Sangspruch / Spruchsang: Ein Handbuch 9783110351897, 9783110351828

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German Pages 650 [652] Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Der Begriff und seine Geschichte
II. Forschungs- und Editionsgeschichte
III. Pragmatische und mediale Kontexte
IV. Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte
V. Thematische
VI. Formen
VII. Autorenprofile
VIII. Historische Entwicklung
Verzeichnis der Abkürzungen
Literaturverzeichnisse
Register
Autoren und Herausgeber
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Sangspruch / Spruchsang: Ein Handbuch
 9783110351897, 9783110351828

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Sangspruch / Spruchsang

Sangspruch / Spruchsang Ein Handbuch Herausgegeben von Dorothea Klein, Jens Haustein und Horst Brunner In Verbindung mit Holger Runow

ISBN 978-3-11-035182-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035189-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038341-6 Library of Congress Control Number: 2019930766 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Universitätsbibliothek Heidelberg, Große Heidelberger Liederhandschrift (Cod. Pal. germ. 848), fol. 323r Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Der Spruchsang, neben dem Minnesang die zweite große, sehr langlebige Gattung mittelalterlicher deutscher Lieddichtung, stellt heute mehr denn je einen zentralen Gegenstand mediävistischer Literaturforschung dar. Nach dem Erscheinen des in seiner Bedeutung für die Untersuchung von Sangspruch und späterem Meisterlied kaum zu überschätzenden ‚Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts‘ (1986–2009; RSM), nach der zum Teil umfänglich kommentierten Herausgabe fast aller nicht schon früher hinreichend edierten Sangspruchœuvres in jüngerer Zeit (unter anderem Frauenlob, Marner, Bruder Wernher, Boppe, Rumelant von Sachsen) und der umfassenden Edition aller erhaltenen Melodien, nach der Erarbeitung zahlreicher systematischer Fragestellungen in mehreren Forschungsbeiträgen und nach mehreren Tagungen zur Sangspruchdichtung samt der Publikation der darauf basierenden Sammelbände in den letzten Jahren erschien es den Herausgebern an der Zeit, eine vorläufige Bilanz zu ziehen. Das Ergebnis dieses Bemühens stellt das vorliegende Handbuch dar. Sein Titel greift einerseits die eingeführte, aber doch unbefriedigende Gattungsbezeichnung ‚Sangspruch‘ auf, andererseits den neuerdings vorgeschlagenen Begriff ‚Spruchsang‘, der die mediale Besonderheit der Dichtungen zwischen Schrift und Sang stärker zur Geltung bringt. Wir waren bestrebt, die entscheidenden Fragestellungen und Impulse der Forschung in der Gliederung des Handbuchs systematisch aufzugreifen. Auf den einleitenden Versuch einer Gattungsdefinition folgen die Beschreibung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Sangspruch und Meisterlied bzw. Sangspruch und Reimsprecherrede sowie ein Überblick über die Forschungs- und Editionsgeschichte (Kapitel I und II). Daran anschließend werden pragmatische und mediale Aspekte einer Gattung behandelt, die in der Inszenierung zur Wirkung gelangen sollte, freilich nur in schriftlicher Fixierung auf uns gekommen ist (Kapitel III). Es schließt sich ein Abschnitt an, der die Gattung Sangspruch in ihren literarischen Kontexten beschreibt, in ihren Überschneidungen und Divergenzen sowie in ihren europäischen Bezügen, aus denen heraus die Eigenart der deutschen Dichtungen deutlicher wird, der aber auch seine rhetorisch organisierten Argumentationsmuster in den Blick nimmt (Kapitel IV). Der folgende Abschnitt greift nicht nur die zentralen Themen des Sangspruchs auf, sondern skizziert zudem die Wissensfelder, aus denen er sich speist (Kapitel  V). Ein Überblick über Tonprofile und ihre historische Entwicklung sowie eine Darstellung des für die Gattung charakteristischen Übergangs von der Einzelstrophe zur Mehrstrophigkeit schließen sich an (Kapitel VI). Behandelt werden anschließend ausgewählte Autorenœuvres unter inhaltlichen wie stilistischen Gesichtspunkten (Kapitel  VII). Kapitel  VIII skizziert die gattungsgeschichtliche Entwicklung des Spruchsangs von seinen Anfängen bis in das 15. Jahrhundert, beschreibt, den Ausblick am Ende der Artikel über die einzelnen Autoren systematisch zusammen- und weiterführend, die Ton- und Strophenrezeption im Meistergesang und gibt, was die spezifische Gattungsgeschichte des Sangspruchs ja auch https://doi.org/10.1515/9783110351897-201

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 Vorwort

nahelegt, einen Ausblick auf diese eng mit ihr verbundene, sie bis zu einem gewissen Grad weiterführende Kunstübung. Eine Übersicht der in den Artikeln mit Kürzeln gekennzeichneten Textausgaben und anderer Abkürzungen, ein Verzeichnis weiterer verwendeter Textausgaben und Faksimilia sowie ein Verzeichnis der aus allen Beiträgen zusammengeführten Forschungsliteratur, dem, so hoffen wir, die Funktion einer aktuellen Bibliographie zur Gattung zukommt, beschließen das Handbuch. Ergänzend sind am Ende jedes Beitrags mit Sigle bzw. Kurztitel zur ersten Orientierung die dafür zentralen Primär- und Sekundärtitel verzeichnet. Die Register zu den in den einzelnen Artikeln genannten Personen und Werken und zur (handschriftlichen) Überlieferung sowie das Töneregister sollen gleichfalls die Orientierung erleichtern. Die Handschriften werden in den einzelnen Beiträgen mit ihrer Sigle oder dem gängigen Titel (z.  B. ‚Jenaer Liederhandschrift‘, Handschrift J) genannt; die genauen Signaturen, Aufbewahrungsorte usw. sind im Artikel zur Überlieferung (Kap. III.3) und im Handschriftenregister aufgeführt. Die RSM-Siglen wurden nur bei unedierten und entlegen edierten Texten notiert. Die Strophen werden in der Regel mit der Sigle der jeweils neuesten Textausgabe sowie mit Ton- und Strophennummer zitiert, im Fall von Anthologien (HMS, KLD, SM) wird überdies zuerst die Corpusnummer angegeben. Großformen in Sangspruchstrophen (‚Wartburgkrieg‘, ‚Winsbeckische Gedichte‘ u.  a.) haben wir, da sie Spruchhaftes im engeren Sinn übersteigen, nicht zum Komplex Sangspruchdichtung gerechnet; sie werden aber in den thematisch einschlägigen Artikeln (z.  B. ‚Kunst‘ oder ‚Fürstenlob‘) mit behandelt. Die in der modernen Editionsphilologie teilweise ‚Herger‘ zugewiesenen Spervogel-Strophen firmieren in der zitierten Ausgabe (Brunner, Früheste deutsche Lieddichtung) unter Spervogel I; der ‚eigentliche‘ Spervogel unter Spervogel II; der Junge Spervogel bzw. der Junge Stolle unter Spervogel III. Der Band versteht sich als Arbeitsinstrument für unterschiedlichste Fragestellungen der Erforschung des Sangspruchs. Sollte er zudem sowohl als einführender wie als forschungsgeleiteter und die Forschung perspektivierender Beitrag insgesamt benutzt werden, wäre ein weiteres Ziel erreicht. Zudem sollen mit dem Handbuch Anregungen für die künftige Forschungsarbeit gegeben werden: Neben der noch ausstehenden Neuedition einiger Minores des 13.  Jahrhunderts ist vor allem eine kommentierte Neuausgabe der kleineren Spruchsänger des 14. und 15. Jahrhunderts ein dringendes Desiderat. Ein lohnenswertes Unterfangen stellt auch die Edition der Lieder in den Tönen der Alten Meister aus vorreformatorischer Zeit dar; Pilotcharakter hat hier – neben den Ausgaben ‚unechter‘ Bare in Tönen Frauenlobs im Supplement zur Göttinger Frauenlobausgabe und aller Bare im Langen Ton durch Franziska Wenzel  – das laufende Projekt der Edition der vielen in Regenbogens Langem Ton überlieferten Lieder. Der Untersuchung harrt nach wie vor die Frage nach der ‚Frauenlob-Schule‘, und unscharf geblieben sind bislang auch die Konturen des frühen Meistergesangs – ab wann kann man davon sprechen? Die massenhafte anonyme Liedproduktion des 14./15. Jahrhunderts dürfte darüber hinaus nicht nur

Vorwort 

 VII

unter dem Aspekt der Serialität von Interesse sein, sondern auch unter poetologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Gesichtspunkten. Schließlich hielten wir es für lohnend, das Verhältnis der anonymen Bare zur übrigen Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen. An dem Handbuch haben sich zahlreiche jüngere wie ältere Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Ihnen allen gilt unser Dank für ihre stets engagierte Mitarbeit. Herzlich danken wir vor allem Holger Runow, der uns durch zahlreiche Hinweise und Hilfen maßgeblich unterstützt hat. Und nicht zuletzt danken wir den Mitarbeitern des Verlags Elisabeth Kempf, Monika Pfleghar und Maria Zucker für die Betreuung der Drucklegung, ganz besonders aber Jacob Klingner, dessen sorgfältiges Lektorat dem Band zugute gekommen ist. Jena und Würzburg

Die Herausgeber

Inhalt Vorwort  I

 V

 1 Der Begriff und seine Geschichte  1 Sangspruchdichtung als Gattung (statt einer Einleitung) (Holger Runow)   1 2 Abgrenzungen: Sangspruch und Meistergesang, Sangspruch und Reimsprecherkunst (Johannes Rettelbach)   19

 27 II Forschungs- und Editionsgeschichte  1 Forschungsgeschichte (Jens Haustein)   27 2 Editionsgeschichte (Jens Haustein)   38  43 III Pragmatische und mediale Kontexte  1 Mäzene und Höfe (Wolfgang Beck)   43 2 Status und Bildungsvoraussetzungen der Sangspruchdichter (Sabine Obermaier)   56 3 Die Überlieferung der Sangspruchdichtung (Dorothea Klein)   65 4 Vortragssituation – Mündlichkeit und Schriftlichkeit – Reflexion und Inszenierung medialer Bedingungen im Text (Franziska Wenzel)   91 5 Inszenierung und Reflexion des Rollen-Ichs (Claudia Lauer)   106  119 IV Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte  1 Minnesang (Dorothea Klein)   119 2 Lehrhafte Dichtung (Sandra Linden)   133 3 Fabel (Gerd Dicke)   142 4 Predigt und andere geistliche Prosa (Klaus Wolf)   154 5 Lateinisch-deutsche Interferenzen (Michael Callsen)   159 6 Niederländisch-deutsche Interferenzen (Frank Willaert)   168 7 Romanisch-deutsche Interferenzen (Brigitte Burrichter)   181 8 Rhetorische Verfahren und hermeneutische Muster (Gert Hübner †)  V

 205 Thematische Kerne  1 Religiöse Unterweisung – Gebet – Gottes- und Marienpreis (Stefan Rosmer)   205 2 Ethik und Pragmatik für den Adel (Dorothea Klein)   224 3 Zeitkritik (Mathias Herweg)   239 4 Artes und Wissen (Tobias Bulang, Sophie Knapp)   250 5 Kunst (Manuel Braun)   260 6 Fürstenlob und Heische (Dorothea Klein)   284

 189

X 

 Inhalt

VI Formen   299 1 Die Töne: Töneprinzip und Formgeschichte (Horst Brunner)   299 2 Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit – Barbildung – Anordnung in den Quellen (Horst Brunner)   317  329 VII Autorenprofile  1 Walther von der Vogelweide (Manfred Kern)   329 2 Bruder Wernher (Joachim Hamm)   347 3 Reinmar von Zweter (Martin Schubert)   357 4 Der Marner (Jens Haustein)   367 5 Der Tannhäuser (Horst Brunner, Dorothea Klein, Leevke Schiwek)  6 Friedrich von Sonnenburg (Elke Ukena-Best)   380 7 Konrad von Würzburg (Gert Hübner †)   392 8 Rumelant von Sachsen (Holger Runow)   399 9 Der Meißner (Holger Runow)   407 10 Boppe (Claudia Lauer)   417 11 Frauenlob (Heinrich von Meißen) (Jens Haustein)   423 12 Heinrich von Mügeln (Beate Kellner)   430 13 Muskatblut (Karina Kellermann)   440 14 Michel Beheim (Tobias Bulang)   448  457 VIII Historische Entwicklung  1 Von den Anfängen bis Frauenlob (Horst Brunner)   457 2 Der Sangspruch im 14. und 15. Jahrhundert (Michael Baldzuhn)  3 Die Rezeption der Sangspruchdichtung im Meistergesang (Johannes Rettelbach)   501 4 Ausblick: Der Meistergesang – Tradition und Neuansatz (Michael Baldzuhn)   508  537 Verzeichnis der Abkürzungen  Literaturverzeichnisse   543 1 Textausgaben und Faksimilia  2 Forschungsliteratur   550 Register   603 1 Personen und Werke   603 2 Handschriften   629 3 Spruchtöne   633 Autoren und Herausgeber   639

 543

 375

 485

I Der Begriff und seine Geschichte 1 Sangspruchdichtung als Gattung (statt einer Einleitung) Holger Runow Was ist Sangspruchdichtung? Die simple Frage ist am Beginn eines Handbuchs, das sich ganz einer literarischen Gattung widmet, unumgänglich. Mehr noch, von einem Handbuch sollte man erwarten dürfen, dass es noch vor der Begriffsgeschichte (dazu s.  u.) den Benutzern eine klare und möglichst verbindliche Definition seines Gegenstandes an die Hand gibt. Zwar könnte man durchaus eine solche formulieren, die zumindest einen fachwissenschaftlichen Minimalkonsens wiederzugeben im Stande wäre, etwa: Als Sangspruchdichtung bezeichnet man eine Art der mittelhochdeutschen und frühneuhoch­ deutschen Lyrik. Sie ist gesungene, strophische Poesie. Vorwiegend, aber nicht ausschließlich, wurde sie von nichtadligen fahrenden Sängern, die von ihrer Kunst lebten, verfasst und in der Regel wohl vor einem höfischen Publikum aufgeführt. Sie ist thematisch offen, ihre Sprechweise ist überwiegend konstatierend-belehrend, lobend und tadelnd. Meistens, aber nicht immer, hatten die Dichterkomponisten mehrere Melodien (‚Töne‘) in ihrem Repertoire, die mehrfach verwendbar waren, auf die sie also jeweils mehrere eigenständige Strophen dichten konnten. Sehr oft, aber nicht immer, war dabei die in sich geschlossene Einzelstrophe die entscheidende Bezugsgröße, dies wandelte sich aber im Lauf der Zeit, so dass mehrstrophige Gebilde nach und nach zur Regel wurden. Die Gattung entstand im 12. Jahrhundert und erstreckte sich bis in das letzte Drittel des 15. Jahrhunderts.

Die Erwartung nach klarer, verbindlicher Abgrenzung kann damit indes kaum auf befriedigende Weise erfüllt werden, denn die Definition bleibt, weil sie etliche Relativierungen erfordert, ‚weich‘, unspezifisch und damit wenig hilfreich. Das liegt im Gegenstand selbst begründet. Die Sangspruchdichtung als eigenständige Gattung innerhalb der mittelalterlichen deutschen Lyrik ist keine ‚Naturform‘, sondern beruht wesentlich auch auf Unterscheidungen und begrifflichen Setzungen aus dem 19. Jahrhundert. Die Definition versucht demgegenüber, nicht schon selbst die Prämissen und Probleme einer langen Forschungsgeschichte vorauszusetzen und mitzutransportieren. Vor allem deswegen aber bleibt sie auch wenig griffig, weil sie jeden Vergleich mit anderen Gattungen und jeden Abgrenzungsversuch ihnen gegenüber vermeidet, was aber weder historisch noch forschungsgeschichtlich angemessen ist. Denn Gattungen sind überhaupt nur als Text-Text-Relationen – und darüber hinaus in Text-KontextRelationen – zu beschreiben. So ist auch die Gattungsgeschichte der Sangspruchdichtung und ihrer Erforschung ohne die Folie der (Gattungs-)Kontexte, vor der sie sich abspielt, nicht zu denken: Wie ist die Sangspruchdichtung von anderen lyrischen – und wie von nicht-lyrischen – Gattungen abzugrenzen? Was eigentlich heißt ‚lyrisch‘ in Bezug auf vormoderne Poesie? Für die mittelalterliche deutsche Lyrik bedeutet das, dass ein ständiger Vergleich vor allem mit dem Minnesang unabdingbar ist, auf den ja wesentliche Elemente der https://doi.org/10.1515/9783110351897-001

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 Der Begriff und seine Geschichte

Definition – gesungen, strophisch, höfisch – in gleicher Weise zutreffen. Weitere Kriterien – etwa soziale, formale, thematische Bestimmungen – mögen zur Differenzierung taugen, sind aber nicht immer von gleicher Geltung und oft nicht hinreichend trennscharf gegen den Minnesang abzugrenzen. Die Geschichte der Sangspruchdichtung ist lange Zeit untrennbar verquickt mit der des Minnesangs. So stellt sich die Frage, ob eine Scheidung der Gattungen dann eigentlich möglich und auch erforderlich ist. Die Antwort darauf lautet bei allem methodisch-theoretischen Zweifel (und wenn sie gelegentlich auch anders ausgefallen sein mag): ja. Wesentliche Begründungen hierfür sollen im Folgenden aufgezeigt werden, einige methodische Überlegungen sind vorwegzuschicken. Eine erhebliche Schwierigkeit der angemessenen Beschreibung liegt darin, dass moderne Vorstellungen von ‚Gattungen‘ nicht ohne weiteres auf Systeme vormoderner literarischer Produktion und Rezeption übertragbar sind (dass in der Forschung gleichwohl jene immer schon auf diese eingewirkt haben, macht die Sache nicht einfacher). Man müsste also vorab fragen, was im Mittelalter eigentlich als ‚Gattungen‘ galt, ob und wie sie unterschieden wurden, und gegebenenfalls, welche Relevanz solcher Unterscheidung zukam. Die Befunde hierzu sind eher ernüchternd: „Die volkssprachige Literatur des Mittelalters kennt keine Gattungspoetik“ (Nolte/Schupp [Hg.], Sangspruchdichtung, S. 465), es gibt keine zeitgenössischen Beschreibungen, keine feste Terminologie und schon gar nicht normative Entwürfe einer Systematik von Gattungen: „Was ein Lied, ein Spruch, ein Traktat […] sei, erklärt niemand“ (Grubmüller, Gattungskonstitution, S. 195). Mittelalterliche lateinische Poetiken, die nicht in der und nicht für die Volkssprache verfasst sind, unterscheiden im Anschluss an die antike Dichtung weniger Gattungen, sondern Stilebenen: den ‚hohen‘, ‚mittleren‘ und ‚niederen‘ Stil (so etwa um 1200 in der ‚Poetria nova‘ des Galfred von Vinsauf: stilus grandiloquus bzw. gravis, stilus mediocris und stilus humilis oder subtilis), wofür es in der volkssprachigen Dichtung keine erkennbaren Äquivalente gibt. Die klassisch gewordene, von Goethe formulierte Vorstellung von drei „Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: E p o s , L y r i k und D r a m a“ (West-oestlicher Divan, S. 381) taugt für das Mittelalter ebenso wenig wie die Verlegenheitslösung, jener Trias als vierte Kategorie die didaktische Poesie zur Seite zu stellen (Müller, U., Beschreibungsmodell). Beides ist aber zum Verständnis der Forschungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert wichtig (s.  u.) und wirkt zum Teil noch immer nach. Gattungen, so hat demgegenüber die jüngere Forschung seit Hans-Robert Jauss (Theorie) betont, sind dynamische Gebilde, die nur auf der Grundlage jeweils zu historisierender rezeptionsästhetischer Grundannahmen zu beschreiben sind. Die Wahrnehmung von Gattungen als solchen beruht auf vorgängigen „Erwartungshaltungen“, demnach sind sie „Zuschreibungsphänomene“. Als solche sind sie variabel und zu den Rändern hin durchlässig, was ihre Existenz aber nicht in Frage stellt, sondern sie in der fortgeführten Verhandlung ihrer Grenzen vielmehr bestätigt (Egidi, Minnelied). Dies muss bewusst gehalten werden, wenn es um die Beschreibung einer Gattung



Sangspruchdichtung als Gattung 

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geht, für die es keinen zeitgenössischen Begriff gibt, sondern die in ihrer Bezeichnung und in ihren Abgrenzungen wesentlich auf modernen Setzungen beruht: Die Beschreibung der Sangspruchdichtung als Gattung ist zum guten Teil Nachvollzug der Forschungsgeschichte. Davon gesondert zu betrachten ist aber die Frage, ob die mittelalterlichen Dichter und ihr Publikum sowie auch die späteren Sammler bzw. Redaktoren der Handschriften und ihre Benutzer sich unterschiedlicher ‚Dichtarten‘ bewusst waren, ob sie also über ein (wie auch immer ausgeprägtes) Gattungsbewusstsein verfügten. Auch wenn die Gattung sich selbst nicht explizit als solche bezeichnet und ihr zeitgenössisch kein Begriff gegeben ist, kann diese Frage bejaht werden: Die Gattung hat sehr wohl einen ‚Begriff‘ von sich selbst, sie spricht über sich selbst, und sie verhandelt implizit wie explizit die Grenze zum Minnesang (s.  u.). In jenem hier nur andeutungsweise eröffneten Spannungsfeld zwischen dem Gegenstand und seiner (historischen) Wahrnehmung bewegt sich jeder Beschreibungsversuch, der unter der grundlegenden Kautel des hermeneutischen Zirkels steht. Für unseren Gegenstand hat etwa Hugo Moser das allgemeine Dilemma prä­ gnant formuliert (Lied, S. 82): „[D]ie […] Kategorien müssen erst aus Einzeldichtungen gewonnen werden, auf die sie dann wiederum angewandt werden.“ Und eine Beschreibung kann nur geleistet werden unter der petitio principii, dass es eine eigenständige Gattung gibt, die heute unter dem Begriff der Sangspruchdichtung gefasst wird. Dies lässt sich wiederum begründen aus der ‚Wahrnehmung‘ der Gattung (denn sie muss sich ja auf etwas Wahrgenommenes, mithin als wahrnehmbar Vorhandenes beziehen), „weil die mittelalterliche Literatur dem unbefangenen Blick durchaus gattungsmäßig organisiert erscheint“ (Grubmüller, Gattungskonstitution, S. 200). Beides, der ‚Gegenstand‘ und die (ihn solcherart allererst konstituierende) ‚Wahrnehmung‘, ist allenfalls heuristisch voneinander zu trennen. Das mag rechtfertigen, im Folgenden zunächst anhand eines forschungsgeschichtlichen Zugangs die (moderne) Wahrnehmung der Gattung zu umreißen, also eine Betrachtung der Genese und Entwicklung des Begriffs vom Gegenstand voranzustellen. Im kritischen Nachvollzug wichtiger Stationen der Forschungsgeschichte ergibt sich damit einerseits bereits ein schärferes Bild vom Gegenstand selbst, andererseits werden dabei aber auch Desiderate sichtbar, auf die hin die Texte dann erneut befragt werden können. Vollständigkeit strebt der Überblick nicht an, hier sei auf die früheren einschlägigen Forschungsberichte verwiesen (insbes. Moser [Hg.], Spruchdichtung; Egidi, Liebe, S. 37–70); er versucht stattdessen eine dem Gattungsbegriff, wie er dem Handbuch zugrunde liegt (und wie dieses jenen konstituiert und konturiert), angemessene Fokussierung. Spruch vs. Lied – lyrischer Spruch – Sangspruch/Spruchsang: Zur Genese des Begriffs Der locus classicus, mit dem die moderne Gattungsdiskussion beginnt, findet sich in Karl Simrocks (nachgestellter) Einleitung zur Übersetzung der Gedichte Walthers von der Vogelweide von 1833 (und auf Walther bleibt die Forschung lange konzen­

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 Der Begriff und seine Geschichte

triert). Simrock beobachtet, dass in manchen Tönen die Strophen untereinander wenig Zusammenhang zeigen und von so verschiedenen Gegenständen handeln, „daß jede ein selbständiges Gedicht zu bilden scheint […] etwa wie eine Reihe Sonette über denselben Gegenstand.“ Es folgt der entscheidende, seither immer wieder zitierte Satz: „Solche Töne oder Strophen möchte man S p r ü c h e nennen“ (Simrock, Gedichte Walthers, S. 175). Der Begriff spruch falle schließlich mehrfach bei Walther selbst, und Simrock zeigt sich überzeugt, dass der Dichter ihn bereits in diesem Sinne terminologisch verwendet habe – eine Fehleinschätzung, wie später Hermann Schneider gezeigt hat (s.  u.). Inhaltlich charakterisiert Simrock diese ‚Sprüche‘ als „gewöhnlich politisch oder geistlich“; er verkennt aber andererseits nicht ihre formale Nähe zum Minnelied: Sie seien „wahrscheinlich“ gesungen worden, und die Strophen unterliegen zumeist „dem Gesetz der Dreiteiligkeit“ (ebd.), d. h. der stolligen Bauform der Kanzonenstrophe. Hätte Simrock die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ mit ihrer Melodieüberlieferung gekannt, dann hätte er die Überlegung zum gesungenen Vortrag nicht als „wahrscheinlich“ relativieren müssen; und vielleicht wäre auch nicht der folgende Satz gefallen: „vielleicht wurden sie aber mehr recitativ oder parlando vorgetragen, so daß sie wohl als Sprüche bezeichnet werden konnten“ (ebd.). Beides zusammen, die Relativierung und die Vorstellung von „parlando“-artiger Rezitation, war Keimzelle für allerlei Missverständnisse und falsche Vorstellungen von der Vortragsweise. So behauptet etwa Franz Pfeiffer in seiner Walther-Ausgabe von 1866, es unterscheide sich „der Spruch vom Liede dadurch, daß er nicht wie dieses gesungen, sondern hergesagt, […] sprechweise vorgetragen wurde“ (zit. nach Moser [Hg.], Spruchdichtung, S. 31). So hatte es Simrocks Begrifflichkeit sicher nicht implizieren wollen. Wilhelm Wilmanns klärt: „Rezitation und Gesang sind zwar verschieden, aber doch nicht so, daß sie durch eine scharfe Grenze getrennt wären […]“ (Wilmanns/‌Michels [Hg.], Walther, S. 59) – nicht ohne eben doch einen Unterschied in der Art des Gesanges von Walthers Minnesang und Spruchdichtung zu unterstellen. Der Terminus ‚Spruch‘ war insofern unglücklich gewählt, als er seiner Etymologie nach an ‚Gesprochenes‘ denken lässt. (Auf diesen Missstand reagiert später der begriffliche Rettungsversuch der Benennung als ‚S a n g spruch‘ durch Schneider, s.  u.) Indes, der Begriff war geboren, wurde als solcher übernommen und war dann trotz seiner Unzulänglichkeiten nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Mit ihm hat Simrock den Grundstein für die weitere Forschungsdiskussion gelegt. Und von der Sache her kann diese terminologische Abgrenzung der ‚Sprüche‘ von den (Minne-)Liedern in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Sie setzt erstmals eine wesentliche Differenz, die zuvor noch überhaupt nicht getroffen worden war. In der vorausgegangenen proto- und frühgermanistischen Beschäftigung mit der mittelhochdeutschen Lyrik war noch alles ungeschieden mit dem Begriff des ‚Minnesangs‘ assoziiert worden, sei es in der „Sammlung von Minnesingern aus dem Schwaebischen Zeitpuncte“ von Bodmer/ Breitinger (1758/59), sei es noch 1838 in von der Hagens ‚Minnesinger‘-Sammlung (HMS), die im Abdruck des Codex Manesse und anderer Sammelhandschriften deren Vermischung der Gattungen übernahmen. Auch die bis heute nicht ganz ersetzte



Sangspruchdichtung als Gattung 

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Anthologie der vorwaltherschen Lyrik ‚Des Minnesangs Frühling‘ (zuerst 1857) enthält neben dem Minnesang, der unzweifelhaft den Schwerpunkt der Sammlung ausmacht, eben auch die Sangspruchdichtung vor Walther (anonyme „Weisheits- und Zeitlyrik“; ‚Herger‘/Spervogel I, Spervogel II u. III); zudem bieten auch die übrigen Lyriker etliche Strophen, deren eindeutige Gattungszuordnung zum ‚Minne­sang‘ nicht eben unstrittig ist. Mit seiner Scheidung der mittelhochdeutschen – strophischen – Lyrik (der Leich als Sonderform bleibt dabei ausgeklammert) in ‚Spruch‘ und ‚Lied‘ hat Simrock eine literaturwissenschaftliche Debatte losgetreten, die bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus nicht abriss. Sie braucht hier nicht erneut ausgebreitet zu werden (vgl. den Forschungsbericht von Tervooren). Ein Aspekt sei stattdessen besonders hervorgehoben, der die Diskussion gleichsam apriorisch mitbestimmt hat, ohne immer explizit reflektiert worden zu sein: Wenn die mittelhochdeutsche Lyrik unterteilt wird in zwei Dichtungsarten, ist vor dem Hintergrund der Vorstellung von „Naturformen“ die Frage nach dem ‚Lyrischen‘ in der mittelalterlichen Dichtung neu zu stellen. Von nicht zu unterschätzender Wirkungsmacht ist dabei die von Goethe formulierte Vorstellung vom „enthusiastisch[] aufgeregte[n]“ Wesen der Lyrik. Durch die Auftrennung nach zwei Dichtarten wird diese definitorische Grenze quasi durch die ‚Gattung‘ Lyrik hindurch neu gezogen. In der Folge ist nämlich im 19. und im (früheren) 20. Jahrhundert zu beobachten, wie mit der Dichotomie ‚Lied‘ und ‚Spruch‘ eine Neubewertung als ‚echte lyrische‘ vs. ‚nur didaktische‘ (und damit eben nicht oder weniger ‚lyrische‘) Poesie einhergeht. Besonders deutlich ist das zu spüren in Gustav Roethes monumentaler Einleitung zu seiner Reinmar von Zweter-Ausgabe von 1887. Ihm gelang einerseits „ein großer Wurf“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 3), indem er sich in der Gattungsdiskussion (um die es ihm nicht primär geht) nicht wie seine Vorgänger ganz auf Walther konzentriert. In stupender Fülle trägt er das Wissen über die Sangspruchdichtung bis Frauenlob und z. T. darüber hinaus zusammen. Doch mit dieser „zu frühen“ ‚Summe‘ ist auch eine schwere „Hypothek“ verbunden (ebd.). Denn Roethe ist nicht zurückhaltend mit ästhetischen Werturteilen (ganz abgesehen von dem bisweilen schwer erträglichen deutschtümelnden Nationalismus, der ihm und teilweise auch seinen Zeitgenossen eignet). In klarer hierarchischer Opposition stehen bei ihm nun Minnesang und Sangspruchdichtung als ‚echte‘ Lyrik, als „eigentlich lyrische Poesie“ (Roe., S. 258), und ‚bloße‘ Didaxe, das „eintönige Grau der Lehrhaftigkeit“ (ebd., S. 176), einander gegenüber. Das Ganze ist verbunden mit weiteren Wertungskategorien: ‚Klassiker‘ vs. ‚Epigonen‘; adlige vs. bürgerlich-spielmännische Kunst; kulturell blühender Süd(west)en Deutschlands vs. träge-nüchterner Geist Mittel- und Norddeutschlands, wobei jeweils ersteres mit dem Minnesang und/oder Walther von der Vogelweide als der unantastbaren literarischen Glanzfigur verbunden ist, letzteres jeweils mit der minderwertigen didaktischen Sangspruchdichtung (vgl. Runow, Vergessene Lyrik, S. 271–273). So wird durch die Anwendung des Goetheschen Begriffs vom Lyrischen (‚enthusiastisch-aufgeregt‘), der auf das scheinbar weniger subjektiv-empfindende Ich der Sangspruchdichtung nicht zu

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 Der Begriff und seine Geschichte

passen scheint, das, was formal schwer voneinander zu scheiden ist (strophische, gesungene Poesie), nach inhaltlichen und außerliterarisch-kontextuellen Kriterien getrennt. Durch die kategoriale Absonderung des ‚Didaktischen‘ vom ‚Lyrischen‘ ist damit die mittelalterliche deutsche Lyrik gewissermaßen in ein Zwei-Klassen-System geteilt geworden. Diesen Geist klarer Abtrennung des Sangspruchs vom ‚echten‘ Lyrischen atmet noch gut 40 Jahre nach Roethe auch Hermann Schneiders Artikel ‚Mittelhochdeutsche Spruchdichtung‘ im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Sein großes Verdienst liegt darin, die „Unzulänglichkeiten“ des Begriffs und seine „mißbräuchliche Einbürgerung für eine große Kategorie von Dichtungen, die im MA. bestimmt nicht diese Bezeichnung trugen“ (S. 287), offenzulegen. Vor allem korrigiert er Simrocks Fehleinschätzung, dass spruch bereits im Mittelhochdeutschen als Gattungsbegriff gebraucht worden sei (Simrock hatte einen Verweis Walthers auf die alten sprüche [L. 26,27] so verstanden; Schneider stellt klar, dass es hier um alte Sprichwörter geht). Als „Spruchdichtungen im Sinne des Mittelalters“ fasst er stattdessen die „unkomponierte, in der Form des Sprechverses abgefaßte“, also die nicht-strophische, nicht-gesungene didaktisch-gnomische Reimsprecherkunst (die mittelhochdeutsch mit Begriffen wie rede, mære oder bîspel bezeichnet ist, also Dichtungen wie diejenigen Freidanks, des Strickers oder Heinrichs des Teichners; vgl. unten → Kapitel I.2). Von dieser „wirklichen“ unterscheidet er die „sogenannte[] Spruchdichtung“ mit dem Begriffspaar ‚Sprechspruch‘ vs. ‚Sangspruch‘. Letzteres hat sich als bis heute gültiger Gattungsbegriff durchgesetzt (Schneider hatte ihn als Alternative vorgeschlagen: „‚lyrischer‘ oder ‚Sangspruch‘“, bleibt in der weiteren Gliederung seines Artikels indes beim Begriff des ‚lyrischen Spruchs‘). So ist einerseits, ähnlich wie bei Roethe (dessen Einschätzungen sich Schneider in vielem verpflichtet zeigt), die klassische Gattungstrias durch ein Viertes aufgebrochen, das bei Schneider eine klarere Terminologie erhält. Andererseits bleibt aber auch bei ihm die (lyrische) „Spruchpoesie“ klar von „der Lyrik im engeren Sinne“, von der „eigentlichen“ oder „reinen“ Lyrik, abgegrenzt „durch Thema, Form und sozialen Abstand“ (S. 288  f.). Diese Unterschiede weichen in der Folge zwar auf, bleiben aber konstitutiv. Der geringere Grad an ‚Lyrizität‘ spielt weiter die entscheidende Rolle in der Abgrenzung zum Minnesang: „Die Spruchstrophe atmet (auch in ihrer Musik […]) den Charakter ruhiger Getragenheit im Gegensatz zu der liedhaft affektvollen Bewegung und zierlichen Verkünstelung der echt lyrischen Formen“ (S. 290). Angesichts der Tatsache, dass zu den deutschen Minneliedern fast keine Melodien überliefert sind (Brunner, Formgeschichte, S. 7), dürfte diese Einschätzung nicht zuletzt jener apriorischen Gattungserwartung geschuldet sein, die in der ‚echten‘ Lyrik eben das „enthusiastisch Aufgeregte“ („affektvoll“!) sucht, das sie dann in der Spruchdichtung auch in den Melodien nicht finden kann. Die nachfolgende Forschung arbeitete sich weiter an Unterschieden zwischen ‚Lied‘ und ‚Spruch‘ ab. Neu befeuert wurde die Debatte vor allem durch Friedrich Maurers „‚Thesen‘-Edition“ (Ruh, Spruchdichtung, S. 309) der politischen ‚Lieder‘ Walthers von der Vogelweide (1954). Maurer (Politische Lieder) versuchte, in den



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Waltherschen Spruchtönen jeweils komponierte Liedeinheiten zu sehen. Das stieß an Grenzen, etwa was die Frage nach der historischen Entstehungseinheit, der thematischen Dispersität oder uneinheitlichen Überlieferung eines Strophenzusammenhangs anbelangt, und erzeugte z.  T. vehementen Widerspruch. Obwohl Maurers Thesen ganz überwiegend abgelehnt wurden, gerade in Bezug auf die umfangreicheren Töne (wo er freilich selbst Schwierigkeiten eingestanden hatte), erwies sich der Debatten­ anstoß als produktiv. Das von ihm (erneut) aufgeworfene Problem, die Frage nach der Einheit, wurde ernst genommen und neu diskutiert. So plädiert in der Folge Kurt Ruh differenzierter für die „Selbständigkeit der Einzelstrophe (nicht Einstrophigkeit, was methodisch nicht immer sauber unterschieden wurde!)“ (Ruh, Spruchdichtung, S. 313); vor allem aber mahnt er an, die Sangspruchdichtung als „das Produkt einer geschichtlichen Aus- und Eingliederung“ (S. 315) zu betrachten. Er verweist auf die historische Entwicklung der Gattung aus ihren ‚unterliterarischen‘ Formen und ihrer zunächst klaren soziologischen, thematischen und formalen Abgrenzung vom im 12. Jahrhundert aufkommenden adligen Minnesang (vgl. dazu zuletzt auch Tomasek, Sangspruch). Walther habe diese systematisch überwunden, indem er als höfischer Mahner die Spruchdichtung um das politische Moment erweitert und so die soziale Differenz zum adligen Minnesang eingeebnet habe; die formale Differenz fällt mit dem Prinzip der Vieltonigkeit sowie der Einführung der Kanzonenstrophe in die Sangspruchdichtung. Es bleibt als einzig „gattungsbestimmendes Formkriterium […] für den Spruchton die Einheit der Strophe, wie für das Lied die Einheit des Tons“ (Ruh, Spruchdichtung, S.  319; vgl. ebd., S.  324: „die strenge Geschlossenheit der Einzelstrophe […] ist das eigentliche formale Signum des Spruchtons“). In der bewussten Angleichung der Gattung wie auch in der Bewahrung dieser Differenz ist Walther damit als eigentlicher Begründer der Gattung Sangspruchdichtung ausgemacht. Die Begriffsgeschichte ist mit Schneider im Wesentlichen zu ihrem Ziel gekommen; ausgehend von Simrocks ahistorischer Benennung als ‚Spruch‘ hat sich seine Präzisierung als ‚Sangspruch‘ durchgesetzt (auch wenn sie etymologisch paradox anmutet und das unglückliche Pendant ‚Sprechspruch‘ erzeugt hat). Das Unbefriedigende am Begriff hat die Forschung bereits vor ihm und auch seither gesehen; Versuche zur terminologischen Neufassung gab es seitdem aber kaum. Erst in jüngster Zeit haben Horst Brunner und Karl-Günther Hartmann die terminologische Notlösung ‚Sangspruch‘ gleichsam vom Kopf auf die Füße gestellt, indem sie ihre Edition der Sangspruch-Melodien unter dem Titel ‚Spruchsang‘ erscheinen ließen (Sps.). Das Determinativkompositum in dieser Ausrichtung als Bezeichnung für den gesungenen ‚Spruch‘ kann der Fehlauffassung vom ‚Spruch‘ als etwas Gesprochenem wohl besser vorbeugen, ohne doch den nun einmal etablierten Gattungsbegriff ganz zu dispensieren. Dieser kann zudem gerettet werden, wenn man sich auf die Funktion des ‚Spruchs‘ als Redeform besinnt (kurz, prägnant, situationsabstrakt und von gnomisch-belehrender Grundhaltung; vgl. Runow/Wenzel, Spruch), welche die Gattung zumindest mitgeprägt hat. Ob der Begriff ‚Spruchsang‘ Schule macht, bleibt noch abzuwarten. In diesem Handbuch wird er synonym verwendet. – Einen anderen Weg

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geht etwa Manfred Kern, wenn er in seinem Artikel über Walther von der Vogelweide (s. unten → Kapitel VII.1) den Begriff ‚Sangspruch‘ zwar nicht vermeiden kann, sich aber kritisch von ihm zu distanzieren sucht und stattdessen von Walthers ‚soziopolitischer Lyrik‘ spricht; dass Walther bewusst verschiedene Gattungsregister bedient, leugnet auch er freilich nicht. Sangspruchdichtung als historisch dynamische Gattung Wenn man Sangspruchdichtung als Gattung beschreiben will, muss man sie in ihrer dynamischen Entwicklung über einen langen Zeitraum von den anonymen Strophen des 12. Jahrhunderts bis hin zum Übergang in den Meistergesang im 15. Jahrhundert betrachten. Und man muss bereit sein, dabei in Kauf zu nehmen, dass es (1.) keine präskriptive Gattungspoetik gibt, dass (2.) bei einem deskriptiven Ansatz oft keine ganz klaren Abgrenzungen zu benachbarten Gattungen möglich sind (was die Existenz und Konsistenz voneinander abgrenzbarer Gattungen nicht in Frage stellt) und dass (3.) am ‚anderen‘ Ende der historischen Textreihe, als welche die Gattung einzig zu beschreiben ist, nicht mehr gelten muss, was anfangs noch gegolten hat (Grubmüller, Gattungskonstitution, S. 200  f.). Der Blick auf die ältere Forschungsgeschichte zeigt demgegenüber einen sehr engen Fokus auf Walther von der Vogelweide. Zwar hat schon Roethe den Gattungszusammenhang von den Spervogel-Corpora bis Frauenlob gesehen, doch stets in klarer Perspektivierung auf Walther als den Mittel- und Höhepunkt (vgl. Roe., S. 176: „Walther steht auf dem Gipfel der Kunst, in stark absteigender Linie bewegte sie sich, als Reinmar von Zweter wirkte“  – Ähnliches findet sich passim). Dass Walthers Schaffen eine entscheidende Stellung in der Gattungsgeschichte zukommt, ist unzweifelhaft. Mit ihm erst gewinnt die Gattung als solche ihre eigentliche Gestalt und jenes Profil, das zumindest für das gesamte 13.  Jahrhundert prägend ist. Diese Sonderstellung darf aber keine Alleinstellung bedeuten (vgl. Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 3). So hat Kurt Ruh, seinerseits zwar auf die Gattungsdebatte um Walther konzentriert, eindrücklich eine Beschreibung der historischen Voraussetzungen, d.  h. der Gattungsentwicklung bis und bei Walther angemahnt. Dieser Ansatz ist weiterzuverfolgen, und die jüngere Forschung hat hier produktiv angeknüpft (vgl. z.  B. Egidi, Liebe; Baldzuhn, Sangspruch; Tomasek, Sangspruch): Wie entsteht die Gattung, wie wird sie geformt, wie entwickelt und verändert sie sich im Laufe von drei Jahrhunderten? Zu beachten ist dabei insbesondere auch, dass die Sangspruchdichtung zwar immer nur im Vergleich mit und in Abgrenzung zum Minnesang zu beschreiben ist (das hat die Forschung von Anfang an getan); sie darf dabei aber „nicht als Appendix des Minnesangs“ verstanden werden (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 3). Auch hängt die Gattungsbestimmung nicht (nur) an einer strengen Unterscheidung zwischen ‚Lied‘ und ‚Spruch‘, an der sich die ältere Forschung abgearbeitet hat. Wenn man dies bedenkt, können die Abgrenzungskategorien, welche schon immer gesehen wurden – inhaltliche, formale, soziale Differenzen; gegebenenfalls auch zeitliche und



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regionale Schwerpunkte – weiterhin zur Beschreibung dienen, sie sind aber nicht von uneingeschränkter Gültigkeit, sondern in ihrer Dynamik zu fassen und in ihrem jeweiligen Geltungsbereich zu präzisieren. Unter diesen Voraussetzungen kann die oben provisorisch angebotene ungenaustatische Definition in ihrer historischen Relationalität und Veränderlichkeit umsichtiger gefasst werden. Was also ist Sangspruchdichtung? Sie ist gesungene, strophische Poesie, die gleichzeitig mit und neben dem deutschen Minnesang im 12. Jahrhundert aufkommt. Von diesem ist sie zunächst durch den Inhalt und die Sprechhaltung abzugrenzen: Sangspruchdichtung ist in ihrer frühen Ausprägung (Anonymi; ‚Herger‘/ Spervogel I, Spervogel II u. III) vorwiegend gnomisch-belehrende Dichtung von eher konstatierender Sprechhaltung (und nicht Liebeslyrik eines ‚betroffenen‘ werbenden, klagenden, preisenden usw. Rollen-Ichs). Der Form nach ist sie zunächst, wie tendenziell auch noch der frühe Minnesang, eintonig-einstrophig: Innerhalb einer Strophenform/Melodie (‚Ton‘), in der Frühzeit hier wie dort noch oft einfache paargereimte Strophen, sind die einzelnen Strophen prinzipiell von großer Geschlossenheit und Selbständigkeit. Strophenbindung ist dabei zwar von Beginn an möglich, bleibt aber insgesamt eher selten. Die Dichter sind (anders als jene des zu Beginn adlig geprägten Minnesangs) vorwiegend vermutlich nichtadlige fahrende Künstler, die, so lässt sich aus den Texten selbst schließen, auf Entlohnung etwa durch adlige Gönner hofften. Ort der Kunstausübung dürften dementsprechend die Adelshöfe gewesen sein (vgl. auch → Kapitel III.1), zumindest bedurfte es entsprechender Institutionen auch als Voraussetzung für die schriftliche Überlieferung der Texte. Soweit erkennbar, sind Minnesang und Sangspruch zunächst strikt getrennt, Sangspruchdichter treten nicht auch als Minnesänger in Erscheinung. In den Minnesangcorpora vor Walther finden sich aber durchaus (Einzel-)Strophen, die dem Inhalt und der Sprechhaltung nach sangspruchartig sind (vgl. die Stellensammlungen bei Rathay, Unterschied, S.  5; Moser, Lied, S. 83, Anm. 1; Willms, Liebesleid, S. 47  f.; Brem, Gattungsinterferenzen) bzw. je nach kontextuellem (Vortrags- oder Überlieferungs-)Zusammenhang in ihrer Gattungshaftigkeit changieren können (vgl. Lieb, Modulationen; Egidi, Minnelied). Walther von der Vogelweide ist der erste Dichter, der in erkennbarem Gattungsbewusstsein Minnesang und in großem Umfang Sangsprüche dichtet. Mit der Integration beider Gattungen geraten wesentliche Differenzkriterien, die zuvor zu erkennen waren, ins Wanken: Walther war (wie wohl auch Reinmar und vielleicht Heinrich von Morungen) fahrender Berufsdichter, hat als solcher aber die Adelsdomäne des Minnesangs besetzt; die soziale Abgrenzung zwischen Sangspruch und Minnesang fällt damit. Er hat seine Sangspruchtöne zudem ganz überwiegend in der seit dem Rheinischen Minnesang durchgesetzten Kanzonenform komponiert, womit einer formalen Angleichung der Gattungen Vorschub geleistet wird. Vor allem aber dichtet er nicht nur in einem, sondern in einer Vielzahl von Spruchtönen. Der damit verbundene kompositorische Anspruch deutet ebenfalls auf eine entsprechend gehobene ästhetische Wertschätzung. Vielfach ist bei Walther auch bereits die (Möglichkeit zur) Strophenbindung zu beobachten, wobei die Einzelstrophe jedoch meistens von großer

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Geschlossenheit geprägt bleibt. So sind etwa schon die drei Strophen im Reichston (L. 8,4, 8,28, 9,16), Walthers frühestem Spruchton, inhaltlich und formal eng aufeinander bezogen. Die einzelnen Strophen bergen aber jeweils auch für sich alleine eine abgeschlossene und für sich verständliche Aussage. Der Datierungsstreit um die Strophen, der auch einer um die Entstehungseinheit der drei Strophen ist, scheint bis heute nicht eindeutig gelöst (Überblick bei Kern, P., Reichston). Aus gattungsgeschichtlicher Sicht wirft er die interessante Frage auf, ob ‚Lieder‘ auch über Jahre hinweg durch die Kombination oder spätere Ergänzung von (Einzel-)‌Strophen entstehen, ob also ein ‚Lied‘ auch erst ein sekundäres Produktions- bzw. produktives Rezeptionsphänomen sein kann (wie es in gleicher Weise im Minnesang nicht zu erkennen wäre), oder ob mehrstrophige Gebilde gar erst Ergebnis redaktioneller Prozesse sind (vgl. dazu auch Tervooren, Einzelstrophe). Eine weitere Neuerung ist die Erweiterung des thematischen Spektrums um die politische Stellungnahme: Walthers kirchen- und papstkritische Strophen, die reichs­ politischen Stellungnahmen und Herrscherschelten markieren den Beginn der deutschen politischen Lyrik (Müller, U., Untersuchungen), die in dieser Prägnanz und Schärfe aber nur wenig Nachfolge findet. Was bleibt, ist die Panegyrik, die als Gegenstück die – freilich oft generelle, nicht personalisierte – Herrscherschelte kennt. Die mit Walther veränderten Gattungskriterien gelten weitgehend für die Sang­ spruch­dichtung des 13. Jahrhunderts, jeweils mit Ausnahmen: Mehrtonigkeit, thematische Vielfalt mit Schwerpunkten in den Bereichen Gnomik und Moraldidaxe, Herrenlehre, geistliche Unterweisung, Zeitkritik, Kunst und Sängerexistenz (Schneider, H., Spruchdichtung; Runow/Wenzel, Spruch; vgl. auch die thematische Anordnung bei Nolte/Schupp, Sangspruchdichtung, sowie hier → Kapitel V). Die meisten Sangspruchdichter dürften nichtadlige Berufs- oder Gelegenheitsdichter gewesen sein, die auf Entlohnung durch höfische Gönner hofften. Zeugnis hierfür sind die vielen panegyrischen Strophen und der Diskurs um die herrscherliche Tugend der milte (vgl. Krause, „milte“-Thematik; s.  u. auch → Kapitel V.2 und V.6), von der die Sänger abhängig sind (explizit in der formelhaften Rede von den gernden und dem guot umbe êre nemen bzw. geben), sowie auch die Geltungskämpfe der Sänger unter sich (Wachinger, Sängerkrieg; Burkard, Sangspruchdichter). Manche Berufsdichter  – vom Tannhäuser über Konrad von Würzburg, den Wilden Alexander und Rumelant von Sachsen bis zu Frauenlob – haben sich in der Nachfolge Walthers aller lyrischen Gattungen (auch des Leichs) angenommen, der Minnesang ist kein Privileg des Adels mehr. Seltener sind adlige Spruchdichter; Adel und existenzsicherndes Berufsdichtertum schließen sich aus (Roethes Annahme, Reinmar von Zweter stamme aus einem pfälzischen Adelsgeschlecht, ist nicht haltbar; vgl. Brunner, Reinmar von Zweter). Adlige Minne- und Liebeslieddichter gibt es weiterhin sehr wohl, von Gottfried von Neifen über Hugo von Montfort bis hin zu Oswald von Wolkenstein. Wo adlige Dichter das Gattungsregister wechseln und sich Themen der Sangspruchdichtung aneignen, ist diese nicht lohnheischende Fahrendenkunst (etwa bei Ulrich von Singenberg, dem Truchsess von St. Gallen u.  a.).



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In formaler Hinsicht bleibt die Sangspruchdichtung bis Frauenlob dem Prinzip der Einstrophigkeit verpflichtet. Auch wenn die Ausnahmen zahlreich sind, überwiegt doch bei weitem der Anteil an in sich geschlossenen Einzelstrophen. Dieses Prinzip ist bei den Dichtern des 14. und 15. Jahrhunderts (Heinrich von Mügeln, Suchensinn, Harder, Muskatblut) aufgegeben, ja geradezu umgekehrt, Mehrstrophigkeit wird zur Norm (vgl. → Kapitel VI.2). Ausgesprochene Vielstrophigkeit bleibt zunächst die Ausnahme, etwa in Mügelns 39-strophigem Bibelbuchsummarium (je eine Strophe für jedes biblische Buch; Stmn. 71–109) oder in seinem symbolisch 72 Strophen umfassenden Marienpreisgedicht ‚Der Tum‘ (Stmn. 110–181). Den (späten) Extremfall bildet Michel Beheim mit seinen vielen langen Spruchgedichten mit im Einzelfall bis über 100 Strophen. Hier ist nicht nur das Prinzip der Einstrophigkeit aufgegeben, sondern auch die noch in mehrstrophigen Liedern oft zu beobachtende pointierte Geschlossenheit der einzelnen Strophe. Spätestens damit – wenn nicht schon vorher bei Lieddichtern vom Typ Muskatbluts – stellt sich die Frage nach der Gattungsgrenze unabhängig von der Unterscheidung zum Minnesang: Was ist eigentlich noch Sangspruch­dichtung? Solche Grenzziehungen mögen unscharf sein. Zu betonen ist aber die hier vertretene dynamische Erweiterung des Sangspruch-Begriffs, der sich eben nicht nur auf das ‚lange‘ 13. Jahrhundert von Walther (und seinen Vorläufern) bis zu Frauenlob bezieht, sondern auch jene Ausprägung der Gattung im 14. und 15. Jahrhundert einschließt, die man mitunter als ‚meisterliche Lieddichtung‘ (Schanze, Liedkunst) bezeichnet hat. Mit der anonymen Lieddichtung in den Tönen der älteren Sangspruchdichter, dem Nachdichten im Schatten der alten Meister, ist eine neue Phase der Gattung mit veränderten poetologischen Konzepten eingeläutet (vgl. z.  B. Wenzel, F., Meisterschaft), nicht aber ihr Ende. Eher ist eine historische Gattungsgrenze zu ziehen mit dem Übergang zum institutionalisierten städtischen Meistergesang, der unter deutlich gewandelten literatursoziologischen und poetologischen Bedingungen entsteht (vgl. dazu Baldzuhn, Sangspruch, sowie unten → Kapitel I.2, VIII.2–4). Und auch diese Grenze ist kaum als verbindliche Größe zu fassen. Das RSM etwa scheidet die literarhistorische Traditionslinie gar nicht erst in zwei Gattungen, sondern setzt eine Zäsur zwischen ‚älterem‘ und ‚jüngerem‘ Teil, die gerade nicht entlang einer vermeintlichen Grenze zwischen Sangspruch und Meisterlied verläuft, sondern dem Umbruch innerhalb des Meistergesangs Rechnung trägt, der durch Hans Sachs und die Reformation markiert ist. Übergangszonen und benachbarte Gattungen Der Dynamik in der historischen Entwicklung entsprechen auf der systematischen Ebene Berührungen mit und Übergangsbereiche zu anderen literarischen Gattungen in formaler wie in inhaltlich-diskursiver Hinsicht. Über Abgrenzungen und Interferenzen von Spruch und Lied (s.  o.) braucht hier nichts mehr gesagt zu werden. Minnesang und Sangspruch sind und bleiben im 12. und 13. Jahrhundert Schwestergattungen und existieren nebeneinander, nicht selten haben die Dichter beides im Repertoire. Dass

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beide Gattungen vielfach gegeneinander durchlässig sind, kann auch deswegen kaum verwundern (vgl. Kapitel → IV.1). Manche ‚Zwischenformen‘ wie etwa Walthers religiöse oder sog. Alterslieder (z.  B. ‚Palästinalied‘ L. 14,38; ‚Alterston‘ L. 66,21; ‚Elegie‘ L. 124,1 etc.) entziehen sich einer eindeutigen Gattungszuordnung. Thematische Überschneidungen in beide Richtungen – Sangspruch wie Minnesang – ergeben sich mit der dritten lyrischen Form, dem Leich. Als durchkomponierte musikalische Prunk- und Großform ist er in seiner Bauweise (und vermutlich Vortragsart; gegebenenfalls auch seinem Publikum?) deutlich unterschieden von der strophischen Spruch- und Lieddichtung. Thematisch-inhaltlich besetzt der Leich jene Felder, die in der strophischen Lyrik bereits erschlossen sind: Weltliches im Minneund Tanzleich (z.  B. Ulrich von Gutenburg, Tannhäuser), Religiöses – Gotteslob, Trinität, Maria – im geistlichen Leich (nach Walther etwa Reinmar von Zweter, Konrad von Würzburg, Frauenlob). In Heinrichs von Rugge sog. Kreuzleich (MF 96,1), der historisch neben Ulrich von Gutenburg am Anfang der Gattung steht, inszeniert sich eingangs ein gnomisch-belehrendes Sprecher-Ich. Der Unterschied zur geltungsbewussten Sprechweise des Spruchdichter-Ichs liegt allenfalls in der betonten Bescheidenheitsformel (Mîn tumbes mannes munt / der tuot iu allen gerne kunt …, MF 96,9  f.). Walther von der Vogelweide bedient mit seinem religiösen Leich ebenfalls diese um 1200 noch junge Gattung; über das Motiv der – wenn auch hier weniger expliziten – Kirchenkritik (vgl. L. 6,38) knüpft er an die ‚politische‘ Sangspruchdichtung an. Gattungübergreifend wiederkehrende Motive, z.  T. in je gleichen sprachlichen Versatzstücken, kennt auch Konrad von Würzburg, der in allen drei lyrischen Gattungen und darüber hinaus in allen epischen Klein- und Großformen versiert ist. Bei ihm wird etwa am Beispiel des Gottes-, Marien- und Trinitätspreises besonders augenfällig, wie die Sangspruchdichtung eines unter mehreren Gattungsregistern ist, um dieselben Inhalte zu vermitteln – man vergleiche die Gottes- und Marienpreisstrophen (Schr. 32,1–60) mit seinem geistlichen Leich (Schr. 1), aber auch mit der ‚Goldenen Schmiede‘. Nicht klar zu definieren ist eine Abgrenzung der religiösen Sangspruchdichtung zum geistlichen Lied als eigener Gattung der sangbaren strophischen Lyrik. Gotteslob, Marien- und Trinitätspreis gehören zu den Kernthemen der Sangspruchdichtung (Rosmer, Tradition; vgl. ders., Geistliche Meisterlieder); einen anderen Gattungshorizont kann man hier nur anhand unterschiedlicher Kontextbedingungen rekonstruieren, bezogen auf die Dichter einerseits (Laien vs. Geistliche), auf Form und Aufführungspraxis (Tönegebrauch und -benennung; Hof vs. z.  B. liturgischer Kontext) andererseits. Unterschiede in der Sprechhaltung (konstatierend, lehrend, preisend vs. Kontemplation und Frömmigkeitsübung) sind allenfalls graduell. So scheinen etliche der geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg deutlich an die Tradition der späteren Sangspruchtradition anzuknüpfen, sie sind als solche im RSM verzeichnet (1Mönch), die Lieder z.  B. Heinrich Laufenbergs hingegen nicht. Häufig genug bleiben klare Unterscheidungen unsicher, bezeichnend ist jedoch, dass viele der Texte, die Philipp Wackernagel in seiner ‚Kirchenlied‘-Anthologie zusammengestellt hat (WKL; v.  a. Bd. 2), aus der Sangspruchdichtung stammen. – Aufgrund des ganz eigenen, in sich



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geschlossenen Diskurszusammenhangs und der damit verbundenen Sprechweisen ist davon gesondert die mystische Lyrik als Gattung eigenen Rechts zu betrachten (vgl. Theben, Mystische Lyrik, bes. S. 13–25). Nicht der Form, sondern dem Inhalt und besonders der belehrend-konstatierenden Sprechweise nach, sind der Sangspruchdichtung die didaktischen Reimpaardichtungen verwandt (s. unten → Kapitel IV.2). Große Überschneidungen gibt es, was den gnomischen Impetus, die Kürze und Prägnanz anbelangt, mit der Reimsprechkunst Freidanks. Auch die Tugendlehren der ‚Disticha Catonis‘, die im 13. Jahrhundert in deutsche Verse übersetzt wurden (‚Deutscher Cato‘; vgl. dazu Baldzuhn, Schulbücher), sind hier zu nennen. Ab dem 13.  Jahrhundert verhandeln kleinepische Gattungen (rede, bîspel, maere; vgl. → Kapitel I.2) auch genuine Sangspruchthemen wie den milte-Diskurs (vgl. etwa des Strickers ‚Falsche und rechte Milte‘; dazu Ragotzky, milte). Ein hier anschließendes Gattungsexperiment ist Konrads von Würzburg allegorisches Gedicht über die ‚Klage der Kunst‘: In 32 doppelt kreuzgereimten Strophen wird erzählt, wie die falsche milte vor einem Tugend-Gericht angeklagt wird. Konrad experimentiert auch mit weiteren Formen: In ‚Der Welt Lohn‘ wird das allegorische Motiv von der vanitas mundi, das auch sonst in der Spruchdichtung aufgegriffen ist (z.  B. Reinmar von Zweter Roe. 266; Friedrich von Sonnenburg Mas. 21), auserzählt und mündet in einen impliziten Aufruf zur Kreuznahme; der strophische Prolog seines Freundschaftsromans ‚Engelhard‘ liest sich geradezu wie eine Reihe von Sangsprüchen über das Thema triuwe. – Didaktische Reimpaardichtungen kürzeren bis mittleren Umfangs treten neben die Sangspruchdichtung, ohne dass beide Gattungen erkennbar miteinander interferieren. Nur selten haben einzelne Dichter beides, strophische und Reimpaardichtung, im Repertoire (neben Konrad von Würzburg vor allem spätere wie Heinrich von Mügeln, Konrad Harder oder Suchensinn; vgl. → Kapitel I.2). – Weitere thematische Überschneidungen ergeben sich im Bereich der religiösen Unterweisung mit der Predigt (s. → Kapitel IV.4) oder im Weltlichen mit der Fabel (→ Kapitel IV.3). Erwähnt sei schließlich, dass einerseits die Sangspruchdichtung an ältere Gattungstraditionen anknüpft und diese integriert, so z.  B. kleine Formen wie Priamel (Euling, Priamel), Rätsel (Tomasek, Rätsel), Scherz- und Unsinnspoesie (vgl. etwa Reinmar von Zweter Roe. 159  f.; Marner Wms. 6,11) oder das Streitgespräch (z.  B. Kelin Whm. III,3  f.: Frau Ehre vs. Frau Schande; RSM 1Tugdh/1/1 = Zapf J. 32: Gawein vs. Keie). – Auf der anderen Seite werden seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert Sangspruchtöne für größere narrative Zusammenhänge oder gar großepische Erzählungen verwendet. Übergangsformen, die noch thematische bzw. diskursive Nähe zur Sangspruchdichtung wahren, sind neben den erst später auftretenden Schwank- und Erzählliedern (vgl. Viehhauser, Treueproben) zunächst die ‚Winsbeckischen Lehrgedichte‘ (1Winsb; dazu → Kapitel IV.2) sowie das Rätsel- und Lehrgedicht ‚Tirol und Fridebrant‘ in der später Wolfram von Eschenbach zugeschriebenen Mühlweise (RSM 1 Tirol bzw. 1Wolfr/4). Hierher ist auch, ebenfalls mit Wolfram-Bezug, der ‚Wartburgkrieg‘ zu stellen (dazu s.  u.; vielleicht ist die ‚Typenverwandtschaft‘ zwischen ‚Wins-

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becke‘ und ‚Wartburgkrieg‘ vom Redaktor der Handschrift C gesehen worden, hier folgen die beiden Textkomplexe direkt aufeinander). Im älteren der beiden ‚Wartburgkrieg‘-Töne, dem Klingsor zugeschriebenen Schwarzen Ton, ist gegen Ende des 13. Jahrhunderts der 768 Strophen umfassende ‚Lohengrin‘ verfasst. Eröffnet wird er mit dem Rätselstreit zwischen Wolfram und Klingsor aus dem ‚Rätselspiel‘ des ‚Wartburgkriegs‘. Das kann man so auffassen, dass hier Wolfram, der den Streit dominiert, als Erzähler des Schwanenritterromans inszeniert wird (Cramer, Lohengrin); der Gattungszusammenhang mit der Sangspruchdichtung geht dann aber, bis auf die Formanleihe, ganz verloren. Ebenfalls im Schwarzen Ton, und noch mit Motivanleihen an den ‚Wartburgkrieg‘, steht das dialogische spekulativ-astronomische Lehrgedicht vom ‚Hort von der Astronomie‘ (entstanden wohl im 14. Jahrhundert; Hal. 12.7). Spätere Erzähltexte in Sangspruchtönen wie z.  B. die Veronica-Legende in Regenbogens Briefweise (RSM 1Regb/1/535; vgl. Lange, Veronica II) lösen sich weiter von der Gattungstradition ab. – Seltener ist die umgekehrte Richtung, dass sangbare Epentöne entliehen werden (Brunner, Epenmelodien), um in ihnen Lieder zu verfassen (z.  B. Bernerton, im Meistergesang als Flammweise Wolfram zugeschrieben, Herzog-ErnstTon, Heunenweise, im Meistergesang als Hönweise ebenfalls unter Wolframs Namen). Gattungsbewusstsein und -verdichtung, Kanonisierung Die oben angestellten (bzw. referierten) Systematisierungsversuche, die Beschreibung der Gattung und ihrer Grenzen sowie deren historischer und systematischer Zerdehnung sind notwendigerweise moderne Zugänge. Eine zeitgenössische – explizite – Terminologie und Systematik gibt es nicht. Ob es ungeachtet dessen ein sich implizit äußerndes mittelalterliches Gattungsempfinden gibt, das insbesondere die Sangspruchdichtung vom Minnesang scheidet, wäre gesondert zu erkunden. Heuristisch zu differenzieren wäre dabei nach Beobachtungen zum produktionsseitigen Umgang mit Gattungskonventionen und nach rezeptionsseitig vorauszusetzenden Gattungserwartungen, die jeweils mehr oder weniger erfüllt, gelenkt, gebrochen oder gar parodiert werden. Gerade der gezielte Bruch mit (aufgerufenen Erwartungen an) Gattungskonventionen spricht dabei eben nicht für einen ‚weichen‘ oder gar nahtlosen Übergang zwischen den Gattungen, sondern für klar umrissene Gattungsvorstellungen, an deren Grenze gearbeitet wird und die, indem sie umspielt wird, bewusst gehalten und als solche erkennbar ist. (Das grundlegende Erkenntnisproblem, dass erst die literaturwissenschaftliche Analyse Konventionen erkennbar macht und diese voneinander abgrenzt, um dann herauszuarbeiten, inwiefern solche Diskurse gegeneinander abgegrenzt sind, ist auch hier nicht aus der Welt zu schaffen; es müssen gewisse Setzungen gelten dürfen, die freilich nicht beliebig sind und die dann als valide gelten können, wenn die Analysen wiederholt zu miteinander zu vereinbarenden Ergebnissen kommen.) Für solche impliziten Gattungssignale ist noch einmal an die obige Gattungsbeschreibung anzuknüpfen. Sie basiert ja auf Textbeobachtungen, die spezifische



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Inhalte und Aussageformen zu Abgrenzungskriterien erheben. Wenn die Sangspruchdichter insbesondere des 13.  Jahrhunderts immer wieder die eigene materielle Not und ihre Abhängigkeit von adligen Gönnern zum Thema machen, dann äußert sich darin ein Gruppenbewusstsein der lohnfordernden Sänger, der gernden, die guot umbe êre nehmen (gehäuft etwa bei Friedrich von Sonnenburg, vgl. besonders Mas. 66–69), ebenso wie in den Geltungskämpfen der Sänger untereinander (Marner gegen Reinmar von Zweter; Rumelant gegen Singauf und Marner; Meißner gegen Marner; [Pseudo-]Frauenlob und Regenbogen usw.), die sich im Rahmen eines Gattungszusammenhangs bewegen. (Auffällig ist, dass schon Walthers vielfältige intertextuelle Bezüge im Minnesang ohne direkte Anreden oder Erwähnungen vonstatten gehen. Einzig der berühmte Nachruf auf Reinmar L. 83,1 und die Invektive gegen Stolle L.  32,11 nennen  – innerhalb von Sangspruchtönen  – Sängerkollegen beim Namen.) Die Rollen­entwürfe des Sänger-Ichs in der Sangspruchdichtung, sei es als Lehrer oder Prediger (Lauer, Sänger-Rollen), sei es als gelehrter „Hofhochschuldozent“ (Hübner), zielen auf soziale wie auf literarische Geltung. Diese Rollen gilt es nicht nur gegen Mitstreiter aus den eigenen Reihen, sondern bisweilen auch nach außen hin zu verteidigen, etwa wenn die Wanderdichter mit ihren geistlichen Morallehren in Konkurrenz zu Wanderpredigern treten (Kästner, Wettstreit). Der Drang zur Selbstbehauptung durch meisterschaft (dazu grundlegend Stackmann, Vorstudien) vereint die Sangspruchdichter in einem ausgeprägten Berufsstandesbewusstsein (Wachinger, Sängerkrieg, S. 309), das als Gattungsbewusstsein zutage tritt, wo sie sich vom Minnesang abgrenzen oder – das schließt sich nicht gegenseitig aus – bewusst an dessen Diskursen partizipieren. Prominentes Beispiel dafür ist die ‚Lehensbitte‘ Walthers an Friedrich II. (L. 28,1): Abgrenzung durch die Selbstthematisierung der Armut und Bedürftigkeit zu Beginn der Strophe und im abschließenden milte-Appell; (erstrebte) Teilhabe durch Minnesangmotivik im Mittelteil (vgl. auch die Strophen L. 27,17 und 27,27). Ein Abgrenzungsbestreben ist punktuell auch von der minnesängerischen Gegenseite zu vernehmen: swer getragener kleider gert, / der ist nit minnesanges wert! (Ulrich von Baumburg SM 28,6: III,13  f.). – Konrad von Würzburg erzielt einen überraschenden Effekt, indem ein minnesangtypischer Natureingang in eine Schelte der geizigen Herren (Schr. 19,1–30) bzw. eine Tugendlehre (ebd. 31,1–38) umkippt; oder Rumelant von Sachsen (Ruw. II,13), wenn er ein Herrscherlob mit Tageliedmotivik eröffnet. Für die Wirkung solcher Effekte ist produktions- wie rezeptionsseitig ein distinktes Gattungsbewusstsein vorauszusetzen (ausführlicher dazu → Kapitel IV.1). Auch auf anderen Ebenen zeigt sich die historische Wahrnehmung eines eigenständigen Gattungsdiskurses: etwa bei den lateinischen Dichtern der ‚Augsburger Cantionessammlung‘ (hg. Callsen), die ihre Texte auf Melodien namentlich genannter deutscher Sangspruchmeister des 13. Jahrhunderts verfassen (vgl. → Kapitel IV.5). – Eine deutliche Sprache spricht auch das redaktionelle Prinzip der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J: Von jenen Lyrikern des 13. Jahrhunderts, die in beiden Gattungen dichteten, überliefert sie nur die Spruchtöne (Ausnahmen sind der Wilde Alexander und, als

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 Der Begriff und seine Geschichte

Nachtrag, Wizlav). Zudem weist sie den Weg zum nicht mehr nach Text-, sondern nach Tonautoren organisierten neuen Überlieferungstypus der Meisterliederhandschriften (vgl. dazu → Kapitel III.3). Seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert ist eine neue Form der Selbstreferentialität der Gattung zu beobachten. Eine wichtige ‚Scharnierfunktion‘ nimmt hierbei insbesondere das um 1260, jedenfalls vor 1289 entstandene ‚Fürstenlob‘ des ‚Wartburgkriegs‘ ein (RSM 1Wartb/1/1; bereits älter ist das ‚Rätselspiel‘, RSM 1Wartb/2/1, ein allegorischer Rätselwettstreit zwischen den Figuren Wolfram und Klingsor). In fortlaufenden Sangspruchstrophen (Brunner, Formgeschichte, S. 64) inszeniert es am Landgrafenhof Hermanns I. von Thüringen einen Lobwettstreit der besten Sänger für den besten Fürsten (Tomasek, Sinnstruktur; Kellner/‌Strohschneider, Geltung; Hal.). Dabei verteidigen Walther von der Vogelweide, der Tugendhafte Schreiber und schließlich auch Wolfram von Eschenbach und Reinmar von Zweter, die als Schiedsrichter eingesetzt sind, den Thüringer Fürsten gegen die Herausforderung Heinrichs von Ofterdingen, der für den Herzog von Österreich eintritt (in einer offenbar interpolierten Passage tritt Biterolf auf und lobt den Grafen von Henneberg); am Ende wird das Urteil aufgeschoben, der Ofterdinger verlangt, dass zu seiner Unterstützung Klingsor von Ungerlant herbeigeholt werden soll (die Figur Klingsors ist wohl in Anlehnung an den Zauberer Clinschor aus Wolframs ‚Parzival‘ konstruiert). – Bemerkenswert ist, wie das ‚Fürstenlob‘ (im Folgenden „FL“) an genuine Sangspruchtopoi anknüpft: Heinrich von Ofterdingen tritt auf und singt in des edeln fürsten don / von Düringenlant (Hal., FL CBd 1,2  f.; es ist der früheste Ansatz zur zeitgenössischen Benennung eines Sangspruchtons), dessen milte er im kollektiven wir – und trotz seiner Sonderstellung im Text als Provokateur – im Namen aller Sänger lobt: der teilt uns ie sin guot / und wir im gotes lon (ebd. 1,3  f.). Damit werden Herrscherlob und Heische als elementare Sang­spruch­the­men aufgenommen, und die guot umbe êre-Formel als topische Selbstbeschreibung der gernden Sänger ist in gesteigerter Form anzitiert. Bemerkenswert ist sodann auch das Figureninventar. Mit Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach werden zwei der berühmtesten Dichter des frühen 13. Jahrhunderts genannt (beide hielten sich wohl tatsächlich am Eisenacher Hof Hermanns  I. von Thüringen auf), in der Inszenierung des ‚Fürstenlobs‘ erscheinen sie gleichzeitig mit dem etwas späteren Tugendhaften Schreiber und Reinmar von Zweter, zudem auf einer Stufe mit dem möglicherweise fiktiven Sänger Heinrich von Ofterdingen und dem sicherlich fiktiven Klingsor (gerade diesen beiden wird in den Handschriften die Töneautorschaft zugeschrieben). In der fiktionalisierten Fehde, die wohl auch an die ‚realen‘ Spruchdichterfehden des 13. Jahrhunderts anknüpft und das bereits dort in konkurrierender Vernetzung sich manifestierende kollektive Berufsstandesbewusstsein reflektiert, ist derart die Gattungsidentität sowie die Geschichtlichkeit der Sangspruchdichtung bewusst gemacht und als solche ausgestellt. So kommt im ‚Wartburgkrieg‘, der als fortlaufender quasi-narrativer Entwurf formal die Gattungsgrenze sprengt (vgl. Hal., S. 111–130), dennoch „die Sangspruchdichtung gleichsam zu sich selbst“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 36).



Sangspruchdichtung als Gattung 

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Das ‚Fürstenlob‘ markiert damit eine wichtige Station auf dem Weg zur historischen (Selbst-)‌Kanonisierung der Gattung, die sich in der Folge zur Zwölfzahl der Alten Meister verdichtet (vgl. dazu Henkel, Alte Meister; Brunner, Alte Meister). Frühestes Zeugnis hierfür ist wohl um 1280 ein Nachruf Hermann Damens (Schl. III,4) auf elf ältere Sänger (die Zwölfzahl ergibt sich, wenn man die Strophe so interpretiert, dass Damen sich selbst einreiht): Reinmar, Walther, Robin, Neidhart, Friedrich von Sonnenburg, Marner, Heinrich von Ofterdingen, Wolfram, Klingsor, Meißner, Konrad von Würzburg. Es fällt auf, dass ein deutlicher Fokus auf den Sangspruchdichtern (Sonnenburg, Marner, Meißner) liegt, vor allem aber, dass der Text mit Walther, Reinmar, Heinrich von Ofterdingen, Wolfram und Klingsor das Personal des ‚Wartburgkriegs‘, insbesondere auch dessen fiktive Sänger nennt und damit die Sängerstreitsage bereits voraussetzt (vgl. → Kapitel II.1). Das setzt sich auch in der Folge fort, die Kontrahenten aus dem ‚Wartburgkrieg‘ gehören zum festen Inventar der Alten Meister, auf die sich folgende Sängergenerationen beziehen und ihr Traditionsbewusstsein aufbauen. Das könnte auch für Frauenlob in seiner sog. Selbstrühmung (GA V,115) gelten, in der er sich ausgerechnet über Reinmar und Wolfram (die Schiedsrichter im ‚Fürstenlob‘) sowie Walther (der dort am Ende den entscheidenden ‚Punktsieg‘ einholt) stellt. In allen späteren Katalogen ist das Figureninventar des ‚Wartburgkriegs‘ fester Bestandteil. Erstmals tatsächlich zwölf Sänger sind bei Lupold Hornburg von Rothenburg (Cramer II, I) aufgeführt, der zudem mit Boppe, Frauenlob, Regenbogen, dem Ehrenboten und Bruder Wernher noch deutlicher die Sangspruchdichtung betont als zuvor Hermann Damen. Ein anonymes Lied in Regenbogens Langem Ton (RSM 1 Regb/4/510) nennt sieben (Sangspruch-)meister des 13. Jahrhunderts, darunter ebenfalls Klingsor und Wolfram. Die Zwölfzahl variiert später in der Besetzung und wird z. T. erheblich erweitert zu ausführlichen ‚Katalogen‘. Immer dabei sind aber Walther, Reinmar (von Zweter, der später Römer von Tzwecker/Zwickau genannt ist), Heinrich von Ofterdingen, Wolfram und Klingsor. Die Zeugnisse sind freilich insgesamt nicht sehr zahlreich: um 1400 Liebe von Giengen (RSM 1Liebe/1/7); sodann die bereits deutlicher in den Singschulbetrieb gehörenden ausführlichen Kataloglieder von Konrad Nachtigall (RSM 1NachtK/5/2) und Hans Folz (RSM 1Folz/82) aus dem 15. Jahrhundert und der Prosa-Dichterkatalog von Valentin Voigt (1558; vgl. Brunner, Dichter ohne Werk); schließlich ein vor Mitte des 16. Jahrhunderts entstandener Siebenerbar (RSM 2 A/277; vgl. Brunner/Rettelbach, Schulkunst), der die Ursprungssage der Meistersingerkunst anfügt, wonach die ersten Meistersinger und ihre Kunst von Kaiser Otto I. privilegiert wurden. Sie begegnet später auch in den Traktaten von Adam Puschman, Cyriacus Spangenberg und Johann Christoph Wagenseil (vgl. → Kapitel II.1). Die Meistersinger (außer in Nürnberg) dichten bis zur Reformationszeit in den echten oder ihnen lediglich zugeschriebenen (‚unechten‘) Tönen der verehrten alten Sangspruch-Meister. Damit stellen sie sich in eine unmittelbare Traditionslinie mit der Sangspruchdichtung, die gewissermaßen im Meistergesang aufgeht (vgl. → Kapitel I.2 und VIII.3–4). Diese Gattungstradition ist freilich in doppelter Weise erfunden. In vielem ahmt der institutionalisierte Meistergesang die fiktionalisierte Wettsingen-

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 Der Begriff und seine Geschichte

Konstellation des ‚Wartburgkriegs‘ nach: Das ‚Fürstenlob‘ ist situiert in einem institutionalisierten Rechtsraum mit Kampfplatz (FL 1,5: in kreizes zil), festen Wettkampfbedingungen (auf Leben und Tod; vgl. FL 2,13–16; 4,14  f.) und Schiedsrichtern (FL 4,1: griezwarten bzw. 4,9: kieser; vgl. Tomasek, Sinnstruktur; Kellner/Strohschneider, Geltung). Würde man davon alles abziehen, was genuin ins 13. Jahrhundert gehört – die Situierung im höfischen Umfeld, den milte- und Adelsdiskurs, die durchscheinende existentielle Sängerpolemik  –, und würde man ferner den Begriff griezwart bzw. kieser durch merker ersetzen (wie es bereits in späteren ‚Wartburgkrieg‘-Dichtungen geschieht, vgl. Runow, Wartburgkrieg, S. 157  f.), dann hätte man in Ansätzen bereits eine Beschreibung des späteren städtischen Singschul-Betriebs, der Situation nämlich des geregelten Wettsingens vor Publikum und Gemerk. – Das Sinnangebot, das die Selbstkanonisierung der Gattung Sangspruchdichtung im ‚Wartburgkrieg‘ birgt, reichte den Meistersingern aber nicht aus, sie mussten diese bereits literarisierte Traditionslinie durch eine neue Fiktion in die fernere Vergangenheit hinein verlängern. Über die Gründe wird man nur spekulieren können. Der höfische milte-Diskurs und das Lohnheischen der von adligen Gönnern abhängigen Dichter mag nicht ins Bild der städtischen Sängerdilettanten gepasst haben. Demgegenüber dürfte die Vorstellung von den durch Kaiser Otto I. persönlich als gottesfürchtigen Männer privilegierten Begründern durchaus dazu beigetragen haben, der Sangeskunst höhere Geltung zu verschaffen. Bei aller – empfundenen, behaupteten und tatsächlichen – „Kontinuität der Doppelgattung“ Sangspruchdichtung und Meistergesang (Rettelbach, Bilanz, S.  193) sind sozialgeschichtlich-pragmatisch-institutionell und poetologisch deutliche Einschnitte in der Gattungsgeschichte markiert (fahrende Berufsdichter vs. dichtende Handwerker; Aufführungssituation und Publikum: Hof vs. Stadt; Barbildung; Tönegebrauch). Meistergesang ist nicht mehr Sangspruchdichtung, aber gerade durch die (vermeintlich) traditionsbezogene Wahrnehmung und Kanonisierung der Vorgängergattung ist auch diese noch einmal schärfer konturiert und genauer in ihrer eigenen Gattungshaftigkeit zu fassen. Ausg. Callsen (Hg.), Augsburger Cantiones-Sammlung; Cramer; GA; Goethe, West-oestlicher Divan; Hal.; L.; Mas.; MF; Nolte/Schupp (Hg.), Sangspruchdichtung; Roe.; Ruw.; Schr.; Simrock, Gedichte Walthers; SM; Sps.; Stmn.; Whm.; Wilmanns/Michaels (Hg.), Walther; WKL; Wms.  – Lit. Baldzuhn, Sangspruch; Baldzuhn, Schulbücher; Brem, Gattungsinterferenzen; Brunner, Alte Meister; Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Epenmelodien; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Reinmar von Zweter; Brunnner/Rettelbach, Schulkunst; Burkard, Sangspruchdichter; Cramer, Lohengrin; Egidi, Liebe; Egidi, Minnelied; Euling, Priamel; Grubmüller, Gattungskonstitution; Henkel, Alte Meister; Hübner, Hofhochschuldozenten; Jauss, Theorie; Kästner, Wettstreit; Kellner/Strohschneider, Geltung; Kern, P., Reichston; Krause, „milte“-Thematik; Lange, Veronica II; Lauer, C., Sänger-Rollen; Lieb, Modulationen; Maurer, Politische Lieder; Moser (Hg.), Spruchdichtung; Moser, Lied; Müller, U., Beschreibungsmodell; Müller, U., Untersuchungen; Ragotzky, milte; Rathay, Unterschied; Rettelbach, Bilanz; Rosmer, Geistliche Meisterlieder; Rosmer, Tradition; RSM; Ruh, Spruchdichtung; Runow, Vergessene Lyrik?; Runow, Wartburgkrieg?; Runow/Wenzel, Spruch; Schanze, Liedkunst; Schneider, H., Spruchdichtung; Stackmann, Vor-



Abgrenzungen: Sangspruch und Meistergesang, Sangspruch und Reimsprecherkunst 

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studien; Tervooren, Einzelstrophe; Tervooren, Forschungsbericht; Tervooren, Sangspruchdichtung; Theben, Mystische Lyrik; Tomasek, Rätsel; Tomasek, Sangspruch; Tomasek, Sinnstruktur; Viehhauser, Treueproben; Wachinger, Sängerkrieg; Wenzel, F., Meisterschaft; Willms, Liebesleid; Wilmanns, Leben.

2 Abgrenzungen: Sangspruch und Meistergesang, Sangspruch und Reimsprecherkunst

Johannes Rettelbach

Sangspruchdichtung und Meistergesang Meister, das lat. magister entspricht, ist in mittelhochdeutscher Zeit eine reguläre Bezeichnung für den Künstler. In der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C (‚Codex Manesse‘) heißen die meisten nichtadeligen Dichter meister, von meistern sprechen auch die Sangspruchdichter untereinander. Auch der Begriff singer wird für Dichter gebraucht (vgl. BMZ II/2, Sp. 302). Später kommen die Begriffe singermeister und meistersenger/-singer hinzu, sie bezeichnen denselben Personenkreis; rühmend spricht man von alten meistern. [M]eistersanc erscheint erstmals bei Hermann Damen (Schl. III,3) um 1300. Die Einschränkung des Begriffs ‚Meistergesang‘ auf organisierte Bruderschaften des 15. bis 18.  Jahrhunderts entspricht modernem Terminologiegebrauch. ‚Sangspruch‘ ist ein von Hermann Schneider eingeführter Terminus (RLG, Bd. 1, S. 287–289), der den von Karl Simrock (in seiner Übersetzung der Gedichte Walthers von der Vogelweide) 1833 etablierten Gattungsbegriff ‚Spruch‘ präzisierte. In älterer Literatur, zum Teil bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurden die Begriffe ‚Sangspruch‘ und ‚Spruch‘ für Autoren bis Frauenlob gebraucht, bei Autoren in späterer Zeit wurde von Meistersingern gesprochen. Mittlerweile ist es üblich geworden, zur klaren Unterscheidung vom institutionalisierten Meistergesang die Lied­kunst professioneller Sänger bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, d.  h. bis zu Michel Beheim, ebenfalls unter den Begriffen ‚Sangspruch(dichtung)‘ oder ‚Spruchsang‘ zu subsumieren und das anonyme Gut in den einschlägigen Handschriften des 15. Jahrhunderts als ‚anonymes meisterliches Lied‘ zu bezeichnen. Kennzeichnend für den Meistergesang des 16. und 17.  Jahrhunderts sind insbesondere religiöse (vorwiegend biblische), moralisch-lehrhafte, historische und erzählende Themen, darunter Fabeln, Schwänke, Historien, fast immer ohne ausdrücklichen Ich-Bezug, in eigenen oder einer Vielzahl von übernommenen Tönen, die in Baren, mehrstrophigen Texten ungerader Strophenzahl, versifiziert wurden. Die Kunst wurde als Freizeitbeschäftigung vorwiegend von Handwerkern im städtischen Raum ausgeübt, im Wettbewerb nach festgeschriebenen Regeln. Die Singer waren in Gesellschaften bzw. Bruderschaften organisiert. Die spätestens seit dem frühen 16. Jahrhundert in den sog. Tabulaturen kodifizierten Regeln bezogen sich zum Teil auf die Struktur der Töne: Sie hatten prinzipiell der Kanzonenform oder (mit dem

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 Der Begriff und seine Geschichte

in der Musikwissenschaft verbreiteten Begriff) Barform (AAB) zu entsprechen. Töne mussten entweder durch altes Herkommen oder bei Neuerfindung durch öffentliche ‚Bewährung‘ (Anerkennung) vor den Mitsingern zugelassen sein. Melodie und Tonschema standen fest und sind stets mit dem Namen des tatsächlichen oder angenommenen Tonerfinders und mit einem Eigennamen bezeichnet (z.  B. Walther von der Vogelweide, Feiner Ton; Georg Hager, Spitzige Trinkschuhweise). Dies ermöglichte bei melodieloser Aufzeichnung die Verständigung über die zugehörige Weise. Die regelmäßigen Konzertveranstaltungen hießen Singschulen. Den Kern bildete ein öffentliches Hauptsingen, bei dem nur geistliche Texte gesungen werden durften. Die näher bekannten Gesellschaften ließen ein Zechsingen im internen Kreis der Singer folgen. Für Nürnberg ist auch ein öffentliches weltliches Singen, das Freisingen, vor dem Hauptsingen bezeugt. Etwa 12.500 Bare sind überliefert, die meisten davon wurden von wenigen vielschreibenden Autoren verfasst: Mehr als 4280 stammen allein von Hans Sachs, gut 1350 von Ambrosius Metzger (erhalten ist weniger als die Hälfte der nach eigener Angabe von ihm verfassten), beinahe 1000 von Benedict von Watt, etwa je 600 von Georg Hager und Hans Deisinger (alle Nürnberger Meister), mehr als 300 von Valentin Voigt (Magdeburg) und Johann Spreng (Augsburg). Die Singer trugen meistens Texte anderer Autoren vor, verantworteten jedoch im Wettbewerb auch die Fehler des Autors. Singergesellschaften gab es im 16./17. Jahrhundert in Augsburg, Breslau, Colmar, Freiburg, Iglau, Nürnberg, Steyr, Straßburg, Ulm und einigen weiteren Städten; am längsten bestand die Gesellschaft in Memmingen (bis 1875). Alle bis auf Freiburg waren protestantisch ausgerichtet. Die frühen Gesellschaften im 15. Jahrhundert lassen sich nicht so präzise fassen, insbesondere ist kein gesicherter Beginn des Singschulwesens zu belegen. Doch gab es bereits feste Organisationsformen; unstreitig sind der Wettbewerbscharakter der Veranstaltungen mit Preisverleihung und die freizeitmäßige Ausübung durch städtische Handwerker. Gesichert sind frühe Schulen in Augsburg, Frankfurt am Main, Mainz, München, Nürnberg und Donauwörth. Die Themen waren beinahe ausnahmslos geistlich mit stark marianischer Betonung; außerdem gab es metapoetische Texte, sogenannte ‚Schulkünste‘. Die Meistersinger gründen auf Traditionen der Sangspruchdichtung, grenzen sich jedoch durch zahlreiche Merkmale von diesen ab. Kennzeichen der Sangspruch­ dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts sind inhaltlich lehrhafte, politische und religiöse Themen und autodiegetisch gefasste Beschreibungen der Fahrendenrolle sowie Heische. Die Autoren waren fahrende Berufsdichter im zeitweiligen Herrendienst. Im Rahmen einer begrenzten Anzahl eigener Töne ist in der Regel jede Strophe eines Tons inhaltlich selbständig (Prinzip der Einstrophigkeit). Die frühesten Töne bis einschließlich Walther von der Vogelweide sind formal zweiteilig. Seit Walther gilt ausschließlich die Kanzonenform. Diese Form sowie der Weitergebrauch einzelner Strophenformen des 13. bis 15. Jahrhunderts bis in die Spätzeit des Meistergesangs, daneben der nahezu komplette Ausschluss von subjektiver Minne- bzw. Liebesthematik sind die verbindenden Elemente zwischen Sangspruchdichtung und Meistergesang.



