleitender Hofmeister adliger Zöglinge sein Jurastudium in Göttingen fortsetzen, jedoch widmete er sich dort vor allem literarischen Arbeiten.11 Gemeinsam mit dem aus Gotha stammenden Schriftsteller und 9 Jakob Jochims, geb. 1719, Studium in Jena 1737–1740, Pastor in Michaelisdonn 1743 und in Burg 1761, von 1771 bis zu seinem Tod 1790 Hauptpastor und Propst in Meldorf, seit 1781 ebenfalls Konsistorialrat. Siehe Arends, Otto Fr.: Gejstligheden i Slesvig og Holsten fra Reformationen til 1864, Bd. 1, Kopenhagen 1932, 406. Jochims hat mehrere Schriften veröffentlicht, die ihn als Anhänger der Aufklärung ausweisen. Seine Schrift „Versuch zur Verbesserung des Unterrichts in Landschulen“ von 1775 hat damals eine positive Resonanz gefunden. Siehe: Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands. Ein Handbuch für Erzieher, Leipzig 1790, 189. 10 Kopitzsch, Franklin: Reformversuche und Reformen der Gymnasien und Lateinschulen in Schleswig-Holstein im Zeitalter der Aufklärung, in: Ders.: Erziehungs- und Bildungsgeschichte Schleswig-Holsteins von der Aufklärung bis zum Kaiserreich, Neumünster 1981, 61–88, hier 75– 78 (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 2); Reiche, Kurt, Die Meldorfer Gelehrtenschule unter der Leitung Johann Gottlob Jägers, in: Kamphausen, Alfred/Nissen, Nis. R./Rietz, Walter (Hgg.): 700 Jahre Meldorf, Heide 1965, 59–73. Johann Gottlob Jäger war bis zum Jahr 1813 Rektor der Lateinschule in Meldorf. 11 Zur Biographie siehe Weinhold, Karl: Heinrich Christian Boie, Halle 1868; Behrens, Jürgen, „Heinrich Christian Boie“, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. 2, Neumünster 1971, 70–72; Klose, Werner: Heinrich Christian Boie: „Deutsches Museum“ in Meldorf, in: Dithmarschen. Zeitschrift für Landeskunde und Landschaftspflege N. F., Heft 4 (1986), 74–80; Frank, Horst Joachim: Literatur in Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert, Bd. 2, Neumünster 1998, 276–309; Schmidt-Tollgreve, Urs: Heinrich Christian Boie. Leben und Werk, Husum 2004; Gille, Klaus: Heinrich Christian Boie. Ein Lebensbild, in: Lohmeier, Dieter/Schmidt-Tollgreve, Urs/Trende, Frank (Hgg.): Heinrich Christian Boie. Literarischer Mittler in der Goethezeit, Heide 2008, 11–32.
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Lyriker Friedrich Wilhelm Gotter gab er 1770 den Göttinger Musenalmanach heraus, den er dann bis 1773 allein betreute. Aus dem Kreis der jungen Literaten, die sich um Boie als Herausgeber des Musenalmachs versammelt hatten, bildete sich der Göttinger Hainbund.12 Eine größere Breitenwirkung erzielte Boie allerdings mit der gemeinsam mit dem Juristen Christian Wilhelm von Dohm 1776 begründeten Monatszeitschrift „Deutsches Museum“, ab 1789 „Neues Deutsches Museum“, in welcher neben literarischen Beiträgen auch wissenschaftliche Abhandlungen und politische Aufsätze erschienen.13 Diese bedeutende Zeitschrift des 18. Jahrhunderts, die er „zum Abbild der geistigen Situation seiner Gegenwart“ zu machen versuchte,14 hat er später von Meldorf aus, wo er von 1781 und bis zu seinem Tod 1806 als Landvogt wirkte, betreut und herausgegeben. Seine literarische und redaktionelle Tätigkeit brachte Boie in Kontakt mit sehr vielen berühmten Personen des kulturellen Lebens; viele kannte er persönlich, darunter waren u. a. Goethe, Herder, Schiller, Wieland, Gleim, Klopstock, Bürger, Lenz, August Wilhelm Schlegel und Boies Schwager Johann Hinrich Voß, der 1774 die Herausgeberschaft des Musenalmanach übernahm. Regelmäßigen Kontakt unterhielt Boie außerdem zu den Mitgliedern des Hainbundes, vor allem zu den Brüdern Friedrich Leopold und Christian von Stolberg; letzteren hat er des Öfteren in seinem zwischen Hamburg und Lübeck gelegenen Herrenhaus in Tremsbüttel besucht.15 Bereits drei Jahre vor Boie war eine andere bedeutende Person nach Meldorf gekommen: der Forschungsreisende Carsten Niebuhr.16 Seine 1774 und 1776 erschienenen zwei Bände seiner „Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern“ hatten großen Anklang in der akademischen Welt gefunden, weil sie erstmals empirische Daten über die den Europäern bisher weitgehend verschlossenen arabischen Länder lieferten.17 Niebuhr war seit Juli 1778 Landschreiber in Süderdithmarschen und in diesem Amt vor allem mit der Erhebung von Steuern und 12 Zur Geschichte und Dichtung des Göttinger Hainbunds siehe Kahl, Paul: Das Bundesbuch des Göttinger Hains, Tübingen 2006; dort auch weiterführende Literaturhinweise über die Geschichte des Hainbundes. 13 Über das „Deutsche Museum“ siehe Hofstaetter, Walther: Das deutsche Museum (1776– 1788) und das Neue Deutsche Museum (1789–1791). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Zeitschriften im 18. Jahrhundert, Leipzig 1908. 14 Behrens, 72. 15 Zur Bedeutung Boies als Vermittler zeitgenössischer Literatur siehe Lohmeier, Dieter: Der Intendant auf dem deutschen Parnaß. Heinrich Christian Boie im literarischen Leben Deutschlands, in: Ders./Schmidt-Tollgreve, Urs/Trende, Frank (Hgg.): Heinrich Christian Boie. Literarischer Mittler in der Goethezeit, Heide 2008, 53–82. 16 Über das Leben und Wirken Carsten Niebuhrs siehe Treichel, Ernst: Art. Carsten Niebuhr, in: SHBL 5 (1979), 181–183; Hansen, Reimer: Art. Niebuhr, Carsten, in: NDB 19 (1999), 217–219; Conermann, Stephan/Wiesehöfer, Josef (Hgg.), Carsten Niebuhr und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7. –10. Oktober 1999 in Eutin., Stuttgart 2002 (Oriens et Occidens 5). 17 Der dritte Band der „Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern“ ist erst posthum 1837 bei Friederich Perthes in Hamburg erschienen. Niebuhrs Reisebeschreibung wurde ins Französische, Englische und Niederländische übersetzt.
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Abgaben befasst. Für Boie war es ein Glücksfall, diesen weitgereisten Gelehrten an diesem Ort vorzufinden. Niebuhr und Boie befreundeten sich rasch und bildeten in Meldorf fortan den Mittelpunkt des bescheidenen kulturellen Lebens, in dem sich im Wesentlichen der Geist der Aufklärung widerspiegelte.18 In Meldorf, gelegen „mitten zwischen harten, festen Bauern und wohlgenährtem Rindvieh“19, wie Boie ironisch schreibt, wo „kein Sinn für das Edle, Gute und Schöne“ vorhanden sei,20 ergriff dieser nun die Initiative, um der überschaubaren örtlichen Oberschicht einen Raum des geistigen Austausches zu schaffen und dem dortigen kulturellen Leben zugleich einen neuen Impuls zu geben. Aus diesem Grund gründete er gemeinsam mit dem Arzt Dr. Hintze im März 1792 eine Lesegesellschaft, der sich sämtliche Männer von Rang und Namen anschlossen, insgesamt 41 Meldorfer Personen.21 Das von Boie festgelegte Lektüreprogramm entsprach dem Geschmack der Zeit. Es dominierten Aufklärungsschriften zu juristischen, geographischen, historischen und moralischen Themen, schöngeistige Literatur dagegen kam nur in geringem Maße vor.22 Boie ging es also weniger um literarische Erbauung als vielmehr um pragmatisches Lesen.23 Er wollte seinen Dithmarscher Landsleuten neueste Erkenntnisse aus möglichst vielen Wissensgebieten zum alltäglichen Nutzen vermitteln. Wie sich bald zeigte, hat die Lesegesellschaft allerdings nicht den Erwartungen aller Mitglieder entsprochen. Bereits nach neun Monaten traten elf Mitglieder aus, womit sich schon das Ende der Lesegesellschaft ankündigte. Nach allem, was wir wissen, hat sie sich etwa ein halbes Jahr später ganz aufgelöst. Die genauen Gründe kennen wir aber nicht. Der Meldorfer Lesegesellschaft hatten sich auch die Brüder Hans und Friedrich Erdmann Bruhns angeschlossen, und beide hielten an ihrer Mitgliedschaft bis zur Auflösung der Gesellschaft fest. Die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts gelten als die verbreitetste Organisationsform der Aufklärung und als Orte der bürgerlichen Emanzipation. Dass auch Hans Bruhns Mitglied einer solchen Lesegesellschaft wurde, ist in gewisser Hinsicht erstaunlich; denn er hatte sich schon zu jener 18 Schmidt-Tollgreve, Urs: Über die Freundschaft Heinrich Christian Boies mit Carsten Niebuhr, in: Lohmeier, Dieter/Schmidt-Tollgreve, Urs/Trende, Frank (Hgg.): Heinrich Christian Boie. Literarischer Mittler in der Goethezeit, Heide 2008, 251–262. 19 Hofstaetter, Das deutsche Museum, 100. 20 Heinrich Christian Boie an Luise Mejer, Meldorf, 16. Februar 1785, in: Nörtemann, Regina/ Egger, Johanna (Hgg.): Heinrich Christian Boie – Luise Justine Mejer. Briefwechsel 1776–1786, Bd. 3: Juli 1784 – Juli 1786, Göttingen 2016, 348; vgl. Schreiber, Ilse (Hg.): Ich war wohl klug, dass ich Dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777–1785, 2. Aufl., München 1963, 442. 21 Ritter, Alexander: Gelehrter Mentor für bürgerliche Lektürekultur in der ländlichen Kleinstadt: Heinrich Christian Boie und die Lesegesellschaft in Meldorf, in: Lohmeier, Dieter/SchmidtTollgreve, Urs/Trende, Frank (Hgg.): Heinrich Christian Boie. Literarischer Mittler in der Goethezeit, Heide 2008, 83–102 hier: 94 (Erstveröffentlichung in: Goetsch, Paul (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, 135–149). 22 Ritter, Gelehrter Mentor, 96. 23 Ebd. 98.