Abgrenzungen: Sangspruch und Meistergesang, Sangspruch und Reimsprecherkunst 

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Zwischen 1300 und 1500 gab es Ä n d e r u n g e n in der Metrik, der Strophenverknüpfung, der Fremdverwendung von Tönen, der Soziologie von Autoren und Publikum, ferner in den Inhalten. Sie werden hier nur angedeutet, Einzelheiten beschreiben die einschlägigen Kapitel: M e t r i k. Die Texte der Frühzeit waren wägend-taktierend zu lesen und wohl auch zu singen und wandelten sich über eine alternierende Zwischenstufe zu einem silbenzählenden Metrum, in dem Verse mit gerader Silbenzahl männliche Kadenzen, solche mit ungerader Silbenzahl weibliche Kadenzen bildeten. S t r o p h e n v e r k n ü p f u n g . Bereits in der Frühzeit wurden oft inhaltlich verwandte Strophen demselben Ton zugeordnet, ferner gab es etwa formale Klammern wie die Anaphern im Reichston Walthers von der Vogelweide: Ich saz …, Ich hôrte …, Ich sah … Doch sind die Strophen einzeln verständlich. Das ist gelegentlich anders bei Strophenpaaren, die etwa aus Exempel und Auslegung bestehen. Sangspruchartige Töne wurden um 1300 für Geistliches gelegentlich zu exklusiven Baren verknüpft (z.  B. Hawart KLD 19,I,1–3; Reinolt von der Lippe HMS III,18: I,1–3 u. II,1–3). Konrads von Würzburg Töne XIX und XXIII (Schr. 19,1.11.21 u. 23,1.21.41, RSM 1KonrW/2/1–3 und /3/1–3) sind weltliche Bare. Pseudo-Frauenlobs Überzarter Ton von 1323 (Bartsch, Meisterlieder, Nr. 1, RSM 1Frau/31/1–3a) bindet die Strophen zusätzlich durch zweimal vier gleiche Reimklänge im Abgesang. Spätestens seit Heinrich von Mügeln setzte sich das mehrstrophige Prinzip durch. Er dichtete Bare oder lange, eng zusammengehörige Strophenketten im gleichen Ton. Im Hof- oder Kurzen Ton wird das neue Prinzip durch einen abschließenden Kornreim unterstrichen, die Strophenenden binden also jeweils mehrere Strophen auch formal zusammen. D i c h t e n i n ü b e r n o m m e n e n T ö n e n . Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts galt im Normalfall, dass jeder Meister seine eigenen Töne verwendete. Doch gab es Ausnahmen; insbesondere wurde die unter Stolles Namen tradierte Alment bereits früh von sechs weiteren Dichtern gebraucht. Daneben gab es Polemik gegen Konkurrenten unter Verwendung von deren Tönen. Seit dem 14. Jahrhundert kam es vermehrt zum Weiterdichten in präexistenten Tönen, z.  B. im Schülerkreis Frauenlobs. Im 15. Jahrhundert – in Kreisen der Meistersinger – wurden zahlreiche ältere Einzelstrophen zu Baren zusammengeschlossen und/oder durch neu gedichtete Strophen ergänzt. Die meisten professionellen Dichter erfanden aber weiter ihre eigenen Töne, so lehnte etwa Michel Beheim das Dichten in fremden Tönen ausdrücklich ab. Dass es im 13./14. Jahrhundert bereits Berufssänger gab, die regelmäßig auch übernommene Texte sangen, lässt sich nicht belegen. A u t o r e n u n d P u b l i k u m . Neben den fahrenden Berufssängern der höfischen Spruchdichtung dichteten gelegentlich auch adlige Dilettanten (z.  B. Johann von Ringgenberg), doch das wurde nicht zur Regel. Der Schulmeister von Esslingen heißt möglicherweise nach seinem Hauptberuf. Nach der Mitte des 14. Jahrhunderts änderte sich die soziale Gruppierung von Autoren und Publikum deutlich. Suchensinn war Fahrender, nicht nur vom bayrischen Herzog, sondern auch vom Nürnberger Rat sind Geldgaben belegt. Um etwa 1400 wirkten Albrecht Lesch, Stadtbürger in München

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 Der Begriff und seine Geschichte

und vermutlich Handwerker, und Fritz Kettner in Nürnberg, der soldner (wohl Inhaber eines städtischen Amtes) war und von Hans Sachs bereits in die Geschichte des Meistergesangs eingeordnet wurde. Muskatblut, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts am Mainzer Bischofshof fest installiert, wurde auch vom Nördlinger, Regensburger und Nürnberger Rat bedacht. Ab etwa 1430 werden anonyme Spruchlieder in zahlreichen Handschriften greifbar; sie dürften weitgehend städtischen Ursprungs sein. Die Dichter verwendeten vorhandene Töne und stockten – wie erwähnt – nicht selten alte Einzelstrophen zu Baren auf. In Schulkünsten ist eine differenzierte Terminologie zu Vorschriften und Fehlern belegt, ferner findet man nun häufiger Aufforderungen zu Gesang im Wettbewerb. Die Lebensdaten der von Hans Sachs in einer Schulkunst von 1527 (Nagel, B. [Hg.], Meisterlieder, S. 105–107, RSM 2S/187) genannten Alten Meister der Nürnberger Gesellschaft sichern deren Bestehen bereits für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts; bereits vor 1460 polemisiert Hans Folz in mehreren Liedern gegen die Einschränkung des Tönerepertoires auf die Alten Meister. In der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k (um 1460) waren zwar auch Nachmeister, also jüngere Sangspruchdichter nach den Zwölf alten Meistern, zugelassen, doch wurden drei Namen von Zeitgenossen unterschlagen: Fritz Kettners Osterweise wurde Frauenlob unter dem verdächtigen Namen Verhohlener Ton unterschoben, beim Unerkannten Ton Nestlers von Speyer wurde der Autorname verschwiegen, und der Sanfte Ton Konrad Nachtigalls wurde unter Liebe von Giengen geführt (Brunner, Alte Meister, S. 79–83). Ohne regulierende Singergesellschaften im Hintergrund ist die Anwendung einschränkender Regeln und ihre getarnte Verletzung, wie sie die Anlage der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ dokumentiert, nicht gut denkbar. I n h a l t e . Themen und Art der Behandlung veränderten sich kontinuierlich im Verlauf der Gattungsgeschichte. Späte Sangspruchdichtung und frühes Meisterlied können nur in wenigen Teilbereichen inhaltlich unterschieden werden. Erst im nachreformatorischen Meistergesang kommt es zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung durch die reformatorische Zielsetzung der geistlichen Themen und durch erhebliche Zunahme weltlicher Erzählungen unterschiedlicher Art. In älterer Forschung firmieren unter der Bezeichnung ‚Meistersinger‘ zu Unrecht auch Verfasser von geistlichen, lehrhaften, Liebes- und politischen Ereignisliedern des Spätmittelalters, deren Strophenformen den genannten Bedingungen von Sangspruchdichtung und Meistergesang nicht entsprechen. Als Beispiele für höchst unterschiedliche Sparten seien Oswald von Wolkenstein, Heinrich Laufenberg und Jörg Graff genannt. Der Mönch von Salzburg, Verfasser von Liebes- und geistlichen Liedern, gewiss weder Spruchdichter noch Meistersinger, gelangte mit einem Teil seines geistlichen Werks in die Meisterliedtradition. Einige seiner Töne wurden im Meistergesang rezipiert.



Abgrenzungen: Sangspruch und Meistergesang, Sangspruch und Reimsprecherkunst 

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Sangspruchdichtung und Reimsprecherkunst Mhd. rede ist ein Allgemeinbegriff, der sowohl erzählende als auch argumentierende Texte bezeichnen kann. Als Fachbegriff der Germanistik hat er sich inzwischen für letztere etabliert. Neben religiösen Texten und Tugendlehre steht als besondere und in sich weitverzweigte Form die Minnerede. Die Unterscheidung von Sangspruch und Reimpaardichtung ist problemlos, da sie allein an der äußeren Form festgemacht werden kann. Wissenschaftsgeschichtlich wurden Sangspruch und kürzere Reimpaardichtungen dennoch lange Zeit nahezu gleichgesetzt. Die Begriffe Spruchdichter oder sogar Meistersinger konnten sowohl für Sangspruchdichter als auch für Erfinder von kürzeren paargereimten Werken unterschiedlichster Art gebraucht werden. Die Summe der kürzeren Paarreimtexte geistlichen, lehrhaften und politischen Inhalts fasst man heute unter dem Begriff ‚Rede‘ (was nicht der weiten Wortbedeutung von mhd. rede entspricht) zusammen und stellt sie den überwiegend erzählenden Gattungen Märe und Fabel, die allenfalls eine kurze Lehre formulieren, gegenüber. Doch gestaltet sich der Übergang der Bereiche fließend, da auch die lehrhafte Dichtung bîspel aufnehmen kann. Die Form der gesamten Reimpaardichtung ist im 13. Jahrhundert der vierhebige Reimpaarvers mit männlicher oder klingender Kadenz, zu Ende des 15. Jahrhunderts der männliche Acht- und weibliche Neunsilbler des strengen Knittelverses oder der freie vierhebige Knittelvers. In der Zwischenzeit gibt es unterschiedliche Übergangsformen, die sich alle auch in der Gattung ‚Rede‘ niederschlagen. Die Begründung dieser Gattung darf man dem Stricker zuschreiben oder jedenfalls an den Beginn des 13. Jahrhunderts setzen. Der Stricker dichtete Reden neben seinem umfangreicheren Werk an erzählender Kleinliteratur. Anders geprägt ist die oft sprichwortartig konzentrierte Kunst des vagus Freidank. Die Sprüche über König und Adel (Bezzenberger 69,21  ff.) sind keine spezielle Fürstenlehre. Kritik wird an ihnen wie an der Kurie, an Ärzten, an Geizigen und Wucherern geübt. Das Lob der milte (86,10  ff) erinnert an deren Hervorhebung in der Sangspruchdichtung. Heinrich der Teichner wirkte in und nach der Mitte des 14. Jahrhunderts in Österreich. Die Teichner-Reden knüpfen weniger an Freidank an, der eine eigene, in der Überlieferung sich ausweitende Rezeption erfuhr, sondern an das lehrhafte Werk des Strickers. In Einzelfällen übernahm er längere Zitate aus dessen Reden. Der Teichner betrieb Laienunterweisung im genus humilis, wobei man geistliche Gedichte, weltliche Didaxe, politisch-didaktische Reden und einige wenige Minnereden unterscheiden kann. Er gibt Anweisungen für Ritter, für Kaufleute, für Handwerker, er kritisiert und verteidigt die Bauern, spricht über Ehestand und Mönchtum. Sein Verhältnis zur Sangspruchdichtung klärt er in Rede 440 (Niewöhner): Aristoteles oder seinesgleichen hätten niemals gesungen, ja nicht einmal reim oder silb (Metrum) gebraucht und seien doch Meister gewesen, ja, Gott habe mit Worten sunder sang die Welt geschaffen. Doch gesteht er der Melodie zu, als Gewürz die Speise der Worte angenehmer zu machen. So unterläuft er die Argumentation der Sänger, die im Lob ihrer Kunst

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 Der Begriff und seine Geschichte

sich stets nur von der reinen Instrumentalmusik abgrenzen (erstmals Der Unverzagte C.-W. II,1). Für die Tradition – auch der nachfolgenden Sangspruchdichtung – setzte der Teichner Zeichen mit seiner Namenssignatur im Schlussvers: also sprach der Teychnär. Wirkmächtig bis ins 16. Jahrhundert wurde auch die häufige Eingangsformel: Ainer fragt mich der mär … mit zahlreichen Varianten. Peter Suchenwirt führte das thematische Arsenal des Teichners fort, neu bei ihm sind die 22 panegyrischen Totenklagen und Preisreden (zusammenfassend ‚Ehrenreden‘) auf Adlige – bis dahin war dieses Thema der Sangspruchdichtung vorbehalten – mit teils umfangreicher Wappenblasonierung. Die Ehrenreden lassen eine Datierung der Schaffenszeit zwischen 1347/49 und 1395 zu. Suchenwirt, der wohl anfangs Fahrender war, lebte später in Wien als verheirateter Hausbesitzer. Einen großen Anteil an den überlieferten Reden haben die Minnereden. Von den etwa 600 Texten ist der weit überwiegende Teil anonym. Die Tradition reicht in die Zeit um 1200 zurück und ist am deutlichsten von allen Reden, aber nicht ausschließlich, an die höfische Welt gebunden. Die „weltliche, zwischengeschlechtliche Liebe“ wird in Allegorien und Personifikationen, Streitgesprächen, „in monologischer Reflexion, Bekenntnis, Klage, Preis, […] Ermahnung, Lehre […] diskursiv verhandelt“ (Klingner/ Lieb, Minnereden, Bd. 2, S. 4  f.). Die Reimsprecherkunst in den Städten, die im hochdeutschen Sprachraum bei Kleinmeistern seit dem Ende des 14. Jahrhunderts blühte, brachte mit Hans Rosenplüt einen ersten bedeutenden Nürnberger Handwerkerautor hervor († wahrscheinlich 1460). Er verfasste nicht nur geistliche, didaktische und Lobreden, sondern auch Mären, Lieder und Fastnachtsspiele. Besonders auffällig ist seine umfangreiche Priameldichtung (der Name ist nicht sicher geklärt), die er als Gattung begründete. Als stilistische Besonderheit waren priamelartige Strukturen seit der Antike und auch in der Sangspruchdichtung (z.  B. Spervogel [II] MF 20,9 u. 21,13) bekannt. Die brauchtümlichen Klopfansprüche verbinden sein Werk mit dem von Hans Folz († 1513), bei dem man ein gleichwertiges Nebeneinander von Reimpaargedicht und Meisterlied findet. Seine Werke in Reimpaarversen sind zum größeren Teil Mären, seine Reden kümmern sich um unterschiedlichste praktische Bereiche des städtischen Lebens. Ein Großteil der Spruchsprecher des 15. und 16.  Jahrhunderts war im kulturellen Leben der städtischen Mittel- und Unterschichten verwurzelt. Ihre Texte sind mit Sicherheit weitgehend verloren; viele waren überhaupt nur ad hoc verfasst. Die Spruchsprecher belebten Feiern, gingen in den Klöpfelnächten (um Weihnachten) von Haus zu Haus, um situationsbezogene selbstgedichtete oder übernommene Klopfansprüchlein aufzusagen und in der Faschingszeit passende grobianische Texte im Wirtshaus. Sie sorgten als Hochzeitslader auch für den Festverlauf selbst. Die frühen Reimpaarschwänke von Hans Sachs nehmen das städtische Brauchtum auf, seine allegorischen Reden und seine Streitgedichte knüpfen an die schriftliterarischen Traditionen an. Eine Personalunion von Spruchsprecher und Sangspruchdichter ist nur in Ausnahmefällen überliefert. Zilies von Sayn vom Ende des 13. Jahrhundert hinterließ in



Abgrenzungen: Sangspruch und Meistergesang, Sangspruch und Reimsprecherkunst 

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der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J zwei Töne mit insgesamt sechs Strophen, die um Hof, Ehre und milte kreisen. Ihm wurden gelegentlich, doch ohne ausreichenden Grund, einige anonyme Preissprüche zugesprochen (Klingner/Lieb, Minnereden, B467, B468, B483, B484). Lupold Hornburg von Rothenburg ist als erster bekannter Vertreter beider Sparten zu nennen. Zwei seiner drei Reden stammen aus den Jahren 1347 und 1348. Das war wohl sein eigentliches Metier. Doch unternahm er einen Ausflug in die Sangspruchdichtung (Cramer II, Lupold Hornburg I,1–3), um zwölf frühe bedeutende Meister dieser Kunst zu ehren. Die drei Strophen zeugen zumindest von guter Kenntnis der Nachbarkunst. Genau umgekehrt liegt der Fall bei Suchensinn. Er übernahm aus dem Gebiet der Minnereden wesentliche Elemente für seine 24 Bare (s.  u.). Doch ist ein paargereimtes Gespräch zwischen wib und maget in der ‚Liedersaal-Handschrift‘ (Karls­ruhe, Bad. LB, Cod. Donaueschingen 104) überliefert (Klingner/Lieb, Minnereden, B416). Für Konrad Harder, vielleicht einem Münchner Bäckermeister aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, ist außer einigen vorwiegend geistlichen Baren eine Minnerede (ebd., B464) bezeugt. Zwischen der Sangspruchdichtung bis zur ersten Hälfte des 14.  Jahrhunderts und der frühen Redentradition sind die Differenzen der Darstellung trotz teilweise thematischer Überschneidung deutlich, was nicht ausschließlich mit der Kürze der in sich geschlossenen Spruchstrophen im Vergleich zur beinahe beliebigen Länge der Reimpaartexte zusammenhängt. Dies änderte sich mit der Durchsetzung der Mehrstrophigkeit im Sangspruch. Schon diese könnte, wenn nicht initiiert, so doch durch die neue Konkurrenz forciert sein. Wie an Suchensinn deutlich zu sehen, nähern sich aber auch die Inhalte in Teilbereichen an. Mit Sicherheit ist die Schlusssignatur mit dem Autornamen, wie sie nach der Mitte des 14. Jahrhunderts üblich wird, als Anleihe aus der Nachbargattung zu verstehen. Autoren wie Suchensinn, Muskatblut und spätere übernahmen aber auch häufig das Rollen-Ich, die Gesprächssituation, die allegorische Einkleidung und die thematische Ausrichtung aus der RedenLiteratur. Michel Beheim produzierte erstmals einige Texte, die alternativ als Reden oder Lieder gebraucht werden konnten. Seine Angstweise besteht aus zwei achtsilbigen und einem siebensilbigen Reimpaar. Beheim dichtete in dieser Form drei chronikalische Werke (Gille/Spr. 453, RSM 1Beh/454 u. 455), deren längstes 2169 Strophen umfasst. Ausdrücklich wies er auf die zweifache Nutzungsmöglichkeit hin, das man es lesen mag als ainen spruch oder singen als ain liet (Überschrift zu RSM 1Beh/453 u. 454a). Ähnliches unternahm Hans Folz, wenn er eine anonym überlieferte Minne­ rede mehrfach bearbeitete, aber auch zu einem Meisterlied (Mayer Nr.  97) formte (vgl. Klingner, Minnereden im Druck, S. 76–89). Hans Folz und Hans Sachs folgten Beheim auch mit der Erfindung längerer Spruchweisen nach. Bei Sachs gibt es schließlich vielfach inhaltlich gleiche Texte sowohl als Meisterlieder wie als Reimsprüche.

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Ausg. Bartsch (Hg.), Meisterlieder; Cramer; C.-W.; Freidank; Gille/Spr.; Heinrich der Teichner, Gedichte; HMS; KLD; MF; Nagel, B. (Hg.), Meisterlieder; Schl.; Schr. – Lit. Baldzuhn, Sangspruch; Brinker-von der Heyde, Suchenwirt; Brunner, Alte Meister; Brunner, Meistergesang (b); Dicke, Priamel; Glier, Reimpaargedichte; Glier, Rosenplüt; Glier, Teichner; Janota, Folz; Kiepe, Priameldichtung; Kiepe-Willms, Muskatblut; Klingner, Minnereden im Druck; Klingner/Lieb, Minnereden; Lämmert, Reimsprecherkunst; Reichel, Rosenplüt; Rettelbach, Skizze; Rettelbach, Variation; Schanze, Harder; Schanze, Lesch; Schanze, Liedkunst; Schanze, Suchensinn; Stackmann, Meisterliches Lied; Ziegeler, Rede.

II Forschungs- und Editionsgeschichte 1 Forschungsgeschichte

Jens Haustein

Im Folgenden wird ‚Forschungsgeschichte‘ nicht nur in dem Sinne verstanden, der einen mehr oder weniger analytischen, mehr oder weniger institutionalisierten Blick von außen auf ein bestimmtes wissenschaftlich zu erkundendes Phänomen voraussetzt. Die ‚Forschungsgeschichte‘ zur Sangspruch­dichtung und zum Meistergesang beginnt hier daher nicht erst mit den professionalisierten Germanisten des frühen 19. Jahrhunderts und ihren bekannten semi-professionellen Vorgängern im 18.  Jahrhundert, sondern wird auch als der Versuch von Autoren verstanden, der eigenen literarischen Produktion ein mythisch-historisches Fundament zu verschaffen. Im Weiteren lassen sich Forschungs- und Editionsgeschichte deshalb nicht immer trennscharf sondern, weil gerade in der Erforschung der Sangspruchdichtung häufiger Editor und Literarhistoriker in einer Person begegnen. Vollständigkeit war, was die Beteiligten der Forschungsgeschichte oder die Texteditionen anbelangt, weder angestrebt noch erreichbar.

Frühe Forschungsgeschichte Den Übergang von einem pietätvollen oder aber agonalen Blick auf  – mehr oder weniger zahlreiche – literarische Vorgänger, wie er seit dem 13. Jahrhundert in der Sangspruchdichtung immer wieder begegnet, hin zu einer quasi mythisch-histo­ rischen Konstruktion stellt die Einführung der bedeutungshaltigen Zwölfzahl dar: Zwölf alte Meister haben – in unterschiedlicher Zusammensetzung, aber mit zunehmender Konzentration auf die bedeutenderen Sangspruchautoren des 13. Jahrhunderts – die Kunst begründet (Taylor, A./Ellis, Bibliography, S. 50–52; Taylor, A., Literary History, S. 36–44, 79–81; Brunner, Alte Meister, S. 12–31). Auf der Grenze einer agonalen und einer quasi-historischen Betrachtung liegt Hermann Damens um 1280 entstandene Katalogstrophe (Schl. III,4): Sie listet einige tote Meister auf (Heinrich von Ofterdingen, den Marner, Walther von der Vogelweide u.  a.), dann auch zwei ‚literarische‘ Meister aus dem ‚Wartburgkrieg‘ (Wolfram und Klingsor), abschließend noch zwei lebende Dichter (den Meißner und Konrad von Würzburg). Zählt man die Namen zusammen, kommt man auf elf. Der Witz der Strophe, so Henkel, liegt darin, dass man den Autor als zwölften hinzuziehen soll bzw. muss. – Gewissermaßen aus der Außenperspektive und kurz vor 1350 sind Lupold Hornburgs drei Strophen in Marners Langem Ton verfasst (Willms/Kiepe [Hg.], Gedichte 1300–1500, S. 86–88; Henkel, Alte Meister): Strophe 2 stellt ein Lob auf den auch in den zwei anderen Strophen besonders gerühmten Reinmar von Zweter dar, Strophe 1 und 3 listen die Zwölf alten Meister auf. Chronologisch beginnen sie beide bei Walther und enden unter Einschluss des (in seiner Existenz letztlich nicht gesicherten) Ehrenboten bei Regenbogen und Frauenlob, inhaltlich heben sie die literarische Meisterschaft der Gelobten hervor, ohne spezifisch zu werden.  – Die Konzentration auf das 13.  Jahrhttps://doi.org/10.1515/9783110351897-002

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hundert und die Zwölfzahl wird zum Beispiel von Konrad Nachtigall und Hans Folz aufgebrochen: Zwar listen auch sie die Zwölf alten Meister noch auf (Mayer Nr. 94), verbinden diese aber mit den anderen Autoren des ‚Fürstenlobs‘ (Klingsor; Wolfram und Heinrich von Ofterdingen kamen schon vorher vor), aber eben auch mit Meister­ singern ihrer eigenen Gegenwart: Nun seint junger seider komen, […] Die al vil hoher strebten (Nr. 94, Str. 4,100–103). Neben und nach Nachtigall und Folz entstehen zahlreiche andere Listen, die sich gelegentlich noch an der Zwölfzahl orientieren, in der Regel aber die Prominenz der Zwölf alten Meister für eine von Singschule zu Singschule auch variierende Auflistung bekannter, zumeist verstorbener Meistersinger nutzen. Häufig verbindet sich der lobende Rückblick auf die Geschichte der Dichtung mit anderen Themen. Ein instruktives Beispiel liefert hierfür schon kurz vor Folz der Nürnberger Konrad Nachtigall, der 80 Namen von Sangspruchautoren und Meistersingern auflistet (und sich selbst als 81. Dichter nennt) und diese Liste gebetartig in die Überzeugung ausklingen lässt, dass selbst alle diese Meister nicht das Lob der Gottesmutter hätten vollenden können (Ausgabe der Kataloge von Nachtigall, Folz und Voigt in Brunner, Dichter ohne Werk, S. 14–31). Zu einer kleinen ‚Meistererzählung‘ wird die Katalogrevue dann, wenn sie mit der eigenen ‚Ursprungssage‘ verbunden wird. Wann und wo die Sage entstanden ist, ist ungewiss. Folz scheint sie noch nicht gekannt zu haben, der erste sicher datierbare Beleg stammt aus einer Supplikation der Augsburger Meistersinger an den dortigen Rat; in Augsburg könnte die dann im 15. und 16. Jahrhundert vielfach modifizierend aufgegriffene Sage entstanden sein (Brunner/Rettelbach, Schulkunst). Ihre Funktion wird man wohl vor allem darin sehen können, dem eigenen Tun eine historische Dimension und damit Würde in einer den Meistersingern gelegentlich kritischen, städtischen Umgebung zu geben: Die Kunst der Meistersinger hat einen von den höchsten Autoritäten, Kaiser und Papst, privilegierten Ursprung, der sie über die Zeiten hinweg adelt und der seinen sinnfälligen Ausdruck in der Verleihung einer Krone an den besten Meistersinger findet – so auch Adam Puschman (1532–1600) in seinem ‚Gründlichen Bericht des deutschen Meistergesanges‘ von 1571, der eigentlich eine Tabulatur darstellt: Und ist diese Kunst sonderlich lieb und wert zu halten, darumb, Das sie anfangs, Adelicher hoher ankunfft ist […]. Und sind nemlich der ersten Meister dieser Kunst, an der zal Zwölffe gewesen […]. Diese Zwölff Menner, hat Keyser Otto, diß Namens der erste, Anno Christi, 962. gegen Paryß citiren lassen, alda sie für den Professoribus der Vniuersitet […], verhöret, vnd für die ersten Meister dieser Kunst erkennet, vnd bestetigt worden […]. Alda auch, höchstgemelte Kay. May. erwente Zwelff Meister, ihre Schüler und Nachkomen, mit einer wolgezierten Güldenen Kron, begnadet hat, die jenigen so im Singen das beste theten, damit zuverehren (S. 4). Hier werden nicht nur eine historische Genealogie und soziale Wertigkeit konstruiert, sondern wird auch andeutungsweise ein systematischer Gegensatz formuliert: der zwischen einer auf ihre Vorrangstellung pochenden Geistlichkeit (Professoren) und den geistliche Themen aufgreifenden und dichterisch gestaltenden Meistersingern, der in anderen Reformulierungen der Sage, freilich nicht in allen, noch deutlicher

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werden soll, etwa im Traktat des Cyriacus Spangenberg (1528–1604) ‚Von der Musica und den Meistersängern‘ (1597). In diesem in der Bibel und Antike beginnenden und in Luther kulminierenden ausgesprochen namenreichen Überblick über diejenigen, die für eine Geschichte der Musik bedeutsam sind, finden auch die Meistersinger ihren gebührenden Platz, ja eigentlich ist dieser ganze Überblick nur fürgenummen, um über die Meistersinger und ihre Kunst zu handeln (S. 113). Der Meistergesang, den Spangenberg auf die Kunst der Barden zurückführt, habe immer schon geistliche Missstände angeprangert, was dann zu einer kaiserlichen Vorladung nach Pavia im Jahr 964 geführt habe (S. 116  f.). Zwar rekurriert Spangenberg ausdrücklich auf Puschman, äußert aber Zweifel an der historischen Glaubwürdigkeit von dessen Bericht. Wer die zwölf vom Kaiser vorgeladenen Meister gewesen seien, könne er nicht sagen, jedenfalls aber nicht diejenigen des Zwölferkatalogs, da diese doch um 1200 gelebt hätten (S. 120). An der Historizität der Sänger des ‚Wartburgkrieges‘ hegt Spangenberg hingegen keinerlei Zweifel. Diese Zweifel greift der Polyhistor Johann Christoph Wagenseil (1633–1705) auf und baut sie aus. Auch er ist überzeugt davon, dass die eigentlichen Vorgänger der Meistersinger die Barden und Druiden gewesen seien (S. 499), also die Kunst des Meistergesangs nicht erst von Kaiser Otto eingesetzt worden sei. Diese unhistorische Auffassung der Meistersinger, die sich zudem mit der irrigen Nennung der Zwölf alten Meister verbinde, komme in zahlreichen Meisterliedern zum Ausdruck, die ausführlich zitiert werden. Wagenseil, ein eifriger Leser chronikalischer Literatur, weist nur auf einen Umstand hin, der die Irrigkeit der Ursprungssage erweise: Dann gewiß ist es / daß sich die jenigen XII. Meister-Singer / so benennet werden / keines weges auf die Zeit des Kaysers Ottonis I. schicken / und nur des einzigen Frauenlobs / welcher fornen angesetzet wird / und den Tropp führet / zu gedencken / so ist wißlich / daß derselbe erst im Jahr 1317. gestorben (S.  509, s. auch → Kapitel  VII.11). Im Weiteren wird dann Wagenseil allerdings auch ein ‚Opfer‘ seiner chronikalischen Lektüre, wenn er die historisierende Darstellung des ‚Wartburgkrieges‘ in der thüringischen Chronistik übernimmt und ausschreibt. Den Schluss seines Werkes bildet ein durchaus kenntnisreicher Überblick über die Nürnberger Meister mit Sachs als dem Patriarchen (S.  517), ihre Tabulatur und ihr Tönerepertoire. Gerade dieser Teil war bekanntlich die Grundlage von Richard Wagners ‚Die Meistersinger von Nürnberg‘ (1868), mit der das geschichtliche Wissen über die Meistersinger, ihre Traditionslinien zurück bis zur Sangspruchdichtung eines Walther von der Vogelweide, aber auch die Unterschiede im Kunstverständnis selbst zum Thema der Kunst wurden. Einen qualitativen Sprung in der Erforschung der Sangspruchdichtung stellten bereits lange vor Wagenseil die Arbeiten Melchior Goldasts (1578–1635) dar. Goldast, seit 1597 Mitarbeiter des St. Galler Humanisten Bartholomäus Schobinger (1566– 1604), hatte durch diesen Zugang zur ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C (zu den abenteuerlichen Umständen, unter denen Schobinger an den Codex gekommen war, und zu dem, was man über den Prozess gegen Goldast, der womöglich vier Seiten mit Neidhart-Liedern aus dem Codex entfernt hat, weiß, s. Voetz, Codex Manesse,

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S.  122–132; Wehrli, Geschichte, S.  148–152, auch zur Rezeption durch Schilter/ Scherz). Er hat die Lieder und Sangspruchstrophen in C nicht nur mit einer Strophenzählung versehen, sondern sich in seinen handschriftlichen ‚Hypomnemata‘ ausführliche Notizen (Namen, Wörter, Textauszüge) gemacht, die dann in seine ‚Isidor‘-Edition (1601) mit Zitaten aus Walthers antipäpstlichen Strophen einflossen, aber vor allem die Grundlage bildeten für seine ‚Paraeneticorum veterum pars I‘ von 1604, die 1727 noch einmal nachgedruckt wurden. Die Edition dreier didaktischer, strophischer Dichtungen (dazu s.  u.) – daher der Titel (von paraeneticus ‚Ermahner‘ oder paraeneticum ‚ermahnende Schrift‘)  – wird nämlich mit Hilfe seiner Notizen und unter beständigem Rückgriff auf die Handschrift selbst mit Anmerkungen (‚Animadversiones‘, S.  350–458) versehen, die weit über alles hinausführten, was man bislang über die Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts wusste. Zum einen bietet Goldast erstaunlich kenntnisreiche sprachliche, auch etymologische Erläuterungen zu den von ihm edierten Texten, die übrigens noch Opitz für den Kommentar zu seiner ‚Annolied‘-Ausgabe von 1639 nutzte (Dunphy, Goldast). Zum andern stellt er Parallelen in thematischen Zusammenhängen oder im Bild- und Motivgebrauch innerhalb der Sangspruchdichtung zusammen und bezieht diese auch auf nicht-lyrische Texte aus der Antike und vor allem dem Mittelalter (Otfrids ‚Evangelienbuch‘, Wirnts von Grafenberg ‚Wigalois‘, die ‚Mörin‘ Hermanns von Sachsenheim oder das gedruckte Heldenbuch). Zum ersten Mal interessieren die Sangspruchstrophen als Texte (über die deutsche Vorzeit und als Ausweis dichterischen Vermögens schon im Mittelalter) und nicht als gesungene Liedstrophen, die dann in der Sangeskunst der Meistersinger gipfeln (Brunner, Alte Meister, S. 38–42). Einen nach Goldasts Edition und Anmerkungen im Grunde anachronistischen Anschluss an diese ältere ‚Forschungstendenz‘, aber doch unter Rückgriff auf die Texte aus den ‚Paraenetikern‘ stellt Wolfhart Spangenbergs im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts entstandene Abhandlung ‚Von der Musica‘ dar (dazu ausführlich Brunner, Alte Meister, S.  42–55). Im Wesentlichen schreibt Spangenberg die Abhandlung seines Vaters aus. Die Vorgeschichte der ‚Musica‘ wird noch erweitert, die ‚Ursprungssage‘ darf natürlich nicht vergessen werden, ausführlich wird der ‚Wartburgkrieg‘ erzählt, dann folgt eine Meisterliste mit Hans Sachs als Schlusspunkt und ein Ausblick auf Luther und den eigenen Vater. Zwischen ‚Wartburgkrieg‘ und Meisterliste wird das eingeschoben (und zitiert), was Spangenberg aus Goldasts Werk entnehmen konnte. Dabei geht sein Sammeleifer so weit, dass auch Epiker wie Hermann von Sachsenheim oder Hugo von Trimberg (S. 59–64), die Goldast nur der motivischen Parallelen wegen zitiert hatte, nun für die ‚Musica‘ vereinnahmt werden. Mehrfach weist Spangenberg darauf hin, dass in St. Gallen, wo sich zu diesem Zeitpunkt die Liederhandschrift schon gar nicht mehr befand, noch mehr lieder und Getichte (S. 41) zu finden sein müssten. Den Übergang zum Meistergesang bildet in Spangenbergs Augen Frauenlob, von dem er in einem indirekten Hinweis wohl auf die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k weitere Dichtungen in Mainz vermutet: Heinrich Frauenlob […] ist ein kunstreicher, liebreicher und feiner Verständlicher Tichter. Man will auch, daß noch

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etliche seiner lieder in Alten Geselschafften, vielleicht etwas noch wol zu Mainz, sollen vorhanden sein (S. 70  f.). Spangenberg hoffte übrigens vergeblich, dass Goldast Weiteres aus C veröffentlichen möge (S. 88), was schon deshalb nicht geschah, weil Goldast nach 1605 keinen Zugang mehr zu der seit 1607 wieder in Heidelberg befindlichen Handschrift hatte. Diese Hoffnung sollten erst Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jacob Breitinger (1701–1776) mehr als hundert Jahre später erfüllen. Mittlere Forschungsgeschichte Der Neuansatz in der Forschungsgeschichte geht von einer intensiven Beschäftigung mit der ‚Manessischen Liederhandschrift‘ C und der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J aus. 1746 bekam Bodmer, vermittelt durch den Kanoniker Schöpflin, die ‚Manessische Liederhandschrift‘ von Paris aus nach Zürich ausgeliehen, worüber er in den ‚Vorberichte[n]‘ seiner 1748 erschienenen ‚Proben‘ die Leser informiert (Wehrli, Geschichte; Voetz, Codex Manesse). Seit den ‚Proben‘ heißt die Handschrift nun auch und bis heute ‚Manessische Liederhandschrift‘ (was Karl Lachmann 1827 kritisierte), da Bodmer aus einer Interpretation der Gedichte Hadlaubs auf Rüdiger Manesse als den Sammler und auf Zürich als den Entstehungsort der Handschrift schloss (S. XIII). Die ‚Vorberichte‘ sind der erste gewichtigere Forschungsbeitrag zu den Texten und Autoren von C: Bodmer stellt zusammen, was er über die Geschichte des Codex seit 1601 in Erfahrung bringen konnte (und viel mehr weiß man bis heute nicht), nennt die Zahl der Autoren (140) und äußert sich zum Stil der Bilder. In einem weiteren Abschnitt erläutert er, was wir über die wichtigeren Autoren aus C wissen – in der durchaus richtigen Erkenntnis, dass wir das, was wir zu wissen meinen, vor allem aus den Texten selbst extrapolieren: „Wir müssen demnach mit den Nachrichten vorlieb nehmen, welche wir bey diesen Poeten selbst von ihren Personen und ihren Werken antreffen“ (Proben, S. XX). Ausführlicher informiert er über die adligen Sänger des ersten Teils der Handschrift und zitiert stets das, was die Sangspruchautoren über sie lobend oder tadelnd gesagt haben. Auch wenn Bodmer eine deutliche Vorliebe für die Minnesangautoren zeigt, was auch im Editionsteil zum Ausdruck kommt, hebt er gerade für Walther hervor, dass dieser nicht nur Lieder schuf: „Denn er brauchte die Poesie nicht zu Liebesklagen allein, er lobete, er tadelte, er lehrete“ (ebd., S. XXXIV). Den Abschluss der ‚Vorberichte‘ bildet dann eine kleine ‚Grammatik‘ des Mittelhochdeutschen (Syntax, Artikel, Substantive, Adjektive, Verben, Orthographie u.  a.), am Ende des Editionsteils findet sich mit dem ‚Glossarium‘ (ebd., S. 273–296) der bis dahin gewichtigste Beitrag zur Lexikographie des Mittelhochdeutschen. In seiner ‚Sammlung von Minnesingern‘, die für die Editionsgeschichte – trotz des Titels – der Sangspruchdichtung einen Meilenstein darstellt, gelangt Bodmer allenfalls in dem Hinweis auf J, aber nicht substantiell über das in den ‚Proben‘ bereits Dargestellte hinaus. Die Bodmerschen ‚Proben‘ regten einen jungen Jenaer Astronomen erneut an, sich mit der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J zu beschäftigen (das Folgende nach Hau­ stein, Editionen). Basilius Christian Bernhard Wiedeburg (1722–1758), der die

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Handschrift schon mehrfach in der Hand gehabt hatte, sie aber stets wegen des „eckelhafte[n] Titel[s]“ (Nachricht, S. 2), nämlich „Ein alt Meister=Gesang=Buch“, wie die Zettelaufschrift lautete, wieder beiseitegelegt hatte. Er hatte die Dichtungen aus J für Meisterlieder und Stolle, dessen Namen er aus Wagenseils Buch kannte, für den Autor gehalten. Aus Bodmers ‚Vorberichte[n]‘ wie auch aus der Edition von L.  32,7 hatte er nun aber erfahren, dass Stolle offenbar ein Zeitgenosse Walthers war, und auch geschlussfolgert, dass die C von der Anlage her vergleichbare Sammlung Werke verschiedener Autoren enthalten müsse. Nicht nur schrieb der geradezu enthusiasmierte Wiedeburg die gesamte Handschrift ab und schickte eine extra angefertigte Kopie seiner Abschrift nach Zürich, er veröffentlichte zudem 1754 eine umfängliche Abhandlung über J (‚Nachricht‘). In ihr gibt er mit einer Art Handschriftenbeschreibung Auskunft über die äußere Beschaffenheit des Codex und anschließend über seinen Inhalt. Von jedem Autor wird der Umfang des Strophenbestandes angegeben, und für jeden Sänger wird referiert, ob er auch in C mit Strophen vertreten sei. Besonders auffällig oder auch typisch erscheinende Strophen werden zitiert und erläutert. Bodmer erhoffte sich von Wiedeburg eine Ausgabe von J, zu der es aber nicht kam, da der junge Jenaer Gelehrte bereits 1758 im Alter von 35 Jahren starb (zur Edition von Texten aus J durch Bodmer und Müller/Myller auf der Grundlage der Wiedeburgschen Abschrift s.  u.). Seit 1754 standen also mit Wiedeburgs ‚Nachricht‘ und Bodmers ‚Vorberichte[n]‘ zu seiner Ausgabe Informationen über Sangspruchautoren und ihre Texte zur Verfügung, die weit über das hinausführten, was man bislang wusste, und die noch im 19. Jahrhundert immer wieder zur Grundlage einer Beschäftigung mit den Texten beider Handschriften genutzt wurden. Bernhard Josef Docens Beschäftigung mit den Sangspruchstrophen der Handschrift J brachte einen neuen Gesichtspunkt in die Forschungsgeschichte: den der Stilkritik. 1807 veröffentlichte er einige unbekannte Strophen Frauenlobs, die, da der Anfang der Sammlung mit dem Namen fehlt, bisher als Dichtungen des vorausgehenden Konrad von Würzburg galten. Dessen schönen Stil fand nun Docen in den Frauenlob-Strophen keineswegs wieder: „wer aber die schöne Sprache, den fliessenden Vers und den glänzenden Ausdruck dieses trefflichen Sängers erkannt hat, wird keinen Anstand nehmen, ihm [Konrad] die ganze nachstehende Sammlung [mit Strophen Frauenlobs] geradezu abzusprechen“ (S. 270). Ein Vergleich mit den Frauen­ lob-Strophen in C führte ihn dann auf die richtige Spur (zu weiteren Ergänzungen und Berichtigungen Docens s. Haustein, Editionen, S. 210  f.). Mit Docen beginnt mithin eine Forschungsrichtung, die auf der Grundlage stilkritischer Argumente Ab- und Zuschreibungen vornahm – mit gelegentlich glänzenden Erfolgen und mit oft zweifelhaften bis deplorablen Ergebnissen (Bein, Untersuchungen). Die bis heute präsente Forschungsfrage nach dem formalen und inhaltlichen Zusammenhang von Sangspruchdichtung und Meistergesang, aber auch nach Differenzen und Entwicklungslinien hat in polemischer, gegen Docen und von der Hagen gerichteter Form der junge Jacob Grimm 1811 auf eine geradezu brachiale Weise folgendermaßen beantwortet: Meistergesang ist Minnesang und Sangspruchdichtung –

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und zwar von Anfang an! Grimm argumentiert zum einen mit der Form der Kanzone („Dreiheit“, vgl. Meistergesang, S.  40 u. ö.), zum anderen mit thematischen Traditionslinien und Übergangsformen der „innere[n] Gestalt“ (S. 25), wobei er sich auch ausdrücklich auf Spangenberg beruft, der ja auch den Beginn des Meistergesangs auf die Zeit um 1200 festgesetzt habe (S. 118  f.); auch gebe es immer wieder seit Veldeke und bis zu Muskatblut Übergangsformen zwischen Minnesang und Meistergesang (= Sangspruchdichtung), und zudem würden ja auch in C viele Sänger als ‚Meister‘ apostrophiert (S. 104). Auch wenn Grimms These, von Ausnahmen im 19. Jahrhundert abgesehen, in dieser Form auf berechtigte Ablehnung stieß, hob seine präzise, aus der ‚Jenaer‘, der ‚Großen Heidelberger‘ und der ‚Weimarer Liederhandschrift‘ (J, C und F) geschöpfte Kenntnis von Sangspruchdichtung und Meistergesang die Textkenntnis auf eine neue Basis (Wehrli, S. 158  f.). Den sicherlich bedeutendsten Beitrag zur biographischen Forschung, zur Überlieferung, aber auch zu den literarischen Ausdrucksmöglichkeiten der Sangspruchdichter stellt Friedrich Heinrich von der Hagens vierter, 1838 [recte: 1839] erschienener Band im Rahmen seiner ‚Minnesinger‘-Ausgabe (HMS) dar. Nicht nur dass mit dem Reimverzeichnis ein Überblick über die gesamte Gattung geschaffen war und dass von der Hagen zahlreiche Informationen zu den Biographien der Dichter in einer ganz neuen Dichte zusammenstellte, er beschrieb jeweils auch die individuellen Schwerpunkte der einzelnen Œuvres, äußerte sich zu Auffälligkeiten der Strophenformen und zur Rezeption der Töne im Meistergesang. Der in der Folge viel benutzte und wenig zitierte Band ist eigentlich erst durch moderne Hilfemittel wie das ‚Verfasserlexikon‘ (2VL) und das ‚Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder‘ (RSM) ersetzt worden. Auch ließ von der Hagen mit seinen Materialien jeden spätromantisch-biedermeierlichen Biographismus hinter sich, wie ihn einige Jahre vorher auf noch heute zwar lesenswerte, aber in beständig von Wahrheit zu Dichtung wechselnder Weise Ludwig Uhland in seiner Biographie Walthers von der Vogelweide (1822) vorgelegt hatte, in der er kenntnisreich, enthusiastisch und nicht ohne Phantasie dessen Leben von des „Dichters Jugend“ über gelegentliche „Blicke in sein Inneres“ bis zu seinem „Alter“ und seinem „Tod“ erzählte. Karl Lachmann sah seine Walther-Ausgabe von 1827 auch durch Uhlands „eben so lebendige als genaue schilderung“ (S. III) angeregt. Eine erregte, bis weit ins 20. Jahrhundert reichende und zu guten Teilen redundante Debatte schloss sich an Karl Simrocks Vorschlag von 1833 an, (Minne-)Lieder und (Sang-)Sprüche terminologisch zu unterscheiden. Die wichtigsten Beiträge zu dieser Debatte sind 1972 von Hugo Moser zusammengestellt worden (vgl. Moser [Hg.], Spruchdichtung). Die folgende kurze Übersicht verweist deshalb mit Forschernamen auf diese Zusammenstellung und mit Seitenzahlen auf den dort abgedruckten Forschungsüberblick Helmut Tervoorens. Schon Simrock hatte den Gegensatz von Spruch und Lied (bei Walther) dadurch entschärft, dass er auch Sprüche als gesungen annahm (S. 26) und zudem die inhaltliche und zeitliche Nähe einzelner Sangsprüche zueinander betonte (S. 27). In der Folge wurde gelegentlich der Unterschied schärfer

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und gelegentlich auch vereinseitigend betont (Wackernagel, Geschichte), häufig aber auch relativierend auf die Existenz einstrophiger Minnelyrik und mehrstrophiger Sangsprüche hingewiesen (wichtig und wenig rezipiert in diesem Zusammenhang: Rathay, Unterschied). Einen völlig neuen Gesichtspunkt brachte Friedrich Maurer für Walthersche Sangsprüche (und sein Schüler Schlageter für die Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts) mit der These in die Diskussion, dass alle Sangspruchtöne auf Lieder zurückgingen. Die programmatische Ausgabe mit dem Titel ‚Die politischen Lieder Walthers von der Vogelweide‘ (1954) erforderte deshalb, um den liedhaften Zusammenhang zu verdeutlichen, nicht nur zahlreiche Umstellungen gegen alle Handschriften, sondern auch viele Athethesen. Neben verhaltener Zustimmung (Moser) erntete die These vor allem harsche Ablehnung. Die Ruhsche Auffassung, dass die – sofern erkennbar vorhandene – Mehrstrophigkeit bei Sangsprüchen eine kategorial andere sei als die bei Minneliedern, da sie eher auf Reihung und Addition gründe (Tervooren, Forschungsbericht, S.  22), griff Helmut Tervooren für seine Untersuchung der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ auf (vgl. Tervooren, Einzelstrophe). Wir können, wenn es gelingt, liedhafte Zusammenhänge bei Sangspruchstrophen plausibel zu machen, kaum entscheiden, ob es sich um ursprüngliche Vortragseinheiten des Dichters, um okkasionelle Zusammenstellungen späterer Sänger oder gar um Ordnungsbemühungen der Handschriftenredaktoren handle (Tervooren, Forschungsbericht, S. 24). Blickt man auf die Diskussionsgeschichte zurück, lässt sich Folgendes festhalten: (1) Ein Gattungsunterschied zwischen Minnesang und Sangspruch war den Autoren seit Walther bewusst, auch wenn der Gegensatz von Einstrophigkeit im Sangspruch und Mehrstrophigkeit im Minnelied (von ‚Herger‘ an) kein absoluter und spätestens seit Heinrich von Mügeln und bis zu Muskatblut in der Sangspruchdichtung obsolet war. (2) Interferenzen zwischen beiden Gattungen sind unbestreitbar vorhanden, verweisen aber oft genug im Spiel mit den Grenzen auf eben diese. (3) Formunterschiede zwischen metrisch vielgestaltigerem Lied und eher (!) homogenem Sangspruch gibt es, freilich auch eine breite Übergangszone. (4) Eindeutige Mehr-, vor allem Zweistrophigkeit im Sangspruch ist bezeugt (von Walthers Reichston über Reinmars Schwerter-Sprüche [Roe. 213  f.] bis zu Frauenlobs Fürstenpentade [GA V,7–11]), die weitere Entwicklung hin zur Barform dürfte aber wohl auch für sekundär gebildete ‚Strophenlieder‘ verantwortlich sein. (5) Häufig ist Mehrstrophigkeit in der Sangspruchdichtung das Ergebnis eines inhaltlich hermeneutischen Bemühens oder der Interpretation von Wort- und Reimresponsionen, ihrer möglichen Kontingenz oder absichtsvollen Verweisstruktur. Ihr Status bleibt damit prekär. Neuere Forschungsgeschichte Mit einigem Recht kann man eine neuere Forschungsgeschichte zur Sangspruchdichtung mit Gustav Roethes Reinmar-Ausgabe von 1887 (Roe.) beginnen lassen. Begründen ließe sich diese Auffassung mit der Tatsache, dass Roethe in der knapp

Forschungsgeschichte 

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400 Seiten umfassenden Einleitung im Grunde alle für die neuere Forschung einschlägigen Fragen aufgreift und auf seinen Autor, aber auch auf andere Autoren und deren Werkprofile, bezieht. Er beginnt damit, dasjenige zusammenzustellen, was wir aus den Sangsprüchen über Reinmars (Wander-)Leben wissen können; bis heute Bestand hat seine Auffassung, dass wir in Roe. Nr.  1–159 der Heidelberger Handschrift Cpg 350 (Sigle D) eine dieser Handschrift zugrunde liegende Autorsammlung mit einem gut erkennbaren Ordnungsbemühen greifen können. Eine besondere Bedeutung für die weitere Forschung kommt den Kapiteln IV und V zu, da Roethe hier – und immer unter Bezugnahme auf die gesamte ihm bekannte Sangspruchdichtung – über „Stil und poetische Technik“ Reinmars handelt und anschließend über Strophik, Rhythmik und den musikalischen Bau seiner Dichtungen. Auch eine die gesamte weitere Forschung prägende Spannung scheint bereits hier, am Beginn der neueren Forschungsgeschichte, auf: In Reinmars „wenig widerstandsfähigem vielseitigen Geiste“ habe, so Roethe, die gesamte Gattungsgeschichte des 13. Jahrhunderts „nachwirkend oder keimend Spuren […] hinterlassen. So gewinnt er uns eine typische Bedeutung für die Geschichte der Spruchdichtung, die herauszuarbeiten mir mehr am Herzen lag als das Individuum Reinmar“ (S. V). Große Teile der Einleitung dienen dann aber doch dazu, Reinmars gedankliche und stilistische ‚Individualität‘ zu profilieren. Deutlich weniger elaboriert und ausgreifend, von der Anlage aber vergleichbar war die bereits 1876 erschienene Einleitung Philipp Strauchs zu seiner Marner-Ausgabe (Str.) angelegt. Und Vergleichbares gilt für die eher auf die Kommentierung der Einzelstrophe konzentrierte, aber doch auch ein Werkprofil konturierende Bruder Wernher-Ausgabe Anton E. Schönbachs von 1904. Unter den Einleitungen oder Kommentaren zu Ausgaben vor dem Zweiten Weltkrieg verdient diejenige Tom Albert Rompelmans zum ‚Wartburgkrieg‘ Beachtung, werden hier doch das erste Mal die handschriftlichen Verhältnisse des schwer überschaubaren Strophenkomplexes dargelegt, plausible, die Forschung prägende Überlegungen zur Genese der einzelnen Teilwerke angestellt und wird im Kommentar ein philologisch durchdachtes Angebot zum Verständnis einzelner Stellen gemacht. Eine ganz neue und gerade auch die jüngere Forschung interessierende Frage hatte bereits 1939, allerdings in einem weiteren Rahmen als dem der Sangspruchforschung, Bruno Boesch aufgegriffen (Kunstanschauung). Sangspruchautoren wie Konrad, Frauenlob oder Heinrich von Mügeln u.  a. kommen mit Blick auf die Frage zu Wort, wie sich eigentlich göttliche Begabung zur Kunstfertigkeit (ars) verhalte; zwar wird, so die gängige Antwort, der sin gegeben, bedarf aber der zu erlernenden ars, um seine dichterische Gestalt zu erhalten (S. 13 u. ö.). In diesem Zusammenhang gewinnt die Gelehrsamkeit als Voraussetzung der ars ihre Bedeutung auch gerade für Sangspruchautoren: „Gelehrsamkeit ist nicht ein besonderer Bereich neben der Kunst, sondern eines ihrer Mittel und Merkmale“ (S. 14). Fragen wie diese stehen im Zentrum der für die Forschung zur Sangspruchdichtung wie zum Meistergesang in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einflussreichen ‚Vorstudien‘ Karl Stackmanns zur literarischen „Individualität“ Heinrichs von

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Mügeln. In einem ersten Teil zeigt Stackmann, wie Heinrich das Erbe der Sangspruchdichtung aufgreift und auf seine Vorstellung von meisterschaft hin perspektiviert. Für das Selbstverständnis Heinrichs zentrale und immer wieder thematisierte Begriffe wie wîse, kunst, lêre oder eben meisterschaft deuten darauf hin, dass für Heinrich „Dichter und Gelehrter“ (Vorstudien, S.  129) zusammenfallen, seine meisterschaft beruht auf der „Beherrschung einer kunst“ (ebd., S. 128). Abgesehen davon, dass mit Stackmanns Buch die Linien, die von den Sangspruchautoren des 13. Jahrhunderts zu den meistern des 14. und 15. Jahrhunderts führen, verdeutlicht wurden, eröffnete es auch in der dezidierten Abwehr einer negativen Beurteilung der Literatur des Spätmittelalters als ‚barock‘ oder ‚epigonal‘ der Erforschung diese Epoche neue Wege. Die Mügeln-Studien Stackmanns fanden in Johannes Kibelkas Buch über Heinrich als den waren meister ihre glänzende Fortsetzung. Fast zeitgleich erschienen in den 70er Jahren zwei für die weitere Erforschung von Sangspruchdichtung und Meistergesang wegweisende Studien: Burghart ­Wachingers ‚Sängerkrieg‘ von 1973 und Horst Brunners ‚Die alten Meister‘ von 1975. Wachinger untersucht in einem ersten Teil Genese und Schichtung des ‚Wartburgkrieges‘, in einem zweiten Teil analysiert er die polemischen Strophen, die, um ihre Meisterschaft herauszustellen, Sangspruchautoren gegen Kollegen gerichtet haben (Marner, Meißner, Rumelant von Sachsen u.  a.), sowie den sog. wîp-vrouwe-Streit zwischen Frauenlob und Regenbogen. Brunners literatur- wie musikgeschichtlich ausgerichtetem Buch liegt die Frage zugrunde, wie die alten Töne der Sangspruchautoren von den Meistersingern aufgegriffen und abgewandelt werden. Seine Analysen wie auch zahlreiche weitere seiner Beiträge, die teilweise 2013 in die ‚Formgeschichte der Sangspruchdichtung‘ mündeten, sind Grundlage und Ausgangspunkt jeder Frage nach der Formk u n s t dieser so sehr auf die Form konzentrierten Gattung. Der dritte gewichtige Beitrag dieser Jahre zu einem zentralen Aspekt von Sangspruchdichtung und meisterlichem Lied, dem der politischen Teilnahme, stammt von Ulrich Müller mit seinen ‚Untersuchungen zur politischen Lyrik‘ von 1974. Seit 1968 hatte Horst Brunner in der Stadtbibliothek Nürnberg eine fast vollständige Sammlung von Kopien der über hundert erhaltenen Meistersingerhandschriften aufgebaut (Brunner, Meistersinger-Sammlung). Einen Vorschlag Karl Stackmanns aufgreifend, initiierten Horst Brunner und Burghart Wachinger seit 1973 (ab 1974 mit den Mitarbeitern Eva Klesatschke, Dieter Merzbacher, Johannes Rettelbach und Frieder Schanze) ein Projekt, das man zu den wichtigsten der germanistischen Mediävistik aus den letzten Jahrzehnten zählen muss: Das in den Jahren von 1986 bis 2009 in 16 (in 17) Bänden erschienene ‚Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts‘ (RSM). Da die in ihm jeweils mit Überlieferungsort, Inhalt und, sofern vorhanden, Forschungsliteratur vorgestellten rund 17.500 Texte, vom Sangspruch des 12. Jahrhunderts über das sog. meisterliche Lied bis zum städtischen Meistergesang, nur zum kleineren Teil ediert waren und an eine Edition vor allem aller Meisterlieder nicht zu denken war, wurde ein mit einer klugen Verweisstruktur und aufwändigen Registern aufgeschlossenes „Findbuch“ entwickelt, „ein

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Wegweiser, der unter möglichst vielen Aspekten den Weg zu den Texten abkürzen soll“ (Bd. 1, S. 7). Auf die Register (Handschriften, Drucke, Töne, Namen, Bibelstellen und vor allem Stichwörter) wurde so viel Bedacht gelegt, weil eben sie den Weg zu neuen oder erst jetzt bearbeitbaren Fragestellungen eröffnen sollten und dies auch getan haben. „Wir meinten“, so die Herausgeber, „daß neuere sozial-, bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Fragestellungen ebenso wie Interessen an höfischer und städtischer Kultur die Beschäftigung mit diesen Texten nahelegten und daß nicht zuletzt die vergleichende Erzählforschung hier ein riesiges, bislang erst sporadisch ausgewertetes Material fände“ (ebd.). Ohne das RSM gehörten Sangspruchdichtung und Meistergesang heute nicht zu den am intensivsten erforschten Bereichen des Faches. Und ohne das RSM würde heute die Erforschung dieser Gattung nicht auf diesem Niveau, dieser gesicherten Übersicht über Motivtraditionen, Überlieferung oder Tönegebrauch stattfinden können. Wenn im Folgenden und abschließend noch einige gewichtige Studien genannt werden, kann dies nur noch in Auswahl geschehen. Zunächst griffen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des RSM selbst das nun zur Verfügung stehende Material für spezielle Fragestellungen auf. Genannt seien beispielhaft die beiden Arbeiten von Frieder Schanze und Johannes Rettelbach. Mit Schanzes ‚Meisterlicher Liedkunst‘ (1983/84) gewinnt die vorreformatorische Liedkunst von Mügeln bis Sachs, mit Konzentration auf die Berufsdichter Suchensinn, Beheim, Schiller u.  a., zum ersten Mal in dieser präzisen Form ihre Kontur. Dem großen und nicht leicht überschaubaren Feld der Metrik und Strophik widmete sich Johannes Rettelbach in seinen ‚Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger‘ von 1992 (vgl. Rettelbach, Variation), der zahlreiche Einzelstudien zu diesem Gebiet vorausgingen und folgen sollten. Weit über die Sangspruchdichtung hinausgreifend, aber für deren Stilwillen einschlägig sind Gert Hübners ‚Studien zur Genese und Funktion der „Geblümte Rede“‘ (u. d. T. ‚Lobblumen‘, 2000); der Traditionszusammenhang auf der Ebene der Überlieferung steht in Michael Baldzuhns Untersuchungen zum Tönegebrauch in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ im Zentrum (Sangspruch, 2002); der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ war 2007 eine eigene Tagung gewidmet (vgl. Haustein/Körndle [Hg.], ‚Jenaer Liederhandschrift‘). Der Poetologie der Sangspruchdichtung galt schon 1995 eine Monographie zum Marner (Haustein, Marner-Studien), 2008 folgte Claudia Lauers Studie zu den ‚Sänger-Rollen‘. Mit Minnekonzepten und Frauenpreis im Sangspruch hat sich Margreth Egidi (vgl. Egidi, Liebe, 2002) beschäftigt. Die polemisch ausgerichteten Bezugnahmen der Sangspruchdichter hat Mirjam Burkard noch einmal aufgegriffen. Allein drei Tagungen der letzten Jahre mit ihren einschlägigen Sammelbänden (Klein, D. [u.  a.] [Hg.], Sangspruchdichtung; Hübner/Klein [Hg.], Sangspruchdichtung um 1300; Brunner/Löser [Hg.], Sangspruchdichtung) waren ausschließlich der Spruchdichtung vorbehalten.

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2 Editionsgeschichte

Jens Haustein

Frühe und mittlere Editionsgeschichte Die Editionsgeschichte der Sangspruchdichtung begann 1604 mit Goldasts ‚Paraeneticorum veterum pars I‘. Abgesehen von Zitaten aus einzelnen Sangspruchstrophen Boppes, Walthers oder des Marners u.  a. für seine Kommentare edierte Goldast die drei didaktischen Strophenkomplexe ‚König Tirol‘, ‚Winsbecke‘ und ‚Winsbeckin‘ aus der ‚Manessischen Liederhandschrift‘ C, die beiden letzteren galten ihm als Dichtungen Wolframs von Eschenbach. Die Edition der drei Strophenkomplexe hatte eine beachtliche Wirkungsgeschichte: Auf sie griffen etwa Mitglieder der ‚Fruchtbringenden Gesellschaft‘ wie Schottelius zurück, wenn sie sich sprachgeschichtlich interessierten, oder Polyhistoren, wenn sie sich mit der Geschichte didaktischer Literatur beschäftigten (Harms, Genius). Goldasts Edition wurde mehrfach nachgedruckt, am wirkungsmächtigsten im von Johann Georg Scherz herausgegebenen zweiten Band von Johann Schilters ‚Thesaurus antiquitatum Teutonicarum‘ (1726–1728). In Bodmers ‚Proben‘ von 1748 wurden dann auf der Basis einer eigenen Abschrift von C immerhin schon 81 Dichtercorpora (von 140) ediert. Der Schwerpunkt lag allerdings auf dem Minnesang. Erst die ‚Sammlung‘ aus den Jahren 1758 und 1759 (so die Jahresangaben auf den beiden Titelblättern, vermutlich ist der Band aber als Ganzes erst 1759 erschienen) bot dann den Bestand fast der gesamten Handschrift. „Einige Strophen von geringem Werthe, von wiederholten Gedanken, von yberspannten oder anstoessigem Inhalt“ (vgl. Wehrli, S.  154) wurden jedoch ausgelassen, immerhin etwa ein Siebtel des Ganzen. Übrigens wurden die drei didaktischen Strophenkomplexe an den Schluss (nach dem Kanzler) gesetzt, weil Bodmer anfangs zweifelte, ob es sinnvoll sei, diese, nachdem Goldast sie bereits ediert hatte, noch einmal zu drucken. – Basilius Christian Bernhard Wiedeburg fertigte, wie bereits erwähnt, für Bodmer vor 1758 eine Abschrift der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J an, denn Bodmer teilt im zweiten Band der ‚Sammlung‘ Lesarten aus J zum ‚Wartburgkrieg‘ mit. Offenbar hat er diese Abschrift seinem Schüler Christoph Heinrich Müller (Myller) überlassen. Denn dieser fügte 1784 und 1785 seiner in einzelnen Lieferungen erschienenen ‚Samlung deutscher Gedichte‘ jeweils am Ende der epischen Werke Strophen aus J nach Autoren geordnet an: im Anschluss an den ‚Tristan‘ etwa solche von Stolle, Höllefeuer und Singauf; im Anschluss an die ‚Tristan‘-Fortsetzung Heinrichs von Freiberg solche von Kelin, Gervelin und dem Urenheimer. Eine Lieferung war ganz der Sangspruchdichtung aus J gewidmet, hier edierte er (in Auswahl) die größeren Strophenkomplexe von Bruder Wernher, Rumelant von Sachsen und dem Meißner (Haustein, Editionen, S. 209  f.). Das noch Fehlende aus J verdankt die frühe Forschung der Edition durch Bernhard Josef Docen im Rahmen seiner ‚Miscellaneen‘ von 1807: In ausgesprochen zuverlässiger Weise veröffentlicht er Strophen Konrads von Würzburg, des Goldener, Stolles und Bruder Wernhers sowie die Strophen des ‚Wartburgkrie-

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ges‘, die nur J kennt, ferner bislang unbekannte Strophen Frauenlobs. Mit Bodmers ‚Sammlung‘ war die Handschrift C annähernd vollständig und annähernd korrekt (immerhin wird noch Lachmann für seine Walther-Ausgabe von 1827 Bodmers C-Text und nicht etwa die Handschrift selbst benutzen!) ediert, Strophen aus J musste man sich aus den Editionen Müllers und Docens mühselig zusammensuchen. Das sollte sich erst 1838 ändern. Schon ab 1810, als deutlich wurde, dass die Bodmersche ‚Sammlung‘ unvollständig war, plante Friedrich Heinrich von der Hagen eine Gesamtausgabe von C mit Ergänzungen aus anderen Handschriften. 1823 reiste er zu dem Zweck nach Paris, wo C zu diesem Zeitpunkt aufbewahrt wurde, 1826 begann der Druck des Werkes, der erst 1839 abgeschlossen wurde, auch wenn das Titelblatt 1838 angibt. Die ersten beiden Bände seiner ‚Minnesinger‘ (HMS) sind den Dichtern aus C vorbehalten. 1827 konnte von der Hagen die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J einsehen und druckte im dritten Band zuerst die nicht auch in C erhaltenen Strophen aus J, dann Neidhart-Lieder der Neidhart-Handschrift c und anschließend, wiederum in der C-Reihenfolge, Lieder und Sangspruchstrophen bzw. Meisterlieder aus anderen Handschriften als C und J, etwa Strophenfolgen aus der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k in Tönen Frauenlobs oder Regenbogens. Im Bd. 4, S. 775–884, finden sich auch sämtliche Melodien aus J, was von der Forschung damals und noch lange danach unbeachtet blieb. Stärken und Schwächen dieser Ausgabe liegen dicht beieinander: Sie war einerseits bis ins 20. Jahrhundert hinein diejenige Ausgabe, die als einzige zahlreiche Sangspruchcorpora in einer einigermaßen vertretbaren Form zugänglich machte; anderseits konnte sie den seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelten Ansprüchen an eine kritische Textgestalt mit ihren Grundlagen wie Überlieferungsheuristik, lautlicher Normalisierung, metrischer Einrichtung und grammatischer Fundierung nicht entsprechen. Über die ‚altdeutsche‘ äußere Einrichtung der Ausgabe ergoss sich der Spott der Zeitgenossen (Grunewald, von der Hagen, S. 203–208). Neuere Editionsgeschichte Eine neuere Editionsgeschichte der Sangspruchdichtung begann 1827 mit Karl Lachmanns Walther-Ausgabe (L.). Das Frappierende dieser Ausgabe liegt nicht nur in der Sicherheit, mit der auf breiter Kenntnis der Überlieferung, der Metrik Waltherscher Töne und einer Sprachgestalt, die man als ‚Normalmittelhochdeutsch‘ bezeichnet, die äußere Form der Texte gehandhabt wurde, sondern auch in der Anordnung: Lachmann ging zwar in seiner Einteilung des Waltherschen Œuvres von C aus, ordnete dieses aber nach Bezeugungsdichte in vier Bücher. In Buch I und II edierte er „die Töne aus *BC, die am besten bezeugt sind, weil oft auch A, E und andere Handschriften dazutreten. Im III. und IV. Buch folgen die Töne, die *AC, C allein und *EC darüber hinaus tradieren“ (L./Bein, S. XXIII). So ergibt sich „eine absteigende Linie von den am breitesten und besten bezeugten Tönen bis zum Sondergut der späten Sammlungen“ (ebd.). Diese Anordnung hat sich bei winzigen Modifikationen im Einzelnen bis

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in die aktuelle 15. Auflage erhalten. Lachmann war Textkritiker, kein Kommentator seiner Texte. Das mussten andere nachholen. Der Betreuer der 10. Auflage, Carl von Kraus, ergänzte diese durch einen auch heute noch mit Gewinn nutzbaren Kommentar (1935), in den auch das Wichtigste aus dem Kommentar von Wilhelm Wilmanns und Victor Michels (1924) eingearbeitet wurde. Vergleichbar verfuhr von Kraus auch mit seinen 1952 zuerst erschienenen und 1978 wieder aufgelegten ‚Liederdichtern des 13. Jahrhunderts‘ (KLD I, II), die allerdings nur wenige Sangspruchstrophen von Liederdichtern enthalten. Kritisch bearbeitet im Lachmannschen Sinne erschienen im 19.  Jahrhundert und bis heute nicht ersetzt Roethes ‚Reinmar‘ (Roe.), übrigens mit durchlaufendem Verweis auf HMS, und Strauchs ‚Marner‘ (Str.), ferner 1904 Schönbachs ‚Sprüche des Bruder Wernher‘ (Schönbach [Hg.], Sprüche Wernhers). Die beiden Ausgaben Strauchs und Schönbachs sind inzwischen durch neuere Editionen abgelöst (Wms., Zck.). Auch die ‚Meisterliche Liedkunst‘ des 14. und frühen 15. Jahrhunderts vor dem zünftigen Meistergesang liegt weitgehend in Editionen, freilich von sehr unterschiedlicher Qualität, vor. Suchensinn (Pflug; Cramer) verdiente ebenso eine Neuausgabe wie Muskatblut (Grte.). Die kleineren Lieddichter dieser zwei Jahrhunderte wurden von Thomas Cramer (Cramer I–IV) ediert. Eine bedeutende editorische Leistung der damaligen DDR-Germanistik stellt die fast zeitgleiche Ausgabe der 453 Dichtungen Michel Beheims dar (Gille/Spr.; Melodien ediert von Christoph Petzsch). 203 anonyme Lieder der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ in Tönen alter Meister gab bereits 1862 Karl Bartsch heraus; er prägte so entscheidend die Kenntnis dieses Bereichs der meisterlichen Dichtung.  – Sämtliche Melodien der Sangspruchautoren gaben Horst Brunner und Karl-Günther Hartmann nach allen vorhandenen Quellen 2010 [recte 2011] heraus (Sps.), so dass die älteren Melodieausgaben etwa zu J oder k überholt sind. Die neueren Editionen folgen fast ausnahmslos dem sog. Leithandschriftenprinzip, d.  h., dass ihnen die beste und eine möglichst autornahe Handschrift zugrunde gelegt wird, von welcher der Editor nur bei erkennbaren Fehlern abweichen sollte und nicht schon dann, wenn ihm eine andere, ansonsten fehlerhaftere Handschrift punktuell einen ‚besseren‘ Text zu bieten scheint. Erprobt hat dieses Editionsverfahren Karl Stackmann schon in seiner Mügeln-Ausgabe (Stmn.) nach einer Göttinger Handschrift und dann vor allem in seiner Ausgabe der Dichtungen Frauenlobs (GA). Alle  – übrigens ausführlich kommentierten  – neueren Ausgaben von Sangspruchautoren gehorchen diesem Editionsprinzip und folgen auch stärker als früher der Lautung ihrer jeweiligen Leithandschrift, so etwa die Ausgaben der Dichtungen des Meißners nach der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ (Obj.) oder diejenigen Rumelants von Sachsen (Krn., Ruw.). Mehrere Ausgaben von Autoren des 13.  Jahrhunderts bieten inzwischen, Fragestellungen der Forschung editorisch aufgreifend, Beispiele für das formale oder inhaltliche Fortleben der Töne bis in den Meistergesang hinein (Pep., Wms., Alx. u.  a.); dies gilt auch für die Neuausgabe des ‚Wartburgkriegs‘ (Hal.). Nur

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einem Ton, der beliebten Alment, ist die Edition von Volker Zapf (Zapf) gewidmet, dem Fortleben Frauenlobscher Töne bis ins 15.  Jahrhundert hinein das GA-S. Den Langen Ton Frauenlobs hat Franziska Wenzel nach C, J, F und k ediert und diese Edition mit einer umfänglichen Untersuchung der unterschiedlichen Handschriftenprofile versehen (Meisterschaft). Eine internetbasierte Ausgabe von Regenbogens Langem Ton ist in Vorbereitung. Ausg. Alx.; Bartsch (Hg.), Meisterlieder; Bodmer (Hg.), Proben; Bodmer (Hg.), Sammlung; Cramer; GA; GA-S; Gille/Spr.; Goldast, Paraeneticorum veterum pars I; Grte.; Hal.; HMS; KLD; Krn.; L.; L./ Bein; Maurer (Hg.), Lieder Walthers; Mayer; Myller (Hg.), Gedichte 12.–14. Jh.; Obj.; Pep.; Pflug (Hg.), Suchensinn; Puschman, Bericht (a, b); Roe.; Rompelman (Hg.), Wartburgkrieg; Ruw.; Schl.; Schönbach (Hg.), Sprüche Wernhers; Spangenberg, C., Musica; Spangenberg, W., Musica; Sps.; Stmn.; Str.; Wagenseil, Holdselige Kunst; Willms/Kiepe (Hg.), Gedichte 1300–1500; Wilmanns/ Michels (Hg.), Walther; WKL; Wms.; Zapf; Zck. – Lit. Baldzuhn, Sangspruch; Bein, Untersuchungen; Boesch, Kunstanschauung; Brunner, Alte Meister; Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Meistersinger-Sammlung; Brunner/Löser (Hg.), Sangspruchdichtung; Brunner/Rettelbach, Schulkunst; Burkard, Sangspruchdichter; Docen, Miscellaneen; Dunphy, Goldast; Egidi, Liebe; Grimm, J., Meistergesang; Grunewald, von der Hagen; Harms, Genius; ­Haustein, Editionen; Haustein, Marner-Studien; Haustein/Körndle (Hg.), ‚Jenaer Liederhandschrift‘; Henkel, Alte Meister; Hübner, Lobblumen; Hübner/Klein, D. (Hg.), Sangspruchdichtung um 1300; Kibelka, Meister; Klein, D. [u.  a.] (Hg.), Sangspruchdichtung; von Kraus, Walther; Lauer, C., Sänger-Rollen; Moser (Hg.), Spruchdichtung; Müller, U., Untersuchungen; Rettelbach, Variation; RSM; Schanze, Liedkunst; Stackmann, Vorstudien; Taylor, A., Literary History; Taylor, A./ Ellis, Bibliography; Tervooren, Einzelstrophe; Tervooren, Forschungsbericht; Uhland, Walther; Voetz, Codex Manesse; Wachinger, Sängerkrieg; Wackernagel, Geschichte; Wehrli, Geschichte; Wenzel, F., Meisterschaft; Wiedeburg, Nachricht.

III Pragmatische und mediale Kontexte 1 Mäzene und Höfe

Wolfgang Beck

Relationen: Spruchsänger – Gönner – Hof Im Themenspektrum des mittelhochdeutschen Spruchsangs nehmen die Existenzprobleme des (fahrenden) Sängers, das Verhältnis von Dienst und Lohn sowie Lobund Tadelstrophen  – die sich auch politisch instrumentalisieren lassen, indem in ihnen „auch ‚harte‘ politische, propagandistische, legalistische oder dynastische Zwecke verfolgt“ werden (Wolf, J., Mäzenatentum, S. 73) – eine dominierende Stellung ein. Diese Themen sind nicht selten miteinander verknüpft, sie treten schon in den frühesten Spruchsang-Strophen auf. Bereits ‚Herger‘/Spervogel  I gibt den Rat, sich angesichts eines möglichen Gunstverlusts bei Hofe rechtzeitig über sichere Aufenthaltsorte Gedanken zu machen (MF 26,23–26/MFMT VII.II,2,4–7). In einer anderen Strophe benennt er neben anderen Personen einen Wernhart von Steinsberg, den die Forschung mit dem Freiherrn Wernher von Steinsberg (urk. 1165) identifiziert hat. Die Freigebigkeit des verstorbenen Herren (MF 25,24–26/MFMT VII.I,2,5–7: Wernharte / der ûf Steinsberc saz / und niht vor den êren versparte; MF 25,29/MFMT VII.I,3,3: hei, wie er gap unde lêch), so die Hoffnung des Spruchsängers, werde sich auf die Erbnachfolger (MF 26,11/MFMT VII.I,5,6: der werden Oetingaere stam) übertragen. Wenn mittelalterlicher Autorschaft unter anderem „die sozioökonomische Situation des Autors und des Literaturbetriebs, dem er zugehört“ (Wachinger, Autorschaft, S. 22), vorgeschaltet ist, dann lässt sich aus der in Spruchsang-Strophen entfalteten Konstellation des um Gut heischenden Sängers und des Lohn gewährenden Fürsten bei Hofe nichts weniger als eine existenzielle Abhängigkeit des Spruchsängers von seinem Herrn und Gönner ableiten. Die Forschung hat aus solchen Konstellationen Schlüsse von apodiktischer Geltung gezogen: „Zentrum mittelalterlicher Literaturproduktion war nicht ein Land, nicht ein Territorium, sondern der Hof, war der Fürst und Herrscher. Das Verhältnis des Poeten zum Herrscher ist das des Abhängigen von seinem Gönner“ (Ebenbauer, Dichtung, S. 30). Zur existenziellen Abhängigkeit kommt ein Weiteres, die inhaltliche Abhängigkeit: Die alten sprüche sagent uns daz: swes brot man ezzen wil, / des liet sol man ouch singen gerne, unt spiln mit vlize, swes er spil (Der Tugendhafte Schreiber, HMS II,102: XII,2,13  f.; ähnlich auch Michel Beheim, Pfälzische Reimchronik, v. 1485–1490). Die Vorstellung ökonomischer wie inhaltlicher Abhängigkeit eines mittelalterlichen Autors im Allgemeinen und eines Spruchsängers im Besonderen kann dabei als eine Zwangslage verstanden werden, in der Freiheit und Autonomie künstlerischen Schaffens stark eingeengt sind. Die ökonomisch prekäre Existenzform der Spruchsänhttps://doi.org/10.1515/9783110351897-003

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 Pragmatische und mediale Kontexte

ger wird aus Selbstbezeichnungen wie gernder, gernder meister, varnde diet, gernde liute etc. abgeleitet; setzt man Spruchsänger mit anderen Unterhaltungskünstlern des Mittelalters wie ioculatores, saltatores, fidicines, tibicines, lyricines, tubicines, cornicines, hystriones, gesticulatores gleich (Rockinger, Briefsteller, S. 426) – mhd. spilman entspricht lat. histrio, joculator, ludarius, mimus (Lexer II, Sp. 1093) –, so ergibt sich daraus auch eine sozial randständige Position außerhalb mittelalterlicher ordo-Vorstellungen und außerhalb der Höfe (Krause, „milte“-Thematik, S.  70–75). Die reale soziale Rolle des Spruchsängers steht dabei im Widerspruch zur ästhetisch konstruierten Sänger-Identität, die teilweise auf eine „Äquivalenzrelation des Sängers zum Gepriesenen“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 103) abzielt. Im Feld der höfischen Literatur dürfte zudem für den Spruchsang die Spannung „zwischen  – prekärer  – Anläßlichkeit und – beanspruchter – Maßgeblichkeit“ (Strohschneider, Fürst, S. 87) am höchsten sein, ebenso das Bewusstsein vom „Gegensatz zwischen der eigenen materiellen Bedürftigkeit und dem Wert der erbrachten Dienstleistung für den Hof“ (Hübner, Hofhochschuldozenten, S. 69): daz man bî rîcher kunst mich lât alsus armen (Walther von der Vogelweide L. 28,2/Bein 11[C],XI,2). Die Höfe und Fürsten erscheinen in diesem Lichte als jene Instanz, deren Gunst vorhanden sein muss bzw. erworben sein will, um überhaupt die materiellen Voraussetzungen (Sicherung der Existenz) und die institutionellen Rahmenbedingungen (Vorhandensein eines adäquaten Publikums) der Kunstausübung vorliegen zu haben. Es erscheint nur folgerichtig, dass eine im Modus der Abhängigkeit gehaltene Kunstausübung als Dienst begriffen wird, ebenso wie die Sicherung der Existenz des Künstlers durch den Fürsten als Lohn verstanden werden kann: dô mir niht baz gelônet wart und ich doch lop mit triuwen sprach (Bruder Wernher Zck. 44,12); ich bin vursten dienist, of gnade lied ich singe (Meißner Obj. XV,4,5); er giltet lop, er giltet kunst (Roe. 149,1), sagt Reinmar von Zweter über König Wenzel  I. von Böhmen. Das Selbstverständnis des Spruchsängers, seine Kunst zu verkaufen (guot umbe êre nemen), kann auch als Aufforderung gedacht werden: sie sîn heilic, die mir geben durch got und ouch umbe êre (Der Unverzagte C.-W. III,6,5; vgl. auch ‚Wartburgkrieg‘, ‚Fürstenlob‘ Hal. 1,3  f. [CBd]: der [Thüringer Fürst] teilt uns e sin guot / und wir [Sänger] im gotes lon). Die Entlohnung ehrte dabei nicht nur den Geber: gît mir ein herre sîn gewant, diu êre ist unser beider (Gedrut/Geltar KLD 13,II,9). Lohn als Grundvoraussetzung literarischen Schaffens im Mittelalter erzeugt neben der Abhängigkeit gleichzeitig das Problem möglicher inhaltlicher Einflussnahme auf die Dichtung, die über allgemeine Parameter wie inhaltliches Interesse (z.  B. am Thüringer Landgrafenhof an der Antike) weit hinausgehen kann. Die Reziprozität von Dichtung als Dienst des Spruchsängers und Existenzsicherung als Lohn durch den Fürsten spiegelt sich in der Reziprozität von Existenzsicherung als Dienst am Spruchsänger und Lohn als Lob des Fürsten durch das Medium der Dichtung. Auf dieses wechselseitige Verhältnis von Herrscherlob als Dienst und Lohngewährung kommt Walther von der Vogelweide in seiner ‚Lohnforderung‘ im Meißnerton zu sprechen: Het er mir dô gelônet baz, / ich dient ime aber eteswaz (L. 106,9  f./Bein



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76,III,7  f.). Und: Lobe ich in, sô lobe er mich (L. 105,33/Bein 76,II,7). Offensichtlich hatte Dietrich (der Bedrängte), Markgraf von Meißen, eine von Walther erwartete Entlohnung nicht geleistet, was den Spruchdichter zur Dienstaufgabe veranlasste. Ähnlich wie der Dienst zurückgenommen werden kann – so die unverhüllt ausgesprochene Drohung –, kann auch das Lob zurückgenommen werden: sîn lop daz muoz och mir gezemen, / oder ich wil mînez her wider nemen / ze hove und an der strâzen (L. 105,36– 38/Bein 76,II,10–12). Wenn gesagt wird, der Spruchsang finde ze hove und an der strâzen (L. 105,38/ Bein 76,II,12) statt, so sind damit zwei Orte angesprochen, die hinsichtlich ihres sozialen Status als antipodisch begriffen werden müssen. Der mittelalterliche Hof ist ein „komplexes Herrschafts- und Sozialgebilde, in dem kulturelle, soziale und politische Strukturelemente eng miteinander verbunden waren“ (Schreiner, Hof, S. 67); der Hof ist nicht nur praktischer Lebensraum, sondern auch ein Sozialraum, ein politischer Raum, ein ökonomischer Raum, ein kultureller Raum und ein Symbolraum (vgl. Paravicini, Raum, S. 285–292). Die strâze ist der Ort, an dem sich die Kunstausübung des (fahrenden) Sängers gegen die von Vaganten, ioculatores etc. behaupten muss. Die strâze verweist auf die prekäre Existenzform des Spruchsängers; sie ist zudem jener Ort, an dem eine angemessene Entlohnung nicht möglich zu sein scheint. Der adlige oder klerikale Hof, sei er, wie der königliche Hof, teilweise mobil oder wie ein Fürstenhof oder Bischofshof an einen konkreten Ort wie eine Burg oder eine Stadt gebunden, ist dagegen jener Ort, an dem sich das Wechselspiel von Dienst durch Gesang und Entlohnung entfalten kann. Es scheint daher kaum verwunderlich, dass die thematischen Kerne Fürstenlob und Heische (vgl. auch → Kapitel V.6) im Themenrepertoire des Spruchsängers dominieren, sie bilden aber nur die eine Seite der Medaille ab, denn Fürstenlob kann schnell in Fürstenschelte, Gönnerschelte und Hofschelte umschlagen, wenn der erhoffte Lohn nicht gewährt wird. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Auch der Hof kann ein für den Spruchsänger problematischer Ort sein, an dem die Kommunikation scheitern kann, wo er sich nicht nur mit mangelnder milte und Anerkennung der Fürsten, sondern auch mit ebenfalls um die Gunst des Fürsten buhlenden Konkurrenten auseinanderzusetzen hat. Diese Schmeichler und Klaffer schrecken offensichtlich auch vor Verleumdungen nicht zurück: Ich enweiz, wem ich gelîchen muoz die hovebellen, / […] / Edel Kerndenære, ich sol dir klagen sêre, / milter fürste, marterer umb êre, / ine weiz, wer mir in dînem hove verkêret mînen sanc (Walther von der Vogelweide L. 32,27–33/Bein 12,VI,1–7). Nicht immer ist garantiert, dass der Spruchsänger überhaupt Gehör findet: dâ kunde ich nie noch komen în; / doch versuochte ichz alse ich solde. / mir wart dâ gruoz und rede verzigen (Der Wilde Alexander KLD 1,II,24,5–7; vgl. schon Walther von der Vogelweide L. 20,7–9/Bein 9,V,4–6). In diesem Lichte erscheint der Wunsch des Spruchsängers Walther von der Vogelweide nach ökonomischer Unabhängigkeit in seiner Lehensbitte an Friedrich II. nur folgerichtig:

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Von Rôme voget, von Pülle künic, lât iuch erbarmen, daz man bî rîcher kunst mich lât alsus armen. gerne wolde ich, möhte ez sîn, bî eigenem fiur erwarmen. Ahî, wie ich danne sunge von den vogellînen, von der heide und von den bluomen, als ich wîlent sanc! (L. 28,1–5/Bein 11[C],XI,1–5)

Dass die Herstellung ökonomischer Unabhängigkeit gleichzeitig das Ende des Spruchsangs impliziert – das Sänger-Ich will sich in Zukunft offenkundig hauptsächlich dem Minnesang widmen –, wird hier als Nebeneffekt nicht weiter thematisiert. Die Strophe problematisiert die unbehauste Existenz des fahrenden Sängers (Kume ich spâte und rîte fruo, gast, wê dir, wê! [L. 28,8/Bein 11[C],XI,8]) und stellt die ökonomische Absicherung als Vorausssetzung für den Minnesang heraus (sô mac der wirt wol singen von dem grüenen klê [L. 28,9/Bein 11[C],XI,9]), die das fahrende Sänger-Ich gleichzeitig selbst anvisiert und anderen neidet. Hier bleibt bei ständigem Ortswechsel der (fremde) Hof jene Institution, die trotz aller Widrigkeiten die materiellen Voraussetzungen (Sicherung der Existenz) und die institutionellen Rahmenbedingungen (Vorhandensein eines adäquaten Publikums) für den Spruchsänger vorhält. Der Hof ist dabei weniger als ein Schreibort im Sinne der „Buchentstehung, […] der Überlieferung, also des handschriftlichen Kopierens und der Texttradierung“ (Schubert, M. J., Einleitung, S. 39) aufzufassen, sondern in erster Linie als ein Aufführungsort und Kommunikationsraum, der auch ein Ort der Werkentstehung sein kann, aber nicht sein muss. Für Spruchsänger dürften prinzipiell andere Voraussetzungen der Werkentstehung im Zusammenspiel mit dem Hof und dem Gönner gegolten haben als für die Autoren höfischer Romane, pragmatischer und geistlicher Literatur (und des Minnesangs?): „Für die Epik muß ein fester ‚Arbeitsplatz‘, d.  h. Gönnerauftrag, vorausgesetzt werden, da die Abfassung eines Erzähltextes längere Zeit in Anspruch nimmt und eine geregelte Arbeitssituation notwendig macht, zumal in den meisten Fällen die Vorlagen erst mühsam beschafft werden müssen“ (Behr, Mäzen, S. 521). Nicht immer darf davon ausgegangen werden, dass das Lob eines Fürsten bzw. eines Hofes ausschließlich und in erster Linie an dessen Hof entstanden und aufgeführt worden ist, wie drei (nicht erhaltene) Loblieder des Spruchsängers Kelin auf den Ministerialen Volkmar von Kemenaten zeigen: Sît daz ich von dem edeln schiet, / der mich und manigen gernden dâ mit gâbe wol beriet, / sît sanc ich ime in zwêen landen drî lobeliet, / zu Weinsberc eins, die zwei dort ûf dem Sande (Whm. III,8,11–14). Auch der Litschauer lobt die sächsischen Fürsten (wohl Herzog Albrecht II. von Sachsen) andernorts: Man sol die werden Sahsen loben zuo aller stunt (C.-W. II,4,1). In diesem Zusammenhang ist die prinzipielle Frage, ob der performative Akt des Lobs der fürstlichen milte die Reaktion auf tatsächliche Entlohnung darstellt oder ob das Lob voraussetzungslos in der Hoffnung auf Entlohnung durch den Gelobten (oder einen anderen) erfolgt, falls überhaupt, nur im Rahmen einer Einzelfallanalyse zu beantworten. Zu nennen wären hier das allgemeine Lob fürstlicher milte, das der



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Goldener dem Fürsten Wizlav von Rügen und dem Markgrafen Otto V. dem Langen von Brandenburg (vgl. Tervooren, Goldener, Sp. 92) zollt, die Erinnerung an die miltegebende hant Herzog Friedrichs des Streitbaren von Österreich († 1246) durch den Spruchsänger Pfeffel (vgl. Schiendorfer, Pfeffel, Sp. 559) und der Preis des freigebigen Grafen Heinrich III. von Sayn (Roe. 216) durch Reinmar von Zweter (vgl. Brunner, Reinmar von Zweter, Sp. 1200). Umgekehrt versucht der Spruchdichter Boppe durch die Aufzählung einer ganzen Reihe von nicht freigebigen Fürsten die badischen Markgrafen Rudolf I. († 1288) und Hermann VII. († 1291) (vgl. Kornrumpf, Boppe, Sp. 953  f.) zu seiner Unterstützung zu bewegen. Konkrete Gönnerbeziehungen Über die reale Praxis der Förderung von Spruchsängern im Mittelalter ist man nur schlecht informiert: „In normativen Quellen steht in der Regel eben gerade nichts zu entsprechenden Aufträgen, nichts zu entsprechenden Förderlinien, ja noch nicht einmal etwas über die – vermeintlich oder wirklich? – so berühmten Sänger der Blütezeit“ (Wolf, J., Mäzenatentum, S. 83  f.). „Auf der anderen Seite berichten die Dichter in ihren Werken selbst ausführlich, bisweilen fast geschwätzig, über gewünschte, gesuchte, gefundene, gepriesene, verlorene Gönner, ja letztlich über ein feingliedriges Geflecht von Mäzenatentum und Literaturproduktion“ (Strobel/Wolf, Erben, S. 24). Nur selten lassen sich die in literarischen Texten gemachten Gönnernennungen mit textexternen Sachverhalten verbinden. Im ‚Drei-Fürsten-Preis‘ nennt Walther von der Vogelweide neben Leopold VI., Herzog von Steiermark und Österreich, und dem verstorbenen Welf VI., Markgraf von Tuszien und Herzog von Spoleto, auch den Hof eines Patriarchen als Grund für persönliches – weil materielles – Wohlergehen: Die wîle ich drîe hove weiz sô lobelîcher manne, sô ist mîn wîn gelesen und sûset wol mîn pfanne. der biderbe patriarche missewende vrî, der ist ir einer, sô ist mîn höfscher trôst zehant dâ bî. (L. 34,34–37/Bein 12,XIV,1–4)

Der Gedanke an das Ausgaberegister Wolfgers von Erla, Bischof von Passau (1191– 1204) und Patriarch von Aquileia (1204–1218), liegt hier nahe: Wolfger hatte am 12. November 1203 die Entlohnung Walthers mit fünf langen Schilling (zweckgebunden?) für einen Pelzrock veranlasst: Sequenti die apud Zei[zemurum] Walthero cantori de Vogelweide pro pellicio .v. sol. longos (Heger, Lebenszeugnis, S. 86). Unklar bleibt in diesem Zusammenhang, ob dieser Entlohnung ein konkretes und längerfristiges Dienstverhältnis zugrunde lag, ob ein kurzfristiges Engagement vergleichbar mit anderen Unterhaltungskünstlern den Anlass zur Entlohnung gab (Curschmann, Cantor) oder ob Walther gar als nuntius des Königs Philipp von Schwaben entlohnt wurde (Hucker, Lebenszeugnis). Da der ‚Drei-Fürsten-Preis‘ wohl zwischen 1213 und 1218 entstanden sein dürfte, lässt sich aus dieser Strophe kein direktes Abhängigkeits-

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verhältnis herleiten. Vielleicht feiert der Spruch die Erinnerung an ein vergangenes Abhängigkeitsverhältnis, um das Lob des aktuellen Gönners Leopold  VI. noch zu akzentuieren, schließlich hatte Walther in mehreren Sprüchen auf den Hof ze Œsterrîch (L. 32,14/Bein 12,IV,8) seine Hoffnung gesetzt: vinde ich an Liupolt höveschen trôst, sô ist mir mîn muot entswollen (ebd., v. 10). Andere urkundliche Zeugnisse konkreter Bezahlungen an Spruchsänger lassen dagegen keine direkten Verbindungen zum erhaltenen Werk erkennen. So ist man im Falle des Spruchsängers Regenbogen über eine Entlohnung unterrichtet: Der cantor Regenpogen erhielt in der zweiten Augusthälfte des Jahres 1302 von Ottelin, dem Kämmerer Herzog Ludwigs von Kärnten (eines Sohnes Meinhards IV.), im Südtiroler Dorf Mittewald am Brenner ein Geldgeschenk von 2 Pfund: item in Media silva cuidam cantori dicto Regenpogen lb. II. (Schönach, Urkundliches, S. 176). Die erhaltenen Spruchstrophen Regenbogens beinhalten kein Lob des Herzogs Ludwig, dagegen ein Lob auf den Markgrafen Waldemar von Brandenburg, eine Totenklage auf Otto IV. (mit dem Pfeil), Markgraf von Brandenburg, auf Herzog Waldemar IV. von Schleswig sowie auf den Straßburger Bischof Konrad von Lichtenberg. Ähnlich verhält es sich bei Frauenlob: Er erhielt am 17. August 1299 in Innsbruck von Heinrich von Aufenstein, Richter im tirolischen Thaur, im Auftrag von Herzog Heinrich von Kärnten 15 Mark zum Kauf eines Schlachtrosses: ex hiis ystrioni dicto Vrowenlop pro dextrario marc. xv. iussu domini ducis Heinrici ex litteris (ebd., S. 175). Seine erhaltenen Fürstenpreise gelten allerdings dem dänischen König Erik Menved, dem Bremer Erzbischof Giselbert, Graf Otto (III.?) von Ravensberg, Graf Gerhard von Hoya, Fürst Wizlav (III.?) von Rügen, Herzog Heinrich I. oder Herzog Heinrich II. von Mecklenburg, Graf Otto II. von Oldenburg, Graf Ludwig IV. von Oettingen, Herzog Meinhard IV. von Kärnten sowie Herzog Otto III. von Niederbayern. Und am 15. Juni 1303 erhielt ein cantor mit dem Namen Meißner 20 Pfund von Herzog Otto III. von Kärnten: item Mihsnerio cantori lb xx per litteras ducis Ottonis (ebd., S. 176  f.). Des Meißners erhaltene Lobstrophen beziehen sich auf den Reichsministerialen Herdegen von Gründlach, Bischof Hermann von Kammin, Markgraf Otto V. (den Langen) von Brandenburg, Markgraf Otto IV. von Brandenburg sowie Markgraf Albrecht III. von Brandenburg. Zahlreiche Urkunden nennen einen Henricus Misnerus als miles und dominus unter den fideli und famuli im weiteren Umkreis der Brandenburger Markgrafen; die Selbstinszenierung des Meißners passt aber kaum zu dem „Bild eines begüterten Ritters und Kriegsmannes“, das sich aus den Urkunden ergibt (Obj., S. 22  f.). Problematisierung Während das Minnelied heute nahezu unbestritten als mehr literarisches denn als autobiographisch zu verstehendes Werk gesehen und gedeutet wird, in dem kaum ein Autor spricht, sondern von diesem gestaltete Rollen in einem fiktionalen Rahmen agieren, beginnt sich eine derartige Sichtweise in der Erforschung des Spruchsangs erst durchzusetzen. Die Problematik rührt daher, dass durch die Thematik des Spruch­



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sangs ein einfacher Bezug zur Realität gegeben sein kann, was z.  B. für politische oder zeitaktuelle Dichtungen in ihrem primären Entstehungskontext – nicht aber in ihrem späteren Überlieferungskontext – unmittelbar einleuchtet. Dieses unmittelbare Verhältnis wird allerdings auch auf die vielfach überlieferten Lobstrophen, Tadelstrophen und natürlich die Heischestrophen übertragen: „Bittet ein Sänger um Lohn, dann – so die Folgerung auf die soziale Situation des Sängers – hat er diesen auch nötig. Wird in einer Strophe eines Sängers ein namentlich genannter Herr gelobt, dann muß dieser Sänger – so wird stets angenommen – zur Entstehungszeit der Strophe am Hof dieses Herrn gelebt haben. Wie problematisch dieser Schluß vom literarischen Text auf die soziale Situation des Verfassers ist, zeigt schon ein Blick auf Scheltstrophen, die man sich ja wohl kaum in Gegenwart desjenigen rezitiert vorstellen kann, gegen den sie sich richten“ (Haustein, Marner-Studien, S. 3  f.). Es darf nicht übersehen werden, dass der Spruchsang keine historische, sondern eine literarische Quellengattung ist, in der selbstverständlich auch ein Spiel mit literarischen Rollen getrieben werden kann, so dass eine Übertragung der Aussagen eines Rollen-Ichs bzw. Sprecher-Ichs auf eine Autorpersönlichkeit prinzipiell problematisch ist (vgl. auch → Kapitel III.5). Das aber war lange Zeit Usus, auch und gerade bei der Untersuchung von Gönnerbeziehungen: „Alle Datierungsversuche und Hinweise auf die aus den Strophen zu ermittelnden Gönnerbeziehungen setzen freilich unausgesprochen voraus, daß diesen Sprüchen eine tatsächliche oder doch wenigstens angestrebte Gönner-Beziehung zugrunde liegt, daß der Sänger am Hof des Besungenen zeitweise gelebt und in seinem Dienst Propaganda getrieben hat. Weite Teile unserer Literaturgeschichtsschreibung des 13.  Jahrhunderts beruhen auf dieser Voraussetzung“ (Haustein, Marner-Studien, S. 207). Auf diese Weise wird auch bei folgenden Spruchsängern, die Adlige loben, auf ein potentielles oder tatsächliches Gönnerverhältnis geschlossen: Reinmar von Zweter lobt Kaiser Friedrich  II. (Roe. 136–141, 240), den dänischen König Erich  IV. (Roe. 148), den Mainzer Erzbischof Siegfried  III. von Eppstein (Roe. 185, 228) und Markgraf Heinrich III. von Meißen (Roe. 227) (vgl. Brunner, Reinmar von Zweter, Sp. 1199  f.). Rumelant von Schwaben lobt einen nicht zu identifizierenden Herrn Johann und rühmt Ehre und Tugend der verstorbenen Herren Ulrich von Reifenberg († 1277) und Volkmar von Kemenaten († 1275), die beide auch von Friedrich von Sonnenburg und Kelin gepriesen werden (vgl. Schanze, Rumelant, Sp. 388). Meister Sigeher besingt die Ehre König Wenzels I. von Böhmen und der Ritter Wernhart und Heinrich von Preuzzel (vgl. Haustein, Sigeher, Sp. 1234). Der Urenheimer formuliert das Lob eines Grafen Otto von Anhalt, entweder Otto I. († 1304/05) oder Otto II. († 1315) (vgl. Schanze, Urenheimer, Sp. 123). Wizlav preist Ehre und Tugend des Grafen Erich von Holstein-Schauenburg (vgl. Wachinger, Wizlav, Sp. 1296). Die Forschung sollte bei den im Spruchsang genannten Personen im Modus des Fürstenlobs differenzieren. Nicht jede Nennung eines Fürsten und nicht jedes Lob wird auf ein bestehendes oder erhofftes Gönnerverhältnis des Spruchsängers hinweisen. Die Listen der Gönnerzeugnisse von Georgi, Preisgedicht, und Bumke, Mäzene, können in diesem Zusammenhang durchaus als irreführend bezeichnet werden, ver-

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sammeln sie doch eigentlich thematisch heterogene Spruchstrophen mit allgemeinem Fürstenlob, spezifischem Lob der milte eines Fürsten, Ermahnungen zur fürstlichen milte, Enttäuschung über ausbleibende milte mit Hinweisen auf ein offensichtlich konkretes Dienstverhältnis zu einem Fürsten bzw. an einem Hof unter lediglich einer Kategorie: „Gönnerzeugnisse“. Der offensichtlich implizit gezogene Schluss vom Akt des Lobens auf ein außerliterarisch vorliegendes Dienstverhältnis ist methodisch fragwürdig. Es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass „Gönnerausführungen Wunsch (ficta) der Dichter und vielleicht nicht gerade historische Wirklichkeit“ (Strobel/ Wolf, Erben, S. 25) abbilden. Befragt man die bei Bumke versammelten Texte genauer, ob sie wirklich ein Dienstverhältnis und eine damit im Zusammenhang stehende Entlohnung thematisieren, so ergibt sich eine reduzierte Anzahl von Textzeugnissen, die als Hinweis auf ein Gönnerverhältnis gedeutet werden können. Entlohnung und Gaben Nicht immer muss auf Dienst durch Sang auch eine Entlohnung folgen, wie aus einer Aussage des Tannhäusers hervorgeht, der sich wohl um die Gunst König Konrads IV. bemüht hatte (vgl. Wachinger, Tannhäuser, Sp. 601): dem künige sprich ich wol, in weiz, wenne er mir lône (Sieb. XIV,1,9). Konkrete Zeugnisse für empfangene Gaben sind im Corpus des Spruchsangs vergleichsweise selten. Eine Ausnahme bildet Walther von der Vogelweide, der sich bei König Friedrich II. für ein Lehen bedankt (L. 28,31–33/ Bein 11[C],VII,1–3). König Friedrich II. hatte Walther auch mit anderen Einkünften versehen, mit denen der Sänger aber offensichtlich nichts anfangen konnte: Der künic, mîn hêrre, lêch mir gelt ze drîzec marken, / des enkan ich niht gesliezen in den arken (L. 27,7  f./Bein 11[C],III,1  f.). Bei demselben Friedrich II., nun allerdings Kaiser, bedankt sich Walther für die Übersendung einer Kerze (L. 84,30–33/Bein 3,VIII,1–4). Als weiterer Gönner Walthers von der Vogelweide ist Herzog Bernhard  II. von Kärnten zu nennen, dem der Spruchsänger einerseits unspezifizierte Gaben verdankt, welchem andererseits aber ihm zugedachte Kleider offenbar nicht ausgehändigt wurden: Ich hân des Kernders gâbe dicke enpfangen. / […] / dô er hâte mir geschaffen kleider, / daz man mir niht engap, dar umbe zürne er anderswâ (L. 32,17–23/Bein 12,V,1–7). Eine wertvolle Gabe in Form eines Diamanten erhielt Walther – offenkundig als Geschenk und nicht als Entlohnung – von dem rheinischen Grafen Dieter II. von Katzenellenbogen: Den dîemant, den edelen stein, / gap mir der schœnesten ritter ein. / âne bete wart mir diu gâbe sîne (L. 80,35–81,1/Bein 54,XI,1–3). Rumelant von Sachsen, dessen Spruchstrophen Herzog Ludwig  II. von Bayern (Ruw. II,13 und VI,9) feiern, Lob und Totenklage auf Herzog Albrecht I. von Braunschweig (Ruw. II,12, VI,5, VIII,4) bieten, die Herren Zabel von Riddagesdorf und Plawe (Ruw. VIII,12) sowie den dänischen König Erik Menved (Ruw. V,8) preisen, weisen nur im Falle des Nachrufs auf den 1274 verstorbenen Grafen Gunzelin III. von Schwerin auf konkrete Entlohnung hin:



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Nicht wol ich sîn vergezzen mac, der mich sô manigen lieben tac gevreuwet hât mit sîner habe (nu vreuwe in Got), der werde! vil vreude ich wîlen was gewon bî im, dâ bin ich leider von gescheiden trûrichlîchen abe. (Ruw. VIII,10,1–7)

Barnim I. von Stettin, Herzog von Pommern, wird ebenfalls wegen seiner Freigebigkeit gelobt. Die Verse Ruw. II,14,9 bieten allerdings nur ein allgemeines Lob der milte, ob sich hieraus ein konkretes Gönnerverhältnis ableiten lässt, muss offenbleiben. Der Spruchsänger Friedrich von Sonnenburg, bei dem unklar bleibt, ob es sich um den Angehörigen eines Ministerialengeschlechtes aus Tirol handelt (vgl. Mas., S. XVI–XVIII), preist unter anderem die milte Herzog Heinrichs I. von Niederbayern (1253–1290): ine weiz ob miltern vürsten ie kein mensch me gesach! (Mas. 45,10). Auch Graf Friedrich von Beichlingen wird gerühmt: er pfliget vil rehter milte (Mas. 60,12). Eine persönliche Erfahrung der Freigebigkeit wird allerdings nur an einer Stelle deutlich: Der den von Rifenberc alrest ze eime zwie maz, / […] / dem ere nie gebrast. / Noch groezer den ein zederboum, daz ist mir worden kunt, / […] / er rilich reret riche vruht den gernden naht und tac (Mas. 41,1–12). Mit dem von Rifenberc ist wahrscheinlich Ulrich von Reifenberg gemeint (Mas., S. XIX; Müller, U., Untersuchungen, S. 131), der auch von Rumelant von Schwaben gepriesen wurde. Der zu den fahrenden Spruchsängern gezählte Kelin erwähnt nur ganz allgemein eine Gabe für sich und andere Spruchsänger durch den staufischen Ministerialen Volkmar von Kemenaten († 1275), der auch von Rumelant von Schwaben ein Lob erhält (vgl. Müller, U., Untersuchungen, S. 114): Volcmâre von Kemenâten / dem sage er mîne leit, / der manigen hât berâten / in hôchgelobter wirdicheit, / […] / Sît daz ich von dem edeln schiet, / der mich und manigen gernden dâ mit gâbe wol beriet (Whm. III,8,6– 12). Wenn Spruchsänger keine konkreten Angaben machen, ist die Art der Entlohnung als Manifestation fürstlicher milte kaum sicher zu bestimmen: „Art und Höhe der Entlohnung werden je nach der Aufgabe sowie dem Ansehen und den Verhältnissen des jeweiligen Dichters verschieden gewesen sein […], ohne daß aber für den einzelnen Fall genaueres bekannt wäre“ (Müller, U., Untersuchungen, S. 314  f.). Die Art der Entlohnung dürfte aber nicht folgenlos für die Bestimmung des Abhängigkeitsverhältnisses des Sängers zum Gönner sein, da verschiedene Modi der Entlohnung denkbar sind: „Man muß mithin sachgerecht unterscheiden zwischen Ehrenlohn, Honorar, Almosen, Gage und Gehalt“ (Salmen, Musiker, S. 141). Dienst Auch Zeugnisse für konkrete Dienstverhältnisse sind weit seltener, als es die zahlreichen Namennennungen im Spruchsang vermuten lassen. Walther von der Vogelweide ist mit seinen Selbstaussagen wieder eine Ausnahme. Im Ersten Philipps-Ton wird

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ein durch den Tod Herzog Friedrichs I. von Österreich erzwungener Gönnerwechsel an den Stauferhof Philipps von Schwaben thematisiert: Ich bin wol ze fiure komen, / mich hât daz rîch und ouch diu krôn an sich genomen (L. 19,35  f./Bein 9,IV,7  f.). Dem Thüringer Landgrafenhof scheint Walther über längere Zeit verbunden gewesen zu sein. Im ‚Landgrafenpreis‘ bezeichnet sich Walther stolz als dem Hof zugehörig, als ingesinde: Ich bin des milten lantgrâven ingesinde. / ez ist mîn site, daz man mich iemer bî den tiursten vinde (L. 35,7  f./Bein 12,XV,1  f.). Während diese Spruchstrophe – datiert zwischen ca. 1213/14 und 1217 – auf Landgraf Hermann I. von Thüringen zu beziehen ist, scheint die ‚Ludwigsmahnung‘ – bezogen auf Hermanns Sohn, den Landgrafen Ludwig  IV. von Thüringen, den Walther als seinen Herrn bezeichnet  – kein enges Dienstverhältnis vorauszusetzen, muss sich der Spruchsänger doch an dessen Räte wenden, um Gehör zu finden: Swer an des edeln lantgrâven râte sî / dur sîne hübscheit, er sî dienstman oder vrî, / der mane in umb mîn lêren, sô daz ich in spür dâ bî. / mîn junger hêrre ist milt erkant, man seit mir, er sî stæte (L. 85,17–20/Bein 3,XI,1–4). Der Tannhäuser spielt verschiedentlich auf den Tod des österreichischen Herzogs Friedrich  II. des Streitbaren an. Seine Aussage der mich sô wol behûset hât (Sieb. XIV,4,2) kann als Hinweis auf ein Dienstverhältnis verstanden werden (vgl. Wachinger, Tannhäuser, Sp. 601). Hermann Damen, dessen soziale und ständische Herkunft unklar ist (er stammt möglicherweise aus dem Geschlecht derer von Dahme oder aus einer wohlhabenden Rostocker Familie, vgl. Bleck, Damen, S. 97–113), hat eine Vielzahl von Lobstrophen verfasst, unter anderem auf Heinrich I. von Holstein, auf ungenannte Brandenburger Fürsten (vermutet werden Otto V. der Lange, dessen Bruder Albrecht III. und deren Vetter Otto IV. mit dem Pfeil, Johann II. von Gristow und dessen Bruder, ein Herzog von Schleswig, wohl Waldemar IV., sowie ein Herr von Ravensberg, vermutlich Otto III.). Ausdrücklich als hêrre mîn wird Adolf V. von Segeberg (1252–1308) bezeichnet (vgl. Müller, U., Untersuchungen, S. 161  f.; Bleck, Damen, S. 137): von Sigeberc ich meine grâben Alf den hêrren mîn (Schl. III,9). Hingegen bezeichnet Der von Wengen die Kiburger Grafen Hermann  IV. († 1264) und Hermann V. († 1263) als seine vil milten herren (vgl. Müller, U., Untersuchungen, S. 111): sît unverzagt an den vil milten herren mîn, / si hânt nach êren ie verzert ir huoben gelt:/ ir hânt ir kleider und ir ors vil manigez gefüeret ubervelt (SM 23,2: II,10–12). Der Marner hat volkssprachige Lobstrophen für Graf Hermann von Henneberg (†  1290) und den staufischen Prinzen Konradin verfasst, in seinen lateinischen Gedichten werden Heinrich von Zwettl, Propst von Maria Saal in Kärnten, sowie Bruno von Holstein-Schauenburg, Bischof von Olmütz, genannt. Als hêrren mîn bezeichnet er ausdrücklich nur einen Herren von Heinburg: ich vorderte ze gezúge / von heinburg, den herren min, / (dem sint rede, wort, rime in sprúchen kunt) (Wms. 6,17,10  f.), der nicht zu identifizieren ist. Diesen mit einem älteren Verwandten Heinrichs von Heimburg, in dessen Annalen des Marners Preislied auf Bischof Bruno von Olmütz überliefert ist (Wms., S. 19  f.; allgemein Haustein, Marner-Studien, S. 117) gleichzusetzen, bleibt eine Spekulation.



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Wenn auch der Konnex von Dienst und Lohn im Spruchsang stark akzentuiert wird, so wird nicht in allen Fällen sicher zu entscheiden sein, ob das vom Spruchsänger evozierte Dienstverhältnis primär eines als Sänger gewesen sein muss. Das konkrete Verhältnis zwischen dem Spruchsänger und dem Hof, auf den sich die Spruchstrophen jeweils beziehen, bleibt oft unklar. Wenn sich Walther von der Vogelweide zum ingesinde („alle zum hause eines fürsten gehörende personen, die den hofstaat und das gefolge ausmachenden diener und vasallen, männer und frauen, dienerschaft“, BMZ II,2, Sp. 295 s.  v. gesinde) des Thüringer Landgrafen rechnet, ist die Zugehörigkeit zum Hof im weiteren Sinne oder im engeren Sinne (als Träger eines bestimmten Amtes) nicht zu klären. Man wird mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass das primäre Dienstverhältnis eines Spruchsängers auch ein klassisches Hofamt gewesen sein kann und Dichtung, die im Mittelalter nicht immer einen „Mehrwert, von dem er [der Dichter] hätte leben können“ (Fried, Mäzenatentum, S. 54), produzierte, im Hinblick auf die Existenzsicherung als etwas Akzidentielles und nicht als das Essentielle angesehen werden muss – so wie es Hartmann von Aue im Prolog zum ‚Iwein‘ zum Ausdruck bringt, wo es möglicherweise nicht um die Inszenierung des eigenen Dilettantentums, sondern um den Primat des Lebens vor der Kunst geht: Ein rîter, der gelêret was / unde ez an den buochen las, / swenner sîne stunde / niht baz bewenden kunde, / daz er ouch tihtennes pflac (v. 21–25). Bei der Inszenierung des Spruchsangs als Dienst geht es letztlich auch um die „Geltung der Kunst des Sängers, […] ihre Akzeptanz in höfischen Kommunikationsordnungen“ (Strohschneider, Fürst, S. 86). Sozialer Status und Sänger-Rolle Die soziale Herkunft von Spruchsängern weist nicht nur auf eine gesellschaftlich randständige Existenz, sondern auch auf den Adel, den Dienstadel und auf das Stadtbürgertum hin (s.  oben → Kapitel III.2; vgl. auch Franz, Studien, S. 14–19): Reinmar von Brennenberg (vgl. Schanze, Brennenberg, Sp. 1192), Der von Wengen (vgl. Schiendorfer, Wengen, Sp. 849  f.) und Der von Buchein (vgl. Worstbrock, Buchein, Sp. 1105) dürften Ministerialen gewesen sein. Friedrich von Sonnenburg wird bei Hans Folz und Konrad Nachtigall als her oder graff bezeichnet, in der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ und in der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ dagegen als meister (vgl. Kornrumpf, Sonnenburg, Sp. 963). Johann von Ringgenberg war möglicherweise ein Freiherr (vgl. Grubmüller, Ringgenberg, Sp. 721). Leuthold von Seven wird als her bezeichnet, es wird vermutet, er sei ein dilettierender Adliger gewesen (vgl. Mertens, Leuthold, Sp. 737). Ulrich von Singenberg hatte das Amt eines Truchsessen inne (vgl. Schiendorfer, Singenberg, Sp. 22  f.). Der Meißner  – sofern die Identifikationen richtig sind – wird in Urkunden als miles und dominus bezeichnet (vgl. Obj., S. 22–24). Der Ungelehrte, von dem keine Texte, aber Töne erhalten geblieben sind, war wohl verheirateter Hausbesitzer und magister in Stralsund (vgl. Wachinger, Ungelehrter, Sp. 75). Walther von Breisach war eventuell magister in Breisach und schulmeister ze Vriburg (vgl. Lutz, Walther, Sp. 639).

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Derartige Zuweisungen, auch wenn sie sich nicht alle zweifelsfrei belegen lassen, relativieren den Schluss, dass Spruchsänger automatisch dem Stand der Fahrenden zuzuweisen sind und demzufolge existenziell abhängig von der Huld verschiedener Gönner und Mäzene waren. Wenn der Spruchsänger Der Hardegger mit dem St. Gal­ler Ministerialen Heinrich von Hardegge identisch ist (vgl. Kornrumpf, Hardegger, Sp. 465), dann scheint es bei einer Gleichsetzung von Sänger-Rolle und sozialem Status nur konsequent, dass bei ihm die Fahrenden-Thematik fehlt. Umgekehrt instruktiv ist die Sachlage bei Konrad von Würzburg: Im Widerspruch zu seinen Basler Lebensverhältnissen (Ehe, Hausbesitz im Basler Dombezirk in der Nachbarschaft von Domherren und Beamten des Domstifts, vgl. Brunner, Konrad von Würzburg, Sp. 276) steht die Notiz in den ‚Straßburger Annalen‘, die den Verstorbenen als vagus bezeichnen (MGH SS XVII, 233; s. auch unten → Kapitel  VII.7). Gelegentlich argumentiert Konrad in seinen Spruchstrophen wie ein fahrender Sänger: Gernder man die cleinen gâbe schelte niht (Schr. 19,21); swen des gernden kumber jage, darûf er sich versinne wol (Schr. 32,339). Wahrscheinlich nimmt er dabei aber nur eine geläufige Rolle des Spruchsängers ein. Schwierig bleibt in diesem Zusammenhang die Bestimmung des Verhältnisses von sozialem Status zur Sänger-Rolle bei Spruchsängern mit Tätigkeitsbezeichnungen (Der Kanzler, Der Schulmeister von Esslingen, Der Tugendhafte Schreiber) oder Künstlernamen bzw. „Spielmannsnamen“ (Franz, Studien, S.  18) wie Gast, Der Marner, Rumelant/Rumslant (von Sachsen), Rumelant von Schwaben, Der Wilde Alexander, die den Fahrendenstatus möglicherweise nur inszenieren. Begrifflichkeiten: Gönner, Mäzen, Sponsoring, Auftragskunst, Patronage Für die konkrete Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem einzelnen Spruchsänger und der Institution Hof bzw. dem diesen verkörpernden Fürsten ist nicht nur die Art und Weise der Entlohnung ausschlaggebend, sondern auch, wie die Lohn gewährende Instanz diesen Akt selbst begreift. In der Forschung hat sich dabei eine diffuse Begrifflichkeit herausgeschält, die den Lohngewährenden meist entweder als Mäzen oder Gönner bezeichnet, wobei die Begriffe oft synonym verwendet werden. Eine engere Definition in Anlehnung an Bumke (Mäzene) begriff die mittelalterliche Literatur generell  – und auch den Spruchsang  – als Auftragskunst; diese „war im Auftrag und in Abhängigkeit von Gönnern produziert worden, einer Abhängigkeit, die sowohl inhaltlicher als auch existentieller Natur sein konnte, insofern Mäzene den zu behandelnden Gegenstand vorgaben und Dichter auf Gnade und Ungnade deren Lebensumständen, Interessen und Launen ausgeliefert waren. Weltliche Dichtung war Auftragskunst“ (Fried, Mäzenatentum, S. 49). Weil literarische Erzeugnisse als „Instrumentarium der Herrschaftsausübung“ gelten und dem Spruchsang eine „herrschaftsstützende Funktion“ (Johanek, Literatur, S. 212) zugeschrieben wird, konnte sich unter der Voraussetzung des Dienst-Lohn-Verhältnisses zwischen Hof/Fürst und Spruchsänger die Vorstellung entwickeln, der Spruchsang sei eine künstlerische Auf-



Mäzene und Höfe 

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tragsleistung mit dem Ziel propagandistischer Außenwirkung des Fürsten. Mit einem modernen Begriff vom Mäzenatentum ist diese Sichtweise jedoch kaum vereinbar, versteht man darunter doch in erster Linie die „fördernde und wohltätige Haltung gegenüber Künstlern, Schriftstellern und Gelehrten“ (Mollat du Jourdin, Mäzen, Sp. 430), bei der kein inhaltlicher Einfluss auf den Geförderten genommen wird (vgl. Schaub, Sponsoring, S. 89). Mit anderen Worten: „Mäzen ist […], wer die Kunst, das Gemeinwohl oder die Wissenschaft um ihrer selbst willen fördert“ (Fried, Mäzenatentum, S. 54). Wenn Dichtung nicht autonom entsteht, dann wäre für den Zusammenhang des Spruchsangs der moderne Begriff des (Kultur-)Sponsoring oder der Auftragskunst zu bevorzugen, weil beim Sponsoring im Rahmen eines Rechtsgeschäfts eine bestimmte Gegenleistung des materiell Geförderten erwartet wird (vgl. Schaub, Sponsoring, S.  390)  – Begriffe wie Subventionierung, Alimentation, Unterhalt und Sustenation erweisen sich wegen ihres Nichtbezugs zur Kunst als ungeeignet. Da der vertragliche Aspekt im Verhältnis von Fürst und Spruchsänger keine sichtbare Rolle spielt und auch die Intention eines mittelalterlichen fürstlichen Sponsors sich kaum wird aufdecken lassen, scheint für die Bestimmung des wechselseitigen Verhältnisses der Begriff der Patronage angemessener zu sein, bei der eine explizite Bezahlung nicht im Vordergrund steht (vgl. McDonald, Patronage, S. 4  f.; Oevermann, Modell, S. 13): „First, it involves the reciprocal exchange of goods and services. Secondly, to distinguish it from a commercial transaction in the marketplace, the relationship must be a personal one of some duration. Thirdly, it must be asymmetrical, in the sense that the two parties are of unequal status and offer different kinds of goods and services in the exchange – a quality which sets patronage off from friendship between equals“ (Saller, Patronage, S. 49). Mit dem Modell der Patronage, „unter die Herrscher und wirtschaftlich Mächtige die kulturelle kreative Tätigkeit fördernd so stellen, daß jene für ihre Zwecke, d.  h. ihren Einfluß mehrend und befestigend, davon profitiert“ (Oevermann, Modell, S. 14), dürfte das Verhältnis zwischen Spruchsänger und Hof/ Fürst besser beschrieben sein, weil sich diesem Verhältnis auch andere Sänger-Rollen wie die des Scheltenden, des „Hofhochschuldozenten“ (Hübner, S. 69), des Laientheologen, des Künstlers, des Ratgebers etc. subsumieren lassen. Schließlich befreit das Patronage-Verhältnis auch den Spruchsang aus dem ihm unterstellten einseitigen Abhängigkeitsverhältnis, demzufolge ein Gönner-Verhältnis als etwas der Dichtung Vorgelagertes, als Voraussetzung verstanden wurde. Die These, „patrons did not make courtly romance; courtly romance made patrons“ (Jaeger, Patrons, S.  46), könnte auch für den Spruchsang Gültigkeit beanspruchen. Ausg. Beheim, Pfälzische Reimchronik; C.-W.; HMS; KLD; L./Bein; Mas.; MF; MFMT; Obj.; Ruw.; Schl.; Schr.; Whm.; Wms.; Zck. – Lit. Behr, Mäzen; Bleck, Damen; Brunner, Konrad von Würzburg; Brunner, Reinmar von Zweter; Bumke, Mäzene; Curschmann, Cantor; Ebenbauer, Dichtung; Franz, Studien; Fried, Mäzenatentum; Georgi, Preisgedicht; Grubmüller, Ringgenberg; Haustein, Marner-Studien; Haustein, Sigeher; Heger, Lebenszeugnis; Hübner, Hofhochschuldozenten; Hucker, Lebenszeugnis; Jaeger, Patrons; Johanek, Literatur; Kornrumpf, Boppe; Kornrumpf, Hardegger;

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 Pragmatische und mediale Kontexte

Kornrumpf, Sonnenburg; Krause, „milte“-Thematik; Lauer, C., Sänger-Rollen; Lutz, Walther; McDonald, Patronage; Mertens, Leuthold; Mollat du Jourdin, Mäzen; Müller, U., Untersuchungen; Oevermann, Modell; Paravicini, Raum; Rockinger, Briefsteller; Saller, Patronage; Salmen, Musiker; Schanze, Brennenberg; Schanze, Rumelant; Schanze, Urenheimer; Schaub, Sponsoring; Schiendorfer, Pfeffel; Schiendorfer, Singenberg; Schiendorfer, Wengen; Schönach, Urkundliches; Schreiner, Hof; Schubert, M. J., Einleitung; Strobel/Wolf, Erben; Strohschneider, Fürst; Tervooren, Goldener; Wachinger, Autorschaft; Wachinger, Tannhäuser; Wachinger, Ungelehrter; Wachinger, Wizlav; Wolf, J., Mäzenatentum; Worstbrock, Buchein.

2 Status und Bildungsvoraussetzungen der Sangspruchdichter

Sabine Obermaier

Zu Status und Bildungsvoraussetzungen der Sangspruchdichter geben die mittelalterlichen Quellen erwartungsgemäß kaum Auskunft. Zweifelsfrei dem Adel gehören an Graf Albrecht II. von Hohenberg und Haigerloch (um 1235–1298), der Freiherr Bligger von (Neckar-)Steinach (vermutlich Bligger  III., um 1200) und Ulrich von Singenberg, Truchsess von St. Gallen (1. H. 13. Jh.). Die Identität Johanns von Ringgenberg mit dem gleichnamigen Freiherrn (1291–1350 bezeugt) ist nicht beweisbar, aber sehr wahrscheinlich. Dagegen kann der Status Leutholds von Seven (13. Jh.) als dominus, Rein(h)olts von der Lippe (13. Jh.) als Stadtgraf und Wernhers von Teufen (1. H. 13. Jh.) als Freiherr nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Die Identifizierung Wizlavs (um 1300) mit Fürst Wizlav III. von Rügen gilt heute als widerlegt. Zur Ministerialität bzw. zum niederen Dienstadel zählen wahrscheinlich (Albrecht Pilgrim) von Buchein und Reinmar von Brennenberg, möglicherweise auch Friedrich von Sonnenburg (wobei die gernden-Thematik für eine Lebensform als Fahrender spricht). Ob der Hardegger (2. V. 13. Jh.) und Der von Wengen zu den entsprechenden St. Galler Ministerialengeschlechtern gehören, ist ungewiss. Umstritten sind der Status Hermann Damens (Ende 13.  Jh., Rostocker Bürgersohn oder Adliger?), Hawarts (13.  Jh., Tiroler Ritter, Straßburger Stadtadliger oder Fahrender?) und Pfeffels (2. H. 13. Jh., Basler Stadtritter oder Fahrender?). Keiner dieser (vielleicht) Adligen ist allerdings – abgesehen von Friedrich von Sonnenburg – „ein typischer Vertreter dieser Dichtung“ (Franz, Studien, S. 15). Auch in sog. Bildungsberufen sind Sangspruchdichter anzutreffen: Walther von Breisach dürfte Schulmeister in Breisach und Freiburg (1256–1303 bezeugt) gewesen sein. Der Ungelehrte ist vermutlich mit einem in Stralsund ansässigen Magister Vnghelarde identifizierbar (1300 bezeugt). Der Schulmeister von Esslingen ist vielleicht tatsächlich mit einem Zürcher Schulmeister namens Heinrich aus Esslingen bei Zürich identisch (1279–1281 bezeugt), obgleich schuolmeister als Übersetzung von lat. scholasticus auch einfach nur ‚Schüler‘, ‚Student‘ oder ‚Lehrer‘ bedeuten kann. Seines Namens und seiner Rolle in der ‚Wartburgkrieg‘-Dichtung wegen vermutet man für den Tugendhaften Schreiber (1. H. 13. Jh.) ein Amt am thüringischen Landgrafenhof; beweisen lässt sich das nicht.



Status und Bildungsvoraussetzungen der Sangspruchdichter 

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Handwerkerstatus haben nachweislich erst einige der späten Spruchdichter (z.  B. Michel Beheim) und die Meistersinger; ob der Sangspruchdichter Regenbogen (um 1300) tatsächlich zunächst Schmied war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Selbstaussagen der Dichter, ihre programmatischen Eigennamen und die Gönnernennungen in ihren Werken machen für das Gros der Sangspruchdichter eine Existenz als Fahrende am wahrscheinlichsten (siehe die Übersicht am Ende des Beitrags). Dies gilt für so namhafte Autoren wie Boppe (letztes Viertel 13. Jh.), Frauenlob († 1318), Heinrich von Mügeln (3. V. 14. Jh.), Konrad von Würzburg († 1287), den Marner (13. Jh.), den Meißner (2. H. 13. Jh.), Reinmar von Zweter (1. H. 13. Jh.), Rumelant von Sachsen (2. H. 13. Jh.), Tannhäuser (Mitte 13. Jh.), Walther von der Vogelweide (bis um 1230) und Bruder Wernher (1.  H.  13.  Jh.), der  – trotz seines Namenszusatzes  – wohl nicht zum Klerus gehört. Überdies gibt es eine Reihe von Sangspruchdichtern, bei denen keinerlei Hinweise auf ihren Status auszumachen sind (siehe Übersicht S. 64  f.). Was aber ist mit der Einordnung als varnde und – wie sie sich auch nennen – als gernde gewonnen? Als Fahrende sind sie ohne festen Wohnsitz und auf die Gunst von Gönnern angewiesen. Als Gehrende sind sie Künstler, die  – so die geläufige Formel – guot umbe êre nehmen, die also gegen materiellen Lohn mit ihrer Kunst die gesellschaftliche Reputation ihres Gönners zu vergrößern suchen. Ob sie mit dieser Lebensform pauschal als recht- und ehrlose Außenseiter qualifiziert sind (Krause, „milte“-Thematik, S. 71) oder gar zu den „unehrliche[n] Leute[n]“ zählen (SchreierHornung, Spielleute, S. 51), ist allerdings fraglich: varnde diet wie gernde diet – das ist keine homogene soziale Gruppe (Franz, Studien, S. 78; Schubert, E., Volk, S. 18), ja vielleicht noch nicht einmal eine Randgruppe (Schubert, E., Volk, S.  19). Doch auch wenn man die gernden als „selbstbewußte ‚Oberschicht‘ der Fahrenden“ (ebd., S. 8), als „bevorzugte Gruppe unter den Fahrenden“ (ebd., S. 9) sehen kann, so ist doch gerade hier die „Gefahr der sozialen Deklassierung“ (Franz, Studien, S.  78) immer präsent: „Dünn und durchlässig war in der höfischen Gesellschaft die Grenze zwischen dem angesehenen Fahrenden und dem armen Vagabunden“ (Schubert, E., Volk, S. 9). Von dieser prekären Position legen einige gängige Motive der Sangspruchdichtung beredtes Zeugnis ab. Im wirt-gast-Motiv wird – aus der „sozial vorgefertigten Rolle des fahrenden Sängers“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 88 u. ö.) heraus – das traurige Los dessen reflektiert, der keinen festen Wohnsitz hat, was Walther von der Vogelweide im Ausruf gast, wê dir, wê (L. 28,8/Bein 11,III,8) auf den Punkt bringt und was vom Adligen Ulrich von Singenberg parodistisch beantwortet wird: Sust heizze ich wirt und rîte hein: da ist mir niht wê […] (SM 12,29: III,8  f.). Von den vielen Demütigungen, denen ein Fahrender offenbar ausgesetzt war, zeugt die nicht unerhebliche Zahl der Sangsprüche, die sich mit dem rechten gruoz, der angemessenen Aufnahme, Bewirtung und Verabschiedung des gastes beschäftigen (Belege bei Krause, S.  80–87). Und wohl kaum zufällig bildet die Sangspruchdichtung mit der Armutsklage eine eigene Subgattung aus, die für sarkastisch-witzige Pointen offen ist: Seine armuot – so lässt

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Boppe den Sänger klagen – werde erst dann ein ende haben (Alx. IV,1,1), wenn eine Reihe unmöglicher Ereignisse eingetroffen sei, also: nie. Die Angewiesenheit auf die Gunst der sesshaften und vermögenden Gönner ist der Grund, auf dem unverhüllte Bettelpoesie wie geistreiche Heischelyrik gedeihen. Die (vor allem: materielle) Abhängigkeit ist derart bestimmend, dass sie Eingang in des Meißners ‚Selbstdefinition des Sangspruchdichters‘ findet: ich bin vursten dienist, of gnade lied ich singe (Obj. XV,4,5). Ein üblicher Lohn ist getragene wât, ‚gebrauchte Kleidung‘ (vgl. Salmen, Spielmann, S.  86–89)  – umso bemerkenswerter ist es, wenn Walther von der Vogelweide behauptet: getrageniu wât ich nie genan (L. 63,3/ Bein 38,IV,6), was für Walther sogar zutreffen könnte; zumindest findet sich im Ausgabenverzeichnis des Passauer Bischofs Wolfger von Erla der Hinweis, dass der cantor Waltherus de Vogelweide eine entsprechende Summe Geldes für einen Pelzrock erhalten habe (Heger, Lebenszeugnis, S. 16). Wohl als Replik auf das vernichtende Urteil des Minnesängers Ulrich von Baumburg – swer getragener kleider gert, / der ist nit minnesanges wert! (SM 28,6: III,13  f.) – gründet dagegen Geltar in seiner aggressiven Polemik gegen die Minnesänger seinen ganzen Sangspruchdichter-Stolz auf diese Form von Lohn: so ist mir sô nôt nâch alder wât deich niht von frouwen singe. / mir wærn viere kappen lieber danne ein krenzelîn. / mir gæbe ein herre lîhter sînen meidem ûz dem stalle […] (KLD  13,II,2–4; ein Pferdegeschenk lässt sich auch für Frauenlob nachweisen; s. unten → Kapitel VII.11). Geltars Apotheose des Gehrenden kann nicht darüber hinwegtäuschen, in welch anrüchigem Ruf das guot umbe êre nemen offensichtlich stand; man singt hier aus der Defensive. Gegenwind haben die Sangspruchdichter auch durch die Kirche erhalten, welche seit den Kirchenvätern die Unterhaltungskünstler als außerhalb des ordo stehende ministri Satanae verurteilt, die überkommene heidnische Künste pflegen (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 29). Das Aufkommen der Bettelorden (als Folge des vierten Laterankonzils 1215; Kästner, Wettstreit, S. 215) spitzt die Diskussion weiter zu: Positiv bewertet die Kirche das karitative Almosen an Arme wie an Bettelmönche, negativ dagegen die diesseitsgebundene Gabe an Künstler (ebd., S. 224  f.). In seinem „Plädoyer für die wandernden Literaten“ (so Schwob, Plädoyer, S. 457) weist Friedrich von Sonnenburg (Mas. 66–69) unter subtilem Rückgriff auf den theologischen Diskurs nach, dass jeder, der in Gottes Namen ehrenvoll und ehrfürchtig um Gabe bitte, ein Anrecht auf diese Gabe habe; dies habe Christus gegenüber dem Heiligen Petrus selbst geäußert (Mas. 66; auch andere Sangspruchdichter ergänzen die Wendung guot umbe êre gerne mit dem Zusatz durch got; Belege bei Krause, „milte“-Thematik, S. 93, Anm. 198). Die Gleichsetzung der Gehrenden mit dem Teufel sei unhaltbar, da sie das Laster verabscheuen und gottesfürchtig seien (Mas. 67). Den größten Trumpf spielt der Sonnenburger aber damit aus: Wenn guot umbe ere geben Sünde sei, müsste der am meisten sündigen, der am meisten gibt, nämlich Gott (Mas. 68), und wenn guot umbe ere nemen Sünde sei, dann leben alle Lebewesen in Sünde, da sie reichlich Gottes Gaben empfangen (Mas. 69; nur wer zu viel nehme, mache sich der Todsünde der avaritia, der Habgier, schuldig).



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Zur prekären Lebensform gehört unabdingbar die Situation der Konkurrenz, und diese nicht nur – wie bereits angeklungen – zu Minnesängern und Mendikantenpredigern. Vor allem nach unten suchen die Sangspruchdichter eine deutliche Abgrenzung: Schelten gegen den Typus des selbstgefälligen Nicht-Könners sowie gegen das Heer der künstelôsen sind zahlreich (Wachinger, Sängerkrieg, S. 117  f.). Mit einem Katalog der kunst-losen Gehrenden, wozu hier Gaukler, Schachspieler, Lügenerzähler, Possenreißer, Verrückte und freche Sprücheklopfer ebenso zählen wie Hausierer, Schmeichler, Bettler und Zuhälter, beklagt der Kanzler (KLD 28,II,8): si [= die herren] gebent durch kunst niht guot (v. 19). Noch dünner erscheint die Trennlinie zu Ins­ trumentalmusikern und Spielleuten. Dies erklärt, warum die Sangspruchdichter viel Energie auf die Begründung der Vorrangstellung des Gesangs vor der Instrumentalmusik verwenden (Der Meißner Obj.  X,1; Der Unverzagte C.-W.  II,1), aber auch vor anderen Künsten (Konrad von Würzburg Schr. 32,301; dazu Obermaier, S. 188–192, 278  f.). Die Kriterien, mit denen sich die Sangspruchdichter  – auch gegeneinander  – abgrenzen, sind kunst (im Sinne von ‚Kunst‘, ‚Handwerk‘ und ‚Wissenschaft‘), sin (im Sinne von ‚Kunstverstand‘) und meisterschaft (im Sinne von ‚höchster Kunstfertigkeit und Gelehrsamkeit‘). Ihre Lebensform und ihr sozialer Status stehen dazu in einem Missverhältnis, wie Walthers daz man bî rîcher kunst mich lât alsus armen (L. 28,2/ Bein. 11,XI,2) deutlich macht. Trotzig erhebt deshalb auch der Unverzagte den Sangspruchdichter, der in gastes wîs leben muss, zum wirt der sinne (C.-W. III,4). Dass die Spruchsänger  – quasi „als kompensatorische Statusbehauptung“ für das Problem ihrer „rechtständischen Inferiorität“ (Hübner, Hofhochschuldozenten, S. 69) – das „Konzept des Sangspruchdichters als Gelehrtem“ (ebd., S.  72), wenn nicht gar als „Hofhochschuldozenten“ (ebd., S. 75) ausgebildet haben, ist eine reizvolle, aber leider kaum belegbare These. Über die konkreten Bildungsvoraussetzungen der Sangspruch-Autoren lässt sich kaum Sicheres sagen. Vielleicht kann man als „gemeinsame Bildungsgrundlagen“ tatsächlich „bei den meisten Lesen und Schreiben annehmen“ (Franz, Studien, S. 31), wobei offen bleibt, ob auch auf Latein oder nur in der Volkssprache. Möglicherweise ist auch  – sozusagen auf der untersten Stufe der Bildung  – nur von Lesefähigkeit auszugehen, denn Lesen und Schreiben werden im Mittelalter getrennt vermittelt (Nonn, Mönche, S. 24). Aus Formulierungen wie daz hœre ich lesen (Rumelant von Sachsen, Ruw. V,4,5) ist nicht zwangsläufig auf Leseunfähigkeit zu schließen (so aber noch Hellmich, Gelehrsamkeit, S. 38). Von literarischer Bildung, für die man allerdings nicht zwangsläufig ein litteratus sein muss, zeugen die zahlreichen literarischen Anspielungen wie auch die gegenseitigen namentlichen Erwähnungen, die „als Ausdruck literarischer Kommunikation“ (Burkard, Sangspruchdichter, S. 290) zu verstehen sind – einer Kommunikation, die zu einem Teil auf persönlichen Beziehungen beruht (ebd., S. 295–300). Lateinunterricht und Bildungsvermittlung sind anfangs ausschließlich die Domäne der Geistlichkeit. Der Ort für den Bildungserwerb ist zunächst die (Kinder

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unterrichtende) Klosterschule, die bald in ihrer Bedeutung abgelöst wird von den (junge Erwachsene unterrichtenden) Dom- und Stiftsschulen. Hier wird allerdings nicht nur der klerikale Nachwuchs ausgebildet; auch Weltgeistliche, (adlige) Laien und sogar arme Schüler nehmen am Unterricht teil, und dies in der Praxis wohl gemeinsam mit den Mönchen (Kintzinger, Wissen, S. 107; dagegen Nonn, Mönche, S. 58–60). Damit werden traditionelle Bildungsgrenzen aufgehoben: „Der Litteratus war nicht mehr nur der Clericus und der Illiteratus nicht mehr nur der Laicus“ (Kintzinger, Wissen, S. 127). In den Städten entwickeln sich – neben vielfältigen Formen des Privatunterrichts  – Stadtschulen, darunter auch solche für den Unterricht von Laien im Lesen und Schreiben in der Volkssprache sowie im Rechnen (Kintzinger, Wissen, S. 133; Nonn, Mönche, S. 137  f.). Aus den Kathedralschulen entstehen mit Paris und Bologna wohl noch vor 1200 die ersten Universitäten mit ihren vier Fakultäten: der Artistenfakultät mit propädeutischer Funktion, Medizin, Jura und Theologie. Ein Universitätsstudium lässt sich für keinen der Sangspruchdichter nachweisen. Die Meistersinger haben Frauenlob – wie übrigens auch Heinrich von Mügeln – zwar zum „Doktor der Theologie“ erhoben, beweisen lässt sich das jedoch nicht; auch die Frage Wa bistu gewest zu schule, / daz du so hohe bist gelart? (GA VII,42 G,1  f.), mit der gegen den offenbar noch jungen Frauenlob polemisiert wird, ist kein belastbares Indiz. Einige Dichter beziehen sich in ihren Sangsprüchen explizit auf die septem artes liberales, die ‚Sieben freien Künste‘ (z.  B. Boppe, Alx.  I,22,4 u. I,30,16; Der Kanzler KLD 28,XVI,10,6–10; Regenbogen HMS II,126,2–4; HMS III,126: I,6; vgl. RSM, Bd. 15, S. 29  f.). Besonders profunde artes-Kenntnisse werden Heinrich von Mügeln bescheinigt, der in der „Konstituierung eines auf Gelehrtheit gegründeten poetischen meister-Ideals“ (Gade, Wissen, S. 317) überhaupt am weitesten geht. Die Vermittlung der artes schließt sich üblicherweise an den Elementarunterricht an; sie umfassen Grammatik, Rhetorik und Dialektik (= das Trivium) sowie Musik(theorie), Arithmetik, Geometrie und Astronomie (= das Quadrivium). Einen Besuch der Artistenfakultät setzen artes-bezogene Sangsprüche jedoch nicht per se voraus. Nicht einmal für Sangspruchdichter, für die man eine Tätigkeit als Schulleiter vermutet, lässt sich zweifelsfrei ein Magistergrad unterstellen (belegt ist dies nur für den Ungelehrten); denn statt eines teuren magister artium stellt man lieber weniger oder nicht graduierte Studienabsolventen als Schulleiter ein (Kintzinger, Wissen, S. 138). Für die Komposition von Sang(!)sprüchen wird man aber wohl mindestens „die Beherrschung der einfachen Technik der Musik“ (Franz, Studien, S. 31) voraussetzen müssen. Ob Bruder Wernher Kenntnisse der Psalmodie hatte, was auf eine „profunde musikalische Ausbildung“ und damit auf eine „mit Sicherheit klösterliche Bildung“ (Spechtler/Waechter, Psalmodie, S. 58) schließen ließe, ist fragwürdig (Brunner, Formgeschichte, S.  42 Anm.  44). Die Aufforderung Fegfeuers an den Meißner, den phaffen ir dœne wider zu geben (Whm. II,4,7), könnte als „eine Anspielung auf eine gelehrte Musikausbildung“ oder aber als Vorwurf der „Hochstapelei“ verstanden werden (Wachinger, Sängerkrieg, S.  160). Eindeutiger äußert sich Rumelant von



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Sachsen über den Marner: dû hâs die mûseken an der hant, die sillaben an dem vinger / gemezzen (Ruw.  IV,6,3), was wohl als Anspielung auf die „Guidonische Hand“ des Musiktheorikers Guido von Arezzo (ca. 992 – nach 1033) zu verstehen ist (Wachinger, Sängerkrieg, S. 167, mit Verweis auf Burdach). Rumelant schließt hier direkt eine Ermahnung an den Marner an, die den Widerstreit zwischen Laienbildung und klerikaler Bildung aufscheinen lässt: des versmâ die leien nicht ze sêre (v. 4). In seinem ‚Mühlenrätsel‘ (Ruw. IV,5) polemisiert Rumelant gegen des Marners Stolz auf seine lateinische Bildung, ohne diese jedoch in Abrede stellen zu wollen. In der Tat sind für den Marner profunde Lateinkenntnisse nachweisbar, denn er hat – wie später ebenfalls Heinrich von Mügeln – auch lateinisch gedichtet. Rumelant von Sachsen ist damit allerdings nicht gleich „der Halbgebildete“ (so noch bei Franz, Studien, S. 31): „Wie groß der Bildungsunterschied zwischen den beiden Sängern tatsächlich war, läßt sich aus dieser Andeutung jedenfalls nicht erkennen […]“ (Wachinger, Sängerkrieg, S. 168). Der Bildungsgrad des Marners ist noch nicht einmal eindeutig aus seinem Werk zu erschließen, da hier im Grunde nur „das für die Mitte und die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts Typische“ geboten wird (Haustein, S. 240). Das gilt ähnlich für Rumelant: Wenn in seinem Fürstenpreis auf Herzog Albrecht I. von Braunschweig mit der Aufzählung von Platon, Aristoteles, Hippokrates, Galen, Sokrates, Vergil, Boethius, Cato, Seneca, Donatus und Beda (Ruw. II,12) „der ganze Bildungskanon aufgeführt“ ist (Löser, Bewertungskategorien, S. 373), so bleibt die Frage, ob die Kenntnisse des Dichters über das bloße, für die Botschaft des Spruches ausreichende name-dropping hinausgehen bzw. um wie viel mehr. Immerhin: Für Rumelants bisweilen eigenwillige Verknüpfungen von Wissensbeständen – z.  B. von Elementenlehre mit Passionsthematik (Ruw. I,1–4), von Nebukadnezartraum mit Lebensalterlehre (Ruw. IV,1–3) – lassen sich Parallelen in der gelehrten Tradition finden (Kern, Got, S. 136; Kern, Auslegung, S. 54). Es ist demnach nicht ganz unproblematisch, von dem Wissen und Können, das ein Dichter in seinen Sangsprüchen präsentiert, auf seinen Bildungsgrad zu schließen. Frauenlob verarbeitet nachweisbar neuplatonisches Gedankengut aus der Schule von Chartres (Huber, Aufnahme, S. 136–199), und Heinrich von Mügeln greift daneben noch auf aristotelisch-scholastisches Gedankengut zurück (grundlegend: Stackmann, Vorstudien; Kibelka, Meister) – doch solange wir nicht wissen, ob diese Kenntnisse überhaupt aus Original-Lektüre stammen oder nicht doch aus Handbüchern, Florilegien und volkssprachigen Abhandlungen, sollten wir die Gelehrtheit dieser Autoren nicht überschätzen (Gade, Wissen, S. 6; schon Kibelka, Meister, S. 16, spricht in Hinblick auf Heinrich von Mügeln von „Gemeingut eines bestimmten Quellenbereiches“; vgl. für Frauenlob Huber, Aufnahme, S. 198). Kennzeichnend für die spätere Sangspruchdichtung ist ihre „ambivalente Haltung zur Gelehrtheit“ (Gade, Wissen, S. 182), genauer: „die unaufgelöste Spannung zwischen der ausgeprägten Erkenntnisskepsis einerseits und dem Hochhalten eines auf Gelehrtheit und Belesenheit gegründeten Meister-Ideals andererseits“ (ebd., S.  181). Vorbehalte gegenüber den wisen pfaffen, die über Gottes Naturdinge nicht

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mehr wissen (können) als ein tumber leie (Der Henneberger, HMS III,12: 7,5 u. 4), wie Berufungen auf die wîsen meister (z.  B. Der Kanzler, KLD 28,XVI,5,7), Inschutznahme der leien (z.  B. Rumelant von Sachsen, Ruw. IV,6,4) und das Prunken mit Gelehrsamkeit (z.  B. die Astronomie-Strophen des Kanzlers, KLD 28,II,10  f.; die Kataloge geographischen Wissens beim Tannhäuser, Sieb. IX u. XII,4; weiteres Material bei Hellmich, Gelehrsamkeit, S. 8–37) stehen unmittelbar nebeneinander. Vor diesem Hintergrund ist der Streit um die korrekte Wiedergabe und Auslegung von ‚Physiologus‘-Wissen zwischen dem Marner und dem Meißner zu verstehen (Der Marner, Wms. 7,15; Der Meißner, Obj. XII,1–4). Der Meißner korrigiert hier die – so der Vorwurf – ‚unwahren‘ und ‚lügenhaften‘ Äußerungen des Marners zu Strauß, Phönix und Pelikan, indem er „die verschiedenen Stränge der Physiologus-Tradition gegeneinander aus[spielt]“ (Grubmüller, Überlegungen, S. 171). Die Empfehlung des Meißners an den Marner, her lese baz die bůch (Obj. XII,1,8), womit hier die Lektüre gelehrter Fachliteratur wie auch die Lektüre der Bibelbücher gemeint sein könnte, zielt ins Herz von Kunst und Meisterschaft: „Der gelehrtere Dichter ist auch der bessere Dichter“ (Obermaier, Nachtigallen, S.  213). Ob der meisterarzt, als der sich der Meißner hier aufspielt, tatsächlich gelehrter ist, ist schwer zu sagen. Der „angeblich gelehrte“ Marner bietet insofern eine Angriffsfläche, als er „sich auf das volkssprachlichen Zuhörerkreisen Bekannte beschränkt“ (Haustein, Marner-Studien, S. 39). Im Falle des Straußes rekurriert aber der Meißner gerade auf die im Mittelalter geläufigere Version, die auf Iob 39,14 beruht und damit vielleicht biblisch fundierter ist als die jüngere, aber ebenfalls gängige Version, die der Marner hier benutzt. Im Falle des Phönix korrigiert der Meißner lediglich ein – wenn auch entscheidendes – Detail: Der aus der Asche auferstandene Vogel sei – im Sinne der Zwei-Naturen-Lehre – ein ander (Str. 2,12) als der zuvor verbrannte. Bei der Rekapitulation der „Kriegslist des Pelikans“ (Gerhardt, Kriegslist, S. 115) greift der Meißner auf Proprietäten zurück, die in der gängigen ‚Physiologus‘-Literatur gar nicht zum Pelikan gehören, sondern zum Hydrus bzw. zum Ichneumon. Will man dem Meißner nicht einen gravierenden Irrtum unterstellen, muss man davon ausgehen, dass er hier „wohl wirklich aus einer ‚minder populären‘, schriftlichen Quelle geschöpft hat“ (ebd., S. 118). Was der Meißner einfordert, ist geradezu ‚wissenschaftliche‘ Präzision der naturkundlichen Beschreibung im Dienste einer differenzierteren theologischen Deutung, wie er sie am Ende gibt (Str. 4). In der Zurechtweisung Meister Singaufs durch Rumelant von Sachsen wird die Buchgelehrsamkeit eines Meißners und eines Konrads von Würzburg als wesentliche Voraussetzung für den Anspruch auf Meisterschaft apostrophiert: nu lobe den Mîsner, der kan mê / wen du, her leset in buochen (Ruw. VIII,3,3  f.; vgl. v. 11  f.: der [= Konrad von Würzburg] schrift in buochen kunde hât, / dâ von ist sîn getichte vil die reiner). Welche Bildungsvoraussetzungen, welcher konkrete Bildungsgrad dem Anspruch auf Gelehrsamkeit tatsächlich entspricht, lässt sich, mangels einschlägiger Dokumente, im Einzelfall ebenso wenig dingfest machen wie der konkrete soziale Status eines Sangspruchdichters. Was man aber sagen kann: Rang  – ob bezogen auf die Gesellschaft oder bezogen auf die Bildungshierarchie – ist ein zentrales Thema für



Status und Bildungsvoraussetzungen der Sangspruchdichter 

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die Sangspruchdichter. Und: Rang wird von ihnen durchgehend und ziemlich einhellig als Problem, d. h. als fraglich, als diskussions- und rechtfertigungsbedürftig, aber auch als unverzichtbare conditio ihrer Existenz erfahren. Mit der Etablierung des Meistergesangs und der damit einhergehenden „Entprofessionalisierung der Meisterkunst“ (Schanze, Liedkunst, S. 391) wird die Frage nach dem Rang gleichsam institutionalisiert: Der Wettstreit um das (nun sogar namengebende) meister-Sein erfolgt nunmehr in sog. Singschulen öffentlich organisiert, dabei streng reglementiert und in Liedtypen wie Fürwurf und Straflied kanonisiert. Die Autoren kommen nun nahezu sämtlich aus den Reihen der „stadtbürgerlichen Dilettanten“ (ebd., S. 10); vielfach sind es Handwerker, vereinzelt auch Lehrer, Geistliche und Juristen (Brunner, Meistersinger, Sp. 486), alle aber mit der „Stadt als Lebensort und Wirkungsstätte“ (Janota, Orientierung, S. 171) und im Bestreben, sich über den Meistergesang Zugang zu wertgeschätzter Gelehrsamkeit zu verschaffen. Der Bildungserwerb dürfte dabei oft „hochgradig ausdifferenziert […]“ sein und in „autodidaktischer Selbstorganisation“ eine wesentliche Ergänzung zum Besuch von Lateinschule und/oder deutschsprachiger Schreibschule sowie handwerklicher Ausbildung finden (Lepper, Lesen, S. 142). Dichtung wird selbst zu einem Handwerk mit festen lehr- und lernbaren, überprüf- und bewertbaren Regeln, die später in sog. Tabulaturen kodifiziert werden. Auch wenn Status und Rang dieser Dichter weder sozial noch künstlerisch als existentiell problematisch zu gelten haben, bleiben Status und Rang wesentliche Kategorien ihrer sozial-kulturellen wie künstlerischen Selbstdefinition, Selbstdeutung und Selbstverortung in einer als altehrwürdig apostrophierten poetischen wie musikalischen Tradition. Ausg. Alx.; C.-W.; GA; HMS; KLD; L./Bein; Mas.; Obj.; Ruw.; Sieb.; SM; Wms. – Lit. Burkard, Sangspruchdichter; Brunner, Meistersinger; Brunner, Formgeschichte; Franz, Studien; Gade, Wissen; Gerhardt, Kriegslist; Grubmüller, Überlegungen; Haustein, Marner-Studien; Heger, Lebenszeugnis; Hellmich, Gelehrsamkeit; Huber, Aufnahme; Hübner, Hofhochschuldozenten; Janota, Orien­ tierung; Kästner, Wettstreit; Kern, P., Auslegung; Kern, P., Got; Kibelka, Meister; Kintzinger, Wissen; Krause, „milte“-Thematik; Lauer, C., Sänger-Rollen; Lepper, Lesen; Löser, Bewertungskategorien; Nonn, Mönche; Obermaier, Nachtigallen; RSM; Salmen, Spielmann; Schanze, Liedkunst; Schreier-Hornung, Spielleute; Schubert, E., Volk; Schwob, Plädoyer; Spechtler/Waechter, Psalmodie; Stackmann, Vorstudien; Tervooren, Sangspruchdichtung; Wachinger, Sängerkrieg.

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 Pragmatische und mediale Kontexte

Anhang: Übersicht zu Status und Bildungsvoraussetzungen der Sangspruchdichter (Hoher) Adel

(vermutlich) Fahrende

12.–13. Jh. Albrecht von Haigerloch, Graf Bligger von Steinach, Freiherr ? Leuthold von Seven, dominus ? Rein(h)olt von der Lippe, Stadtgraf Ulrich von Singenberg, Truchsess ? Wernher von Teufen, Freiherr

12.–13. Jh. ■ (Der wilde / Meister) Alexander ■ Boppe Fegfeuer Geltar Gervelin ■ Der Henneberger Herger ■ Kelin ■ Konrad von Würzburg Der Litschauer ■ Der Marner ■ Der Meißner Reinmar der Fiedler Reinmar von Zweter ■ Rumelant (von Sachsen) ? Rumelant von Schwaben ? ■ (Meister) Sigeher ■ Spervogel I und II ■ Tannhäuser Der Unverzagte ■ Walther von der Vogelweide, ministerialische Abkunft oder Ritterbürtigkeit? ? ■ Bruder Wernher, bruoder als Laienbruder, Pilger oder Metapher? Wizlav Zilies von Sayn

um 1300 Johannes von Ringgenberg, Freiherr  (später: Berner Bürgerrecht) Ministerialität/Dienstadel 12.–13. Jh. [Albrecht Pilgrim] von Buchein ? ■ Friedrich von Sonnenburg ? Der Hardegger ? Neidhart Reinmar von Brennenberg ? Robin (?) ? Der von Wengen Klerus / Schule 12.–13. Jh. ? ■ Der Kanzler: Schulmeister nach Fahrendenleben ? ■ Der Schulmeister von Esslingen, ­scholasticus ? ■ Der Tugendhafte Schreiber ■ Walther von Breisach, Schulmeister um 1300–15. Jh. ■ Eberhard von Sax, Dominikanerbruder in Zürich (urspr. aus Schweizer Freiherrengeschlecht) ? ■ Mönch von Salzburg ■ Der Ungelehrte, Magister

um 1300–15.Jh. ■ Frauenlob Der Goldener Muskatblut ■ Heinrich von Mügeln Hülzing, Berufsdichter Suchensinn Der Urenheimer



Die Überlieferung der Sangspruchdichtung 

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Handwerk / Bürgertum

ohne Hinweise

um 1300–15. Jh. Regenbogen, Schmied?, dann: Fahrender ■ Michel Beheim, Weber, dann: Berufsdichter in z. T. festen Anstellungen an Höfen Albrecht Lesch, Münchener Bürger (?) (Konrad) Harder, (Münchener?) Bäcker (?) Konrad Dangkrotzheim, Schöffe in Hagenau Jörg Schiller, Augsburger Bürger, Berufsdichter

12.–13. Jh. Ehrenbote (nur Name?) Dietmar der Setzer Gast Der Guter (ohne Fahrenden-Motivik) Höllefeuer Der junge Meißner Rudinger Spervogel III (Junger Spervogel, Junger Stolle) Singuf (Meister Singauf) ■ Stolle (Der Alte Stolle) Süßkind von Trimberg Zwinger

Umstritten 12.–13. Jh. Hermann Damen, Bürger oder Adliger? ■ Gottfried von Straßburg, Bürger oder Kleriker? Hawart, Stadtadliger, Ritter oder Fahrender? Pfeffel, Basler Stadtritter oder Fahrender?

?



um 1300–15. Jh. Alblin Hülzing Jöriger Meffrid Mülich von Prag Schonsbekel Sighart (Meister) Wildgwid

Einordnung nicht zweifelsfrei Bildung in nicht unbeträchtlichem Umfang erkennbar oder zu vermuten

3 Die Überlieferung der Sangspruchdichtung

Dorothea Klein

Eine geschlossene Überlieferung des mittelhochdeutschen Spruchsangs gibt es nicht. Was wir besitzen, sind allenfalls Teilsammlungen mit stark sich unterscheidenden Beständen oder vereinzelt auf das Œuvre eines einzelnen Autors konzentrierte Sammlungen (aber auch diese kaum je einmal geschlossen), ferner Kleinsammlungen in Mischhandschriften, Fragmente und Streuüberlieferung. Vieles macht, wie auch sonst in der Überlieferung mittelalterlicher Literatur, den Eindruck des Zufälligen; evident wird dies namentlich dort, wo sekundäre Zeugnisse die Existenz eines Textzeugen belegen, der nicht mehr erhalten ist (vgl. etwa unten S.  68 u. 70). Von der Breite der literarischen Interessen im hohen und späten Mittelalter vermitteln die erhaltenen Bestände daher allenfalls Umrisse. Dass es neben der schriftlichen Überlieferung in nicht unbedeutendem Umfang auch eine mündliche Tradition (von Texten, von Melodien) gegeben haben muss, legen die Handschriften ohne Melodien,

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 Pragmatische und mediale Kontexte

namentlich auch solche des 15. Jahrhunderts, nahe. Vollständig dokumentiert ist die Überlieferung von Sangspruch und Meistergesang im ersten Band des RSM; er ist Grundlage für die folgende Darstellung. Aktualisierungen sind im Marburger Repertorium „Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts“ (http://www. mr1314.de/) und im „Handschriftencensus“ (http://www.handschriftencensus.de) abzufragen; gleichfalls über den Handschriftencensus sind die Literatur zu den einzelnen Handschriften sowie die Internetadressen für die inzwischen zahlreichen Digitalisate zu ermitteln. Eine Typologie der Sangspruchüberlieferung bis 1350, mit Ausblick auf die Überlieferung bis 1450, entwickelt erstmals Schubert (vgl. Schubert, M. J., Verschriftlichung). Selbständige Lyrikhandschriften bis etwa 1350 A

B

C

H J

n

R

Heidelberg, UB, Cpg 357 (‚Kleine Heidelberger Liederhandschrift‘), 45 Bll., Perg., vor 1270/80 im Elsaß (?) entstanden, der Anhang (f. 40–45; Sigle a) im frühen 14. Jh. – Faksimile: Kleine Heidelberger Lhs. – Transkription: Pfeiffer (Hg.), Kleine Heidelberger Liederhandschrift. Stuttgart, Württ. LB, Cod. HB XIII 1 (‚Weingartner‘ oder ‚Stuttgarter Liederhandschrift‘), I + 157 Bll. (Paginierung), Perg., 1. V. 14. Jh., wahrscheinlich in Konstanz entstanden. – Faksimilia: Löffler (Hg.), Weingartner Lhs.; Weingartener Lhs. – Transkription: Pfeiffer/Fellner (Hg.), Weingartner Lhs. Heidelberg, UB, Cpg 848 (‚Große Heidelberger‘ oder ‚Manessische Liederhandschrift‘), 426 Bll., Perg., Anf. 14. Jh., Nachträge aus dem 1. Drittel 14. Jh., in Zürich (?) entstanden. – Faksimilia: Müller, U. (Hg.), Große Heidelberger Lhs.; Koschorrek/Werner (Hg.), Codex Manesse. – Transkription: Pfaff/Salowsky (Hg.), Große Heidelberger Lhs. Heidelberg, UB, Cpg 350, aus drei ursprünglich selbständigen Teilen, Teil 2: Perg., 22 Bll., 2. V. 14. Jh., rheinfrk./hess. – Faksimile: Blank [u.  a.] (Hg.), Heidelberger Lhs. Cpg 350. Jena, ThULb, Ms. El. f. 101 (‚Jenaer Liederhandschrift‘), 133 Bll., Perg., um 1330, mit Nachträgen vor oder um 1350, md./nd., in der Mark Brandenburg (?) entstanden, mit Melodien zu fast allen Tönen. – Faksimile und Transkription: Müller, K. K. (Hg.), Jenaer Lhs.; Holz [u.  a.] (Hg.), Jenaer Lhs.; Tervooren/Müller (Hg.), Jenaer Lhs. Dazu gehört: Dillingen, Studienbibl., XV Fragm. 19, 1 Perg.-Bl. mit Strophen aus dem ‚Wartburgkrieg‘. Leipzig, UB, Cod. Rep. II fol. 70a (‚Niederrheinische Liederhandschrift‘), Perg., Mitte 14.  Jh., Kölner Raum, Bl. 91–96 mit zwei Sammlungen von Spruch- und Liedstrophen. – Faksimile und Transkription: Schmeisky, Lyrik-Hss. m und n. Heidelberg, UB, Cpg 350, aus drei ursprünglich selbständigen Teilen, Teil 3: 2 Perg.-Doppelbll. mit insgesamt 16 Strophen, 2. V. 14. Jh., nordbair. – Zum Faksimile s.  o. unter H.

Der ganz überwiegende Teil der Sangspruchdichtung des 13. und frühen 14. Jahrhunderts ist in der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C und in der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J überliefert. Handschrift C ist die umfangreichste und repräsentativste Sammlung mittelhochdeutscher Lyrik überhaupt, entstanden in der unverkennbaren Absicht, die Liedkunst vergangener Zeiten wie auch die zeitgenössische, von den fürstlichen Minnesängern über die renommierten Berufsdichter bis zu den ‚kleinen‘ Fahrenden, möglichst voll-



Die Überlieferung der Sangspruchdichtung 

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ständig zu sammeln und als repräsentatives Kulturgut zu bewahren. Die jüngeren Dichter sind freilich stärker vertreten als die älteren und die alemannischen Dichter stärker als die Dichter aus anderen Regionen, und schon quantitativ überwiegen die Minnelieder (Kornrumpf, Heidelberger Lhs. C, Sp. 591). Dass der Codex im Auftrag des Zürcher Patriziers Rüdiger Manesse († 1304) geschrieben wurde, lässt sich nicht beweisen; wahrscheinlich dienten Sammlungen der Manesse als Quellen. Unter 140 Autornamen, von ihnen gehören 110 zum Grundstock, überliefert die Handschrift 32 Leichs und rund 5400 Strophen, mehr als die Hälfte davon sind allein hier erhalten; fast jedem Œuvre ist ein ganzseitiges, gerahmtes Autorbild vorangestellt. Unverkennbar ist auch die Tendenz zu einer Ordnung der Autorcorpora nach Gattungen, die Minnesang inklusive der Neidhartiana dem Spruchsang vor- und überordnet (ebd., Sp. 593). Bei Dichtern wie Walther von der Vogelweide, die beide Liedtypen im Repertoire hatten, wird dieses Prinzip zwar regelmäßig neutralisiert. Die Schlussgruppe der Handschrift, von Reinmar von Zweter über Frauenlob bis zum Kanzler (fol. 323r–428r), versammelt aber so gut wie ausschließlich Spruchtonautoren. Ordnungsprinzip innerhalb der Autorcorpora ist die Ordnung nach Tönen; ergänzend können das concatenatio-Prinzip, d.  i. die Verkettung zweier Lieder aufgrund identischen Sprachmaterials (zuerst beschrieben von Schneider, H., Liedersammlung), oder auch textmetrische Faktoren, also die Ähnlichkeit der Bauformen (vgl. Touber, Ordnungsprinzipien), hinzutreten (zu den Ordnungsgrundsätzen in den Handschriften A, B und C generell s. Holznagel, Wege, S. 257–280). Neben Minneliedern in allen Varianten und Leichdichtung, Lehrgedichten und dem ‚Wartburgkrieg‘ enthält die Handschrift allein im Grundstock 863 Spruchstrophen von 31 Autoren (ebd., S. 189), kaum weniger als die reine Sangspruchhandschrift J. Mit den Nachträgen überliefert C insgesamt 42 Spruchtonautoren: Es sind dies Albrecht von Haigerloch, Bligger von Steinach, Wernher von Hohenberg (Spruchdichter?), Eberhard von Sax, ‚Herger‘/Spervogel I, Wernher von Teufen, Walther von der Vogelweide, Rumelant von Sachsen, Ulrich von Singenberg, Reinmar von Brennenberg, Johann von Ringgenberg, Tannhäuser, Der von Buchein, Hardegger, Schulmeister von Esslingen, Walther von Breisach, Der von Wengen, Pfeffel, Der Tugendhafte Schreiber, Reinmar der Fiedler, Hawart, Geltar, Dietmar der Setzer, Reinmar von Zweter, Junger Meißner, Alter Meißner, Bruder Wernher, Marner, Süßkind von Trimberg, Gast, Gottfried von Straßburg, Regenbogen, Konrad von Würzburg, Friedrich von Sonnenburg, Frauenlob, Sigeher, Wilder Alexander, Spervogel II und Spervogel III (Junger Spervogel, Junger Stolle), Boppe, Meißner, Litschauer und Kanzler. Von diesen hat C nur zehn mit Handschrift J gemeinsam, d.  h., im Bestand als Ganzem wie im Bestand der einzelnen Corpora, aber auch im thematischen Zuschnitt weichen die beiden wichtigsten Textzeugen des älteren Sangspruchs stark voneinander ab. Sie unterscheiden sich auch noch in anderer Hinsicht, denn C ist (nicht anders als die Liederhandschriften A, B und E) eine reine Textsammlung, sie überliefert die Lieder und Spruchstrophen anders als J ohne Melodien: vielleicht weil man diese als bekannt voraussetzte, vielleicht aber auch darum, weil Handschrift C nicht mehr für Aufführungszwecke, sondern als repräsentativer Buch- und Lesetext bestimmt war

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 Pragmatische und mediale Kontexte

(Bertelsmeier-Kierst, Vocalité), vielleicht waren viele Melodien auch nicht mehr bekannt. Die großformatige Handschrift J – sie ist in kodikologischer Hinsicht einzigartig unter den deutschen Handschriften vor 1350 – überliefert, von einigen Leichs, einigen Liedern des Wilden Alexander und von (nachgetragenen) Liedern Wizlavs abgesehen, ausschließlich Sangspruchdichtung in ihrer ganzen thematischen Breite, insgesamt „820 Strophen in 84 Tönen unter 31 Tonerfindernamen“ (Kornrumpf, Grundstock, S. 54) im Grundstock und 63 Strophen als Ergänzungen von insgesamt sieben Händen auf den Rändern. Zusätzliche Bedeutung gewinnt die Handschrift durch die reiche Überlieferung von Melodien, die im 4-Linien-System und in gotischer Choralnotation, einer französischen Notenschrift, aufgezeichnet sind. Bei der Anordnung scheinen neben den Tonautoren und Tönen auch gattungsgeschichtliche Gesichtspunkte eine Rolle gespielt zu haben (Wachinger, Jenaer Lhs., Sp. 515). Das Gesamtcorpus beginnt mit Autoren, die, wenn auch nicht ausschließlich, der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zuzurechnen sind (wohl noch in das 12. Jahrhundert gehört Spervogel II): Stolle, Hardegger, Der Tugendhafte Schreiber und Bruder Wernher. Mit Kelin, Zilies von Sayn, dem Wilden Alexander, Robin, Rudinger, Höllefeuer, Gervelin, Fegfeuer, Urenheimer, Henneberger, Guter, dem Unverzagten, Litschauer, Tannhäuser und Singauf folgen vorwiegend Autoren „kleinerer oder mittlerer Dichtercorpora“ (ebd.) aus der Mitte des Jahrhunderts. Die dritte Gruppe, mit Rumelant von Sachsen, Reinolt von der Lippe (um 1340!), Goldener, Rumelant von Schwaben, Friedrich von Sonnenburg, Wizlav, Meißner, Konrad von Würzburg, Frauenlob, Boppe und Hermann Damen, gehört in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts bzw. schon in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts; schließlich folgt noch der ‚Wartburgkrieg‘. Die meisten dieser Autoren stammen aus dem mitteldeutschen und niederdeutschen Raum. Walther von der Vogelweide, Reinmar von Zweter und der Marner als wichtige oberdeutsche Sangspruchautoren aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts fehlen auffällig; von Walther ist nur, am Beginn der Handschrift, ein Fragment im Ton seines Leichs erhalten, wobei allerdings zu bedenken ist, dass Anfang und Schluss des Codex verlorengegangen sind. Möglicherweise muss man aber auch mit codexübergreifender Mitüberlieferung rechnen: Die Wittenberger Schlossbibliothek, für die J mutmaßlich hergestellt wurde (vgl. Pickerodt-Uthleb, Jenaer Lhs.; mit anderen Argumenten auch Czajkowski, Sprache, und Wolf, J., Norden), besaß nachweislich vier weitere Liederhandschriften ähnlichen Inhalts, darunter Spruchsang Reinmars von Zweter und Hermann Damens; J war vielleicht der zweite von zwei zusammengehörigen Codices (Wachinger, Anfang; Wachinger, Jenaer Lhs., Sp. 513). Das könnte das Fehlen einiger großer Autoren in J plausibel erklären. In ihrem repräsentativen Querschnitt durch alle lyrischen Register, untergliedert in 29 Autorcorpora mit insgesamt 791 Strophen und zwei Minneleichs, überliefert die älteste der selbständigen Lyrikhandschriften, die ‚Kleine Heidelberger Liederhandschrift‘ A, auch mehrere Spruchdichtercorpora; was deren Zahl und Umfang angeht, kann sie freilich nicht mit Handschrift C konkurrieren. Ordnungsprinzip sind wieder­



Die Überlieferung der Sangspruchdichtung 

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um Tonautoren und Töne, wobei etliche Strophen anderswo anderen Autoren zugeschrieben sind. Im einzelnen enthält A – in dieser Reihenfolge – rund 130 Sangsprüche Reinmars des Fiedlers, Walthers von der Vogelweide, Ulrichs von Singenberg, Geltars, Reinmars von Zweter, Spervogels I, II und III, Hawarts, Bruder Wernhers, Leutholds von Seven und Friedrichs von Sonnenburg. Die Angabe des Autornamens vor jedem Ton entspricht der Tradition der altfranzösischen Liederhandschriften; hier scheint also noch ein anderer Überlieferungstypus durch. Noch weniger Sangsprüche überliefert die im Grunde als Minnesanganthologie konzipierte Handschrift B. Unter den insgesamt 857 Strophen dominieren Lieder der ‚hohen‘ Minne bei weitem, nur 66 Strophen – die ‚Winsbeckischen Lehrgedichte‘ und einen in Handschrift C Gottfried von Straßburg zugeschriebenen Marienpreis herausgerechnet – lassen sich dem Spruchsang zuzählen, je eine Strophe Spervogel III, Ulrich von Singenberg und dem Hofton Reinmars von Brennenberg, 39 Strophen Walther von der Vogelweide und 25 dem Jungen Meißner. Erst um eine Buchbindersynthese des 18.  Jahrhunderts handelt es sich wohl beim Leipziger Codex Rep. II fol. 70a, der eine lateinisch-deutsche Chronik mit zwei „Spruch- und Liedstrophensammlungen“ und einem strophischen Gedicht (Kornrumpf, Niederrheinische Lhs., Sp. 996), besser bekannt als ‚Niederrheinische Liederhandschrift‘ (Sigle n), kombiniert. Diese beiden Mitte des 14. Jahrhunderts aufgezeichneten Kleinsammlungen – „thematisch orientierte Florilegien ohne Autornennung“ (ebd., Sp. 997)  – überliefern vorzugsweise Sangsprüche mittel- und oberdeutscher Autoren, von Walther von der Vogelweide über Reinmar von Zweter bis Frauenlob, freilich alles anonym. Ein Drittel der 56 Strophen ist anderweitig nicht bezeugt, was auf anhaltende spruchsangliche Produktion auch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts hindeutet (Rettelbach, Skizze, S. 173); dies gilt es gegen die verbreitete These vom Ende des älteren Sangspruchs mit dem Tod Frauenlobs festzuhalten. Während die erste Reihe minne, Frauenpreis und Ehelehre in den Vordergrund rückt, konzentriert sich die zweite auf Moraldidaxe und Zeitkritik (vgl. die Inhaltsübersicht bei Egidi, Minnelied, S. 265  f.). Auftraggeber und Adressaten wird man in (mittel-)rheinischen Adelskreisen zu suchen haben. Eine ursprünglich selbständige Lyrikhandschrift stellt auch der vor oder um 1350 entstandene zweite, unter der Sigle H firmierende Faszikel der ‚Heidelberger Liederhandschrift Cpg 350‘ (dazu grundlegend Wachinger, Heidelberger Lhs. cpg 350) dar: eine Sammlung beinahe ausschließlich geistlicher Lieder in älteren Spruchtönen, von Walther von der Vogelweide bis Frauenlob, anfänglich mindestens 121 Strophen, die Anrufung und Preis Mariens in den Mittelpunkt rücken; überliefert sind die Strophen samt und sonders anonym. Autoren und Sammler dieser Handschrift wird man sich im Umfeld eines geistlichen Fürsten vorzustellen haben (ebd., Sp. 605). Literaturgeschichtlich bedeutsam ist die Handschrift aber vor allem wegen ihres Tönegebrauchs: Zwar eröffnen die Sammlung ‚alte‘ Einzelstrophen, d.  h. als authentisch geltende Texte der Tonerfinder oder Strophen früher Tonbenutzer. Ab Strophe 29 wird indes das Prinzip des Konservierens aufgegeben; es dominieren umfangreichere Strophen-

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gruppenreihen, welche die Töne der alten Meister neu textieren (vgl. die detaillierte Übersicht bei Rettelbach, Skizze, S. 163–165). Dieser Tönegebrauch ist neu in der Geschichte des Spruchsangs. Die Handschrift nimmt damit vorweg, was in den jüngeren Meisterliederhandschriften gang und gäbe ist, nämlich die systematische Barund Zyklenbildung; sie repräsentiert demzufolge so etwas wie „Proto-Meistergesang“ (ebd., S. 173). Ähnliches gilt für die Kleinsammlung R, die mit Handschrift H und der Reinmar von Zweter-Handschrift D (s.  u.) im Nachhinein zu einem Codex vergesellschaftet wurde. Sie enthält ein sechsstrophiges Lied im Langen Ton Regenbogens und einen Bar von sieben Strophen in Marners Langem Ton, zudem drei Strophen in Frauen­lobs Zartem Ton, deren thematischer Zusammenhang nur schwach ausgeprägt ist. Bedeutsam ist der Faszikel aber nicht allein wegen des Tönegebrauchs; er ist vielmehr auch der „älteste Beleg überhaupt für die konsequente Vergabe von Tonnamen“ (ebd., S. 165), und zwar bei jeder einzelnen Strophe. Die Handschriften H und R markieren somit die Einführung neuer Gattungskonventionen, die das Gesicht der Gattung bis in die Frühe Neuzeit bestimmen sollten. Über den Inhalt einer weiteren Liederhandschrift, die vor 1344 entstanden sein muss, sind wir nur durch die ‚Zimmerische Chronik‘ unterrichtet (vgl. dazu Schanze, Lhs. X). Verloren ist auch eine Liederhandschrift Cum notis, die der Katalog der Wittenberger Schlossbibliothek im Jahr 1437 verzeichnet hat; vielleicht gehörte dieser Codex ursprünglich als Band 1 zur Handschrift J (Wachinger, Anfang, S. 302  f.). Von drei weiteren Liederhandschriften, die das Wittenberger Bücherverzeichnis nennt, hat eine Reinmar von Zweter enthalten (ebd., S. 303 Anm. 12); auch von ihrem Verbleib wissen wir nichts. Selbständige Lyrikhandschriften des 15. und frühen 16. Jahrhunderts Einen Typus, der sich von den älteren ebenso wie von den nachreformatorischen Sammlungen deutlich unterscheidet, repräsentieren die sog. Meisterliederhandschriften. Sie sind Sammelbecken „meisterlicher Liedkunst“, die sich aus den älteren Spruchsangtraditionen, der zeitgenössischen Liedkunst berufsmäßiger oder dilettierender Nach- und Weiterdichter und dem sich seit etwa 1400 organisierenden Meistergesang von Stadtbürgern speisen. Das Liedgut dieser Handschriften, seien es Verknüpfungen alter Sangspruchstrophen zu Baren, Kombinationen von alten und neuen Strophen oder Neutextierungen der Töne alter Meister, ist grundsätzlich anonym überliefert. Ob die Strophen Spruchsangautoren des 13. oder 14. Jahrhunderts gehören oder ob sie neueren Datums sind, ist so nicht ohne weiteres erkennbar, was die – im Einzelfall bis heute nicht zu entscheidende – Frage nach der Authentizität und Nichtauthentizität vieler Strophen und Bare aufgeworfen hat. Namentlich genannt sind nur die (vermeintlichen) Tonautoren; nur sie sind von Interesse, nicht die Autoren der Texte. So trägt in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ z.  B. ein Ton die Überschrift: Dyß ist in frauwenlobes uberzarten don (fol. 29v). Dabei haben in den Handschriften die Töne der älteren Spruchdichter oder die ihnen zugeschriebenen (‚unechten‘) Töne das



Die Überlieferung der Sangspruchdichtung 

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Übergewicht. Es ist eben auch der Tönegebrauch zum Teil über Jahrhunderte hinweg, der die gattungsgeschichtliche Kontinuität ausmacht. Wo und für wen die Handschriften allerdings entstanden sind, lässt sich nur im Einzelfall ermitteln. Folgende Meisterliederhandschriften sind zu nennen (in chronologischer Reihe; vgl. auch Schanze, Meisterlhss.): m b d k

x y u

t w h q p r

München, BSB, Cgm 351, 281 Bll., Pap., 1420/25, Baiern und Nürnberg?: Tl. 2 (Bl. 186–276) mit ca. 90 Liedern. Basel, UB, Cod. O IV 28, 64 Bll., Pap., um 1430: 62 Lieder in 18 Tönen, davon 14 Töne von alten Meistern. Dresden, SLUB, Mscr. M 13, Pap., 26 beschr. Bll., um 1440, Schwaben: 42 Lieder in 28 Tönen, davon 7 unikal, d.  h. jüngere Erfindungen. München, BSB, Cgm 4997 (‚Kolmarer Liederhandschrift‘, in Bezug auf Melodieüberlieferung auch Sigle t), 856 Bll., Pap., um 1459/62, rheinfrk. (Speyer?), 940 Lieder und Leichs, nach Tonautoren und Tönen geordnet, mit Melodien. München, BSB, Cgm 1018, 48 Bll., Pap., um 1455/60, Schwaben: 36 Lieder, meist Dreierbare, in 18 Tönen alter Meister und einem Ton des Mönchs von Salzburg (Schluss fehlt). München, BSB, Cgm 1019, 30 Bll., Pap., um 1455/60, Franken (zu Hs. x gehörig?): 21 Lieder in 16 Tönen, davon drei Töne jüngerer Autoren. Karlsruhe, Bad. LB, Cod. Donaueschingen 120 (‚Donaueschinger Liederhs.‘), 322 S., Pap., 1480/90, oberrhein., wohl von Nonnen im Kloster Wonnental geschrieben: 40 Lieder mit Melodien auf Töne Frauenlobs u.  a. Trier, StB, Ms. 1032/1943, Pap., um 1490/1500, moselfrk.: Tl. 2, insgesamt 82 Bll., mit einer aus drei Teilen bestehenden Sammlung von 38 Meisterliedern in 12 Tönen. München, BSB, Cgm 5198 (‚Wiltener Hs.‘), 177 Bll., Pap., um 1500, Tirol?: Sammlung von 166 Meisterliedern in 45 Tönen, z.  T. nach Tonautoren geordnet. Heidelberg, UB, Cpg 392, 133 Bll., Pap., um 1500, Augsburg: 150 Meisterlieder in rd. 50 Tönen. Berlin, SBB-PK, Mgq 414, 479 Bll., Pap., 1517/18, Hans Sachs: 400 Lieder in 141 Tönen alter und neuester Meister. Heidelberg, UB, Cpg 680, Pap., 99 Bl., 1532/33 und später, Augsburg: 62 Lieder in 44 Tönen zu vorwiegend geistlichen Themen (vorreformatorisch, am Ende protestantisch). München, BSB, Cgm 847, 88 Bll., Pap., um 1535/38, mittelbair., 16 Lieder in Regenbogens Langem Ton, 1 Lied in Zorns Zugweise, jeweils siebenstrophig.