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Zeit in religiösen Fragen als ein entschiedener Gegner des Rationalismus erwiesen. Jedoch müssen wir wohl davon ausgehen, dass nicht jede Lesegesellschaft auf dem platten Land ausschließlich vom Geist der Aufklärung durchdrungen war.24
III. Nur wenige Jahre später, im Jahr 1801, gründete Hans Bruhns gemeinsam mit den Goldschmieden Johann Peter Herzberg und Peter Jakob Schröder25 in Meldorf eine Gesellschaft ganz anderer Art, und zwar eine sogenannte Partikulargesellschaft der Deutschen Christentumsgesellschaft.26 Die Deutsche Christentumsgesellschaft hatte sich 1780 in Basel konstituiert, anfangs noch unter dem Namen „Deutsche Gesellschaft zur thätigen Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit“. Dieser Name der Gesellschaft entsprach gewissermaßen ihrem Programm. Obwohl die Gesellschaft anfangs noch eine theologisch-literarische Auseinandersetzung mit der Aufklärungstheologie suchte, verstand sie sich schon bald hauptsächlich als eine Gemeinschaft der Erweckten mit missionarisch-karitativer Zielsetzung.27 Hans Bruhns war bereits 1785 durch den Pastor Hans Hinrich Vent aus Hademarschen28 auf die Christentumsgesellschaft aufmerksam gemacht worden und hatte sich seitdem an die ein Jahr zuvor gegründete Flensburger Partikulargesellschaft gehalten und über sie die Basler Zeitschrift „Sammlungen für Liebhaber christlicher Wahrheit und Gottseligkeit“ bezogen. Der neugegründeten Meldorfer Partikulargesellschaft schlossen sich nur sehr wenige Bürger an, was wohl auch eine Folge des starken Einflusses der Aufklärung an diesem Ort war. Höher dagegen war der Anteil der auswärtigen Mitglieder aus den umliegenden Dörfern und zum Teil auch aus ferneren Orten. Um keine öffentlichen Auseinandersetzungen in Meldorf hervorzurufen, vermied diese kleine Gemeinschaft der Frommen jedes Auf 24 „Euphorischen Einschätzungen, die zu allgemein von dem Bürger, seiner Emanzipation und intensiven Lesekultur sprechen, ist mit Zurückhaltung zu begegnen.“ Ebd. 84. 25 Der Goldschmied Schröder war durch einige Schriften Jung-Stillings erweckt worden. Er sei dadurch von der Höhe heruntergekommen, wohin er durch die Schriften Karl Friedrich Bahrdts und anderer geführt worden sei, schreibt Bruhns an Jung-Stilling, Meldorf 6. Juli 1807 (Universitätsbibliothek Basel: Nachlass Schwarz XXII, 3). 26 Jakubowski-Tiessen, Manfred: Die Christentumsgesellschaft in Schleswig-Holstein, in: Lehmann, Hartmut/Lohmeier, Dieter (Hgg.): Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat 1770–1820, Neumünster 1983, 231–247, zur Meldorfer Partikulargesellschaft siehe 240–246. 27 Weigelt, Horst: Joh. Aug. Urlsberger und seine Auseinandersetzung mit der Aufklärungstheologie. Ein Beitrag zur Geschichte des Spätpietismus, in: Berg, J. van den/Dooren, J. P. van (Hgg.): Pietismus und Reveil, Leiden 1978, 237–252, hier 248. 28 Hans Hinrich Vent, 1751 in Flensburg geboren, war von 1779–1814 Pastor in Hademarschen. Sein Stiefvater Hans Kallsen, Schreib- und Rechenmeister und Organist an der Johanniskirche in Flensburg, war der Initiator der 1784 gegründeten Flensburger Partikulargesellschaft der Deutschen Christentumsgesellschaft. Jakubowski-Tiessen, Die Christentumsgesellschaft, 235; Staehelin, Ernst: Die Christentumsgesellschaft in der Zeit von der Erweckung bis zur Gegenwart. Texte aus Briefen, Protokollen und Publikationen, Basel 1974, 324 f. (ThZ.S IV).
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sehen und verzichtete aus diesem Grund in ihren Versammlungen sogar auf den Gesang. Hans Bruhns war von Anfang an der führende Kopf dieser pietistischen Sozietät und ihr Verbindungsmann zum Basler Zentrum.29 In einem Basler Bericht über die Partikulargesellschaft in Meldorf wird er als „ein gründlich erweckter ächt christlich denkender Mann“ bezeichnet.30 Einen Höhepunkt im Leben der Meldorfer Partikulargesellschaft bedeutete ohne Zweifel der Besuch von Carl Friedrich Adolf Steinkopf, dem ehemaligen Sekretär der Christentumsgesellschaft und damaligen Pastor der deutschen lutherischen Kirche in der Savoy in London, der im Hause Bruhns am 7. September 1803 seinen 30. Geburtstag feierte.31 Darüber hinaus stand Bruhns mit zahlreichen Gleichgesinnten in Schleswig-Holstein in brieflichem und persönlichem Kontakt, u. a. mit dem Direktor des Kieler Lehrerseminars Hermann Daniel Hermes32 und dem Kieler Theologieprofessor Johann Friedrich Kleuker,33 beide entschiedene Gegner der Rationalisten, sowie mit Fritz und Julia Reventlow in Emkendorf, denen er nicht nur fromme Lehrer für ihre Dorfschulen vermittelte, sondern auch erbauliche Schriften besorgte.34 Dass Bruhns seit etwa 1805/1806 in Verbindung mit den Emkendorfern stand, war eine seltsame Fügung der Geschichte; denn bis etwa zehn Jahre zuvor war es Heinrich Christian Boie gewesen, der freundschaftliche Beziehungen zu den Reventlows gepflegt hatte. Als die Emkendorfer jedoch ihren Kampf gegen den religiösen Rationalismus aufnahmen und sich für eine religiöse Erneuerung in Kirche und Staat einsetzten, brach Boie – wie schon zuvor sein Schwager Johann Hinrich Voss – die Verbindung mit Emkendorf ab.35
29 Jakubowski-Tiessen, Die Christentumsgesellschaft, 240–246. 30 Staehelin, Die Christentumsgesellschaft, 253. 31 StAB, Privatarchive 653, V, 6: Hans Bruhns an Christian Gottlieb Blumhardt, Meldorf 24.12.1803: „Ja, gewis, der Eindruck, den der Besuch des l[ieben] B[ruder] Steinkopf bey uns allhier gemacht, wird uns unvergesslich bleiben.“ Steinkopf hielt sich im Oktober 1812 erneut für einen Tag in Meldorf auf. Christian Friedrich Adolf Steinkopf an Christian Friedrich Spittler, Altona 15. Oktober 1812, in: Staehelin, Die Christentumsgesellschaft, 241. 32 Heyer, Friedrich: Art. Hermes, Herrman Daniel, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, 2 (1971), 174–176; Beutel, Albrecht: Art. Hermes, Herrman Daniel, in: RGG4 3 (2000), 1665 f. 33 Heyer, Friedrich: Art. Kleuker, Johann Friedrich, in: SHBL 3 (1974), 172–174; Weinhardt, Joachim: Art. Kleuker, Johann Friedrich, in: RGG4 4 (2001), 1442. 34 Lehmann, Hartmut: Zwischen Pietismus und Erweckungsbewegung. Bemerkungen zur Religiosität der Emkendorfer, in: Ders./Lohmeier, Dieter (Hrsg.): Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat 1770–1820, Neumünster 1983, 267–279; Brandt, Otto: Geistesleben und Politik in Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1825, 83–246. 35 Brandt, Geistesleben und Politik, 191–197.
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IV. Zu Bruhns Korrespondenten gehörte auch der Augenarzt, Wirtschaftswissenschaft ler und religiöse Schriftsteller Johann Heinrich Jung-Stilling, der als „Patriarch der Erweckung“ bezeichnet wurde.36 Wie umfangreich die Korrespondenz Bruhns mit Jung-Stilling war, ist nicht bekannt. Am 6. Juli 1807 entschuldigt sich Bruhns, dass er auf drei Schreiben Jung-Stillings aufgrund beruflicher Beanspruchung nicht früher habe antworten können.37 Dieser Brief an Jung-Stilling, den Bruhns als „Freund und Mitbruder“ unterzeichnet, ist das einzig überlieferte Schreiben ihrer Korrespondenz. Es gewährt uns nicht allein Einblicke in die für uns zumeist verschlossenen Glaubenswelten der sogenannten „Stillen im Lande“, sondern auch in ein spannungsreiches Verhältnis unter Brüdern an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert. Im ersten Teil seines Briefes an Jung-Stilling erörtert Bruhns einige religiöse Fragen, die in den erbaulichen Versammlungen der Meldorfer Brüder zur Sprache kamen, aber von ihnen nicht hinreichend geklärt werden konnten. Dabei handelt es sich vor allem um eschatologische bzw. chiliastische Themen, welche auch in anderen pietistischen Kreisen um 1800 besonders intensiv diskutiert wurden: etwa die Frage nach dem Zeitpunkt, dem Ort und der Art und Weise einer zweiten leiblichen Wiederkehr Jesu.38 Die kleine fromme Schar in Meldorf war nicht zuletzt durch die Schriften Jung-Stillings zu apokalyptischen Reflexionen angeregt und zugleich ermuntert worden, genauer auf die Zeichen der Zeit zu achten und „auf das herannahende herrliche Reich des Messias zu warten“. Im Gegensatz zu seinem Mitbür-
36 1740 in einem kleinen Dorf im Siegerland geboren, in Armut aufgewachsen, radikal- pietistisch erzogen, besuchte Jung-Stilling vier Jahre die Lateinschule und erlernte nebenher vom Vater das Schneiderhandwerk. 1770 nahm er – nach vorhergehenden ophtalmologischen Studien – in Straßburg das Medizinstudium auf, wurde Arzt, später Professor der Kameralwissenschaften in Kaiserslautern und Marburg sowie schließlich 1804 Berater des Kurfürsten Karl Friedrich von Baden. Letztere Anstellung war eine Sinekure, die ihm – inzwischen vom frommen Aufklärer zum Vorkämpfer der Erweckung mutiert – ermöglichte, sich seiner religiösen Schriftstellerei zu widmen und seine pietistischen Netzwerke zur weiteren Verbreitung seiner religiösen Ideen zu nutzen. Zu Jung-Stilling siehe Vinke, Rainer: Jung-Stilling und die Aufklärung. Die polemischen Schriften Johann Heinrich Jung-Stillings gegen Friedrich Nicolai (1775/76), Stuttgart 1984; Schwinge, Gerhard: Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung (AGP 32), Göttingen 1994; Geiger, Aufklärung und Erweckung; Jung-Stilling. Arzt – Kameralist – Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung. Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, hrsg. von der Badischen Landesbibliothek, Karlsruhe 1990; Hahn, Otto W.: „Selig sind, die das Heimweh haben.“ Johann Heinrich Jung-Stilling, Patriarch der Erweckung, Gießen 1999. 37 Universitätsbibliothek Basel: Nachlass Schwarz XXII, 3: Hans Bruhns an den Hofrat JungStilling in Karlsruhe, Meldorf, 6. Juli 1807. 38 Jakubowski-Tiessen, Manfred: Apokalypse now – Endzeitvorstellungen im Pietismus, in: Schipper, Bernd/Plasger, Georg (Hgg.): Apokalyptik und kein Ende?, Göttingen 2007, 93–116.
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ger Heinrich Christian Boie, der die religiösen Schwärmereien in den Schriften Jung-Stillings kritisierte,39 hat Bruhns dessen Schriften, vor allem die seit 1795 erscheinende Zeitschrift „Der Graue Mann“ mit Begeisterung rezipiert.40 Diese Zeitschrift erschien bis zum Jahr 1816 in 30 Heften und fand in ganz Deutschland eine breite Resonanz. Der Titel dieser Zeitschrift ist Jung-Stillings Roman „Heimweh“ entlehnt, in welchem der „Graue Mann“ einen Boten aus dem Jenseits mit Namen Ernst Uriel von Ostenheim darstellt.41 Dieser geistliche Führer kämpft für den alten Bibelglauben und ruft die echten Christen in der hereinbrechenden Endzeit und dem bevorstehenden Tausendjährigen Reich Christi dazu auf, sich zu vereinigen, zusammenzustehen und auf die Zeichen der Zeit zu achten. Mit seinem religiösen Spätwerk, wozu auch die Zeitschrift „Der Graue Mann“ gehört, wurde Jung-Stilling zu einem Wegbereiter der Erweckungsbewegung wie es in ähnlicher Weise auch auf die Deutsche Christentumsgesellschaft zutrifft.
V. Der zweite längere Teil des Briefes von Bruhns an Jung-Stilling, zu dem auch zwei Abschriften von Briefen seines Bruders Friedrich Erdmann an den Kanzler des Herzogtums Schleswig gehören, dient als Grundlage der folgenden Darlegungen. Dieser Teil des Briefes samt Anhang ist privater Natur und gibt uns Einblicke in ein kritisches Verhältnis unter Brüdern, die sich aufgrund theologischer Differenzen immer stärker voneinander entfremdeten. In diesem Geschwisterverhältnis spiegeln sich in geradezu exemplarischer Weise religiöse Spannungen des frühen 19. Jahrhunderts wider. Zugleich zeigt die jeweils unterschiedliche religiöse Entwicklung dieser Brüder, dass individuelle Entdeckungen des Evangeliums äußerst differente Konsequenzen zeitigen konnten. Friedrich Erdmann Bruhns hatte während seines Studiums in Halle vor allem die Lehrveranstaltungen des Theologieprofessors und Mitdirektors des Hallischen Waisenhauses Johann Georg Knapp (1705–1771) besucht. Knapp war Anhänger
39 Heinrich Christian Boie an Luise Meyer, Meldorf, 22. April 1781, in: Nörtemann/Egger (Hgg.): Heinrich Christian Boie – Luise Justine Mejer, Briefwechsel, Bd. 1: Juli 1776 – Juni 1782, 353; vgl. Ilse Schreiber (Hg.), Boies Briefwechsel mit Luise Mejer, 90. 40 Bruhns sei „ein vorzüglicher Liebhaber von Jungs Schriften und eifert gegen alle Neologie.“ So zu lesen in „Allgemeine Bemerkungen über Partikular-Gesellschaften“, Staehelin, Die Christentumsgesellschaft, 245. 41 Jung-Stilling hatte zwischen 1794 und 1796 den vierbändigen Roman „Heimweh“ veröffentlicht. In diesem Roman wird die Geschichte eines Herrn Christian von Ostenheim erzählt, der aufbricht, um alle diejenigen, die Heimweh nach dem Gottesreich haben, zu sammeln und in den Osten zu führen. Dort lassen sich die Frommen dann nieder und gründen eine eigene Gemeinde mit Namen Solyma. Diese allegorische Reise eines suchenden Christen zur himmlischen Heimat fand eine sehr große Verbreitung, besonders in frommen Kreisen und hat teilweise die Auswanderung nach Palästina mit beflügelt. Siehe Jakubowski-Tiessen, Apokalypse now.