Die bedeutendste dieser Handschriften ist die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k, der wir einen Gutteil unserer Kenntnis meisterlicher Liedkunst verdanken (die folgenden Daten nach Wachinger, Kolmarer Lhs.): ein gewaltiger Codex, der auf 856 Blättern rund 935 Lieder in 108 Tönen überliefert, insgesamt rund 4380 Strophen, dazu fünf Leichs. Die Liedtexte stammen ganz überwiegend aus dem späten 14. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, viele davon sind Unica; rund 580 Strophen gehören aber noch, das ist durch entsprechende frühe Parallelüberlieferung gesichert, in die Zeit vor 1350, sind also altes Spruchsanggut (zum literarischen Traditionszusammenhang in k vgl. Baldzuhn, Sangspruch). Ganz restriktiv verhielten sich die Sammler hingegen bei den Tönen; sie sind beinahe durchweg alt oder angeblich alt. Töne und Tonautoren geben auch die Ordnung des Corpus vor. Den Anfang machen mit Frauen­ lob und Regenbogen „die beiden berühmtesten und tönereichsten alten Meister“

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 Pragmatische und mediale Kontexte

(Wachinger, Kolmarer Lhs., Sp. 30); Lieder in ihren Tönen (und den ihnen zugeschriebenen) machen beinahe die Hälfte des gesamten Handschrifteninhalts aus. Etwa ein Viertel nehmen die Töne einiger Spruchdichter ein, die „in der meisterlichen Tradition besonderes Ansehen genossen“ (ebd., ‚alte Meister‘): Marner, Konrad von Würzburg, Kanzler, Boppe und Heinrich von Mügeln, danach, eingeschoben, eine Sammlung des Mönchs von Salzburg. Es folgen Lieder in den Tönen ‚alter Meister‘ oder ihrer ‚Nachdichter‘, die (in k oder generell) nur mit ein bis drei Tönen vertreten sind: Reinmar von Zweter, Reinmar von Brennenberg, Klingsor, Stolle, Junger Stolle, Ehrenbote, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Tugendhafter Schreiber, der Ungelehrte, Heinrich von Ofterdingen, Rumelant (von Sachsen?), Anker, Mülich von Prag, Tannhäuser, Liebe von Giengen, Meffrid und Junger Meißner. Das Corpus der Strophenlieder beschließen (Ton-)Autoren der Zeit um 1400: Suchensinn, Peter von Arberg, Lesch und Harder (Analyse des quantitativen Tönegebrauchs bei Schanze, Liedkunst  I, S.  60–76). Thematisch bildet die Handschrift das ganze Spektrum meisterlicher Liedkunst ab: Geistliche Themen (v.  a. Marienpreis, Trinität, Menschwerdung Christi) dominieren, doch gesellen sich Tugendlehre, Ständelehre und Ständekritik, Frauenpreis und Formen der Selbstthematisierung u.  a.  m. dazu; auffälligerweise fehlen zeitpolitische Lieder (Wachinger, Kolmarer Lhs., Sp. 28  f.). Die Fülle des Materials, das k so einzigartig macht, ist nicht ohne zahlreiche kleinere Sammlungen als Quellen denkbar, von denen freilich nichts erhalten ist; eng verwandt ist die ‚Donaueschinger Liederhandschrift‘ u, die vielleicht auf Vorlagen von k bzw. auf k selbst zurückgeht (ebd., Sp. 35). Konzeption und Ausführung des Codex haben schon immer den Verdacht genährt, dass die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ „‚mehr‘ als eine Meistersingerhandschrift“ (Brunner, Alte Meister, S. 170) ist. Nach Schnells Untersuchungen dürften die Schreiber geschulte Wundärzte gewesen sein, die Handschrift somit das Werk literarisch gebildeter Ärzte, welche die meisterliche Sanges- und Dichtungstradition aus privatem Interesse kodifiziert haben (vgl. Schnell, B., Medizin). Die älteste Meisterliederhandschrift überhaupt, sieht man von den Vorformen H und R ab, ist der Münchner Cgm 351 (m). Er enthält ausschließlich geistliche Lieder, hauptsächlich im Grauen und im Langen Ton Regenbogens; von den alten Tonautoren sind ferner Frauenlob, Reinmar von Zweter und Tannhäuser vertreten, öfter mischen sich aber auch zeitgenössische Autoren darunter: Lesch, Kettner, Harder, Hülzing, Mönch und Muskatblut. Mit diesem „Tonmodernismus“ (Schanze, Liedkunst I, S. 92) setzt sich Handschrift m nicht nur auffällig von der konservativen Ausrichtung des Tönerepertoires in der jüngeren Handschrift k ab; sie repräsentiert auch, zumindest in ersten Ansätzen, die frühe Nürnberger Meistergesangstradition. Der Abstand zu Handschrift q am Ende dieser Tradition ist freilich gewaltig. Dieser Codex, 1517/18 eigenhändig von Hans Sachs geschrieben, enthält 400 Lieder in 141 Tönen und ist damit nach k die umfangreichste Meisterliedersammlung überhaupt. Neben Liedern des jungen Sachs und seines Lehrers Lienhard Nunnenbeck enthält sie zahlreiche Lieder von Hans Folz, Lieder von namentlich genannten Nürn-



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berger Meistern in eigenen Tönen, von Nürnberger Meistern in nicht-eigenen Tönen und schließlich eine große Zahl von Liedern in Tönen alter Meister (mit und ohne Parallelüberlieferung in älteren Sammlungen; Schanze, Liedkunst I, S. 118  f.). Davon ist nicht alles, aber doch das meiste Nürnberger Provenienz. So ist q, wenngleich nicht ausschließlich, das wichtigste Dokument des vorreformatorischen Nürnberger Meistergesangs, nicht zuletzt wegen seiner „orthodoxen“ Grundtendenzen, d.  h. dem notorischen Beharren auf korrekten theologischen Aussagen (ebd., S. 128). Überlieferungsgeschichtlich markiert Handschrift q einen Einschnitt. Denn nach der „reformatorischen Wende des Meistergesangs“ (ebd., S. 5) werden zwar weiterhin die Töne der Alten Meister (und was man dafür hielt) verwendet, ein Großteil ihres Themenrepertoires aber wird nicht mehr weitergeführt, und ihre Texte werden nicht mehr überliefert. Die nachreformatorischen Meisterliederhandschriften weisen darum ein grundlegend anderes inhaltliches Profil auf: Im Mittelpunkt stehen Vertonungen der Bibel bzw. biblischer Abschnitte und eine Fülle von Liedern mit weltlicher Thematik (Historisches, Fabeln, Schwänke, Schulkünste) in zahlreichen neuerfundenen Tönen. Die Handschriften p und r aus den 1530er Jahren sind nurmehr anachronistische Nachzügler. ‚Autorhandschriften‘ Einen Sonderfall der selbständigen Lyrikhandschrift stellen jene Handschriften dar, die das Œuvre eines einzigen Autors sammeln. Die älteste dieser Œuvrehandschriften, etwa zur gleichen Zeit wie die ‚Riedegger Handschrift‘ (Berlin, SBB-PK, Mgf 1062) mit ihrem Corpus von Neidhart-Liedern entstanden, ist eine Sammlung mit Spruchsang Reinmars von Zweter: D

Heidelberg, UB, Cpg 350, aus drei ursprünglich selbständigen Teilen, Teil 1: 43 Bll., Perg., um 1300, südrheinfrk. Angebunden sind die jüngeren Sammlungen H (2. V. 14. Jh., rheinfrk.) und R (2. V. 14. Jh., nordbair.) mit Strophen und Liedern in Tönen verschiedener Autoren. – Faksimile s.  o. Handschrift H.

Die Sammlung enthält 215 Strophen Reinmars, davon die ersten 193 im Frau-Ehren-Ton und thematisch streng geordnet, die anderen in der Neuen Ehrenweise (s. dazu unten → Kapitel VII.3); wahrscheinlich geht sie auf eine noch zu Lebzeiten des Autors und in seinem nächsten Umfeld entstandene Sammlung zurück; eine zeitgenössische Autorzuweisung fehlt darum. Bereits auf einer Vorstufe müssen drei Kleinsammlungen – Strophen „aus dem Umkreis und in der Nachfolge Reinmars von Zweter“ einerseits (Str. 216–233, 234–238), Strophen Walthers von der Vogelweide (Str. 239–256) andererseits – hinzugetreten sein (Wachinger, Heidelberger Lhs. cpg 350, Sp. 600  f., das Zitat Sp. 600); nachgetragen wurden zwei Strophen im Fürstenton des ‚Wartburgkriegs‘ und drei Strophen in Frauenlobs Grünem Ton (Holznagel, Typen, S. 130 Anm. 70). Die Anonymität der Addenda, aber auch des Hauptcorpus zeigt, dass die „Anwendung des Autorprinzips“ als Ausdruck eines die memoria pflegenden Literaturbetriebs

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keineswegs selbstverständliche Praxis war, vielmehr jederzeit preisgegeben werden konnte (ebd., S. 120). Handschrift D stellt den einzigen Fall einer auf Sangsprüche spezialisierten Autorsammlung vor 1350 dar. Anders verhält es sich bei den Berufsdichtern des 14. und 15. Jahrhunderts, welche die Sangspruchtradition des 13. Jahrhunderts mit eigenen Tönen fortführten. Rang und Geltungsanspruch der renommierten „Neutöner“, die ihre Kunst häufig im hochadligen Milieu vortrugen, spiegeln sich in den Handschriften, die exklusive Sammlungen ihrer Lieder, wenn nicht sogar Autographe darstellen. Im einzelnen handelt es sich um folgende Autoren und Textzeugen: Heinrich von Mügeln (3. V. 14. Jh.) g Göttingen, Niedersächs. SB und UB, Cod. Ms. philos. 21, 276 Bll., Pap., 1463, omd., 2 Teile, vom Buchbinder zusammengebunden, Tl. II: Sammlung von 407 Strophen Heinrichs von Mügeln und ‚Der meide kranz‘. h Heidelberg, UB, Cpg 693, 43 Bll., Pap., um 1400, schles.: Sammlung von 126 Mügeln-Strophen, im Anhang Lieder in Tönen anderer Autoren (Kanzler, Frauenlob). Mönch von Salzburg (2. H. 14. Jh.) A München, BSB, Cgm 715, 190 Bll., 3. V. 15.  Jh., bair.-österr.: Mariensequenzen, Hymnen- und Sequenzübertragungen sowie eine Sammlung von Strophenliedern „meisterlichen Typs“ mit Noten, im Anhang vier Lieder Heinrichs von Mügeln. B München, BSB, Cgm 1115, Tl. III: 3. V. 15. Jh., bair.-österr.: Sammlung geistlicher Lieder mit Melodien. C München, BSB, Cgm 628, 1468, Tegernsee: 7 geistliche Lieder. D Wien, ÖNB, Cod. 2856, um 1470, Salzburg (‚Mondsee-Wiener-Liederhandschrift‘): Weltliche und geistliche Lieder des Mönchs sowie Heinrichs von Mügeln u.  a. – Faksimile: Mondsee-Wiener Lhs. E Wien, ÖNB, Cod. 4696, 230 Bll., Mitte 15. Jh., bair.-österr. (‚Lambacher Liederhandschrift‘), Tl. II (Bl. 107–188) ursprünglich selbständig, einige Lagen verloren: Lieder des Mönchs, zwei Lieder Oswalds von Wolkenstein, mit Melodien. F Wien, ÖNB, Cod. 2975, Tl. II: 1465, bair.-österr.: 18 geistliche Lieder des Mönchs. G München, BSB, Clm 4423, 1481/82, Augsburg, St. Ulrich und Afra: Lat.-dt. Mischhandschrift mit 7 geistlichen Liedern des Mönchs im Liederteil. J Wien, ÖNB, Cod. 3741, 1440/50, Mondsee: Theolog. Sammelhs. mit 7 geistlichen Liedern des Mönchs. Muskatblut (1. H. 15. Jh.) a Köln, Historisches Archiv der Stadt, Best. 7020 (W*) 8 (früher: Cod. W. 4° 8*), 171 Bll., Pap., 1433/34, mfrk., von Hermann von Ludesdorf OCist aus dem Kloster Himmerod (Eifel), Kaplan der Herren von Manderscheid, geschrieben: Teil 1 einer Buchbindersynthese mit einer Sammlung von Liedern Muskatbluts. – Faksimile: Muskatblut. Abbildungen zur Überlieferung. Die Kölner Handschrift. Hg. von Eva Kiepe-Willms. Mit einem Melodie-Teil, bearb. von Horst Brunner. Göppingen 1987 (Litterae 98). Michel Beheim (um 1420 – um 1475) A Heidelberg, UB, Cpg 312, 316 beschriebene Bll., Pap., im Grundstock 1457 abgeschlossen, mit letzten Eintragungen nach 1470, Wien: Älteste Sammlung der Lieder Beheims, mit Melodien. B München, BSB, Cgm 291, 422 Bll., Pap., um 1460, von Jorg von Clein in Österreich geschrieben: Zweite Sammlung von Beheim-Liedern, mit Melodien.



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C

Heidelberg, UB, Cpg 334, 457 Bll., Pap., 1457–1458 (Nachträge bis um 1466), Wien: Letzte Sammlung der Lieder Beheims, mit Melodien zu drei Tönen. D Heidelberg, UB, Cpg 382, 163 Bll., Pap., um 1470, schwäb.-ostfrk.: Lieder Beheims in seiner Verkehrten Weise. E Heidelberg, UB, Cpg 351, 243 Bll., Pap., zwischen 1466 und 1468, schwäb.-ostfrk.: Geistliche Lieder Beheims in seiner Osterweise, mit Noten. F Berlin, SBB-PK, Mgq 1402, 148 Bll., Pap., 1495, Nürnberg: Lieder Beheims in Osterweise und Hofweise (letztere unvollständig). G Heidelberg, UB, Cpg 375, 134 Bll., Pap., um 1470, schwäb.-ostfrk., wohl am Hof der Pfalzgrafen in Heidelberg entstanden: Beheims ‚Buch von der Liebhabung Gottes‘ in seiner Osterweise, mit Melodie zu Beginn. a Dresden, Sächs. LB, SB u. UB, Mscr. M 180, 129 Bll., Pap., 2. H. 15. Jh., bair., Tl. II: Geistliche Lieder Beheims in der Gekrönten Weise, Hofweise, Slegweise und Langen Weise, mit Noten. H Schweinfurt, Bibl. des Gymnasiums, o. Sign. (1944/45 verbrannt): ‚Buch von der Stadt Triest‘. P Heidelberg, UB, Cpg 335, 197 Bll., Pap., 1471/1474, Heidelberg: ‚Pfälzische Reimchronik‘. WB Heidelberg, UB, Cpg 386, 239 Bll., Pap., um 1465, schwäb.-ostfrk. mit bair. Formen: Beheims ‚Buch von den Wienern‘. Hans Folz (um 1440–1513) M München, BSB, Cgm 6353, Pap., 1485/90: Sammlung von Liedern des Hans Folz. W Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibl., Cod. Q 566, 256 Bll., Pap., um 1475: 3 Faszikel mit Meisterliedern.

Der Göttinger Cod. philos. 21 überliefert eine  – wahrscheinlich auf Mügeln selbst zurückgehende (Schanze, Liedkunst  I, S.  20)  – Autorsammlung, die mit 387 Strophen in 15 Büchern beinahe seinen gesamten Spruchsang umfasst; geordnet ist sie ferner nach den vier Tönen Mügelns sowie nach Themengebieten. Diese reichen von der Schöpfungslehre und anderen geistlichen Gegenständen über diverse enzyklopädische Wissensgebiete bis zur Herren- und Lebenslehre, wobei manche Bücher nur aus einem einzigen vielstrophigen Gedicht bestehen. Das letzte und sechzehnte Buch enthält acht Minnelieder in je eigenem Ton (zur Handschrift vgl. Stmn., Bd. I, S. XXXVII–XLVII). Die Anordnung ist somit auch ein schöner Beleg für die Um- und Neubewertung des Spruchsangs, der in der Hierarchie der lyrischen Genres um 1300, in der Handschrift C, noch nach dem Minnelied rangierte; die Einteilung in Bücher signalisiert aber auch Mügelns Anspruch, an das literarische und wissenschaftliche Niveau der lateinischen Schrift- und Klerikerkultur anzuknüpfen. Beigefügt ist der Liedsammlung Mügelns allegorisches Gedicht ‚Der meide kranz‘ über den Rangstreit der zwölf Wissensfächer (die septem artes liberales, ferner Philosophie, Physik, Alchemie, Metaphysik und Theologie). Eine Teilsammlung von 126 Liedern Mügelns, die freilich nicht auf dessen eigene Sammlungstätigkeit zurückgeht (Schanze, Liedkunst I, S. 21), überliefert der um 1400 entstandene Heidelberger Cpg 693; ein Anhang, von verschiedenen Händen geschrieben, enthält Marienpreisgedichte in Tönen des Kanzlers und Frauenlobs, ferner einen Abecedarius, ein Sybillenlied, Harders ‚Goldenen Reihen‘ und das Fragment eines Lehrgedichts.

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 Pragmatische und mediale Kontexte

Eine reine Œuvrehandschrift ist auch der von Hermann von Ludesdorf aus dem Zisterzienserkloster Himmerod geschriebene Codex Best. 7020 (W*) 8 des Kölner Historischen Archivs; er überliefert einen Großteil der Lieder mit der Autorsignatur „Muskatblut“ (s. unten → Kapitel VII.13), nämlich 95; viele sind nur hier bezeugt. Die Handschrift, noch zu Lebzeiten des Autors geschrieben, dürfte auf einer von diesem verantworteten Vorlage beruhen, entweder auf einem „eigenhändigen Manuskript Muskatbluts“ oder, „wegen der Textentstellungen wahrscheinlicher“, auf einer abschriftlichen Kopie (Schanze, Liedkunst I, S. 156). Wie dem auch sei, in der Muskatblut-Überlieferung nimmt die Kölner Handschrift damit eine Sonderstellung ein. Die Lieder sind nach Tönen und innerhalb der Töne nach Themen geordnet, die Sammlung ist auf Vollständigkeit hin angelegt (ebd., S. 145  f., 152). In Autographen ist ein Großteil der Lieder Michel Beheims (s. dazu auch unten → Kapitel  VII.14) überliefert: Die älteste Sammlung seiner Lieder, die sicherlich in mehreren Etappen entstandene Handschrift A, ursprünglich vielleicht als Geschenk für den königlichen Förderer Ladislaus Postumus gedacht, diente nach dessen frühem Tod 1457 wohl als „‚Handexemplar‘ des Dichters“ (Gille/Spr. I, S. XXII); dieser hat darin nicht nur den größten Teil eigenhändig beschrieben (vgl. die Übersicht bei Kratochwill, Autographe, S.  112  f.), sondern auch Familiennachrichten eingetragen; von seiner Hand stammen insonderheit die genotirten Anfangsstrophen aller elf Töne. Zudem enthält A als „Sondergut“ einige Gedichte (Gille/Spr. 112  f., 356  f.), die Beheim „offenbar aus persönlichen Gründen […] nicht in C, der für Außenstehende bestimmten ‚Ausgabe letzter Hand‘, aufgenommen hat“ (ebd. I, S. XXII). Handschrift B ist zwar kein Autograph, doch wurde die Abschrift vom Autor nachweislich vielfach gebessert und um ausgelassene Verse ergänzt. Im Textbestand entspricht die Handschrift, von einem Nachtrag abgesehen, den neun Tönen des ursprünglichen Bestands von A und den beiden dort später ergänzten Tönen; wie A überliefert die Handschrift auch Melodien. Sorgfältige Anlage und kalligraphische Ausführung haben vermuten lassen, dass die Handschrift „als Widmungsexemplar für den Kaiser bestimmt war“, zu dessen Hof Beheim 1461 gehörte (Gille/Spr. I, S. XXV). Handschrift C, zum größeren Teil ein Autograph, gilt als die jüngste Sammlung von Beheims Liedern. In der Einrichtung wirkt sie unfertig, übertrifft aber, wenn auch nicht entscheidend, in Liedbestand und Textqualität die beiden anderen ‚Gesamtausgaben‘ der Lieder (ebd., S. XXX). Die weiteren Handschriften enthalten Sammlungen in Auswahl bzw. die in Spruchtönen verfassten drei Reimchroniken (‚Buch von den Wienern‘, ‚Buch von der Stadt Triest‘, ‚Pfälzische Reimchronik‘). Als Autographe aus Beheims nachösterreichischer Zeit haben nach den Untersuchungen Kratochwills auch die Handschriften D, E und G zu gelten. Erstere enthält eine kleine Anthologie von Beheim-Liedern in seiner Verkehrten Weise, E ausschließlich geistliche Lieder in Osterweise und Hofton und Handschrift G Beheims Versifikation von Thomas Peuntners ‚Büchlein von der Liebhabung Gottes‘, einen Zyklus von 23 Gedichten in der Osterweise. Nur die BeheimHandschrift F vom Ende des 15. Jahrhunderts, der lediglich rezeptionsgeschichtliche Bedeutung zukommt, und Handschrift a mit einer planvollen Zusammenstellung von



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neun geistlichen Liedern in vier verschiedenen Tönen wurden von anderen Händen geschrieben. Die Handschriften mit Beheims Reimchroniken in singbaren Strophen sind wiederum von Beheim selbst geschrieben (WB) bzw. eigenhändig von ihm korrigiert (P). Von der im Zweiten Weltkrieg vernichteten Handschrift H nehmen Gille/ Spr. I, S. XXXVIII an, es habe sich um „eine ohne das Zutun des Dichters angefertigte Abschrift vom Autographon“ gehandelt. Alles in allem sind Beheims Sammlungen in der Überlieferung der deutschen Literatur des späten Mittelalters singulär; in puncto Authentizität sind erst wieder die 16 autographen Meistergesangbücher von Hans Sachs vergleichbar. Ausschließlich Meisterlieder des Nürnberger Meistersingers Hans Folz überliefern die beiden Folz-Handschriften W und M. Handschrift W, die älteste Sammlung von Folz-Liedern überhaupt, aus ursprünglich drei selbständigen Faszikeln kombiniert, enthält 23 Lieder in 14 Tönen, davon vier fremden, fast alle Lieder mit marianischem Zuschnitt. Deutlich jünger ist Handschrift M, die 49 Lieder in vier eigenen und neun fremden Tönen tradiert. Der Codex wurde wohl von seinem mutmaßlichen Erstbesitzer Jacob Bernhaubt gen. Schwenter († 1501/02) aus einzelnen Meisterliederheften zusammengebunden, die Folz vielleicht sogar kommerziell vertrieben hat (Schanze, Liedkunst I, S. 308  f.). Dafür spricht jedenfalls die Tatsache, dass er die Lieder zum Großteil eigenhändig kopiert und signiert hat. Von diesen autorfixierten Textzeugen unterscheiden sich die acht Corpushandschriften, die ausschließlich oder überwiegend Lieder des Mönchs von Salzburg enthalten; sie lassen kein geschlossenes Werk erkennen, geschweige denn eine Sammlung, die vom Autor initiiert oder selbst veranstaltet worden wäre; in ihrem Textbestand variieren sie stark. Die Mönch-Handschriften A, B, E und F „entstammen ein und demselben Skriptorium“ (Wachinger, Mönch, Sp. 660), und auch die Handschriften C, G und J gehören aufgrund des gemeinsamen Liederbestands – sechs Ma­ rien­lieder in der gleichen Reihenfolge – enger zusammen. Zum Kernbestand rechnet Wachinger neben den nichtübersetzten deutschen Sequenzen die geistlichen Strophenlieder des „meisterlichen Typs“, d.  h. in ausladenden Kanzonenformen (ebd., S. 126  f.), und als wahrscheinlich echt gelten ihm auch die weltlichen Lieder aus D, vor allem die Tagelied-Variationen und Dialoge (ebd., S. 131; ausdifferenzierend hier März [Hg.], Mönch, S. 6–8). Skeptisch beurteilt Wachinger hingegen die 27 Übertragungen geistlicher Hymnen und Sequenzen. Ebenfalls einen Sonderfall innerhalb der Autorhandschriften stellt die wohl zwischen 1450 und 1475 in oder bei Nürnberg entstandene ‚Weimarer Liederhandschrift‘ dar; sie ist zwar als Autorsammlung konzipiert, geht aber sicherlich nicht auf den Autor zurück: F

Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibl., Cod. Q 564, 142 Bll., Pap., 3. V. 15. Jh., in oder bei Nürnberg geschrieben: Strophen Frauenlobs und anonyme Strophen und Lieder in Tönen Frauenlobs, „außerdem Frauenlobs ‚Minne und Welt‘, Minnelieder und Leichs, dazu stellenweise fremde Einsprengsel“ (RSM, Bd. 1, S. 273) u.  a. – Transkription: Morgenstern-Werner (Hg.), Weimarer Lhs. Q 564.

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Auf den Entstehungsraum verweist, neben der Schreibsprache, noch der zweite Teil, eine Sammlung von acht kleineren Reimpaardichtungen, „die unverkennbar in Beziehung zum Nürnberger Repertoire der Zeit (steht)“ (Kornrumpf, Konturen, S.  173). Bedeutsam ist die Handschrift vor allem für die Frauenlob-Philologie: Sie überliefert, die Texte freilich zum Teil sehr verderbt, das bei weitem umfangreichste Corpus von Frauenlobstrophen, überdies als einzige Sammlung das ganze Typenspektrum seiner Kunst: die drei Leichs, das vielstrophige Gedicht ‚Minne und Welt‘, Spruchsang in neun Tönen und sieben Minnelieder. In ihrem Kernbestand dürfte sie auf eine „Schulsammlung“ zurückgehen, die bald nach dem Tod Frauenlobs angelegt wurde und – anders als Handschrift J, die den jungen und mittleren Frauenlob gesammelt hat – Dichtungen des späteren Frauenlob sowie „Dichtung in Frauenlobscher Manier“, von seinen Schülern und Nachahmern, aufgenommen hat (Wachinger, Corpusüberlieferung, S. 200  f.). Unverkennbar ist die Neigung zur Barbildung, sei es durch Zusammenstellung thematisch verwandter Strophen, sei es durch Zudichtung. Insofern ist die Handschrift auch ein Dokument für „Dichtungsinteressen und Dichtungsaktivitäten im Zeichen einer Frauenlob-Nachfolge“ im 14.  Jahrhundert (ebd., S. 207). Thematisch überwiegen Fürstenlehre sowie ständisch bezogene Moral- und Tugendlehre (ebd., S. 202); darin unterscheidet sich das Corpus der Weimarer Handschrift von den anderen Meisterliedersammlungen des 15.  Jahrhunderts, die geistliche Thematik bevorzugen. Untermischt ist die Sammlung ferner mit Strophen in einem Ton Regenbogens und Reinmars von Zweter. Von den insgesamt 450 Nummern wurden die Leichs, ‚Minne und Welt‘, 253 Spruchstrophen und 34 Liedstrophen in die Göttinger Frauenlob-Ausgabe GA aufgenommen, d.  h. als authentisch erachtet. Auf dieses Corpus folgen, wie so oft bei Sammelhandschriften, Addenda, in diesem Fall Auszüge aus einer Walther-Sammlung des mitteldeutsch-niederdeutschen Überlieferungszweigs, das Gedicht ‚Des Minners Klage‘ in Titurelstrophen, zwei Lieder im Langen Ton Regenbogens, schließlich ein Spruch Konrads von Würzburg. Sammlungen von Sangspruch und Meisterlied in Mischhandschriften Als eigener Überlieferungstypus haben planmäßige Sammlungen von Sangspruch und Meisterlied in Handschriften gemischten Inhalts zu gelten, die freilich von den seit dem 16. Jahrhundert entstandenen Buchbindersynthesen säuberlich zu scheiden sind. Um die Gründe für solche Zusammenstellungen zu erkennen, bedarf es oft genauer Analysen. Auf der Hand liegen sie bei dem – mit der Heidelberger ‚Tristan‘Handschrift Cpg 360 zusammengebundenen – Cpg 349 aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts (Sigle h), zur Hauptsache eine Abschrift von Freidanks ‚Bescheidenheit‘, der als Addendum eine Kollektion von Freidank zum Teil wörtlich zitierenden 32 Sangspruchstrophen (d.  i. KLD Namenlos h) sowie Strophen von Spervogel III beigegeben ist. Wenig später, um 1300, ist Cod. B XI 8 der Basler UB entstanden, eine lateinisch-deutsche Sammelhandschrift mit überwiegend geistlichen Texten; zu diesem teils mit Noten versehenen Ensemble gehören auch sechs Sangsprüche, die



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sich in ihrer geistlichen Thematik gut zum Programm der Handschrift fügen (vgl. dazu Kesting, Basel B XI 8). Weniger offensichtlich ist der inhaltliche Zusammenhang bei der nurmehr in 19 Bruchstücken auf 28 Blättern erhaltenen ‚Schönrainer Handschrift‘ (2. V. 14. Jh., südrheinfrk.; zur Handschrift vgl. Schanze, Schönrainer Hs.): – – –



Basel, UB, Cod. N I 1, Nr. 73c.d, 2 Perg.-Bll.: 8 Strophen Reinmars von Zweter. Büdingen, Privatbesitz der Familie Isenburg, Hss.-Frgm. 54c und 56A: Schluss des ‚Fürstenlobs‘ bzw. Verse aus dem Anfangsteil des ‚Trojanerkriegs‘ Konrads von Würzburg. Kassel, UB, LB und Murhardsche Bibl. der Stadt Kassel, 2° Ms. poet. et roman. 30 [3.4 (Sigle: Reinmar von Zweter T, vormals: Marburg, Staatsarchiv, Fragm. 3+4), 2 Perg.-Bll.: 8 Strophen Reinmars von Zweter. Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. 326 Novissimi 8° (vormals: Privatbesitz  Antiquariat Dr. Jörn Günther, Hamburg, Nr. 2006/8,9 bzw. Nr. 2004/8,4, davor: Büdingen, Fürstlich Ysenburgund Büdingensches Archiv, Ms. 54, 55, 57, 57A, 57 B), 24 Perg.-Bll.: Auszüge vom Anfang des ‚Trojanerkriegs‘ Konrads von Würzburg, Strophen Reinmars von Zweter, des Litschauers und des ‚Wartburgkriegs‘.

Den Anfang machten Auszüge vom Beginn des ‚Trojanerkriegs‘ Konrads von Würzburg. Ihnen folgte ein Konvolut von Strophen Reinmars von Zweter, das in Anordnung und Wortlaut mit der Reinmar-Handschrift D verwandt ist; ganz oder teilweise erhalten sind davon 49 Strophen. Beigefügt waren dieser Autorsammlung wie üblich Addenda – überliefert sind acht weitere Strophen Reinmars und vier des Litschauers –, schließlich eine ‚Wartburgkrieg‘-Sammlung. Die Kombination von Roman und Sangspruch ist speziell. Öfter begegnen Sangspruch- und Meisterliedsammlungen hingegen im Kontext anderer lyrischer Gattungen, die Zugehörigkeit zum lyrischen Genre bestimmt das Sammelprinzip. So enthält die ‚Wiener Leichhandschrift‘ W (Wien, ÖNB, Cod. 2701, 50 Bll., Perg., ca. 1340–1360, omd., mit Melodien) Spruchstrophen u.  a. von Reinmar von Zweter und Frauenlob, während die ‚Mondsee-WienerHandschrift‘ (Wien, ÖNB, Cod. 2856, um 1470, Salzburg) ihre Sammlung von Liedern des Mönchs von Salzburg mit einem Anhang von meist vielstrophigen Meisterliedern vor allem Mügelns vergesellschaftet hat. Zwei umfangreiche Mariengedichte Heinrichs von Mügeln (Stmn. 110–172, 182–193), zwei Lieder des Mönchs von Salzburg und ein anonymes Lied in dessen Langem Ton sind auch in die Sammlung von Marienliedern und -gedichten des Heidelberger Cpg 356 (Pap., um 1460, schwäb.-alem., Sigle: Heinrich von Mügeln c) aufgenommen. ‚Fichards Liederbuch‘ (Frankfurt a. M., Stadtarchiv, Fichard Nr. 165 Ms. 69, Pap., um 1450, rheinfrk., 1944 verbrannt) hatte einen geschlossenen Block von 12 Liedern Suchensinns integriert (zur Handschrift vgl. Lomnitzer, Liederbuch), und Lieder Suchensinns, Jörigers und Muskatbluts beschließen den Liederteil im ‚Liederbuch der Klara Hätzlerin‘ (Prag, Knihovna Národního Muzea, Cod. X A 12, Pap., 1470/71, Augsburg). Eine größere Sammlung von Meisterliedern, v.  a. Muskatbluts, ist auch dem ‚Liederbuch des Jacob Käbitz‘ (München, BSB, Cgm 811, Pap., 2. V. 15. Jh., Schwaben), einer Sammlung literarischer Kleinformen und Gebrauchstexte vom Typ ‚Literarisches Hausbuch‘, implementiert, und der Münchner Clm 14574 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, eine lateinisch-deutsche Mischhandschrift mit

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geistlichen und fachliterarischen Texten, bietet im Anschluss an einen medizinischen Traktat das lateinische Artes-Gedicht und Lieder Heinrichs von Mügeln, Harders ‚Goldenen Schilling‘ und drei Lieder des Mönchs von Salzburg (RSM, Bd. 1, S. 221; weitere Beispiele bei Schanze, Liedkunst  I, S.  27–31). Fachliches Interesse scheint auch den Ausschlag gegeben zu haben, wenn Handschriften theologisch-geistlichen oder medizinisch-astronomischen Inhalts thematisch vergleichbare Sangsprüche und Lieder attrahiert haben. In gänzlich ‚artfremder‘ Umgebung, nämlich in einem Kopialbuch des Juristen Rudolf Losse (Kassel, UB, LB und Murhardsche Bibl. der Stadt Kassel, 2° Ms. iurid. 25, 1330/50), ist eine kleine Sammlung deutscher Reimpaarreden, Minnelieder und Spruchstrophen überliefert; letztere gehören Reinmar von Zweter, Friedrich von Sonnenburg und einem Anonymus. Die Sammlung spiegelt ganz offensichtlich wider, was Losse an den Fürstenhöfen an Mittelrhein und Mosel an Literatur kennengelernt und was seinen eigenen literarischen Vorlieben entsprochen haben mochte (vgl. Holtorf, Losse, Sp. 919). Fragmente Viele Textzeugen des 13. und 14.  Jahrhunderts sind nur fragmentarisch erhalten  – Schätzungen gehen von 70 % aller Textzeugen aus –, sie wurden meist in der Frühen Neuzeit makuliert. Die „Überlieferungsform ‚Fragment‘“ stellt so gewissermaßen den „Normalfall“ dar (Klein, K., Jenaer Handschrift, S. 253). Seine Beurteilung, vor allem seine überlieferungs- und literaturgeschichtliche Verortung, fällt naturgemäß schwer. Gelegentlich sind Konturen von Sammlungen wie die erhaltenen erkennbar, oft aber sind Rückschlüsse auf das Programm der ursprünglichen Handschrift nicht mehr möglich. Immerhin lassen die Fragmente erkennen, dass die kodifizierte Überlieferung von Spruchsang und Meisterlied sehr viel breiter gewesen sein muss, als sich erhalten hat. Die folgende Auswahl berücksichtigt vor allem die Überlieferung des Spruchsangs: Den Rest einer Liederhandschrift aus der Zeit um 1300, mit Strophen des Tugendhaften Schreibers, Reinmars von Zweter, Kelins, Rumelants, des Meißners u.  a., überliefert das ‚Maastrichter Fragment‘ (Maastricht, Rijksarchief Limburg, Ms. 237 [früher: Ms. 167 III.11], 1 Perg.-Doppelbl., md.-nd.). Die erhaltenen Strophen haben Minneund Moraldidaxe zum Gegenstand; nur einmal wird ein Name genannt. Sollte das Blatt aus dem ‚gemischten Anhang‘ einer Liederhandschrift stammen, wie er auch für A oder D bezeugt ist (vgl. Tervooren/Bein, Fragment, S. 24; Holznagel, Wege, S. 392), dann müsste sich diese Handschrift nicht grundsätzlich von den oberdeutschen Sammlungstypen (Sammlung von Autorcorpora wie A, B, C, Autorhandschrift wie D) unterschieden haben. Nurmehr die Reste einer mit Handschrift J in Bestand und Strophenfolge verwandten Liederhandschrift stellen vier Pergamentblätter des 14. Jahrhunderts aus Basel dar (Basel, UB, Cod. N I 3, Nr. 145, 14. Jh., Sigle T). Sie enthalten Strophen Kelins, Boppes, Fegfeuers und des ‚Wartburgkriegs‘ mit Melodien. Zu Liederhandschriften aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gehörten auch das



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‚Münstersche Fragment‘ (Münster, Staatsarchiv, Msc. VII 51; Walther-Hs. Z), ein Pergament-Doppelblatt mit Strophen Walthers von der Vogelweide und einer Reinmar zugeschriebenen Strophe, sowie die beiden Pergamentblätter aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg (Bestand 147, Hr. 1. 2, Sigle: Frauenlob Z), die Strophen Frauen­ lobs mit Melodien überliefern. Drei Pergament-Doppelblätter einer niederdeutschen Liederhandschrift des späten 14. oder frühen 15. Jahrhunderts sind schließlich mit den ‚Möserschen Bruchstücken‘ (Berlin, SBB-PK, Mgf 795, Sigle: Liederhs. m) erhalten. Sie überliefern Strophen Reinmars von Zweter, Boppes und Frauenlobs (Faksimile und Transkription s.  o. unter Handschrift n; zu dieser Handschriftengruppe vgl. Klein, T., Verbreitung). Eine größere Zahl von Fragmenten bezeugt die weite Verbreitung des Frau-EhrenTons Reinmars von Zweter, namentlich im mitteldeutschen Sprachgebiet; die Fragmente U (Berlin, SBB-PK, Mgf 923/19, 1 Perg.-Doppelbl., 14. Jh., md.), mit 18 Strophen, und V (Halle, UB und LB, Cod. Yg 4° 69, 2 Perg.-Bl., um 1300, md.), mit 15 Strophen, sind überdies, wie die Reihenfolge erkennen lässt, mit der Autorsammlung D verwandt, wie auch die fragmentarisch erhaltene ‚Schönrainer Handschrift‘ (s.  o.). Hinzu kommen die folgenden Bruchstücke: Berlin, SBB-PK, Hdschr. 401 (olim Privatbesitz Beate Buchholz, Bonn), Teil eines Perg.-Doppelbl., Anf. 14. Jh. (?), md. auf nd. Grundlage: Teile von 8 Strophen Reinmars von Zweter, darunter ein Unikat, mit Namensnennung vor jeder Strophe (vgl. Tervooren, Fund); Göttingen, Niedersächs. SB und UB, Cod. Ms. Müller I 4 (1 Perg.-Doppelbl., 14./15. Jh., nd.) mit drei Strophen; Prag, Nationalbibl., Cod. XXIV.C.55 (früher Tetschen/Děčín [Tschechien], Gräfl. Thunsche Bibl., Ms. 221i; 1 Perg.-Bl., 2. H. 14. Jh., österr.) mit drei Strophen Reinmars von Zweter und einer Strophe Bruder Wernhers. Einige Fragmente gehören zweifellos aufgrund ihres Inhalts und ihrer Schreibsprache – „Schriftmitteldeutsch auf nd. Grundlage“ (Klein, T., Verbreitung, S. 106) – in das Umfeld der ‚Jenaer Liederhandschrift‘: Es sind dies die bereits genannten Fragmente Basel N I 3 Nr. 145, Berliner Hdschr. 401 und Münster Msc. VII Nr. 51; ferner Berlin, SBB-PK, Mgq 981 (‚Magdeburger Frühlingslied‘, d.  i. ein Minnelied in rätselhafter Form, 1 Bl., 1. H. 14. Jh., mit Melodie); die ‚Heiligenstädter Fragmente‘ (Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berlin Mgo 462, 1 Perg.-Bl., 4. V. 13. Jh.) mit Strophen Walthers von der Vogelweide und Walthers von Mezze. Eine gemeinsame Vorlage mit J vermutet man gar für das Soester Fragment (Stadtarchiv und Wiss. StB, Frgm. 157, 1 Perg.-Bl., Anf. 14. Jh.), mit zehn Spruchstrophen Frauenlobs, und für Wolfenbüttel, HAB, Cod. 404.9 (11) Novi (Reste eines Perg.-Doppelbl.s, 14. Jh.) mit Strophen Rumelants von Sachsen. Diese Bruchstücke, so unscheinbar sie auch sein mögen, sind von erheblicher Bedeutung auch für die Literaturgeschichte: Denn zusammen mit den auf zahlreiche Zusatzquellen verweisenden Nachträgen in Handschrift J lässt diese fragmentarisch erhaltene Liedüberlieferung in Umrissen eine „dichte Lied- bzw. Sangspruch-Tradierung“ (Kornrumpf, Grundstock, S. 79) nach 1300 im mittel- und niederdeutschen Raum erkennen, also weit über die alten oberdeutschen Kernregionen höfischer Dichtung hinaus.

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Dies bestätigen schließlich auch das Berliner Fragment 132/13 aus dem Nachlass Grimm (2 Perg.-Bll., 1. H. 14. Jh., md./nd.) mit Fürstenpreis und Totenklagen Regenbogens, ein Breslauer Fragment mit 14 Strophen in Tönen Frauenlobs (Wrocław, UB, Akc. 1955/193, 18 Perg.-Streifen, 1. H. 14. Jh., schles.) und ein Würzburger Bruchstück mit zwei Liedern Muskatbluts (Würzburg, UB, M. ch. f. 743, Pap., 1 Bl., 1. H. 15. Jh., omd.). – Zu fragmentiert überlieferten Rollen s. den folgenden Abschnitt. Einzelblätter, Rollen und Heftchen, abschriftlich und gedruckt Für die Erstaufzeichnung von Liedern und Sangsprüchen, wohl auch für den Vortrag hat man Einzelblätter oder Rollen/rotuli – aneinandergenähte oder geklebte Streifen von Pergament, später auch von Papier – verwendet; erste Entwürfe dürften auch auf Wachstafeln notiert worden sein (Schneider, K., Paläographie, S.  185–188). Erhalten hat sich von diesen Überlieferungsformen so gut wie nichts. Ausnahme sind die Fragmente der ‚Basler Rolle‘ (Basel, UB, Cod. N I 6, Nr. 50, ostalem.) vom Ende des 13.  Jahrhunderts, vier Pergamentstreifen mit Strophen des Marners, Konrads von Würzburg und des Kanzlers, sowie zwei Stücke einer Rolle mit 14 Strophen Reinmars von Zweter, die heute in Los Angeles aufbewahrt werden (University of California, Research Library, Nr. 170/575, um 1280, bair. [Regensburger Raum]). Diese rotuli stellen also eine autor- bzw. themenbezogene Auswahl dar. Dass sie als Vortragsmanuskripte verwendet wurden – die Autorbilder der großen Lyriksammlungen, etwa Reinmars des Alten und Reinmars von Zweter in Handschrift C, legen dies nahe (vgl. Curschmann, Überlegungen, S. 222–225) –, wurde unlängst bestritten (Kössinger, Tradierung, S. 58  f.). Die Verwendung in einem Aufführungskontext lässt allerdings der ‚Königsberger Rotulus‘ (Berlin, Bibliothek des Geheimen Staatsarchivs, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, XX. HA StA. Königsberg 33, 11, Ende 13. Jh., md./thür.) mit ‚Aurons Pfennig‘ aus dem ‚Wartburgkrieg‘ (neben einem lateinischen Ma­rien­lob und einem deutschen Marienleich) vermuten, der – im Vergleich zur Parallelüberlieferung – erkennbar einen metrisch glatteren Text aufweist (Hal., S. 74–77). Auch selbständige Heftchen, aus Pergament oder Papier, waren dem Untergang geweiht, wenn sie nicht einem größeren Codex eingebunden wurden. Dieser ursprünglich sicherlich weit verbreitete Überlieferungstyp wird mit Hs. Georg. 25 der Stadtbibliothek Dessau greifbar (68 Bll., Pap., 2. H. 15. Jh., omd.), die aus drei solcher Oktavhefte zusammengebunden wurde; sie tradieren zwei größere Erzähllieder, ein Lied Muskatbluts, zwei Lieder in Tönen Regenbogens u.  a. Einen vergleichbaren Fall bietet die Folz-Handschrift M (s.  o.). Oft finden sich solche Heftchen in Sammelhandschriften geistlichen Inhalts eingebunden (Schanze, Liedkunst I, S. 27); hier wäre in jedem einzelnen Fall zu überprüfen, ob es sich um ein planvolles Textensemble oder aber um eine Buchbindersynthese aus konservatorischen Gründen handelt. Aus mehreren Teilen ist jedenfalls der Münchner Cgm 778 zusammengesetzt, der im dritten Teil (mittelbair., um 1400) zwei Lieder Albrecht Leschs in seiner Tagweise (mit Noten­



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linien, aber ohne Noten) bzw. im Goldenen Schloss überliefert, und der Münchner Clm 8481 enthält neben lateinischen Predigten, Traktaten u.  ä. in einem ursprünglich selbständigen Faszikel, der nach 1422 entstanden sein muss, ein Lied Suchensinns und den Reihen Mülichs von Prag (RSM, Bd. 1, S. 202, 220). Aus mehreren Teilen besteht auch Cod. 286 aus der Stiftsbibliothek Seitenstetten, eine lateinisch-deutsche Mischhandschrift, die ein Lied im Goldenen Ton des Kanzlers überliefert (ebd., S. 253). Solche handschriftlichen Heftchen waren die Vorläufer der gedruckten Liederheftchen und schließlich auch der Einblattdrucke von Meisterliedern, die seit Ende des 15.  Jahrhunderts auf den Markt kamen (vgl. das Gesamtverzeichnis der Drucküberlieferung im RSM, Bd. 1, S. 325–508; zum Folgenden vgl. Schanze, Liedkunst I, S. 32–34). Pionier auf diesem Gebiet war Hans Folz, der allerdings nur eigene Texte publizierte; schon wenige Jahre später gehörte das Meisterlied zu den gängigen Gattungen unter den Kleindrucken. Zumeist hat man mit einem einfachen Titelholzschnitt verzierte Broschüren von wenigen Seiten im Kleinoktavformat gedruckt, auf Einblattdrucke haben sich, wie es scheint, in den ersten Jahrzehnten nach 1500 vor allem die Augsburger Drucker konzentriert. Dabei ist aber immer auch mit dem Verlust von Einblattdrucken zu rechnen, der den kleiner Oktavheftchen noch übertroffen haben dürfte. Thematisch dominierten bei den Lieddrucken die Erzähllieder, ferner Lieder über die Liebe und die Frauen, Themen also, die in der handschriftlichen Tradition des Meisterlieds mit ihrem Schwerpunkt auf geistlichen Themen nur eine marginale Rolle spielten. Die gedruckten Meisterlieder setzten demnach nicht nur in medialer, sondern auch in thematischer Hinsicht neue Akzente; sie trugen überdies zur Popularisierung der meisterlichen Kunst bei. Streuüberlieferung Verstreute Überlieferung einzelner Strophen ist die älteste Form der Spruchsangüberlieferung überhaupt: In einer lateinisch-deutschen Mischhandschrift der Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 58, aus dem 12. Jahrhundert sind die namenlosen Spruchstrophen MFMT I,I–III eingetragen, in Cod. 160 der ÖNB Wien, einer lateinischen Sammelhandschrift, wurde Ende des 12. Jahrhunderts die namenlose Spruchstrophe MFMT I,IV (mit Neumen) nachgetragen, und Cgm 5249/42a der BSB München, das Fragment einer lateinischen Handschrift um 1200 oder aus dem frühen 13. Jahrhundert, überliefert die anonyme Spruchstrophe MFMT I,V. Zum Teil handelt es sich um in den ursprünglichen Bestand integrierte Einzelaufzeichnungen, zum Teil um Nachträge auf leer gebliebenen Seiten oder Seitenrändern; in beiden Fällen können die Einträge in einem sachlichen Zusammenhang mit der textuellen Umgebung stehen (zu den beiden Typen der Streuüberlieferung vgl. Holznagel, Typen, S.  109–113). Mit der Etablierung des Spruchsangs als höfischer Literaturgattung, dem rasanten Anstieg der literarischen Produktion und ihrer Kodifizierung in den großen Sammelhandschriften gibt es auch Streuüberlieferung in Hülle und Fülle. Eine systematische Beschreibung dieser Überlieferung steht noch aus; Beispiele für die verstreute Über-

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lieferung von Meisterliedern gibt Schanze, Liedkunst I, S. 23–26. Bei den folgenden Beispielen liegt das Augenmerk auf verstreut überlieferten Spruchsangstrophen des 13. und 14. Jahrhunderts; annähernd vollständig ist die Streuüberlieferung in RSM, Bd. 1, erfasst. Vielfach stehen die einzelnen Strophen in einem erkennbaren thematischen  – und nicht durch die Gattung vorbestimmten – Zusammenhang mit dem Kontext, und häufig ist es ein geistlicher: So findet sich Frauenlobs Gebetsstrophe GA V,1, die den Schöpfer in Gestalt der Hostie anruft, nicht nur inmitten einer Gebetssammlung, die Basel, UB, Cod. A X 138 (Pap., um 1436, alem.) überliefert, sondern auch in Sammlungen deutscher Erbauungstexte und Gebete in einem Codex der British Library zu London (Add. Msc. 15690, 1380, Nürnberg), in einer Handschrift der UB Breslau (Ms. I O 9, 1425/28, Ratibor) und im Cod. 985 der Stiftsbibliothek St. Gallen (1467, Freiburg i. Br.?). Zwischen Bibel- und Legendenepik und Sündenklage sind im Berliner Mgf 20 (Pap., Mitte 15. Jh., alem.) zwei Strophen Konrads von Würzburg, ein Memento mori und eine Klage über die verlorene Zeit (Schr. 32,256 u. 271), plaziert. Eine liturgische Sammelhandschrift aus der Stiftsbibliothek Engelberg (Cod. 314, Pap., um 1370/80) überliefert hingegen u.  a. ein fünfstrophiges Lied über die Priesterschaft in Frauenlobs Langem Ton (RSM 1Frau/2/75–79a) und eine lateinische Cantio im Hofton Reinmars von Brennenberg (zur Streuüberlieferung im Engelberger Codex vgl. Schanze, Liedkunst I, S. 19). Harders ‚Goldener Reihen‘, ein Frauenpreis, der sich auf die weltliche Geliebte wie auf die Gottesmutter beziehen lässt, findet sich gar in ganz verschiedenen Überlieferungskontexten: als Nachtrag um 1400 nach einer Erklärung zu Hymnen und Sequenzen (Graz, UB, Ms. 1592, Perg., 1. H. 14. Jh., hier nur die erste Strophe); als Nachtrag aus derselben Zeit in einer medizinischen Sammelhandschrift (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cpl 1176, Pap. und Perg., 14. Jh.); in einer Sammlung lateinischer Schulliteratur (Erfurt, UB und Forschungsbibl. Erfurt/Gotha, Cod. Amplon. Q. 56, Pap., 1. H. 15. Jh.). In der Breslauer Handschrift des ‚Hohenlieds‘ Bruns von Schönebeck wiederum sind die beiden Strophen (Pseudo-)Reinmars von Zweter über den idealen Mann (Roe. 99  f.) und über die ideale Frau (Roe. 302ab) integriert (Wrocław, UB, Cod. R 482, Pap., um 1400, omd.). Im Kontext von Fachliteratur findet man, nicht ganz überraschend, öfter Strophen Heinrichs von Mügeln. Vier Strophen, über die vier Temperamente (Stmn. 329–332), sind einer astronomisch-astrologischen Sammelhandschrift inseriert, die in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe (Cod. St. Georgen 81, um 1425, alem.) aufbewahrt ist; zusammen mit zwei Liedern Jörigers und einem Lied im Ton des Ungelehrten bilden sie aber auch eine kleine Gruppe von Meisterliedern in einer Sammlung von Kleinliteratur (Cambridge, Mass., Houghton Library der Harvard University, MS Ger 74, Pap., Teil I: um 1460/72, schwäb.). Ein weiteres Lied Mügelns, über die Bedeutung der Kometen (Stmn. 263–265), wurde 1472 in einer um 1400 entstandenen lateinisch-deutschen Sammelhandschrift mit astronomischen, astrologischen und komputistischen Texten nachgetragen (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cpl 1370). Drei Strophen Heinrichs von Mügeln über Traumdiagnostik (Stmn. 50–52) stehen in einer Wiener Mischhandschrift



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mit medizinischen u.  a. Texten, lateinisch und deutsch (Wien, ÖNB, Cod. 5295, Pap., 1416–1419, bair.-österr.) sowie unter den medizinischen Nachträgen einer Handschrift mit dem ‚Arzneibuch‘ Ortolfs von Baierland (Leipzig, UB, Ms. 906, Pap., 1466/79, md.). Ganz apart ist die Überlieferung der Frauenlob zugeschriebenen Strophe RSM 1 Frau/2/67a, die katalogartig Minnesklaven aus Altem Testament, Antike und höfischem Roman anführt. Sie steht nicht nur, zusammen mit Frauenlobs ‚Marienleich‘ (GA I) und einer Strophe des Marners (?, Wms. 7,20), im ‚Hausbuch‘ Michaels de Leone (München, UB, 2° Cod. ms. 731, um 1350, Würzburg, hier Kapitel XXVII, fol. 210vab), und zwar im Kontext von Reimpaargedichten, Merkversen, Sentenzen, Rätseln, diätetischen Regeln, Epitaphien u.  a.  m. Die Strophe ist auch einer Illustration von Minne­ sklaven beigegeben, welche die kleine „Bilder-Enzyklopädie“ (RSM, Bd. 1, S. 262) in der Handschrift Washington, The Library of Congress, Rosenwald Collection, ms. no. 3 (Anf. 15. Jh., bair.) enthält, und schon Mitte des 14. Jahrhunderts kommentiert sie ein Wandbild von Minnesklaven im Haus zur Kunkel in Konstanz. In vielen Fällen erschließt sich aber der thematische Zusammenhang zwischen Haupttext(en) und Streuüberlieferung nicht unmittelbar; evident wird dies bei der Überlieferung in sog. Hausbüchern, deren Komposition sich nicht thematischen oder gattungstypologischen Überlegungen, sondern einzig dem Interesse des Sammlers an verschiedenartigen Texten verdankt. So bewahrt das ‚Hausbuch‘ Michaels de Leone neben der oben genannten Ps.-Frauenlob-Strophe noch sieben weitere Spruchstrophen, vier davon in Kapitel XXIX (fol. 225vb–226ra): Friedrich von Sonnenburg Mas. 14, Marner Wms. *4,3 und die beiden gleichfalls dem Marner zugeschriebenen Strophen RSM 11Marn/14/1 und 1Marn/15/1 (ed. Wms., S. 284  f., 286). Drei weitere, der Dreierbar Lupold Hornburgs von Rothenburg auf Reinmar und andere Meister in Marners Langem Ton (Cramer II, I), wurden auf fol. 191vab am Schluss der Sammlung der Lieder Walthers von der Vogelweide und Reinmars (Kapitel XXIV und XXV, d.  i. die ‚Würzburger Liederhandschrift‘) nachgetragen. Als ältester Beleg für Fremdtonbenutzung (neben den Spruchstrophen in Handschrift H) und einer der ältesten Belege für Barbildung sind sie von besonderem literarhistorischen Interesse; sie machen freilich auch die Zufälligkeit der Überlieferung sichtbar. Denn gerade bei Nachträgen scheint oftmals nur ein Leerraum in der Handschrift zur Aufzeichnung aufgefordert zu haben. So wurde auch in einer lateinischen Sammelhandschrift u.  a. mit Autoren der Antike (München, BSB, Clm 4612, Perg., 13.  Jh.) nachträglich die Spervogel  II-Strophe MF 21,13 festgehalten, und eine andere Strophe Spervogels II, MF 23,21, steht unter den Nachträgen zur ‚Zimmerischen Chronik‘ des Grafen Froben Christoph von Zimmern (Karlsruhe, Bad. LB, Cod. Donaueschingen 580, Pap., 1581, schwäb.). In der berühmten Epenhandschrift der St. Galler Stiftsbibl. (Cod. 857, um 1250) hat eine Hand des dritten Viertels des 13. Jahrhunderts fünf Strophen Friedrichs von Sonnenburg (Mas. 1–5), Lobstrophen auf Frau Welt, auf einem freien Blatt nach Wolframs ‚Willehalm‘ eingetragen. Auf Vorder- und Rückseite einer bairischen Urkunde aus dem Jahr 1324 (München, BSB, Cgm 5249/27) sind wiederum nachträglich drei Strophen Reinmars von Brennenberg (KLD 44,IV,10–12) notiert. In eine Sammlung von Kleindichtungen,

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die zwischen ‚Sächsischer Weltchronik‘ und Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘ eingelagert ist, hat sich eine Scheltstrophe Walthers von der Vogelweide auf die Heuchler bei Hof verirrt (Berlin, SBB-PK, Mgq 284, Perg., um 1350, mfrk., die Strophe ohne Autornamen); im Münchner Clm 4379, einer lateinischen Sammelhandschrift in mehreren Teilen aus dem späten 14. Jahrhundert, ist ‚Regenbogens Sterbelied‘ in Frauenlobs Zugweise (RSM 1Frau/33/2b) eingetragen; und im Ms. C 31 der Zürcher Zentralbibliothek (Pap., 1436), einer Handschrift mit ‚Schwabenspiegel‘ und Chronistischem, sind unter dem Namen Süßkinds von Trimberg zwei Strophen des Gasts unter den Nachträgen. Überlieferung der Melodien Die großen alemannischen Liedersammlungen des späteren 13. und frühen 14. Jahrhunderts, die Liederhandschriften A, B, C, aber auch die Autorsammlung Reinmars von Zweter D überliefern nur die Texte der Lieder und Sangsprüche, nicht aber ihre Melodien. Dass die Spruchdichtung gleichwohl von Anfang an gesungen worden sein muss, legt die neumierte Aufzeichnung des anonymen Spruchs MFMT I,V im Münchner Fragment Cgm 5249/42a nahe. Zu einer tönenden Kunst wird der Spruchsang für uns indes erst mit der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J und einigen in ihrem Umfeld entstandenen Handschriften. J ist die bedeutendste Quelle aus dem 14. Jahrhundert. Sie enthält zu fast allen hier überlieferten Tönen auch die Melodien, insgesamt 2 Leichund 89 Strophenmelodien; von den 75 Melodien zu Spruchsangstrophen sind 65 unikal. Parallelüberlieferung und Ergänzungen sind in den Fragmenten Mar, T und Z sowie in der ‚Wiener Leichhandschrift‘ W erhalten: Mar (Marburg, Hess. StA, Bestand 147, Hr. 1. 2) überliefert die Melodien zu Frauenlobs Flugton und Zartem Ton mitsamt 11 Strophen, das Basler Fragment T (Basel, UB, Cod. N I 3, Nr.  145) die Melodie zu Fegfeuers Ton  I und Kelins Ton  II sowie Melodiefragmente zu Kelins Ton  I und III und das Münstersche Fragment Z (Münster, Staatsarchiv, Msc. VII 51) die Melodien (beide fragmentarisch) zu Walthers Zweitem Philippston und zum König-FriedrichsTon (mit entsprechenden Strophen), unter Meister Reymar ferner den Beginn von Text und Melodie einer unbekannten Strophe. Die ‚Wiener Leichhandschrift‘ (Wien, ÖNB, Cod. 2701) schließlich überliefert nicht nur alle Leichs mit Melodie, sondern auch je drei Strophen Frauenlobs im Grünen Ton und Würgendrüssel, mit Noten jeweils über der ersten Strophe, fünf Strophen eines Anonymus (RSM 11ZX/90/1–4, 1ZX/91/1) jeweils unter Noten sowie eine Strophe in Reinmars von Zweter Neuer Ehrenweise unter leeren Notenlinien. Unter den Handschriften des 15. Jahrhunderts die bei weitem wichtigste ist die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k (auch Sigle t) mit ca. 4380 Strophen in 108 Tönen. Deren erster Strophe ist zumeist eine Melodie beigegeben. Eine Reihe von Melodien hat k mit J, T und W gemeinsam; sie überliefert darüber hinaus aber auch zu Tönen älterer Autoren Melodien, die den Handschriften des 14.  Jahrhunderts unbekannt sind. (Nur in k, auch in keiner der späteren Melodiehandschriften überliefert sind:



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Konrad von Würzburg, Ton XXXI; Spervogel III/Junger Spervogel, Ton I; Walther von der Vogelweide, Hof- oder Wendelweise; vgl. Brunner, Alte Meister, S.  191  f.) Ein Gutteil dieser Melodien dürften Erfindungen des 15. Jahrhunderts, den alten Meistern indes aus Gründen der Autorisierung zugeschrieben worden sein (eine differenzierte Darstellung dieser Problematik bei Brunner, Alte Meister). Die anderen Meisterliederhandschriften des 15. Jahrhunderts stehen im Schatten der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘: Au Augsburg, SB und StB, 2° Cod. 197, nach 1401, schwäb.: lateinische und deutsche Lieder mit Noten. s Wien, ÖNB, Cod. s.  n. 3344, 1431/34 (‚Liebhard Eghenvelders Liederbuch‘, ‚Schratsche Handschrift‘): 31 Lieder mit Melodien, z.  T. in Tönen Reinmars von Brennenberg, Frauenlobs und des Jungen Meißners. u Karlsruhe, Bad. LB, Cod. Donaueschingen 120 (‚Donaueschinger Liederhs.‘), 1480/90, oberrhein.: 40 Lieder mit Melodien auf Töne Frauenlobs u.  a.

Melodien überliefern darüber hinaus die Autorhandschriften des 15. Jahrhunderts: die vom Autor selbst oder unter seiner Aufsicht geschriebenen Beheim-Handschriften A, B, C, E, G und a (s.  o.) sowie die Autorcorpora A, B und E des Mönchs von Salzburg, und öfter gibt es Melodien auch in der breiten Streuüberlieferung des Mönchs (z.  B. München, BSB, Clm 5967; Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cpl 1260; vgl. die Übersicht für die weltlichen Lieder bei März [Hg.], Mönch, S. 54–134) und Heinrichs von Mügeln (Stuttgart, Württ. LB, Cod. med. et phys. 2° 9). Aufs Ganze gesehen, hat die Streuüberlieferung aber nur marginale Bedeutung. Erheblich wichtiger für unsere Fragestellung sind die jüngeren Meistersingerhandschriften, in denen sich ebenfalls noch Melodien von Sangspruchautoren, freilich der Melodik des 15./16. Jahrhunderts angepasst, finden (vgl. Brunner, Alte Meister). Einschlägig sind die folgenden: i l

Berlin, SBB-PK, Mgf 24, um 1615, Benedict von Watt: 158 Melodien, zum größeren Teil ohne Text. Berlin, SBB-PK, Mgf 25, um 1603, Benedict von Watt: 158 Melodien, mehrheitlich mit geistlichen Texten unterlegt. m Dresden, Sächs. LB, Mscr. M 6, zusammengestellt 1600/1604 (‚13. Liederbuch Georg Hagers‘), Schreiber des (älteren) Melodieteils, 130 Melodien: Adam Puschman. n Nürnberg, StB, Cod. Will III. 784, um 1616, Benedict von Watt: mit einer Sammlung von 75 Melodien, meist vollständig textiert. o Nürnberg, Landeskirchliches Archiv, Fen. V 182.4°, ca. 1590/95, Hans Parst (?): 115 Töne mit Melodie, diese mit den Melodien Puschmans (s.  u.) verwandt. p Breslau/Wrocław, StB, Ms. 356 (seit 1945 verschollen), 1584/88 (‚Singebuch‘ des Adam Puschman): mit 327 Meisterliedern mit Melodie, nach v die zweite große Melodiehandschrift der Meistersinger im 16. Jahrhundert. Wichtigste Teilausgabe: Münzer (Hg.), Singebuch; weitere Nachweise Sps., S. XXI. q Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Cod. Q 576.1, 1615/16, u.  a. Benedict von Watt: 135 Melodien zu Tönen auch alter Meister, oftmals ohne Text. v Jena, ThULb, Ms. El. f. 100, 1558 (Handschrift des Valentin Voigt): 83 Töne mit Melodien. w Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Cod. Fol. 421: 34 Faszikel in zwei Kästen. Nürnberg 17./18. Jahrhundert.

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 Pragmatische und mediale Kontexte

w420 Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Cod. Fol. 420: 16 Faszikel in einem Kasten. Nürnberg 17./18. Jahrhundert. Wag. Johann Christoph Wagenseil: Buch von der MeisterSinger holdseligen Kunst. Altdorf 1697. – Faksimile: Wagenseil, Holdselige Kunst: Abdruck der vier Langen Töne Frauenlobs, Regenbogens, Marners und Mügelns. x Nürnberg, StB, Cod. Will III 792, um 1700: insgesamt rund 550 Melodien. – Faksimile: Brunner/ Rettelbach (Hg.), Töne. y Nürnberg, StB, Cod. Will III 793, um 1700, Nürnberg: 179 Melodien. – Faksimile wie x. z Nürnberg, StB, Cod. Will III 794, um 1700, Nürnberg: 23 Melodien. – Faksimile wie x.

Eine Edition sämtlicher Melodien des Spruchsangs vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, insgesamt 225 ‚echte‘ und ‚unechte‘ Melodien von 65 namentlich bekannten Autoren, von Spervogel I bis Michel Beheim, dazu drei anonyme Töne, bietet die Edition von Horst brunner und Karl-Günther Hartmann (Sps.); hier auch S. XX–XXIII eine Zusammenstellung aller einschlägigen Melodiehandschriften und -fragmente. Aspekte der handschriftlichen Chronologie, Geographie und Soziologie Eine systematische Untersuchung zur chronologischen und geographischen Verbreitung der Überlieferung von Spruchsang und Meisterlied fehlt, ebenso die Untersuchung soziologischer Aspekte, also zu Auftraggebern, Schreibern und Benutzern. Erkennbar ist, dass die Überlieferung sich über den ganzen deutschen Sprachraum erstreckt, von Südtirol bis ins Niederdeutsche, vom Mittelfränkischen bis ins Schlesische, freilich mit signifikanten Unterschieden. Die Kodifizierung des Sangspruchs, mittelhochdeutscher Lyrik überhaupt, setzt um 1270 im Südwesten des deutschen Sprachgebiets ein und nimmt um 1300 Fahrt auf. Es sind die großen alemannischen Liederhandschriften A, B und C sowie die südrheinfränkische Handschrift D, die bereits einen großen Teil der Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, namentlich der oberdeutschen Dichter, aufgenommen haben. Hinzu kommen die kleineren Sammlungen H und R aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, deren Schreibsprache in den rheinfränkischen bzw. nordbairischen Raum verweist. Etwa zur gleichen Zeit, nach 1300, dürfte sich auch im norddeutschen Raum, „vielleicht im Umkreis der brandenburgischen Markgrafen“ (Kornrumpf, Jenaer Lhs., S.  134), eine eigene Kodifizierungstradition herausgebildet haben. Ihr wichtigster Repräsentant ist Handschrift J, deren Grundstock wohl um 1330 entstanden ist; mit ihr werden erstmals auch die Dichter aus dem mittel- und niederdeutschen Sprachgebiet systematisch gesammelt. In Strophenbestand und -anordnung, aber auch in den Melodien mit J vergleichbar müssen drei weitere Sammlungen gewesen sein, von denen sich nur noch Reste erhalten haben (Basel, UB, N I 3 Nr. 145 mit Strophen Kelins, Boppes, Fegfeuers und aus dem ‚Wartburgkrieg‘; Wolfenbüttel, HAB, Cod. 404.9 [11] Novi mit Strophen Rumelants; Soest, Stadtarchiv und Wiss. StB, Frgm. 157 mit Strophen Frauenlobs [s.  o. unter ‚Fragmente‘]); wie umfangreich diese Sammlungen waren, können wir freilich nicht wissen. Erstaunliche Übereinstimmungen mit J in der Einrichtung der Handschrift weisen die Fragmente Berlin, SBB-PK, Mgq



Die Überlieferung der Sangspruchdichtung 

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981 und Hdschr. 401 mit dem ‚Magdeburger Frühlingslied‘ bzw. acht Strophen Reinmars von Zweter auf, und das Münstersche Fragment (Staatsarchiv, Msc. VII 51) mit Spruchstrophen Walthers und Reymars ist in der gleichen Schreibsprache wie J und das Soester Bruchstück geschrieben. Das sind zwar keine Indizien für kodikologische und textuelle Abhängigkeit zwischen den Handschriften, wohl aber für einheitliche Schreib- und Einrichtungskonventionen einer Literaturregion (Haustein/Körndle, Fragmente, S.  259  f.). Schließlich belegen auch die ‚Niederrheinische Liederhandschrift‘ n aus dem Kölner Raum, das ‚Maastrichter Fragment‘ und die ‚Möserschen Bruchstücke‘ m, Reste von Liederhandschriften beide, dass es im mitteldeutsch-niederdeutschen Sprachgebiet bereits seit Beginn des 14. Jahrhunderts eine breite lyrische Überlieferung gegeben haben muss. Doch auch außerhalb der großen Kodifikationen hat es ein lebhaftes Interesse an Minnesang und Spruchsang gegeben. Viele ‚kleinere‘ Sangspruchautoren sind zwar nur in einer einzigen Handschrift, entweder in C oder in J, bezeugt, haben also wohl kaum mehr als regionale Bedeutung gehabt; etliche haben jedoch ganz offensichtlich überregionale Beachtung gefunden, etwa Bruder Wernher, Stolle, Kelin, Konrad von Würzburg, Friedrich von Sonnenburg, Junger Meißner, Boppe, der Litschauer und der Kanzler. Auffällig lang und breit sind von den Sangspruchautoren des 13. und frühen 14. Jahrhunderts Reinmar von Zweter und Frauenlob überliefert: Auch die Überlieferung legt Zeugnis ab von dem Ruhm, der beiden Dichtern schon zu Lebzeiten und noch lange danach zuteil wurde. Die 33 Textzeugen der Dichtungen Frauenlobs, Vollhandschriften, Fragmente und Streuüberlieferung aus einem Zeitraum von über zwei Jahrhunderten, vom Anfang des 13. Jahrhunderts bis in die Zeit um 1500, erstrecken sich über das ganze deutsche Sprachgebiet, vom Alemannischen und Schwäbischen bis nach Schlesien, vom Bairisch-Österreichischen bis ins Ripuarische, Niederdeutsche und Niederländische, freilich mit einem Schwerpunkt im Osten (vgl. die Beschreibung der Textzeugen in GA). Anders verhält es sich wiederum mit den sog. Meisterliederhandschriften, die im wesentlichen auf den oberdeutschen Raum beschränkt sind; die geographische Streuung spiegelt in gewisser Weise die Verbreitung des in Gesellschaften oder Bruderschaften institutionalisierten Meistergesangs. Die Überlieferung „reicht vom Rhein (k, u) und dem alemannisch-schwäbischen Südwesten (b) über Schwaben (d, h, p, x) bis nach Bayern (y, r) und Nürnberg (m, q). Außerhalb dieses Kerngebietes liegen nur die moselfränkische Handschrift t und die Tiroler Handschrift w“ (Schanze, Liedkunst I, S. 22). In der Chronologie konzentrieren sie sich, sieht man von den Prototypen H und R aus dem 14. Jahrhundert und von den beiden Nachzüglern p und r aus den 1530er Jahren einmal ab, auf den Zeitraum von etwa 1420/30 bis 1517/18, mit einer gewissen Konzentration auf die Jahre um 1500. Über die mittelalterliche Vorgeschichte der Handschriften weiß man kaum je einmal etwas, Auftraggeber, Sammler und Besitzer sind in den meisten Fällen unbekannt. Aufwendige Anlage und Ausstattung, wie sie etwa die Codices C und J aufweisen, lassen auf potente Auftraggeber schließen, im einen Fall hat man den Zürcher

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 Pragmatische und mediale Kontexte

Patrizier Rüdiger Manesse († 1304) in Erwägung gezogen, im anderen Rudolf I., Herzog von Sachsen-Wittenberg (1298–1356), oder neuerdings auch den Grafen Günther XXI. von Schwarzburg, ohne über Vermutungen hinauszukommen. Am ehesten ist für Handschriften noch geistlicher Besitz bezeugt: So befand sich ‚Liebhard Eghenvelders Liederbuch‘, von 1431–1434 geschrieben, um 1450 im Besitz Jörg Schrats, Pfarrer zu St. Peter in Wien, die um 1420/25 wohl in Nürnberg entstandene Meisterliederhandschrift Cgm 351 ist ab 1474 in Tegernsee nachweisbar, der Breslauer Codex I O 9, eine Handschrift mit Erbauungstexten, darunter ein Gebet Frauenlobs, gehörte dem oberschlesischen Kloster Rauden, und aus bairischen Klöstern stammen auch einige Corpushandschriften mit Liedern des Mönchs von Salzburg. Anders als Bücher im Klosterbesitz, die man öfters ausgeliehen hat, tragen Bücher aus privaten Haushalten in der Regel keinen Besitzvermerk. Es bedarf schon des Zufalls, wenn man, wie im Fall der ‚Kolmarer Handschrift‘, Schreiberhände identifizieren und Rückschlüsse auf den weltlichen Erstbesitzer der Handschrift ziehen kann. Ausg. Blank [u.  a.] (Hg.), Heidelberger Lhs. Cpg 350; Brunner/Rettelbach (Hg.), Töne; GA; Gille/ Spr.; Hal.; Holz [u.  a.] (Hg.), Jenaer Lhs.; KLD; Kleine Heidelberger Lhs.; Koschorrek/Werner (Hg.), Codex Manesse; Löffler (Hg.), Weingartner Lhs.; März (Hg.), Mönch; MFMT; Mondsee-Wiener Lhs.; Morgenstern-Werner (Hg.), Weimarer Lhs. Q 564; Müller, K.  K. (Hg.), Jenaer Lhs.; Müller, U. (Hg.), Große Heidelberger Lhs.; Münzer (Hg.), Singebuch; Pfaff/Salowsky (Hg.), Große Heidelberger Lhs.; Pfeiffer (Hg.), Kleine Heidelberger Liederhandschrift; Pfeiffer/Fellner (Hg.), Weingartner Lhs.; Roe.; Schmeisky, Lyrik-Hss. m und n; Schr.; Sps:, Stmn.; Tervooren/Müller (Hg.), Jenaer Lhs.; Wagenseil, Holdselige Kunst; Weingartener Lhs. – Lit. Baldzuhn, Sangspruch; BertelsmeierKierst, Vocalité; Brunner, Alte Meister; Curschmann, Überlegungen; Czajkowski, Sprache; Egidi, Minnelied; Haustein/Körndle, Fragmente; Holtorf, Losse; Holznagel, Typen; Holznagel, Wege; Kesting, Basel B XI 8; Klein, K., Jenaer Handschrift; Klein, T., Verbreitung; Kössinger, Tradierung; Kornrumpf, Grundstock; Kornrumpf, Heidelberger Lhs. A; Kornrumpf, Heidelberger Lhs. C; Kornrumpf, Jenaer Lhs.; Kornrumpf, Kolmarer Lhs.; Kornrumpf, Konturen; Kornrumpf, Niederrheinische Lhs.; Kornrumpf, Weimarer Lhs.; Kornrumpf, Weingartner Lhs.; Kratochwill, Autographe; Lomnitzer, Liederbuch; Pickerodt-Uthleb, Jenaer Lhs.; Rettelbach, Skizze; RSM; Schanze, Liedkunst; Schanze, Meisterlhss.; Schanze, Lhs. X; Schanze, Schönrainer Hs.; Schneider, H., Liedersammlung; Schneider, K., Paläographie; Schnell, B., Medizin; Schubert, M. J., Verschriftlichung; Tervooren, Fund; Tervooren, Handbuch; Tervooren/Bein, Fragment; Touber, Ordnungsprinzipien; Wachinger, Anfang; Wachinger, Corpusüberlieferung; Wachinger, Heidelberger Lhs. cpg 350; Wachinger, Jenaer Lhs.; Wachinger, Kolmarer Lhs.; Wachinger, Mönch; Wachinger, MönchÜberlieferung; Wolf, J., Norden.



Vortragssituation – Mündlichkeit und Schriftlichkeit 

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4 Vortragssituation – Mündlichkeit und Schriftlichkeit – Reflexion und Inszenierung medialer Bedingungen im Text

Franziska Wenzel

Vortragssituation: Performanz und (rhetorische) Performativität Als gesungene, vortragsgebundene Kunstform ist die Sangspruchdichtung dem Minnesang vergleichbar (Holznagel, Mittelalter, S. 10–17, 27–49; im folgenden wird in Analogie zur begrifflichen Fixierung der Texttypen ‚Minnesang‘ und ‚Meistergesang‘ der Begriff ‚Spruchsang‘ synonym mit dem in der Forschung gebräuchlichen Begriff ‚Sangspruch[dichtung]‘ genutzt). Das soziale Gefüge des Hofes bildet für diese künstlerische Ausdrucksform einen performativen Rahmen aus, in welchem vortragender Sänger und elitäres Publikum geschieden werden, wenn sich die Kommunikationsstruktur zugunsten des Sängers verschiebt, der anstelle des Fürsten die Aufmerksamkeit auf sich zieht (Strohschneider, Hervortreten; Strohschneider, Fürst; Müller, J.-D., Willekomen). Diese Idealvorstellung eines gelingenden Gesangsvortrages wird in der Aufführungsdebatte der Mediävistik an spezifische Kommunikationsbedingungen geknüpft und ist auf die Theatralisierung und Medialisierung des kulturwissenschaftlich weiten Performanzbegriffs bezogen worden (Wirth, Performanzbegriff, S. 42–53): Die Aufführung gilt im Raum der wechselseitigen Wahrnehmung als per Kontrakt geregelter und körperzentrierter Akt; der Körper wird als Medium der Vermittlung mitgedacht. Dass die Aufführung selbst einer kontraktuellen Rahmung bedarf, ist auf die institutionelle Instabilität lyrischer Unterhaltung zurückzuführen. Zwischen Vortragendem und Hörern muss insofern mit jedem neuen Gesangsvortrag ein Einvernehmen über das im Hier und Jetzt Aufgeführte hergestellt werden, um seinen fiktionalen Status zu markieren und um literarische von anderen Unterhaltungsformen sowie Alltagshandlungen abzuheben. Aufgeführte lyrische Unterhaltung unterscheidet sich von mündlicher Rede, weil sie geformte und gesungene Rede ist. „Singen macht deutlich, dass eine Aussage vom Sänger/Sprecher nicht einfach so ‚gemeint‘ ist, wie wenn sie nur (und ohne weitere formale Gestaltung) gesprochen wäre. Singen (und in ähnlicher Weise auch schon gebundene Sprache) markiert damit eine aus der Alltagswirklichkeit herausgehobene Kommunikationsform“, die von den Verbindlichkeiten der Alltagsrede entlastet gedacht werden muss (Hausmann, Strategien, S. 30). Die mediävistische Aufführungsdebatte (Grubmüller, Ich als Rolle; ferner Händl, Rollen, S.  13–18; Ortmann/Ragotzky, Minnesang; Strohschneider, Aufführungssituation; Müller, J.-D., Willekomen; Schilling/Strohschneider [Hg.], Wechselspiele) orientiert sich in ihren Basisannahmen vor allem an theaterwissenschaftlichen Konzepten und Begriffen, an den Praxen des Rituellen (Schechner, Theater-Anthropologie; Tambiah, Theorie; Turner, Ritual) sowie am Oral PoetryKonzept (Goody/Watt, Konsequenzen; Ong, Oralität; Zumthor, Einführung), doch kommt sie nicht umhin, auch linguistische und medienwissenschaftliche Ansätze zu integrieren: Bei einem dann weit gefassten Verständnis des Performanzbegriffs

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 Pragmatische und mediale Kontexte

(Wirth, Performanzbegriff, S. 39; Egidi, Liebe, S. 26–29; Barton/Nöcker, Performativität, S. 407–423) ist die Inszeniertheit einer Äußerung (Fischer-Lichte, Ästhetik; Fischer-Lichte, Aufführen; Fischer-Lichte, Thesen) bzw. jede Form der materiellen Verkörperung von Botschaften (Wirth, Performanzbegriff, S. 11) performativ zu denken. Zugleich ist eine phänomenale Zeichnung des Performanzbegriffs immer auch auf ihre Funktionalität zu prüfen. Bereits im Rahmen der Sprechakttheorie verwendete John L. Austin in ‚How to do Things with Words‘ den Performanzbegriff für performative Äußerungen, die einen neuen Sachverhalt im Vollzug des Sprechakts schaffen (Austin, Theorie), wie es beispielsweise für Zaubersprüche gilt (Runow/ Wenzel, Spruch, Sp. 1116  f.). Für die höfische Aufführungspraxis, für Minnesang und Spruchsang, gilt analog dazu, dass nach den phänomenalen Verkörperungsformen, nach den Vollzugsformen und zugleich nach den Bedingungen für das Gelingen der Aufführung gefragt werden muss: So hat man im Anschluss an die Theaterwissenschaft zunächst die raumzeitliche Simultaneität von Akteur und Zuschauer in Rechnung gestellt und die Aufführung selbst als eine sinnstiftende, aber ephemere Situation bestimmt, deren Gültigkeit eine nur momentane ist (vgl. Fischer-Lichte, Aufführen, S. 17; FischerLichte, Ästhetik, S. 127). Grundsätzlich sieht man im performativen Akt eine auf die Zuschauer bzw. Zuhörer gerichtete Wirkung. Eine solche Wirkung kann ihren Status mit der für beide lyrischen Gattungen immer wieder beobachtbaren Integration des Vortragenden in die Gemeinschaft der Hörer ändern: Zum einen ist die Differenzierung von Vortrag und Rezeption (noch) schwach ausgeprägt und zum anderen lässt sich eine solche qua Wir-Rede greifbare Integration aller Beteiligten in den Vollzug als pararituelles Handeln verstehen. Der Vortrag selbst wird als überindividueller Akt kenntlich, in dem man die gemeinsamen Werte und Normen vergegenwärtigt und sich ihrer vergewissert (Müller, J.-D., Literarisierungstendenzen; Müller, J.-D., Ritual; Strohschneider, Tanzen, bes. S. 197–202). Gesehen wurde aber auch, dass durch die unvermittelte Wirkung von Körper, Mimik, Gestik und Klang leibliche Interaktion und Bedeutungsübertragung auf das wirkende Wort auseinandertreten (dazu Fischer-Lichte, Aufführen, S. 20). Infolgedessen ist die Semiotizität des gesamten performativen Vortrags nie zur Gänze in den Texten gespiegelt. Die funktionale Ausrichtung der Sangspruchdichtung sollte man allerdings nicht, wie öfter geschehen, auf Unterhaltung und Belehrung herunterbrechen, sondern man muss auch andere Funktionen, etwa Heische, Zeitkritik, Polemik gegen Kollegen und ästhetische Reflexion, bedenken. In jedem Fall beansprucht der Spruchsang ein relativ hohes Maß an Realitätsnähe, Authentizität und Verbindlichkeit der Unterweisung (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 1–5, 21–45 und 104–110). Sangspruchdichtung sollte unter diesen Bedingungen partiell von den minnesangspezifischen Erwartungen an Literarizität und Fiktionalität entlastet gedacht werden. Man kann nicht von vornherein und auch nicht undifferenziert annehmen, es handle sich um artifizielle, alle Beteiligten einbindende Als-ob-Rede. Der Grad der Fiktionalität ist abhängig von der Art der Bezugnahme auf den realhistorischen Kontext, von der



Vortragssituation – Mündlichkeit und Schriftlichkeit 

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gestalteten Interaktionssituation und von den unterschiedlichen Sprechhaltungen zwischen unpersönlicher Rede, Wir-Rede und rollenhafter bzw. habitueller Verfasstheit der Sprecherinstanz. Direkte Bezugnahmen auf ein historisches Datum oder einen zeitgenössischen Herrscher sind anders zu bewerten als allgemeinere Zeitkritik, laudatio temporis acti-Formeln oder unpersönlich formulierte Gnomik, so dass jeder einzelne Spruch auf seine Inszenierungsparameter zu befragen ist. Letztlich sind die Bedingungen der Vortragspraxis nicht sicher rekonstruierbar. Um sich dennoch den historisch spezifischen performativen Praxen anzunähern, können Rekonstruktionsversuche zum einen mit den (wenigen) textuellen Spuren der Vortragssituation arbeiten. Zum anderen hat sich gezeigt, dass der Spruchsang mit einem praxeologischen Wissen konventioneller mündlicher Texttypen wie etwa dem Sprichwort oder der Predigt arbeitet. Derartiges Wissen umfasst topische Formen didaktischer, juridischer und religiöser Rede wie Anklage, Bitte, Kritik, Lob und Ermahnung ebenso wie amtsspezifische Handlungs- und Verhaltensmuster, etwa die des Lehrers, Priesters oder Richters, so dass letztlich in die Spruchdichtung eingespeiste konventionelle Muster mündlicher Rede gleichsam als Spuren der Performanz zu gelten haben. Dass performative Akte auf Konsens zielen, dass sie dialogische Verständigung und Überzeugung visieren (Wirth, Performanzbegriff, S.  17), kann für den Sang­ spruchvortrag unter den Bedingungen der mimisch, gestisch und klanglich geprägten face-to-face-Situation höfischer Unterhaltung nicht ohne weiteres unterstellt werden. Die Rolle des fahrenden Sangspruchdichters am Hof ist weder institutionell gefestigt (Strohschneider, Institutionalität, S. 9–13; Brem, ‚Herger‘/Spervogel, S. 17  f.), noch berechtigen sozialer Status und geringe Reputation zur Annahme einer grundsätzlich am Fürstenhof anerkannten Wirkung. Da die Sangspruchdichtung in ihrem Kern gnomisch-didaktisch angelegt ist, berechtigen allerdings die rhetorisch-persuasiven Redeprinzipien (von Moos, Mündlichkeit, S.  235  f.; Hausmann, Einführung, S.  17; Hübner, Minnesang als Kunst, S. 163), von einem textuell sedimentierten Wirkanspruch auszugehen. Ein solcher Wirkanspruch spiegelt sich u.  a. im die Spruchdichtung prägenden konditional und kataphorisch angelegten „Denkmuster“ des Sprichworts (Grubmüller, Regel, S. 33  f.; daran anschließend Brem, ‚Herger‘/Spervogel, S. 13–15). Das Sprichwort gehört zu den kleinen literarischen Formen (u.  a. auch Beispielgeschichte, Gleichnis, Sentenz, Vergleich), welche im Zusammenhang mit der Genese der Sangspruchdichtung zu sehen sind. Ihre Strukturprinzipien bauen auf einer Erfahrungs- bzw. Handlungsregel auf, die „Handlung und Folge kommentarlosnotwendig“ (Grubmüller, Regel, S. 34) verbindet. Grundsätzlich wecken Sprichwörter mit konventionellen Aussagen Erwartungen nicht semantischer, aber pragmatischer Natur, insofern sie an aktuelle Zustände gebunden sind. Sie können als Überzeugungsgaranten in mündlichen Konfliktsituationen fungieren (Althoff [u.  a.], Menschen, S. 44). Weil Sprichwörter genuin performativ sind, weil sie sich erst im kommunikativen Zusammenhang erschließen lassen (Eikelmann/Reuvekamp [Bearb.], Handbuch, S. 3), kommen sie in der Anwendung zu ihrem Recht. Durch die Konventionalität des transportierten Wissens benötigen

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 Pragmatische und mediale Kontexte

sie keinerlei aktuelle Begründung (ebd., S. 4), und der praxisbezogene Wahrheitsanspruch muss nicht von theoretischem oder wissenschaftlichem Wissen gedeckt sein (ebd., S. 7). Das Formulierungsmuster des Sprichworts findet sich etwa im Text- und Tönecorpus ‚Spervogel‘ (Grubmüller, Regel). Vergleichbares gilt u.  a. auch für die Tugendlehren des Meißners (Obj. I,3; XVII,10; Obj., S. 242, 312; Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 125  f.) ebenso wie für die des Kanzlers (KLD 28,I,2  f. u. III,2). Indem der Einzelfall auf die Regel bezogen wird, kann eine bestimmte Aussage erklärt, beurteilt und durch den impliziten Anspruch der Wahrheit gerechtfertigt werden (Grubmüller, Regel, S. 31; Burger, Idiomatik, S. 56). Doch letztlich erfasst die mit dem Formulierungsmuster verknüpfte Geltungssicherheit nicht die Semiotizität des phänomenalen Leibes (Fischer-Lichte, Thesen, S. 14–19), der in seiner Wirksamkeit derlei Konsenserwartungen unterlaufen kann. Er bleibt der blinde Fleck „situationaler Präsenzrhetorik“ (Haferland, Minnesang, S. 86). Der dem Sprichwort und dem Spruch (Runow/Wenzel, Spruch) eigene gnomische Habitus wird seit der frühen Sangspruchdichtung an ein unpersönliches ‚man‘ gebunden, um ein allgemein verbindliches Wissen im Sinne einer Lebensweisheit zu vermitteln. Walther-Strophen im Bognerton (L. 79,17/Schw. XIII,3; L. 80,3/Schw. XIII,6; L. 81,7/Schw. XIII,9; L. 81,31/Schw. XIII,12) repräsentieren stellvertretend die Fülle unpersönlicher Sprüche. Mögliche emotionale Facetten eines Ichs spielen keine Rolle. Alle Beteiligten haben mit dem unpersönlichen, überindividuellen ‚man‘ am gnomischen Habitus teil. Wird normatives Wissen hingegen mit einem textuellen Ich verknüpft, geht aus dieser Verbindung zunächst der konkrete Habitus des Ratgebers hervor (Grubmüller, Regel; Brem ‚Herger‘/Spervogel; Hausmann, Strategien, S. 26–34). Repräsentative Beispiele finden sich bei Sigeher und beim Meißner: In einer Strophe von Sigeher (Brt. 7) wird universelles Wissen vom Rad der Fortuna aufgegriffen und mit einem Rat an den König (wohl Ottokar II. von Böhmen) verknüpft. Ähnlich in Sprüchen des Meißners, in denen beispielsweise im Sprecher-Ich eigenes Ermessen und persönlicher Rat (Obj. VI,4) miteinander verbunden werden, oder es wird eine allgemeine Ritterlehre formuliert, bei der das Ich den Habitus des Ratgebers innehat (Obj. XVII,10). Solche Arrangements sind meist mit einer Lockerung des Geltung implizierenden Formulierungsschemas verknüpft. An die Stelle der Kausalität verbürgenden Regel, an die Strukturstelle des Spruchs, tritt ein Ich mit einem moralischen Anspruch, das die Richtigkeit des Gesagten bekräftigt. Es formuliert die Folgen für ein konkretes Verhalten oder Handeln und bewertet sie moralisch. Bei Bruder Wernher (Zck. 20) findet sich eine Gebetsstrophe, die zunächst unpersönlich religiöses Wissen präsentiert und dann mit einer moralisierenden Klage über den Sündenfall in eine Ermahnung zum richtigen Verhalten wechselt. Das Sprecher-Ich hat keine spezifische Kontur, doch greifbar ist ein moralisierender Duktus, auch der Habitus des Ratgebers bzw. Priesters. Vergleichbares sieht man bei Fegfeuer (Whm. I,16), der an die basale Struktur von Ereignis und Folge des Sprichworts anschließt, um dann mit moralisierendem wol die Christenheit zu ermahnen. Das Sprecher-Ich tritt hier im Habitus des Gnomikers auf.