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des Hallischen Pietismus und ein Mann „von tiefer, aufrichtiger Frömmigkeit“.42 Bedeutende theologische Werke hat er nicht verfasst, aber er war beliebt bei den Studenten, und seine Vorlesungen wurden gern besucht, nicht zuletzt weil sie gratis waren. Friedrich Erdmann sei „ein besonderer Verehrer des alten D. Knapp“ gewesen und hingegen „ein Feind“ des Aufklärungstheologen Johann Salomo Semler,43 betont Hans Bruhns. Er erwähnt dies, um zu untermauern, dass die Brüder einst theologisch auf gleicher Wellenlänge lagen. Man könne – wie er hinzufügt – geradezu Psalm 133, 1 auf das brüderliche Verhältnis anwenden: „wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig [beieinander wohnen]“. Auch Erdmann Friedrich hebt das gute Verhältnis hervor, das die Brüder bisher zueinander unterhielten. Von Jugend auf sei Hans „sein bester und fast einziger Freund“ gewesen.44 Die Wende in dem brüderlichen Verhältnis habe begonnen, so schreibt der jüngere Bruder Hans, als Friedrich Erdmann in Meldorf „vertrauten Umgang mit einem philosophischen Prediger“ bekommen und er nun „viele neue Schriften“, d. h. aufklärerische Schriften zu lesen begonnen habe. Hans Bruhns nennt den Prediger nicht namentlich, aber es wird sich um den bereits erwähnten Jakob Jochims handeln, der von 1771 bis 1790 Hauptpastor und Propst in Meldorf und damit auch Scholarch der Lateinschule war, also gerade in jenen Jahren, in denen Friedrich Erdmann Bruhns dort als Konrektor wirkte. Jochims hatte viereinhalb Jahre Theologie und Philosophie in Jena studiert, wobei er sich besonders für die Philosophie begeisterte, was sich in seinen späteren theologischen Schriften widerspiegelt. In einer Rezension zu einer seiner Schriften45 lesen wir, dass Jochims versucht habe, „die gewöhnlichen theologischen Meynungen, so gut er gekonnt, mit dem zum Grunde gelegten philosophischen Wahrheiten zu vereinigen“.46 Jochims war ein Anhänger der Aufklärung und hat mehrere einschlägige Schriften veröffentlicht, u. a. eine Anleitung über die Religion vernünftig zu denken (Altona 1771) und eine Schrift mit dem Titel Jesus von Nazareth und seine Apostel hatten gute Absichten und waren ehrliche Leute. Eine Abhandlung (Flensburg 1783). In einem Nachruf auf Jochims heißt es, er sei in seinem Wirken als Theologe eifrig bestrebt gewesen, „die Lehren der christlichen Religion vernünftig vorzustellen, und ihre Anwendung
42 Kramer, Gustav: Art. Knapp, Johann Georg, in: ADB 16 (1882), 267–269. Nach dem Tod von Gottfried August Francke wurde Knapp dessen Nachfolger als Direktor des Waisenhauses und Pädagogiums. Dieses Amt hat er nur noch knapp zwei Jahre ausüben können. 43 Johann Salomo Semler (1725–1791), war Professor der Theologie in Halle und Begründer der historisch-kritischen Bibelexegese. Seine Unterscheidung von privater Religiosität und öffentlicher Religion kennzeichnete ihn als Aufklärungstheologen. Nüssel, Friederike: Art. Semler, Johann Salomo, in: RGG4 7 (2004), 1204 f. 44 Abschrift des Briefes von Erdmann Friedrich Bruhns an Friedrich Karl Krück, Neumünster 1. Juni 1807 (Universitätsbibliothek Basel: Nachlass Schwarz XXII, 3). 45 Es handelt sich um die 1777 erschienene Schrift: Anleitung, über die Religion überhaupt und über die geoffenbarte Religion insbesondere vernünftig und schriftmäßig zu denken. 46 AlTB 9 (1778), 261.
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auf die Moralität des Menschen einzuschärfen“.47 Man dürfe bei ihm „keine strenge Orthodoxie“ erwarten, „allein was in der Religion für Bedürfnis zur menschlichen Glückseligkeit gelten kann, war mit eben so viel Scharfsinn als Wärme in einem mehr als natürlichen Lichte gezeigt.“48 Es ist jedoch davon auszugehen, dass es nicht allein dieser „philosophische Prediger“ war, über den Friedrich Erdmann Bruhns mit der Gedankenwelt der Aufklärung bekannt wurde. Eng befreundet war er ferner mit dem Pastor Friedrich Ernst Christian Oertling in St. Michaelisdonn. Oertling war ein besonderer Verehrer der Predigtwerke des Aufklärungstheologen Georg Joachim Zollikofer und des rationalistischen Göttinger Universitätspredigers Johann Gottlob Marezoll.49 In seiner Gemeinde in St. Michaelisdonn habe sich Oertling, wie es in einem Nachruf heißt, „bald durch freie Ansichten bemerkbar, aber bei seiner Gemeinde nicht beliebt gemacht“.50 Große Anerkennung fand Oertling hingegen bei dem jungen Claus Harms, den er seit 1791 in den alten Sprachen unterrichtete und zudem in die Welt der wissenschaftlichen Literatur einführte.51 Harms nennt diese Zeit rückblickend als „die Jahre des aufgehenden, eindringenden, strahlenden Sonnenlichtes des Rationalismus“.52 In Meldorf wirkten darüber hinaus weitere Anhänger der Aufklärung, mit denen Erdmann Friedrich Bruhns Kontakt hatte, nicht zuletzt mit dem Rektor seiner Lateinschule. Überhaupt gab es wohl kaum einen Ort vergleichbarer Größe in den Herzogtümern, in dem so viele einflussreiche Exponenten der Aufklärung lebten und wirkten. Wohlwissend, dass seine Hinwendung zu aufklärerischen Ideen auf die energische Ablehnung seines jüngeren Bruders stoßen würde, versuchte Friedrich Erdmann Bruhns schließlich religiöse Gespräche mit ihm zu vermeiden. Erst als Hans Bruhns eine Predigt seines Bruders hörte, nahm er die radikalen Veränderungen in 47 Eggers, Christian Ulrich Detlev von: Zum Andenken des Konsistorialraths Jochims, in: Deutsches Magazin, Bd. 16 (1798), 111. 48 Ebd. 112. Heinrich Christian Boie nennt den Propst Jakob Jochims einen „Mann von Verstande“. Nörtemann/Egger (Hgg.): Boie – Mejer-Briefwechsel, Bd. 3, 62. 49 Friedrich Ernst Christian Oertling wurde 1757 als Sohn des General-Auditeurs Philipp Ernst Oertling geboren. Einer seiner Paten war der Dichter Friedrich Klopstock. Oertling begann 1775 an der Kieler Universität zunächst Jura zu studieren, wechselte aber nach zwei Jahren zur Theologie. 1779 wurde er Hauslehrer in der Familie des Pastors in Westensee, 1784 folgte der Ruf auf seine erste Pfarrstelle in St. Michaelisdonn in Süderdithmarschen, 1794 wurde er nach Eichede versetzt. Von 1811 bis zu seinem Tod 1837 war er Pastor in Bornhöved. Seine Lebensdaten in: Arends, Gejstligheden i Slesvig og Holsten, Bd.2, Kopenhagen 1932, 395; Cuveland, Ernst de: Art. Oetling, Friedrich Ernst Christian, in: SHBL 4 (1976), 175–177; ferner Cuveland, Ernst de: Art. Friedrich Ernst Christian Oertling, in: Die Heimat 67 (1960), 1–6. Bekannt wurde Oertling durch seine skurrile Schrift „Maneologisches (nicht etwa auf nur Scheintod zu beziehendes) Bedenken über das Beerdigen wirklich verstorbener Personen in dicht verschloßnen Särgen, Lübeck 1830. 50 Neuer Nekrolog der Deutschen, 15. Jg., Zweiter Teil (1837), Weimar 1839, 1120. 51 Harms, Claus: Lebensbeschreibung, Kiel 21851, 24–32. 52 Ebd. 28. Anlässlich des Thesenstreits, in dem sich Oertling öffentlich gegen Harms wandte, kam es zu einer zeitweisen Entfremdung zwischen beiden.
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dessen theologischen Vorstellungen wahr. Er erbat sich eine Abschrift der Predigt, versah diese mit etlichen schriftlichen Bemerkungen und gab sie dann dem Bruder zurück. „Von der Stunde an entstand eine Trennung unter uns“, heißt es im Brief. Als Friedrich Erdmann bald darauf als Pastor nach Neumünster berufen wurde, begann ein reger Briefwechsel zwischen den Brüdern, in dem sie sich kritisch mit den jeweiligen religiösen Überzeugungen des anderen auseinandersetzten. „Hiervon will ich nur so viel sagen“, schreibt Hans Bruhns, „daß ich von allem Unangenehmen dieses Briefwechsels und von der kostbaren Zeit, die ich darauf verwenden müssen, den Gewinn habe: daß ich mit den Grundsätzen der Neologen bekannt geworden bin, ohne deren Schriften gelesen zu haben, und doch zugleich, Gott sei Dank! in meinem Glauben an Jesum den Gecreutzigten befestiget worden bin.“
Friedrich Erdmann Bruhns versuchte in seinen Briefen den frommen Bruder von dessen pietistischen Ideen abzubringen und für seine eigenen religiösen Vorstellungen zu gewinnen. Dafür suchte er sogar die Unterstützung anderer Theologen, wie Hans Bruhns im Brief kritisch hervorhebt: „So hat er z. B. 2 Consistorial-Räthe, 2 Pröbste und mehrere Prediger seiner Bekanntschaft gegen mich aufzuhetzen gesucht, aber keiner derselben hat sich mit mir einlassen wollen, als nur ein Prediger, sein Busenfreund, welcher einige Briefe mit mir gewechselt und mir zuletzt ganze Bogen voll gelehrter Bemerkungen geschrieben hat,53 die ich demselben (ohne sie durch zu studiren) mit einer Antwort nach meiner Ueberzeugung zurückgesandt habe.“
Schließlich wandte sich Friedrich Erdmann an den einflussreichen Konferenzrat Friedrich Karl Krück (1745–1816), der seit 1802 Kanzler im Herzogtum Schleswig war, und bat ihn um Beistand.54 Diese unangemessen erscheinende Inanspruchnahme des schleswigschen Kanzlers in dem brüderlichen Zwist war nur möglich,
53 Es ist nicht mehr zu ermitteln, um welche Theologen es sich im Einzelnen handelte. Mit dem „Busenfreund“ könnte Friedrich Ernst Christian Oertling gemeint sein. 54 Friedrich Karl Krück (1745–1816), geb. in Leezen als Sohn des dortigen Pastors Jakob Christian Krück, nach Besuch des Akademischen Gymnasiums in Altona folgte das Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen. 1767 Ablegung des Juristischen Examens, 1768 für knapp ein Jahr Sekretär des Landvogts J. H. Eggers in Meldorf, anschließend zunächst Zweiter und 1772 Erster Sekretär der Schleswig-Holsteinischen Landkommission, ab 1774 zugleich Rat am Schleswiger Obergericht, 1776 Erster Expeditionssekretär der Deutschen Kanzlei in Kopenhagen, 1789 Konferenzrat, 1795 Oberprocureur und 1802 Kanzler im Herzogtum Schleswig, 1803 Ritter vom Danebrog und 1811 Geheimer Konferenzrat. Siehe Lübker, D. L./Schröder, H.: Lexikon der Schleswig-Holsteinisch-Lauenburgischen und Eutinischen Schriftsteller von 1796 bis 1828 1 (1829), 822; Hiort-Lorenzen, H. R.: Art. Krück, Friedrich Carl, in: Dansk Biografisk Leksikon 9 (1895), 571 f. Vermutlich war der 1759 geborene Friedrich Christen Krück, der seit 1783 als Aktuar beim Landvogt Heinrich Christian Boie tätig war, ein Bruder.
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weil Friedrich Erdmann in zweiter Ehe mit dessen Schwester verheiratet war.55 Jedoch konnte sein Bruder Hans einen ähnlich einflussreichen familiären Rückhalt aufweisen. Er war mit Christine Elisabeth Callisen, der Schwester des holsteinischen Generalsuperintendenten Johann Leonhard Callisen verheiratet.56 Der Generalsuperintendent Callisen, der gerade einige Monate vor Verfassen des Briefes an Jung-Stilling gestorben war, war mit Hans Bruhns in seiner Ablehnung der Aufklärungstheologie völlig einig.57 In den brüderlichen Auseinandersetzungen hatte Hans Bruhns seinen Bruder einen „Meineidigen“ genannt, weil er seiner Ansicht nach mit seinen religiösen Überzeugungen gegen den von ihm geleisteten Predigereid verstoßen habe. Jeder Theologe der Herzogtümer Schleswig und Holstein hatte vor seiner Ordination zu schwören und zu geloben, er werde in seinem Lehramt „bey der reinen Lehre des göttlichen Wortes, wie selbige in der heiligen Schrift gegründet, auch in der ungeänderten Augsburgischen Confession zusammen gefasset ist, treulich verbleiben, selbige lauter und unverfälscht predigen und vortragen“.58 Genau das sah Hans Bruhns bei seinem Bruder nicht mehr gewährleistet. Dieser wiederum ärgerte sich über den Vorwurf des Eidbruchs und nahm diesen nun zum Anlass, um über die familiäre Verbindung zum Kanzler Krück einen Vorschlag zur Veränderung der für die schleswig-holsteinischen Prediger verbindlichen Eidesformel zu lancieren, um diese von ihrer konfessionellen Bindung zu befreien. Er frage sich, wie er in dem Schreiben an Krück betont, ob es nicht Zeit wäre, die Eidesformel der Prediger zu verändern. Es sei ihm nämlich „unausstehlich“, wenn sein Bruder ihn einen Meineidigen nenne. Sein Wunsch sei, so Friedrich Erdmann ferner, die Augsburgische Confession gänzlich abzuschaffen, weil sie nicht mehr in die gegenwärtige Zeit passe. Die Prediger sollten, so sein – allerdings von Seiten der Regierung keineswegs umgesetzter – Vorschlag, nicht mehr auf die Confessio Augustana schwören, sondern nur auf Jesu eigene Worte, wie sie in den vier Evangelien enthalten seien. Denn es sei doch „viel Abscheuliches“ in der Augsburgischen Confession enthalten, z. B. die oft wiederholten Worte: wir verdammen alle die, die anders lehren. Jesus würde hingegen sagen: „Verdammt nicht“. 55 Henriette Catharine Johanne Krück, die zweite Ehefrau Friedrich Erdmann Bruhns, wurde 1762 geboren. Daten nach der Volkszählung von 1803. Siehe http://www.danishfamilysearch.dk/ cid2027739, abgerufen 7.1.2017. Weitere Daten konnten leider nicht ermittelt werden. Bruhns erste Ehefrau Ida Magdalena Arends, geb. 8. Juli 1756, war die Tochter des Pastors Andreas Arends in Viöl (gest. 1762), der wie schon sein Vater in Halle Theologie studiert hatte. Ida Magdalena starb 1787 nach zweijähriger Ehe im Kindsbett. Sie sei, so betont Hans Bruhns, „eine echte Christin“ gewesen. 56 Verheiratet war Hans Bruhns mit Christine Elisabeth Callisen (23. Februar 1757), Tochter des Preetzer Klosterpredigers Johann Leonhard Callisen und Schwester des gleichnamigen Generalsuperintendenten in Holstein Johann Leonhard Callisen (23.8.1738–12.11.1806). 57 Koch, Hans Albrecht: Art. Callisen, Johann Leonhard, in: SHBL 3 (1974), 67–69. 58 Landesarchiv Schleswig-Holstein: Abt. 19. Nr. 388; Callisen, Christian Friedrich: Kurtzer Abriß des Wissenswürdigen aus den den Prediger und sein Amt in den Herzogthümern Schleswig und Holstein betreffenden Verordnungen, Altona 1834, 44 f, Anm. 22.
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Schließlich stellt Friedrich Erdmann Bruhns sogar die Mitte der lutherischen Theologie in Frage, nämlich die Rechtfertigungslehre, indem er räsoniert: „Jetzt sind in Deutschland die Lutheraner von den Catholiken überwunden, und vieleicht ist dieses mehr zum Vortheil als zum Schaden der Christlichen Religion. In einiger Absicht mögte man sagen: Luther hat die Christliche Religion verbessert durch Johann Ballhorn. Wenn der Catholik sagt: wir werden durch gute Werke seelig, und Luther sagt: wir werden durch Vertrauen auf Jesu Verdienst seelig, so ist noch die Frage wer Recht hat.“
Bemerkenswert ist, dass Friedrich Erdmann Bruhns nicht allein einen Verzicht auf das konfessionelle Bekenntnis fordert, eine Forderung, die weitgehend aufklärerische communis opinio war, sondern dass er darüber hinaus Luther bezichtigt, die christliche Religion verballhornt, d. h. verschlimmbessert zu haben. Dieses mit knappen Worten gezeichnete negative Bild vom Wirken Luthers steht im offensichtlichen Gegensatz zur Auffassung wohl der meisten Aufklärer, die die Reformation vielmehr als notwendige Voraussetzung auf dem Weg zur Aufklärung betrachteten und Luther oftmals sogar als Legitimationsinstanz für ihre emanzipatorischen Anliegen in Anspruch nahmen.59 Es zeigt sich zudem, dass Friedrich Erdmann Bruhns die Rechtfertigungslehre ganz im Sinne der Aufklärung sittlich umdeutet. Nur wer gemeinnützig sei, könne der Rechtfertigung vor Gott teilhaftig werden:60 „Ich glaube, keine Untersuchung kann auf der Welt wichtiger seyn als diese, ob Gott uns nach unsern Glauben an die stellvertretende Genugthuung Christi, oder nach unserer theilnehmenden Liebe und daraus folgende Gemeinnützigkeit und Treue im Beruf richtet. Behaupten wir letzteres, so werden wir nützliche Weltbürger. Behaupten wir Ersteres, so werden wir weinende alte Weiber, die nichts anders können, als klänen61 und klagen über ihre begangenen Sünden, und appellieren auf Jesum.“
Während sich Friedrich Erdmann selbstverständlich der Kategorie Weltbürger zuordnete, sah er seinen Bruder auf der Seite der jammernden alten Weiber. Beide Brüder hatten mit mehr oder weniger missionarischem Eifer versucht, den jeweils anderen für die eigenen religiösen Überzeugungen zu gewinnen. Friedrich Erdmann 59 Siehe Stephan, Horst: Luther in den Wandlungen seiner Kirche, Gießen 1907, 43–68; Zeeden, Ernst Walter: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, Bd. 1: Darstellung, Freiburg i. Br. 1950, 189–389; Raatz, Georg: Auf dem Weg zur kritischen Identität des Protestantismus. Johann Salomo Semlers Lutherdeutung, in: Danz, Christian/Leonhardt, Rochus (Hgg.): Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2008, 5–40. 60 Zur Bedeutung der „Nützlichkeit“ für die Entstehungsgeschichte der modernen praktischen Theologie siehe Albrecht, Christian: Johann Joachim Spaldings Programm der Pastoraltheologie, in: Beutel, Albrecht/Nooke, Martha (Hgg.): Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie (Münster, 30. März bis 2. April 2014), Tübingen 2016 (Colloquia historica et theologica 2), 113–131, hier bes. 126–131. 61 klänen = jammern, klagen.