Vortragssituation – Mündlichkeit und Schriftlichkeit 

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In einer Strophe des Meißners (Obj. XVII,10) und ähnlich beim Kanzler (KLD 28,XVI,2) ist die Darstellung der Handlungsfolgen über die swer-der-Formel in die Rede des Sprecher-Ichs hineingenommen. Gleiches gilt für Strophen Rumelants von Sachsen, in denen sich das Ich wertend positioniert im Blick auf die Prahlerei (Ruw. VIII,9) bzw. die Untreue (Ruw. X,1). Und der Wilde Alexander (KLD 1,II,1  f. u. II,14  f.) stigmatisiert am Beispiel tierischen Verhaltens schlechtes menschliches Benehmen. Diese Konstellation kann weit zugunsten des Sprecher-Ichs verschoben werden, und zwar so, dass das Geltung gebende Formulierungsschema hinter ein Meisterschaft beanspruchendes Spruchdichter-Ich zurücktritt. Beispiel par excellence ist Walthers (in ihrer Echtheit umstrittene) Volcnantschelte im Zweiten Philippston (L. 18,1/ Schw. III,4), in der Walthers Meisterschaft demonstriert wird, indem sie gegen Herrn Volcnant ins Feld geführt wird. Sich in der dritten Person zu loben, impliziert ein Maß an reflexiver Distanz, die der Frauenlob in den Mund gelegten – wohl aber nicht von ihm stammenden  – Selbstrühmungsstrophe (GA V,115) durchaus vergleichbar ist. Sprecher und Hörer rücken in solchen Fällen in Distanz zueinander. Emotionale Facetten, die möglicherweise mitformuliert werden, treten auch hier nicht in Widerspruch zum Vorgetragenen. Die an das Sprichwort gebundenen Formulierungsmuster und die Strategien der Rede sind Ausdruck einer persuasiven Fixierung der Sangspruchdichtung (vgl. Baltzer, Strategien, S. 119–139). Mit diesem auf Überzeugung zielenden Zuschnitt schließt die Sangspruchdichtung auch an die oral orientierte ars praedicandi an. Sie übernimmt deren konzeptionell mündliches Wirkprinzip, das auf Verständnis, Akzeptanz und aktive Umsetzung durch den Hörer gerichtet ist. Hinter den Sprechhaltungen Predigt und Gebet authentische Predigten zu vermuten, ginge fehl. Die Sprechhaltung selbst ist in der alltäglichen Frömmigkeitspraxis Usus und bleibt formal mündliche Praxis, auch im Medium der Schrift (Wetzel/Flückiger, Einleitung, S.  14  f.; ­Schnyder, Minnesang, S. 122). Eine Analogie zwischen der auf Überzeugung gerichteten Predigt und dem Sangspruch ist in der Dichte der anschaulichen Rede gegeben, wie sie sich vermehrt in religiösen Sprüchen, aber auch in bildhaft-allegorischen Tugendsprüchen findet (vgl. beim Meißner [Obj. I,3; XVII,6; XX,1], beim Kanzler [KLD 28,XVI,2; XVI,4; XVI,13] oder beim Wilden Alexander [KLD 1,II,1  f.]). Eine solche Darstellungspraxis entspricht der Unmittelbarkeit mündlicher Kommunikation und kann als Ausdruck einer grundständig performativen Struktur beider Texttypen verstanden werden. Anschauliche Rede ist oftmals gekoppelt mit emotional-moralischer Intensität und Exemplarizität, die einer unmittelbaren Anerkennung des Behaupteten zuarbeiten: Spervogel III (Junger Spervogel) formuliert seine Kritik am Niedergang der Kirche anschaulich, indem er das Verschwinden positiver Alltagshandlungen vor Augen stellt (MF 244,61; Brunner [Hg.], Früheste deutsche Lieddichtung, S. 178). Reinmar von Zweter intensiviert seine reichspolitische Auffassung, wenn er moralisierend auf Gott einwirkt und ihn instrumentalisiert für eine konkrete politische Wirkung (Roe. 143). Eine Strophe im Ton  I Bruder Wernhers (Zck. 43) ist durch ein Tierbîspel so

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anschaulich-überzeugend, dass die behauptete Macht des Kaisers wie ein Aha-Effekt einleuchtet. Das Sprecher-Ich tritt in Anlehnung an die face-to-face-Kommunikation einem Publikum gegenüber, und die Rede ist mit Anklage, Bitte, Erinnerung/Vergegenwärtigung, Kritik/Schelte, Lob/Preis, Mahnung, Predigt, Unterweisung usw. funktional konzipiert. Die damit einhergehenden Sprechhaltungen beuten dabei konventionelle Texttypen und deren Darstellungsmuster aus, etwa den Frauenpreis (Lieb, Modulationen), den Frühlingseingang der Minnelyrik oder die Predigt. In zwei Strophen im Frau-Ehren-Ton Reinmars von Zweter (Roe. 1 u. 2) zeigt sich das Ich, dem Duktus des Predigers entsprechend, in der Sprechhaltung des für die Gemeinschaft Betenden. Vergleichbares bieten Strophen Bruder Wernhers (Zck. 20) und Fegfeuers (Whm. I,16). Wie schwierig bei solchen ‚Ausbeutungsstrategien‘ Gattungszuordnungen werden können, zeigt der erste Leich des Tannhäusers (Sieb. I; Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 172–181). Das 39 Versikel umfassende Gefüge ist als Preis auf Herzog Friedrich II. von Österreich lesbar; in der Summe ist es panegyrisch. In den ersten fünf metrisch identischen Versikeln ist der Preis mit einem Frühlingseingang verknüpft. Das Sprecher-Ich tritt im Habitus des Panegyrikers, des kunstfertigen Sängers und schließlich (Versikel 30–39) in dem des Liebenden auf dem Tanzplatz auf. Eindeutigkeit ist hier nicht zu gewinnen. Thematisch ist dieses Strophengefüge Sangspruch bis auf die letzten zehn Versikel. In Sangspruchtexten, die verschiedene Redemuster und Texttypen ‚ausbeuten‘, kann das Ich von Sprechhaltung zu Sprechhaltung innerhalb einer Strophe oder eines Strophengefüges wechseln, ohne dass es ein Problem für die Kohärenz der Sprecherinstanz wäre. Die Einheit des Sprecher-Ichs ist keine real hinterlegte, sondern eine ästhetische, die unterschiedliche Sprechhaltungen integriert (Lauer, C., SängerRollen). Beim Meißner findet sich eine Reflexion über einen solchen Wechsel der Sprechhaltungen, welcher sich als Übernahme allgemein anerkannter Aufgaben am Hof zeigt. Das Ich kann Lehrer, Ratgeber, Diener des Fürsten oder auch Pilger sein, um seine Vermittlungs- und Überzeugungsaufgabe zu erfüllen (Obj. XV,4). Es kann zum Beispiel im allgemeinen Sinne der Christenheit predigen, Maria zur Hilfe ermahnen und sich im Modus der Bitte persönlich an Gott wenden. Weder wird die Glaubwürdigkeit der Rede in Frage gestellt, noch verliert das sprechende Ich an Kontur. Vielmehr haben die unterschiedlichen Sprechhaltungen, an denen das Spruchdichter-Ich partizipiert, Teil an der Überzeugungsarbeit. Die Wiederholung einer allgemeingültigen Erfahrung in unterschiedlichem Gewand unterstreicht die Überzeugungskraft, beleuchtet und veranschaulicht das Behauptete auf unterschiedliche Weise und  – auch das ist strukturell angelegt  – verschafft ihm im Schutz konventioneller Textbzw. Redemuster die Akzeptanz des Hörers bzw. Rezipienten (Grubmüller, Regel, S. 40). Letztlich bleibt aber doch fraglich, ob es immer gelungen ist, die Hörer zu überzeugen. Sangspruchdichtung ist Habituslyrik. Der Begriff Habitus meint, in einem engeren Sinn als der soziologische Habitusbegriff von Pierre Bourdieu (Habitus, S. 143 u.



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157), amtsspezifische Handlungs- und Redemuster, etwa das Lehren, Predigen, Richten, und typisierte Redeweisen wie Beten, Klagen, Loben, Schelten. Wenn in den Spruchstrophen hierarchisch ungeschieden gesellschaftlich gebundene Handlungsund Redeweisen wie die des Predigers, des Betenden und des Kritikers neben­ein­ander treten können, dann repräsentiert letztlich auch der Vortragende der Aufführungssituation alle mit den gesellschaftlich anerkannten Handlungs- und Redeweisen verknüpften Normen und Werte. Insofern ist seine Rede autoritär. Doch kann sie auch authentisch wirken: Wie im Minnesang gibt es Strophen, in denen Mangel und Notsituationen des Fahrenden als „exemplarische[] Verhaltensmöglichkeiten“ (Müller, J.-D., Fiktion, S. 63) gegen die Gesellschaft modelliert werden. Zu denken ist an die Fahrendenklagen (Tannhäuser Sieb. XIV,1–6; Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 202–209), die in der Intensität der Imagination die missliche Situation des Fahrenden vor Augen stellen. Eine solche performative Umsetzung von Sangspruchdichtung ist nicht notwendig an die Biografie des Dichters gebunden. Wenn der Spruchsang das Vermittelte als ein Authentisches darzustellen vermag, dann nicht, weil der Vortragsinhalt auf dem persönlichen Erleben des Vortragenden beruht (zur Debatte um Authentizität und Erlebnisfundierung der Minnelyrik Haferland, Hohe Minne; Müller, J.-D., Rezension). Angesichts der nicht zurechenbaren personellen Konstellation kann es immer nur um die Sicherung eines Gemeinsinns gehen. Und auch in Fällen wie dem ‚Palästinalied‘ oder den Strophen im Ersten Philippston Walthers zeigen die anhaltenden Debatten um die Kongruenz zwischen konkreten historischen Daten, Erleben und Textinhalten, dass die Bezüge unverbindlicher sein können, als man es gerne hätte. Die habituellen Muster, in denen das Sprecher-Ich inszeniert ist, dienen letztlich weder als Fiktionalitätssignal noch auch als Authentizitätsmarker. Es geht in erster Linie um das Erkennen und Affirmieren vertrauter Handlungs- und Verhaltensmuster durch das Publikum. Der Unterschied zwischen gnomischen und an das Ich-Pronomen gebundenen Haltungen ist ein gradueller. Im gnomischen Habitus, einer Sentenz oder eines Allgemeinplatzes etwa, ist die Wahrheit selbst verankert. Ein Sprecher-Ich muss hingegen mit einem entsprechenden Anspruch, mit verbindlichen Handlungsund Verhaltensmustern, verknüpft werden. Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Melodie und Ton Die mittelalterliche (volkssprachige) Dichtung ist semioral (Goody/Watt, Konsequenzen, S.  57). Eine medial einheitliche Bestimmung ginge fehl (Selig, Lieddichtung, S.  11). Wenn auch die angenommenen Bedingungen mündlicher Kommunikation kaum verifizierbar sind, wird doch der Zwischenstatus von den Texten selbst im Nebeneinander schriftlicher und mündlicher Merkmale markiert. Die im Medium der Schrift greifbaren Formen mündlicher Kommunikation sind neben der Konturierung direkter und auch dialogischer Rede vor allem in den deiktischen Verweisen, der Betonung des Hier und Jetzt, in der perlokutiven Sprecherhaltung, letztlich in der

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Darstellung von Unmittelbarkeit im Sinne der face-to-face-Kommunikation zu sehen (Götz, Referenz, S. 294). Auch wenn sich der „Begriff ‚Lyrik‘ […] von der altgriechischen Form der Handharfe, der Lyra, ableitet“ (Holznagel, Lyrik, Sp. 2) und vorgesungene, instrumental begleitete Texte bezeichnet, war Lyrik zugleich „sehr früh (oder schon immer) auch Leselyrik“ (Strohschneider, Aufführungssituation, S. 57). Die Bindung an die Schriftlichkeit ist aus der Lyrik nicht wegzudenken. Mittelalterliche Lyrik wird seit den Arbeiten von Hugo Kuhn als aufgeführte gedacht, obgleich die Quellenlage bescheiden ist und man hinsichtlich des performativen Bedingungsgefüges auf die überlieferten Texte selbst angewiesen bleibt, so dass man letztlich immer Gefahr läuft, zirkulär zu argumentieren. Die Melodieüberlieferung, allen voran sind hier die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J und die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k zu nennen (zu weiteren Melodiehandschriften s. oben → Kapitel III.3 u. Kapitel VI.1; Edition in Sps.), indiziert einerseits die Sangbarkeit der Spruchdichtung. Andererseits markiert die Zunahme der Aufzeichnung performativer Parameter im Spätmittelalter, dass es mit fortschreitender Verschriftlichung (Oesterreicher, Verschriftung, S. 271  f.) und Distanz von der Aufführungssituation notwendig wurde, die Melodien als Teil des lyrischen Systems im Medium der Schrift zu bewahren. Neben der Verschriftung mündlicher Texte muss bereits früh ein Nebeneinander mündlich und schriftlich konzipierter Texte kalkuliert werden. Grundsätzlich geht man von Graden der Verschriftlichung aus (Fausel, Trobadorlyrik, S. 165; Selig, Lieddichtung, S. 11). Man nimmt 1. eine mündliche Konzeption und Weitergabe der liedlyrischen Texte an (Koch/Oesterreicher, Sprache), 2. wiederholte Aufführungen aus dem Gedächtnis (Müller, J.-D., Mündlichkeit, S. 163) und 3. schriftgestützte Aufführungen (Ong, Oralität, S. 37). Im letzten Fall kann der vorgesungene Text ein verschrifteter Text sein, er ist also mündlich konzipiert und aufgeschrieben worden, oder er kann bereits schriftlich konzipiert vorliegen und wird dann im Vortrag verlebendigt. Die Form der memorierenden Verschriftung soll die Texte zudem vor dem Verlust bewahren. In genuin schriftlichen Texten können die performativen Parameter durchaus bewusst inszeniert sein. Das zeigen insbesondere Re-Oralisierungstendenzen in der Spruchdichtung des 15. Jahrhunderts. Obgleich die Spruchdichtung dieser Zeit schriftlich konzipiert ist, gilt Mündlichkeit als Identitätsmarker der eigenen Textualität (Baldzuhn, Sangspruch, S. 120–126, 468–501). JanDirk Müller hat solche „künstlichen“ Konstellationen der fingierten Mündlichkeit zugerechnet (Mündlichkeit, S. 167). Vergleichbar sind Ansätze, die mit den Begriffen der sedimentierten (Schilling, Performanz, S.  245  f.) und fingierten Performanz (Huber, M., Performanz) arbeiten. Sie prüfen die jeweiligen Spuren der Aufführung, um zwischen sedimentierter Aufführung und schriftlicher Inszenierung unterscheiden zu können. Holznagel (Lyrik, Sp. 2) verweist auf die radikale, inzwischen verworfene Idee einer improvisierenden Vortragskunst, die allein auf ein Repertoire formelhafter Wendungen, strukturierter Binneneinheiten und Klangähnlichkeiten zugegriffen habe, um bekannte Stoffe improvisierend zu gestalten (zur Kritik des For-



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schungsansatzes bei Müller, J.-D., Mündlichkeit, S. 161 und Strohschneider, Aufführungssituation, S. 65). Für den Minnesang, etwa bei Walther (Strohschneider, Minnesänger), vermutet man in Weiterführung dieser Überlegungen und in Anbetracht der großen Varianz der Liedstrophen eine ausgeprägte Improvisationspraxis. So gesehen, sichern, vor dem Hintergrund des Prinzips ‚ein Ton  – ein Lied‘, Melodie, Reimschema, Metrum und Strophenform die Geltung der zum Lied gefügten Strophen. Insofern bietet der Liedton als einheitstiftendes Prinzip eine gewisse Freiheit für die improvisierende (Um-) Gestaltung des Liedgefüges. Für die Sangspruchdichtung gilt, dass es zwar Mehrfachüberlieferungen bestimmter Strophen gibt, dass z.  B. eine früh überlieferte Strophe in einen späteren Bar eingebunden werden kann, doch eine dem Minnesang vergleichbare Varianz der Strophen ist nicht auszumachen. Der Sangspruchdichter verwendete einen Ton für eine Vielzahl von Strophen und für die Gestaltung unterschiedlicher Themen. Auch hier ist die Geltung des Vorgetragenen mit der Wiedererkennbarkeit von Melodie, Reimschema, Metrum und Strophenform verknüpft, ohne dass sich daraus eine liedhafte Einheit bestimmter Strophen oder eine Improvisationspraxis des Vortragens ableiten ließe. Man kann wohl eher davon ausgehen, dass die Aufmerksamkeit der Vortragenden auf den formalen und klanglichen Eigenheiten des Tons lag, so wie es sich in den Tabulaturen des Meistergesangs im 16. Jahrhundert abzeichnet. Die semiprofessionellen Dichter dieser Zeit praktizierten den Liedvortrag nach den strengen Regeln der Tabulaturen. Im Gesangswettbewerb waren es dann die Merker, die jeden Fehler, jede Abweichung von der Regel notieren (Baldzuhn, Sangspruch, S. 486–494; Holznagel, Lyrik, Sp. 39–42). Die Lied- respektive Bareinheit galt als feste Größe und ein Umbau der Strophenfolge als Verstoß (Baldzuhn, Sangspruch, ebd.). Der Ton als formales Gestaltungsmittel kann als „Erinnerungsstütze“ (Müller, J.-D., Mündlichkeit, S. 163) zum Memorieren und Stabilisieren von Gedächtnisinhalten verstanden werden (Haferland, Vortrag, S. 257). Ziel und Zweck des Minnesangvortrags war es, das normative, exemplarische und kollektive Wissen für künftige Kommunikationssituationen zu bewahren. Es ging um die gemeinsamen Anschauungen, die auf diese Weise erinnert wurden (Müller, J.-D., Mündlichkeit, S. 164–166). Das gilt sicherlich auch für den Spruchsang. Die Stabilität der Töne und der Tonautorschaft ist zudem Ausdruck einer formalen, rhetorischen Meisterschaft, die unabhängig vom Textautor über Jahrhunderte hinweg bewahrt wurde. Man definierte sich als Sangspruchdichter über die Verwendung selbstgeschaffener Töne. Die Gestaltung der Themen variierte, der verwendete Ton hingegen blieb relativ stabil auch unabhängig vom Dichter. Die Stabilität des Tons mag einer Vortragspraxis memorierender Mündlichkeit Vorschub geleistet haben. Andererseits gibt es sehr komplexe Töne, die von vielschichtigen semantisch-klanglichen Strukturen geprägt sind, etwa bei Konrad von Würzburg, Frauenlob oder später bei Heinrich von Mügeln. In solchen Fällen ist davon auszugehen, dass die Strophen schriftlich konzipiert wurden und die Vortragspraxis sekundär war. Aufgeführt wurde auf der Basis einer Vorlage, die wiederum weitergenutzt werden konnte, bedenkt man die Tonverwendung durch Nachsänger.

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Solche komplexen Strukturen legen im Bereich der romanischen Lieddichtung die schriftliche Konzeption der Texte durch die Trobadors nahe. Sie markieren dort ein Autorbewusstsein, das zum Ausgangspunkt der mündlichen Verbreitung dieser Lieder durch die Joglare wurde (Selig, Lieddichtung, S. 14–16). Diese Konstellation ist durchaus der Aufführung von Minneliedern durch Nachsänger vergleichbar, aber auch der anonymen Sangspruchdichtung des 15. Jahrhunderts, wenn Text-/Tonautor und Adept des Tons auseinandertreten, der Ton mit modifiziertem oder anderem Text weitergenutzt wird (Holznagel, Lyrik, Sp. 6). Die Verbreitung des Tons und die ‚Nachnutzung‘ beruhen dabei auf der Autorität, die dem Tonautor respektive dem Ton zuerkannt wurde. Ausweis dieser Autorität der Meisterschaft ist zweifellos die Legende von den Zwölf alten Meistern (Spangenberg, C., Musica; Brunner, Alte Meister, S. 24–31; Brunner/Rettelbach, Schulkunst; Henkel, Alte Meister), die historisch distinkte Dichter mit höchster Autorität versah, doch zugleich dazu führt, dass diesen Autoren nicht von ihnen geschaffene Töne zugewiesen werden können. Die alten Töne lösten sich aus ihrem historischen Kontext und blieben Muster für Neukonzeptionen bis in die Frühe Neuzeit hinein (Brunner, Alte Meister, S. 32). Dass die Töne spätestens im Meistergesang auch stilistischen Veränderungen unterlagen, die bis zur Umarbeitung der Melodie reichten, steht außer Frage (ebd., S. 8). Dass diese Veränderungen auf Improvisationsfreiheiten in der Vortragspraxis beruhen würden, lässt sich allerdings nicht erschließen. Reflexion und Inszenierung medialer Bedingungen im Text Aussagen über die performativen Bedingungen des Spruchsangs sind in erster Linie aus der Vermittlungsweise der transportierten Inhalte, aus den habituellen Sprechhaltungen und den inszenierten Gelingensbedingungen zu erschließen, nicht zuletzt deshalb, weil die vermittelte Authentizität des Wissens Teil eines imaginären, normierten Entwurfs ist, eines imaginären Selbsts jenseits biografischer Bezüge (Müller, J.-D., Fiktion, S. 51  f., 63; Müller, J.-D., Rezension, S. 459). Eine solche Form normativer Authentizität lässt sich den vertexteten kommunikativen Strukturen entnehmen, etwa der den rhetorischen Wirkprinzipien der Gerichtsrede und der Predigt (s.  o.), die Kontakt- und Sinnsicherung bereits implizieren. Das auf Mündlichkeit rekurrierende Prinzip der Adressierung bestimmt einen Großteil der Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, wird doch im Ansprechen eines Gegenübers der unmittelbare Kontakt zwischen Vermittler und Empfänger inszeniert, wobei der Vermittler im amtsspezifischen oder typisierten Habitus (s.  o.), aber auch als Personifikation, z.  B. als Frau Ehre, auftreten kann; es geht mithin immer auch um Formen der Inszenierung von Unmittelbarkeit, Evidenz und Anschaulichkeit der Rede im Distanzmedium der Schrift. Der Empfänger wird angesprochen, ohne dass er selber zu Wort kommen muss. Auch hier gibt es Ausnahmen, wenn etwa die kritisierte Person selbst als Sprecher in Szene gesetzt ist wie in der Papstschelte in der ersten ‚Opferstockstrophe‘ in Walthers Unmutston (L. 34,4/Schw. VI,3). Beim Typus



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des Streitgedichts, den die Konstellation des Sängerstreits und alle Kollegenschelten repräsentieren, können beide Kontrahenten als Sprecher inszeniert sein, um gegensätzliche Meinungen vorzustellen und/oder um das Publikum zur Selbstpositionierung zu bewegen (vgl. die Strophen im Langen Ton Frauenlobs, die dem wîp-vrouweStreit angehören, GA V,100–122). Das, was also insgesamt Aussagen über die performativen Bedingungen des Spruchsangs ermöglicht, sind die habituellen Sprechhaltungen und die mit ihnen verknüpften konventionellen Handlungs- und Verhaltensformen. Gleichwohl ist die den Sprechhaltungen implementierte Wirkung eine ‚nur‘ imaginäre (Müller, J.-D., Fiktion, S. 51  f., 63). Referentielle Fragen verlieren dabei nicht ihre Verbindlichkeit, doch rücken sie durch die Verknüpfung des Textwissens mit einem normativen Handlungs- und Verhaltensentwurf in den Hintergrund (Hübner, Minnesang als Kunst, S.  160). Das präsentierte Wissen ist konventionell und bestätigt eine bereits bestehende „Einstellung des Publikums“ (ebd.). Die Sprechhaltung zielt auf eine adäquate Wirkung. Die Praxen performativer Sinnkonstitution lassen sich in den Texten auch über emotionale Formulierungen (s.  o.) greifen: Affektbetonter Vokativ oder Imperativ imaginieren eine Beziehung zum Rezipienten (Nähe oder Distanz). Deiktika wie räumliches hie und zeitliches nu evozieren eine face-to-face-Konstellation, so als ob sich der Rezipient mit dem Sprecher-Ich in einer Äußerungssituation befände. Imperative des Schauens wie sich, seht für iuch oder seht ûf sind Teil textueller Visualisierungsstrategien, die eine raum-zeitliche Situation der Unmittelbarkeit und Evidenz erzeugen (Götz, Referenz, S.  295; Wenzel, H. [u.  a.] [Hg.], Deixis, S.  7). Die Anschaulichkeit vieler Exempla und Vergleiche geht auf die Bildlichkeit des Sprichworts zurück und bewirkt, ganz vergleichbar, Unmittelbarkeit und Evidenz. Darüber hinaus rufen die in politischen Strophen greifbaren Anspielungen auf aktuelle Daten eine Situation des Jetzt und Hier auf (vgl. Bühler, Sprachtheorie, S. 115). Das gilt ganz ähnlich für Anspielungen auf von allen Anwesenden geteilte Erfahrungen in religiösen oder gnomischen Strophen, die eine mündliche Kommunikationssituation, etwa der Predigt oder des Rats, aufrufen. Perlokutive Sprecherhaltungen wie die des Predigers oder Richters greifen rhetorische Redeprinzipien auf, die darauf gerichtet sind, die Beteiligten vom Inhalt der Rede zu überzeugen. Auch die Situation einer weiteren Aufführung, eines Vortrags in einer zweiten Sprechsituation (Ehlich, Text), kann durch temporale Demonstrativa wie danne imaginiert werden. Mündliche Kommunikationsformen wie Vortrag, Gespräch, Unterweisung, Beurteilung haben ihre Spuren in den Texten hinterlassen, und sie sind in zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen wie in den Miniaturen der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C zu verfolgen: Die ausgeprägte Zeigegestik, gerade bei Sangspruchdichtern, vergegenwärtigt sowohl Vortragssituationen (Der Wilde Alexander, Frauenlob), Situationen der Kontemplation (Walther von der Vogelweide, Reinmar von Zweter), des Gesprächs bzw. der Bewertung (Hardegger, Bruder Wernher, Regenbogen, Spervogel, Süßkind von Trimberg), der Interaktion mit dem Rezipienten (Tannhäuser), der Unter-

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weisung (Schulmeister von Esslingen, Litschauer, Konrad von Würzburg) als auch Szenen der Unterhaltung (Boppe, Rumelant von Sachsen). Zwar gilt die für minnelyrische Texte getroffene Unterscheidung in ein vortragendes, textexternes Ich und ein textinternes Ich (Warning, Lyrisches Ich, S. 122  f., 131  f.) gleichermaßen für die Spruchdichtung; doch eine auf affektiver Differenz gründende Unterscheidung inszenierter eigentlicher Rede und Als-ob-Rede – im minnelyrischen Text ist das Ich zugleich Liebender und Sänger – muss für die Sangspruchdichtung allererst beobachtet und hinterfragt werden (Egidi, Text; Egidi, Liebe, S. 349–356; Egidi, Prozess). Ein textinternes Spruchdichter-Ich, das die Wirkung seiner Kunstfertigkeit reflektieren würde, ist nicht durchgängig zu beobachten. Auch eine Trennung in eigentliche und uneigentliche Rede wie in vielen Minnesangstrophen ist nicht leicht auszumachen bzw. von den Gegenständen her nicht begründet. Herausragende Spruchdichter wie der Wilde Alexander, Konrad von Würzburg, Frauenlob, der Marner, Rumelant von Sachsen oder Walther von der Vogelweide haben Strophen verfasst, die sich dem Thema der Kunst des Dichtens und Singens am Fürstenhof widmen (vgl. dazu auch → Kapitel V.5). Zentral ist in der Regel die didaktische Ausrichtung, wenn es um mangelnde Aufmerksamkeit, Freigebigkeit oder den Unverstand der Fürsten geht. Die Kunstreflexion an sich ist nicht Teil didaktischer Strophen; sie ist eigenständig, nimmt ganze Strophen ein. Erst in den Meisterliederhandschriften treten Strophen, die die Kunstfertigkeit allein reflektieren, mit zum Beispiel religiösen Strophen zum Bar zusammen. Eine Trennung eigentlicher und uneigentlicher Rede des Ichs im Sinne eines nu sehent, wie der singet! (Heinrich von Morungen MF 133,21) ist nicht vordergründig auszumachen und führt insofern auch eher selten zu dem, was JanDirk Müller den ‚performativen Selbstwiderspruch‘ genannt hat. Die Problematik medialer Bedingungen, die Modalitäten des Als-ob der Aufführung sind für die Sangspruchdichtung kaum von Belang. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, wie eine Strophe Rumelants von Schwaben (HMS III,21,1; dazu Nolte/Schupp [Hg.], Sangspruchdichtung, S.  405) zeigt, in der sich der Dichter gegenüber dem eigenen schmeichelnden Gesang kritisch verhält. In einer Strophe Boppes (Alx. I,23) wird deutlich, dass das dem Verhalten der Fürsten inadäquate Lob als Mittel zum Zweck der Heische sehr wohl als Problem von den Fahrenden wahrgenommen und kritisiert wurde. Eine Strophe Bruder Wernhers im Ton I (Zck. 8) markiert, dass auch das rechte Lob als Schmeichelei um Lohn missverstanden werden kann. Ein Als-ob ist insofern dort auszumachen, wo die Relation wahrer und falscher Rede reflektiert wird und der Fahrende lügen muss, um entlohnt zu werden. Friedrich von Sonnenburg klagt sich selbst als Lügner an (Mas. 18), weil nur dieses Verhalten, nicht aber rechtmäßige Kunst, seine existentiellen Bedürfnisse befriedige (Nolte/Schupp [Hg.], Sangspruchdichtung, S. 442  f.). Solche Formen des Als-ob eines dem eigenen Befinden nicht entsprechenden Verhaltens, welche die Aufführungsbedingungen in den Text hineinnehmen, sind nicht prägend. Gattungübergreifend sind eine didaktische Ausrichtung und regional- sowie reichspolitische Zeitbezüge. Angesichts der anzunehmenden, zum Teil langen mündlichen Überliefe-



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rung vieler Strophen bis zur Fixierung in der ‚Großen Heidelberger‘ und der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ haben solche ereignishaften und damit Authentizität beanspruchenden Strophen ihre Geltung bewahren können, sind die politischen Ereignisse durch die Aufführungspraxis auf eine Weise memoriert worden, dass sie je neu vor Augen traten, ohne in die Vergangenheit zu sinken. Vorführen sichert die Evidenz des politischen Wissens und gewiss auch die des religiösen, juridischen und des Alltagswissens. Im Vortrag und auch beim lauten Lesen ist das Wissen in erster Linie ereignishaft, vor aller Erinnerung. Habitus und Meinung des textinternen Sprechers beziehen sich auf zeitgenös­ sische Handlungs- und Verhaltensformen. Der Habitus des textinternen Ichs reichte, wie oben ausgeführt, vom Betenden oder Gelehrten bis zum Panegyriker oder ­Visionär, und die Sprechhaltungen rekurrieren oftmals auf ein konkretes höfisches, kirchliches oder juristisches Amt (Lehrer, Gelehrter, Ratgeber, Kritiker/Mahnender, Prediger, Richter, Schöffe). Insgesamt repräsentieren Habitus und Sprechhaltungen normativ-verbürgtes soziales Wissen und allgemein menschliche Moralvorstellungen, so dass die interne Inszenierung sich wohl kaum von der externen abgehoben hat. Eine Situationsspaltung zu kalkulieren, ist bei dieser Ausrichtung nicht sinnvoll, insofern die zum Ausdruck gebrachten Meinungen, Moralvorstellungen und Emotionen einem „verbindlichen Entwurf“ entsprachen (Müller, J.-D., Fiktion, S. 51). Anders als beim Minnesang kann man sagen, dass die dort diskutierte Offenheit und Unbestimmtheit, die vagen Referenzialisierungen vieler Pronomina, die sich erst sicher in der Aufführung erschließen lassen (Strohschneider, Aufführungssituation, S. 62; Egidi, Text, S. 133), sich in dieser Form nicht in der Spruchdichtung zeigen. Hier sind Sprecher und Angesprochener deiktisch nachvollziehbar geschieden, allenfalls rücken sie in einem ‚wir‘ bzw. ‚uns‘ zusammen. Die Referenz ist in diesem Fall eine überpersonale Erfahrung. Ein zunächst plurales ‚ihr‘ kann sich im Verlauf der Rede in einem angesprochenen Fürsten konkretisieren, so dass der Fokus des Lobs oder der Kritik vereindeutigt wird wie in einer in C dem Marner zugewiesenen Strophe (Wms. 7,5): Der Bezug des Spruchs auf den Herzog von Schwaben – man nimmt an, es handle sich um Konradin von Schwaben – wird erst am Ende deutlich (Haustein, Marner-Studien, S. 208  f.; Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 197  f.). Der interaktive Bezug, der dialogische Duktus markieren das, was Egidi (Text, S. 134) die Kontaktsicherung genannt hat. Das steht im Vordergrund der Sprechhaltung. Auf der Ebene des Textes wird die Kopräsenz im Raum der wechselseitigen Wahrnehmung jedoch nicht kompliziert fingiert oder imaginiert wie oftmals im Minnesang. Nicht die Distanz von Sprecher und Angesprochener/Angesprochenem bildet den normativen Ausgangspunkt oder den zu problematisierenden Gegenstand der Strophen. Im Mittelpunkt stehen Vermittlung und Überzeugung eines im ‚wir‘, ‚ihr‘ bzw. ‚du‘ anwesend gesetzten Hörerkreises bzw. eines einzelnen Hörers. Im Sprechen über Dritte, etwa einen Fürsten oder König, ist das Publikum implizit mitgesetzt, wenn sich z.  B. der Sprecher ans Publikum wendet oder ein allgemeiner Rat gegeben und das entsprechende Verhalten benannt werden. Beispiel für eine allgemeine Wendung

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ans Publikum und folgenden Ratschlag finden sich bei Höllefeuer (C.-W. I,4) oder auch bei Bruder Wernher (Zck. 39 und 43). Wenn eine solche Wendung nicht in der textinternen Sprechsituation begegnet, wird der Sprechduktus des Ichs oftmals reflexiv und/oder narrativ. Vergewisserung einer politischen Situation oder einer ethischen Disposition können zum Beispiel im Modus der Kontemplation oder Meinungsbildung dargestellt sein. In solchen Fällen, in denen die Strophen vielfach exemplarisch gehalten sind, wird die Gestaltung kunstvoller, wie Walthers Reichsklage L. 8,4 oder die Kritik an Karl von Anjou durch den Schulmeister von Esslingen (KLD 10,I,2; dazu Nolte/Schupp [Hg.], Sangspruchdichtung, S. 386  f.) zeigen. Anders als im Minnesang fallen Kontaktsicherung und Sinnsicherung für die Sangspruchdichtung nicht erst mit der Aufführung zusammen (Egidi, Text, S. 134). Es lässt sich zwar nicht abstreiten, dass der Vortrag erst eigentlich den Prozess der Sinnsicherung abzuschließen vermag und dass damit auch jeder Vortrag einen eigenen, ephemeren Sinn transportiert, doch Sprechhaltungen wie das Mahnen oder Kritisieren implizieren immer schon eine unhinterfragt gültige Bedeutung. Solche Sprechhaltungen imaginieren gemeinsam mit dem pararituellen Charakter der Sprechsituation einen der mündlichen Interaktion nahen unmittelbaren Effekt. Viele Texte wirken wie Ausschnitte übergeordneter Sprechsituationen, an der alle teilhaben (Egidi, Text, S.  135). Gerade die sog. kleinen Spruchdichter des 13.  Jahrhunderts repräsentieren diesen Typus: Beispiele finden sich bei Höllefeuer (C.-W. I,2 u. I,4), dem Litschauer (C.-W. I,1 u. I,2–4) oder dem Unverzagten (C.-W. I,4). Ausschnitthaftigkeit suggeriert, dass das Dargestellte voraussetzungslos verstanden werden kann, weil es aus einem gemeinschaftlichen Wissenshaushalt geschöpft wird oder dem Erleben entnommen ist. Im pararituellen Charakter des unpersönlichen Redebeginns bzw. durch die alle Beteiligten integrierende Wir-Rede wird eine gemeinsame Erfahrung aller imaginiert, die als textuelle Strategie der Sinnsicherung zu gelten hat. Konventionelle Sprechhaltungen wie die des Predigers oder Ratgebers repräsentieren allerdings auch ein spezifisches Expertenwissen (Hübner, Minnesang als Kunst, S. 147). Ein solches Wissen ist, obschon allgemeinverbindlich, nicht allgemein verfügbar, so dass es von Amts wegen Beauftragte gibt, welche die Aufgabe der Vermittlung dieses Wissens übernehmen. Was die Strophen in diesem Zusammenhang eindringlich zeigen, sind die Grenzen des Wissens, an die ein Spruchdichter stoßen musste: Wenn dem Ich in der Inszenierung des Textes dennoch die Aufgabe der Vermittlung bereichsspezifischen Wissens zugewiesen wird, etwa heilsgeschichtlichen Wissens, und dieses Wissen dann im Habitus einer normativ-verbindlichen Sprechhaltung vermittelt ist, nämlich in der des Predigers, dann wird die Grenzüberschreitung in der Aufgabenverteilung bewusst verschleiert. Bewirkt wird auf diese Weise die Gültigkeit und Glaubhaftigkeit der Expertisen und Verhaltensmodelle und deren Anerkennung durch den Rezipienten (ebd., S. 150). Man könnte auch sagen, dass es um die modellhafte und/oder exemplarische Ausformung und Anerkennung eines im Rahmen der Spruchdichtung formulierten Diskurswissens und einer dadurch unterstützten Konturierung der Gattung geht. Das Sprecher-Ich veranschaulicht in seinen



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Expertisen ‚externes‘ Wissen performativ, im Habitus bekannter Verhaltensmuster, zuweilen auch ex negativo anhand von Autoritäten. Walther fordert zum Beispiel in der ersten ‚Opferstockstrophe‘ (L. 34,4/Schw. VI,3) mit der sich selbst deklassierenden Papstfigur die Teilhabe oder Distanznahme des Publikums heraus. Treten mehrere Sprechhaltungen in einer Strophe oder einem Strophengefüge zusammen, potenziert sich die Überzeugungskraft in der mehrfachen Perspektivierung des Gegenstandes. Eine Strophe bei Walther (L. 33,11/Schw. VI,6) verbindet erinnerte Klage und Gnomik miteinander, um das Fehlverhalten des Papstes zu bedauern und zu kritisieren. In einem Mariengebet des Hardeggers (C.-W. I,9) wird die Idealität Konrads IV. betont, indem Gebetshabitus und gnomischer Habitus aufeinanderfolgen. Wird das vermittelte Wissen mehrfach perspektiviert, stärkt das die Überzeugungsarbeit. Peter von Moos (Mündlichkeit, S. 235) bezieht ein solches Vorgehen, bei dem verschiedene Redestrategien zusammengebunden sind, auf das Wirkprinzip rhetorischer Rede. Die Geltung der angebotenen Problemlösung bzw. des postulierten Wissens erhöht sich damit auch unabhängig von der Situation des Vortrags. Die Strophen im Modus des Sängerstreits gehören hierher, weil auch sie zwei oder mehr Perspektiven auf die Gegenstände präsentieren, wenn auch oftmals kontrastiv oder forciert. Agonale Rede transportiert einen Geltungsanspruch für das Behauptete und dahinter für den, der dieses Wissen vermittelt. Solche Geltungskämpfe konturieren den Habitus des Meisters detailreich. Dessen Kontur speist sich aus den handwerklich-artifiziellen Fertigkeiten (Ton, Stil, dargestellter Inhalt). Der deiktische Gestus des Agonalen erlaubt es, den Gegner als Spiegel zu instrumentalisieren, vor dem ein Spruchdichter-Ich, etabliert als Meister, in Erscheinung tritt. Mit der Einbettung der face-to-face-Kommunikation ins Medium der Schrift zeigt sich eine sinn- und wirkungsichernde Strategie, die das geschriebene Wort an die performative Situation des Gesprächs zurückbindet (von Moos, Mündlichkeit, S. 237). Besonders zwei respektive drei Formen mündlicher Interaktion sind omnipräsent: zum einen perlokutive Sprechakte, die einen perlokutiven Effekt implizieren, ohne ihn zu explizieren, und vice versa die Versprachlichung des perlokutiven Effekts, ohne dass der vorausgehende Sprechakt dargestellt ist (Walther L. 12,6/Schw. IV,2: Hêr keiser, ich bin frônebote / und bringe iu boteschaft von gote). Komplex konstruierte Streitgespräche zwischen Personifikationen, bei denen die Wirksamkeit Teil der im Text inszenierten Interaktion ist, wie beim 21-strophigen Streitgedicht ‚Minne und Welt‘ Frauenlobs (GA IV), markieren eindringlich, dass die Modi der face-to-face-Kommunikation zu den Darstellungsprinzipien der Sangspruchdichtung zählen. Neben der memorialen Sicherung des vertexteten Wissens, der Anbindung an zeitgenössische Begebenheiten und Persönlichkeiten, an ein identitätsicherndes Wissen bzw. ebensolche Erfahrungen, die Glaubwürdigkeit evozieren, werden in der Sangspruchdichtung mündliche Strategien wie Dialog, Adressierung, Streit, aber auch Rätsel und Änigmatisierung genutzt, die den Verlust der direkten Teilhabe am Gespräch in die Texte zurückholen. Die grammatische Konstellation des Sprichworts wie die swer-der-Korrelation, kataphorische, Erwartungen weckende Anfänge,

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 Pragmatische und mediale Kontexte

unpersönliche man-sol-Gefüge und performative Verben sind in die Spruchdichtung eingewanderte mündliche Formulierungsmuster, die wie bildhafte Exempla und Vergleiche Authentizität und Gültigkeit transportieren. Die Adaptation vorwiegend mündlichsprachiger Texttypen wie Priamel und Sprichwort verleiht den Inhalten ein hohes Maß an Vertrautheit, und sie unterstellt die Gesetzmäßigkeit der inszenierten Rede und ihrer Wirksamkeit. Ausg. Alx.; Brt.; Brunner (Hg.), Früheste deutsche Lieddichtung; C.-W.; GA; KLD; L.; Mas.; MF; Nolte/Schupp (Hg.), Sangspruchdichtung; Obj.; Roe.; Ruw.; Schw.; Sieb.; Spangenberg, C., Musica; Sps.; Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters; Whm.; Wms.; Zck. – Lit. Althoff [u.  a.], Menschen; Austin, How to do; Austin, Theorie; Baldzuhn, Sangspruch; Baltzer, Strategien; Barton/ Nöcker, Performativität; Bourdieu, Habitus; Brem, ‚Herger‘/Spervogel; Brunner, Alte Meister; Brunner/Rettelbach, Schulkunst; Bühler, Sprachtheorie; Burger, Idiomatik; Egidi, Text; Egidi, Liebe; Egidi, Prozess; Egidi, Text; Ehlich, Text; Eikelmann/Reuvekamp (Bearb.), Handbuch; Fausel, Trobadorlyrik; Fischer-Lichte, Ästhetik; Fischer-Lichte, Aufführen; Fischer-Lichte, Thesen; Götz, Referenz; Goody/Watt, Konsequenzen; Grubmüller, Ich als Rolle; Grubmüller, Regel; Händl, Rollen; Haferland, Hohe Minne; Haferland, Minnesang; Haferland, Vortrag; Hausmann, Einführung; Hausmann, Strategien; Haustein, Marner-Studien; Henkel, Alte Meister; Holznagel, Lyrik; Holznagel, Mittelalter; Huber, M., Performanz; Hübner, Minnesang als Kunst; Koch/Oesterreicher, Sprache; Lauer, C., Sänger-Rollen; Lieb, Modulationen; von Moos, Mündlichkeit; Müller, J.-D., Fiktion; Müller, J.-D., Literarisierungstendenzen; Müller, J.-D., Mündlichkeit; Müller, J.-D., Rezension; Müller, J.-D., Ritual; Müller, J.-D., Selbstwiderspruch; Müller, J.-D., Willekomen; Oesterreicher, Verschriftung; Ong, Oralität; Ortmann/Ragotzky, Minnesang; Runow/Wenzel, Spruch; Schechner, Theater-Anthropologie; Schilling, Performanz; Schilling/ Strohschneider (Hg.), Wechselspiele; Schnyder, Minnesang; Selig, Lieddichtung; Selig, Mündlichkeit; Strohschneider, Aufführungssituation; Strohschneider, Fürst; Strohschneider, Hervortreten; Strohschneider, Institutionalität; Strohschneider, Minnesänger; Strohschneider, Tanzen; Tambiah, Theorie; Tervooren, Sangspruchdichtung; Turner, Ritual; Warning, Lyrisches Ich; Wenzel, H. [u.  a.] (Hg.), Deixis; Wetzel/Flückiger, Einleitung; Wirth, Performanzbegriff; Zumthor, Einführung.

5 Inszenierung und Reflexion des Rollen-Ichs

Claudia Lauer

Ein wesentlicher „thematischer Kristallisationspunkt“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 55) der Sangspruchdichtung ist ihr Sprecher-Ich und dessen Redevielfalt. „Der Mensch, der da erscheint, ist ein Kind Gottes (Sonnenburg 66  ff.), das sich in Bitt- und Lobgebeten den göttlichen Personen und Maria nähert […], das Fürbitten genauso zu formulieren versteht wie Ichund Wir-Gebete […]. Es ist ein Mensch, der Weib und Kind hat (Reinmar von Zweter 104, Süßkind von Trimberg KLD 56,IV) oder unbehaust durch die Lande zieht (pass.). […] Er ist Lehrer […] und Gelehrter, der die Paradoxien des christlichen Glaubens (etwa das Geheimnis der Trinität Meißner XV,2 oder die Jungfrauengeburt Walther 15,10; 148,10) durchdenkt. Gelehrsamkeit trägt er wie eine Fahne vor sich her (pass.) […]. Doch fehlt es nicht an Warnungen vor der Hybris: tumbe leien werden den Schlüssel zu Gottes Wunderwelt nicht finden (Henneberger HMS III,40:7). Lebenserfahrung vermag er jedoch ein-



Inszenierung und Reflexion des Rollen-Ichs 

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zubringen (Herger MF II,1 u. 5; Spervogel MF, AC 10, 12 u. ö.; Marner VI,1–3; Goldener HMS III,51:1). Das qualifiziert ihn zur Unterweisung der Jugend (Walther 87,1; Guter HMS III,42:6; Reinmar von Zweter 57  f.). Papst und Kaiser sind seine Gesprächspartner (Walther 11,6, 11,30; Reinmar von Zweter 128; Marner XII,2; von Wengen SMS 23,I). Er ist Bote Gottes (Walther 12,6), ja er entscheidet zwischen Gott und Herrscher (Schulmeister von Esslingen KLD 10,III,1) und gibt sein Urteil über den neuen Herrscher ab (Sonnenburg 30). Immer wieder spricht er die Herren an und mahnt sie, sich ihrer Abstammung würdig zu erweisen ([…] s. etwa Spervogel 24,33). Die Ratgeber der Herren sind ihm ein Dorn im Auge (Bruder Wernher, Schönbach 71; Kelin HMS III,22:III,1–2; Zilies von Sayn HMS III,25:I,2) […]. Natürlich ist er auch ein Kind seiner Zeit und sänge gern von Minne, jedoch die Umstände lassen es nicht zu (Sonnenburg 73; Marner XV,14. […]). Aber zumindest als Kenner der Minne, als Lehrmeister für Mann und Frau und ihres Verhältnisses kann er sich profilieren (vgl. etwa den Frauenpreis bei Stolle HMS III,10:38; Konrad v. Würzburg 32,91–120; Meißner II,8; XVII,1; Boppe HMS II,377: I,2; s. auch die Ehesprüche Reinmars von Zweter 101–105 oder die ständige Diskussion über manlîchiu wîp, wîplîche man Walther 80,20; Gervelin HMS III,37:8; Meißner II,9; VI,6; Bruder Wernher, Schönbach 18,68, gelegentlich in Verbindung mit dem Frauensklaven-Topos, Reinmar von Zweter 103). Sie hadern bisweilen auch mit Gott, dass ihnen kein angenehmes Leben beschieden sei (Stolle HMS III,9:28) und malen sich aus, wie die Welt besser zu gestalten wäre (Reinmar von Zweter 62, 163), aber sie bescheiden sich dann doch wieder, denn man schiltet got noch siniu wunderwerc dar umbe niht (Sonnenburg 7  f.) […]“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 54–56).

Während die Forschung des 19. und frühen 20.  Jahrhunderts in den Ich-Aussagen der Sangspruchdichter vorwiegend Bezüge zum historischen Autor sah und diese unter anderem mit Blick auf Biographien (insbesondere Walthers von der Vogelweide und Reinmars von Zweter) auswertete, ist diese Sichtweise schrittweise dekompo­ niert worden. Ausgehend vor allem von kritischen Neuansätzen in der Forschung zu Walther und dessen „literarische[r] Selbstdeutung“ (Wenzel, H., Typus) sowie einer stärkeren Konzentration auf den Autortypus und das „Literaturbewußtsein“ (Wachinger, Sängerkrieg, S. 310) der Sangspruchdichter als meister setzte sich ein anderes Verständnis des Sprecher-Ichs durch: „Man wird es nicht mehr wie früher (besonders gerne bei Walther) an die historische Person binden, sondern in ihm ein fiktives Ich von universaler Referenz sehen, das zwar Lebensbezüge fingiert, aber vor allem paradigmatischen Charakter hat“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 55  f.). Für die Ich-Aussagen der Sangspruchdichter hat sich damit in der Forschung ähnlich wie im Minnesang eine literarische ‚Rollenhaftigkeit‘ etabliert. Zugleich haben weitere Untersuchungen zur Literarizität der Texte, ihrer Aufführungssituation sowie ihrer sozialen Funktionalisierung und gesellschaftlichen Situierung diese auch präziser in ihren verschiedenen pragmatischen und medialen Kontexten konturiert: hinsichtlich der Inszenierung des Rollen-Ichs und seiner verschiedenen Konstituierungs-, Legitimierungs- und Profilierungsstrategien, aber auch in Hinblick auf deren Reflexion und die verschiedenen Möglichkeiten der Dichter, ihre eigene Ich-Rolle immer wieder selbst zum Thema zu machen und zu bewerten.

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Die Rolle des Ratgebers und Lehrers Die Rolle des Ratgebers und Lehrers gilt als „Registerkonstituente par excellence der Sangspruchdichtung“ (Brem, ‚Herger‘/Spervogel, S. 37). Die Sänger adaptieren hier eine Rolle, die ihnen qua sozialem Status als Berufsdichter und Teil des fahrenden Volkes gesellschaftlich nicht zugesprochen ist und die sich in ihrer Ich-Form erst allmählich in der Frühphase bei ‚Herger‘/Spervogel I ausbildet. Im Rahmen gnomischdidaktischer Strophen und der Behandlung moralischer und ethischer Fragen präsentiert sich hier eine Art „Doppelstrategie“: „Im Lavieren zwischen Absicherung/ Legitimation und Aufwertung/Profilierung“ (ebd., S. 10) etabliert sich das Sänger-Ich mittels sprachlicher Formen autoritativ absichernder Allgemeingültigkeit von Erfahrungsschatz und Normkonsens (swer-der-Konditionalgefüge, indikativische Hauptsätze, man sol-Varianten), verschiedener literarischer Profilierungsstrategien (z.  B. die ästhetische Aufbereitung von Sprichwörtern) und der Konstituierung didaktischer Interaktionsmuster (z.  B. Vater-Sohn-Lehrgespräche) erstmals als Sprachrohr und Anwalt des Selbstverständlichen bzw. moralisch Integren. Und mit der Erweiterung des Themenrepertoires von allgemeiner Weisheitslehre zu Hoflehre findet damit auch ein „gleitender Übergang zu derjenigen Rolle des Sangspruchdichters“ (ebd., S. 21) statt, die in der Folge „geradezu als dessen ureigene betrachtet wurde: Lehrer, Ratgeber, Unterweiser, Mahner, Weiser, Weltkundiger, praeceptor zu sein“ (ebd.). Vor dem Hintergrund zentraler höfischer Orientierungs- und Wertmaßstäbe (guot, êre, gotes hulde) und deren Geltung, aber auch mit Hilfe von Bezugnahmen auf vorgeprägte historische Autoritäten (Fruote von Tenemark, Artus u.  a.) oder einem anonymen Kollektiv der wîsen und werden verfestigt sich diese Ich-Rolle. Dabei werden beispielsweise auch Rollen wie die des erfahrenen Alten und des Vaters, vor allem in Jugendbelehrungen, aber auch die des friundes, der wohlmeinend und exklusiv rät, immer bewusster umgesetzt und in ihren thematischen Funktionalisierungsmöglichkeiten breiter aufgefächert. Zudem kommen mit dem höfischen Liebesdiskurs neue Varianten wie die des ‚Minnekenners‘ und des „Lehrmeister[s] für Mann und Frau und ihres Verhältnisses“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 57) hinzu, die über die Entstehung der Minne räsonnieren oder ermahnen (vgl. Egidi, Liebe). Mit der umfassenden Behandlung und Erörterung höfischer Lebensbereiche und Wissensdiskurse hat sich die IchRolle des Ratgebers und Lehrers in der Mitte des 13. Jahrhunderts fest als Sprachrohr höfischer Tugend- und Werteordnung etabliert – ein Status, der in der Folge durch zunehmende Gelehrsamkeit und Ästhetik weiter ausgebaut wird. Dabei sind es beispielsweise nicht nur die Auslegung von Fabeln und bîspeln, „die dem spruchmeisterlichen Selbstverständnis, praeceptor zu sein, entgegenkommt und zudem dem Meister gestattet, Gelehrsamkeit, exotisches Wissen und neue Deutungsmuster […] vorzustellen“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 58), sowie Darbietungen in Form von ästhetischen und änigmatischen Sprachspielen, die das Geltungspotenzial der Rolle aufwerten und eine Ich-Rolle manifestieren, die in hohem Maße wîse und werde ist und nachgerade „universal-gelehrte Ratgeberkompetenz[en]“ (Lauer, C., SängerRollen, S. 130) besitzt. Im Bemühen um eine angemessene Begrifflichkeit wird auch



Inszenierung und Reflexion des Rollen-Ichs 

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die Sprache selbst vermehrt zum Reflexionsgegenstand. Im Rahmen der Erörterung zentraler höfischer Leitwörter (êre, mâze, milte, minne, vrouwe, wîp etc.), aber auch in der Thematisierung von Begriffen wie name und wort kristallisiert sich hier in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein philosophisch-theologisch geprägtes ‚Sprachdenken‘ heraus, das die Ich-Rolle des Lehrers – das zeigt um 1300 besonders Frauenlob, „der die Ansätze der Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts auf[greift] und […] auf ein neues theoretisches Niveau [hebt]“ (Huber, C., Wort, S. 4) – spezifisch auch als philosophus und ‚Sprachgelehrten‘ profiliert. Die Rolle des abhängigen fahrenden Sängers Die Rolle des abhängigen fahrenden Sängers gehört ebenfalls zu den prägnanten Markenzeichen der Sangspruchdichter. Im Unterschied zur Ratgeber-Rolle steht sie in deutlicher Nähe zum gesellschaftlichen Status vieler Sangspruchdichter. Bereits ‚Herger‘/Spervogel  I erinnert aus dieser Rolle heraus in affektiv-emotionalem IchGestus an die eigene Armut und den eigenen unglücklichen Zustand, preist die milte und êre von Fürsten und Gönnern oder droht mit Dienstaufkündigung bei mangelnder Entlohnung (Beispiele und Belege auch in den → Kapiteln III.1 und III.2). Die Sänger rekurrieren damit nicht nur unmittelbar auf ihre prekären sozialen Lebensumstände. Auf der Basis des sog. guot-umbe-êre-nemens zielt diese Ich-Rolle auch ausdrücklich pragmatisch auf den eigenen Lohnerwerb. Im Laufe der Gattungsgeschichte präsentieren sich hier markante Ausgestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Sichtbar wird dies z.  B. in Armutsklagen, die weiterhin auf soziale Gegebenheiten rekurrieren können, die sich aber über Interferenzen zu religiösen Diskursen auch stärker auf gotes hulde ausrichten oder die durch eine Fokussierung auf das Thema ‚Glück‘ und die Einbindung naturgelehrten Wissens (z.  B. Kosmologie, Astronomie), insbesondere ab der zweiten Hälfte des 13.  Jahrhunderts, zu Profilverschiebungen der Ich-Rolle im Sinne eines ‚armen Gelehrten‘ führen. Gönnerlob und -schelte lassen ebenfalls inszenatorische Auffächerungen erkennen. Neben der Möglichkeit, die situative Pragmatik des Sprechens mittels fiktionalen, erzählerischen und lehrreichen RollenArrangements wie z.  B. wirt-gast-Metaphorik, Personifikationen, Typisierungen, Tierfabeln oder exempla ethisch-moralisch zu ‚objektivieren‘, zeigt sich vor allem auch eine Zunahme an poetisch-rhetorischen Techniken. Ergebnisse sind Gönnerschelten, die stärker vom Wert der Kunst aus argumentieren, in denen sich z.  B. aber auch die Ästhetik dem falschen Verhalten des Herren anpasst und aus der Kunst selbst heraus eine radikal-verurteilende Wirkkraft entfaltet, indem sich „das Verhalten des Herren und die damit verbundenen Auswirkungen auf den Gesang in einer Art BoomerangEffekt wieder auf den Gönner zurückbezieht“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 114). Auch im Lobpreis offenbaren sich hier „literarische Autoreferenz[en]“ (Huber, C., Herrscherlob) und größere „autopoietische[] Freiheit[en]“ (Haustein, Freiheit, S.  94). Vor dem Hintergrund der Logik, dass sich die Qualität des Gegenstandes durch die Qualität der Ausdrucksweise und der entsprechenden sprachlichen Formen abbildet,

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nimmt dabei ab Walther von der Vogelweide das sog. Lobblümen zu und bringt in den Sprüchen, die in ihrer Funktion deutlich pragmatisch auf das guot umbe êre nemenPrinzip ausgerichtet sind, schließlich v.  a. bei Konrad von Würzburg und Frauenlob ein klares künstlerisch-artistisches Selbstbewusstsein hervor (vgl. Hübner, Lobblumen, S. 219–279), wodurch sich „[a]uch die Rolle des Sänger-Ichs ändert […]: Es definiert sich nicht mehr über seine Position innerhalb des Sänger-Gönner-Verhältnisses, sondern über seine Kompetenz“ (Obermaier, Nachtigallen, S. 252). Ergebnis ist damit eine Verschiebung von der Rolle des abhängigen fahrenden Sängers hin zu einer Rolle, die sich, insbesondere über Metaphoriken des Handwerks (Textil-, Bauund Metallhandwerk), betont als artifex ausstellt. Die Rolle des christlichen Predigers Neben die Rollen des Ratgebers und Sängers tritt in der Beschäftigung mit religiösen, geistlichen und theologischen Themen gattungskonstitutiv auch die Rolle des christlichen Predigers. Die Sänger greifen hier eine Rolle auf, die ihnen aus gesellschaftlicher Sicht ebenfalls nicht zusteht, ja, mit der sie explizit in die Kritik der Kirche geraten: einerseits als Teil des fahrenden Volkes, das in einer langen Diskurstradition kirchlicher Verdammung steht; andererseits in Hinblick auf geltendes Kirchenrecht, das die Verkündigung des Evangeliums sowie die Belehrung über christliche Glaubenswahrheiten und Lebensgestaltung allein dem Klerus vorbehält (vgl. → Kapitel V.1). Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass „die Berechtigung der Spruchdichter, als Lehrer in geistlichen Dingen aufzutreten“, von Beginn an „nicht in Zweifel gezogen zu werden“ (Grubmüller, Autorität, S. 702) scheint. Es kristallisieren sich bei ‚Herger‘/Spervogel I bereits auch früh zwei wesentliche Inszenierungsmodi heraus. Im Zentrum steht zum einen die Rolle des ‚armen Sünders‘, die in autoritativ absichernder Nähe zum sozialen Status der Sangspruchdichter steht und sich im expliziten Ich-Gestus als Teil der communitas Christi in Form von demütigen Klagen und gebetsartigen Strophen zum Ausdruck bringt. Zum anderen etabliert sich in objektiv-unpersönlicher Sprechhaltung eine Rolle des Predigers im engeren Sinne, die mittels einfacher Präsentation bekannten christlichen Wissens Gott preist und an Werte wie Seelenheil, rechten Glauben und christliche Lebensführung erinnert. Trotz fassbarer klerikaler Polemik gegen die Fahrenden, aber auch neuer sozialhistorischer Konkurrenz wie dem Aufkommen von Mendikantenpredigern (vgl. Kästner, Wettstreit) ist „der geistliche Sangspruch […] spätestens ab der Mitte des 13. Jahrhunderts fest etabliert“ (Rosmer, Tradition, S.  322), und es gelingt den Sangspruchdichtern, die beiden Rollenvarianten weiter auszubauen. Dabei interferiert die Ich-Rolle des armen Sünders nicht nur weiter mit der Sozialrolle der Sänger, sondern inszeniert sich, besonders ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, durch die Einbindung von (heils-)theologischem Wissen markant auch in gelehrtem Duktus als ich […] kranke[] erde (Meißner Obj. XVI,1,10) oder Ich tier unde mensche in menschen hut (Meißner Obj. XIX,2,1). Daneben tritt die Rolle des Predigers in deutlichem Ich-Gestus hervor. So kommen zu Gottes-



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lobstrophen z.  B. Marienpreisungen hinzu, deren zunehmende ästhetische Ausgestaltung ähnlich wie im Gönnerpreis eine artistische Kompetenz des Sänger-Ichs aufscheinen lässt. Auch profiliert sich in Erbauungen, Ermahnungen und Verkündungen von Glaubenswahrheiten weiter ein autoritativer Ich-Gestus. Dabei sichern sich die Sänger nicht nur durch biblische Autoritäten (z.  B. Salomon) ab oder nutzen, ähnlich wie bei der Ratgeber-Rolle, Autorität gebende Rollen wie die des Alten oder des Vaters. Parallel dazu sorgen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auch die „Ausweitung der religiösen Wissensbestände“, die „das Glaubenswissen stark [auch] um den […] Bereich der Naturkunde“ vermehrt (Rosmer, Tradition, S.  326), und Erörterungen dogmatischer Fragen im Zusammenspiel mit ästhetisch-künstlerischer Aufbereitung für eine Statusaufwertung, indem die Sänger im Spannungsfeld von Predigtduktus, Gelehrsamkeit und künstlerisch-ästhetischer Kompetenz eine Ich-Rolle inszenieren, die hohe wîsheit und sprachliche Eloquenz besitzt. Damit besteht auf der einen Seite die Tradition der christlichen Prediger-Rolle fort, die Grundwissen repetiert und lehrt. Auf der anderen Seite sind bei einigen Autoren (z.  B. Meißner, Rumelant von Sachsen) aber auch Erweiterungen um Elemente der spekulativen Theologie und Erörterungen komplizierterer Theologumena zu erkennen, die besonders eindrücklich bei Frauenlob zum Tragen kommen. Im Vergleich mit Vorgängern und Zeitgenossen lässt sich bei ihm eine deutliche Zunahme an „kompliziertere(n) Wissensbestände(n) aus der spekulativen Theologie“ (ebd., S. 329) mit forcierter sprachlicher Schwerverständlichkeit feststellen, die sich als außergewöhnliche „Demonstration sowohl von Deutungsbedürftigkeit als auch von Deutungskompetenz“ (Hübner, Hofhochschuldozenten, S. 77) liest und das Profil der Prediger-Rolle in das eines ‚gelehrten Theologen‘ verschiebt. Rollenbündelungen und -aktualisierungen Die Ich-Rollen des Ratgebers, Sängers und Predigers stellen das zentrale Rollenrepertoire der Sangspruchdichter dar. Sie prägen mit ihren verschiedenen Inszenierungsmöglichkeiten von Grund auf die Gattung und deren Redevielfalt im Sprechen über ‚Gott und die Welt‘. Dabei treten diese Rollen in den einzelnen Strophen häufig jedoch nicht alleine auf. Gattungskonstitutiv sind vor allem auch Rollenbündelungen, die sich im Blick auf die sangspruchdichterlichen Themenbereiche unterschiedlich komplex gestalten können. In der Behandlung von religiösen und geistlichen Themen beschränken sich die Bündelungen weitgehend auf die beiden Varianten der Prediger-Rolle selbst. So lässt sich hier z.  B. die Rolle des armen Sünders in Hinblick auf mehrere göttliche Adressaten (Gott, Maria, Christus, Trinität) ‚multiplizieren‘. Auch können in einzelnen Strophen wiederholt gleichberechtigt göttliche Adressaten und (christliche) Welt angesprochen werden, wie dies vor allem in der Tradition der Predigt und des paränetischen Preises bzw. Tadels verankert ist und was von den Sangspruchdichtern im Laufe des 13. Jahrhunderts immer ‚freier‘ und flexibler gehandhabt wird. Demgegen-

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über zeigen sich in der Behandlung weltlicher Themen von Beginn an stärkere Tendenzen zur Rollenbündelung. Neben Ausdifferenzierungen und „konnotativen Ausbeutung(en)“ (Warning, Lyrisches Ich, S. 140) von Rollen wie der des friundes oder des Vaters im Spannungsfeld christlicher und weltlicher Werthorizonte entfaltet sich hier ein breites Spektrum, alle drei Ich-Rollen zu kombinieren. Dabei verbinden sich die Rollen nicht nur zu höfischen Herren- und Tugendlehren, die in ihrer inhaltlichen Ausrichtung und Verhandlung (guot, êre, gotes hulde) sowie in ihrer Wirkungsästhetik (Klage, Lob, Schelte, Didaxe) je unterschiedlich akzentuierbar sind. Insbesondere ab der Mitte des 13. Jahrhunderts zeigt sich das Bedürfnis, mit Hilfe verschiedener Rollenbündelungen auch einer komplexer werdenden Verortung der Werte und des Wertverhaltens in den verschiedenen Referenzbereichen gerecht zu werden, was zu deutlich vielschichtigeren Sitten-, Moral- und Weisheitslehren führt. Einen ‚Sonderbereich‘ im Blick auf die Rollenbündelung bildet die sog. politische Dichtung, die mit Walther von der Vogelweide, ihrem „Schöpfer“ (Nolte/Schupp [Hg.], Sangspruchdichtung, S. 480), erstmals Eingang in die Gattung gefunden hat (s. unten → Kapitel  V.3 und VII.1). Walthers Strophen zu den aktuellen politischen Ereignissen, Problemen und Machtpersonen seiner Zeit zeigen gleich zu Beginn ein markantes Ausbalancieren sangspruchdichterlicher Möglichkeiten und Grenzen: „ein komplexes Zusammenspiel von konventionellen Spruchdichterkompetenzen, realen politischen Machtbefugnissen, Veröffentlichungsformen von Politik im feudalen System, Legitimationsmustern politischen Handelns und allgemein verpflichtenden Grundkategorien menschlichen Lebens“ (Hahn, Möglichkeiten, S. 355). Dabei aktualisiert Walther mit der Übertragung der christlich-ethischen Wertediskussion auf den ordo socialis von Reich und Kirche nicht nur die einzelnen Ich-Rollen des Ratgebers, Sängers und Predigers. Er passt diese mittels einer originellen und dynamischen Umsetzung ihrer Einzelkomponenten auch den situativen Anforderungen im Interessengeflecht von Personen und Parteiungen an. Ergebnisse sind ‚offizielle‘ Herrscherpreisungen, scharfe Herrscher-, Papst- und Kirchenschelten, öffentliche Wahlaufrufe, aber wiederholt auch außergewöhnlich herausragende Ich-Rollen bzw. „Rollen-Spiel[e]“ (Marzo-Wilhelm, Walther, S.  139): die berühmten Ich-Posen des ‚Nachdenkenden‘, des ‚Hörenden‘ und des ‚Sehenden‘ im Reichston, die fingierte Rede des Papstes in den sog. Opferstockstrophen, die Rolle des ‚Begrüßungs-Herolds‘ im sog. Willkommensspruch oder die Stilisierung als ‚Gottesbote‘ in der sog. Botenstrophe, die „letztlich auch an die Grenze eines menschlichen Identitätsentwurfes insgesamt“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 216) führt. Walthers Inszenierungen zeigen ein außergewöhnlich hohes Maß an Variabilität und gegenseitiger Verschränktheit des traditionellen spruchdichterlichen Rollenrepertoires. Sie dokumentieren, dass an die Sänger im politischen Themenbereich deutlich größere Ansprüche hinsichtlich sozialer Mobilität und Handlungsflexibilität gestellt werden als im Rahmen der Behandlung religiöser und ethisch-moralischer Themen – ein Befund, der sich auch nach Walther fassen lässt. Außerordentlich herausragende ‚Ich-Rollen‘ à la Walther sind nach ihm kaum mehr zu finden. Greifbar bleiben jedoch Rollenaktualisierungen



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und -bündelungen, die z.  B. bei Reinmar von Zweter, aber auch später beim Schulmeister von Esslingen an „Rollen- und Argumentationsmustern“ Walthers „geschult“ sind (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 118). Darüber hinaus erweitern sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts inhaltlich, argumentativ und wirkungsästhetisch die Möglichkeiten der jeweiligen situativen Ausgestaltung. Dabei lässt sich einerseits vor dem Hintergrund politischer Machtverschiebungen vom Reich auf die Territorien eine ‚Annäherung an die Sozialrolle‘ (vgl. ebd.) feststellen, indem vor allem die Herrschertugend der milte zum Thema gemacht wird, in der Rolle des ‚Fahrenden‘ weist sich das Sänger-Ich aber auch als Kenner von Ereignissen und Vorgängen aus, die re­gio­nale oder lokale Bedeutung besitzen. Andererseits zeigen sich gerade in den Aus­ einandersetzungen um Königswahlen auch Statusaufwertungen der Sänger. So führt die Rollenkombination beispielsweise in der Zeit des Interregnums (1256–1273) zur Inszenierung eines Sänger-Ichs, das „als objektive[r] und flexibel handelnde[r] Sprecher und Sachwalter idealer Reichsvorstellungen einen quasi autonomen Status innerhalb des mittelalterlichen Wertesystems“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 225) besitzt. Auch bringt die Rollenkombination in der Zeit nach dem Tod Rudolfs I. von Habsburg 1291 ein Sänger-Ich hervor, das auf der Basis von fundiertem rechtspolitischen Wissen, so exemplifizieren es die wenigen politischen Sprüche Frauenlobs, zusätzlich noch zu einem außerordentlich scharfen und exponierten Kritiker und Mahner avanciert. Rollenreflexionen und -verschmelzungen Als ‚Randfiguren‘ der mittelalterlichen Gesellschaft haben die Sangspruchdichter ihre Ich-Rollen auch reflektiert. Neben Tendenzen zur Selbstbezüglichkeit, wie sie in der Behandlung religiöser, weltlicher und politischer Themen wiederholt auftreten und z.  B. in Fürstenpreis, Marienpreis und Tugendlob zu „poetologischer Reflexion“ (Hübner, Lobblumen, S. 226) und zur Ausbildung eines künstlerischen Selbstverständnisses führen können, zeigt sich dies am deutlichsten in den Strophen, in denen die Sangspruchdichter ihr eigenes Singen (sanc) und Können (kunst) selbst zum Gegenstand machen. So reflektieren die Sangspruchdichter bereits früh, bei ‚Herger‘/Spervogel  I, gegenüber ihrem Publikum den positiven Wert des Ratgebers und stellen im Laufe der Gattungsgeschichte immer deutlicher dessen ideale Eigenschaften als erehaft, menlich, milte, wise, erbarmich und truwe (Meißner Obj. II,19) aus. Behandelt wird von Anfang an auch die Rolle des abhängigen fahrenden Sängers. Konzentriert sich diese in Armuts- und Sängerklagen anfänglich noch auf das guot umbe êre nemenPrinzip und die sozialhistorische Verortung der Sänger, wird dies zunehmend (selbst-) bewusst von einem nach kunste geben (Meißner Obj. II,4) und einem eigenständigeren Selbstverständnis der Dichter als ‚Künstler‘ abgelöst. Neben die positive Selbstdarstellung einzelner Ich-Rollen, zu denen wiederholt auch die Verteidigung der Rolle des Predigers durch den Ausweis der eigenen rehten kunst als gotes bote und […] sin

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kneht (Friedrich von Sonnenburg Mas. 19) hinzukommt, lassen sich ab Walther von der Vogelweide zudem Strophen greifen, welche die Ich-Rollen umfassender thematisieren und hier insbesondere auch deren Pluralität mitbewerten. Dabei kann es einerseits, z.  B. in Publikumsschelten, zu Verurteilungen des Adressatenverhaltens kommen, die mit „negative[n] Bewertung[en] sozialer Rollenpluralität im höfischen Kontext“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S.  283) einhergehen und mit denen die Sangspruchdichter umgekehrt ihre „eigene Legitimität sowie Integrität als höfisch-weltliche[] Sänger“ (ebd., S. 282) verteidigen. Andererseits kann die positive Selbstreflexion der einzelnen Ich-Rollen gebündelt und deren Pluralität „als notwendig, gut und erstrebenswert“ (ebd., S. 299) ausgestellt werden, wenn sich die Sangspruchdichter ihrem Publikum gegenüber programmatisch zu ihren Aufgaben äußern und sich in umfassender Weise als lerer aller guoten dinge, ratgebe aller tugent, vursten dienist und eren pilegrim präsentieren, der von got die kunst erhielt (Meißner Obj. XV,4). Einen besonderen Bereich in Hinblick auf die Reflexion des Rollen-Ichs stellt die Auseinandersetzung mit künstlerischen Konkurrenten dar: zum einen die „allgemeine Polemik gegen Schmeichler, böse Ratgeber und andere finstere Typen, die die anständigen Leute vom Hof verdrängen“ (Wachinger, Sängerkrieg, S. 117), und zum anderen der „Streit um literarische Geltung“ (ebd., S.  303) zwischen Sängerkollegen  – eine Polemik, die „ausdrücklich die Kunstrivalität, den Rangstreit um die meisterschaft zum Thema hat“ (ebd., S. 111). In diesen Strophen setzen sich die Autoren gezielt mit ihren Konkurrenten und deren sozial-rechtlichen Voraussetzungen, beruflichen Einstellungen und künstlerischen Fähigkeiten auseinander. Zugleich bietet sich hier den Sangspruchdichtern auch „eine Folie, sich selbst gegen etwas Anderes abzuheben“ (Löser, Feind, S. 526): Fiktional „entworfen und ‚aufgebaut‘“ wird der literarische Gegner als „Konstrukt des eigenen Selbst. […] Seine Rolle hat die Funktion, dem Selbst die Richtigkeit des eigenen Tuns zu versichern“ (ebd., S. 533). Dabei entsteht ex negativo nicht nur ein positives Eigenverständnis der einzelnen IchRollen. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Sängerkollegen, der gleichsam als „eine Art Allegorie der unkunst fungiert“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 305), ‚verschmelzen‘ die verschiedenen Ich-Rollen der Sangspruchdichter auch verstärkt, und es entsteht hier ab der zweiten Hälfte des 13.  Jahrhunderts eine neue Ich-Identität als meister. Konzentrieren sich deren Charakteristika zunächst auf artistische Kompetenz und moralische Integrität, gewinnen gegen Ende des 13.  Jahrhunderts, so zeigen es Polemiken des Meißners, Rumelants von Sachsen und Konrads von Würzburg, auch Wissen und Gelehrsamkeit an Bedeutung. Ergebnis ist zum einen eine eigene Identität, welche die Sangspruchdichter im Verbund aller Rollen als „moralisch integre[], christlich demütige[], tugendhafte[], künstlerisch versierte[] und gelehrte[]“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 298) Sänger ausstellt. Damit einher geht zum anderen auch eine markante Status- und Geltungsaufwertung, die in beachtlicher Weise vor allem bei Frauenlob zum Ausdruck kommt, indem sich dieser in „einer sonst in der Sangspruchdichtung unbekannten Direktheit […] zum unübertroffenen Sangesmeister“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 128) macht: Swer ie gesang und



Inszenierung und Reflexion des Rollen-Ichs 

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singet noch / – bi grünem holze ein fulez bloch –, / so bin ichz doch / ir meister noch (GA V,115,13–16). Ausblick: Rollenänderungen im 14./15. Jahrhundert Das 14./15.  Jahrhundert markiert für die Sangspruchdichtung eine Umbruchphase. Auf der einen Seite nimmt die ‚Patronisierung‘ fahrender Berufsdichter zu, wobei neben adligen und geistlichen Höfen vermehrt auch städtische Auftraggeber eine Rolle spielen. Auf der anderen Seite setzt parallel dazu eine Aufnahme und produktive Weiterdichtung von hochmittelalterlichen Sangsprüchen und Tönen durch „stadtbürgerliche Dilettanten“ (Schanze, Liedkunst I, S. 10), d.  h. durch Autoren ein, die als sesshafte Bürger zumeist ein Handwerk betreiben und sich (nur mehr) nebenberuflich in der Kunst üben. Die veränderten sozialen Produktions- und Rezeptionsbedingungen bringen für die Inszenierung und Reflexion des Rollen-Ichs vor allem drei grundsätzliche Wandlungen. Erstens zeichnen sich andere Gewichtungen innerhalb des ‚klassischen‘ Rollenrepertoires ab. Während das lerer-Ideal des Sangspruchs und die damit einhergehenden Ich-Rollen des Ratgebers/Lehrers und Predigers im Sinne von praeceptor, philosophus und theologus weiterhin in Anspruch genommen und in Hinblick auf Wissensvermittlung und geistliche Erbauung deutlich an Dominanz gewinnen, verschwindet die Rolle des abhängigen fahrenden Sängers, die pragmatisch auf Lohnerwerb ausgerichtet ist, fast vollständig. So fehlen nicht nur bei Berufsdichtern wie Heinrich von Mügeln, Muskatblut und Michel Beheim weitgehend Debatten um das guot umbe êre nemen-Prinzip oder die wirt-gast-Konstellationen, welche die moralische Legitimation der Rolle ausgemacht haben, und schließen jene vornehmlich an die künstlerisch-artistische Kontur der Rolle im Sinne eines artifex an. Auch die städtische Kunstpraxis offenbart mit fehlenden Gönnerpreisungen und vorrangig verallgemeinerten Klagen über Armut und Glück ähnliches: Die Ich-Rolle des abhängigen fahrenden Sängers hat im 14./15. Jahrhundert überwiegend ihren sozialen Boden verloren und in ihrer Legitimations- und Geltungskraft mehrheitlich ausgedient. Neben den Wandlungen im Rollenrepertoire ergeben sich zweitens neue Möglichkeiten der Rollenbündelungen. So setzt sich im Unterschied zur Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts, die sich prinzipiell durch pointierte, in sich geschlossene Einzelstrophen auszeichnet, spätestens mit Heinrich von Mügeln ein Dichten in mehrstrophigen Baren durch. Die sog. „meisterliche Liedkunst“ (Schanze, Liedkunst) erlaubt nicht nur fahrenden Berufsdichtern umfangreichere themenbezogene Rollenbündelungen und -additionen, wobei beispielsweise im Falle von Frauen- und Minnethematik zusätzlich Rollen aus dem Minnesang oder im Rahmen von geistlichen, moralischen und historisch-politischen Erzähl- und Ereignisliedern ausgefeiltere fiktive und politisch-aktuelle Sprecherrollen mit ins Spiel kommen können. Gerade in der stadtbürgerlichen Rezeption von Tönen alter Meister führt dies auch verstärkt zu Strophenkombinationen, die sich weniger thematisch denn im Sinne von ‚(Ton-)

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 Pragmatische und mediale Kontexte

Autorschaften‘ primär an der Form orientieren und Rollenadditionen bieten, die sich in Bezug auf sog. Meisterschaftsentwürfe formieren (vgl. Wenzel, F., Meisterschaft). Schließlich zeigen sich, drittens, Änderungen unter dem Blickwinkel der Rollenreflexion. Zwar schließen sämtliche Autoren konsequent an die Ich-Identität als meister an, wie sie sich in der Verschmelzung aller sangspruchdichterlichen Rollen ab der Mitte des 13. Jahrhunderts herausgebildet hat. Zugleich offenbaren sich aber auch Verschiebungen. Auf der einen Seite gewinnen die Berufsdichter konkretere künstlerische Konturen. Präsentiert sich Heinrich von Mügeln weiterhin im Anschluss an die artistisch-gelehrte Tradition Konrads von Würzburg und Frauenlobs als warer meister (Stmn. 1), wobei er mit breiten Kenntnissen auf den Gebieten der Artes liberales, Philosophie und Theologie und seinen Ausformungen des Geblümten Stils nochmals „einen unverwechselbar eigenen Beitrag zur Geschichte der Gattung“ (Stackmann, Mügeln, Sp. 824) liefert, kommt im 15. Jahrhundert zunehmend der eigene ‚Sitz im Leben‘ mit ins Spiel. Greifbar werden nicht nur Lieder, die den „Handwerker als Dichter“ (Obermaier, Dichter) thematisieren und die sängerische Identität im Spannungsfeld von Handwerker- und Dichterberuf reflektieren. Insbesondere bei Michel Beheim rückt hier auch eine „biographisierte[] Rolle“ (Niemeyer, Kunst- und Rollen­ verständnis, S. 346) ins Zentrum, die in selbstzeugnishaften und autobiographischen Liedern umfassender auf das eigene Leben (Herkunft, Beruf, Lebensstationen, Aufgaben etc.) rekurriert und dem Dichter Ich, Michel Pehein (Gille/Spr. 61 u. 62) nachdrücklich „Spuren von Individualität“ (Niemeyer, Kunst- und Rollenverständnis, S.  346) verleiht (vgl. dazu auch → Kapitel  VII.14). Parallel dazu ändert sich in der städtischen Kunstpraxis die meister-Identität. In zahlreichen Liedern über Kunst und Inszenierungen eines meisterlichen Wettstreits im Singen (fürwurf, strâfliet und Sängergruß, aber z.  B. auch pseudo-historische Sängerwettstreite wie ‚Der Krieg von Würzburg‘), so belegt es allen voran die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘, kristallisiert sich hier eine Ich-Identität heraus, die sich neben inhaltlicher wîsheit insbesondere über eine regelgerechte Kunstpraxis definiert: das Einhalten formaler Gesetze wie Reim und Zahl der Verssilben, das von sog. merkern im Sinne einer neuen festen Institution von Kunstrichtern beurteilt wird. Was sich damit als meisterliche Identität etabliert, legt nicht nur erfolgreich den Grundstein zur Etablierung und Institutionalisierung des Meistergesangs. Es läutet letztlich auch das Ende der rund 300jährigen Geschichte des Sangspruchs ein: „[D]er (fahrende) Berufssänger wird von seßhaften Handwerkern, von Dilettanten, die in Singschulen nach festen Regeln dichten, abgelöst“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 130). Resümee Gattungspoetologisch betrachtet, so lässt sich resümieren, präsentiert die Sang­ spruchdichtung von Anfang an ein Sänger-Ich, das in seinen Rolleninszenierungen vielfältiger als in anderen lyrischen Gattungen erscheint. Als Sachwalter mittelalterlicher Werte und Idealvorstellungen, Sprecher ihrer Herren, Stimmen des Volkes sowie



Inszenierung und Reflexion des Rollen-Ichs 

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Sprecher ihrer Kunst gestalten die Sangspruchdichter diese Rollen zugleich auch überaus vielschichtig, dynamisch und komplex. Trotz der „primären Situationsgebundenheit“ (Müller, J.-D., Willekomen, S.  8) der Gattung, die stark von der sozialen Situation der Sänger als fahrender Berufsdichter geprägt ist und immer wieder auf historische Personen, Ereignisse und Umstände Bezug nimmt, gehen die Ich-Rollen nicht vollständig im Verständnis einer ‚Erlebnislyrik‘ und in Bezug auf eine historische Autor- bzw. Sänger-Person auf. Auch bieten die Sangspruchdichter im Kontext des mittelalterlichen delectare et prodesse keine rein fiktionalen „Autorrollen“ (Seitz) im Sinne lyrischer ‚Rollendichtung‘ und auch keine rein fiktive ‚Maske‘ entsprechend einer theatralischen Aufführung. Die Ich-Rollen sind weder vollständig ‚subjektiv‘ noch ‚objektiv‘ noch erweisen sie sich in ihren Inszenierungen gänzlich heteronom oder autonom. Prägend für die Sangspruchdichtung ist gleichsam eine Art „Spielcharakter der Rollenhaftigkeit des Ich“ (Löser, Bewertungskategorien, S. 382), der den verschiedenen pragmatischen und medialen Kontexten der Gattung Rechnung trägt: ein breites Spektrum an Inszenierungsmöglichkeiten, in denen sich unterschiedliche Referentialisierungs- und Zuschreibungsmöglichkeiten immer wieder ergänzen, durchdringen und überblenden und die „von einer schlichten Übernahme realer Gegebenheiten bis hin zur Genese einer ästhetischen Größe [reichen], die nur innerhalb eines fiktionalen oder auch virtuellen Rahmens Bestand hat“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 316). Zur Entfaltung gebracht wird dabei insgesamt nicht nur eine Art „relationale ästhetische Identität“ (ebd., S. 299), mit der die Sangspruchdichter bis hin zu Michel Beheim umfassend und flexibel der mittelalterlichen Wertediskussion und den gegebenen literarästhetischen Bedingungen gerecht werden. Im Spannungsfeld zwischen Eindeutigkeit, Vielschichtigkeit und Offenheit, bei der sich Zuschreibungen und Festlegungen auch konträr durchspielen lassen können, ergeben sich gerade im „performative[n] Prozess“ (Egidi, Prozess) auch unterschiedliche Grade der Rollen-Dissoziation, die bis zu einem changierenden, uneindeutigen Status der Sprecher-Rolle reichen können. Ergebnis ist eine besonders „labile Konstruktion“ (Strohschneider, Hervortreten, S.  11) der Ich-Rolle, die „weniger personal als vielmehr situativ begründet“ (ebd.) ist. Ergebnis ist aber auch ein besonders dynamisches und attraktives „Referentialisierungsspiel“ (Egidi, Liebe, S.  352): Im Aufführungsraum wechselseitiger Wahrnehmungen ergeben sich zwischen den „vielfältigen Optionen der Referentialisierung“ (ebd.) wiederholt ‚Kippeffekte‘, die z.  B. in der Sänger-Polemik auch zwischen Sach- und Personenebene (vgl. Egidi, Sängerpolemik) oder im Falle ‚biographisierter‘ Rollen wiederholt zwischen Faktizität und Fiktion changieren können und deren ‚Harmonisierung‘ situativ von Vortrag zu Vortrag je neu von den Teilnehmern, von Sänger wie Publikum, gleichzeitig zu leisten ist. Ausg. GA; Gille/Spr.; HMS; KLD; Mas.; MF; Nolte/Schupp (Hg.), Sangspruchdichtung; Obj.; SM; Stmn. – Lit. Brem, ‚Herger‘/Spervogel; Egidi, Liebe; Egidi, Prozess; Egidi, Sängerpolemik; Grubmüller, Autorität; Hahn, Möglichkeiten; Haustein, Freiheit; Huber, C., Herrscherlob; Huber, C., Wort; Hübner, Hofhochschuldozenten; Hübner, Lobblumen; Kästner, Wettstreit; Lauer, C., SängerRollen; Löser, Bewertungskategorien; Löser, Feind; Marzo-Wilhelm, Walther; Müller, J.-D., Wille­

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 Pragmatische und mediale Kontexte

komen; Niemeyer, Kunst- und Rollenverständnis; Obermaier, Dichter; Obermaier, Nachtigallen; Rosmer, Tradition; Schanze, Liedkunst; Seitz, Autorrollen; Stackmann, Mügeln; Strohschneider, Hervortreten; Tervooren, Sangspruchdichtung; Wachinger, Sängerkrieg; Warning, Lyrisches Ich; Wenzel, F., Meisterschaft; Wenzel, H., Typus.

IV Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte 1 Minnesang Dorothea Klein Die Frage nach dem Gattungsbewusstsein Die Frage nach Gattungsinterferenzen setzt ein klar umrissenes Bild von Gattungen bzw. von prototypischen Modellen voraus, die in der einen oder anderen Weise interagieren. Im Fall von Minnesang und Spruchsang ist man freilich nicht nur mit der Tatsache konfrontiert, dass das deutsche Mittelalter wie auch sonst keine normativen oder deskriptiven Selbstbeschreibungen kennt und auch die historische Terminologie keine Anhaltspunkte für ein reflektiertes Gattungsbewusstsein gibt: Sie ist vielfach unpräzise und widersprüchlich (Grubmüller, Gattungskonstitution, S. 195  f., 209). So bezeichnet der mittelhochdeutsche Begriff liet eine Einzelstrophe, ein Lied oder eine strophische Dichtung (letztere meistens im Plural), gelegentlich auch ein „unstrophisches epos oder lehrgedicht“ (Lexer I, Sp. 1913  f.), und unklar bleibt auch die Bedeutung(sbreite) der Gattungsnamen im Katalog Reinmars des Fiedlers (KLD 45,III,1) oder in den Überschriften von Lyrikhandschriften (vgl. die Zusammenstellung bei Schweikle, Minnesang, S. 117  f.). Das Fehlen einer volkssprachigen Poetik und distinkter Gattungsbezeichnungen bedeutet aber nicht, dass die volkssprachigen Autoren, Schreiber und Sammler des Mittelalters kein Gattungsbewusstsein gehabt hätten. Deutliche Hinweise, dass man Minnesang und Spruchsang als eigenständige Gattungen verstand, geben die großen Sammelhandschriften, die seit dem späten 13. Jahrhundert entstanden: Die größte Lyriksammlung überhaupt, die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C, ordnet nach Gattungen, Minnesang und Neidhartiana zuerst, Spruchsang danach; nur bei Dichtern, die beide Register im Repertoire hatten, wird dieses Ordnungsprinzip zugunsten des Namenprinzips durchbrochen. Unterschieden wird auch bei den Dichterporträts: Minnesänger werden zumeist als Liebende und Werbende dargestellt, Sangspruchdichter als Fahrende und Vortragende. Die Liederhandschriften A und B, die eine kleinere Zahl von Spruchstrophen ohne erkennbares Auswahlprinzip mit Liedern vergesellschaftet haben, ordnen ohne Gattungssystematik ausschließlich nach Autornamen. Eine reine Sangspruchhandschrift ist hingegen, von einigen Leichs und den (Minne-)Liedern im Corpus des Wilden Alex­ anders und im nachgetragenen Corpus Wizlavs abgesehen, die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J; von all jenen Autoren, die wie etwa der Kanzler, Rumelant von Sachsen oder Konrad von Würzburg als Lied- und Spruchdichter gleichermaßen hervorgetreten sind, überliefert J ausschließlich Spruchtöne. Die ursprünglich selbständigen Handschriften H und R aus dem 14. Jahrhundert und erst recht die sog. Meisterliederhandschriften des 15. Jahrhunderts sammeln nur noch alte Spruchtöne und deren Textierungen sowie das Liedgut des stadtbürgerlichen Meistergesangs; Ausnahme ist die https://doi.org/10.1515/9783110351897-004

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k, die auch Leichdichtung sowie geistliche und weltliche ‚Einzellieder‘ überliefert. In ihren Anfängen, um die Mitte des 12.  Jahrhunderts, standen Minnelied und Sangspruch freilich noch nah beieinander: Beide haben als gemeinsame Grundform paargereimte Lang- und Kurzzeilen, die verschieden kombiniert werden konnten. Auch bedient sich das Lied mitunter desselben generalisierend-lehrhaften Sprechmodus wie der Spruch und sei es nur zur Legitimation des Sprechens über die Liebe (vgl. Den von Kürenberg MF 7,1, 7,19, 10,17; zu sangspruchspezifischen Sprechweisen und Strophen im frühen Minnesang am Beispiel Meinlohs von Sevelingen vgl. Hausmann, Strategien, S. 26–32, und Huber, C., Spruchhaftes), und gemeinsam ist beiden Typen beinahe von Anfang an auch das Register des Preisens; sie unterscheiden sich freilich im Objekt: Während beispielsweise der Spervogel (II)-Spruch MF 24,1 zu einem allgemeinen Frauenpreis anhebt, meint das Minnelied immer das Lob der Einen. Dass die beiden Liedtypen auch Normeninventar und Aufführungssituation gemeinsam haben, begünstigt den Wechsel (‚Modulation‘) von minnesängerischer in spruchhafte Sprechweise und umgekehrt, den Ludger Lieb für Heinrich von Veldeke nachgewiesen hat: Was in der einen Strophe generalisierende, an ein Kollektiv gerichtete Minnelehre ist, erscheint in einer anderen Strophe durch Wechsel im Sprechmodus als subjektives Bekenntnis (vgl. MF 60,13 u. 60,21/MFMT XI.VI,1  f.). Thematische Übereinstimmung und identisches Wortmaterial bieten auch Veldekes Spruch MF 61,9/MFMT XI.IX und Lied MF 59,23/MFMT XI.V (Lieb, Modulationen). Ob auch solche Praxis von romanischen Vorbildern angeregt ist, bliebe zu prüfen (grundsätzlich zum Einfluss romanischer Lyrik auf Veldeke vgl. Bastert, Möglichkeiten). Eine inhaltliche und formale Ausdifferenzierung zwischen beiden Gattungen erfolgte erst mit der Etablierung von Minneklagen und Werbeliedern nach romanischem Vorbild: Mehrtonigkeit, stollige Form und thematische Strophenbindung sind seitdem neben dem spezifischen Thema distinkte Merkmale des Minnelieds, während der Sangspruch zunächst noch bei Eintonigkeit und unstolliger Form und darüber hinaus stets bei thematischer Vielfalt blieb (so bereits Ruh, Spruchdichtung; anders Cramer, Minnesänger, der eine strikte Unterscheidung zwischen beiden Gattungen bereits von Beginn an ansetzt). Die Ausdifferenzierung der beiden Gattungen ist wiederum Voraussetzung für die verschiedenen Formen der Annäherung bzw. der Gattungsmischung, die in der Geschichte von Minnesang und Spruchsang zu beobachten sind; erste und entscheidende Impulse für eine solche Annäherung gingen von Walther von der Vogelweide aus (s.  u.). Die Affinität der beiden Gattungen wurde offensichtlich vor allem dort begünstigt, wo sie von Minnesängern und Spruchdichtern in Personalunion gepflegt wurden. Einzelne Spruchstrophen haben schon Minnesänger des 12. Jahrhunderts, Meinloh von Sevelingen, Dietmar von Eist, Friedrich von Hausen, Heinrich von Veldeke, Bligger von Steinach und Hartmann von Aue, gedichtet, im 13. Jahrhundert kommen nicht nur kleinere Autoren wie Wernher von Teufen (4 Lieder, 1 Spruchstr.), Reinmar von Brennenberg (4 Ldr., 12 Str.) oder der Tugendhafte Schreiber (11 Ldr., 5 Str.) hinzu.