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bewertete diesbezügliche Bemühungen seines Bruders als „Herrschsucht“, dieser wiederum die Einlassungen seines älteren Bruders als Überheblichkeit eines Theologen. Schließlich stellt Friedrich Erdmann in einem Brief an den Kanzler Krück hinsichtlich seines Verhältnisses zu seinem Bruder resignierend fest: „Er vereinigt sich nicht eher mit mir, bis ich ein Herrnhuter werde. Und das ist wider mein Gewissen. Er sollte bey seiner Elle bleiben, und mich nicht lehren, was ich predigen sollte.“
Wenn Friedrich Erdmann Bruhns es hier strikt von sich weist, „Herrnhuter“ zu werden, so ist mit diesem Begriff keineswegs ein Anhänger der Herrnhuter Brüdergemeine gemeint. Sein Bruder gehörte der Brüdergemeine ja gar nicht an. Vielmehr bezieht er den Begriff in pejorativer Weise auf alle frommen Christen, die im weiteren Sinn als Pietisten zu bezeichnen sind und seiner Ansicht nach unverständlicherweise noch an der christlichen Stellvertretungslehre62 festhalten. Und von diesen, sich noch an tradierten Dogmen orientierenden Erweckten grenzt er sich ab. Trotz der Entschiedenheit, mit welcher Friedrich Erdmann die Glaubensund Frömmigkeitsvorstellungen seines pietistischen Bruders ablehnt, äußert er dennoch sein Bedauern über die dadurch entstandene Entfremdung: „Es schmerzt mich doch, mich so von meinem Bruder zu trennen“. Sein Amt als Hauptpastor in Neumünster hat Friedrich Erdmann Bruhns 1812 niedergelegt; 1831 ist er in Bordesholm gestorben. Er hat keine Schriften hinterlassen, und auch sonst sind kaum Spuren seines Lebens und Wirkens zu ermitteln, so dass er uns nur schlaglichtartig in der Auseinandersetzung mit seinem Bruder als entschiedener Anhänger der Aufklärung bzw. der Neologie vor Augen tritt. Sein jüngerer Bruder Hans starb bereits 1819; damit war auch das Ende der Christentumsgesellschaft in Meldorf besiegelt. In dem Basler Generalbericht vom 1. September 1819 wird auf seinen Tod hingewiesen und hinzugefügt: „Auch an diesem theuren Bruder haben wir Vieles verlohren; er hat in seiner Gegend im Hollsteinischen unermüdet durch Wort und Tat für die Sache des Herrn gearbeitet.“63 62 Als Stellvertretungslehre wird die Vorstellung bezeichnet, nach der Jesus Christus durch seinen Tod stellvertretend für die Menschen gegenüber Gott Sühne geleistet und dadurch die Voraussetzung für eine Versöhnung von Gott und Mensch geschaffen hat. In der Aufklärung wurde an der Stellvertretungslehre zum Teil scharfe Kritik geübt, da sie philosophisch widersprüchlich und historisch nicht belegt sei. Denn die mit dieser Lehre verbundenen Tatsachen wie Auferstehung und Himmelfahrt würden historischer Kritik nicht standhalten. Vgl. Gestrich, Christof/ Hüttenberger, Till: Art. Stellvertretung V, in: TRE 32 (2001), 145–153. Indem Friedrich Erdmann Bruhns die Gläubigen, welche an der Stellvertretungslehre festhielten, generell als Herrnhuter, also als Pietisten bezeichnet, distanziert er sich zugleich von dieser theologischen Vorstellung und erweist sich dadurch als ein Anhänger aufklärerischer Bibelkritik, wie sie bereits Mitte des 18. Jahrhunderts von Hermann Samuel Reimarus formuliert und in einer Schrift zusammengetragen worden war. Teile dieser Schrift wurden aber – ohne Nennung des Autorennamens – erst in den 1770er Jahren von Gottfried Ephraim Lessing veröffentlicht, wodurch der sogenannte Fragmentenstreit, die bedeutendste theologische Kontroverse des 18. Jahrhunderts, hervorgerufen wurde. 63 Staehelin, Die Christentumsgesellschaft, 371.
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Wie dieser mikrohistorische Blick in die religiösen Lebenswelten der Zeit um 1800 gezeigt hat, wurden in den religiösen Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern Bruhns bereits Konflikte antizipiert, wie sie dann nur kurze Zeit später in den Herzogtümern mit dem Wirken von Claus Harms in voller Stärke ausbrechen sollten. Der Sohn des jüngeren Bruhns, der Schwabstedter Pastor Hans Iversen Bruhns, hat sich der religiösen Tradition seines Vaters folgend auf die Seite von Claus Harms geschlagen und dessen antirationalistischen Kurs gestützt und publizistisch begleitet. Die von Claus Harms ausgelösten Auseinandersetzungen waren allerdings nicht mehr die religiösen Gefechte der Generation der Brüder Bruhns, sondern wurden erst zur Signatur der folgenden Generation.64
Quellen- und Literaturverzeichnis Arends, Otto Friedrich: Gejstligheden i Slesvig og Holsten fra Reformationen til 1864, Bd. 1, Kopenhagen 1932. Callisen, Christian Friedrich: Kurtzer Abriß des Wissenswürdigen aus den den Prediger und sein Amt in den Herzogthümern Schleswig und Holstein betreffenden Verordnungen, Altona 1834. Ders.: Lebensbeschreibung, abgedruckt aus dessen Chirurgie, nebst hinzugefügten biographischen Anmerkungen, welche die Callisensche Familie betreffen, Kopenhagen 1824. Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands. Ein Handbuch für Erzieher, Leipzig 1790. Chronologische Sammlung der im Jahre 1792 ergangenen Verordnungen und Verfügungen für die Herzogthümer Schleswig und Holstein, der Herrschaft Pinneberg, Grafschaft Ranzau und Stadt Altona, Kiel 1793. Eggers, Christian Ulrich Detlev von: Zum Andenken des Konsistorialraths Jochims, in: Deutsches Magazin, Bd. 16 (1798), 102–122. Harms, Claus: Lebensbeschreibung, Kiel 21851, 24–32. Landesarchiv Schleswig-Holstein: Abt. 19. Nr. 388. Kaiserlich privilegierte Hamburgische Neue Zeitung vom 3. August 1782. Moller, Olaus Heinrich: Beytrag zur Kirchen- und Predigergeschichte der im Herzogtum Schleswig belegenen Aemter Apenrade, Hadersleben, Tondern usw., Flensburg 1769. Neuer Nekrolog der Deutschen, 15. Jg., 2. Teil (1837), Weimar 1839. Niemann, August: Miscellaneen historischen, statistischen und ökonomischen Inhalts zur Kunde des deutschen und angränzenden Nordens, besonders der Herzogthümer Schleswig und Holstein, Bd. 2, St. 1, Altona und Leipzig 1799. Nörtemann, Regina/Egger, Johanna (Hgg.): Heinrich Christian Boie – Luise Justine Mejer, Briefwechsel, Bd. 1: Juli 1776–Juni 1782 u. Bd. 3: Juli 1784–Juli 1786, Göttingen 2016. Oertling, Ernst Christian: Maneologisches (nicht etwa auf nur Scheintod zu beziehendes) Bedenken über das Beerdigen wirklich verstorbener Personen in dicht verschloßnen Särgen, Lübeck 1830. Schreiber, Ilse (Hg.): Ich war wohl klug, dass ich Dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777–1785, München 21963. Staatsarchiv Basel (StAB), Privatarchive 653, V, 6: Hans Bruhns an Christian Friedrich Spittler, Meldorf Oktober 1810 u. 24. Dezember 1803. Stadtarchiv Meldorf I, Nr. 377. 64 Hein, Lorenz: Claus Harms – Leben und Werk. In: Schleswig-Holsteinische Kirchenge schichte, 6 (1969), 77–124, hier bes. 86–93.
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Wissenschaftliche Bibliographie von Johannes Schilling I. Selbständige Veröffentlichungen, Monographien und Editionen Arnold von Lübeck, Gesta Gregorii Peccatoris. Untersuchungen und Edition. Mit einem Beiheft, Göttingen 1986 (Palaestra 280). Passio Doctoris Martini Lutheri. Bibliographie, Texte und Untersuchungen, Gütersloh 1989 (QFRG 57). Gewesene Mönche. Lebensgeschichten in der Reformation, München 1990 (Schriften des Histo rischen Kollegs. Vorträge 26). Zusammen mit Korsch, Dietrich: Die Bibel – Wort der Freiheit. Zwei Passauer Vorträge, Passau 1993 (Universität Passau. Nachrichten und Berichte. Sonderheft Nr. 13). Zusammen mit Preul, Reiner: Kieler Luther-Gedenken 1996, Kiel 1996. Klöster und Mönche in der hessischen Reformation, Gütersloh 1997 (QFRG 67). Ihr lebet in der Zeit und kennt doch keine Zeit. Rolf Eschers gezeichnete Gedächtniskunst, 2001. (Privatdruck). Zusammen mit Jenett, Ralf: Philipp Melanchthon, Heubtartickel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner Loci theologici, nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553, Leipzig 2002. 2. aktualisierte und ergänzte Ausgabe 2010. 32012. „Merck das du ware sagst“. Johannes Lupi. Ein Frankfurter Lehrer der Kirche im Spätmittelalter, Regensburg 2015 (Forschungshefte des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz 3). Zusammen mit Heidrich, Jürgen: Martin Luther, Die Lieder, Stuttgart 2017.