Minnesang 

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Spruch- und Liederdichter sind u.  a. auch Ulrich von Singenberg (31 Ldr., 18 Spruchstrophen), der Tannhäuser (6 Leichs, 7 Ldr., 12 Str.), der Wilde Alexander (1 Leich, 4 Ldr., 24 Str.), Rumelant von Sachsen (3 Ldr., 108 Str.), Frauenlob (3 Leichs, 7 Ldr., über 300 Str.) und Wizlav (16 Ldr., 16 Str.). Annähernd gleich stark vertreten sind Minnesang und Spruchsang freilich nur bei Walther von der Vogelweide (85 Liedtöne, 20 Spruchtöne [davon 5 liedartig, s. unten → Kapitel VI.1], 124 Spruchstrophen), beim Marner (12 [8 + 4 lat.], 10, 59), Konrad von Würzburg (23, 7, 51) und dem Kanzler (14, 5, 44). Bei ihnen treten auch Interferenzphänomene am häufigsten zutage. In Walthers Minnesang mischen sich häufig Themen und Redeformen, die der Spruchdichtung entlehnt wurden (s.  u.) – diese Praxis hat später Ulrich von Liechtenstein von ihm übernommen –, und umgekehrt hat Walther der minnesängerischen Kanzonenform auch im Spruchsang zu kanonischer Geltung verholfen. Der Marner, der Kanzler und Konrad importierten hingegen formalästhetische und motivische Elemente der Liedlyrik in den Spruchsang (s.  u.). Ein letztes Argument dafür, dass man sich Minnesang und Spruchsang als distinkte Gattungen dachte, liefern die Sänger selbst, die sich von der jeweils anderen Gruppe abgrenzen. Berühmt ist Walthers an den „König von Apulien“ gerichtete Lehensbitte L. 28,1, die zwar nicht den Minnesang gegen den Spruchsang ausspielt, wohl aber die Lebensform des fahrenden Spruchdichters mit der des Minnesängers konfrontiert: Während der Dichter von Freudeliedern und Frauenpreis sich am eigenen Feuer erwärmen kann, erleidet der andere die Unbill des Gastes, der spät ankommt und früh davonreiten muss. Gleich zweimal polemisiert Geltar gegen Minnesang und Minnesänger: In KLD 13,I richten sich Spott und Kritik gegen die fehlende Authentizität der Minneklage, die von drei (fahrenden?) Sängern – ihre Namen sind vielleicht fiktiv – vorgetragen wird; die drei seien zu dick, als dass man ihre Klage ernst nehmen könnte. Das Ich in KLD 13,II fordert dazu auf, die Minnesänger zu slahen, die sich mit feinen flämischen Manieren an die Damen heranmachen; es, das Ich, habe alte Kleider und ein Pferd notwendiger als ein Kränzlein, das man sich mit „Gesäusel“ über die frouwen ersingt (zu diesen beiden Strophen KLD, Bd. II, S. 80  f. und Wachinger, Sängerkrieg, S.  96). Der Marner wiederum klagt über sein Publikum, das nicht nur heldenepische Stoffe, sondern auch „höfischen Minnesang“ dem Spruchsang vorzieht (Wms. 7,14; zu weiteren Sprüchen über die Gattung Minnesang vgl. Obermaier, Nachtigallen, S. 134–141). Und Ulrich von Baumburg polemisiert in einem Minnelied standesbewusst gegen die Fahrenden: swer getragener kleider gert, / der ist nicht minnesanges wert (SM 28,6: III,13  f.). Spruchhaftes im Minnesang Spruchstrophen und spruchhafte Sprechweise begegnen nicht nur im frühen Minne­ sang, sondern auffällig oft auch im Minnesang der höfischen Klassik, bei Heinrich von Morungen, Reinmar und Walther (dazu grundlegend Brem, Gattungsinterferenzen). So lässt Heinrich von Morungen in Lied MF 134,14 zunächst im lehrhaften

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

Gestus über Sinn und Unsinn des Frauendienstes räsonnieren, um anschließend die Gegenrechnung aufzumachen, nämlich zu demonstrieren, dass die pragmatischen Erwägungen des Experten der Perspektive des existentiell von der Liebe Betroffenen inkommensurabel sind. Auf die Ratgeberrolle des Spruchsangs referiert auch Reinmar in einigen seiner Lieder, allerdings nur, um sie explizit zurückzuweisen (z.  B. MF 157,1–5, 165,10  f., 170,36  f., 194,34  f.) und damit zugleich eine Gattungsansage zu machen: In Aussicht gestellt wird jeweils ein Minnelied, in dem das Sprecher-Ich sich seine Position diskursiv in einem Reflexionsprozess erarbeitet (Hausmann, Strategien, S. 34  f.). Im Kontrast dazu, aber gleichfalls mit Referenz auf den Spruchsang, tritt das Ich mitunter bei Walther in Erscheinung: In der Rolle des Lehrers und des Liebenden, der Rat sucht, profiliert es sich in Lied L. 45,37 u. 46,32/Bein 23, indem es zunächst Frühlingspreis und Frauenpreis gegeneinander ausspielt und ein emphatisches Bekenntnis zur Geliebten ablegt, sich dann aber die Frage stellt, ob und, wenn ja, wie das Ideal der mâze, das Maßhalten zwischen den Extremen, in der Werbung zu realisieren sei. Mit einer solchen Begriffs- und Wertediskussion öffnet sich das Lied dem Spruchsang, allerdings nur, um die Grenzen der Ethikdiskussion aufzuzeigen: Aus der Sicht des subjektiv Betroffenen erweisen Liebe und mâze sich als nicht kompatibel. Walther nutzt in diesem Lied also Thematik und Sprechmodus des Sangspruchs, um das konventionelle Thema der (‚hohen‘) Minne neu zu instrumentieren und die Idee der auf Gegenseitigkeit angelegten herzeliebe zum Ausdruck zu bringen. Auch sonst ist die Mischung von Themen, Darstellung und Wertungen aus Minnesang und Sangspruch in Walthers Liedkunst häufig zu beobachten. So verallgemeinert sein Preislied L. 56,14 den traditionellen Frauenpreis zu einem Lob deutscher Männer und Frauen und erweitert damit in spruchhafter Manier den herkömmlichen hochminnesängerischen Typus. Dazu passen die verschiedenen Ich-Inszenierungen, vom Boten, der neue Nachrichten bringt, über die Rolle des fahrenden Sangspruchdichters, angedeutet mit dem Motiv der Lohnheische, Selbstanpreisung und auftrumpfendem Gestus, bis zur Rolle des Minnesängers. Kohärenz stiftet der Bezug auf die textexterne, lebensweltliche Ebene, auf Walthers Berufsdichtertum und die tiuschen Männer und Frauen (Müller, J.-D., Willekomen). Ich-Aussagen mit einer Theorie der ‚hohen‘ Minne verknüpft wiederum Lied L. 92,9: Ein niuwer summer, ein niuwe zît; systematisiert und hierarchisiert werden vor allem die von Mann und Frau erwarteten Qualitäten. Strophenfolgen, die Minne-, Gesellschafts- und Kunstreflexion verbinden – deren gattungsspezifische Segmente in der Rezeption aber unter Umständen wieder isoliert wurden –, hat Jan-Dirk Müller, Frouwe, am Beispiel von L. 47,36, 58,21 und 63,32 untersucht (weitere Beispiele wären u.  a. L. 42,15, 90,15, 96,29, 97,34, 112,3). Und eine nochmals andere extravagante Form der Gattungsmischung stellen das Palindrom L. 87,1 und das Lied L. 91,17 dar: das eine ein Appell an Jugend und Erwachsene zu vorbildlichem Verhalten, das andere die Belehrung eines jungen Mannes über die rechte Art zu leben und zu lieben. Der Thematik nach sind beide Sangspruchdichtung, der Form nach Liedlyrik (die Strophenform des Palindroms ist zweiteilig, die Kanzonenform von L. 91,17 ist mit Reinmar MF

Minnesang 

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177,10 identisch). Die Vielfalt elaborierter Interferenzphänomene ist ein Spezifikum der Waltherschen Lyrik. Für den ‚nachklassischen‘ Minnesang hat man weitere Formen der Annäherung an den Sangspruch konstatiert (vgl. dazu die detaillierten textpragmatischen Beschreibungen Rüdiger Schnells). Dazu gehört die mit Gottfried von Neifen einsetzende Entproblematisierung bzw. Eliminierung des sich selbst reflektierenden, in Selbstzweifeln, Schuldzuweisungen und revocationes befangenen Ichs. Wo es entproblematisiert wird, verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf thematischer Ebene hin zur vrouwe, der nun allein die Verantwortung für Frustration und Minneleid zugesprochen wird. Wo das Ich gänzlich verschwindet, führt dies zwangsläufig zu einem Wechsel im Sprechmodus, zu einem generalisierenden und lehrhaften Reden (Schnell, R., Minnesang, S. 293–296), häufig mit der Konstruktion Swer … der, vermehrt aber auch zur Verwendung der Pronomina „wir“ und „uns“, mit denen sich der Sprecher zum Sprachrohr eines Kollektivs stilisiert – ein solches Wir-Konzept realisiert etwa Lied VI des Wilden Alexanders in der Fassung der ‚Jenaer Liederhandschrift‘, während die Version des ‚Codex Manesse‘ am traditionellen Ich-Konzept festhält (nach Worstbrock, Lied VI, ist diese Fassung die textgeschichtlich jüngere, dagegen Schnell, R., Minnesang, S.  295 Anm.  21). Solche Lieder mit einem von der Liebeserfahrung dispensierten Ich, im generalisierenden Aussagemodus, haben vor allem Konrad von Würzburg (Schr. 3–5, 7–12, 16, 17, 20–22 und 29) und der Kanzler (KLD 28,V–XIII und XV; zu diesem vgl. Haustein, Gattungsinterferenzen) gedichtet. Mit diesen Punkten sind gattungsinterne Entwicklungen erfasst, die in der Konsequenz zu einer Annäherung des Minnesangs an den Sangspruch geführt haben. Ob es sich jeweils um ‚echte‘, also kalkulierte, die Gattungsgrenzen bewusst unterlaufende Interferenzen handelt, lässt sich kaum entscheiden. Darüber hinaus verbindet die beiden lyrischen Genera zunehmend das Vordringen des generellen Frauenpreises im Minnesang seit dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts, die Verschiebung des Akzents vom Lob der Einen auf den Lobpreis aller Frauen (Schnell, R., Minnesang, S. 306). In puncto Gattungsmischung noch einen Schritt weiter geht Johannes Hadlaub, wenn er in Lied SM 30,8 den allgemeinen Frauenpreis mit dem im Spruchsang gängigen Herrscherlob, hier einem Lob auf die kunstsinnigen Herren Manesse, kombiniert. Gemeinsam ist beiden lyrischen Genera im späteren 13. Jahrhundert überdies die Zunahme von Apostrophen. Diese unterscheiden sich freilich im Adressaten: Richten sie sich im Minnesang an die Minnedame oder an Frau Minne, so im Sangspruch an Maria, Frau Welt, Gott, Minne, Schmeichler, Herz, Scham, Ehre u.  a.  m. (ebd., S. 304). Offen bleiben muss, ob es sich um Anregungen aus dem Sangspruch handelt oder ob der Minnesang am allgemeinen Trend zur Personifikation und Allegorese partizipiert; zu denken wäre hier insbesondere an die Apostrophen im lateinischen Marienpreis oder in Texten der Mystik. Von eher marginaler Bedeutung sind die Übernahme einzelner sangspruchtypischer Motive – so sind dem umworbenen Mädchen in einem Lied Gottfrieds von Neifen Schilling und Hemd lieber als die Minne (KLD 15,XXX,3,9  f.) – und formale Einflüsse.

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

Was die langen und reimarmen Töne von Neidharts Winterliedern angeht, so dürften sie sich nicht nur dem narrativen Zuschnitt verdanken, sondern auch der Aufnahme reiner Spruchstrophen (Rettelbach, Differenzen, S. 161). Ob hochminnesängerische Einzelstrophen, die es neben dem mehrstrophigen Lied immer schon gegeben hat (vgl. etwa Bernger von Horheim MF 115,27, Morungen MF 147,4 oder Walther L. 47,16) und die Überlieferung vagierender Einzelstrophen aus Minneliedern (vgl. dazu Henkel, Einzelstrophen) das Prinzip der Einstrophigkeit im Spruchsang imitieren, lässt sich nur vermuten. Ein zuverlässiger Indikator für Interferenz sind hingegen Tonnamen für Minnelieder. Das älteste Beispiel ist die Überschrift zu Neidharts Winterlied 23 (WFS 69,25), dit is heren nithardes scillinc, im Neidhart-Fragment O (Anf. 14. Jh.), in Handschrift c heißt das gleiche Lied, das Titelstichwort von O aufgreifend, Der schilling, wohl weil die letzte Strophe vom Fürsten Friedrich eine Verringerung der übermäßigen Abgaben erbittet. Da das Erfinden von Tonnamen eine Praxis der Spruchdichter und Meistersinger ist, hätte man mit der Neidhart-Rezeption eine Schnittstelle zwischen Minnelied und Sangspruch, auch was den möglichen Aufführungskontext angeht (Michael Shields, brieflich). Annäherungen des Spruchsangs an den Minnesang: Formaspekte Die Töne der ältesten Sangsprüche sind denkbar schlicht (vgl. dazu und zum Folgenden auch unten → Kapitel  VI.1): Sie kombinieren vier bis sechs paargereimte dreibzw. vierhebige Kurzverse, zum Teil erweitert um eine Waise und den Strophenschluss durch einen Fünfheber betont (vgl. die Anonymi und ‚Herger‘/Spervogel [= Sper­vogel I bei Brunner (Hg.), Früheste deutsche Lieddichtung und Brunner, Formgeschichte]), oder sie verbinden paargereimte Lang- und Kurzzeilen (Spervogel [= Spervogel II bei Brunner, ebd.]). Diesem Formprinzip folgt Walther von der Vogelweide noch in seinem Reichston, der 24 Reimpaarverse (drei- und vierhebig, die letzte Zeile eine Langzeile) miteinander verknüpft. Mit der Übernahme der dreiteiligen Kanzonenform, die seit dem Rheinischen Minnesang kanonische Geltung hatte, boten sich dem Spruchsang – auch metrisch und reimtechnisch – ganz neue kunstvolle Gestaltungsmöglichkeiten. Ebenfalls vom Minnesang angeregt ist sicherlich die Aufgabe des EinTon-Prinzips; seit 1200 gilt Mehrtonigkeit – ein Autor erfindet für seine Sprüche verschiedene Töne – grosso modo auch im Spruchsang; die Erfindung neuer Töne gilt vielleicht geradezu als Ausweis meisterlicher Kunst. Spruchhafte Einzelstrophen in sieben- oder achtzeiliger, zum Teil angereimter oder durchgereimter Kanzonenform hat erstmals Heinrich von Veldeke gedichtet (vgl. MF 61,1, 61,18, 61,25, 65,13, 65,21, MFMT XI.XXXV, XI.XXXVI; ursprünglich selbständige Sprüche vielleicht auch MF 60,13 und 65,5, die im Verbund mit einer Minnestrophe überliefert sind [dazu Lieb, Modulationen]; zu den Sprüchen Brem, Gattungsinterferenzen, S. 111–132). Die entscheidenden Impulse für eine formalästhetische Neuorientierung der Sangspruchdichtung gingen indes von Walther von der Vogelweide aus. Er selbst hat zwanzig Spruchtöne komponiert  – ebenso viele Töne hat nur der Meißner erfunden  – und

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dabei ausgiebig mit der Kanzonenform experimentiert. Nicht nur baute er wiederholt Formen mit gedoppeltem Abgesang mit und ohne Coda, er nahm auch dem Abgesang durch umfangreiche Stollen Gewicht und Bedeutung (vgl. den König-Heinrichs-Ton) oder er ließ ihn durch die beiden Stollen rahmen (‚Gespaltene Weise‘, vgl. König-Friedrichs-Ton und Kaiser-Friedrichs-Ton). Schule gemacht hat Walther mit seinen eigenwilligen Kanzonenformen freilich nicht. Nachahmer fanden im 13. Jahrhundert vor allem zwei seiner Zeitgenossen, Stolle mit seiner Alment und Bruder Wernher mit seinen Tönen, die genau besehen nur Varianten ein und derselben, der Alment entsprechenden, Grundform darstellen (Brunner, Formgeschichte, S. 43). Die jüngeren Tonerfinder haben zum Teil immer ausladendere Kanzonenformen gebaut, insbesondere auch solche mit einem dritten Stollen (Marner, Friedrich von Sonnenburg, Konrad von Würzburg u.  a.). Als Gegenbewegung zu dieser Entwicklung und als Annäherung an Minnesangformen kann man die kurzen Töne deuten, die seit dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts begegnen. Es handelt sich um Töne, die mit 30 bis 45 Takten den durchschnittlichen Umfang des Sangspruchs mit rund 60 Takten (Rettelbach, Differenzen, S. 154) auffällig unterschreiten. In der Mehrzahl sind die Autoren solch liedähnlicher Spruchtöne auch Liederdichter gewesen, etwa der Marner, Reinmar der Fiedler, Konrad von Würzburg, der Kanzler, Rumelant von Sachsen, der Wilde Alexander, Wizlav und Frauenlob. Liedtöne sind die Töne IV–VI mit insgesamt zwölf Spruchstrophen, die Roethe in seine Ausgabe Reinmars von Zweter aufnahm; sie umfassen 32 bzw. 36 Takte (diese und die folgenden Zahlen nach Brunner, Formgeschichte). Den kürzesten erhaltenen Spruchton des 13. und 14. Jahrhunderts überhaupt erfand Reinmar der Fiedler mit seinem nur 28 Takte zählenden Ton II; baugleich ist Hermann Damens Ton  II, in der Strophenform geringfügig davon abweichend Regenbogens Ton III (ebd., S. 54  f.); Wizlavs Ton VIII, gleichfalls 28 Takte, ist davon unabhängig. Einen schmalen Tonumfang, nämlich 36 Takte, weist auch Ton II des Marners auf, der den Abgesang auf eine einzige Stegzeile reduziert, auf die ein dritter Stollen folgt. Zum Vergleich: Marners Lieder Wms. 3, 4, 6, 7 und 8 bewegen sich zwischen 28 und 39 Takten, der Umfang dreier weiterer Liedtöne nähert sich hingegen dem üblichen der Spruchtöne – wir können also formale Angleichungen nach der einen und der anderen Seite beobachten. Ähnliches gilt für Rumelant von Sachsen, dessen Spruchton III 45 Takte und Ton X 42 Takte zählen, die Liedtöne aber 49 bis 51 Takte. Konrads von Würzburg Ton XVIII bewegt sich mit 46 Takten quantitativ im selben Bereich wie seine Liedtöne, die zwischen 29 und 49 Takte umfassen. Verhältnismäßig kurz sind auch Ton III des Kanzlers, Ton X des Meißners, der einzige Ton des Gasts und Ton II des Hardeggers, Gebilde von sieben oder acht langen Zeilen bzw. Langzeilen und rund 50 Takten. Kurze Spruchtöne dichteten schließlich Boppe (Ton VIII: 43 Takte), der Wilde Alexander (II: 48), Rubin (II: 42), Guter (I: 44), der Unverzagte (II: 40) und schließlich Frauenlob; dessen achtzeiliger Kurzer Ton (XIII) misst nur 32 Takte, während sich der Umfang seiner Minnelieder zwischen 30 und 58 (!) Takten bewegt. Im Kontext der teilweise ausgreifenden Strophenformen wird man annehmen dürfen,

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dass mit den kurzen Tönen jeweils ein neue Aufmerksamkeit der Hörer erzeugender Überraschungs- und Verblüffungseffekt angestrebt war. Von den minnesangaffinen Spruchformen abzugrenzen sind die kurzen Töne der berufsmäßigen Spruchdichter des späteren 14. und des 15. Jahrhunderts, welche die Grundlage für zum Teil sehr lange Spruchlieder bildeten. Den kürzesten Ton in der Geschichte des Spruchsangs überhaupt erfand Michel Beheim mit seiner Kurzen Weise (Ton II: 21 Takte), Ton III (Osterweise) zählt 36 Takte, Ton VIII (Hohe guldin Weise) 40 und Ton IX (Hofweise) 42 Takte. In Richtung Normalmaß tendiert hingegen der Kurze Ton Heinrichs von Mügeln (Ton II) mit 47 Takten. Neben dieser Annäherung der beiden Gattungen auf der Ebene der Makrostruktur gibt es auch, wie Rettelbach (Differenzen) herausgearbeitet hat, solche im Bereich des Versbaus und der Reimtechnik: So regulieren Sangsprüche des 13. Jahrhunderts nach dem Vorbild des Minnelieds allmählich ihre Auftaktverhältnisse; aus ursprünglich fakultativem Auftakt wird ein geregelter. Die Technik kurzer Reimabstände (Anreime, Schlagreim, Pausenreim), im Minnesang erstmals bei Bernger von Horheim (vgl. MF 115,27), dann auch bei Morungen (MF 139,19) und Walther (L. 47,16, 62,6) angewandt, wird im Spruchsang erstmals vom Marner erprobt. Mit Ton VI (nach Str.) borgt er sich nicht nur die Form eines Minnelieds für die Verhandlung spruchsanglicher Themen, sondern setzt auch, zu Beginn des Abgesangs, zweisilbige Anreime ein (bei Wms. 2 ist die Zeile in zwei Verse aufgelöst). Er scheint auch der erste gewesen zu sein, der „in mehreren Sprüchen regelmäßig gesetzte auftaktlose Verse“ baut (Rettelbach, Differenzen, S. 161). Vor allem Konrad von Würzburg adaptierte artistische Formen des Minnesangs für den Spruch: Ton XXIII ist zwar mit 65 Takten durchschnittlich lang, lässt aber die Reime (sechzehnfacher Haufenreim!) in dichtem Abstand folgen, leitet den Abgesang mit einem weiblichen Schlagreim ein und verzichtet ganz auf den Auftakt (ebd., S. 162  f.; zu diesem Ton vgl. auch Haustein, Grenzgänger, S. 254  f.), wie auch in den Tönen  XVIII (Spiegelweise), XIX, XXIV, XXV (Aspiston) und XXXI (Morgenweise). Überhaupt ist Konrad von Würzburg der erste, der den Schlagreim für Spruchstrophen übernimmt (Rettelbach, Variation, S. 228). Einen Pausenreim, der das erste und das letzte Wort einer Strophe verbindet, hatte von den Lieddichtern schon Gottfried von Neifen genutzt (vgl. KLD 15,VI); ob Frauenlob diese Technik in seinem Neuen Ton (GA XI) kopierte oder unabhängig davon in den Spruchsang eingeführt hat, lässt sich nicht entscheiden – solche Reimgriffe sind relativ sprachunabhängig und konnten leicht aus dem Lateinischen oder Romanischen importiert werden; von da hat sie wohl auch Neifen entlehnt. Das Reimkunststück des Goldenen Tons (GA XIII), das Anreime in abundanter Zahl setzt und mit Endreimen verbindet, ist auf jeden Fall in der deutschen Lyrik vorbildlos. In den Minnesang weisen gelegentlich auch die in Sangspruch und Meistergesang gebräuchlichen Tonnamen. Zu erwähnen sind besonders der aus dem Minnesang übernommene, Stolle zugeschriebene Blutton (von bluot ‚Blüte‘, auch als ‚Neidharts Ton‘ bezeichnet; vgl. Rettelbach, Variation, S. 180  f.) und die Frauenlob zugeschriebene Hagenblühweise, die gleichfalls ein typisch neidhartischer Ton ist (ebd., S. 193  f.).

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Schließlich könnte man vermuten, dass die Mehrstrophigkeit, die im Spruchsang schon seit Walther begegnet (vgl. dazu unten → Kapitel VI.2), von der mehrstrophigen Lieddichtung angeregt worden sei. Im Einzelfall mag dies auch tatsächlich zutreffen. In der Regel hat die Mehrstrophigkeit im Spruchsang jedoch inhaltlich-strukturelle Gründe: Strophenübergreifende Texteinheiten dürften vor allem wegen des begrenzten Umfangs der Töne notwendig geworden sein (vgl. etwa das fünfstrophige, über eine Expositionsetymologie aufgebaute Marienlied im Frau-Ehren-Ton Reinmars von Zweter Roe. 235–239). Ob die sich seit Mitte des 14. Jahrhunderts durchsetzende Barbildung allerdings ausschließlich dem Konkurrenzdruck der umfangreicheren Reimsprecherkunst verdankt, darf man füglich bezweifeln (vgl. dazu unten → Kapitel VIII.2). Minnesängerisches im Spruchsang: Inhaltlich-thematische Bezüge Der thematisch äußerst vielseitige Spruchsang adaptiert selbstverständlich auch das zentrale Thema des Minnesangs, freilich in generalisierender und didaktisch-räsonnierender Manier; Reflexion und Klage eines liebenden Ichs, formuliert aus der Perspektive subjektiver Betroffenheit, gibt es so gut wie nicht (vgl. aber Reinmar von Zweter Roe. 24–29 oder Reinmar von Brennenberg KLD 44,IV,1  f., 5  f.). Drei Tendenzen bestimmen die spruchsängerische Auseinandersetzung mit dem Thema Minne: (1) Minnelehre in Form von Unterweisung, Ermahnung oder Warnung zum Zwecke der Aufklärung über rechte und falsche Minne einerseits, der Affektdisziplinierung andererseits; (2) die theoretische „Fixierung, Präzisierung und Systematisierung“ (Egidi, Liebe, Rückseite des Einbands) des Phänomens Minne; (3) der allgemeine Frauenpreis, der von einem vergleichbaren Trend im Minnesang affiziert sein dürfte. Aufgearbeitet ist dieser Themenkomplex bei Egidi, Liebe; eine Zusammenstellung aller thematisch einschlägigen Sangsprüche dort im Anhang, S. 404–415. Zu (1). Ausgeprägt ist das Sprechen über die Minne insbesondere bei Reinmar von Zweter und bei Frauenlob. Doch schon bei Heinrich von Veldeke finden sich einzelne Sangsprüche mit Minnelehre im weitesten Sinn; sie betreffen mehrheitlich die Geltung von Minne und Minnedienst in der Gesellschaft: MF 61,1 ist eine Scheltstrophe über Leichtfertigkeit, MF 61,18 eine Klage über den Verlust rechter, ehrenvoller Minne, MF 65,13 beklagt den allgemeinen Verfall wegen des Niedergangs des Minnedienstes, MF 61,25 kritisiert die Frauenschelte und fordert dazu auf, Verleumdungen zu überprüfen, MF 65,21 übt Kritik an der huote, MFMT XI.XXXV mahnt zu Minnedienst und Frauenlob, und MFMT XI.XXXVI kritisiert die ehrenrührige Verleumdung vornehmer Frauen. Vereinzelt partizipiert auch Walther von der Vogelweide an diesem Diskurs: L. 82,3 etwa fragt nach dem Wesen der Minne und spricht ihr ethische Qualität zu, wobei die Strophe es offen lässt, welche Liebe gemeint ist – die Gottesliebe oder die irdische Liebe –, die zum Himmel führt. L. 102,1 warnt, verbunden mit Sprachkritik, die reinen wîp, ihre Liebe unreifen Männern zu schenken, und appelliert an die personifizierte Minne, den kritisch prüfenden Frauen zur Seite zu stehen. Wenn sich der Junge Spervogel (= Spervogel III) über die unbegreifliche Entscheidung einer Frau bei der

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Wahl zwischen zwei Männern wundert, definiert er indirekt die Qualitäten, die den tüchtigen Werber auszeichnen, und ermahnt die Frauen, klug zu wählen (Brunner [Hg.], Früheste deutsche Lieddichtung, Ton IV). Für ein restriktives bzw. spirituelles Minnekonzept wirbt der Marner in Wms. 7,8; verworfen wird die unkontrollierte Leidenschaft, favorisiert hingegen eine Liebe, die auf gegenseitiger Treue beruht und sich nach dem sehnt, „was sie tief in das Herz des vriundes gesenkt hat“ (v. 19). Der Wilde Alexander warnt wiederum vor übertriebener huote, welche die Frauen in ihrer Freiheit, ja oder nein zu sagen, einschränkt (KLD 1,II,22  f.). Leitlinien für das Verhalten von Liebenden stellte vor allem Reinmar von Zweter auf: So ermahnt Strophe Roe. 40 die Frauen, sich nur einem integren Mann anzuvertrauen und Liebe und Leid in güete zu tragen; Roe. 44 und 45 handeln über das rechte Werben von Mann und Frau und über ehrenhaftes bzw. unehrenhaftes Verhalten; Roe. 272 lehrt, wie man sich die Liebe zu einer Frau verdient; Roe. 282a warnt die Jungen vor der Liebe alter Frauen, und Roe. 330–336 unterrichten über die Gefahren der Minne und den richtigen Umgang damit. Frauenlob wiederum ermahnt in GA VI,9 die Frauen, sich vor missverständlichen Worten und sprenzeln, unzuverlässigen Männern, zu hüten (mit ähnlichen Warnungen, in Turniermetaphorik, GA VI,11), vor allem aber räsonniert er über die Innennormen der Liebe: In GA V,100 übermittelt er die Klage der Minne über die Frauen, die wünne versäumen, und benennt zucht und scham als ideale weibliche Qualitäten; GA VI,10 verlangt Offenheit beider Liebespartner und warnt, mit Hilfe paradoxer Bilder, vor Falschheit in der Liebe; GA XIII,37–41 ermahnen die Frauen, die Tugendhaften und nicht die richen argen zu lieben; GA XIII,45 und 46 reflektieren über die Scham als Hindernis in der Liebe und GA XIII,47 und 48 über das rechte Verhalten des Liebenden, dem zucht, bescheidenheit und Treue abverlangt werden. Zu (2). Nicht minder zahlreich und widersprüchlich fallen die Versuche aus, das Wesen der Minne zu ergründen sowie deren Entstehung und Wirkungen zu beschreiben, wobei vielfach Topoi und andere literarische Muster verwendet werden. Die beliebte Methode der Begriffsexplikation kommt auch hier zum Zug. Während Walther in L.  81,31 die Minne noch für undefinierbar, wenngleich heilsnotwendig erklärte, verbindet Reinmar von Zweter in Roe. 32 Lobpreis und Begriffserklärung: Minne sei das beste wort, übergulde aller Tugenden, Lehrmeisterin reiner Sitten usw. In immer neuen Anläufen versucht man auch das Phänomen in seiner Ambivalenz zu fassen: Dass die Minne eine allgegenwärtige Lebensmacht sei, behauptet etwa Roe. 65: Niemand lebe ohne sie, handle er auch töricht oder weise, doch Gottes Huld und Ehre seien höher zu bewerten. Die Allmacht der Minne und ihr Janusgesicht konstatiert Roe. 30 – sie bezwinge Arm und Reich und bringe Freude wie Leid. Der Meißner wiederum unterscheidet in Obj. II,10 drei Arten der Liebe, die unterschiedlich Freude und Leid bereiten: die nicht bekannt gegebene, die abgewiesene und die gegenseitige, (noch) nicht erfüllte. In einer Strophe, die den Entstehungsprozess der Minne in den Mittelpunkt rückt, schreibt der Litschauer diese Faktoren freilich verschiedenen Instanzen zu: Die Minne schmerze, die das Begehren entfachende Frauenschönheit tue gut (C.-W. I,5). Wenn Konrad von Würzburg in Schr. 32,106 die Entstehung der

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Minne mit Metaphern des Raubs und Diebstahls beschreibt, erklärt er sie zu einem gewalttätigen Akt. Der Meißner ruft sie hingegen in Strophe Obj. III,1 in ihrer topischen Doppelfunktion als Aggressor und Heilerin an, deren Liebespfeil durch das Auge der Frau in das Herz des Mannes dringt. Als Stufenweg über Blick, Kuss und Umarmung, vielleicht in Anlehnung an die gradus amoris des Andreas Capellanus, beschreibt der Junge Meißner die Entstehung der Liebe (Pep. A I,5). Wiederum andere diskursive Mittel wählt Frauenlob, der in GA VIII,15 das Zusammenwirken der für die Entstehung der Liebe zuständigen Instanzen als „Kettenreaktion“ und den im Inneren des Ichs ausgetragenen Konflikt als einen – durch den triumphalen Sieg Amors beendeten – „Rechtsstreit“ (Egidi, Liebe, S. 173 u. 177) inszeniert. Andere heben die das Herz erfreuende, pazifizierende oder pädagogische Wirkung der Minne hervor: So preist Reinmar in Strophe Roe. 50 die Minne als eine Macht, die Einheit stiftet unter zweien, Roe. 268 vergleicht die Wirkung der Minne auf das Herz eines Mannes mit den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster dringen und das Haus erhellen, und Roe. 31 bestätigt der Minne erzieherische Funktion und ihrer Schule den Vorrang vor allen anderen Schulen. Als „Hort der Tugend“ rühmt sie der Junge Meißner (Pep. A I,6), verknüpft sein Lob aber mit dem Warnbeispiel von Pyramus und Thisbe. Gleich mit einem halben Dutzend biblischer und antiker Exempelfiguren wartet Heinrich von Mügeln in Spruchlied Stmn. 218–220 auf, um vor der verderbenbringenden Minne zu warnen, während das Lied Stmn. 381–383 die Minne als illusionäre, den Verliebten zum Sklaven machende Kraft kritisiert, diese Kritik dann aber mit Ausblick auf den nobilitierenden Effekt der Minne – die Blicke der Geliebten vermögen dem Mann hoen mut zu verleihen – unterläuft. Eine Sonderstellung nimmt in diesem Kontext Frauenlobs strophische Dichtung ‚Minne und Welt‘ ein, eine sangspruchmäßige Disputation über den Vorrang der beiden Prinzipien (s. unten → Kapitel VII.11), die sich dem in der Spruchdichtung ab etwa 1250 zu beobachtenden Trend zur Gelehrsamkeit anschließt und die Auseinandersetzung mit der Minne damit gleichsam auf ein wissenschaftliches Niveau hebt. Zu (3). An dem im 13. Jahrhundert im Minnesang um sich greifenden Trend zum allgemeinen Frauenpreis scheint auch der Spruchsang partizipiert zu haben, wobei neben dem uneingeschränkten Frauenpreis auch der mit Ermahnung oder Tadel verbundene Lobpreis begegnet. Ersterer gibt Antwort auf die Frage, warum Frauen grundsätzlich zu preisen sind; letzterer formuliert die Bedingungen, unter denen der Frauenpreis gelten soll, weshalb solche laudative Rede auch Bestandteil von Minnelehren sein kann (vgl. Egidi, Liebe, S. 185–187). Zahlreiche Argumente haben die Preisstrophen des Sangspruchs mit denen des Minnelieds gemeinsam: Herausgestellt werden schœne und güete der Frau, also ihre ästhetischen und ethischen Qualitäten, die Funktion der Frau als Freudebringerin und Garantin irdischen Glücks, für den Einzelnen wie die Gesellschaft, schließlich auch ihre Rolle als Repräsentantin höfischer Werte (ebd., S. 187). In der Umsetzung dieser Leitgedanken bestand indes eine große diskursive Vielfalt. So behilft sich Reinmar von Zweter, der die meisten Frauenpreisstrophen vor Frauenlob gedichtet hat, in Strophe Roe. 34 mit dem Unsag-

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barkeitstopos: Die reinen wîp seien strahlender als die Sonne, niemand könne sie zur Genüge loben oder ihr Lob dichten (ähnlich auch, allerdings in Form der Klage, der Kanzler KLD 28,II,9). Roe. 35 arbeitet mit Analogien: Eine Frau, die sich stets vor unziemlichem Tun und Verhalten bewahrt habe, sei wîp, vrouwe unt engel: wîp sei sie in Bezug auf ihren Leib, vrouwe wegen ihrer inneren und äußeren Vollkommenheit (tugende), ein Engel in puncto Reinheit. Roe. 36 knüpft an diesen Aspekt an und faltet ihn weiter auf: Das Lob der Frau setzt reinez leben voraus, d.  h. zuht, senfte site, schame, erbermede, güete, kiusche. Diese Eigenschaften machen die vrouwe zum wîp, eine Aussage, die bereits auf den wîp-vrouwe-Streit vorausdeutet. Auf ein mariologisches Fundament stellt hingegen Roe. 37 den Frauenpreis – Gott sei von der Jungfrau geboren, die Frauen übertreffen darum alle anderen Geschöpfe Gottes –, begründet die Vollkommenheit der Frau also nicht intrinsisch, sondern biblisch (der gleiche Gedanke beim Kanzler KLD 28,II,12). Die Unübertrefflichkeit der Frau hebt auch Roe. 39 heraus: Die Liebe einer reinen Frau zähle mehr als die Kaiserwürde. Weltliche und geistliche Sinnebene verknüpft Roe. 43, wenn der Frau mehr Heilkraft als heiligem Wasser zugestanden wird: Die Frau besänftige mit güete den Zorn des Mannes, lindere Liebesnot und sei Schutzschild vor Bedrückung und schlechter Laune (ungemüete; Ähnliches auch in Roe. 48). Spätere Spruchdichter umkreisen diese Themen in immer neuen Varianten: So lobt auch Konrad von Würzburg die Frau, die mit güete in der Nacht, aber auch mit liebevollem Blick männliche ungemüete zu lindern weiß (Schr. 31,96), während Süßkind von Trimberg die Frau rühmt, die ihrem Mann die Treue hält und damit seine Ehre bewahrt (KLD 56,III,2). Ein neues Argument bringt der Meißner in Strophe Obj. II,8 ins Spiel, wenn er die Rolle der Frau als Gebärerin geltend macht: Dreifach sei die biderbe Frau gekrönt, zum einen sei sie schön, liebenswürdig und im Wohlverhalten engelgleich, zum anderen spende sie Freude, und schließlich seien wir alle von einer Frau geboren, verdanken ihr also unsere Existenz. Ein eigenes Profil haben die Preisstrophen Frauenlobs, welche die Preiswürdigkeit der Frau systematisch in Anaphernreihen, mit aparten Metaphern und Titulaturen oder einem Netz begrifflicher Responsionen evident machen, gelegentlich auch, wie in GA VIII,*19  f., mit Anspielungen auf den Schöpfungsakt und die Inkarnation (Egidi, Liebe, S. 216– 245). Die Strophen, die man dem wîp-vrouwe-Streit zurechnet (GA V,102–106 u. 111–113 wohl von Frauenlob, GA V,107–110 gelten als Gegenstrophen), liefern nicht nur (gegen Walther L. 48,38 gerichtete) Begründungen für den Vorrang der vrouwe vor dem wîp und entsprechende Gegenargumente, sie gehen auch über den herkömmlichen Frauenpreis deutlich hinaus. Denn insofern sie die Frage erörtern, welches der angemessene Begriff für das zu preisende Objekt sei und dafür etymologische Herleitungen vornehmen, also ein wissenschaftliches Verfahren anwenden, wird die Sprache selbst thematisch und wird damit auch die Kunst des Frauenpreises selbstreferentiell (Egidi, Liebe, S.  249). Der Sangspruch nach Frauenlob nähert sich in einer Hinsicht dann noch weiter dem Minnelied an. Denn zumindest die Spruchlieder in Tönen Regenbogens favorisieren einen Frauenpreis, der nun wieder einem von der Minne Betroffenen in den Mund gelegt wird (vgl. Baldzuhn, Minne).

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Entlehnung und Umsemantisierung von Minnesangmotivik Eine systematische Erfassung und Analyse der aus dem Minnesang entlehnten Motivik steht noch aus. Die folgenden Beobachtungen können deshalb nur kursorischen Charakter haben. Auffällig oft, bis weit in das 15.  Jahrhundert hinein, verwenden Sangspruchdichter Tageliedmotivik, was gewiss auch der langen Produktivität dieses Liedtyps geschuldet ist. Auf das tageliedspezifische Szenario spielt schon Reinmar von Zweter in seinem Frauenpreis Roe. 30 an, wenn die Sprechinstanz empfiehlt, eine reine Frau zu lieben und sich nicht um den Abschied am Morgen zu sorgen; das ist Aufforderung zur Affektkontrolle und Warnung vor der Tageliedminne zugleich. Ohne solche kritischen Implikationen kommt hingegen Boppes Anspielung auf den Morgensegen beim Abschied nach gemeinsam verbrachter Nacht aus (Alx. V,5,9). Eine Umsemantisierung von Tageliedmotiven nimmt Reinmar der Fiedler in Refrain und Strophe 4 von KLD 45,I vor, wenn der üblicherweise die Trennung der Liebenden anmahnende Weckruf nun an die Herren gerichtet ist, sich um Ehre zu bemühen und nicht zu säumen; neben Fürstenkritik und -ermahnung mag dies auch ein dezenter Hinweis auf angemessene Entlohnung des Sängers sein. Mit einer Allusion auf das Tagelied beginnt auch die Lobstrophe Rumelants von Sachsen auf den bairischen Herzog Ludwig II. den Gestrengen: Durch swarze nacht ûf dringet liecht der morgen grâ (Ruw. II,13,1), sie vergleicht also den Fürsten mit dem heraufziehenden Tag und erhebt ihn damit zur Lichtgestalt. Die Spruchlieder des 14. und 15. Jahrhunderts übersetzen Tageliedmotive öfters in einen geistlichen Kontext: So weisen zwei Weihnachtslieder in der Schallweise Ehrenbotes bzw. im Goldenen Ton des Kanzlers Tageliedmotivik auf (RSM 1 Ehrb/2/6a; 1Kanzl/2/502), ein geistliches Wächterlied wurde im Langen Ton Ulrich Eislingers gedichtet (RSM 1Eisl/2). Doch hat schon Reinmar von Zweter in einem mit einer Warnung vor dem Jüngsten Gericht verknüpften Weckruf an den Christenmenschen (Roe. 219) Tageliedmotive kontrafaktisch ins Geistliche gewendet. Kaum weniger auffällig ist die Adaptation des Natureingangs in spruchsanglichen Strophen und Liedern insbesondere Konrads von Würzburg. Die Strophen seines Tons XIX nähern sich durch den sommerlichen Natureingang entsprechenden Sommerliedern an, Ton XXIII und XXXI mit dem motivischen Pendant den Winterliedern. Sommerlicher und winterlicher Natureingang werden aber mit spezifischer Spruchthematik verbunden: mit der Schelte geiziger Herren und dem Lob der Mildtätigen, die nicht viel haben in XIX, mit Fürstenlehre, Schelte von Geiz und Heischethematik in XXIII, mit dem Thema Ehre und Schande, Geiz und milte in XXXI. Alle drei Töne artikulieren, hinter aller vordergründigen Thematik, pragmatische Eigeninteressen; in allen Fällen wird indirekt, durch die elaborierte Kunstform, vermittelt, dass die reichen Mäzene ihrer Aufgabe – der Förderung von Kunst und Künstler – besser nachkommen sollten (Haustein, Grenzgänger, S. 255 zu XXIII). Imitiert hat diese Kombination der Kanzler in seinem Lied KLD 28,XIII, der gleichfalls auf den Wintereingang nicht die übliche Minneklage, sondern die Klage über fehlende Großzügigkeit und die Herrschaft der schande folgen lässt.

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

Eine ältere Praxis ist schon bei Walther von der Vogelweide zu beobachten: die Umsemantisierung traditioneller Frauenpreismotivik. Walthers Einlassbitte L. 20,31 im Wiener Hofton vergleicht den umworbenen Fürsten ‚blümend‘ mit „wohltuenden, segensreichen Naturerscheinungen“ (Schw., S. 469): Er ist dem Sprecher-Ich ein süezer regen (v. 8), eine schœne wolgezieret heide, / dar abe man bluomen brichet wunder (v. 10  f.), eine milterîchiu hant (v. 13) und eine süeze ougen weide (v. 14) – es sind dies fast immer Epitheta und Metaphern, die üblicherweise im Kontext des Minnesangs verwendet werden. Noch weiter geht Rumelant von Sachsen in Ruw. IV,16: In dieser Strophe erfreut sich der auf milte hoffende Sprecher an Männeraugen, die Sternen gleichen, und an einem gruoz von eines süezen herren munde (v. 10); den Mäzen rückt er damit an die Position, die im Minnelied der umworbenen Geliebten zukommt. Die Wolken- und Lichtmetapher in Ruw. VI,5 – eine dunkle Wolke schiebt sich vor einen strahlenden Stern und entzieht diesen den Blicken des Ichs – dürfte gleichfalls der Minnelyrik entlehnt sein, zu denken ist an Morungen MF 133,37; mit dem Glücksstern ist ein Braunschweiger Fürst gemeint. Mit einem von Lied X des Tannhäusers inspirierten Katalog unerfüllbarer Wünsche der Minnedame macht sich hingegen Boppe in Alx. V,2–6 über das höfische Sprechen über die Liebe lustig, insbesondere über den Minnedienst und die ihm zugrundeliegende Ideologie, und seine Strophe Alx. I,18 reiht – durch prominente Beispielfiguren symbolisierte – männliche Tugenden, aber nur, um festzustellen, dass die Zuneigung der Geliebten dem allen vorzuziehen sei. Die programmatische Intention solcher Minnesangreminiszenzen muss in jedem einzelnen Fall bestimmt werden; sicherlich werden sie auch eingesetzt, um kalkuliert Hörererwartung zu unterlaufen, also mit einem Überraschungseffekt zu spielen. Das trifft schließlich auch auf Strophen über die Gottesliebe zu, die sich der höfischen Liebessprache bedienen. So stellt der Ich-Sprecher in Roe. 19 zunächst die These auf, kein Liebender wolle, dass andere um die Gunst seiner Dame dienen, bekennt dann aber, dass seiner Dame alle Christen dienen und dies mit seinem Einverständnis, denn bei ihr, Maria, liege die wahre Minne. Roe. 20 empfiehlt dem, der minniclîchen und obendrein sündenfrei liegen wolle, dieses ‚Bett‘: auf bloßen Knien die Jungfrau anzurufen und sie zu bitten, ihn um ihrer güete willen zu erhören. Eine geistliche Minnelehre enthält auch Roe. 166: Wer nach der Minne site minnt, zu dessen Minne gehöre milte. Das habe der erwiesen, der wie kein anderer hôher minne phlac: Jesus. Roe. 278 appelliert an die Frauen, den zu minnen, des minne durch diu herze gründet, der noch nie eine Frau betrogen und sein Blut durch minne in iuwerm dienste vergossen hat. Mit der Polyvalenz der Rede spielt schließlich auch der Meißner in Obj. XVI,7: Die das Ich in seinem Herzen liebt, sollte die ganze Welt lieben, denn sie schenkt vil richer minnen solt. Die Bitte um sündentilgende Reuetränen vereindeutigt, was zuvor zwischen weltlichem und geistlichem Sinn oszilliert. Ausg. Alx.; Brunner (Hg.), Früheste deutsche Lieddichtung; C.-W.; GA; KLD; L.; L./Bein; HWF; MF; MFMT; Obj.; Pep.; Ruw.; Roe.; Schr.; Schw.; Stmn.; Wms. – Lit. Baldzuhn, Minne; Bastert, Möglichkeiten; Brem, Gattungsinterferenzen; Brunner, Formgeschichte; Cramer, Minnesang; Cramer, Minnesänger; Egidi, Liebe; Egidi, Minnelied; Grubmüller, Gattungskonstitution; Hahn,



Lehrhafte Dichtung 

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Walther; Hausmann, Strategien; Haustein, Gattungsinterferenzen; Haustein, Grenzgänger; Henkel, Einzelstrophen; Huber, C., Spruchhaftes; Hübner, Frauenpreis; Lieb, Modulationen; Müller, J.-D., Frouwe; Müller, J.-D., Ir reinen wîp; Müller, J.-D., Willekomen; Nellmann, Spruchdichtung; Obermaier, Möglichkeiten; Obermaier, Nachtigallen; Peil, Wîbes minne; Rettelbach, Differenzen; Rettelbach, Variation; Ruh, Spruchdichtung; Schnell, R., Minnesang; Schweikle, Minnesang; Wachinger, Sängerkrieg; Worstbrock, Lied VI.

2 Lehrhafte Dichtung

Sandra Linden

Im mittelalterlichen Literaturverständnis stellt Lehrhaftigkeit eine grundlegende Dimension literarischer Poetik dar. Da der mittelalterliche Literaturbetrieb nicht streng zwischen Gebrauchstexten und einer explizit ästhetisch ausgewiesenen Literatur trennt, bedienen ganz unterschiedliche Gattungen das Register lehrhaften Sprechens, so auch der Sangspruch. Aufgrund des „intermedialen Status der Gattung“ Sangspruch (Wenzel, F., Souveränität, S. 170 Anm. 12) hat die Frage nach Wechselbeziehungen zu anderen literarischen Gattungen schon früh die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden, wobei – schon allein über die formale Gemeinsamkeit der sangbaren lyrischen Form  – vor allem Interferenzen zwischen Sangspruch und Minnesang betrachtet wurden, wie sie sich beispielhaft im Duvre Walthers von der Vogelweide zeigen (vgl. → Kapitel IV.1). Walthers Nachdenken darüber, wes man zer werlte solte leben (L. 8,10), ist nicht nur Thema des Reichsspruchs, sondern zugleich die zentrale Frage der Gattung Lehrdichtung, die den pragmatischen Anspruch der Belehrung über einen literarisch geformten Text umsetzt. Im Folgenden sollen Lehrdichtung und Sangspruch, verstanden als zwei verschiedene Möglichkeiten eines lehrhaft-diskursiven Sprechens, auf Ähnlichkeiten untersucht werden. Wie Walther als Autorfigur die Verbindung zwischen Spruchdichtung und Minnesang stützt, lässt sich eine ähnliche Personalunion auch für Sangspruch und Lehrdichtung finden: Vom Tannhäuser sind nicht nur Sprüche, Minnelieder und Leichs überliefert, sondern auch eine ‚Hofzucht‘ in 264 Versen, die neben Reimpaaren kreuzgereimte Viererversgruppen erkennen lassen (s. unten → Kapitel VII.5). Allerdings ist diese ‚Hofzucht‘ nicht in der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C bezeugt, sondern in einem Überlieferungszusammenhang spätmittelalterlicher Kurzerzählungen, nämlich in der Wiener Handschrift Cod. 2885 (fol. 39v–41v) und in der eng verwandten Innsbrucker Handschrift Ferdinandeum Cod. FB 32001 (fol. 26ra–27rb). Obwohl es sich um eine zusammenhängende Lehre handelt, die vor allem Tischregeln betrifft, bezeichnet Tannhäuser sie als eine Sammlung von sprüchen: die sprüche sint von grôzer zuht, / die halten sol der edele man, / und sint von manger ungenuht, / die man dar an erkennen kan (Hofzucht, v. 9–12). Daneben gibt es einen Sangspruch Tannhäusers (Sieb. XII,5), in dem er mehrere allgemeine Lehrsätze

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aufzählt, die der weise Mann dem Kind vermitteln soll. Auch wenn die thematische Ausrichtung der Lehren in beiden Fällen nicht deckungsgleich ist – hier die konkrete Tischzucht, dort die umfassende Lebenslehre –, ist doch auffällig, dass Tannhäuser beide Gattungen für ein lehrhaftes Sprechen nutzt. Während er im Spruch das konkrete Gespräch mit du-solt-Forderungen gestaltet, wählt er in der Lehrdichtung eher verallgemeinernde swer-der-Formulierungen, doch der didaktische Impetus, der auf eine Verhaltensänderung des Rezipienten oder zumindest auf eine gedankliche Auseinandersetzung mit dem vorgestellten Ideal zielt, ist in beiden Texten identisch. Die Bezüge zwischen den Gattungen Sangspruch und Lehrdichtung sollen zunächst in einem systematischen Zugang benannt und dann über eine Beispielreihe illustriert werden. Dass Lehre sowohl als Wissensvermittlung als auch im Sinne einer ethischen Unterweisung zum Programm der Spruchdichtung gehört, offenbart bereits ein kurzer Blick in das Register des RSM, wo das Lemma ‚Lehre‘ zusammen mit Unterkategorien wie Ständelehre, Jugendlehre, Ehelehre usw. mehrere Spalten füllt; hinzu kommen Belege eines gnomischen Sprechens, die unter einzelnen Themen wie den Tugenden und Lastern, aber auch unter allgemeinen Lebensbereichen, Verhaltensformen und Dingen versammelt sind. Entsprechend notiert Janota: „Ganz sicher an der Spitze des funktionalen Repertoires steht die Didaxe, die Belehrung auf allen nur denkbaren Gebieten, die das ewige, das körperliche und das gesellschaftliche Heil betreffen“ (Forschungsaufgaben, S.  10  f.). Eine basale Gemeinsamkeit des gnomischen Sprechens in beiden Gattungen liegt im Beobachten einer Differenz von Ideal und Realität, d.  h. im Blick auf die nicht perfekte Welt und im Nachdenken über Verbesserungsmöglichkeiten. Während die Lehrdichtung mit ihrem affirmativen Regelkanon grundsätzlich von einer Machbarkeit ausgeht, argumentiert der Sangspruch häufig problematisierender, was vielleicht auch mit der weniger gefestigten Autorität des Ichs zusammenhängt: Während der Lehrdichter häufig die unhinterfragte Legitimität klerikaler Gelehrsamkeit für sich reklamiert, muss sich das Sangspruch-Ich die eigene Autorität erst im Dichten konstruieren, formuliert oft weniger verallgemeinernd, sondern selbstreflexiv aus einer persönlichen Erfahrung heraus. Die Rolle des Fahrenden sichert dabei den kritischen Blick von außen, im breiten Spektrum der Sangspruchrollen, die Claudia Lauer fast durchgängig über verschiedene Lehrformen systematisiert (geistliche Lehre, weltliche Lehre, politische Lehre usw.), findet sich auch der „Moraldiener“ (Sänger-Rollen, S. 291; vgl. auch oben → Kapitel III.5). Zudem entwickelt der Sangspruch vor allem nach 1300 einen Anspruch auf meisterschaft, die einem laikalen Bildungskonzept verpflichtet ist (Hübner, Hofhochschuldozenten, S. 72) und als Gegenmodell zum klerikal autorisierten Wissen auftritt (besonders deutlich etwa die Gegenüberstellung der Sängerfiguren Klingsor und Wolfram im ‚Wartburgkrieg‘; vgl. auch → Kapitel V.4). Mitunter kann der Sangspruchdichter auch über das Vorbild des biblischen Weisen Autorität herstellen, wie Volfing (wisheit) für Heinrich von Mügeln gezeigt hat; zu verschiedenen Sprecherrollen in Walthers Spruchdichtung s. auch → Kapitel VII.1. Mit unterschiedlichen Legitimierungsstrategien konstruieren die



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Spruchdichter so die Position eines wissenden Sprechers, die eine Grundkonstante der Gattung darstellt und Möglichkeiten lehrhafter Vermittlung eröffnet. Stilistisch ergeben sich Parallelen zwischen Sangspruch und Lehrdichtung, indem sie häufig Stilmittel des argumentativen Besprechens und der appellativen Geste nutzen (z.  B. Antithese, Parallelismus, das Argumentieren mit Sentenzen und deren vertiefender Auslegung, Begriffsbildung, Anapher, Amplifikation, Apostrophe, Aufzählung, rhetorische Fragen, Personifikation usw.). Allerdings ist die Lehrdichtung stärker auf inhaltliche Transparenz und leichte Verständlichkeit, oftmals auch auf einfache Memorierbarkeit der einzelnen Anweisungen ausgerichtet und nutzt in diesem didaktisch motivierten Streben nach Evidenz deutlich weniger rhetorischen Schmuck als der Sangspruch. Der normative Anspruch, der auf eine theoretische Einsicht und oft auf die praktische Verhaltensänderung des Publikums zielt, ist primärer Dichtungszweck der Lehrdichtung; sie verfolgt eine systematische Konzeption und Präsentation der Lehrinhalte und verwendet besondere Mühe auf die Modellierung des didaktischen Prozesses. Im Vergleich dazu ist der Lehranspruch der Spruchdichtung schon aus Gründen der Form punktueller und oftmals pointierter, tendiert der fahrende Berufssänger zwecks Aufmerksamkeitslenkung zu einer engagierten Rede, die in der Unmittelbarkeit des Auftritts – hic et nunc – überzeugen muss. Dass in der Lehrdichtung eine Lehrautorität ihre moralischen Überzeugungen vorstellt und zur Nachahmung anempfiehlt, ist eine pragmatische Äußerungsform, die keinerlei Inszenierung suggeriert. Ganz ähnlich lässt sich auch für den Sang­spruch eine Reihe von Äußerungsformen eher pragmatisch-performativ denn als literarische Inszenierung auffassen, so etwa Fluch- und Klagestrophen, Ermahnungen usw. Beide Gattungen dichten deutlich wirkungsbezogen und kalkulieren mit einer dynamischen Publikumsinstanz, bemühen sich daher um einen möglichst treffenden Adressatenbezug: So isoliert die Lehrdichtung häufig einzelne biologische oder gesellschaftlichsoziale Gruppen (Frauenlehre, Ritterlehre usw.), und auch die Spruchdichter versuchen, ihren Sang auf den Adressaten abzustimmen, und dichten den spehen scharf, dem slechten weich nach der witze stiure (Frauenlob GA V,114). Die Neigung des Sangspruchs zur Diskursivität lässt sich auch durch die formale Beobachtung stützen, dass die Sangspruchtöne im Vergleich zum Minnesang in der Regel deutlich umfangreicher angelegt sind (mehr Verse, teilweise mehr Langzeilen), so dass sie mehr Raum bieten, um ein Thema diskursiv zu entfalten (Haustein, Grenzgänger, S. 251), sich zudem schon vor der Barbildung Strophenreihen mit einem gemeinsamen Oberthema greifen lassen. – Nach dieser Reihe gemeinsamer oder paralleler Gattungsmerkmale sollen im Folgenden einige Beispiele aus der Gattung Lehrdichtung schlaglichtartig über je ein charakteristisches Merkmal eine Verbindung zum Sangspruch illustrieren.

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Die Winsbeckischen Gedichte. Überlieferungsgemeinschaften Der ‚Winsbecke‘, eine um 1210/20 entstandene strophische Vater-Sohn-Lehre aus dem Bereich ritterlich-höfischer Ethik, die wohl später entstandene ‚Winsbeckin‘, in der Mutter und Tochter den richtigen Umgang mit der Minne besprechen, sowie die ‚Winsbecken-Parodie‘ bilden zusammen die Winsbeckischen Gedichte. Die Überlieferung ordnet die sangbaren Strophen mehrfach in den Kontext der Spruchdichtung ein: Im ‚Codex Manesse‘ sind die Winsbeckischen Gedichte vor dem ‚Wartburgkrieg‘ plaziert, die ‚Kleine Heidelberger Liederhandschrift‘ bietet sie, getrennt durch einen Marienpreis, vor Sprüchen des Jungen Meißners, die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ (Cgm 4997), die auf Spruchdichtung und Meistergesang spezialisiert ist, nimmt die Winsbeckischen Strophen ebenfalls auf (sie bietet auch die Melodie), und in der ‚Wiener Leichhandschrift‘ (Cod. 2701) sind sie mit Reinmar von Zweter und Frauenlob vergesellschaftet. Der ‚Winsbecke‘ „folgt in strophischer Anlage und lehrhaftem Inhalt Gepflogenheiten der Sangspruchdichtung“ (Schanze, ‚Winsbecke‘, Sp. 1227), entsprechend sind sämtliche Strophen im RSM verzeichnet. Die Ratschläge des Vaters, die von der Gottesverehrung über die Führung von Haus und Hof bis zu einzelnen Tugenden reichen, lassen sich ohne Mühe in das Themenrepertoire der Sangspruchdichtung einordnen, die mütterliche Lehre passt zu den vielfältigen Berührungen des Sangspruchs mit dem höfischen Minnediskurs, und auch die umgekehrte Tugendlehre der ‚WinsbeckenParodie‘ hat Parallelen, etwa bei Stolle (Zapf J. 10) und dem Meißner (Obj. VII,4) sowie in Regenbogens Langem Ton (RSM 1Regb/4/612) oder in der Morgenweise Konrads von Würzburg (RSM 1KonrW/6/523). Zugleich lässt der durch das Muster des Lehrgesprächs gegebene Zusammenhang zwischen den Strophen aber ebenso gut eine Einordnung als fortlaufendes Lehrgedicht zu, lassen sich die einzelnen Lehrsätze als lehrhaftes Kompendium mit einem argumentativen Ablauf und einer inhaltlichen Systematik wahrnehmen. Die Winsbeckischen Gedichte sind somit ein Beispiel für die vielfältigen Übergangsformen zwischen Spruchdichtung und Lehrdichtung. Die Tatsache, dass die Miniaturen in der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ kein Autorenportrait bieten, vielmehr das Lehrgespräch zwischen Vater und Sohn bzw. Mutter und Tochter abbilden, mag dieser spezifischen Zwischenstellung der Winsbeckischen Gedichte geschuldet sein. Freidanks ‚Bescheidenheit‘. Der Sprechspruch als Wissensfundus Freidanks Sprüche haben keine sangbare Form, sondern sind meist paargereimte Sprechsprüche von zwei oder vier Versen, die konsensfähiges Erfahrungs- und Orien­ tierungswissen sowie grundlegende Lebensregeln vermitteln. Die kurzen Sätze, die sich stellenweise zu einer komplexen Strophe verbinden lassen, kann man direkt neben die frühe gnomische Spruchdichtung von ‚Herger‘/Spervogel I stellen (aufgrund solcher Ähnlichkeiten stellte Pfeiffer, F., Freidank, S. 47  ff., die mittlerweile widerlegte These auf, dass 60 Freidank-Verse von Spervogel stammen; Wilhelm Grimm hielt ‚Freidank‘ gar für einen Decknamen Walthers von der Vogelweide). Die grundlegende



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Sinneinheit ist zunächst der einzelne Sprechspruch, doch wird diese Basis zu größeren thematischen Einheiten erweitert und dann in der Rezeption einer Themenserie als Buch wahrgenommen. Aus der thematisch geordneten Reihung der Einzelsprüche entsteht vor allem durch einen systematisierenden Zugriff der Redaktoren ein locker gefügtes Lehrgedicht, und so kann Hugo von Trimberg im ‚Renner‘ Freidanks Werk einmal als sprüche, ein andermal als buoche benennen (in Kombination in v. 15385– 388: Swer dirre sprüche mêre wil suochen, / der frâge nâch hêrn Frîdankes buochen, / der manigen spruch gesprochen hât / von der werlde missetât). In der schriftlichen Großform erhält die Sprüchesammlung dann ganz parallel zu moraldidaktischen Summen wie Thomasins von Zerclaere ‚Welschem Gast‘ oder Hugos von Trimberg ‚Renner‘ eine personifizierte Sprechinstanz und stellt sich als Lehrwerk selber vor: Ich bin genant Bescheidenheit, / diu aller tugende krône treit. / mich hât berihtet Frîdanc; / ein teil von sinnen die sint kranc (v. 1–4). Obwohl sämtliche Freidank-Sammlungen mit diesem Vorspruch beginnen, wurde diskutiert, ob er nachträglich hinzugefügt wurde – eine Unsicherheit, die gut zu einer Veränderung in der Rezeption der Sprüche passt. Die Rezeption sieht den Verfasser der Sprüche primär als lehrhaften Autor, lobt weniger seine künstlerische Exzellenz als seine Verständigkeit und die tiefe Wahrheit seiner Aussagen. Der sinnerîche Vrîdanc (Rudolf von Ems, Alexander, v. 3235) ist als Wissensfundus, den man zitierend heranzieht, für Sangspruch und Lehrdichtung gleichermaßen Garant einer unwidersprochenen Wahrheit und avanciert zu einem sicheren Erfahrungsschatz, auf den man kommentierend zurückgreifen kann (wie zentral die geschickte Integration fremder Quellen in der Poetik der Lehrdichtung verankert ist, zeigt eine Bemerkung in Thomasins ‚Welschem Gast‘, v. 115–125). Wachinger hat Freidank-Spruchreihen bei Marner, Frauenlob und Heinrich von Mügeln analysiert (Spruchreihen), in Hugos ‚Renner‘ lassen sich 192 Freidank-Sprüche nachweisen (Heiser, Autorität, S. 232, vgl. auch Rosenplenter, Zitat, und Leitzmann, Freidankzitate), und auch in Bezzenbergers Freidank-Ausgabe zeigen Verweise auf Parallelstellen die Breite der Bezüge zu beiden Gattungen auf. Die Formel Des muoz ich als her Frîdanc jehen (Hugo von Trimberg, Der Renner, v. 2122) entwickelt sich zu einer beliebten Autorisierungsstrategie lehrhaften Sprechens, zugleich begegnet die spruchartige Kleinstrede als Element innerhalb der lyrischen Gattung Sangspruch. Indem beide aus ihm schöpfen, lässt sich die ‚Bescheidenheit‘ als ein Substrat ansehen, das Sangspruch und Lehrdichtung verbindet, und so entfaltet Freidank eine Präsenz, die beide Gattungen prägt. Thomasins von Zerclaere ‚Welscher Gast‘. Rationaler Lehrdiskurs versus politische Propaganda Der 1215/1216 entstandene ‚Welsche Gast‘ des Hofklerikers Thomasin von Zerclaere, der rund 15 000 Reimpaarverse in zehn Bücher mit etwa je zehn Kapiteln ordnet, ist eine systematische und umfassende höfische Verhaltenslehre, die zu den Großformen volkssprachiger Lehrdichtung zählt. In der Beispielreihe der Verbindungslinien zum

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Sangspruch zeichnet sich das moraldidaktische Kompendium vor allem dadurch aus, dass es sich explizit mit Positionen des Sangspruchs auseinandersetzt, nämlich mit der Papst-Kritik Walthers von der Vogelweide. Walthers Scheltstrophen im Unmutston sind ein Beispiel kunstvoller polemischer Rede: Sie zeigen das Ich nicht in der Position des kühl urteilenden Weisheitslehrers, der mit erhobenem Zeigefinger Kritik an der päpstlichen Spendenpraxis und der politischen Einflussnahme übt. Stattdessen erteilt Walther mit dem aufmerksamkeitsträchtigen Eingangsvers Ahî, wie kristenlîche nû der bâbest lachet (L. 34,4) dem Papst selbst das Wort, der sich dann durch seine eigene Rede ins Unrecht setzt. Einen ähnlich aggressiven Ton schlägt die in Handschrift C folgende Strophe L. 34,14 mit einer Apostrophe an den personifizierten Opferstock an, dem unrechtmäßige Bereicherung und Veruntreuung des Geldes vorgeworfen wird (vgl. dazu unten → Kapitel V.3 und umfassend Padberg, Kirchenkritik). Thomasin, Parteigänger des kritisierten Papstes Innozenz  III., kennt Walthers Scheltstrophen und weist die Kritik im ‚Welschen Gast‘ als sachlich falsch zurück (v. 11163–11190). Zwar behauptet er eine grundsätzliche Wertschätzung Walthers, den er – ironisch? – als guote[n] kneht (v. 11191) und liebe[n] vriunt (v. 11231) betitelt, doch zielt sein Vorwurf darauf, dass Walther mit der falschen Rede seiner eigenen Dichtung geschadet habe, dass die Fehlinformation über den Papst auch Zweifel am Wahrheitswert seiner übrigen Aussagen aufwerfe: dâ mit er hât gemacht enwiht / manige sîne rede guot (v. 11198  f.). Thomasin ordnet den Sangspruchdichter in die Gruppe der Herren, Dichter und Prediger ein, die aufgrund ihrer Öffentlichkeitswirkung eine besondere Verantwortung für ihre Worte tragen (v. 11201–11218), d.  h., er sieht den Sangspruch als publizistisches Organ und wirft Walther eine Verletzung der Sorgfaltspflicht bei der Recherche vor. Dem Dichter kommt eine signifikante Verantwortung für die öffentliche Meinungsbildung zu, und Walthers Fehler liegt darin, dass er die Öffentlichkeit falsch belehrt hat, drastischer formuliert: er hât tûsent man betoeret (v. 11223). Im Ärger des Weisheitslehrers über den wortgewandten Propagandisten zeigt sich hier eine in der Zahl vielleicht übertriebene, aber dem Kommunikationsmuster nach durchaus realistische Einschätzung einer Massenwirksamkeit der Gattung Sangspruch. Thomasin geht zudem davon aus, dass seine Rezipienten mit den Papststrophen Walthers vertraut waren, d.  h., er setzt für Sangspruch und Lehrdichtung ein identisches Publikum an. Dass Thomasin sich in der Verantwortung sieht, eine sachliche Korrektur der Äußerungen Walthers vorzunehmen, zeigt, dass er für beide Gattungen dieselben Aufgaben und Kompetenzen ansetzt, nämlich die Welt bzw. die aktuelle politische Situation zu beobachten und ein auf Fakten basierendes, wahres Urteil abzugeben. Hugos von Trimberg ‚Renner‘. Wertschätzung des Sangspruchs Der ‚Renner‘ des Bamberger Schulmeisters Hugo von Trimberg ist mit 24000 Versen ein moraldidaktisches Kompendium; es wurde um 1300 abgeschlossen und bis 1313 ergänzt. In einem Literaturexkurs (v. 1179–1244) nennt Hugo nach einer Aufzählung



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von Minnesängern mit Walther von der Vogelweide als Übergangsfigur auch eine Reihe von Sangspruchautoren. In diesem Katalog ist weniger der ästhetische Wert der Dichtung entscheidend, sondern der Lehrdichter verteilt seine Anerkennung nach dem didaktischen Nutzen eines Werks. Über die Sangspruchdichter urteilt er im Vergleich zu den Epikern, die nur Lügen verbreiten (Swer des geloubt, der ist unwîs, v. 1226), positiv, denn in ihren Werken finde man tugent, zuht und êre, / Hübscheit der werlde und ouch die lêre, / Von der sîn leben wirt genême / Und selten ieman widerzême (v. 1239–1242). Nach Walther, über den es heißt, dass er zwar nicht reich an Besitz, wohl aber rîch sinniges muotes (v. 1190) war, folgen Herr Reinmar, mit dem wohl eher Reinmar von Zweter als Reinmar der Alte gemeint ist, sowie ein nicht genau identifizierbarer her Peterlîn (v. 1191), danach der Marner und Konrad von Würzburg: Doch rennet in allen der Marner vor, Der lustic tiutsch und schœne latîn, Alsam frischen brunnen und starken wîn Gemischet hât in süezem gedœne. Meister Cuonrât ist an worten schœne, Diu er gar verre hât gewehselt Und von latîn alsô gedrehselt, Daz lützel leien si vernement: An tiutschen buochen diu niht zement. (v. 1198–1206)

Hugo schätzt beide Autoren für die Kombination von Deutsch und Latein, d.  h., er favorisiert den Dichter in der Rolle des Gelehrten (zur Kritik Hugos an Konrad von Würzburg im Zusammenhang mit den oben zitierten Versen vgl. aber Miedema, Compilator, S. 157–159, und Haustein, Metaphern, S. 148  f.). Über die Betonung eines spezifischen Rollenprofils nähert er den Sangspruchdichter dem gängigen Autorentypus der Lehrdichtung an, allerdings mit dem Unterschied, dass er für den Sangspruch eine besondere Meisterschaft der Form reklamiert. Die im Literaturkatalog formulierte Vorliebe für den Marner zeigt sich an anderer Stelle auch im direkten Zitat (v. 16183–16210), wenn Hugo mit geringen Abänderungen Marners Klage zitiert, das Publikum wolle nur noch Heldendichtung und nicht mehr seine Lieder hören (Wms. 7,14; dazu ­Haustein, Marner-Studien, S.  31–36). Im ‚Renner‘ erhält die Aufzählung des vom Publi­kum geforderten Vortragsrepertoires lediglich einen etwas anderen Kontext, indem sie vor der Sünde der lazheit warnt (vgl. Cuadra, ‚Renner‘, S. 185  ff.). Die Wertschätzung, die Hugo der Gattung Sangspruch entgegenbringt, zeigt sich nicht nur in poetologischen Kommentaren oder im direkten Zitat, sondern sie findet auch eine Entsprechung in der Form des ‚Renners‘: Zwar verfügt das Werk über eine strikte Grobgliederung nach einzelnen Lastern, doch zeigt sich innerhalb der Struktur ein durchaus assoziatives Vorgehen (Grubmüller, Esopus, S. 262), das mit kleineren Sinneinheiten arbeitet, die oft die ungefähre Länge einer Strophe einnehmen (vgl. v. 15901–15909, 15910–15918, 15919–15930). Der ‚Renner‘ scheint – anders als etwa Thomasins ‚Welscher Gast‘ – nicht für die fortlaufende Lektüre bestimmt,

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sondern eher zum Lesen in Abschnitten (Schweikle im Nachwort der ‚Renner‘-Edition, S. 313  f.), d.  h., das Werk ist zwar per Kompilation eine moraldidaktische Summe, doch ist dies nicht auf den Charakter der einzelnen Passagen abzubilden. Und so verwundert es nicht, dass Goheen ihn als eine „Großform der Spruchrede“ (Mensch und Moral, S. 3) bezeichnet und auch Cuadra feststellt: „Die Sangspruchdichtungszitate stehen gleichsam Modell für Hugos eigene, oft sentenzhafte Verspaare, die in ihrer lockeren Reihung an Spruchstrophen erinnern, und die zum unabgeschlossenen Charakter des ‚Renners‘ beitragen“ (‚Renner‘, S. 191  f.). Konrad von Haslau: Ein Lehrdichter in der Sangspruchrolle Konrads von Haslau knappes Lehrgedicht ‚Der Jüngling‘ (1264 Verse, um 1270/80 entstanden) bietet im Inhalt gängige Anweisungen einer adelig-höfischen Erziehungslehre wie das gute Benehmen bei Tisch, die Pflege der äußeren Erscheinung, die Warnung vor Trunksucht und Würfelspiel. Das Konzept einer Pfennigbuße, bei der die Zöglinge dem Erzieher ein Entgelt zahlen müssen, wenn sie gegen die beschriebene Norm verstoßen haben, führt zu einer Untergliederung des Textes in strophenähnliche Abschnitte, die jeweils mit der formelhaften Aufforderung zur Zahlung schließen, d.  h., auch diese Lehrdichtung ist in kleinere gedankliche Einheiten untergliedert. Konrads Lehrgedicht ist für die Beispielreihe interessant, weil das Ich hier nicht die in der Lehrdichtung übliche Rolle der unhinterfragten Lehrautorität bzw. des weisen Erziehers übernimmt, obwohl der Verfasser des ‚Seifried Helbling‘ ihm durchaus den Titel meister zubilligt (‚Seifried Helbling‘ II,443). Vielmehr inszeniert sich das Ich als Fahrender und Besitzloser (‚Der Jüngling‘, v. 25  ff.), der zum Lebensunterhalt nicht nur auf die Pfennigbuße angewiesen ist, sondern auch getragene Kleidung als Lohn akzeptiert. Demjenigen Zögling, der nach mâze und êre strebt, wird statt der Pfennigbuße die Kleidergabe erlaubt: so wil ich im den pfenninch borgen, / und teile mir mit sine kleider. / die gibet der bose mir niht leider (v. 1180–1182). Mit den Existenzproblemen des Fahrenden und der Annahme von getragener wât spielt Konrad hier auf die typische Sangspruchdichterrolle an. Das muss nicht auf eine historische Realität deuten, wie Tauber (Konrad von Haslau, Jüngling, S. IXf.) vermutet, sondern zeigt zunächst, dass Konrad die Spruchdichterrolle des besitzlosen Fahrenden als eine Ich-Inszenierung einschätzt, die für sein Dichtungsziel einer lehrhaften Vermittlung höfischer Normen geeignet ist. In ihrer Konstruktion der Erzieherfigur greift die Lehrdichtung hier also auf eine Rollenvorgabe der Spruchdichtung zurück. ‚Seifried Helbling‘. Politisches Engagement in der Lehrdichtung Der ‚Seifried Helbling‘ ist als didaktischer Entwurf über das Thema der Psychomachie strukturiert und vereint 15 Gedichte von sehr unterschiedlicher Länge, die zwischen 1283 und 1299 entstanden sind. Acht Gedichte zeigen ein Ich, das im Lehrgespräch auf Fragen seines Knappen antwortet – eine gängige Lehrsituation, die zu Beginn des ersten Gedichts mit dem ‚Lucidarius‘ verglichen wird und dann auch den textinternen



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Titel ‚Kleiner Lucidarius‘ motiviert (‚Seifried Helbling‘ I,24  ff.). Neben den Lehrpassagen im engeren Sinne enthält der ‚Seifried Helbling‘ aber auch eine aktuelle Gesellschaftskritik in spöttisch-bissigem Ton, wie sie den meisten Lehrdichtungen in ihrem rational-distanzierten Argumentationsgang eher fremd ist. Sei es im Aufruf an die österreichischen Adligen, Herzog Albrecht gegen die Ungarn zu unterstützen (VI), sei es in der Klage gegen Rudolf von Habsburg und der Kritik an der Habgier des Adels (V) oder im Vorwurf an die Österreicher, dass sie andere Völker nachäffen (XIV) – der Verfasser zeigt sich als genauer Kenner der österreichischen Landespolitik und formuliert eine scharfe und treffende Kritik. Die Lehrdichtung wird hier um den Modus der politischen Propaganda aus einer konservativen Perspektive erweitert. Anders als Konrad von Haslau distanziert sich der Verfasser des ‚Seifried Helbling‘ dabei explizit von fahrenden Sängern, weil sie sich unter sprechenden Namen wie Miltengruoz, Miltenrât oder Miltenfriunt (II,1337, 1341, 1345) mit falschen Lobgesängen bei den Herren einschmeicheln (vgl. die Rede der personifizierten Mâze in II,1327  ff.). Auch wenn der ‚Seifried Helbling‘ sich gegenüber der aktuellen Dichtung der Fahrenden reserviert zeigt, ist dies doch weniger eine konzeptionelle Kritik als vielmehr eine, die den Wahrheitsgehalt des Inhalts betrifft. Von der in der Gattung Sangspruch etablierten Praxis, in ästhetisch-literarischer Form aktuelle politische und soziale Fehlentwicklungen aufzuzeigen und zu kritisieren, macht der ‚Seifried Helbling‘ durchaus reichlich Gebrauch. Diese pointierten Belehrungen über aktuelle Missstände in der Gesellschaft scheinen sich im zeitgenössischen Literaturgeschmack problemlos mit Lehrdichtung im engeren Sinne, wie sie sich in den Frage-Antwort-Gedichten zeigt, kombinieren zu lassen und deuten wiederum auf Verbindungen zwischen beiden Gattungen. Resümee Die Reihe der Beispiele sollte einige Übergangsformen und Berührungspunkte zwischen beiden Gattungen aufzeigen: Die Lehrdichtung rezipiert und verarbeitet Vorgaben der Spruchdichtung, während diese sich thematisch nicht selten als lyrische Form mittelalterlicher Lehrdichtung verstehen lässt. Beide Gattungen neigen zum diskursiven Sprechen und verfolgen eine „Lehrhaftigkeit als Vermittlung von Wissen und als Handlungsanleitung zum Lebensvollzug“ (Huber, C., Lehrdichtung, S. 107) – die Lehrdichtung als ihre wesentliche Aufgabe, der Sangspruch als einen zentralen Bereich in einem vielfältigeren Repertoire. Doch wenn es auch zu zahlreichen Überschreitungen und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gattungen kommt, handelt es sich um zwei differente Redeformen, die sich aus der unterschiedlichen Aufführungssituation ergeben: Ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Gattungen liegt im Anspruch der Lehrdichtung auf Systematik, während der Sangspruch ausschnitthaft argumentieren kann und nicht den Anspruch einer vollständigen Lebenslehre vertritt. Auch wenn beide sich im diskursiven Entfalten eines Themas ähneln, argumentiert der Sangspruch eher vom kon-

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kreten Faktum aus, zielt die Lehrdichtung stärker auf eine allgemeine Normativität. Während die meist für die Schriftlichkeit konzipierte Lehrdichtung ein Argument in der Breite entfalten kann, muss der Sangspruchdichter seine Botschaft aufgrund der Kürze der Form in wenigen Sekunden oder Minuten aufmerksamkeitsträchtig beim Publikum platzieren; der effektvolle Auftritt soll über die gezielt formulierte Pointe die Zustimmung des Rezipienten sichern. In diesem Bemühen um eine schnelle Wirkungsintensität greift der Spruchdichter dann auch zu rhetorischen Mitteln der Persuasion, die eine reguläre Lehrkommunikation übersteigen. Das engagierte Sprechen des Sangspruchs und die distanzierte Normativität der Lehrdichtung sind somit bei allen Berührungspunkten zwischen den Gattungen zwei durchaus differente Positionen, von denen aus man sich dem Ziel einer lehrhaften Vermittlung im mittelalterlichen Literaturbetrieb annähern kann. Ausg. Freidank; GA; Hugo von Trimberg, Renner; Konrad von Haslau, Jüngling; L.; Obj.; Rudolf von Ems, Alexander; Seifried Helbling; Sieb.; Str.; Tannhäuser, Hofzucht; Thomasin von Zerclaere, Welscher Gast; Winsbeckische Gedichte; Zapf. – Lit. Bastert, ‚Winsbecke‘; Cuadra, ‚Renner‘; Goheen, Mensch und Moral; Grubmüller, Esopus; Haustein, Grenzgänger; Haustein, Marner-Studien; Haustein, Metaphern; Heiser, Autorität; Huber, C. Lehrdichtung; Hübner, Hofhochschuldozenten; Janota, Forschungsaufgaben; Lauer, C., Sänger-Rollen; Leitzmann, Freidankzitate; Miedema, Compilator; Padberg, Kirchenkritik; Pfeiffer, F., Freidank; Rosenplenter, Zitat; RSM; Schanze, ‚Winsbecke‘; Volfing, wisheit; Wachinger, Spruchreihen; Wenzel, F., Souveränität.

3 Fabel

Gerd Dicke

Aspekte der Gattungstradition Einer Traumstimme folgend, im Warten auf die Hinrichtung die Musen zu pflegen, habe Sokrates, so Platon (‚Phaidon‘ 60d–61b; Übers. Friedrich Schleiermacher), erstmalig in seinem Leben gedichtet: „weil ich bedachte, daß ein Dichter, wenn er ein Dichter sein wolle, Fabeln dichten müsse und nicht vernünftige Reden, und ich selbst nicht erfindsam bin in Fabeln, so habe ich deshalb von […] den Fabeln des Aisopos, die, welche mir eben aufstießen, in Verse gebracht.“ Sokrates’ Umgang mit der Fabel, seinem Inbegriff von Dichtung, folgt dem primären Bewegungsgesetz ihrer Gattungsgeschichte: Nicht nur ‚Erfindsamkeit‘ macht den Fabeldichter, sondern auch die produktive Poetisierung der ältesten, die Gattung begründenden Erzähleinfälle. Die Tradition nennt sie äsopische, nicht weil der als historische Person fragliche, der Fama nach 564/3 v. Chr. in Delphi hingerichtete Sklave Äsop das Erstrecht an kleinen Geschichten mit anthropomorphisiertem Tierpersonal hätte, die sich in paränetischer Exempelfunktion schon vor ihm rhetorisch appliziert finden, sondern weil er sie mit großem Überzeugungseffekt eingesetzt und durch Sammlung und Literarisierung als eigenständige Gattung etabliert haben dürfte. Zwar ist kein äsopisches biblíon erhal-

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ten, Aristophanes’ Rüge in den ‚Vögeln‘ (v. 471), die Athener hätten ihren Äsop ‚nicht gebüffelt‘, ist aber nur im Sinne einer schulisch eingeführten Lektüre zu verstehen. In jedem Fall ist der Schulunterricht noch bis in heutige Curricula primärer Funktionsort für das aus Mesopotamien zugewanderte, auf babylonischen Schreibtafeln schon des 19. Jahrhunderts v. Chr. überlieferte Genre der Fabel und ihre Gebrauchskonstante über Jahrtausende. Schreiben nach Diktat, Memorieren, Elementargrammatik, Prosodik, Glossieren, Metrisieren, Paraphrasieren sowie immer auch das uneigentliche Verständnis der Fiktion im Sinne von mores und ‚Moral‘ bestimmen das äsopische Pensum von den Progymnasmata griechischer Rhetorenschulen über Quintilians ‚Institutio oratoria‘ bis in die Lektürekanones des schulischen wie universitären mittelalterlichen Triviums. Zwar haben Phaedrus, Babrios und Avian, die zentralen spätantiken Vermittler äsopischen Fabelguts an das Mittelalter (zur Sammlungsgeschichte Grubmüller, Esopus, Kap. II; Dicke, Aesop) ihre Versifizierungen mit künstlerischer Ambition und nicht für den Unterricht ins Werk gesetzt, je schulmäßiger aber ihr Stilwille und Versbau, umso erfolgreicher sind sie wie Avians Distichen (ca. 140 Hss.) entweder im Original oder auf verwickelten Überlieferungswegen in bearbeitenden Wirkformen in den Schulbetrieb eingegangen. So auch mit größter Verbreitung (um 190 Hss., gut 60 Inkunabelauflagen) die preziösen Fabel-Distichen des sog. Anonymus Neveleti, ein wohl im 12. Jahrhundert aus der Phaedrus-Prosifizierung des Romulus gearbeitetes Musterbuch in rhetorischem Zierrat, das zum ‚eigentlichen Äsop‘ des Mittelalters wurde. Ob im Primarcurriculum der pueri oder zur Verhaltenslehre im Sekundaralter traktiert (Grubmüller, Esopus, S. 90–97): wer Schulbildung besaß, hatte seine rezeptive Literaturbefähigung, die zur produktiven die Basis legte, in der Regel an Fabeln erworben. So wundert es nicht, dass die beiden zentralen lateinischen Corpora des Mittelalters ab dem 13. Jahrhundert zur wichtigsten Quelle auch der volkssprachigen Fabeldichtung wurden, auf die der Einfluss der zahllosen lateinischen Schulkommentare mit ihren expositiones ad litteram oder sensum, ihren allegoriceund moraliter-Auslegungen jüngster Forschung zufolge (Wright, Latin Commentary; Baldzuhn, Schulbücher; Nöcker, Proverbium) kaum zu überschätzen ist. Die Predigt war das wichtigste Popularisierungsinstrument, auch die illiterati mit Äsop bekannt zu machen. Sie bedient sich der Fabel in ihrer originären Gattungsaufgabe, als rhetorisches Überzeugungsmittel in der Exempelfunktion, Musterfälle für menschliche Eigenart und den regelhaften Gang der Dinge vorzuführen. Der Predigtbetrieb stellte dazu Dutzende lateinischer Exempelmagazine bereit, welche die Texte der Gattungscorpora sowie tierepische Stoffe anwendungsbezogen – etwa nach Themenbegriffen der Tugenden und Laster oder der Todsünden – systematisierten und oft geistlich glossierten (Grubmüller, Esopus, S. 97–111). Mit der Allbekanntheit der Gattung rechnen somit die zahlreichen Fabeldarstellungen in romanischer und gotischer Architektur und Sachkultur (Lämke, Tierfabeln; Schlecht, Fabelstoffe). Oft als rahmende Beigabe zeigt die Fabel hier funktionale Nähe zum Sprichwort: Ihre Akteure verbildlichen Erfahrungsregeln über die conditio humana und den Weltlauf. Ob auf dem Teppich von Bayeux, im Ratssaal von Perugia, im Reichenhaller Kreuzgang oder

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am Hauptportal des Petersdoms: der Kranichkopf im Wolfsrachen ist ikonographische Formel für den Undank des Stärkeren. Bereits die ersten Gattungsanklänge im dritten Viertel des 12.  Jahrhunderts  – ein Fabelinserat in der ‚Kaiserchronik‘ (v. 6854–6921; DG 281) und Sprüche im Ton ‚Hergers‘/Spervogels (= Spervogel  I) (s.  u.)  – zeigen das volkssprachige Genre an die Reimpaar- oder die Spruchform gebunden. Bis Anfang des 15. Jahrhunderts die Prosa als Formalternative hinzutritt, machen die Spruchversionen rund ein Zehntel der Fabelbelege aus, während für den Großteil ab dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts der am Vorbild lateinischer Versfabeln orientierte, exemplarisch-didaktische Reimpaarbîspel-Typ des Strickers gattungprägend wird, der die Fabel in einen Erzähl- und Auslegungsteil aufgliedert und mit anderen gleichnishaften Kleinformen vergesellschaftet. Etwa im ‚Wiener Fabel- und Bîspelcorpus‘, in der ‚Liedersaal‘-Sammlung und im ‚Karlsruher Fabelcorpus‘ entfaltet er anonyme produktive Wirkung, bevor das an den lateinischen Schulcorpora geschärfte Gattungsbewusstsein mit Boners ‚Edelstein‘ um 1350 eine erste aus Aesopica kompilierte Kollektion mit novellistischen Einsprengseln hervorbringt. Der ‚Wolfenbüttler Äsop‘ Gerhards von Minden (1370, mnd.) etabliert den Typus der Reimpaarübersetzung eines kompletten lateinischen Ausgangscorpus, der sich im 15. Jahrhundert im Umfeld von Schule und Predigt in diversen Sammlungen fortsetzt, bis Heinrich Steinhöwels zweisprachiger ‚Esopus‘ von 1476/77 die prominentesten lateinischen Gattungsvertreter des Mittelalters im Druck zu einer Leben, Werk und Wirkung Äsops dokumentierenden ‚Gesamtausgabe‘ vereint und in frühneuhochdeutsche Prosa bringt. Außerhalb der Sammlungsverbünde und literarisch appliziert, ist die mittelhochdeutsche Reimpaarfabel als Gleichnis oder Exempel beansprucht und findet als Rede- oder Erzähleinlage in verschiedenen Genres argumentativ-persuasive Verwendung, so in der Epik (Hartmanns ‚Erec‘, Wittenwilers ‚Ring‘), in Lehrgedichten (Thomasins von Zerclaere ‚Welschem Gast‘, Hugos von Trimberg ‚Renner‘) und in Lehrdialogen (‚Seifried Helbling‘, Johannes’ von Tepl ‚Ackermann‘), in der Spiegel-Literatur, in Schachallegorien, Chroniken, Predigten usw. An die Gattungsgrenze zum Sprichwort rücken die paargereimten ‚Fabelrudimente‘ in Freidanks ‚Bescheidenheit‘ (1. Drittel 13. Jh.), die nur selten auf äsopische oder tierepische Stoffe rekurriert und Fabelhandlungen kaum je auserzählt, ihre Sentenzen aber häufig wie deren Fazit präsentiert: Swâ der wolf gerihtes pflege, / da gên diu lember von dem wege (Freidank 137,15  f.; Grubmüller, Esopus, S.  229–239). Im Stofflichen wie in der pointierten Diktion zeigen die Fabelsprüche des mutmaßlichen vagus Freidank markantere Gemeinsamkeiten mit ihren Sangspruch- als mit ihren ReimpaarPendants. Das könnte auf ähnliche Performanzbedingungen deuten, die zwar für beide Formtypen weitgehend im Dunkeln liegen, für die Spruchfabeln aber merklichere Vortragsimplikationen vermuten lassen, die etwa Publikums- und Zeitbezüge eröffnen, als für die eher buchliterarischen Bîspel- und Fabelcorpora. Durch die Ich-Rolle, auch die Existenzweise seiner Autoren, durch seine Illokutionsformen und thematischen Konventionen verwandelt sich der Sangspruch das alte Genre gemäß seiner Gattungs-

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gegebenheiten an (Teschner, bîspel, S. 197  f.) und gewinnt damit denen der Fabel neue hinzu. So zeigt der Vergleich, dass tongebundene Fabeln stofflich weniger traditionsverhaftet und auch mündlicher Überlieferung, insbesondere dem Sprichwort, näher sind als paargereimte: Nur gut die Hälfte entstammt dem äsopischen Fundus und bietet seine Plots weit variationsfreudiger dar, während ca. ein Viertel auf Neuerfindungen der Spruchdichter und der Rest auf Tierepik-Anleihen zurückgehen, die in Reimpaarfabeln seltener sind. Bezeichnend für den eher subsidiären Status der Fabel im Sangspruch ist auch, dass sie zu reichlich mehr als einem Drittel ihrer Belege auf Anspielungen und gnomische Komprimate reduziert wird, die oft als rhetorisches Probationsmittel und Situationsargument fungieren. Die beschränkte Durchlässigkeit des Spruchs für das Narrative bedingt weitere, nurmehr fabelähnliche, weil handlungslose Relikte, die Sentenzen oder Sagworte fabulös vermenschlichter Tiere ‚zitieren‘ (etwa Mügeln, Stmn. 199: ein wibel wold, das ouch ein kever were  / der louw). Anders als manchen Zweizeilern Freidanks liegen ihnen keine gnomisch ‚kondensierten‘ Fabeln zugrunde. Fabel im Sangspruch des 12. und 13. Jahrhunderts Wie angedeutet, haben nur die wenigsten der im Älteren Teil des RSM erfassten Spruchdichter Fabeln im Repertoire; sie machen zudem eher spärlichen Gebrauch davon: „Häufig sind es (wie z.  B. bei Reinmar von Zweter und Konrad von Würzburg) nur ein oder zwei Sprüche […], die mit Fabeln zu tun haben. Gustav Roethes auf Reinmar gemünzte Feststellung von der ‚stiefmütterlichen Behandlung der Fabel‘ [Roe., S. 242] gilt für die gesamte Spruchdichtung zwischen Herger und Heinrich von Mügeln“ (Grubmüller, Esopus, S. 240). Letzterer steht mit seinen gut 20 Fabeln und Anspielungen für die Ausnahme von der Regel, gefolgt von sechs Fabeln Frauenlobs, rechnet man zwei vage Allusionen mit ein. Insgesamt stehen für 18 Autoren des Älteren RSM-Teils samt den Anspielungen und kleinsten Reflexen auf Fabelnaturen wie das Bibelwort vom Wolf im Schafspelz oder des Meißners Ouch tt nach sime kunne der wolf (Obj. I,5) bis 1400 nur ca. 65 Fabelbelege zu Buche, fünf weitere in Tönen des ‚Wartburgkrieges‘ (vgl. DG; etwa ein Drittel Belege weniger im RSM, Bd. 15, Reg. s.  v. ‚Fabel‘, das Anspielungen in der Regel nicht erfasst). Auch sind es wenige Fabelstoffe, derer sich die alten Meister bedienen: „Weniger als 7 % der Fabeln mit bekannter Tradition finden Eingang in die Sangspruchdichtung“ (Obermaier, Fabel, S. 245). Und es sind „z. T. recht entlegene Stoffe“ (Sparmberg, Fabel, S. 94), ja gerade die bekanntesten Fabeln, ‚Wolf und Lamm‘ etwa, auch der fleischtragende ‚Hund am Wasser‘ (DG 632, 307), bleiben im Sangspruch marginal. All dies hat die Frage nach den Gründen dafür (ebd., S. 93  f.; Grubmüller, Esopus, S. 239–252; Obermaier, Fabel) umso mehr stimuliert, als man aufgrund ‚wesenhafter‘ Affinitäten beider Genres – didaktischer Impetus und praeceptor-Gestus der Autorrollen, prägnante Diktion, brevitas, zweiteiliger Bau (Erzählteil/Morale, Auf-/Abgesang) – stärkere Anziehungskräfte des Sangspruchs auf die Fabel und größere Kompatibilität beider erwarten würde. Die Erklärungsversuche

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haben gattungsimmanente Divergenzen vor allem im distinkten Lehr- und Sprechmodus der Genres (Obermaier, Fabel) und ihre unterschiedlichen literatursoziologischen und Performanz-Faktoren (Grubmüller, Esopus) betont, die der Fabel als Triviumsstoff und Predigtmärlein ein im literarischen Stratum der Hof- und Adelskultur even­tuell mäßiges Gattungsprestige eintrugen. Warum das Gros ihrer angestammten Stoffe keine Verwendung im Sangspruch fand, beantworten am ehesten jene, die man ihm integrierte bzw. neu hinzuerfand. Obermaier (Fabel, S. 245  f.) sondierte die meistverwerteten mit dem Ergebnis, dass sie „den Bedürfnissen der Sangspruchdichtung mehr entgegenkommen als andere“, da sie auch in sprichwörtlicher Verknappung umliefen (‚sich mit fremden Federn schmücken‘ u.  ä.) und/oder thematischen Kernen des Sangspruchs anschließbar waren. Er zieht besonders Fabeln an, die – ich typisiere in anderer Begrifflichkeit als Obermaier – die Prätention artfremder Anlagen (‚Esel in der Löwenhaut‘, ‚Rabe in Pfauenfedern‘, ‚Wolf im Schafspelz‘; DG 117, 470, 642) sowie die Unhintergehbarkeit der natürlichen behandeln (‚Wolf beim Schachspiel‘, ‚… als Hirte‘, ‚Krebs und Kind‘; 640, 619, 364), die Herrschaftsfragen durchspielen (‚Königswahl der Frösche‘, ‚Krähe und Löwe‘, ‚Kröte bei Königswahl der Tiere‘; 162, 356, 168) sowie Wettstreite vor allem um Rang und Sangestalent (‚Tugendstreit der Tiere‘, ‚Singschule der Tiere‘, ‚Der beste Sänger‘; 560, 529, 493), Themen mithin, die bevorzugte Themen des Sangspruchs fabulös einkleiden ließen: voran Ordo- und Herrenlehre, Kunstdiskurs und Sangesfehde. Was dagegen der Stricker-Typus zur Hauptaufgabe hatte, „die Ausbreitung allgemeiner Fabelweisheit über den Lauf der Welt‘, [tritt] in der Sangspruchdichtung ganz zurück“ (Grubmüller, Esopus, S. 252). Auch religiöse Unterweisung, Moral- und Tugendlehre – Kernthemen wiederum des Sangspruchs – erteilt man kaum je äsopisch, denn ihrer ‚Morale‘ genannten Lehressenz zum Trotz ist die Fabel nicht eigentlich ‚moralisch‘, weil eher auf Lebenstüchtigkeit denn auf Heilsversicherung gerichtet. Hat der im ‚Herger‘/Spervogel I-Ton dichtende Anonymus auch das Erstrecht am Genre im Sangspruch, steht doch dahin, ob er die seinerzeit schulisch erst ansatzweise und in der Predigt noch nicht etablierten Aesopica kannte. Den Wolf in seiner dritten Pentade (MF 27,13–33) aus seinen menschlichen Rollen  – beim Schach, als Mönch und Hirte – fallen zu lassen, sobald er Beute wittert, setzt als Assoziationsfolie auch der Hörer die mit diesen Motiven lateinisch schon sprichwörtlich gewordene Tier­ epik voraus, etwa den ‚Ysengrimus‘ (um 1148/49; vgl. Grubmüller, Esopus, S. 116  f.). Weiteres für die Fabel zu reklamieren, bezeugte einen diffusen Begriff von ihr: Der Igelspruch MF 26,33  f. ist ein Wellerismus, also eine iocos applizierte Redewendung, die Hunde in MF 28,4–12 sind nicht vermenschlicht. Thema der drei Wolfsfabeln in nuce ist allein der Zwang der Natur, aber wer mit ihrer in konzisester Erzählung lakonisch vermittelten Einsicht gemeint sein soll, bleibt – da auf Pointen und Moralitäten verzichtet ist – unberedet in den Raum der Vortragsituation gestellt. Ihre historische Unerreichbarkeit, d a s Gattungsärgernis des Sangspruchs, setzt Deutungen dieser Sprüche enge Grenzen, weshalb die meisten, die man versucht hat, „Ratlosigkeit“ dokumentieren (ebd., S.  120). ‚Hergers‘ eher tierepische denn fabuläre Allusionen

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haben im weiteren Spervogel-Komplex kleinere proverbiale Pendants (MF 23,21; Namenlos h KLD 38,16 u. 21), in denen der Wolf als Hirte und im Schafspelz als Warnexempel fungiert, sich über sein künne täuschen zu lassen. Ähnlich symptomatisch für die in der Ära vor dem Stricker auf Zwischenrufe reduzierten Gastspiele der Fabel im Sangspruch wie für die Kalamitäten, welche die Gattungsinterferenzen oft schon bei ihrer Identifizierung verursachen, ist Fabulöses bei Walther. Bei ihm von ‚Anspielungen‘ zu sprechen, ist Hypothese, geht unstrittig zumindest nur für die aus der Avian- und Romulus-Tradition doppelt bekannte Fabel von ‚Ameise und Grille‘ (DG 35): Die ‚Aufforderung zum Kreuzzug‘ (L. 13,5) zitiert sie als Mahnung, statt in irdischem Sommersang in jenseitiger Vorsorge zu wetteifern. Gleich, ob man sie auf den vierten oder fünften Kreuzzug (1202 oder 1228) datiert, ist Walthers Äsop-Referenz wohl die erste in deutscher Sprache. Wieder um Sang, das Quaken selbstgefälliger Frösche, das die Nachtigall übertönt, geht es in L. 65,21– 24, einem Tiergleichnis als Lied-Abgesang, dem zur „richtigen Fabel“ mehr als das Präteritum und zur „Anspielung“ (Sparmberg, Fabel, S. 18) ein älter tradierter Stoff fehlt. Wer die vieldeutige ‚Hofwechselstrophe‘ (L. 19,29) mit Walthers Gangwechseln vom krenechen trit zum slîchent pfawe qua Evidenzbehauptung als Bezug auf Avian 15 (DG 362) vereindeutigt (Liebertz-Grün, Tradition; Röll, kraniches vluc; Obermaier, Fabel, S. 244), ist in Beweisnöten gegen die Deutung von Wailes (Crane) und die zwingende Wapnewskis (Kranichschritt), die sie mit naturkundlicher ‚Physiologus‘-Tradition lesen. Das erste veritabel auserzählte Fabel-Zeugnis gibt Bruder Wernher mit der klar auf einen indischen Stoff, aber auf keine exakte Quelle rückbezüglichen Strophe von ‚Affe und Schildkröte‘ im Ton II (Zck. 43; DG 24). Sie zeigt die Sangspruchfabel in einer Funktion, welche die situationsabstrakte, zeitlose Wahrheit anzielende Corpusfabel nicht hat, als dazu die Muster sammelnde ‚Vorratsrede‘ (von Moos, Mündlichkeit) aber übernehmen kann: die zu aktueller Kontextualisierung, hier als parteilicher Kommentar zur Tagespolitik, nur dass die Forschung uneins ist, zu welcher (zu den diskutierten historischen Anlässen Yao, Exempelgebrauch, S. 70–74; Zck., S. 396–402). Aber auch darin ist sie typisch, da ihr weder die Situation ihres Vortrags ablesbar ist noch die, auf die sie Bezug nimmt. Wird die Fabel politisch, nennt sie ungern Ross und Reiter, denn zum Klartext bräuchte es ihre Hüllfunktion nicht. Heinrich von Mügeln wählt gut ein Jahrhundert später programmatisch thire, um die seten mancher lute zu rügen, deren namen er nicht nennet, weil Kalistenes […] Seneca vnd Lucanius das mit dem Leben bezahlten (Fabelbuch-Vorspruch, Stmn. I, S. 83). Risikolos können Wernhers Schlussverse aber den keiser (Friedrich II.) nennen, denn mit ihm ist er Partei – eine jedoch nur halbe Auslegung, die sich die Hörer qua Decodierung der schorpelîn (der wohl päpstlichen Gegner) komplettieren müssen. Auserzählt und ausgedeutet – im Fabel-Sangspruch nicht die Regel – wird auch beim Marner. In die „Wirren des Interregnums“ gesprochen (Sparmberg, Fabel, S. 27), wünscht er sich einen wie den storch zum kúnige, der die frsche, die ihn mitmeinen (wir sin die frsche), verschlingt wie diese des rihes erbe, nachdem sie seinem

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von Gott gesandten Vorgänger auf dem Kopf herumtanzten und einen neuen wollten (Wms. 6,6; DG 162). Gewiss ein starkes Bild, aber mehr als „ein leiser Widerspruch“ (Sparmberg, Fabel, S. 26) zur von Frauenlob (GA VIII,7) wie Mügeln (Stmn. 65) mitgetragenen Deutungstradition der ‚Königswahl der Frösche‘, die Zufriedenheit mit dem gottgegeben Bestehenden lehrt, während Marner einen Tyrannen propagiert und dann nur hoffen kann, zu den Fröschen zu gehören, die dieser verschont, aber doch in ihren Bau treibt (anders Haustein, Marner-Studien, S. 184). Ist das ‚nur‘ Ausdruck, wie fatal es um das rihe steht, oder Ironie und damit doch Warnung, wie es kommen könnte? Ist es Polemik oder gar Werbung für einen konkreten Aspiranten? Gewiss aber ist es Beispiel für die begrenzte Deutbarkeit von an unbekannte Situationen gebundener Zeitkritik (s. dazu auch unten → Kapitel V.3) – nicht allein, aber zumal im Gewande der Fabel. Aber die Dichter bringen nicht häufig in solche Verlegenheit, bleibt ihre Politisierung doch äußerst rar. Nur sehr bedingt noch hierher gehört Marners auf ‚Frosch und Ochse‘ aufruhende Strophe, die das Platzen der sich zum Prätendenten aufblasenden Kröte auf eine Königswahl der Tiere verlegt (Wms. 6,13; DG 168). Nur wird das darin beschlossene Kritikpotential nicht politisch aktiviert, sondern so allgemein wie unverbindlich auf alle ausgemünzt, die eren gern und sint ir gast. Exemplifizieren kann die Strophe aber Marners besonders souveränen, hier kombinatorischen Umgang mit den daher auch nie exakt dingfest zu machenden Quellen, aus denen er nochmal in ‚Isengrîns Verstümmelung‘ (Wms. 7,7; DG 168) verschiedene tierepische Motive komponiert, wie wohl auch Süßkind von Trimberg seine jambische ‚Wolfsklage‘ (KLD 56,VI; DG 653), die eher zum Planctus als zur Fabel tendiert. Centoartig nutzt auch Reinmar von Zweter Fabelmotivik: Drei Anspielungen sind es in den Lügenstrophen Roe. 159/160, samt springender Schnecke, die innerdeutscher Stofftradition (DG 519) entsprungen sein mag. Die im Sangspruch häufigste Fabel vom ‚Esel in der Löwenhaut‘ (vgl. Obermaier, Fabel; DG 117, dazu die namenlose Reminiszenz KLD h 38,30) lugt in Roe. 52,12 aus dem Sprichwort hervor, so erkennet man den esel bî den ôren, und meint Minnetoren, die sich den Damen durch Eigenlob verraten. Umgekehrt sind in Roe. 201 die ‚Federlose Fledermaus‘, die ihr Falkengefieder, und der Kuckuck, der seinen Gesang rühmt, wohl aus analogen lateinischen und deutschen Sprichwörtern generiert (vgl. DG 144) – zwei dreiversige Stollen, im Abgesang auf entsprechende êre-Besitzer gedeutet, so kurz angebunden ist Reinmar mit der Fabel. Auch sonst ist êre darin Thema, wie etwa, verknüpft mit Herrenlehre, bei Stolles Anzitieren wie auch Erzählen der Eselsfabel (Zapf J. 26  f.) oder im Grenzsaum zum Tiergleichnis beim Wilden Alexander, der im ‚Tugendstreit der Tiere‘ (KLD 1,II,14  f.; DG 560) wohl Freidank ausfabuliert und Ehranmaßung rügt. Überhaupt macht der Sangspruch es Fabeln häufig zur Aufgabe, So-Tun-Als-Ob und falschen Schein – letztlich Ordoverstöße – bloßzustellen. Des weiteren wird er mit Fabeln gern gegen Kollegen polemisch, kürzestmöglich in Boppes Blamierung eines Sängers als Wolfsmönch: waz sol ein wolf ze kôre? (Alx. III,3,10; DG 634). Sanfteren Spott treibt der Kanzler, der eher den Typus, kein Indivi-

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duum meint: Ein esel in löwen hiute / ein rappe in pfâwen wât sind ihm die singer künste rûch (KLD 28,I,5). Den bekannten, vom Fuchs um den Käse gebrachten Sängerraben, lässt er für Folgen von Missgesang allerdings fliegen, weil er ihn zur Herrenlehre üblicher Warnung vor Schmeichlern braucht; seine zweite Fabelstrophe, ‚Falke und Eule‘, ergänzt sie um die vor schlechten Ratgebern (KLD 28,V,13 u. 21; DG 205, 133). An Gift unübertrefflich sind die fabulösen Invektiven im ‚Fürstenlob‘ des ‚Wartburgkrieges‘ (Hal., Str. 7), welche die (freilich fiktive) Situation ihres Vortrags mitliefern und die Gemeinten nennen. [E]in kra zu einem edelen valken sprach: / ‚her guckuc, sit ir da?‘ (v. 7  f. [JBa]), ist die Riposte Heinrichs von Ofterdingen gegen den Tugendhaften Schreiber, der ihn, den Falken, einen Leithund auf falscher Fährte titulierte und dafür die Krähe abbekommt, was seinen Sang als Krächzen qualifiziert. Roethe nannte das eine „mit Virtuosität […] gehandhabt[e]“ Fabel-„Anspielung“ (Roe., S. 242), aber die Tradition kennt keine solche Fabel (vgl. DG 352). Will man den Zweizeiler (zumal eine Auslegung folgt: Der selben kra, der habet ir wol getan an mir gelich …, v. 9 [JBa]) dafür gelten lassen, liegt die Virtuosität eher im prägnant-pointiert ‚erzählten‘ Sprechakt der Diffamierung und Selbstüberhebung. Auf irreduzibles Maß verknappte Handlung – Spezifikum der Sangspruch-Fabel – produziert bisweilen aber auch Undurchsichtigkeit. Im ‚Fürstenlob‘ Hal. 12 wird Biterolf fies gegen Heinrich von Ofterdingen: ich sie ein as da vür mir […]  / unde kome in rabens gir (v. 3  f. [JBa]). Irritierend: Ist der Kollege das Aas, so Biterolf – für einen Sänger keine Selbstschmeichelei – der Rabe, ja das Rabenaas. Das ist keine Fabel, eher (weil vordem auch keine bekannt ist) Anspielung auf Naturbeobachtung. Aber im weiteren wird eine daraus: Im Sondergut dreier Handschriften, den interpolierten, vom ‚Wartburgkrieg‘ abgelösten ‚Sprechen ohne Meinen‘-Strophen, wird dem Raben zugedichtet, allen todfeind zu sein, die ihm einen toten Ochsen streitig machen (HMS III,29: I,25  f., RSM 1Wartb/1/2b u. 3; DG 468). Gedeutet auf die Gier der Pfaffen, behält sich Wolfram in Handschrift k vor, Heinrich als den Raben zu beleidigen (Str. 8). Str. 12 lässt dem Rabenvers eine Fabelattacke Biterolfs auf Heinrich folgen, den er dem Kater vergleicht, der um die Sonne freien will, aber bei einem tier landet, daz miuse vienc. Das ist in vier Versen erzählt, stoffgleich vom Stricker in 158, plus 28 auslegender Verse (Stricker, Tierbispel, Nr. X; DG 334). Wo die Fabel nicht beleidigen, sondern im ‚Rätselspiel‘ die Deutungskompetenz des Rivalen prüfen soll, geht sie mit dem verrätselnden Erzählteil über mehrere Strophen des Schwarzen Tons Klingsors und ist, sehe ich recht, mit den deutenden Strophen mittelhochdeutscher Erstbeleg geistlicher Fabelallegorese. Im echten frühen Teil trägt Wolfram das Jägerrätsel vor, Avians ‚Äffin und ihre Kinder‘ (‚Rätselspiel‘/‚Jägerrätsel‘, Hal. 1–12; DG 13), dessen Abkunft aus geistlicher lateinischer Avian-Kommentierung zu prüfen wäre. Es dürfte zur Neuerfindung der in jüngerer Überlieferung interpolierten Strophen vom ‚Vogel und seinem vermessenen Jungen‘ mit Deutung auf Gott und die gefallenen Engel angeregt haben (RSM 1Wartb/2/503; DG 571). Konrad von Würzburg erzählt seine drei Fabeln aus, Frauenlob bevorzugt die Anspielung und wählt für die einzig komplette von ‚Mensch und undankbarer Schlange‘ (GA XIII,28; DG 431) die acht Verse im Kurzen Ton. Die Anspielung ist

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unausgewertet, aber Undank ist das Thema, und auch die bloßen Zitate bleiben mit an vürsten und herren adressierter Warnung vor falschen Räten (GA VIII,6 u. 7; DG 162, 619), tummen liuten (GA V,87; DG 249) und bloß äußerem Glanz (GA V,23; DG 362) eng bei konventionellen Gebrauchsfunktionen des Sangspruchs. So auch die zwei Aesopica Konrads (Schr. 18,21, 32,166; DG 174, 96) nebst der selbstausgedachten Fabel vom ‚Löwen im Spiegel‘ (Schr. 18,31; DG 397), indem sie den untauglichen râtgeb und künstelôsen schalc angehen und mit Kritik am karge[n] rîchen Heische implizieren (Schr. 18,21). Dass sich Kelins ‚Hund am Wasser‘ (Whm. III,5; DG 307) mit der Lehre allgemeinster Lebenserfahrung (vs. Gier) nur als Sangspruch vom Stricker-Typ abhebt, bestätigt die Regel ihrer sonstigen weitgehenden Absenz in diesem literarischen Genre. Fabel im jüngeren Sangspruch und im Meisterlied Dergleichen Didaktisierung charakterisiert aber die Sangspruch-Auftritte der Fabel in der Übergangsphase zum Meisterlied. Es beginnt die Zeit des Sammelns, Ordnens und Zu-Buche-Tragens auch nach dem Gattungszusammenhang ‚Fabel‘. Heinrich von Mügeln verhilft dem Genus zu eher erster denn im Spruchgenre „neuer Autonomie“, er „behält ihr einen eigenen von ihm sonst so nicht verwendeten Formtyp vierteiliger Einzelstrophen (im langen Ton) vor“ (Grubmüller, Esopus, S. 280) und versammelt die 15, stilistisch gattungsadäquat unprätentiösen Stücke im Göttinger Codex zum separaten Buch IV (Stmn. 56–70) mit eigenem Vorspruch (s.  o.). Vier en suite gereihte sind stofflich Eigengut oder aus Redewendungen abgeleitet, die Mehrzahl hat wohl der Anonymus Neveleti geliefert, alle sind in den Terzinen des Abgesangs ausgedeutet, eine wohl in zusätzlicher Epimythion-Strophe (Stmn. 63/64; vgl. Sparmberg, Fabel, S. 59). Mügeln führt sich im Vorspruch als Autorität ein (der meister hie straffet) und in den Lehren autoritär auf, gern im Imperativ des Schulmeisters: kint, ich lere das: […] (Stmn. 69). Er lehrt wisheit von der Art der Reimpaarfabeln, erteilt zeitlos-generellen, von situativer Bindung der Darbietung unabhängigen Lebensrat zu dennoch sangspruchtypischen Themen wie falscher ere (wieder der ‚Esel in der Löwenhaut‘ [Stmn. 56]), angemaßter Kunst (so der sangesstolzen Gans, die – in den Vogelbauer befördert – ein ‚giga‘ piept [Stmn. 58]), überwiegend aber (Stmn. 59–68) Lehren zum für die Fabel prädestinierten Thema von Herr und Knecht, das etwa gleichermaßen mit Kritik und Verhaltenspragmatik besetzt ist und beide lehrt, wie geselleschaft (Stmn. 62 u. ö.) füglich gerät. Herrenlehre steht auch bei seinen sechs über das Spruchwerk verteilten Nutzungen oben an (witzig der Fabel-Winzling vor argem rat dir grus! / ein wurm, der hett ein sidenhus, / dem riet ein wibel sider druß / und riet im in eins rosses mist [Stmn. 267; DG 433]); ‚Krebs und Kind‘ ist einmal geistlich ausgelegt, einmal Pfaffenschelte (Stmn. 338, 369; DG 364). Von vergleichbarer ‚Opulenz‘ ist vor 1500 nur noch Michel Beheims SpruchfabelSchaffen, in Variabilität und Vielfalt an Stoffen, Motiven, Themen und Gebrauchssituationen wie wohl auch an Zahl der Adressaten im Sangspruch indes solitär: gut

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30, allermeist auserzählte Fabeln, einige aus verschiedenen, oft auch doppelt verwerteten Stoffen gemischt (einem Reservoir von ca. 40, auch tierepischen), mitsamt gut einem Drittel selbst erfundener Erzählvorwürfe. Von seinen 13 Tönen wählt er sieben eher schlichtere, variiert in Strophen- und Verszahl von 3–9 und 30–112 Versen. Die Ausdeutungen können die Hälfte der Strophen und mehr, wie auch nur die letzten ein, zwei Verspaare umfassen oder bleiben vereinzelt mit der Aufforderung aus, sich auf seine Reime einen eigenen zu machen (Gille/Spr. 418). Unadressiert traktieren sie Obligates: Ehre, huote, Gier, Hybris etc. Konkret (doch Der namen nenn ich keinn [Gille/Spr. 319]) sollen sich betreffen lassen: renitente Bauern, parteiische Richter, humpler, die sich nemen an / gesanges (Gille/Spr. 419), Toren und Narren (die mein gesank verspoten! [Gille/Spr. 320]), Stet in dem reich (Gille/Spr. 55), der layen pfaff (gereimt auf tumer aff [Gille/Spr. 241]) sowie – die Leiter hoch wird es bestimmter – meines hern kung Lasslau amptleut[e], vor allem aber oft auch namentlich titulierte, kritisierte wie gerühmte Fürsten. Beheim beherrscht zudem das geistliche fabula docet (Gille/Spr. 97), selbst die Detail-Exegese im Allegoretischen (Gille/Spr. 276; Grubmüller, Esopus, S. 427  f.). Und er kann die „Geste des öffentlichen Mahners“ (ebd., S. 429), vor allem des neutralen wie parteilichen Lageanalysten im aktuellen politischen Konflikt, dessen Komplexität die Fabelexempla ordnungstiftend reduzieren, indem sie ihn als Fall von einer Regel suggerieren und anzusehen lehren (Gille/ Spr. 55, 318). Und die Kollegen seiner Zunft der ‚Nachmeister‘? Sie haben an den Alten gelernt, von der Fabel punktuellen und sparsamen Gebrauch zu machen, doch die große Mehrzahl macht überhaupt keinen. So ist die Liste kurz: Hülzing trägt die ‚Singschule der Tiere‘ in sie ein, in der die merker dem Esel das vom Wolf mit ungutem Ausgang verliehene silberreis zuerkennen, weil Schwein und Igel hinken (Cramer II, Hülzing II; DG 529); und Jörg Schiller setzt auf den bewährten ‚Esel in der Löwenhaut‘ als Straflied gegen bäuerliche Kleider-vppigkeit (Cramer III, Schiller III,4–6). In der Rubrik ‚Anspielung‘ steht namentlich nur der Nürnberger Meistersinger Hans Folz mit der mäßig originellen auf den ‚Raben in Pfauenfedern‘ zur Inkriminierung eines diebischen Sangesrivalen (Mayer Nr. 43). Auf Position 4–27 folgen allein noch nachdichtende Anonymi, in der Liste der Töne durchaus mit Mügelns Langem, seinem Fabel-Ton, an der Spitze, gefolgt von denen Frauenlobs und Stolles Alment. Ins 14. Jahrhundert zurück reicht (mit nurmehr zwei Anspielungen, DG 114, 568) die ‚Niederrheinische Liederhandschrift‘, das Gros tradiert die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘. Das Themenspektrum bleibt im Wesentlichen das alte: Der Reiz, ‚tierisch‘ gegen Kollegen polemisieren und Herrenthematik am Fressen und Gefressenwerden der Fauna bespiegeln zu können (und was letzteres vermeiden hilft), hält die Fabel im Meisterlied halbwegs aktiv, doch nimmt geistlicher Rat von ihr merklich zu, macht man von exempel ysopi verstärkt auch zum Beleg „schlichter Erfahrungssätze“ Gebrauch (Grubmüller, Esopus, S. 425), stellt man sie als Kommentar zum Hier und Jetzt im Politischen aber ganz außer Dienst. Exemplifiziert wird an ihr vorrangig das Nichtseinsollende, was viele Fabeln dieser Phase zum nun sog. Straflied macht. Überdies

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

kommt das allusorische Spiel mit vorausgesetztem Fabelwissen der Hörer stark außer Mode, vielleicht ein Reflex gewandelter Publikumsschichtung. Hans Sachs hat weit mehr Fabeln hinterlassen als alle Sangspruchdichter und Meistersinger vor und nach ihm zusammengenommen. Ihre 222 Texteinheiten (incl. 28 verlorener, durch sein Gesamtregister bezeugter Fabeln) bekunden einen singulären quantitativen Stellenwert der Gattung, weniger einen literarästhetischen, zumal kreativ-innovativen. 64 seiner Fabeln sind paargereimte Spruchgedichte, 158 Meisterlieder. Auf 1520 datiert Sachs’ erster Gattungsbeitrag in Form von fnff fabel in fünf Strophen seines Langen Tons (RSM ²S/74), die er aus Vorlagen der drei zentralen mittelalterlichen Stoffkomplexe des Genres kombiniert: den indischen aus Antons von Pforr ‚Buch der Beispiele der alten Weisen‘, den spröden dialogischen Fabeltyp des sog. Cyrillus aus Ulrichs von Pottenstein Übersetzung des ‚Speculum sapientiae‘ sowie den äsopischen aus Steinhöwels Corpus. Diese Pentade bleibt das einzige Fabellied, das sich „[s]ehr wahrscheinlich auf die Verhältnisse in der Singergesellschaft“ (Schanze, Liedkunst I, S. 366) bezieht und wohl lästerliche Sangesbrüder meint. Bis zu seiner letzten, 1569 Steinhöwel entlehnten Fabel griff der Nürnberger Meister über 50 Jahre auf diesen ältesten stofflichen Grundstock zurück, den er anlässlich neuer Kollektionen wie etwa der ‚Esopus‘-Revision Luthers (1530) oder der gleichnamigen Sammlung des Burkhard Waldis (1548) um weit seltener genutzte Quellen vermehrte. Drei seiner Fabeln mögen selbst erdichtet sein, sind jedenfalls ohne Parallelen. Um einen Kernbestand der Stofftraditionen in Sang- wie in Lesefassungen zu offerieren, bearbeitet er 42 Fabelstoffe zweimal, einzelne aber auch drei- und viermal, sodass sie – etwa hälftig auf Gedichte und Lieder verteilt – insgesamt 102 Versionen ausbilden. Die Formwahl zeigt zwei Präferenzphasen: Von 1543–1556 favorisiert Sachs ganz überwiegend das Lied, ab und an unterbrochen von Schaffenstagen, an denen er den gleichen Stoff in Spruch und Sang umsetzt (vgl. das Werkverzeichnis in KG, Bd. 25, hier etwa Nr. 2152– 2157), während er ab 1557 – im Vorfeld der Folio-Ausgabe seiner Werke, bei der Meisterlieder ausgeschlossen waren  – nur noch Reimpaarfabeln dichtet bzw. meisthin wortgleich, bisweilen unter Aufschwellung der Epimythien, aus seinen Liedern reproduziert. Hier sanglicher Regelbindung enthoben, erfindet sich die Neigung zu kunsthandwerklicher Serialität und Schablonenhaftigkeit eigene Formzwänge und bringt 1558/59 20 Fabeln zu je 124 Versen hervor, 1562 ein Sextett von je exakt 100. Vielgestaltig nehmen sich aber die Fabellieder aus, von denen im Schnitt fast jedes zweite einem anderen Ton folgt: 72 Sangweisen kommen zum Einsatz, davon 66 nachgedichtete, voran echte oder beigelegte Töne Frauenlobs. Die Tonwahl steht in keiner sichtbaren Beziehung zu den Fabelinhalten, man müsste denn zwei Frosch-Fabeln in der Froschweise dafür ansehen. Bis auf den oben erwähnten ältesten Text haben die Fabel-Bare drei Strophen, in der Regel zwei narrative und in der dritten die Deutung, die seltener schon im zweiten Abgesang einsetzt oder auf den letzten reduziert ist und oft in ein Sprichwort mündet. Im Lehrgehalt schließt Sachs sich zumeist – oft moralin eingefärbt – den Erfahrungsweisheiten und Lebensratschlägen der Quellen an. Dass er diese auch im Gedicht vielfach angibt, wie es im Sang die Regeln fordern, zeigt ihn

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„auf literarische Reproduktion mehr als auf Innovation bedach[t]“, doch sind die Spezifika ihrer jeweiligen Ausformung in seinen Bearbeitungen „eingeebnet, die Typen egalisiert“ (Bodemann, Cyrillusfabeln, S. 223). So geht der cyrillische wie der indische Typus mit bevorzugt dialogischer Lehrentfaltung durch die Akteure uniform im zweiteiligen äsopischen mit dem fabula docet des Erzählers auf. Vom ungleich kreativeren, die Fabel zur „Reflexionslyrik“ (Elschenbroich, Fabel, S. 91) öffnenden Umgang der älteren Sangspruchdichter mit der Gattung, zeigt Sachs sich nicht beeinflusst. Zwar nutzt er ihre Töne, aber nicht ihre Möglichkeiten, das Genus in Zeit- und Vortragsbezüge zu bringen und mit seinen formalen, rhetorischen und thematischen Valenzen zu spielen, geschweige denn, auch nur Einzelstücke von Didaxe zu entpflichten. Sachs hält es ganz mit dem Zeigefinger und der Angepasstheit an äsopische Muster. An „Einfalt“, die Jacob Grimm Fabeln generell abforderte (vgl. Ricklinger, Studien, S. 61), sind seine die mustergültigsten. „Eine wirkliche Vorliebe für die Fabeldichtung an sich scheint bei den Zunftgenossen unseres Meisters, auch ausserhalb Nürnbergs, nicht bestanden zu haben“ (ebd., S. 59). Immerhin: Laut Sachs’ ‚Gemerkbuch‘ kamen 1555–1561 15 seiner Fabeln in Zechsingen zum Vortrag, doch gehen ihre Sänger „bei der Verteilung des Kranzes stets leer aus“ (ebd., S.  56). Nur dreimal aber hörte man in diesem Zeitraum nicht Sachssche Fabeln, von denen der jüngere RSM-Teil bis ins 17. Jahrhundert insgesamt auch nur knapp 50 anonymer und namentlich bekannter Meister registriert, mit je fünf schon die meisten im Œuvre der Nürnberger Georg Hager und Ambrosius Metzger. Die Töne – nur Metzger fabuliert auch in eigenen – wechseln in fast jeder Version, die Bare sind sämtlich dreistrophig, die Quellen liefert gut zur Hälfte Steinhöwel, drei Cyrillus. Auch in ihrem rein didaktischen Skopus sind die späten Liedfabeln (darunter fünf auch von fünf Augsburgern, unikale aus Straßburg, Magdeburg, Steyr) durch die Schule der Sachsschen gegangen. Für den Bortenmacher Wolff Rosen war es eine harte Schule: Erstmals 1672 versucht er sich am Vortrag von Sachs’ Avian-Fabel ‚Das gulden ay In der honweis Wolfran‘ (RSM ²S/785), der nach den Nürnberger Protokollen von 1575–1689 mit Abstand meistgesungenen und -bekränzten, doch erst 1686, im elften Anlauf, trägt sie ihm zumindest den zweiten Platz ein – von drei Teilnehmern. Ausg. Alx.; Cramer I–IV; Freidank; GA; Gille/Spr.; Hal.; HMS; Kaiserchronik; KG; KLD; L.; Mayer; MF; Obj.; Roe.; Schr.; Stmn.; Stricker, Tierbispel; Whm.; Wms.; Zapf; Zck. – Lit. Baldzuhn, Schulbücher; Bodemann, Cyrillusfabeln; Dicke, Aesop; Elschenbroich, Fabel; Grubmüller, Esopus; Haustein, Marner-Studien; Holzberg, Fabel; Kosak, Reimpaarfabel; Lämke, Tierfabeln; LiebertzGrün, Tradition; von Moos, Mündlichkeit; Nöcker, Proverbium; Obermaier, Fabel; Ricklinger, Studien; Rodenwaldt, Fabel; Röll, kraniches vluc; RSM; Schanze, Liedkunst; Schlecht, Fabelstoffe; Sparmberg, Fabel; Teschner, bîspel; Wailes, Crane; Wapnewski, Kranichschritt; Wright, Latin Commentary; Yao, Exempelgebrauch.

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

4 Predigt und andere geistliche Prosa

Klaus Wolf

Bei den Gattungsinterferenzen zwischen Sangspruch und Predigt beziehungsweise allgemein geistlicher Prosa gilt es zunächst, die Gattungen sowie Gattungsdefinitionen selbst zu problematisieren. Dann erst kann sinnvoll nach Interferenzen gefragt werden, welche in der Regel auf inhaltlicher Ebene, kaum auf formaler oder gar personaler Ebene – sieht man zunächst vom Rezeptionsaspekt ab – und gewöhnlich im Sinne der Zeitgenossenschaft, seltener durch die Übernahme und Anverwandlung einer älteren Gattungstradition Gestalt annehmen. Unter Sangspruch sind im Kontext von Predigt und geistlicher Prosa somit inhaltlich-thematisch religiöse Lehre und teilweise Gebet, durchaus auch moralische Mahnung sowie Ständekritik zu subsumieren, nicht jedoch etwa Heische, Scherzhaftes oder Minne, welche darüber hinaus geläufige Themen der Sangspruchdichtung darstellen (RSM, Bd. 1, S. 1). Deren Autorschaft ist relativ klar zu umreißen: Sangsprüche wurden im Regelfall von (im weiteren Sinne) laikalen Berufsdichtern für den Hof eines (ständisch durchaus weiter zu fassenden) Adligen – meist selbst kirchenrechtlich Laien – verfasst. Dabei versuchten sich die Sangspruchautoren als Dichter oder Komponisten durch besondere Betonung ihrer Kunst von reinen Unterhaltungskünstlern (wie Gauklern oder ioculatores etwa) abzusetzen, weshalb sie nicht selten als „meisterlich“ apostrophiert wurden (Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 621; dazu oben auch → Kapitel III.2). Dem korrespondiert formal der kunstreiche Gebrauch der Töne. Als metrisch-musikalische Meisterwerke begründen diese ganz entscheidend den künstlerischen Eigenwert der Sangsprüche im Bewusstsein der Künstler und ihrer Rezipienten (Brunner, Formgeschichte, S. 7–20). Demgegenüber eignet der Predigt prinzipielle Unsanglichkeit und ein (im Vergleich zur Sangspruchdichtung) normalerweise größerer Umfang (oder eine länger dauernde Performanz), auch wenn es in der Volkssprache zunächst noch gereimte Predigten neben Prosapredigten gibt. Als Verfasser der Predigten sind in der Regel keine Laien, sondern ordinierte Kleriker anzunehmen. Primärer Sitz im Leben der Predigt ist (zumindest im Falle der Homilie) der Gottesdienst im Sinne liturgischer Verortung. Der liturgisch freiere Sermo dagegen ermöglicht auch thematisch größere Freiheit. Neben dem (überlieferungsmäßig bedeutenderen) Fall der lateinischen Predigt ist auch die volkssprachige (mittel- und frühneuhochdeutsche) Predigt in der Zeitgenossenschaft der Sangspruchdichter hoch zu veranschlagen. Grundsätzlich problematisch ist die Abgrenzung von Predigt und Predigttraktat (dazu grundlegend Ruh, Predigtbücher), ebenso die Verfasserschaft selbst, wenn es zu Schulbildungen (beispielsweise innerhalb eines Ordens oder mit einem prominenten Prediger als Kristallisationspunkt eines breiteren Predigtkorpus) kommt. Vollkommen fragwürdig ist orale Authentizität, denn der Nachweis wörtlich genauer Predigtmitschriften in der Volkssprache ist nur ganz selten möglich. Auch sog. Volksprediger orientierten sich



Predigt und andere geistliche Prosa 

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für ihre mittel- oder frühneuhochdeutsche Kanzelrede gewöhnlich an einem lateinischen Stichwortzettel oder einer lateinischen Gliederung, worauf sie die volkssprachige Predigt mehr oder weniger improvisierten, während die bis heute überlieferte deutsche Predigtprosa meist erst im Nachhinein (im Anschluss an tatsächlich gehaltene Predigtzyklen etwa) und nach einem gründlichen Redaktionsgang verschriftlicht wurde (Geiler, Johannes, von Kayersberg, Predigten, S. XX–XXXIII). Diese Problematik gilt es beim Vergleich mit den von größerer, wohl authentischer Autornähe geprägten Sangsprüchen ebenfalls (methodisch kritischer) zu berücksichtigen, was bislang in der Regel eher versäumt wurde. Nicht weniger schwierig ist der fließende Übergang von der (verschriftlichten) Prosapredigt als Predigttraktat zur theologischen Traktatliteratur überhaupt. Dies betrifft besonders gelehrte bis universitäre Verfasserschaft und eine entsprechende Überlieferungsgeschichte. Tatsächlich gehaltene Predigten konnten beispielsweise unter universitärem Patronat zu umfänglichen Traktatwerken umgearbeitet werden, wie es das Œuvre des dominikanischen Professors Johannes Nider zeigt. Der Übergang von der Volkspredigt zum katechetischen, frühneuhochdeutschen Prosatraktat, zu geistlicher Prosa im weiteren Sinne wird so überaus fließend (Wolf, K., Hof, S. 187–202). Im Falle der Wiener Schule, wo die Gattungsübergänge von der Predigt zu anderer geistlicher Prosa (wie zu Sangspruch und Lied) relativ umfassend und systematisch untersucht sind, lässt sich überdies nachweisen, dass universitäre Prosa und die Sangsprüche eines Heinrich von Mügeln dem selben laikalen Rezipientenkreis zugeeignet waren, der von interessierten höfischen Analphabeten bis hin zu den sog. illitterati reicht (ebd., S.  138). Am Beispiel Heinrichs von Mügeln wird so deutlich, dass die Gattungsinterferenz auch auf rezeptiver Ebene virulent wird. Denn der Universitätsgründer Rudolf IV. schätzte Heinrich von Mügeln ebenso wie dies das Adelsgeschlecht der Pettauer tat, das zu den frühen Mäzenen der Wiener Schule zählte. Die habsburgischen und landadeligen Rezipienten der Wiener Schule allgemein ließen sich durch Heinrich von Mügeln in vergleichbarer Weise belehren wie durch die theologische Prosa der Alma Mater Rudolphina. Dieser rezeptive Konnex von geistlicher Prosa und Sangspruch zeigt sich sogar im Überlieferungsverbund mit einem sermo in psalmis, wenn Marners Strophe Wms. 7,15 im Oberaltaicher Clm 9690 (p. 314–318) für den Gebrauch im Predigtkontext notiert wurde (Haustein, Marner-Studien, S. 226– 228). Die Rezeption von Sangsprüchen in (freilich gereimten) geistlichen Werken wird im Falle Reinmars von Zweter deutlich, dessen Strophen im ‚Hohen Lied‘ des Brun von Schönebeck, eines Laiendichters, integriert wurden (RSM, Bd. 5, S. 284). Was die Ebene der Literaturproduktion anbelangt, so sind die Gattungsinterferenzen grundsätzlich in zwei Richtungen denkbar: Zum einen rezipieren Sangspruchdichter (wie Michel Beheim) Predigtwerke etwa als Quelle oder Stoff; in einigen wenigen Fällen ist dies auch direkt nachweisbar, wenn verschriftlichte Predigten oder Predigttraktate als Quellen von Sangsprüchen aufgezeigt werden, während die Rezeption der mündlich gehaltenen Predigt als Quelle religiöser Sangsprüche bei laikalen Dichtern nicht zu unterschätzen, allerdings kaum

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stichhaltig belegbar ist. Immerhin ist der Marner als Hörer von Predigten Bertholds von Regensburg denkbar (Haustein, Marner-Studien, S. 27–30), wo er vielleicht die Vorstellung vom (freilich seit der Antike bekannten) handwerklichen Charakter der Dichtkunst entwickelt haben könnte. Zum anderen thematisieren Prediger den Sangspruch und mehr noch die Sangspruchdichter direkt in ihren Predigten. Dabei wird mitunter ein Konkurrenzverhältnis expressis verbis angesprochen. Dies ist aus dem schon erwähnten gemeinsamen Rezipientenkreis zu erklären, der in erster Linie aus theologischen Laien (meist auch im Sinne des Kirchenrechts) bestand. Und Laien waren die Sangspruchdichter ja ebenfalls, zudem auch „Laienprediger“ wie jene „Reimpaar-Publizisten vom Schlage des Stricker“, die alle gleichermaßen im Revier der Bettelordensprediger wilderten (Heinzle, Wandlungen, S.  130). Von daher ist es verständlich, wenn Berthold von Regensburg „die Spruchdichter als Teufelsgesellen verketzert“ (ebd., S.  131), während Friedrich von Sonnenburg in Rechtfertigungsstrophen die Prediger angreift oder der Marner den Mönchen unterstellt, für eine Mahlzeit Ablässe zu gewähren. Jedenfalls eignete Reimpaarpublizisten, Bettelmönchen und Sangspruchdichtern gleichermaßen vagierendes Dasein und Heischegestus im Rahmen vergleichsweise öffentlicher Kommunikation (vgl. ebd.). Dort bestand zunehmend Konkurrenz zwischen Sang­spruchdichtern und Bettelordensklerus (Kästner, Wettstreit). Damit soll jedoch nicht in Abrede gestellt werden, dass Kleriker, namentlich hohe Geistliche, zu Förderern der Sangspruchdichter werden konnten, zumal der Pfarrklerus, aber auch so manches Domkapitel die Bettelorden misstrauisch (wiederum als Konkurrenz) beäugte; so dürfte etwa ein wichtiger Gönner Heinrichs von Meißen, genannt Frauenlob, der Mainzer Erzbischof Peter von Aspelt gewesen sein (Stackmann, Frauenlob, Sp. 867). Das eben genannte Konkurrenzverhältnis zwischen Predigern und Sangspruchdichtern ergibt sich insbesondere dann, wenn der Sangspruchdichter sich auf geistliches Terrain begibt (dazu auch → Kapitel V.1). Denn bei seinem gattungsinhärenten Bemühen um eine Stärkung der höfischen und ständischen Ethik ist eine Beschränkung auf innerweltliche Tugendkataloge allein nicht zielführend. So ist zumindest eine „Analogie“ der Spruchdichtung zur geistlichen Predigt nicht von der Hand zu weisen, ja der Terminus „Laienprediger“ erscheint sinnvoll, oder, auf den Punkt gebracht: „der Spruchdichter beansprucht im Rahmen seines Lehramtes etwas von der Würde des Priesters“ (Stackmann, Vorstudien, S. 105). Mehr noch: „Die Identifikation mit der Predigerrolle, die fraglose, einer Absicherung nicht mehr bedürftige Usurpation des Bußpredigeramtes, wie sie vor allem im ‚Weckruf‘ sichtbar wird, ist in der Spruchdichtung weit verbreitet, sie gehört zu ihren Grundlagen“ (Grubmüller, Autorität, S. 703). Dabei wurden nicht wenige Vertreter des (klerikalen) Predigerund Priesterstandes durch die Sangspruchdichter an artistischer und theologischer Gelehrsamkeit weit übertroffen und in der Publikumsgunst durch die (bildungsmäßig und kirchenrechtlich laikalen) „Hofhochschuldozenten“ gar ausgestochen (Hübner, Hofhochschuldozenten, S. 70–73).



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Der hohe artistische wie nicht weniger theologische Anspruch der Sangspruchdichter konnte von Priestern und Predigern durchaus als Anmaßung verstanden werden. Dementsprechend lassen sich Äußerungen in der Tradition des Franziskaners Berthold von Regensburg über das Fehlen guoter meister, die rechtgläubige Lieder sängen, „auf die Spruchdichter beziehen. Sie werden immer wieder im Verdacht der Ketzerei gestanden haben“, gegen welchen sie sich wortreich zur Wehr setzten, indem sie ihre orthodoxe Haltung kräftig herausstrichen (Stackmann, Vorstudien, S. 176). Freilich ist nicht völlig klar, wer in der franziskanischen Scheltpredigt konkret gemeint ist, ob neben den Sangspruchdichtern auch (oder nur) Häretiker (etwa die Waldenser). Diese Uneindeutigkeit gilt auch für die vermeintlichen Erwähnungen des Sangspruchdichters Boppe bei Berthold von Regensburg (Lauer, C., Boppe, S. 113–115). Sicherer scheint zu sein, dass Sangspruchdichter beim Klerus allgemein „in einer doppelten Situation der sozioökonomischen Konkurrenz“ standen: „Als Fahrende waren sie den Verdächtigungen ausgesetzt, die der Klerus diesen generell entgegenbrachte, innerhalb der heterogenen Gruppe der Fahrenden mussten sie sich gegen andere Unterhaltungskünstler abgrenzen. Der Konflikt zwischen Klerus und Sangspruchdichtern könnte im 13. Jahrhundert durch die neuen, ebenfalls mobilen Prediger- und Bettelorden besonders virulent geworden sein.“ So werden im BertholdCorpus neben „gumpelliuten, gîgern und tambûrer auch alle, die guot für êre nement“, genannt, eine Formel, „welche die Sangspruchdichter selbst für ihr Tun verwenden“ (Rosmer, Tradition, S. 313  f.). Ganz konkret wird es schlicht um die pekuniär auszumünzende Beliebtheit beim Laienpublikum gegangen zu sein, welcher umherziehende Mendikantenprediger wie vagierende Sangspruchdichter gleichermaßen bedurften, wobei sich die Bettel­ ordensprediger unter Aufgreifen der schillernden Gestalt oder besser in Imitation des literarisch versierten poverello (als Ur- und Vorbild in der Rolle des ioculator) der letztlich gleichen literarischen und rhetorischen Mittel wie die Sangspruchdichter bedienten (Kästner, Wettstreit, S. 220–223). Der dichtende Prediger und der predigende Sangspruchdicher kamen sich so ins Gehege beim Buhlen um die Gunst des letztlich zahlenden Publikums. Jenseits solch ökonomischer Rangeleien bediente man im Ringen um die Publikums­gunst auch inhaltlich die selben theologischen Moden. So hat die massive Propagierung des Marienkults in den Predigten der Bettelorden vermutlich die Marien­strophen des Marners angeregt (Wms., S. 31), durchaus auch die Marienstrophen bei Reinmar von Zweter, Rumelant von Sachsen, Frauenlob oder Heinrich von Mügeln. Kollektives Wissen über den Antichrist (Klein, D., Sangspruchdichter, S. 5), welches breiten- und öffentlichkeitswirksam neben Schauspiel und bildender Kunst nicht zuletzt über die Volkspredigt vermittelt war, fand lebhaften Niederschlag auch bei den Sangspruchdichtern. Als späteres Beispiel für die Verarbeitung von Predigtinhalten in Sangspruch und Lied kann Michel Beheim (s. unten → Kapitel  VII.14) gelten, der das umfäng-

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liche Predigtkorpus des Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktors, aber auch PseudoHeinrich-von-Langenstein ausmünzt (Wachinger, Beheim, passim; Hohmann, S., Friedenskon­zepte, S. 240  f.; Niesner, Disputiren, S. 435; Wolf, K., Contra IudaeosLieder). In seiner Osterweise handelt Michel Beheim ausführlich von der hahen Schul zu Wien. Dabei mischen sich Fürstenlob (bezogen auf Rudolf IV.) mit Heischegestus (Friedrich III. wird direkt apostrophiert). Eine Konkurrenzsituation mit den Predigern fällt gar nicht auf, vielmehr hebt Michel Beheim preisend hervor, wan so dy rechten maister und glerten lesen und predig tund (Gille/Spr. 96, v. 48  f.). Vergleichbar mit Beheims Rezeption wäre die Heranziehung des ‚Buchs der Zehn Gebote‘ des Marquard von Lindau sowie einer populär vermittelten Form des ‚Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae‘ des Dominikaners Franz von Retz bei Hans Folz, bei dem insgesamt weitgehender mit „Vermittlung durch die mündliche Predigt zu rechnen ist“ (Schanze, Liedkunst I, S. 322, 348  f.). Konkret ist im Falle Folz als Zwischenglied zum Wiener Professor Franz von Retz dessen Schüler Johannes Nider anzusehen. Seine häufigen Aufenthalte in Nürnberg führten auch zur Weitergabe der Theologie seines Lehrers, direkt oder indirekt in Niders umfänglicher Nürnberger Predigttätigkeit, die auch verschriftlicht wurde. Der Nürnberger Hans Folz konnte unschwer mit dieser letztlich Wiener Predigtprosa in Berührung kommen. Dabei markieren die genannten Quellenwerke die gattungsmäßige Bandbreite von der universitären Volkspredigt bis hin zum katechetischen Prosatraktat. Ferner zeigt der Fall Folz tendenziell, dass gerade im stadtbürgerlichen Milieu, wo (nicht nur) die Bettelordenspredigt blühte, die Gattungsinterferenz von Meisterlied und Predigtprosa naheliegend ist. Es lassen sich, um den Faden weiter zu spinnen, sogar die „institutionellen Parallelen von Predigt und Meistergesang“ herausarbeiten, indem beispielsweise, „analog zur in langem Studium erworbenen theologischen Gelehrtheit des Predigers, die mühsam erlernte Beherrschung von Versifikation und Vortrag“ als Legitimation „für den geistlichen Meistergesang“ herausgestellt wird (Mertens, Meistergesang, S. 134). Der weit in die Frühe Neuzeit reichende Meistergesang mit seinen vielfach beschworenen Ahnen in der Gattung Sangspruch steht in Produktion wie Rezeption nicht weniger in einer Gattungsinterferenz mit der Predigt und mit gelehrter theologischer Prosa als seine mittelalterlichen Vorläufer. Epochenübergreifend steht jedoch die systematische Erforschung dieser Gattungsinterferenz bei vielen Sangspruchdichtern und Meistersingern vielfach noch aus. Ausg. Geiler, Johannes, von Kaysersberg, Predigten; Gille/Spr.; Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters; Wms.  – Lit. Brunner, Formgeschichte; Grubmüller, Autorität; Haustein, MarnerStudien; Heinzle, Wandlungen; Hohmann, S., Friedenskonzepte; Hübner, Hofhochschuldozenten; Kästner, Wettstreit; Klein, D., Sangspruchdichter; Lauer, C., Boppe; Mertens, Meistergesang; Niesner, Disputiren; Rosmer, Tradition; RSM; Ruh, Predigtbücher; Schanze, Liedkunst; Stackmann, Frauenlob; Stackmann, Vorstudien; Wachinger, Beheim; Wolf, K., Contra Iudaeos-Lieder; Wolf, K., Hof.



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5 Lateinisch-deutsche Interferenzen

Michael Callsen

Mittellateinische Quellen liefern klare Zeugnisse für das Vorhandensein eines Gattungsbewusstseins für die Sangspruchdichtung. In ihnen übernehmen und adaptieren lateinische litterati nicht nur Töne, Themen und Sprechweisen der deutschen Spruchdichter, vielmehr demonstrieren sie durch die Kompilation der lateinischen Strophen zu Sammlungen erstens Bewusstsein für die Bedeutung der Töne und Tonmeister, ein lebendiges Verständnis für die Konstituenten des ihnen ‚fremden‘, weil volkssprachigen Literaturbetriebs, und zweitens zementieren sie in der eigenständigen kreativen Fortentwicklung des rezipierten Materials den Anspruch, nicht lediglich zu imitieren, sondern den lateinischen Sangspruch als eigene Größe innerhalb der lateinischen Lyrik, aber auch der deutschen Sangspruchtradition zu etablieren. Für das lateinische Mittelalter stellte sich die Gattungsfrage des Sangspruchs nie als Problem dar. Seine Akteure konnten sich aktiv mit dieser Tradition auseinandersetzen und eigene Werke zu diesem literarischen Diskurs beisteuern, ohne dabei auf Abgrenzungsprobleme zu anderen Phänomenen lateinischer oder deutscher Literatur zu stoßen, konnten Sangsprüche schaffen, die heute, obgleich eben in lateinischer Sprache verfasst und folglich oft in anderen Zusammenhängen und Codices tradiert, als solche zu erkennen sind. Das wesentliche Material für diese Deutung des Forschungsstandes lieferte Günter Hägele (Handschriften) durch die Entdeckung der ‚Augsburger Cantionessammlung‘ (Augsburg, UB, II.1.2° 10), deren Kernbestand bereits von Udo Kühne in Abgrenzung zu bloßen Kontrafakturen argumentativ als Sammlung ‚echter‘ lateinischer Sangsprüche reklamiert (Entwicklungen, bes. S. 78–82) und als Grundlage systematischer Erwägungen zum Begriff des lateinischen Sangspruchs verwendet wurde (Kühne, Kunstbedingungen). Dieses nun gewissermaßen gesicherte Terrain lateinischen Spruchschaffens soll im Folgenden erneut in aller Kürze als solches ausgewiesen und dann zum Ausgangspunkt und Maßstab für eine weiter gefasste Bestandsaufnahme dessen genommen werden, was auf dem Feld der lateinischen Lyrik als Sangspruch gesehen werden könnte. Die lateinischen Sangsprüche der ‚Augsburger Cantionessammlung‘ Den Kern dieser Sammlung von 70 Leichs, Sangsprüchen und Liedern des 13. und 14. Jahrhunderts bildet gemäß der vorangestellten Inhaltsangabe (Hic notantur dictamina a diversis magistris in diversas melodias magistrorum vulgariter dictancium mensurata) eine Partie von Strophen in den Tönen deutscher Meister. Über die Dichter hinter diesen Texten wissen wir außerordentlich wenig. In der Handschrift werden sie in den Überschriften der einzelnen Stücke zwar namentlich genannt, doch lässt sich von diesen Namen nur einer (Dietrich von Saldern) urkundlich nachweisen. Die

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anderen erwecken den Eindruck von Künstlernamen (Estas, Mersburg, Tilo; Estas erscheint in Clm 11007, wo eines seiner Stücke verzeichnet wird, mit dem Zusatz vagus), durch die sich ihre Träger ihrer Selbstdarstellung nach als fahrende Sänger präsentieren. Gleichwohl darf dieses Etikett nicht ohne Weiteres für bare Münze genommen werden. Der Umstand, dass Estas, Mersburg und Tilo die deutsche und die lateinische Literatur rezipieren und kunstvoll miteinander in Beziehung setzen, spricht für eine breite Bildung und verortet sie eher im gehobenen urbanen Milieu. Aus der Beschaffenheit ihrer Texte lassen sich deutliche Indizien dafür ableiten, dass diese Dichter miteinander in Kontakt standen, einander und ihr jeweiliges Schaffen jedenfalls kannten und aufeinander Bezug nahmen (vgl. die Einleitung zu Callsens Edition, S. 16–18). In Strophe Nr. 37 legt Mersburg die Kontrafaktur einer Boppe-Strophe (Alx. I,30) vor, in der die geringe Bedeutung aller anderen geistigen und körperlichen Gaben gegenüber dem Glück bzw. dem materiellen Reichtum pointiert angeprangert wird. Die lateinische Version dieses Textes ist eindeutig am deutschen Vorbild orientiert – der Großteil der Strophe widmet sich der Schilderung verschiedener Vorzüge, die ein Mensch besitzen kann, und erst im letzten Vers erfolgt die Schlusswendung hoc totum nauci proderit, si tibi deest nummus, „All das wird wenig nützen, wenn dir das Geld fehlt“. Direkt darauf folgt ein Text des Dichters Tilo, der eine unbekannte stollige Form zu einem sechsstrophigen Lied verarbeitet, das sich als beinahe satirische Aufnahme der Strophe Boppes bzw. Mersburgs erweist. Auch hier wird, jedoch wesentlich ausführlicher, der Kanon allen denkbaren Wissens im Konjunktiv als Eigentum eines lyrischen Du angenommen und erst in den letzten drei Versen folgt in Form einer rhetorischen Frage wiederum die Schlusspointe, dass all diese Vorzüge unnütz seien, wenn das Glück fehle. Dass diese Traditionsreihe Boppe  – Mersburg  – Tilo bzw. deutsches Vorbild  – lateinische Kontrafaktur – (lateinische) satirische Überspitzung von den Redaktoren der Augsburger Sammlung gesehen wurde, liegt durch die Anordnung der beiden lateinischen Texte auf der Hand. Sie sollen dem Leser als zusammengehörig präsentiert werden, damit er seinerseits den Fortgang dieses literarischen Wechselspiels nachvollziehen kann. Neben dieser inhaltlichen Bezugnahme, die ein Bekanntschaftsverhältnis zwischen Mersburg und Tilo nahelegt, demonstrieren Estas und Mersburg ihrerseits ihre Verbundenheit durch die gemeinsame Verwendung des rätselhaften Wortes pna, das, da es dekliniert und mit Attributen verbunden wird, keine Abkürzung zu sein scheint, sondern wohl als Kunstwort mit einer ähnlichen Bedeutung wie pneuma aufgefasst werden muss (Kühne, Kunstbedingungen, S. 244  f.; Callsen [Hg.], Augsburger Cantiones-Sammlung, S. 35–37). Diese Zeichenfolge findet sich an drei Stellen im Duvre des Estas und an einer Stelle bei Mersburg und legt zusammen mit der beschriebenen Boppe-Rezeption die Annahme nahe, dass die drei Dichter als miteinander im Austausch stehende litterati mit einem gemeinsamen Interesse an der deutschen Spruchdichtung zu sehen sind.



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Beinahe allen Texten der Sammlung sind kurze Überschriften vorangestellt, die den Namen des Text- und, wo bekannt, auch den des Tonautors nennen. In einigen Fällen wird dem noch ein knapper Hinweis auf den folgenden Inhalt beigesellt (z.  B. morale oder reprehendens statum mundi). Die Zuschreibungen der Tonautoren sind dabei, soweit wir es überprüfen können, fast immer korrekt. Einzig bei Nr. 42 wird irrtümlich Marner als Tonautor genannt, jedoch kann, da in der Aufzählung der verarbeiteten Tonmeister am Beginn der Sammlung der Meißner genannt wird und dessen Tönen außer Nr. 42–44, auf die sich die fragliche Überschrift bezieht, keine Strophen zugeordnet werden können, von einer bloßen Verschreibung ausgegangen werden. Ferner fungiert der verwendete Ton als das maßgebliche Ordnungskriterium innerhalb der Sammlung: Alle Strophen im Langen Ton stehen beieinander, jeweils noch geteilt in die Blöcke in Marners und in Frauenlobs Ton, ebenso bei den Hoftönen Boppes und Reinmars von Brennenberg. Inhaltliche Überschneidungen oder die Textautorschaft spielen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Diese Berücksichtigung der besonderen Bedeutung des Tons macht deutlich, dass den Kompilatoren der Augsburger Sammlung daran gelegen war, ein Korpus zu schaffen, das sich an versierte Kenner der deutschen Tradition richtet. Zugleich lässt die Zugehörigkeit der Hauptakteure auf Seiten der Textproduktion zu einer gemeinschaftlich agierenden Gruppe die Absicht vermuten, die deutsche Sangspruchtradition für die lateinische Lyrik nutzbar zu machen und umgekehrt die lateinische Tradition in die deutsche Spruchkultur einzubinden. Vor diesem Hintergrund kann man nicht umhin, zumindest die Kernpartie der ‚Augsburger Cantionessammlung‘ als eine Sammlung lateinischer Sangsprüche anzuerkennen. Doch wo es eine Kernpartie gibt, da gibt es auch noch Weiteres, was eben nicht zu diesem Kern gehört. So beginnt die Sammlung mit einer Gruppe längerer Texte, die wohl als auf betont rhythmischen Vortrag ausgelegte Tanzlieder zu lesen sind, wenn man nicht nur die wechselnden Überschriften ‚Gressus‘ und ‚Saltus‘, sondern auch die häufige Nutzung von Schlagreimen und die zwar wechselnden, jedoch nicht die formale Kunstfertigkeit eines Leichs anstrebenden Versschemata betrachtet. Es mutet seltsam an, dass gerade diese ihrem Umfang nach große und in ihrer Verortung am Beginn der Sammlung prominent positionierte Partie in der oben zitierten Überschrift der Sammlung keine Erwähnung findet – zumindest kennen wir noch keinen volkssprachigen Tonmeister, dem diese sperrigen Formen zugeordnet werden könnten. Die ersten vier Lieder, anonym überliefert, bilden gewissermaßen einen Natureingang für die gesamte Kompilation, zeichnen durch Beschreibungen des Frühlings, durch Liebesklage, inniges Werben und einen Aufruf zum gemeinsamen Reigen eine Szenerie, wie man sie aus den Liebesliedern der ‚Carmina Burana‘ kennt. Das erste namentlich zugeschriebene Stück 4 (Dictamen domini Dyetrici de Salder) leitet zu politischen und zeitgeschichtlichen Fragen über und nähert sich damit inhaltlich einem sangspruchhaft moralischen Sujet an. Wenn man den Kompilatoren des Augsburger Korpus unterstellt, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht haben, einen ambitionierten lateinischen Beitrag zum Sang­

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

spruch zu erarbeiten, versteht sich die Gestaltung dieser Eröffnungspartie keineswegs von selbst. Dass diese Lieder in einer weniger strengen späteren Redaktion Eingang in unseren Codex gefunden haben, erscheint wenig wahrscheinlich, da drei dieser zwölf Texte von Dietrich von Saldern und vier von Mersburg stammen, die beide als Akteure des inneren Zirkels der lateinischen Spruchdichter in Erscheinung treten, Mersburg freilich stärker als Dietrich, der nur ein einziges Lied verfasste, dessen Ton sich einem deutschen Meister (Reinmar von Brennenberg) zuordnen lässt. Folglich sind diese leichartigen Texte kein entstellender Zusatz zu einer ansonsten harmonisch abgestimmten Sammlung, sondern mit dem Hauptanliegen der Kompilatoren verknüpft, sei es, dass es ihnen um eine vollständige Präsentation der Korpora ihrer Dichter zu tun war (doch wozu dann die anonymen Lieder 1–3?), sei es, dass es sich bei den fraglichen Liedern um Texte handelt, die innerhalb dieses Dichter- und Gelehrtenkreises im Umlauf waren, die zu ihrem Selbstverständnis gehörten. Dann wären sie freilich eher ein Ansatz zur Erweiterung der Spielformen von Spruchdichtern ebenso wie die Strophen- und Refrainlieder und die bisher keinem volkssprachigen Tonmeister zuzuordnenden Kanzonen der späteren Partien der Sammlung bzw. der zeitlich später anzusetzenden schlesischen Kleriker, die für diese Stücke verantwortlich zeichnen. Freilich darf auch bei diesen Stücken nicht vergessen werden, dass sie nicht als geschlossener Block abgesondert von Estas, Tilo und Mersburg stehen, sondern sich mit deren Werken durchmischen – die Sammlung endet mit drei Texten von Tilo und Estas auf Töne Frauenlobs, wobei der dritte unvermittelt am Seitenende abbricht. Dieses selbstbewusste Auftreten der litterati, die sich in einem literarischen Diskurszusammenhang durch ihre Zugehörigkeit zum lateinischen Sprachraum zunächst als Außenseiter profilieren, wird indirekt in einem Text des Dichters Tilo (Nr. 21) auf Frauenlobs Langen Ton erläutert, in dem er sich mit dem Verhältnis zwischen verwendeter Sprache und transportiertem kulturellen Gehalt beschäftigt: Nam quamvis alis volitem Ycariis, ex variis fontibus caballinis labiorum tinis non haurio scienciam, quam scio a supinis sacris manare fontibus ad rectas officinas. Denn obwohl ich mit ikarischen Flügeln fliege, schöpfe ich nicht aus den diversen Pferdetränken mit den Kelchen der Lippen das Wissen, von dem ich weiß, dass es aus hohen heiligen Quellen zu den rechten Werkstätten führt.

Das sprechende Ich rechtfertigt sich für die Verwendung der lateinischen Sprache, indem es darauf verweist, dass es die mit dieser Sprache transportierten Inhalte nicht aus heidnischen Quellen, sondern aus dem christlichen Kanon bezieht. Keinen Erklärungsbedarf sieht der Dichter dafür, dass er einen ‚deutschen‘ Ton mit lateinischen Worten füllt.



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Es zeigt sich, dass auch die auf den ersten Blick innerhalb der Sammlung als Fremdkörper erscheinenden Texte das Potenzial bieten, als der zeitgenössische Versuch der Erweiterung eines auf deutsche Kanzonentöne verengten Sangspruchbegriffs gelesen zu werden. Freilich, dies sei hier in aller Deutlichkeit gesagt, soll die Bezeichnung ‚lateinischer Sangspruch‘ für diejenigen Strophen reserviert bleiben, die als in diversas melodias magistrorum vulgariter dictancium mensurata zu erkennen sind, für die sich also deutsche Spruchdichter als Tonmeister angeben lassen. Lateinische Texte zu deutschen Tönen in der ‚Sterzinger Miszellaneen-Handschrift‘ In den lateinischen Partien der ‚Sterzinger Miszellaneen-Handschrift‘ (Sterzing, Stadtarch., ohne Sign.) finden sich, wie bereits Gisela Kornrumpf (Melodie) erkannte (Zimmermann, M., Sterzinger Miszellaneen-Hs., S. 435), auch mehrere Strophen in Tönen bekannter deutscher Meister, namentlich in Boppes und Konrads von Würzburg Hofton, Stolles Alment und Regenbogens Briefweise. Zu jedem dieser Töne sind, ohne dass eine Überschrift dies deutlich ausweisen würde, drei lateinische Strophen verzeichnet, die jeweils in einem geschlossenen Block am Beginn einer Seite stehen. Die einzelnen Strophen beginnen wiederum immer auf neuer Zeile und mit zweizeiliger Initiale, welche nach links hin über den Schriftblock hinausragt und somit ein klares optisches Signal setzt. Der Rest der Seiten ist mit gemischten lateinischen Sprüchen gefüllt, die durch eine Leerzeile und ihre abweichende optische Gestaltung – Verwendung von Halbzeilen, durch Striche auf einen gemeinsamen Reim hin ‚gebündelte‘ Verse – einen klaren Kontrast zu den Spruchstrophen darstellen und inhaltlich Heterogenes bieten, das nur selten und somit wohl zufällig an die Lieder anknüpft, welche die jeweilige Seite eröffnen und etwa zur Hälfte füllen. Die Kompilatoren waren sich folglich bewusst, dass hier erstens ‚Artfremdes‘ auf gemeinsamen Seiten beieinander steht, dass zweitens die Spruchstrophen das Wesentliche sind (daher ihre prominente Positionierung am Seitenbeginn), während der Rest lediglich als Füllmaterial fungiert, und dass drittens der verwendete Ton die Strophen untereinander verbindet und gleichzeitig eine Differenzierung der Strophenblöcke voneinander verlangt. In Stolles Alment wurden ein Gottespreis, ein Lob der Gastfreundschaft und eine christliche Verarbeitung der antiken Mesotes-Lehre verfasst. An diesen Strophen sieht man sehr deutlich, dass die Dichter das Prinzip der Einstrophigkeit zu wahren wissen: Der Ton wird zwar dreimal verwendet, doch die darin verfassten Strophen bleiben eigenständige, geschlossene Elemente. Der Hofton Konrads von Würzburg transportiert eine Klage über die Unbeständigkeit des Glücks, eine Armutsklage und einen hymnischen Gottespreis und setzt damit dieses Prinzip fort. Bei den Strophen in Boppes Hofton wird zwar aus dem gleichen Gestus heraus von der Rettungsbedürftigkeit der Welt gesprochen, doch sind die Strophen in ihrer Ausarbeitung wiederum zu heterogen, um als der Versuch eines Dreierbars missverstanden zu werden. Regenbogens Briefweise dient zuletzt der Darstellung der Trinität, einem Lob der heiligen Jungfrau und einer Hymne auf die Gnade Gottes. Die vermischten Sprüche wiederum,

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welche die betreffenden Seiten füllen, schließen thematisch nicht an die Spruchstrophen an und bestätigen damit den Eindruck für sich stehender Texteinheiten. Die getreue Präsentation der Form steht betont im Mittelpunkt, nicht ein spezifisches Thema. Wenn also die Strophen nicht als miteinander verbunden aufgefasst werden können, muss das auffällige Beharren auf drei Strophen pro Ton als redaktionelle Entscheidung gewertet werden. Die formale Einrichtung der betreffenden Seiten im Sterzinger Codex macht deutlich, dass bei der Redaktion der Sammlung ein Bewusstsein für die herausgehobene Stellung der lateinischen Spruchstrophen vorausgesetzt werden kann. Die Wahrung des Tons als leitendes Ordnungskriterium und der Einstrophigkeit als dichterisches Prinzip sowie die inhaltliche Eigenständigkeit legen nahe, dass die Dichter der Strophen mit den Gepflogenheiten der deutschen Tradition, auf die sie mit ihren Texten rekurrieren, vertraut waren und folglich nicht lediglich lateinische Texte verfassten, deren formale Strukturen sie volkssprachigen Sangsprüchen entlehnten, also gewissermaßen zufällig Sangsprüche schrieben, sondern dass sich hier die ausdrückliche Absicht niederschlägt, sich dieser Tradition anzuschließen. Daher sollten auch diese Strophen explizit als lateinische Sangsprüche eingestuft werden, auch wenn die Sammlung als Ganzes hinter dem ausschließlichen Fokus auf diese lyrische Ausdrucksform und der dadurch ermöglichten Fortentwicklung des zum Vorbild genommenen deutschen Materials zurückbleibt, wie wir es in der Augsburger Sammlung beobachten können. Kanzonenschaffen und Sangspruch Mit den Korpora aus Augsburg und Sterzing dürfte der Bestand dessen, was wir mit Sicherheit unter der Bezeichnung ‚lateinischer Sangspruch‘ fassen können, weil der Zusammenhang der Kompilation jeweils ein systematisches Interesse an der Tradition des Sangspruchs erkennen lässt, in seinem Kern benannt sein. Zugleich zeigen diese Sammlungen bereits die Schwierigkeiten einer solchen Klassifizierung auf, vielleicht auch die Grenzen des Begriffs selbst. Denn wenn wir in Augsburg, der systematisch vorbildlichen Sammlung, die uns sogar mit Dichternamen versorgt, nur die Lieder und Strophen gelten lassen, für die wir deutsche Tonmeister nachweisen können, berauben wir damit die lateinischen Dichter der Möglichkeit, sich auch mit eigenen Tönen zu profilieren. Der Augsburger Dichter Tilo variiert in den Strophen Nr. 18–23 den Langen Ton Frauenlobs, zunächst indem er den fünften und sechsten Vers des Abgesangs nicht mehr auf die vorangehenden Verse reimen lässt, sondern mit dem letzten Vers, und dadurch den Strophenreim, der bei Frauenlob die Stollen und den Abgesang verbindet, aufgibt (Nr. 18–20). In den drei folgenden Strophen stellt er den übergreifenden Reim wieder her, verbindet jedoch die Viersilbler, die Vers 3 und 4 des Abgesangs bildeten, zu einem Achtsilbler (Nr. 21–23). Diesen formalen Varianten stellt der Codex eine ‚originalgetreue‘ Strophe dieses Tons von Mersburg voran, der danach (Nr. 24  ff.)



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die Gruppe der Strophen im Langen Ton des Marners eröffnet. Da er den Ton gleich zweimal variiert und auf jede dieser Varianten gleich drei Strophen dichtet, muss von einer absichtlichen Variation des zum Vorbild genommenen Tons ausgegangen werden und, solange keine deutsche Strophe aufgefunden wird, welche dieselbe Form zeigt und somit als Vorbild angesetzt werden könnte, auch von einer eigenständigen Variation. Dass ferner die einzelnen Varianten wiederum Gruppen bilden, zugleich jedoch innerhalb der großen ‚Langer-Ton-Partie‘ – noch dazu unter dem gleichbleibenden Hinweis eadem melodia – und hier direkt nach einer Strophe im unveränderten Ton der deutschen Tradition systematisch am richtigen Ort stehen, macht deutlich, dass die Einschätzung des Redaktors der Sammlung die gleiche war: Die Strophen gehören zum Langen Ton Frauenlobs, stellen zugleich aber eine Besonderheit dar, lassen sich untereinander gruppieren, sind Varianten. Diese Eigenständigkeit des lateinischen Dichters können wir nur deshalb als solche erkennen, weil seine Variation des Tons sich auf Details beschränkt und die Zugehörigkeit zum deutschen Vorbild wegen der weitgehenden Deckungsgleichheit der formalen Schemata nicht bezweifelt werden kann. Anders wäre es, wenn aus dieser Gleichheit bloße Ähnlichkeit würde, noch schwieriger, wenn der Überlieferungszusammenhang eine weniger eindeutige Sprache spräche als in der Augsburger Sammlung. So stellt sich einerseits die Frage, ob wir denjenigen Strophen, die in derselben Sammlung von denselben Dichtern in Kanzonenform verfasst wurden, gerecht werden, wenn wir sie allein deshalb nicht als Sangsprüche ansehen, weil ihnen keine aus der volkssprachigen Tradition bekannten Töne zugrunde liegen, andererseits auch, wie umgekehrt mit dem zu verfahren wäre, was als „geistliche Kontrafaktur in anonymer Streuüberlieferung“ (Kühne, Entwicklungen, S.  81) zwar deutsche Töne nutzt, bei dem sich jedoch kein systematisches Interesse am Sangspruch als Gattung erkennen lässt. Will man nicht gänzlich auf ordnende Kategorien verzichten, scheint es im Bewusstsein dieser schwierigen Grenzziehungen geboten, den skizzierten Weg weiter zu verfolgen und als lateinischen Sangspruch nur das zu fassen, was sowohl formal an die volkssprachige Tradition anknüpft als auch durch den Zusammenhang, in dem es überliefert wird, ein gattungsmäßiges Interesse an dieser Tradition demonstriert. Der lateinische Sangspruch bedarf einer Kontextualisierung, um als solcher gelten zu können. Als einzige Ausnahme mögen die lateinischen Artes-Sprüche des Marners (Wms. 7,19) und Heinrichs von Mügeln (Stmn. 281–295; s. unten → Kapitel  VII.4 u. VII.12) gelten. Schwerlich wäre zu begründen, warum diese, wenn man die Autorschaft der deutschen Dichter anerkennt, nicht zu den Sangsprüchen gerechnet werden sollten, wobei zumindest Marners ‚Fundamentum artium‘ auch in der ‚Augsburger Cantionessammlung‘ überliefert wird, dort jedoch anonym. Für die lateinische ‚Ungarnchronik‘ Heinrichs von Mügeln, in der partienweise drei eigene Töne und die von neun anderen Spruchdichtern (Frauenlob, Regenbogen, Wolframs Titurelstrophe, Mülich, dem Ungelehrten, Boppe, Ps.-Neidhart, dem Kanzler und Reinmar von Zweter) verwendet werden, können wir zwar in Anbetracht ihres Autors ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Sangspruch ansetzen, doch sind diese Partien

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durch den größeren Zusammenhang der prosimetrischen Chronik eher als diesem Dichter naheliegende formale Übernahmen zu werten denn als intendierte lateinische Sprüche. Grenzbetrachtung: Die ‚Basler Liedersammlung‘ Unter dem Titel ‚Poetische Versuche und Sammlungen eines Basler Klerikers aus dem Ende des 13. Jahrhunderts‘ hat Johann Jakob Werner 1908 die sog. ‚Basler Liedersammlung‘ veröffentlicht (vgl. Werner, Versuche), die für einen Überblick über den lateinischen Sangspruch von Interesse ist, obwohl sie nichts enthält, was unter diesen Begriff fallen könnte. Ihr Kompilator – und wohl auch Autor zumindest einzelner Texte der Sammlung –, ein Kleriker am Hof des Bischofs von Basel, wo zur gleichen Zeit auch Konrad von Würzburg weilte, muss mit dem Sangspruch vertraut gewesen sein. Dass ein offenbar am Lied Interessierter sich die Gelegenheit entgehen ließe, mit einem prominenten Dichter in Kontakt und Austausch zu treten, nachdem sie zusätzlich zu ihrer gemeinsamen Interessenlage nun auch räumlich in solche Nähe gerückt worden waren, darf wohl ausgeschlossen werden (zur Literatur am Hof von Basel zur fraglichen Zeit s. auch Backes, Rolle, bes. S.  60–66). Bereits der zweite Text der Sammlung könnte auf den ersten Blick für eine Kanzone gehalten werden, präsentiert er sich doch in Werners Ausgabe als ein Konstrukt aus zwei gleichgebauten, durch Endreim verbundenen und einem dritten, formal abweichenden Strophenteil. Der Inhalt ist geistlicher Art: die doppelte Natur Christi, das Wunder der Jungfrauengeburt, abschließend ein Aufruf zum Gotteslob. Auch die – freilich ohnehin verbreiteten – Bildlichkeiten erinnern stark an ähnliche Partien im Augsburger Korpus, dessen ältere Kernpartie ebenfalls in das 13. Jahrhundert datiert. Zugleich bleibt das formale Schema zu eintönig. Mit Ausnahme von Vers 4 und 8 beschränkt sich der Dichter auf Achtsilbler, sodass, nimmt man das eher simple Reimschema (aaab cccb ddee) hinzu, welches auf die Anbindung des vermeintlichen Abgesangs an die vorangehenden Strophenteile verzichtet, als Vorbild ebenso gut eine (lateinische) Sequenz angesetzt werden kann wie eine (deutsche) Kanzone. Für den vorliegenden Zusammenhang ist diese Sammlung deshalb von Interesse, weil sie sangspruchaffin ist (ihrer Abfassungszeit, ihrem Herkunftsort und ihrem Kompilator nach), ohne deshalb Sangsprüche zu bieten. Es lagen alle äußeren Bedingungen vor, um ein Projekt des lateinischen Sangspruchs ähnlich dem im Augsburger Codex zu begünstigen, dennoch lässt sich nicht einmal der Versuch nachweisen. Damit stellt die Basler Sammlung einerseits die Besonderheit des Sterzinger und vor allem des Augsburger Materials heraus, indem sie illustriert, dass der Gedanke des lateinischen Sangspruchs nicht so naheliegend war, wie man aus dem souveränen Schaffen der Dichter um Mersburg und Tilo vermuten könnte, und uns andererseits ein Beispiel dafür gibt, in welchem Kontext nach weiteren lateinischen Sangsprüchen zu suchen wäre, was die lokalen literarischen Bedingungen anbelangt. Kurzum: Das



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Basler Material ist deshalb interessant, weil das Fehlen lateinischer Sangsprüche hier überrascht. Ein Grund für dieses Fehlen mag darin liegen, dass der Basler Kleriker, wie sich aus dem häufigen Rückgriff auf Akrostichen folgern lässt, Dichtung eher als schriftliches Projekt wahrnahm, das seine Kunstfertigkeit dem Lesenden präsentiert, weniger dem Hörenden – eine Tendenz, die ihn von der Tonkunst der Sangspruchtradition trennt. Fazit und Ausblick Außerhalb der behandelten Sammlungen Sterzing und Augsburg finden sich in diversen Handschriften (z.  B. München, BSB, Clm 18885, 18921, 18939; Vorau, Stiftsbibl., Cod. 401 mit einer kleinen Sammlung Cantiones in Meistertönen; weitere Beispiele bei Kornrumpf, Liedkunst, S. 115  f. und Schubert, M. J., Verschriftlichung, S. 287, Liste 2) verstreute Eintragungen lateinischer Texte auf bekannte Töne volkssprachiger Autoren (vgl. die zahlreichen Nachweise im RSM, Bd. 1). Für diesen Bestand „anonymer Streuüberlieferung“ (Kühne, Entwicklungen, S. 81), der im Detail auf Zitate, Verweise und andere Indizien bewusster Rezeption und der Vertrautheit mit dem deutschen Diskurs zu untersuchen wäre, gilt, dass aufgrund der fehlenden Einbettung in eine systematisch strukturierte Kompilation nicht von bewusster Rezeption und damit auch nicht von lateinischen Sangsprüchen im engeren Sinn gesprochen werden kann. Der lateinische Sangspruch bedarf der Kontextualisierung. Aus seinem Überlieferungszusammenhang muss deutlich erkennbar sein, dass die betreffenden Dichter ein systematisches Interesse an der deutschen Tradition hatten, in deren Kontext sie durch ihr Schaffen bereichernd eintreten wollten. Einer Würdigung dieser Bereicherung sind dabei enge Grenzen gesetzt: Ein eigenständiger Ton des lateinischen Sangspruchs ließe sich nur dann erkennen, wenn die Melodie überliefert wäre. Da dies auch in der Augsburger Sammlung nicht der Fall ist, können wir selbst die Kanzonen von Mersburg, Estas und Tilo nur dann als Sangsprüche anerkennen, wenn die deutschen Tonmeister bekannt sind. Gleiches gilt für lateinische Lyrik, die dem deutschen Sangspruchschaffen zwar in inhaltlichen und formalen Belangen nahesteht, wie es am Beispiel der ‚Basler Liedersammlung‘ gezeigt wurde und sich ebenso für Partien der ‚Carmina Burana‘ oder verwandter Texte nachweisen ließe. Zwischen lateinischen Lyrikern und den deutschen Spruchdichtern gibt es viele Berührungspunkte, doch von einem direkten und intendierten Beitrag der lateinischen Dichter zum Schaffen der deutschen kann nur dort gesprochen werden, wo wir einen solchen Beitrag durch die Verwendung bekannter Töne und den systematischen Anspruch des Überlieferungszusammenhangs nachweisen können, wenn wir nicht die Diskurse als solche generell verwischen wollen. Der Bestand an lateinischen Sangsprüchen beschränkt sich damit vorerst auf 30 Augsburger Strophen (34, wenn man die Strophen mitzählt, für die zwar mit Guldein Vingerl – „Goldenes Ringlein“ – ein Tonname gegeben wurde, den wir jedoch keinem

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

deutschen Vorbild zuordnen können), 12 Texte aus Sterzing und die lateinischen Artes-Sprüche des Marners (1 Str.) und Heinrichs von Mügeln (15 Str.). Zuwachs kann dieses überschaubare Material nur dann haben, wenn für die bislang unbekannten Kanzonenformen aus Sterzing und Augsburg durch neue Funde im deutschen Bereich Tonmeister erschlossen werden oder im lateinischen Bereich eine neue Sammlung auftaucht, die in ihrem sytematischen Anspruch an die Handschriften aus Sterzing und Augsburg heranreicht. Ausg. Alx.; Callsen (Hg.), Augsburger Cantiones-Sammlung. – Lit. Backes, Rolle; Hägele, Handschriften; Kornrumpf, Liedkunst; Kornrumpf, Melodie; Kühne, Entwicklungen; Kühne, Kunstbedingungen; RSM; Schubert, M. J., Verschriftlichung; Werner, Versuche; Zimmermann, M., Sterzinger Miszellaneen-Hs.