II. Herausgeberschaften a) Sammelbände und Editionen D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe Bd. 60, Weimar 1980 (Redaktor). Bornkamm, Karin/Ebeling, Gerhard (Hg.): Martin Luther, Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main 1982. Bd. 6: Briefe. Auswahl, Übersetzung und Erläuterungen versehen – 21983 – 31990 – 4 1995 – 52016 (insel taschenbuch). D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe Bd. 59, Weimar 1983 (Redaktor). Educatio doctrinae puerilis. Kinderlehre in deutscher und lateinischer Sprache 1549, mit einem Nachwort versehen, Marburg 1987. Zusammen mit Giese, Ernst: Ulrich von Hutten in seiner Zeit. Schlüchterner Vorträge zu seinem 500. Geburtstages, Kassel 1988 (MonHas 12). Bernd Moeller, Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, Göttingen 1991. Kloster Germerode. Geschichte – Baugeschichte – Gegenwart, Kassel 1994 (MonHas 16). Melanchthons bleibende Bedeutung. Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zum Melanchthon-Jahr 1997, Kiel 1998. Zusammen mit Jakubowski-Tiessen, Manfred/Lehmann, Hartmut/Staats, Reinhart (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert., Göttingen 1999 (VMPIG 155). GLAUBEN. Nordelbiens Schätze 800–2000. Im Auftrag der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Neumünster 2000.
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Wissenschaftliche Bibliographie von Johannes Schilling
Das Symbolum der Heiligen Apostel. Ausgelegt durch D. Martin Luther. [Faksimile der Ausgabe Wittenberg 1548.] Dazu ein Begleitheft, Wittenberg 2000. Martin Luther, Der Kleine Katechismus. Vorrede zum Kleinen Katechismus. Nach den Hamburger Ausgaben von 1529, mit einem Nachwort, Hannover 2000. Bernd Moeller, Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, Göttingen 2001. Mystik. Religion der Zukunft – Zukunft der Religion?, Leipzig 2003. Zusammen mit Trende, Frank (Hg.): Wer nicht liest, lebt nicht. Ein Claus-Harms-Lesebuch., Heide 2005. Zusammen mit Härle, Wilfried/Wartenberg, Günther (Hg.) unter Mitarbeit von Beyer, Michael, Martin: Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Band 1–3., Leipzig 2005–2009. – Band 2: Christusglaube und Rechtfertigung. Mit einer Einleitung versehen, Leipzig 2006. Martin Schwarz Lausten, Die Reformation in Dänemark, Gütersloh 2008 (SVRG 208). „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein, das ist die Summa“. Luther zum Vergnügen, Stuttgart 2008 – Neuausgabe: Luther zum Vergnügen, Stuttgart 2011. – Auszüge in: Heidelbach, Nikolaus (Hg.), Klassiker zum Vergnügen, Stuttgart 2013, 19–24. Zusammen mit Kunze, Volkmar/Stewing, Frank-Joachim (Hg.): „Durchs Wort sollen wir gewinnen“. Die Rudolstädter Medianbibel von 1541, Bad Zwischenahn 2010. Kähler, Ernst (Hg.): Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Sendbrief vom Dolmetschen. Mit einem Nachwort versehen, Stuttgart 2012. Zusammen mit Dingel, Irene (Hg.): Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche. Quellen und Materialien Band 1: Von den altkirchlichen Symbolen bis zu den Katechismen Martin Luthers, Göttingen 2014. Zusammen mit Beutel, Albrecht/Korsch, Dietrich/Slenczka, Notger/Zschoch, Hellmut (Hg.): Martin Luther, Deutsch-deutsche Studienausgabe. Leipzig 2013–2016. Korsch, Dietrich (Hg.): Band 1: Glaube und Leben, 2013. – Zusammen mit Korsch, Dietrich (Hg.): Band 2: Wort und Sakrament, 2015. – Zschoch, Hellmut (Hg.): Band 3: Christ und Welt, 2016. Martin Luther, Die 95 Thesen. Mit Quellen zum Ablassstreit, Stuttgart 2016. Zusammen mit di Fabio, Udo (Hg.): Die Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat, München 2017. Zusammen mit di Fabio, Udo (Hg.): Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat, Bonn 2017 (Bundeszentrale für politische Bildung. Schriftenreihe 10049) [Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung].
b) Reihen und Zeitschriften Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte (SVRG), Gütersloh 1995–2003 (198–199.201–202). LUTHER. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft, Göttingen (seit Jahrgang 71, 2000). Christiana Albertina. Forschungen und Berichte aus der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Mitglied der Redaktion bzw. verantwortlicher Herausgeber seit Heft 52/53 (2001). Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen (KGE), Leipzig. (Mitherausgeber seit 2002 bis zum Abschluss 2012): Holze, Heinrich: Die abendländische Kirche im hohen Mittelalter (12./13. Jahrhundert), Leipzig 2003 (KGE I/12). Bryner, Erich: Die orthodoxen Kirchen von 1274 bis 1700, Leipzig 2004 (KGE II/9). Voigt, Karl Heinz: Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert), Leipzig 2004 (KGE III/6). Hock, Klaus: Das Christentum in Afrika und dem Nahen Osten, Leipzig 2005 (KGE IV/7). Mau, Rudolf: Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990), Leipzig 2005 (KGE IV/3). Huber, Friedrich: Das Christentum in Ost-, Süd- und Südostasien sowie Australien, Leipzig 2005 (KGE IV/8).
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Prien, Hans-Jürgen: Das Christentum in Lateinamerika, Leipzig 2007 (KGE IV/6). Leppin, Volker: Theologie im Mittelalter, Leipzig 2007 (KGE I/11). Basse, Michael: Von den Reformkonzilien bis zum Vorabend der Reformation, Leipzig 2008 (KGE II/2). Fitschen, Klaus: Protestantische Minderheitenkirchen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Leipzig 2008 (KGE IV/4). Greschat, Martin: Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005), Leipzig 2010 (KGE IV/2). Basse, Michael: Entmachtung und Selbstzerstörung des Papsttums (1302–1414), Leipzig 2011 (KGE II/1). Holze, Heinrich: Die Kirchen des Nordens in der Neuzeit (16.–20. Jahrhundert), Leipzig 2011 (KGE III/11). Lehmann, Hartmut: Das Christentum im 20. Jahrhundert, Leipzig 2012 (KGE IV/9). Orte der Reformation (Idee, zusammen mit Thomas Maess bzw. Hrsg.), Leipzig 2011 ff.
III. Beiträge zu Sammelwerken, Zeitschriftenaufsätze, Katalogbeiträge und Miszellen Zu den Lutherana in der Celler Reformationsausstellung, in: JGNKG 78 (1980), 206. Bibliographie der Tischredenausgaben, in: WA 59, 747–780. Luther-Chronik, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Martin Luther, München 1983, 221–239 (Sonderband aus der Reihe TEXT+KRITIK). Zusammen mit Karl Stackmann: Die Bibel, in: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geb. Martin Luthers. Veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte. Frankfurt am Main 1983, 283–288. Luthers Testament, in: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geb. Martin Luthers. Veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte. Frankfurt am Main 1983, 434 f. Nr. 598. Determinatio secunda almae facultatis theologiae Parisiensis super apologiam Philippi Melanchtho nis pro Luthero scriptam. 1521, in: Hammer, Gerhard/zur Mühlen, Karl-Heinz (Hg.): Lutheriana. Zum 500. Geb. Martin Luthers von den Mitarbeitern der Weimarer Ausgabe, Köln/Wien 1984, 351–375 (AWA 5). D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel Bd.18. Weimar 1985 (Mitarbeit; vgl. ebd. XIV). Gebetbuch. Bamberg, 1527, in: Stadt im Wandel … Ausstellungskatalog Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, 604 f. Nr. 515. Eine Lactanz-Inkunabel aus dem ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift Böddeken, in: Westfalen 64 (1986), 125 f. Hutten und Luther, in: Ulrich von Hutten in seiner Zeit (siehe unter II.), 87–117. Latinistische Hilfsmittel zum Lutherstudium, in: Lutherjahrbuch 55 (1988), 83–101. Ein Gedicht über die Anfänge und die Reform des Klosters Breitenau. Samt einigen Bemerkungen über Theobald Cabel und seinen Sohn Johannes Theobaldi, in: ZVHG 95 (1990), 47–54. Lutherausgaben, in: TRE 21 (1991), 594–599. Georg Kerns Drey geystliche lieder vom wort gottes, in: ZVHG 96 (1991), 55–72. Johann Peter Hebel als Theologe, in: Pastoraltheologie 81 (1992), 374–390. Johann Peter Hebels Biblische Geschichten, in: Kvist, Hans-Olof (Hg.): Bibelauslegung und Gruppenidentität, Abo 1992, 91–104.
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Wissenschaftliche Bibliographie von Johannes Schilling
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V. Rezensionen und Anzeigen Mitarbeit am Archiv für Reformationsgeschichte. Literaturbericht seit Jg. 10 (1981); von Jg. 12 (1983) bis Jg. 29 (2000) als ständiger Mitarbeiter, ca. 600 Kurzanzeigen und Rezensionen. Weismann, Christoph: Eine kleine Biblia, Stuttgart 1985, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 84 (1986), 270 f. Dzambo, Jozo: Die Franziskaner im mittelalterlichen Bosnien, Werl 1991, in: ThLZ 118 (1993), Sp. 149 f. Jakubowski-Tiessen, Manfred: Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der frühen Neuzeit, München 1992, in: ThLZ 118 (1993), Sp. 630–632. Hamm, Bernd: Bürgertum und Glaube, Göttingen 1996, in: ThLZ 122 (1997), Sp. 931 f. Laube, Adolf (Hg.): Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524). Berlin 1997, in: ThLZ 123 (1998), Sp. 1111–1114. Scheible, Heinz: Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, in: ZHF 26 (1999), 292–294. Beyer, Michael/Rhein, Stefan/Wartenberg, Günther: Melanchthon deutsch, Leipzig 1997, in: ZHF 27 (2000), 294 f. Heinemeyer, Walter: Philipp der Großmütige und die Reformation in Hessen, Marburg 1997, in: ZHF 27 (2000), 603–605. Wolfes, Matthias: Theologiestudium und Pfarramt, Hannover 2000, in: Deutsches Pfarrerblatt 8/2001, 434. Nägelke, Hans-Dieter: Hochschulbau im Kaiserreich. Historistische Architektur im Prozeß bürgerlicher Konsensbildung, Kiel 2000, in: Christiana Albertina 52/53 (2001), 84 f. Haye, Thomas: Humanismus in Schleswig und Holstein. Eine Anthologie lateinischer Gedichte des 16. und 17. Jahrhunderts, Kiel 2001, in: Christiana Albertina 52/53 (2001), 87. Lohmeier, Dieter/Trube, Gert Wilhelm: Missale Slesvicense 1486, Kiel 2001, in: Nordelbingen 71 (2002), 277 f. Lohmeier, Dieter/Trube, Gert Wilhelm: Missale Slesvicense 1486 … Kiel 2001. [Kurzanzeige auf der Basis der vorausgehenden ausführlichen Besprechung], in: Christiana Albertina 54 (2002), 57 f.
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VI. Varia Mitglied des Arbeitskreises „Editionsprobleme der frühen Neuzeit“; vgl. Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte, in: Jahrbuch der Historischen Forschung 1980/1981, 85–96. Auch in: ARG 72 (1981), 299–315. Zusammenspiel. Theologe Bernd Moeller wird 60 [Titel von der Redaktion], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 114, 18. Mai 1991, 28. Bernd Moeller 60, in: Göttinger Tageblatt 115, 21. Mai 1991. Trauerpredigt für Leiva Petersen, in: Gedenken an Leiva Petersen 1912–1992, Köln, Weimar/Wien 1992, 3–10. Zusammen mit Arnold, Ludger: „Was ihr getan habt einem unter meinen Geringsten“. Spielszene und Predigt in einem Schulgottesdienst, in: ZGP 13 (1995), 10–12. Laudatio (auf Heinz Scheible zur Verleihung des Melanchthonpreises der Stadt Bretten), in: epdDokumentation Nr. 15 (1997), 24. März 1997: Philipp Melanchthon – der andere Wittenberger Reformator, 32–34. – In korrigierter Fassung in: Frank, Günter (Hg.): Der Theologe Melanchthon, Stuttgart 2000 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 5), 11–14. Predigt über Johannes 15,1–8, in: Schmidt-Rost, Reinhard: Hart am Wind. Predigten aus der Universitätskirche der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1992–1999, Kiel 1999, 125–129. Einführung in die Ausstellung Ulf Petermann, Bilder 1980–1999 in der Evangelischen Akademie Bad Segeberg, in: Orientierung. Berichte und Analysen aus der Arbeit der Evangelischen Akademie Nordelbien 3 (2000), 73–76. Kirche lebt in der Geschichte. Der Verein für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, in: Schleswig-Holstein. Kultur. Geschichte. Natur. 1+2 (2000) Spezial: Kirche, 13. Laudatio (auf den scheidenden Rektor Prof. Dr. Ruprecht Haensel), in: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Amtsübergabe 30. Mai 2000, Kiel 2000, 37–40.
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Wissenschaftliche Bibliographie von Johannes Schilling
Vorwort des Herausgebers, in: Wolfes, Matthias: Hermann Mulert 1879–1950. Lebensbild eines Kieler liberalen Theologen, Neumünster 2000 (SVSHKG 50), 5 f. „Ihr lebet in der Zeit und kennt doch keine Zeit“. Rolf Eschers gezeichnete Gedächtniskunst. Einführung zur Eröffnung der Ausstellung Rolf Escher, Bücherzeiten am 3. März 2001 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, in: Wolfenbütteler Bibliotheks-Informationen 25 Nr. 3–4, August–Dezember 2000 (Wolfenbüttel 2001), 51–53. Dominus Jesus, in: Luther 72 (2001), 57–59. Editorial (unter dem Namen des Rektors Prof. Dr. Reinhard Demuth veröffentlicht), in: Christiana Albertina 52/53 (2001), 5. Die deutsche Universität im Umbruch. Festrede auf dem SV-Fest Pfingsten 2002 in Sonders hausen, in: Mitteilungen des Berufsverbandes Deutscher Nuklearmediziner in: Der Nuklearmediziner 25 (2002), M5–M8. Vorwort, in: Dörfler-Dierken, Angelika: Die Möllner Kommunikantentafeln. Lutherische Abendmahlspraxis im Wandel der Zeit, Neumünster 2003 (SVSHKG 51), 5. Zusammen mit Brandt, Reinhard: Zu diesem Heft, in: Luther 76 (2005), 1. Arbeit im Dienst der protestantischen Kultur: Die Luther-Gesellschaft, in: scientia halensis 13/2 (2005), 28 f. Nachruf auf Jörn Eckert, in: Christiana Albertina 62 (2005), 5. Editorial, in: Christiana Albertina 60 (2005), 5. Editorial, in: Christiana Albertina 61 (2005), 5. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 61 (2005), 58 f. Editorial, in: Christiana Albertina 62 (2006), 7. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 62 (2006), 54 ff. Editorial, in: Christiana Albertina 63 (2006), 5. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 63 (2006), 81 f. Vorwort, in: SVSHKG 52 (2006), 5. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 64 (2007), 69 ff. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 66 (2008), 52 f. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 71 (2010), 50 ff. Film: Im Irdischen das Himmlische. Luther und Bach in Mitteldeutschland, Holzgerlingen 2011 (Mitarbeit). Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 73 (2011), 81 ff. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 74 (2012), 58. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 76 (2013), 58 ff. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 77 (2013), 67. Walter Arno, Gefäß, in: …bewegt… Kunst in der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein 01, Kiel 2013, 8 f. Evangelisches Christsein in der Pluralität der Kirchen, in: Evangelisches Profil 17–19. Einleitung, in: Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017 o. O., o. J., 4. Nachruf auf Reinhard Brandt, in: Luther 85 (2014), 130–131. In memoriam (Karl Dienst), in: Luther 85 (2014), 221 f. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 78 (2014). Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 79 (2014), 114 f. Lektüreempfehlungen, in: Christiana Albertina 81 (2015), 86. Reformation – Befreiung durch das Evangelium Jesu Christi. In: Pitz, Andreas: Bilder von Luther. Harald Birck Zeichnungen und Plastiken, Leipzig 2016, S. 126 f. Vorwort des Herausgebers in: Schilling, Johannes/Grimm, Martin (Hg.):Orte der Reformation Region Ruhr., Leipzig 2016 (Orte der Reformation Journal 28), 1.
Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis
Gerhard Fouquet, Kaiser Maximilianus I., das Domkapitel und ein vergessenes Grabmal Philipp Maria Halm, Studien zur süddeutschen Plastik. Altbayern und Schwaben, Tirol und Salzburg, Bd. I, Augsburg 1926. Abb. 1
Harry Oelke, Der Papst als Antichrist Bayerische Staatsbibliothek München, Res/4 Polem. 1867 a#Beibd.12, fol. Abb. 1a, 1b, 2a, 2b, 3a, 3b, 4a, 4b, Nationalmuseum Prag Abb. 5, 6, 7, 8, 9, 10 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Der Papst als böser Schächer, Inventar-Nummer HB 24938 Abb. 11 Kunstsammlungen der Veste Coburg Abb. 12, 13
Alle Abkürzungen erfolgen nach: Schwertner, Siegfried, IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 32014.