6 Niederländisch-deutsche Interferenzen

Frank Willaert

Sangspruchdichtung am Rande der mittelniederländischen Literatur „Die Niederlandistik kennt den Sangspruch nicht“ (Tervooren, Spruchdichtung, S.  36). Tatsächlich wird man den Begriff ‚Sangspruch‘ in der neuesten, groß angelegten Geschichte der mittelniederländischen Literatur vergebens suchen (Van Oostrom, Stemmen; Van Oostrom, Wereld). Wo Sangsprüche auftauchen, geschieht das in der Regel in Handschriften, die zur Peripherie der mittelniederländischen Literatur gerechnet werden. Die älteste Handschrift ist das sog. ‚Maastrichter Fragment‘ (Maastricht, Rijksarchief Limburg, Ms. 237 [früher: Ms. 167 III.11]), das 1988 von Helmut Tervooren und Thomas Bein ediert und auf das Ende des 13. Jahrhunderts datiert wurde. Dieses Doppelblatt muss zu einem gut ausgestatteten, zweispaltigen Manuskript gehört haben, das seinen Herausgebern zufolge in einem Raum, in dem rheinische und westfälische Schreibtraditionen zusammenflossen, entstanden ist (Tervooren/Bein, Fragment, S.  12–15 u. 24; Tervooren, Spruchdichtung, S. 41): nicht weit von der Stadt also, wo es jetzt aufbewahrt wird. Ob es sich um eine umfangreiche Liedersammlung, wenn nicht sogar um eine Liederhandschrift handelte, ist nicht mehr zu entscheiden. Jedenfalls dokumentiert das Fragment ein lebendiges Interesse an der hochdeutschen Lyrik: Das zweite Blatt, das ursprünglich dem ersten Blatt nicht unmittelbar folgte, ist deutlich von einem anderen Kopisten beschrieben, und außerdem haben ein oder zwei spätere Kopisten noch neue Strophen unter den Spalten nachgetragen (Tervooren/Bein, Fragment, S. 2). Bis auf einen einzigen, sonst nicht überlieferten Sangspruch, den die Handschrift dem Tugendhaften Schreiber zuschreibt, sind alle Texte anonym. Dennoch ist es möglich, aufgrund der Parallelüberlieferung etliche Strophen bekannten Dichtern



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zuzuweisen: Reinmar von Zweter (Roe. 18, 26 u. 74 und nachträglich Roe. 170), Kelin (Whm. III,3 u. 5) und Rumelant von Sachsen (Ruw. II,5). Auch Neidhart ist präsent, mit sieben Strophen aus Winterlied 14, mit den Anfangsversen von Winterlied 16 und, als Zusatz unten auf fol. 1v, mit der ersten Strophe von Sommerlied 30. Weiter müssen die Strophen XVa, XVI und XVII des Fragments aufgrund der zahlreichen Reimpaare wahrscheinlich als eine einzige kurze Minnerede betrachtet werden (Holznagel, Wege, S. 389; vgl. Klingner/Lieb, Minnereden, Z36). Damit wäre diese Handschrift der früheste Repräsentant eines gängigen Überlieferungstypus, in dem Lieder und Minnereden nebeneinander vorkommen. Zwei Sangsprüche (IV, XVIII) sind an Maria gerichtet, die übrigen handeln von der Minne (I, II), von Tugend und Ehre (III, VI, XVIII) oder preisen die Geliebte (V). Damit sind zugleich die Themen angedeutet, die auch in den übrigen, in der Nähe des heutigen niederländischen Sprachgebietes überlieferten Sangsprüchen dominant vorhanden sind. Dies ist zum Beispiel der Fall bei der Sammlung des Trierer Notars und Diplomaten Rudolf Losse (1310–1364). Diese Sammlung besteht aus zwei Gruppen von mittelhochdeutschen bzw. mittellateinischen Gedichten und Liedern, die um 1340 in Losses Auftrag in die 34. Lage eines juristischen Kopialbuches (Kassel, UB und LMB, 2° Ms. iurid. 25) eingetragen wurden. Neben einer Reihe ripuarischer und lateinischer Rondeaux, einer lateinischen Virelai-Ballade, drei deutschen Minnereden (Klingner/ Lieb, Minnereden, B52, B67, B145), drei Minneliedern, einem Vexiergedicht, einem Rätsel und einer allegorischen Tugendlehre (ebd., B469) enthält diese Sammlung auch drei, von Losse selbst namentlich zugewiesene Strophen in der Neuen Ehrenweise Reinmars von Zweter (u.  a. Roe. 267, 264) und einen an Maria gerichteten geistlichen Sangspruch Friedrichs von Sonnenburg (Mas. 62; vgl. auch Stengel/Vogt [Hg.], Zwölf Minnelieder und Reimreden). Die ersten zwei Strophen Reinmars von Zweter handeln wieder von einem ehrenvollen Leben, die dritte warnt vor zu viel Vertrauen auf das quecksilberne, launenhafte Gelucke. Um 1350 erbringen zwei andere Handschriften den Beweis, dass Minnesang und Sangspruch im Rhein-Maas-Gebiet noch immer mit viel Interesse rechnen konnten. Eine Handschrift – es handelt sich um Berlin, SBB-PK, Mgq 284 –, die vor allem als Tristanhandschrift N oder Minnesang-Handschrift o bekannt ist, gehörte einstmals zur Bibliothek der Grafen von Manderscheid zu Blankenheim in der Eifel. Der ‚Sächsischen Weltchronik‘, vier kurzen Tiergedichten (drei auf mittelniederländisch, einem auf mittelhochdeutsch), einer Ehrenrede auf Graf Wilhelm III. von Holland (1304–1337) und fünf rheinischen Minnereden (Klingner/Lieb, Minnereden, B477, B342, B507, B470, B304, B358) folgt eine kleine Anthologie von drei Liedern, die selbst wieder vom ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg abgelöst werden (zur Handschrift siehe u.  a. Glier, Artes amandi, S. 262–266; Rheinheimer, Minnereden, S. 14–16; Becker, Handschriften, S. 45–47; Tervooren, Handbuch, S. 180  f.). Das erste Lied ist ein hübsches Tagelied des Markgrafen von Hohenburg (KLD 25,V), das dritte eine sonst unbekannte Virelai-Ballade (Willaert, Verbreitung, S. 166), eine Gattung, die vor allem im Raum

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zwischen Maas und Rhein zur Blüte kam (Willaert, Lyriklandschaft, S. 45–47). Der zweite Text ist eine Bearbeitung von Walthers von der Vogelweide Strophe L. 30,9, eine Warnung vor falschen Freunden (diplomatische Ausgabe in L./Cor., S. 55). Von den drei Liedern ist dieses das einzige, das nicht mit der Überschrift Eyn sanc bezeichnet wird, und man kann Zweifel daran hegen, ob der Kopist den Text als ein Lied betrachtet hat. Auch hat der Bearbeiter die ersten drei Verse ausgelassen sowie Metrik und Reimschema modifiziert, wobei es auffällt, dass er die ‚Gespaltene Weise‘ des König Friedrichstons (6 aaabccbddd) zu einer ‚regulären‘ Kanzonenstrophe (6a 6b /6a 6b //6a 5a 5c 4d 4c 4d 4x 4d) umgedichtet hat. Die zweite, gleichfalls aus der Kölner Gegend stammende Handschrift (Leipzig, UB, Rep. II fol. 70a) ist ein Konvolut, das möglicherweise erst im 18. Jahrhundert aus zwei Handschriften zusammengesetzt worden ist (Schmeisky, Lyrik-Hss. m und n, S. 223–261; GA, Bd. 1, S. 73–79). Die Sangsprüche befinden sich alle im ersten Heft der zweiten Handschrift, die um die Mitte des 14. Jahrhunderts von einem einzigen Kopisten geschrieben wurde. Sie sind in zwei Sammlungen von 25 bzw. 31 Strophen (n I und n II) zusammengetragen, welche die strophische Minnerede ‚Neun Männer, neun Frauen‘ umrahmen. In der ersten Sammlung bilden Liebe und Frau (einschließlich der Ehe) die wichtigsten Themen. Die Minnerede, in der neun Ritter jeweils ihre Ehefrau preisen und umgekehrt, schließt gut an diese Strophenreihe an (Kornrumpf, Niederrheinische Lhs., Sp. 997). In der zweiten Strophenreihe erweitert sich die Thematik und verlagert sich der Akzent auf höfische Tugenden, auf die Bedeutung von êre und auf die Missstände in der Welt (Schmeisky, Lyrik-Hss. m und n, S. 343–345). Auch in dieser Handschrift gibt es keine Autornamen, obwohl es möglich ist, durch die Parallelüberlieferung für etwa zwei Drittel der Strophen die Namen von Walther von der Vogelweide, Reinmar von Zweter, Marner, Konrad von Würzburg, Kanzler und Frauenlob u.  a. zu eruieren (GA, Bd. 1, S. 78). Wie beschränkt die Zahl der besprochenen Handschriften auch erscheinen mag, es zeichnet sich doch ein Muster ab. Mit Ausnahme der Losse-Sammlung enthält keine der übrigen Handschriften Lieder in der Tradition der Minnekanzone. Außerdem sind die drei Minnelieder in letzterer Sammlung aus Oberhessen (Der Schenk von Lißberg), aus Schwaben (Ulrich von Baumburg) bzw. aus Thüringen (ein Minnelied aus der Schule Heinrichs von Morungen) importiert (Stengel/Vogt [Hg.], Zwölf Minnelieder und Reimreden, S. 29, 13 und 7). Diese Sammlungen bestätigen somit die These, die ich an anderer Stelle vertreten habe, nämlich dass das alte Lotharingien, d.  h. das Gebiet zwischen Schelde und Rhein unter Einschluss des romanischen Teils, als Raum des anti-grand chant courtois, sagen wir, als Raum der Anti-Minnekanzone schlechthin bezeichnet werden kann (Willaert, Lyriklandschaft, S.  42–49). Statt Minneklage und Werbelied pflegte man in diesem Raum spielerische, oft tanzliedartige Gattungen, öfters mit einem Refrain und fast immer ohne Autorenangabe. Daneben, und vielleicht auch komplementär, gab es vor allem anonyme höfische Minne- und Tugendlehre, wie Melitta Rheinheimer (Minnereden) gezeigt hat. Importierte Sangspruchdichtung aus anderen Regionen Deutschlands fand an diese Sachlage einen



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logischen Anschluss, solange die höfische Liebe und die höfischen Tugenden auch in diesen Sangsprüchen die zentralen Themen bildeten. Die zwei großen Sammlungen vom Anfang des 15. Jahrhunderts, die ‚Haager‘ und die ‚Berliner Liederhandschrift‘, bestätigen dieses Bild. Der Überlieferungsschwerpunkt letzterer Sammlung, die am nördlichen Niederrhein, unweit der heutigen niederländisch-deutschen Grenze zustande gekommen sein muss (Lang/MüllerBlattau [Hg.], Lieder des Berliner Mgf 922), ist nicht vom Sangspruch, sondern vom Tanzlied, meistens mit Refrain, bestimmt (Willaert, Danslyriek). Der Entstehungsort der ‚Haager Liederhandschrift‘ (Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, 128 E 2) ist schwieriger zu bestimmen. Laut einer Besitzernotiz, die am Ende der Handschrift (fol. 47v) zwischen 1440 und 1470 angebracht ist, gehörte das Manuskript dem Grafen Johann IV. von Nassau und seiner Gattin Maria von Loon, die in Breda ihre Residenz hatten. Weil die Handschrift sowohl hochdeutsche (vor allem mitteldeutsche) als auch holländische Texte enthält, ist die alte Hypothese von Aleida Nijland noch immer verlockend, nach der die Handschrift im Auftrag von Johanns Vater, Engel­ brecht  I. von Nassau, zustande gekommen sei (Nijland [Hg.], Gedichten uit het Haagsche liederhandschrift, S. 138). Dieser rheinische Fürst hatte 1403 die elfjährige, steinreiche holländische Adlige Johanna von Polanen (1392–1445) geheiratet und war so in den Besitz zahlreicher Territorien in Brabant, Holland, Seeland, dem Hennegau und Utrecht gelangt. Auf diese Weise könnte die holländisch-deutsche Zusammensetzung dieser Sammlung eine elegante Erklärung finden. Das hat andere Forscher nicht daran gehindert, andere Hypothesen vorzuschlagen. Einige haben die Handschrift mit der Wittelsbacher Dynastie, die im Haag regierte, im Zusammenhang gesehen (u.  a. Kalff, Geschiedenis, S.  256–259; Te Winkel, Ontwikkelingsgang, S.  71  f.; Chinca, Song, S. 119  f.; viel vorsichtiger Van Oostrom, Woord, S. 92  f.), andere mit Mechtild von Geldern, Gräfin von Kleve (Jungman, Haags Liederenhandschrift; dagegen, wohl zurecht: Sternberg, Briefsammlung, S. 115  f.). Wenn auch die Hypothese von Aleida Nijland mir als die plausibelste vorkommt, müssen wir dennoch erkennen, dass wir noch immer im Dunkeln tappen. Jedenfalls weist die Tatsache, dass einige Texte zweimal kopiert wurden und gleichartige Texte oft in derselben Umgebung vorkommen, darauf hin, dass die Handschrift aus verschiedenen kleineren Sammlungen zusammengestellt ist (Hogenelst/Rierink, Praalzucht, S. 42  f.). Zurecht hat Helmut Tervooren die Handschrift als ein Repertoirebuch charakterisiert, in dem ein Hof „die kulturellen Handlungen seiner Mitglieder dokumentiert und archiviert hat“ (Tervooren, Haager Lhs., S. 198). Nicht ganz unerwartet stehen auch in dieser Handschrift die höfische Minneund Tugendlehre im Mittelpunkt. Etwa vierzig Minnereden und sproken  – für den öffentlichen Vortrag bestimmte moralisierende Kurzgeschichten in Versen  – lösen sich ab, mit noch einer Ehrenrede (auf Graf Wilhelm IV. von Holland), etwa sieben Minnerätseln, einer Reihe von Sprüchen und einem Dutzend Kleingedichten (Minneklagen, Liebeserklärungen usw.). Strophische Texte sind in der Minderzahl, und von nur wenigen steht fest, dass sie als Lieder zu betrachten sind. In der Regel sind sie

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anonym. Einige Strophen können aufgrund der Parallelüberlieferung bekannten Minnesängern zugewiesen werden: Reinmar (Kossmann [Hg.], Haager Lhs., Nr. 37B) und Dem von Sachsendorf (ebd., Nr. 40 B-C1); auch gibt es einige Verszitate, die auf Albrecht von Johansdorf und Ulrich von Winterstetten zurückgehen (Tervooren, Haager Lhs., S. 204). Der einzige namentlich genannte Minnesänger ist Walther von der Vogelweide: Die strophischen Texte 29 und 30 tragen beide als Titel Heren Walthers zanch. Im letzteren Fall handelt es sich um das Dialoglied Ich hœre iu sô vil tugende jehen (L. 43,9/Cor. 20,1); im ersten Fall um 34 Verse aus verschiedenen Liedern, die in vier ungleiche Strophen „zusammengewürfelt“ sind (Kossmann [Hg.], Haager Lhs., S. 37). Die ersten zwei Strophen sind übrigens von Walther von Mezze verfasst, der dank des Erfolges seines berühmteren Namensbruders auch an anderer Stelle in die ‚Haager Liederhandschrift‘ ‚hineingeschlüpft‘ ist (Nr. 68 = KLD 62,VII,1 = L./Cor. 107,1). Weiter ist Nr. 41 als eine bizarre Montage von Strophen und Strophenteilen zu betrachten, die in Cormeaus Ausgabe über Walthers Lieder 27, 62, 28 und 26 verstreut sind. Die Strophe von Lied 62, aus der in Nr. 41 einige Verse entlehnt worden sind, kommt nochmals vollständig in Nr. 82 zurück. Das ist alles Minnesang, aber auch die Sangspruchdichtung ist in der ‚Haager Liederhandschrift‘ mit drei anonymen Strophen in Frauenlobs Kurzem Ton (4a 4b 4a 4b 4c 4d 4c 4d) präsent (Kossmann [Hg.], Haager Lhs., Nr. 105). Die ersten zwei Strophen kommen auch in der umfangreichen Frauenlob-Sammlung F, der ‚Weimarer Liederhandschrift‘ (2. Hälfte 15. Jh.), vor (Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibl., Cod. Q 564), in anderer Folge bzw. an der 345. und 343. Stelle (Morgenstern-Werner [Hg.], Weimarer Lhs. Q 564, S. 78). Die erste Strophe begegnet auch in ‚Liebhard Eghenvelders Liederbuch‘ (Wien, ÖNB, Cod. s.  n. 3344), das zwischen 1431 und 1434 entstanden ist. Die dritte Strophe ist nur in der ‚Haager Liederhandschrift‘ überliefert. Nichts weist darauf hin, dass diese drei Strophen ursprünglich als ein einziges Lied konzipiert waren, und dennoch werden sie in der ‚Haager Liederhandschrift‘ als ein Lied präsentiert. Ihre gemeinsame Thematik – nur wer Ritterdienst auf sich nimmt, erwirbt das Wohlwollen der Frau – harmoniert jedenfalls mit der allgemeinen Tendenz der Sammlung. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Lieder für den Gesang bestimmt waren. Eine detailliertere Analyse würde zeigen, dass hier ein oder mehrere Redaktoren aus diesen Strophen neue Kompositionen gemacht haben, ohne auf die Strophenformen allzu viel Rücksicht zu nehmen. Nicht nur hinsichtlich der hier besprochenen Beispiele, sondern auch hinsichtlich des weitaus größten Teils der Handschrift neige ich dazu, der Folgerung Tervoorens beizupflichten, dass rede und Lied (sowohl Minnelied als auch Sangspruch) sich in dieser Sammlung aufeinander zubewegen (Haager Lhs., S. 195; vgl. auch Chinca, Song, S. 117  f.). Wenn wir das bisher Gesagte überblicken, dann muss unsere Schlussfolgerung lauten, dass die Rezeption der deutschen Sangspruchdichtung im Nordwesten des deutschen Reiches zwar nicht überwältigend, aber doch vorhanden ist, sei sie auch beschränkt auf den östlichen Rand des alten Lotharingien: den Niederrhein, Aachen-



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Köln, die Eifel, das Moselgebiet. Die ‚Haager Liederhandschrift‘ – selbst wenn sie in Breda und Holland entstanden ist – ändert das Bild nicht wesentlich: Diese Handschrift kombiniert ja Texte und kleinere Sammlungen, die im Nieder- oder Mittelrheingebiet zusammengestellt sind, mit holländischem Material. Auch wenn wir einem Zeugnis wie dem des niederrheinischen Dichters Bruder Hans Rechnung tragen, der in seinen Marienliedern Frauenlob (v. 4095) und Boppe (v. 4096) als Autoritäten erwähnt (v. 4095  f.) und deutlich durch Frauenlobs Marienleich beeinflusst ist (Fritsch-Staar, Frauenlobrezeption, S. 143–151): Wir bleiben im Niederrheingebiet, in der Peripherie also dessen, was die meisten Niederlandisten als mittelniederländische Literatur betrachten – Bruder Hans kommt in der rezentesten und maßgeblichen Geschichte der niederländischen Literatur nicht vor (Van Oostrom, Wereld). ‚Produktion‘ von Sangspruchdichtung ist in dem ganzen Gebiet zwischen der Nordsee und dem Rhein nicht zu erkennen. Und die Rezeption der Sangspruchdichtung scheint den gesungenen Charakter dieser Gattung nur selten berücksichtigt zu haben. Die Sangsprüche, die meistens Minne- und Tugendlehre thematisieren, nähern sich der rede. Flandern, Brabant, Holland Helmut Tervooren hat das Fehlen der Sangspruchlyrik bzw. das fehlende Interesse, Sangsprüche an Höfen der nideren lande aufzuzeichnen, der Tatsache zugeschrieben, dass Sänger „sich der Zweisprachigkeit des Adels im Rhein-Maas-Raum bedienten und ihre Lieder in französischer Sprache darboten“ (Tervooren, Spruchdichtung, S. 44). Mit dem Rhein-Maas-Raum bezeichnet er an dieser Stelle nicht nur die Höfe von Geldern, Kleve und Loon, sondern auch die von Holland und Brabant (ebd.), also fast des ganzen „germanischsprachigen“ Teils des alten Herzogtums Lotharingien. Aber können wir uns mit dieser Erklärung zufriedengeben? Gab es solch eine französische gesungene Lyrik mit didaktischem Einschlag, die den Aufstieg niederländischer Sangspruchdichtung verhindert hätte? Tervooren (ebd., S. 46) verweist auf das serventois, aber es handelt sich dort um eine ganz andere Gattung als beim okzitanischen Sirventes, der mit seiner didaktischen, moralisierenden und/oder politischen Thematik tatsächlich sehr gut mit der deutschen Sangspruchdichtung vergleichbar ist. Bis auf wenige Ausnahmen war das serventois ein Gedicht zu Ehren Marias. Bis ungefähr 1350 war es meistens ein Kontrafakt eines profanen Minneliedes, später erhielt es die feste Form des chant royal (fünf Strophen mit envoi). Es wurde gepflegt im Rahmen poetischer Wettbewerbe, die durch die Puys (literarische und musikalische Vereine) in den großen Städten Flanderns, des Hennegaus, des Artois, der Picardie, der Normandie und auch in Paris organisiert wurden. Es handelte sich also um eine religiöse und städtische Gattung, die schnell dem gesprochenen Vortrag vor dem Gesang den Vorzug gab (Rieger, D., Gattungen, S. 76–85 u. 118  f.; Gros, Poème, S. 17–123). Hieraus kann ich nur schließen, dass die Niederlande, wie auch der Norden Frankreichs, für gesungene didaktische, moralisierende oder meinungbildende Lyrik ein unfruchtbares Gelände gewesen sind. Zwar gab es, seit dem frühen 14. Jahrhun-

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dert, sprekers, d.  h. Dichter, die gegen Bezahlung sproken deklamierten: kurze, meistens narrative, belehrende Texte, die gewöhnlich in Paarreimversen, manchmal auch in Strophen verfasst waren (Hogenelst, Sproken, Bd. 1, S. 37–87). Diese „Sprecher“ ähneln aber eher Reimsprechern wie Peter Suchenwirt, Heinrich dem Teichner oder dem König vom Odenwald (Tervooren, Spruchdichtung, S. 51). Bekannte Sprecher waren unter anderen Willem van Hildegaersberch aus der Nähe von Rotterdam, Augustijnken von Dordrecht, Pieter Vreugdegaer von Breda oder Boudewijn van der Lore, möglicherweise aus Gent. Die große Mehrzahl der sproken ist aber namenlos überliefert. Auch Herolde wie Herold Gelre, Jan Dille oder Jan van Hollant konnten gelegentlich als Dichter und vermutlich auch als Deklamatoren von sproken auftreten. In ihrem wertvollen Repertorium hat Dini Hogenelst 358 sproken beschrieben: Diese Gattung, zu der auch Minnereden, Ehrenreden und Schwänke gerechnet werden, hat in den Niederlanden also eine große Blüte erlebt. In soziologischer Hinsicht ähneln die „Sprecher“ den Sangspruchdichtern. Aber als Gattungen liegen sproke und Sangspruch ziemlich weit auseinander. Im Vergleich mit den deutschen reden, die meistens nur paarig (aabb) oder kreuz­ weise (abab) gereimt sind, sind mehr als 50 von 358 sproken in Hogenelsts Repertorium strophisch gebaut, oft mit komplizierten Reimschemata (Hogenelst, Sproken, Bd.  2, S.  282). Solche Strophen findet man nicht nur in sproken, sondern auch in anderen, nicht gesungenen didaktischen, moralisierenden und religiösen Gattungen in der mittelniederländischen Literatur. In dieser Hinsicht nähert die niederländische Literatur sich der französischen, die über eine ganze Reihe von Strophenformen verfügt, welche für nichtgesungene didaktische, moralisierende oder geistliche Poesie verwendet werden konnten (Naetebus, Strophenformen; Seláf, Geschichten). Ich beschränke mich hier auf die drei Strophenformen, die in der niederländischen Literatur am häufigsten vorkommen: die Helinand-, die Maerlant- und die Balladenstrophe. 1 .   H e l i n a n d s t r o p h e . Die Helinandstrophe, die in der französischen Literatur oft benutzt wurde (aabaabbbabba: 6 a-Reime, 6 b-Reime) ist nach dem Zisterziensermönch Hélinand de Froidmont benannt, der zwischen 1194 und 1197 als erster diese Form in seinen berühmten ‚Vers de la mort‘ benutzte. Dass es sich hier fast sicher um ein nichtgesungenes Gedicht handelt, geht schon aus den alternativen Titeln hervor, mit denen dieses Gedicht in mehreren Handschriften versehen ist. Da fehlt jede Anspielung auf ‚Gesang‘ oder ‚Lied‘: ‚Li dis de la mort‘, ‚Li romanz de la mort‘, ‚Le fabliau de la mort‘, ‚Li livres de la mort‘ usw. Auch wenn wir wissen, dass das Wort dit manchmal auch Liedtexte bezeichnen konnte (Seláf, Geschichten, S. 313), die Länge des Gedichtes (50 Strophen, 600 Verse) spricht nicht für gesungenen Vortrag. Ob letzteres auch für die Heterogonie der Strophen (stumpfe und klingende Reime sind in den Strophen nicht ähnlich distribuiert) gilt – ein wichtiges Kriterium für Naetebus (Strophenformen), als er 1891 sein Repertorium der nichtlyrischen (lies: nichtgesungenen) Strophenformen publizierte –, ist jetzt strittig (Wolfzettel, Rutebeuf, S. 301  f.; Seláf, Geschichten, S. 312–314). Wie dem auch sei, es gibt mehr



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als 80 französische Gedichte in dieser Form, wovon die Mehrheit einen moralisierenden, didaktischen oder religiösen Inhalt hat (Seláf, Geschichten, S. 321). Das erste niederländische Gedicht in der Helinandstrophe ist eine Übersetzung des ‚Miserere‘ (um 1230) des Reclus de Molliens von dem sonst unbekannten Gielijs van Molhem. Dieser benutzte dieselbe Helinandstrophe wie das Original, ein Wagnis in einer sich schwer reimenden Sprache wie dem Niederländischen, und es wundert nicht, dass Gielijs sein mühseliges Unternehmen mitten in der 97. Strophe abgebrochen hat. Sein Werk wurde viel später von einem gewissen Heinrec fortgesetzt. Leider bricht der Text in der einzigen Handschrift wegen eines fehlenden Heftes in Strophe 122 ab, sodass wir nicht wissen, ob dieser Heinrec seine Übersetzung zu einem guten Ende gebracht hat (Leendertz [Hg.], Rinclus; Willaert, Sangsprüche, S. 67; Van Driel, Meesters, S.  149). Derselbe Reclus de Molliens hatte um 1224 schon ein anderes Gedicht in Helinandstrophen verfasst: den ‚Roman de Carité‘, aus der eine Strophe, auf französisch, unter dem Titel ‚De Walsche Carté‘ in der ‚Haager Liederhandschrift‘ aufgenommen ist (Willaert, Fleurs pâles, S. 365–368). In derselben Handschrift findet sich auch ein fünfstrophiges niederländisches Gedicht gegen die Wankelmütigkeit, das in derselben Strophenform geschrieben worden ist (Kossmann [Hg.], Haager Lhs., Nr. 23; Hogenelst, Sproken, Nr. 299). Auch in ungefähr zehn Gebeten, die um oder nach 1400 in Brügge oder jedenfalls in Westflandern geschrieben wurden, ist die Helinandstrophe verwendet oder es erscheinen Formen, die dieser sehr ähnlich sind: aabaabbbabbaa; aabaabbbbabbaa (Oosterman, Overlevering, S.  444). Es überrascht nicht, dass gerade der virtuose Dichter Jan van Hulst, der immer mehr als der beste und vielleicht der einzige Dichter der ‚Gruuthusehandschrift‘ (Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, KW 79 K 10) ins Visier kommt (Oosterman, Herinnering; Willaert, Verstrengelingen, S. 105), diese letztere und zugleich schwierigste Form in den 197 Versen seiner ‚Salve regina‘-Paraphrase gepflegt hat. In diesem virtuosen Gedicht funktioniert der lateinische Text des ‚Salve regina‘ als Akrostichon. Überdies hat Jan van Hulst in dem ganzen Gedicht jede Reimwiederholung sorgsam vermieden (Brinkman/De Loos [Hg.], Gruuthuse-handschrift, I.5). Wie schwierig die Helinandstrophe in einer germanischen Sprache ist, geht aus dem ABC-Gebet zu Maria in dem ‚Pelgrimage vander menscheliker creaturen‘ hervor, einer Prosa-Übersetzung aus dem frühen 15. Jahrhundert des ‚Pèlerinage de la vie humaine‘ Guillaumes de Digulleville. Der Übersetzer hat versucht, die Helinandstrophen seines französischen Modells zu handhaben, aber die Herausgeberin Ingrid Biesheuvel hat recht, wenn sie bemerkt, dass der „Übersetzer deutlich seine Schwierigkeiten mit den Reimschemata gehabt hat“, sodass „das ABC-Gedicht hier und da fast unverständlich ist“ (Biesheuvel, Pelgrimage, S. 92  f.). 2 .   M a e r l a n t s t r o p h e o d e r c l a u s u l e . Soweit ich sehe, hat die Helinandstrophe in der Zeit zwischen der schwer datierbaren Übersetzung des ‚Miserere‘ von Gielijs van Molhem und den soeben genannten Texten, die um und nach 1400 entstanden sind, in der niederländischen Literatur keine bedeutende Rolle gespielt. Viel mehr Erfolg war der clausule beschert, einer Strophenform, die der westflämische

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Dichter Jacob van Maerlant (2. H. 13. Jh.) erfunden und in acht seiner zehn ‚Strophischen Gedichten‘ benutzt hat (aabaabaabaabb: 8 a-Reime, 5 b-Reime). Das Wort clausule bezog sich eigentlich auf den 13. Vers, den Schlussvers, bezeichnete aber meistens die ganze Strophe. Fünf von diesen acht Gedichten mit clausules sind Dialoge: die vier sog. ‚Martijns‘, in denen Jacob mit einem Freund Martijn über sehr unterschiedliche Probleme diskutiert, sowie eine ‚Disputacie‘ zwischen Maria und dem heiligen Kreuz. Dazu kommen noch ein Lobgedicht auf Maria und zwei vehemente Klagen: ‚Van den lande van oversee‘, geschrieben nach dem Fall Akkons am 18.  Mai 1291, und ‚Der kerken claghe‘ über die Verluderung der Kirche. Das schwierige Reimschema, aber auch die Länge der meisten seiner Gedichte (der ‚Eerste Martijn‘ zum Beispiel hat nicht weniger als 975 Verse, der ‚Derde Martijn‘ 598) muss an Maerlant hohe Anforderungen gestellt haben. Dazu kommt noch, dass in verschiedenen Gedichten – in den ‚Martijns‘, in der ‚Disputacie‘ und in der ‚Clausule van der Bible‘ – die Homogonie der Strophen (d.  h. die identische Verteilung stumpfer und klingender Reime durch das ganze Gedicht hindurch) aufrechterhalten ist. Kann letzteres darauf hinweisen, dass diese Texte für den Gesang bestimmt waren? Helmut Tervooren hat vor einigen Jahren diese Frage aufgeworfen (Spruchdichtung, S. 46), aber nichts weist darauf hin. Dass es sich hier um littera sine musica handelt, können wir den Eröffnungsversen des ‚Derde Martijn‘ entnehmen, in dem das delikate Thema der heiligen Dreifaltigkeit erörtert wird. Maerlant wendet sich da an K o p i s t e n und Vo r l e s e r (Verdam/Leendertz [Hg.], Jacob van Maerlant, S. 61): Ic mane mannen metten wiven, die dit sullen lesen of scriven,  upten hoghesten ban, dat si dit dicht laten bliven rene, dat siere niet in en driven  woort, lettre, af no an. (III, v. 1–6) Ich ermahne Männer und Frauen, die dieses Gedicht v o r l e s e n oder a b s c h r e i b e n werden, bei dem höchsten Banne, dass sie dieses Gedicht sauber halten, dass sie kein Wort, keinen Buchstaben hinzufügen noch weglassen.

Mehrere von Maerlants Gedichten haben eine große Verbreitung gefunden, vor allem die ersten drei ‚Martijns‘: Der erste ‚Martijn‘ ist in 13, der zweite und dritte ‚Martijn‘ sind in je elf Handschriften überliefert. Auch in Bücherlisten von Privatpersonen tauchen sie auf: in der des Genter Handschuhmachers Jan de Beere vom Jahre 1353 zum Beispiel oder in der des Brauers Jan Wasselin, gleichfalls Genter, von 1388 (Derolez/ Victor [Hg.], Catalogi Belgii, S. 116–120; Van Oostrom, Aanvaard, S. 226). So groß war das Ansehen dieser Gedichte, dass sie 1496, und vermutlich nochmals wenige Jahre später, von Hendrik Lettersnider zu Antwerpen gedruckt wurden. Auch wurden sie schon um 1300 von dem Priester Jan Bukelare ins Lateinische übersetzt (Besamusca, Boeken, S. 15–17). Eine französische Übersetzung wurde zwischen 1477 und 1484 von



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dem Brügger Drucker Jan Brito in Umlauf gebracht (Verdam/Leendertz [Hg.], Jacob van Maerlant, S. XVIIIf.; Van Oostrom, Aanvaard, S. 226–229). Dieser Druck ist nur sehr bruchstückhaft überliefert, so dass wir nicht sagen können, ob dieses Buch mit dem angeblich zweisprachigen ‚Wapene Mertin in vlaemssche ende in walssche‘ identisch ist, den der namhafte Genter Jurist Philip Wielant in seinem Bücherinventar des Jahres 1483 erwähnt (Derolez/Victor [Hg.], Catalogi Belgii, S. 122). Der Einfluss von Maerlants ‚Strophischen Gedichten‘ zeigt sich aber vor allem an den zahlreichen Nachahmungen und Variationen, die im Gegensatz zur Helinandstrophe das ganze Jahrhundert abdecken. Maerlants jüngerer Zeitgenosse und Mitarbeiter Philip Utenbroeke (um 1300), der Brabanter Pfarrer Lodewijk van Velthem (1316), der anonyme Autor einer Reihe moralisierender Strophen (1. Hälfte 14. Jh.), die von ihrem modernen Editor mit dem Titel ‚Van hoverde en onmate‘ (‚Von Hoffart und Unmäßigkeit‘) versehen wurde, der Wundarzt Jan de Weert aus Ypern (Mitte 14. Jh.), der Brügger Dichter (möglicherweise Jan van Hulst) einer Zeitklage in der ‚Gruuthusehandschrift‘ (Anfang 15. Jh.) und noch andere haben ihre Kräfte an der clausule erprobt (einen nach Vollständigkeit strebenden Abriss findet man bei Willaert, Sangsprüche, S. 68). Ein einziger Brabanter Dichter, der im Jahre 1299 ein Schmähgedicht über den Verfall des Rittergeistes verfasste und sich ausdrücklich als Nachfolger Maerlants profilierte, hat den Schwierigkeitsgrad der Strophenform noch erhöht, indem er ihr noch zwei aabTerzinen hinzufügte: aabaabaabaabaabaabb. Aus begreiflichen Gründen ist aber meistens das Gegenteil geschehen, hat man Maerlants Strophe um eine oder zwei Terzinen gekürzt: aabaabb oder aabaabaabb (mehrere Beispiele in Willaert, Sang­ sprü­che, S. 70). Fast all diese Gedichte sind ethischen und/oder religiösen Inhalts. Soweit wir feststellen können, sind die meisten Dichter vor der Mitte des 14. Jahrhunderts fromme und gebildete Repräsentanten des niederen Klerus gewesen, die in Jacob van Maerlant ihr großes Vorbild und ihren Inspirator sahen und sich auch mehrmals ausdrücklich auf ihn beriefen. So beginnt der anonyme Brabanter Dichter des ‚Vierde Martijn‘ (Maerlants viertes Martijngedicht wird in der einzigen Handschrift ‚Den verkeerden Martine‘ genannt) zum Beispiel sein Gedicht wie folgt (Hegman [Hg.], Hein van Aken, S. 56): Iacop die van mertene vant heeft mi ghesent enen brant  die mi heeft ontsteken. (‚Vierde Martijn‘, v. 1–3)   Jacob, der über Martijn dichtete, hat mir ein Feuer zugesandt, das mich entflammt hat.

Zurecht sieht Geert Warnar in diesen Autoren „Vertreter einer neuen Bewegung in der Literatur, die in engen Beziehungen zu den mittelalterlichen Lehranstalten von Kapitel- und Klosterschule stand sowie zu den Gruppen niedriger Kleriker, die dort ihre Ausbildung genossen hatten, bevor sie als Skriptoren, Kapläne, Pfarrer, Prediger, Mediziner, Juristen oder Beamte in die Welt oder in das Kloster einzogen“ (Dubbelster,

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

S. 36). Als Studierte hatten sie eine Mittlerfunktion zwischen der Latinitas und den adligen und bürgerlichen Laieneliten. Und es überrascht nicht, dass wir um 1400 einer der soeben diskutierten Strophenformen im Œuvre des fahrenden Sprechers Willem van Hildegaersberch begegnen, der als lateinunkundiger, aber moralisierender Dichter eifrig aus den Werken von Dichtern wie Jacob van Maerlant oder Jan de Weert zu schöpfen wusste (Meder, Sprookspreker, S. 86–95). Wir suchen wahrscheinlich nicht zu weit, wenn wir in der folgenden Szene einer Begegnung zwischen een leec dichter ende een clerc, einem Laiendichter und einem Kleriker, ein subtiles Autoporträt vermuten (Bisschop/Verwijs [Hg.], Willem van Hildegaerchsberch, S. 45): Sy en hadden anders niet te doen dan si van dichten ende van const spraken, entie clerc begonst goede boecken vooert te legghen ende hem tLatijn in Duutsche seggen. (Gedichten XXI, v. 30–34) Sie hatten nichts anderes zu tun, als über Dichtung und Könnerschaft zu reden. Und der Kleriker begann gute Bücher zur Sprache zu bringen und ihm das Latein in die Volkssprache zu über­ setzen.

Interessant an dieser Passage ist, dass Dichter (Sprecher) und Kleriker sich in einem Gespräch über dichten en const begegnen. Willem van Hildegaersberch hält const hoch (Meder, Sprookspreker, S.  139–141): Als volkssprachiger Dichter, der ernst genommen werden will, verkündet er, genau wie Maerlant, die Wahrheit, die in der Latinitas verborgen liegt, und wie sein großes Vorbild verfügt er, obwohl er kein Latein kann, über große rhetorische Meisterschaft, die ihn in gewissem Sinne rehabilitiert. Um 1400 nimmt das Wort const eine hervorragende Stelle im Prolog des Gedichtes ein, das anfänglich die ganze ‚Gruuthusehandschrift‘ einleiten sollte. In dieser Handschrift (vgl. Brinkman/De Loos) herrscht, wie hier schon festgestellt worden ist, eine ungewöhnlich große sprachliche Virtuosität (Willaert, Verstrengelingen, S. 91–93). Mit ihrer Hervorhebung von const kündigt die Brügger Handschrift die rederijkers, die Rhetoriker, an, die gleichfalls auf diesen Begriff viel Wert legen werden (Rierink, Missing link). Das alles erinnert selbstverständlich an die wichtige Stellung, die auch die Sangspruchdichter der Kunst als „Maßstab aller Bewertung“ beimaßen (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 34–41; s. dazu auch → Kapitel V.5). 3 .   B a l l a d e n s t r o p h e . Während die clausule ein Erzeugnis des flämischen Dichters Maerlant ist, das dank dessen Ansehen als vader der Dietscher dichtren algader (Jan van Boendale, Leken spieghel, III, 15, v. 119  f.) in Flandern, Brabant und Holland große Verbreitung fand, ist die Balladenstrophe französischer Herkunft. In der französischen Literatur war die Ballade (drei Kanzonenstrophen mit einem ein-, selten zweiversigen Refrain) vor allem durch Zutun von Guillaume de Machaut ab den dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts die wichtigste lyrische Gattung geworden (Oury, Ballade, S. 122). Im Œuvre Machauts wird sichtbar, wie die Wege von Text und Musik



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sich damals trennten: Selbst dieser große Musiker versah nur etwa ein Viertel seiner 235 Balladen mit Musik. Und in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts öffnete die Ballade sich anderen Themen als nur der höfischen Liebe (ebd., S.  123). Am deutlichsten ist diese Entwicklung wahrnehmbar im umfangreichen Œuvre des Dichters ­Eustache Deschamps (1340–1405), der sich wiederholt in den Niederlanden aufgehalten hat. Diese Entwicklungen in der französischen Literatur können den niederländischen Dichtern nicht entgangen sein, und es wundert nicht, dass ab dem Ende des 14. Jahrhunderts didaktische und moralisierende Texte entstanden, die in Balladenstrophen redigiert sind. Solche Gedichte finden wir im Œuvre des soeben genannten Sprechers Willem van Hildegaersberch, in mehreren um 1400 entstandenen Sammelhandschriften  – in der ‚Hulthemschen Handschrift‘ (Brüssel, 1405–1408; heute Brüssel, Koninklijke Bibl., Ms. 15589–623), in der ‚Comburger Handschrift‘ (Gent, Anfang 15. Jh.; heute Stuttgart, Württ. LB, Cod. poet. et phil. 2° 22), in der ‚Haager Liederhandschrift‘ (um 1400), in der ‚Gruuthusehandschrift‘ (Brügge, Anfang 15. Jh.) und auf einem aus Flandern stammenden losen Blatt (Leiden, UB, Ltk 1201) (Willaert, Sangsprüche, S. 73). Man bemerke jedoch, dass diese Gedichte, im Gegensatz zu den französischen Balladen, nicht auf drei Strophen beschränkt waren, sondern beliebig erweitert werden konnten. Die Tatsache, dass die Reime von Strophe zu Strophe wechseln konnten, während die französischen Balladen durchweg in allen Strophen dieselben Reime beibehielten, hat sicherlich dazu beigetragen. Auch sehen wir, dass es in den niederländischen Gedichten am Ende der Strophen oft keine Refrainzeile mehr gibt, sodass das Gedicht nicht immer wieder auf dasselbe Thema zurückkommen musste, sondern sich problemlos – manchmal selbst als Erzählung – in die Länge entfalten konnte. Wegen dieser Abweichungen vom französischen Modell möchte ich eher von ‚Pseudoballaden‘ sprechen, die übrigens auch in einer anderen germanischen Sprache, der englischen nämlich, vorkommen (Friedman, A. B., Ballade, S. 102; Frobenius, Ballade, S. 15–17). Diese Strophenform bot also flämischen, brabantischen und holländischen Dichtern dieselben Möglichkeiten wie die Helinand- oder die Maerlantstrophe, war aber viel flexibler und erlaubte ihnen viel mehr Freiheit (Willaert, Sangsprüche, S. 74  f.): Freiheit, die sie in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrzehnten noch vollauf ausnutzten, bis die Rhetoriker mit ihren Balladen und refreinen die literarische Szene beanspruchten (Van Elslander, Refrein, S. 41–49). Schluss Der Sangspruch hat in der niederländischen Literatur keine bedeutende Rolle gespielt. Die Gattung kommt zwar in einigen Handschriften vor, aber die gehören alle zum östlichen Rande des alten Lotharingien oder enthalten – wie die ‚Haager Liederhandschrift‘ – Texte, die aus diesem Gebiet stammen. Außerdem bewegen diese Sangsprüche sich mehrheitlich zur Minnerede hin, die in diesem Gebiet im Spätmittelalter eine wichtige Stelle einnimmt. Die Thematik dieser Sangsprüche beschränkt sich auf

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höfische Minne- und Tugendlehre. Sie sind alle importiert aus anderen deutschen Gebieten: Es gab keine lotharingischen Sangspruchdichter. Im stärker urbanisierten Westen des niederländischen Sprachgebietes (Flandern, Brabant, Holland) kommen seit dem Ende des 13.  Jahrhunderts strophische Texte mit Themen vor, die auch in der Sangspruchdichtung begegnen. Es handelt sich hier aber um nichtgesungene Lyrik. Die Strophenform vieler dieser Gedichte war durch bestimmte Formen der nichtgesungenen französischen Lyrik – durch die Helinandstrophe und vor allem durch die Ballade – beeinflusst. Aber auch die clausule Jacob van Maerlants, eine in der westeuropäischen Lyrik einzigartige Strophenform, und ihre Abwandlungen fanden im 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts viele Nachfolger. Die Balladenstrophe hat vor allem in den Jahrzehnten um 1400 Anklang gefunden. Der Erfolg der Helinandstrophe dagegen ist eher bescheiden gewesen. Ohne Zweifel hatte dies mit der Tatsache zu tun, dass diese Strophenform in einer germanischen Sprache von vielen Dichtern als zu schwierig angesehen wurde. Anfänglich haben vor allem Dichter, die wie Maerlant selbst eine klerikale Ausbildung genossen hatten, die clausule benutzt. Wie ihr großes Vorbild betrachteten sie sich als Vermittler zwischen lateinischer Gelehrsamkeit und wissbegierigem Laien­tum. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts haben sich auch Berufsdichter, sprekers, diese Strophenform oder ihre Abwandlungen angeeignet, obwohl sie die einfachere und geschmeidigere Balladenstrophe bevorzugten. Der wichtigste Vertreter dieser sprekers, deren Profil am nächsten an das der Sangspruchdichter herankam, war der holländische Dichter Willem van Hildegaersberch. Im Laufe der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verlor die hier besprochene didaktische und moralisierende Lyrik an Bedeutung. Ihre Stelle wurde mehr und mehr von den rederijkers (Rhetorikern) übernommen, mit denen eine neue Periode in der niederländischen Literaturgeschichte beginnt. Ausg. Bisschop/Verwijs (Hg.), Willem van Hildegaerchsberch; Brinkman (Hg.), Gruuthuse-handschrift; GA; Bruder Hans, Marienlieder; Hegman (Hg.), Hein van Aken; Jan van Boendale, Leken spieghel; KLD; Kossmann (Hg.), Haager Lhs.; Lang/Müller-Blattau (Hg.), Lieder des Berliner Mgf 922; Leendertz (Hg.), Rinclus; L.; L./Cor.; Mas.; Morgenstern-Werner (Hg.), Weimarer Lhs. Q 564; Nijland (Hg.), Gedichten; Roe.; Ruw.; Stengel/Vogt (Hg.), Zwölf Minnelieder und Reimreden; Verdam/Leendertz [Hg.], Jacob van Maerlant; Whm.  – Lit. Becker, Handschriften; Besamusca, Boeken; Biesheuvel, Pelgrimage; Brandis, Minnereden; Bruegelmans, Fragment; Chinca, Song; Derolez/Victor (Hg.), Catalogi Belgii; Friedman, A. B., Ballade; Fritsch-Staar, Frauenlobrezeption; Frobenius, Ballade; Glier, Artes amandi; Gros, Poème; Hogenelst, Sproken; Hogenelst/ Rierink, Praalzucht; Holznagel, Wege; Jungman, Haags Liederenhandschrift; Kalff, Geschiedenis; Klingner/Lieb, Minnereden; Kornrumpf, Niederrheinische Lhs.; Meder, Sprookspreker; Naetebus, Strophenformen; Oosterman, Herinnering; Oosterman, Overlevering; Oury, Ballade; Page, Tradition; Rheinheimer, Minnereden; Rieger, D., Gattungen; Rierink, Missing link; Schmeisky, Lyrik-Hss. m und n; Seláf, Geschichten; Sleiderink, Literaire leven; Sternberg, Briefsammlung; Tervooren, Haager Lhs.; Tervooren, Handbuch; Tervooren, Sangspruchdichtung; Tervooren, Spruchdichtung; Tervooren/Bein, Fragment; Te Winkel, Ontwikkelingsgang; Van Driel, Meesters; Van Elslander, Refrein; Van Oostrom, Aanvaard; Van Oostrom, Stemmen; Van Oostrom, Wereld;



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Van Oostrom, Woord; Warnar, Dubbelster; Willaert, Danslyriek; Willaert, Fleurs pâles; Willaert, Lyriklandschaft; Willaert, Sangsprüche; Willaert, Verbreitung; Willaert, Verstrengelingen; Wolfzettel, Rutebeuf.

7 Romanisch-deutsche Interferenzen

Brigitte Burrichter

Das Verhältnis von Sangspruch und Sirventes ist in der germanistischen Forschung seit der ersten großen Studie von Wilhelm Nickel (Sirventes) viel diskutiert worden, die beiden Pole der Diskussion lauten Adaptation und Polygenese. In Einzelstudien lassen sich Parallelen zwischen einzelnen Sangsprüchen und Sirventes zeigen (zuletzt Bauschke, Minnesang, bes. S. 215–219, Shields, Spruchdichtung, bes. S. 278–282); der Umfang des Einflusses der romanischen Sirventes auf den Sangspruch insgesamt bleibt aber unklar. Der folgende Überblick über das Sirventes zeichnet zunächst unabhängig von möglichen Beziehungen zum Sangspruch die Entwicklung der Gattung nach. Gattungsbestimmung des Sirventes Der Begriff Sirventes wird, wie sein altfranzösisches Pendant Serventois, seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in lyrischen Texten selbst verwendet, ist aber zunächst kein Gattungsbegriff. Bezeichnet werden damit Spottlieder auf einen politischen Gegner, aber auch generell Lieder, die nicht dem höfischen Bereich zugerechnet werden. Schon im Lauf des 12. Jahrhunderts benennen sich aber auch panegyrische Lieder als Sirventes oder Serventois (Rieger, D., Gattungen, S. 74  f.). Während dieser Befund einer sehr weiten Verwendung des Begriffs für den altfranzösischen Serventois auch im 13. und 14. Jahrhundert gilt, wandelt er sich im Altokzitanischen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zum Gattungsbegriff. Er steht für Lieder, die eine persönliche, politische oder moralische Satire zum Inhalt haben (zusammenfassend Rieger, D., Gattungen, S.  133  f.). Die ‚Doctrina de compondre dictatz‘ gibt in der Mitte des 13.  Jahrhunderts eine entsprechende Definition: Si volz far sirventz, deus parlar de fayt d’armes e senyalladament, o de lausor de senyor, o de mal dit o de qualsque feyts qui novellament se tracten (Aurell, Vielle, S. 288), „Wenn du ein Sirventes machen willst, musst du von Waffengängen sprechen und vor allem von Lob oder Tadel des Herren oder irgendeiner aktuellen Sache“ (Übers. B. B. nach Aurell). Die Forschung nimmt diese inhaltliche Bestimmung des Sirventes als Grundlage für den modernen Gattungsbegriff Sirventes. Formal entspricht ein Sirventes zumeist einer Kanzone, die Zahl der Strophen ist variabel. Häufig wird auch eine vorgängige Kanzonenmelodie übernommen (Aurell, Vielle, S. 287). Auch darauf geht die ‚Doctrina‘ ein und erklärt den Namen damit, dass das Sirventes einer anderen Melodie diene (ebd., S. 12). Die

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

Kontrafaktur kann dabei durchaus parodistische Effekte haben oder den kritischen Aspekt des Lieds unterstreichen (Thiolier-Méjean, Poétique, S. 208–211 und S. 231  f.). Frühe Sirventes Aus dem französischen Sprachraum sind nur sehr wenige Lieder überliefert, die von ihrem Inhalt her zumindest in Teilen dem Sirventes zugehören und durch die Anlehnung an die Kanzone auch formal den Üblichkeiten des Sirventes entsprechen (Rieger, D., Gattungen, S. 75–85, bes. S. 76). Im 13. Jahrhundert findet sich die Thematik des Sirventes gelegentlich im altfranzösischen Dit, einer Gattung, die sich nicht genau fassen lässt, aber in den meisten Fällen moralisch-didaktischen Inhalts und meistens narrativ angelegt ist (ebd., S. 85–96). Im okzitanischen Sprachraum gibt es schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts Lieder, die dem Inhalt nach als Sirventes zu bezeichnen wären, allerdings nicht dem Gebrauch des Terminus zu ihrer Entstehungszeit entsprechen. Sie gelten als vers ‚Lied‘, formal entsprechen sie Kanzonen (auch dieser Terminus wird in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts noch nicht verwendet). In Cercamons vers ‚Puois nostre temps comens’a brunezir‘ („Da unser Himmel sich zu bedecken beginnt“) folgt auf drei Strophen, in denen er das Lob der echten Liebe singt, der Tadel der schlechten Liebhaber und der schlechten Dichter, die ihre Zuhörer vom rechten Weg abbringen: V. Cist sirven fals fan a plusors gequir Pretz e Joven e lonhar ad estros, don Proeza no·n cug que sia mais, qu’Escarsetaz ten las claus dels baros; manhs n’a serratz dins las ciutat d’Abais, don Malvestatz no·n laissa un issir. V. Diese falschen Diener bewirken bei vielen, daß sie Wert und Jugend verlassen und gänzlich von sich entfernen, weshalb ich nicht glaube, daß Tapferkeit weiter bestehe, denn Geiz hält die Schlüssel zu den Baronen, manche von ihnen hat er in der Stadt Niedergang eingesperrt, aus der Schlechtigkeit nicht einen davon herauskommen läßt. (Text und Übers. Rieger [Hg.], Lyrik I, S. 78–83, Kommentar S. 257–260.)

Es folgt der Aufruf, sich von diesen Sängern fernzuhalten und durch die rechte Liebe auf dem rechten Weg zu bleiben. Die Verbindung vom (später) genuinen Kanzonenthema der Liebe und mit dem (späteren) Sirventesthema Lob oder Tadel findet sich vor allem in der frühen Phase der Lieder häufiger (Köhler, Sirventes-Kanzone, bes. S. 169–174), erst allmählich werden sie inhaltlich differenziert. Die Liebeslieder werden als Kanzonen bezeichnet, das Sirventes bildet sich als ausschließlich politisches oder moralisches Lied heraus. Es behält aber die kunstvolle Form der Kanzone selbst da, wo keine Kontrafaktur einer Liebeskanzone vorliegt. Zum Ende des 12. Jahrhunderts befördert die politische Entwicklung das Sirventes. Bertran de Born († 1215) kommentierte seit den 1180er Jahren das wechselvolle



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Verhältnis von Richard Löwenherz und Philippe Auguste. (Die Konkurrenz zwischen dem englischen und dem französischen Königshaus auf dem Festland wurde erst nach dem Tod Richards beigelegt, als Philippe das englische Heer 1214 in der Schlacht von Bouvines schlug und damit die englischen Besitzungen auf dem Festland eroberte.) Bertrans Sirventes ‚No puosc mudar un chantar non esparja‘ („Ich kann nicht umhin, einen Gesang zu verbreiten“; Text und Übers. Rieger [Hg.], Lyrik I, S. 166–171, Kommentar S. 289–292) übernimmt die Form und die Reime einer Liebeskanzone Arnaut Daniels (S.  290), von den sechs Strophen der Kanzone allerdings nur fünf, ganz ausdrücklich, weil ihm, wie er sagt, keine Reimworte mehr eingefallen seien (ebd., S. 170  f. u. 290). Die fünfte Strophe beklagt die abweisende Dame, so dass es sich um eine Sirventes-Kanzone handelt. Im Kern ist Bertrans Lied ein Aufruf zum Krieg: I. No puosc mudar un chantar non esparja, puois n’Oc-e-No a mes fuoc e trach sanc, quar grans guerra fai d’eschars senhor larc, per que·m platz be dels reis vezer la bomba, que n’aian ops paisso, cordas e pom, e·n sian trap tendut per fors jazer, e·ns encontrem a miliers et a cens, si qu’apres nos en chan hom de la gesta. I. Ich kann nicht umhin, einen Gesang zu verbreiten, nachdem Herr Ja-und-Nein Feuer gelegt hat und hat Blut fließen lassen, denn ein großer Krieg macht aus einem geizigen Herren einen freigebigen, weshalb mir gut gefällt, den Aufwand der Könige zu sehen, auf daß dafür Pflöcke und Seile und Knäufe notwendig seien und dafür Zelte gespannt werden mögen, um draußen zu lagern, und wir zu Tausenden und zu Hunderten aufeinander treffen mögen, so daß man nach uns deswegen von der Heldentat singe. (Text und Übers. von Rieger [Hg.], Lyrik I; der besseren Lesbarkeit halber sind die bei Rieger eingefügten wörtlichen Übersetzungen weggelassen. Mit Herr Ja-und-Nein ist Richard II. Löwenherz gemeint.)

Ein Krieg verspricht nicht nur den im letzten Vers genannten Ruhm, sondern vor allem die Freigebigkeit des Königs. In den folgenden Strophen erwähnt Bertran die im Konflikt von 1188 umkämpften Städte und Burgen und ordnet sein Sirventes in die historisch aktuelle Situation ein. Der Situationsbezug kennzeichnet auch die Sirventes in Südfrankreich. Seit 1166 sind die Könige von Aragon die Grafen der Provence, bis ins frühe 13. Jahrhundert lebt die Grafschaft weitgehend im Frieden. Vor allem der niedere Adel setzt große Hoffnungen in die Könige, aber auch die Sänger aus dem Bürgertum und dem Klerus verfassen Sirventes oder fügen in andere Lieder Strophen ein, die Alphonse I. loben. Sie entwerfen darin das Bild eines idealen Königs: Er ist reich und freigebig, ein guter Kämpfer, gebildet und der fin’amors zugetan (Aurell, Trobadors, S. 56–62). Peire Vidal verbindet (1185/87) sein Lob auf Alfons  VIII. von Kastilien mit der eigentlichen Kanzonenthematik, der Klage über seine Dame, die ihn nicht erhört. In den Huldigungsstrophen an Alfons VIII. umreißt er das Ideal des Adligen:

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I. Mout es bona terr’Espanha e·l rei, qui senhor en so, dous e car e franc e bo e de corteza companha; e si i a d’autres baros, Mout avinens e mout pros, de sen e de conoissensa e de faitz e de parvensa. II. Per que·m platz qu’entr’els remanha en l’emperial reyo, quar ses tota contenso mi rete gent e·m gazanha Reis emperaires N’Anfos, per cui Jovens es joyos, quez el mon non a valensa, que sa valors no la vensa. I. Ein sehr gutes Land ist Spanien, und die Könige, die davon die Herren sind, (sind) angenehm und lieb und edel und gut und von höfischer Umgangsart; und es gibt da (noch) andere Barone, sehr artige und sehr treffliche, von Verstand und Urteilskraft, sowohl in den Handlungen als auch in der Erscheinung. – II. Weshalb es mir gefällt, daß ich bei ihnen in dem prächtigen Land bleibe, denn ohne jede Auseinandersetzung hält mich König Kaiser Herr Alfons in trefflicher Weise (in seinem Dienst) und belohnt mich, (Alfons), durch den Jugend fröhlich ist, denn in der Welt gibt es keinen (so großen) Wert, daß seine Trefflichkeit ihn nicht (doch) besiege. (Rieger [Hg.], Lyrik I, S. 188–191, 299–301.)

Höfisches Verhalten, Klugheit und Freigebigkeit sind die Vorzüge der kastilischen Herren, die seine Herrin (und wohl auch sein provenzalischer Herr) vermissen lassen.

Sirventes im 13. Jahrhundert Die bisherigen Beispiele verbinden Liebeskanzonen- und Sirventesthematik und sind damit typisch für das ausgehende 12. Jahrhundert. Im folgenden Jahrhundert werden die beiden Gattungen zunehmend getrennt, das Sirventes behält nur die Form der Kanzone bei. Die Blütezeit des Sirventes liegt in der ersten Hälfte des 13.  Jahrhunderts; begünstigt wurde seine Entwicklung durch die politische Situation in Südfrankreich. Die Grafschaft Provence wurde politisch instabil, das französische Königshaus versuchte zunehmend, seinen Einfluss in Südfrankreich durchzusetzen. Die Kirche bekämpfte schon seit Jahren häretische Strömungen im Südwesten, der Konflikt gipfelte 1208 in der Ausrufung des Kreuzzuges gegen die Albingenser durch Papst Innozenz III. König Philippe II. Auguste von Frankreich führte das Kreuzfahrerheer an, sein Interesse galt der Kontrolle über die Provence und die Grafschaft Toulouse, die beide über ihre Grafen zum Königreich Aragon gehörten. Unter Simon de Montfort wurde der Kreuzzug auf den Kampf um Toulouse (dessen Graf katholisch war) verengt. In



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diesem Kontext entstanden zahlreiche Sirventes gegen Simon de Montfort und die Franzosen, aber auch gegen den Papst. Einige dieser Sirventes waren insbesondere dafür gedacht, die Kämpfer anzustacheln, so etwa im Kampf um Avignon 1226. Auch wenn alle Mächtigen die Stadt im Stich lassen – der junge König von Aragon, Kaiser Friedrich II., der Bischof von Avignon –, werde Gott den Verteidigern zu Hilfe kommen: I. De chantar farai Una esdemessa, que temps ven e vai e reman promessa e de grant esmai fai Deus tost defessa. Segur estem, seignors, E ferm de ric socors. II. Ric socors aurem, en Deu n’ai fianza, dont gazagnarem sobre cels de Franza: d’ost que Deu no tem pren Deus tost venjanza. Segur estem, seignors, E ferm de ric socors. I. Ich werde mich anstrengen, um zu singen, die Zeit vergeht, und das Versprechen bleibt, aber in unserer großen Verzweiflung wird Gott uns sogleich verteidigen. Bleiben wir standhaft, Herren, und vertrauen wir auf eine mächtige Hilfe. – II. Wir werden eine mächtige Hilfe haben – ich vertraue auf Gott –, und wir werden die Leute aus Frankreich besiegen. An einer Armee, die Gott nicht fürchtet, nimmt Gott alsbald Rache. Bleiben wir standhaft, Herren, und vertrauen wir auf eine mächtige Hilfe. (Tomier und Palaizi, zit. nach Frank, Tomier, S. 74–76  f., Übers. B. B. nach der französischen Übers. Franks.)

Über neun Strophen, die alle auf die beiden Refrainverse enden, schwört der Sänger seine Mitstreiter auf den Kampf ein (der letztlich verloren gehen wird). Das bekannteste Beispiel aus dem Kontext der Konflikte in Südfrankreich ist das Sirventes, das der Trobador Guilhem Figuera am Ende der 1220er Jahre geschrieben hat (Müller, U., Sirventes, S. 102–124). Guilhem Figuera stammt aus Toulouse, zur Zeit der Abfassung des Sirventes hielt er sich wahrscheinlich am Hof Friedrichs II. auf. Die Melodie stammt von einer Marienkanzone, anstelle der Anrufungen an die Jungfrau setzt Figuera Apostrophen an Roma (Léglu, Sequence, S. 14). In 23 Strophen hält er Rom die – auch anderweitig vorgebrachten – Fehler vor: Habgier, Verrat, Intrigen. Er verbindet die Anklagen mit konkreten politischen Ereignissen, insbesondere die grausame Bestrafung der Städte in Südfrankreich. Als Beispiel seien die Strophen über die Belagerung von Avignon zitiert (1226, in deren Folge der französische König Ludwig VIII. an einer Krankheit starb, die er sich bei der Belagerung zugezogen hatte):

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

VII. Roma, als Sarrazis faitz vos pauc de dampnatge, Mas Grecs e Latis metetz a carnalatge. Inz el foc d’abis, Roma, faitz vostre estatge En perdicion. Ja dieus part nom don, Roma, del perdon ni del pelegrinatge Que fetz d’Avinhon. VII. Rom, den Sarazenen fügt Ihr wenig Schaden zu, aber die Griechen und Lateiner treibt Ihr ins Gemetzel. Im Feuer der Hölle und im Verderben habt Ihr, Rom, Euren Wohnsitz. Gott gebe mir keinen Anteil, Rom, an dem Ablaß und der Pilgerfahrt, die Ihr nach Avignon unternommen habt. (Text und Übers.: Müller, U., Sirventes, S. 114.)

Das Sirventes ist vom Vorwurf durchzogen, Rom schade den Christen: IX. Roma, beis decern lo mals c’om vos deu dire, Quar faitz per esquern dels crestians martire. Mas en cal quadern trobatz c’om deja aucire Romals crestians? Dieus, qu’es verais pans E cotidians, me don so qu’eu desire, Vezer dels Romans. IX. Rom, ganz offenbar ist die Schlechtigkeit, die man Euch zusprechen muß: denn Ihr bereitet aus Spaß den Christen Qual. Aber in welchem Buch habt Ihr gefunden, daß man, Rom, die Christen töten soll? Gott, der das wahre und tägliche Brot ist, gewähre mir alles das, was ich an den Römern zu sehen wünsche. (Text und Übers.: Müller, U., Sirventes, S. 114.)

Guilhelms Sirventes ist auch ein Beispiel dafür, dass auf solche Anschuldigungen mit einem weiteren Sirventes geantwortet wurde. Gormonda, eine Dame aus Montpellier, schrieb eine Verteidigung Roms als Kontrafaktur auf Guilhelm Figueiras Lied. Sie greift darin das Strophen- und Reimschema sowie die Reimklänge auf und widerlegt Strophe für Strophe die Argumente: Guilhelm Figuera

Gormonda

VI. Roma, veramen sai eu senes doptanssa C’ab galiamen de falsa perdonanssa Liuretz a turmen lo barnatge de Franssa Lonh de paradis, El bon rei Lois, Roma, avetz aucis, c’ab falsa predicanssa L traissetz de Paris.

VI. Roma, veramen sai e cre ses duptansa Qu’a ver salvamen aduretz tota Fransa Oc, et l’autra gen queus vol far ajudansa. Mas so que Merlis Prophetizan dis Del bon rei Lois, que morira en pansa, Aras s’esclarzis.

[Guilhelm Figuera:] Rom, ich weiß es wohl und bin da ganz sicher, daß Ihr mit der Lockspeise falscher Sündenvergebung den Adel Frankreichs ins Verderben, weit weg vom Paradies, gestürzt habt und daß Ihr, Rom, den guten König Ludwig umgebracht habt, den Ihr mit falscher Predigt aus Paris weggelockt habt.



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[Gormonda:] Rom, wahrlich, ich weiß und glaube ohne Zweifel, dass Ihr ganz Frankreich zum wahren Heil führt; ja, und es gibt sogar ein anderes Volk, das Euch Hilfe bringt. Indes, so wie Merlin prophezeit, von dem guten König Ludwig, dass er ‚in pansa‘ [= ‚Montpensier‘] stirbt, / so geschieht es auch jetzt. (Text und Übers.: Müller, U., Sirventes, S. 112  f.; zu Gormondas Text Rieger, A., Trobairitz, S.  724–728. Pansa ist ein Wortspiel mit Montpensier, dem Ort, in dem Ludwig gestorben ist.)

Neben den Sirventes, die deutlich Bezug zur aktuellen Situation nehmen, gibt es schon seit der Anfangszeit auch Lieder, die generell den Verfall der Sitten beklagen und die gute alte Zeit heraufbeschwören. Ein komplexes Lied aus diesem Themen­ bereich hat Peire Cardenal um 1240 verfasst: I. Clergia non valc anc mais tan Qu’ill solon anar prezicant, Mas eras van peiras lansan A l’autra gen, E tenon per pus publican Sel que-s defen. II. Cavalier solion jostar, Ar an meillurat lur afar: De mentir e de-s perjurar Se son garnit, E so que solion donar Porton vestit. III. Domneis es meilluratz molt fort: Qu’el donava az home la mort Anz qu’en agues joi ni deport Ni fos volgutz; Ez ar, sol que deniers aport, Mais er que drutz. IV. Vilan non solon aver sen Mas de laborar solamen; Ar son vezïat e saben E jaubardel Ez, en plaich, enan sagramen Queron libel. V. Ieu non sai de neguna lei, De totas quantas vistas n’ei Qu’ab baratas ez ab bufei Lo mais non an, E non get de negun endrei Petit ni gran.

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

VI. Mas be sapcha chascun qu’eu crei Que mil aitan Grazis Deus faitz, quan son cortei, Que malestan. (Thiolier-Méjean, Poétique, S. 206–208) I. Die Kleriker waren nie so gut, denn bisher haben sie gepredigt [wörtlich: pflegten sie zu predigen], aber jetzt werfen sie mit Steinen auf die anderen und halten den für den größten Häretiker, der sich verteidigt. – II. Die Ritter tjosteten, jetzt haben sie ihr Verhalten gebessert: Sie rüsten sich mit Lüge und Meineid und tragen den Stoff [selber], den sie zu verschenken pflegten. – III. Der Frauendienst hat sich sehr verbessert, denn sie brachten einen Mann um, bevor er Freude und Vergnügen hatte und bevor er begehrt wurde; aber jetzt wird er, wenn er Geld mitbringt, mehr als bevorzugt werden. – IV. Die Bauern verstanden nichts anderes, als die Erde zu bearbeiten; jetzt sind sie geschickt und gelehrt und gewitzt, und bei einem Handel wollen sie vor dem Schwur einen Vertrag. – V. Ich kenne kein Gesetz unter allen, die ich gesehen habe, das nicht meistens von Betrug und leeren Worten begleitet wird und das nicht Große wie Kleine um ihr Gut bringt. – VI. Aber jeder soll wissen, dass Gott, so glaube ich, tausend Mal mehr höfische Handlungen schätzt als solche, die unpassend sind. (Übers. B. B. nach Thiolier-Méjean, Poétique, S. 208.)

Eine genaue Lektüre zeigt, dass Cardenal in sein satirisches ‚Lob‘ der Gegenwart neben gängigen Themen wie der fehlenden Freigebigkeit der Herren und der Frauenschelte auch konkret auf die Situation in der Provence nach dem Ende der Albingenserkämpfe eingeht, etwa wenn er mit den Klerikern die Inquisition anprangert oder mit den Bauern die Einführung des römischen Rechts durch die Franzosen (vgl. ThiolierMéjean, Poétique, S. 208–231). Die Grafschaft Provence verlor sukzessive ihre Unabhängigkeit, bis sie am Ende des 13. Jahrhunderts ganz an das französische Königshaus fiel. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts gab es kaum noch Mäzene für altokzitanische Literatur, so dass nur noch wenige neue Lieder geschrieben wurden. Sirventes und Sangspruch Die in den hier vorgestellten und auch im größten Teil aller Sirventes neben den aktuellpolitischen verhandelten allgemeinen Themen – Lob und Tadel des Adels, Kritik an der Kirche, an Frauen, an Kollegen – finden sich auch in der Sangspruchdichtung. Sie sind aber im 12. und 13. Jahrhundert so allgegenwärtig, dass sich damit kaum eine Übernahme okzitanischer Texte durch deutsche Dichter begründen lässt. Die Praxis der Kontrafaktur, die das Sirventes weitgehend bestimmt, findet sich im Sangspruch selten; hier verfassen die Dichter ihre eigenen Töne (Shields, Spruchdichtung, S. 279). Die von Shields (ebd., S. 278–297) herausgearbeiteten Unterschiede zwischen Sangspruch und Sirventes sprechen gegen eine Vorbildfunktion des Sirventes in großem Umfang und für eine eigenständige Entwicklung des Sangspruchs (ebd., S. 276). Diese Feststellung schließt intertextuelle Bezüge nicht aus; dass die deutschen Dichter einzelne Sirventes gekannt haben, ist anzunehmen (zuletzt Bauschke, Minnesang, bes. S.  219  f.). Die Intention der intertextuellen Anspielung ist manchmal naheliegend, wie etwa in Walthers von der Vogelweide Preislied ‚Ir sult sprechen willekomen‘ (L. 56,14), das auf Peire Vidals Lied ‚Bon’ aventura don Dieus als Pisans‘



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(„Gott gebe den Pisanern Glück“) antwortet. In der Regel lässt sie sich aber im Einzelnen nicht rekonstruieren, die intertextuellen Bezüge sind nicht so deutlich, dass von einer Vorbildfunktion der okzitanischen Sirventes ausgegangen werden kann. Immerhin wird für wahrscheinlich gehalten, dass Walther von der Vogelweide vom „Sirventes Anregung für seine ‚Spruchlieder‘ mit Kreuzzugsthematik erhalten hat“ (Ranawake, Spruchlieder, S. 78). Ausg. L.; Rieger (Hg.), Lyrik  I; Rieger (Hg.), Lyrik  II.  – Lit. Aurell, Trobadors; Aurell, Vielle; Bauschke, Minnesang; Frank, Tomier; Köhler, Sirventes-Kanzone; Léglu, Sequence; Müller, U., Sirventes; Nickel, Sirventes; Ranawake, Spruchlieder; Reisinger, Sangspruchdichtung; Rieger, A., Trobairitz; Rieger, D., Gattungen; Shields, Spruchdichtung; Thiolier-Méjean, Poétique.

8 Rhetorische Verfahren und hermeneutische Muster

Gert Hübner †

Gegenstand dieses Beitrags sind Bedeutungspraktiken in der Sangspruchdichtung bis Frauenlob (berücksichtigt sind ausschließlich vor 1350 überlieferte Strophen), die sich als rhetorische Begründungs- und hermeneutische Deutungsverfahren beschreiben lassen. Im Mittelpunkt steht dabei die Verbindung von Begründung und Deutung in verschiedenen Arten der Analogiebildung. Zur Einführung in die Problemkonstellation mag das folgende Beispiel dienen: Konrad von Würzburg verlangt in einem Sangspruch (Schr. 32,331) von den herren, so zu handeln wie der Biber, der sich die Hoden abbeißt, um den Jägern zu entkommen, und wie das Einhorn, das zur Jungfrau flieht. Wie Konrad ausführt, bedeuten die Jäger die gernden (um Lohn Bittenden) und die abgebissenen Hoden den freigebigen Lohn, durch den der Adlige verhindert, dass die gernden ihn mit schändlichen Klagen verfolgen; die Jungfrau steht für die Ehre. Die beiden Tiere stammen aus der Tradition geistlicher Naturauslegung, wo sie freilich andere Bedeutungen haben: Dass sich der Biber die Hoden abbeißt, meint im ‚Physiologus‘ (Schmidtke, Tierinterpretation; Henkel, Studien; Schröder, C., Millstätter Physiologus) die Abkehr des Menschen vom Laster; die Jäger stehen für den Teufel, der hinter der Seele her ist. Das Einhorn und die Jungfrau bezeichnen den Mensch werdenden Gottessohn und Maria (im Überblick Einhorn, Spiritalis unicornis). Die logische Aussagenstruktur von Konrads Sangspruch begründet eine Handlungsanweisung mittels einer durch Analogien gestützten Gesetzmäßigkeit: Adlige sollen freigebig und nicht geizig sein, weil Freigebigkeit Ehre, aber Geiz Schande einträgt; die Aussagen über das Handeln von Biber und Einhorn sind so konstruiert, dass sie die Wahrheit der Gesetzmäßigkeit absichern. Im thematischen Aufbau des Sangspruchs stehen der Biber am Anfang und das Einhorn am Ende, so dass unter allen Aussagen diejenigen über das Handeln der beiden Tiere mit dem höchsten Grad

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an Gewissheit ausgestattet zu sein scheinen: Am sichersten weiß man offenbar, was der Biber und das Einhorn tun, und alles andere wird daran erkennbar, weil es in Analogierelationen dazu steht. Voraussetzungen: ‚Hermeneutik‘ und Rhetorik Die Strophe exemplifiziert einige Probleme, die viele Sangsprüche sowohl einer hermeneutik- als auch einer rhetorikgeschichtlichen Analyse bereiten. Erheblich regelmäßiger und häufiger, als dies in anderen höfischen Dichtungsgattungen des 12. und 13. Jahrhunderts – nicht zuletzt im Minnesang – zu beobachten ist, operieren Sangspruchdichter mit Bedeutungspraktiken, die sich im Anschluss an unterschiedliche Forschungstraditionen (Brinkmann, Hermeneutik; Ohly, Bedeutungsforschung) dem modernen Sammelbegriff ‚mittelalterliche Hermeneutik‘ subsumieren lassen (allerdings handelt es sich durchweg um antike Hervorbringungen). Das Verfahren der geistlichen Naturauslegung etwa wird im ‚Physiologus‘, einem zwischen dem 2. und dem 5. Jahrhundert entstandenen naturkundlichen Traktat, greifbar und hat sowohl in seiner epistemischen Begründung als auch in der Art der Bedeutungszuweisungen große Ähnlichkeiten mit der Bibelauslegung nach dem mehrfachen Schriftsinn, welche die Kirchenväter im Anschluss an jüdische Exegesepraktiken entwickelten (Mühlenberg, Schriftauslegung; Freytag, Theorie): Die gottgeschaffene Natur gilt ebenso als Wahrheitsoffenbarung wie die Heilige Schrift und deshalb wie diese als auslegbar; die Auslegungen natürlicher Phänomene folgen in der Regel dem Muster der spirituellen Bibelexegese. Das Einhorn beispielsweise hat in der ‚Physiologus‘-Tradition einen sensus allegoricus gemäß der Schriftsinn-Terminologie – heute oft auch ‚typologische‘ Bedeutung genannt –, insofern es für einen Akteur respektive Vorgang des neutestamentlichen Heilsgeschehens steht, so wie etwa der alttestamentliche Exodus der Israeliten aus Ägypten die neutestamentliche Erlösung durch Kreuzigung und Auferstehung bezeichnet. Der Biber hat einen sensus moralis gemäß der Schriftsinn-Terminologie, insofern er eine allgemeingültige Handlungsregularität exemplifiziert, die in einem Kausalzusammenhang zwischen einer Handlungsweise und ihren Folgen besteht. Aus hermeneutischer Perspektive stellt sich die Frage, aus welchem Grund Sang­ spruch­dichter Bedeutungstraditionen aufgreifen, wenn sie die traditionellen Bedeutungen dabei durch andere ersetzen. Zwar liegt die Einschätzung nahe, Sangspruchdichter würden geistliche Auslegungskonventionen säkularisieren und dabei zugleich rhetorisch funktionalisieren, indem sie sie für neu konstituierte, im Fall von Konrads Text dem eigenen Nutzen als Lohnsänger dienliche Bedeutungskonstruktionen gebrauchen. Dies führt jedoch auf das rhetoriktheoretische Problem, wie die Aktualisierung einer Bedeutungstradition, bei der die traditionelle Bedeutung gar nicht aktualisiert wird, einen Plausibilisierungswert haben kann. Das Konzept der ‚konnotativen Ausbeutung‘ (Warning, Lyrisches Ich) bietet dafür keine Lösung, weil Bedeutungsordnungen durch die Übertragung von einem kulturellen Handlungsfeld auf ein anderes nur auszubeuten sind, wenn ihre axiologische Besetzung konstant bleibt: Unter dieser



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Voraussetzung kann etwa der vasallitische Dienst-Lohn-Zusammenhang im Minnesang zur Begründung der Forderung nach der Liebeserfüllung dienen. In Konrads Sangspruch gäbe es eine solche Konstanz beispielsweise, wenn die Biberhoden Geiz statt freigebiger Belohnung bedeuten und die gernden eine negative Rolle spielen würden, so dass die Sinnkategorien Laster und Teufel aus der ‚Physiologus‘-Deutung anschlussfähig blieben. Da die Axiologie jedoch gegenläufig konstruiert ist, steht durchaus in Frage, weshalb Konrads Biber begründen kann, was er begründet. Das rhetorische Problem erweist sich indes als ein noch grundsätzlicheres. Sangspruchdichter begründen Aussagen oft mit anderen Aussagen, so dass der Eindruck entsteht, sie würden argumentieren (Tervooren, Sangspruchdichtung, S.  73–80, 90–96). Die dadurch evozierte Einschätzung, dass die Aktualisierung rhetorischer Textproduktionskonzepte zum Kern der Gattungspoetik gehört, wird durch die oft auffällig forcierte und deshalb in der Forschungsgeschichte schon relativ früh konstatierte Verwendung von Formulierungsverfahren aus der Tropen- und Figurenlehre unterstützt (Roe., S. 258–352). Im Extremfall können leicht erkennbare elokutionäre Muster ganze Spruchtypen konstituieren: Die Kombination von Anapher und Parallelismus etwa im Lob oder Tadel des von einem Begriff Bezeichneten (zu Sprachkonzepten in der Sangspruchdichtung vgl. Huber, C., Wort) hatte offenbar eine nicht geringe Attraktivität: Reinmar von Zweter Roe. 78: unêre; Roe. 172: zwîvel; Friedrich von Sonnenburg Mas. 23: triuwe unde wârheit; Mas. 24: milte; Mas. 34: erge unde schame, Mas. 38: alter; Mas. 42: guot; Mas. 44: abgunste unde untriuwe; Walther von Breisach KLD 63,I,5: triuwe; Konrad von Würzburg Schr. 18.1: milte; Boppe Alx. I,27–28: zuht – unzuht; Der Kanzler KLD 28,XVI,18–20: milte – kerge – nît.

Nicht geringer war der Reiz von Begriffspersonifikationen, die ebenfalls die Option zu Lob oder Tadel als Sprachhandlungstypus eröffnen; die Rede des personifizierten Begriffs (sermocinatio) bietet dabei zusätzlich noch die Möglichkeit, den Begriff selbst als Autorität der über ihn gemachten Aussagen zu präsentieren. Begriffspersonifikationen und Reden personifizierter Begriffe erweisen sich dergestalt als nachgerade perfekte Darstellungsformen für die Ableitung von Aussagen aus Begriffen, die das Kernprinzip jedes metaphysischen Wahrheitskonzepts ist: Hof: Walther von der Vogelweide L. 24,33. Ehre: Reinmar von Zweter Roe. 46; Roe. 75–77; Roe. 261; Frauenlob GA VII,15; GA VII,16. Ehre  – Schande: Kelin Whm. III,3–4; Hermann Damen Schl. II,2. Recht – Unrecht: Reinmar von Zweter Roe. 131. Welt: Wilder Alexander KLD 1,II,7–9; Friedrich von Sonnenburg Mas. 1–5; Der Hardegger C.-W. I,8; Der Guter HMS III,13: I,1–5. Minne: Reinmar von Zweter Roe. 269; Der von Buchein KLD 5,V,1; Der Meißner Obj. III,1. sælde: Kelin Whm. II,1. Ritterschaft: Frauen­lob GA V,32.

Personifiziert sein können auch metonymische Zeichen für Abstrakta wie etwa der Pfennig (für Geld) bei Hermann Damen Schl. II,8 oder der Bart (für Männlichkeit) bei Frauenlob GA V,27  f.

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Sangspruchspezifische Bedeutungspraxis Indem Sangsprüche, die solche elokutionären Verfahren einsetzen, Urteile über das Richtige und das Falsche in Gestalt von Lob und Tadel fällen, greifen sie ein traditionelles Kernkonzept der Rhetorik auf. Sie argumentieren jedoch nicht rhetorisch in dem Sinn, dass sie weniger Plausibles aus Plausiblerem ableiten und es auf diese Weise durch den Rekurs auf Wahrscheinlichkeitswissen glaubhaft machen würden; vielmehr identifizieren sie das Wahre anhand von Aussagen, die Begriffsimplika­ tionen entfalten. Ihre Begründungen haben deshalb eher einen Deutungs- als einen Argumentationscharakter: Frauenlobs Scheltrede an den personifizierten hern bart beispielsweise apostrophiert diesen als Zeichen der manheit; dass Bärtige, die sich wie Kinder benehmen, den Bart zu Unrecht tragen, beruht auf einer Begriffsimplikation, weil bart als Metonymie für manheit dient: Männer sollen nicht wie Kinder handeln, weil sie Männer und keine Kinder sind. Wegen dieser Praxis werden in Sangsprüchen oft Aussagen begründet, die im historischen Kontext wenig begründungsbedürftig gewesen sein können; der Zusammenhang zwischen milte und êre (Krause, „milte“-Thematik) in Konrads Biber-Spruch ist ein typisches Beispiel dafür. Anders verhält es sich beispielsweise im Minnesang: Wenn der Sänger begründet, weshalb die Dame ihn erhören solle, bleibt das auch in der tausendsten Wiederholung ein rhetorischer agon, weil er etwas Verbotenes will. Sangspruchdichter beziehen sich dagegen eher selten auf eine strittige Frage, und nur dann begründen sie Begründungsbedürftiges. Der Modellfall, zugleich aber ein gattungsgeschichtlicher Sonderfall sind die ‚politischen‘ Sangsprüche Walthers von der Vogelweide zum staufisch-welfischen Thronstreit mit ihren ebenso vielfältigen wie drastischen Persuasionsverfahren (Baltzer, Strategien), zu denen insbesondere in der Polemik gegen die römische Kurie auch perfide Diffamierungen gehören (Padberg, Kirchenkritik): Über die Berechtigung der päpstlichen Eingriffe in den Thronstreit gab es im Umfeld der staufischen und der päpstlichen Kanzlei unterschiedliche Ansichten, und Walthers Sangsprüche propagieren den einen Parteistandpunkt mit rhetorischen evidentia-Verfahren, die der anderen Partei eigennützige Absichten und moralische Verkommenheit unterstellen. Zum gängigen Geschäft der Sangspruchdichter wurden solche agonalen Argumentationen jedoch nicht, obschon sich im Lauf des 13. Jahrhunderts allerhand ähnliche Gelegenheiten geboten hätten. Begründung und deutende Auslegung kommen in Sangsprüchen regelmäßig und vorzugsweise zusammen, wenn die Ordnung des menschlichen Handelns in eine Analogie zur Ordnung der natürlichen Dinge gestellt und dadurch ebenfalls als gottgeschaffen und unveränderlich ausgewiesen wird. Der modernen Unterscheidung zwischen Natur und Moral (respektive Kultur) seit Kant steht eine solche Bedeutungspraktik diametral entgegen, weil sie die Regularitäten der sozialen Praxis nicht als Produkte von Konventionen oder Traditionen, sondern – modern gesagt – als unveränderbare Naturgesetzmäßigkeiten versteht. Dies ist eine für die gesamte Vormoderne charakteristische Einschätzung; sie tritt in der Sangspruchdichtung allerdings wegen der häufigen Thematisierung sozialen Handelns mittels Naturanalogien besonders



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deutlich zutage. Diese lediglich als Fall einer allgemeinen ‚mittelalterlichen‘ Neigung zu einem ebenso allgemeinen ‚Analogiedenken‘ zu klassifizieren, erfasst ihren historischen Sinn nur ungenau. Sangspruchdichter agieren beim Begründen mittels Auslegung nicht in erster Linie als Reproduzenten traditioneller Deutungen, sondern selbst als Deuter; sie operieren mit traditionellem Material, aber sie benutzen es, um Analogien zu produzieren. Rhetorisch an diesem Verfahren ist nicht, dass Sangspruchdichter Überzeugungen herbeiführen würden, die es nicht schon gäbe, sondern dass sie in der Ordnung der Dinge die Wahrheit über die Ordnung der Praxis – dem rhetorischen inventio-Begriff gemäß – ‚finden‘. Gegenstand der inventio sind auch in diesem Fall Topoi (zum Begriff vgl. Ostheeren [u.  a.], Topos; Wagner, Topik), indes keine bloß wahrscheinlichen, sondern dem Anspruch nach faktisch ‚wahre‘ materielle Topoi wie etwa die Handlungsweise des Bibers. Insofern Analogien zwischen solchen materiellen Topoi und der sozialen Praxis den formalen Topos similitudo aktualisieren, fällt das ­zentrale Prinzip der inventio mit demjenigen der elocutio unmittelbar zusammen, so dass die similitudo zugleich als formaler Topos – im Sinn einer abstrakten Begriffsbeziehung – und als elokutionäre Figur dient: Der Sangspruchdichter arbeitet eine Analogie formulierungstechnisch aus, die eine praktische Wahrheit mit einer natürlichen begründet. In Sangsprüchen, die Begründung und Auslegung verbinden, indem sie eine Analogie entfalten, dienen similitudines deshalb zugleich als Findungs- und als Formulierungsverfahren. Ein rhetorikgeschichtlicher Horizont für die Verbindung von Begründungs- und Deutungspraktiken der Sangspruchdichter lässt sich am ehesten in Predigtpraxis und Predigtlehre (Beutel [u.  a.], Predigt; Roberts, Ars praedicandi) vermuten: Das Konzept einer inventio wahrer Topoi hatte in der Augustinischen Konzeption einer christlichen Rhetorik (Augustinus, Doctrina christiana, Buch IV), die auf eine adressatenorientierte Vermittlung der Wahrheit verpflichtet sein soll, das für die pagane Rhetorik konstitutive Konzept einer Plausibilisierung durch Wahrscheinlichkeitswissen ersetzt und vor allem in der ars praedicandi fortgewirkt. Analogieverfahren: Natur und Bibel Dass Sangspruchdichter traditionelles Material benutzen, ohne Bedeutungstraditionen zu reproduzieren, zeigen nicht allein die – wohl nicht für neu erfunden, sondern für neu gefunden gehaltenen – produktiven Deutungen; es wird ebenso in der Vereinigung unterschiedlicher Traditionsrepertoires zu einem großen Pool von Analogienlieferanten greifbar. So haben Sangspruchdichter beispielsweise kein erkennbares Interesse an Differenzen zwischen Tierfabel (vgl. → Kapitel IV.3), Tierbîspel, naturkundlicher Tierdeutung und Tiervergleich: Die Zusammenstellung von Löwe, Wolf, Hund und Fuchs beim Meißner (Obj. VI,5) etwa indiziert zwar eine Selbstbedienung in der Fabeltradition, und auch die Bedeutungszuschreibungen – edeler, arger, lecker, valscher – stehen zumindest nicht im Gegensatz zu ihr; jedoch ist die Analogiebildung von jeder Narrativität abgelöst. Tiereigenschaften dienen in der Gattungsgeschichte

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

der Sangspruchdichtung früh zur Begründung praktischer Regularitäten (Spervogel II MF 20,1, 20,9 u. 21,5; ‚Herger‘/Spervogel I MF 29,13; Grubmüller, Regel), und schon hier erscheint die Tierfabeltradition (MF 27,13) als ein eher nachträglich anhand modernen literarhistorischen Wissens, weniger als ein durch spezifische Verfahren der Bedeutungsbildung isolierbarer Bestandteil des historischen Analogienpools: Was mit Tieren geht, geht auch mit Pflanzen (MF 29,13: Obstbäume für Freigebigkeit und Geiz), und Beispielerzählungen für allgemeingültige praktische Gesetzmäßigkeiten können menschliche ebenso wie tierische Akteure haben (MF 29,13: Folge einer Missernte für Folgen ausgebliebenen Lohns). Das Prinzip der Wissensordnung, die Sangsprüche anhand von Naturanalogien immer wieder aufs Neue aktualisieren, macht eine Strophe des Meißners (Obj. I,12) mehr oder weniger explizit: Wie alle Tiere von Natur aus unveränderbare Eigenschaften haben, die ihr Handeln bestimmen, so auch der schalc; wie das Ergehen der Tiere von ihrem eigenschaftsbedingten Tun abhängt, so auch das des schalkes. Wenn der Meißner in derselben Strophe die listige Natur des Fuchses und die räuberische des Wolfs erwähnt, macht er Geschichten assoziierbar, mit denen sich das Behauptete exemplifizieren ließe; sie brauchen hier aber nicht erzählt zu werden, weil die Gesetzmäßigkeit als solche formuliert ist. Das Interesse an den Naturanalogien verdankt sich dem Interesse am Beständigen der sozialen Interaktion, das es ermöglicht, sowohl die Ursachen richtigen und falschen Handelns zu erkennen als auch seine Folgen vorherzusehen, weil die Kausalitäten zwischen dem menschlichen Handeln, seinen Ursachen in den Eigenschaften der Akteure und seinen Folgen in der sozialen Praxis durch das Handeln selbst nicht verändert werden können. Die Bedeutungen der Dinge beruhen, wie Augustinus (Doctrina christiana, 2.XVI.23–26) erklärt hat, auf ihren Eigenschaften, so dass die Kenntnis der Eigenschaften zur Erkenntnis der Bedeutungen führt. Die Bedeutungen, lässt sich daraus folgern, sind nicht in der Tradition, sondern in den Begriffen von den Dingen zu ‚finden‘, insofern sie Aussagen über deren Eigenschaften implizieren; die Tradition stellt gefundene Bedeutungen allenfalls durch deren fortgesetzte Aktualisierung auf Dauer. Vormoderne Deutungspraktiken erfüllen moderne Vorstellungen von einer durch Kanonisierung erzeugten Verbindlichkeit hier offensichtlich nicht immer widerstandslos: Die spirituellen Bedeutungen der Heiligen Schrift waren zwar von Gott ein- für allemal festgelegt, aber ihre Erkenntnis war nicht zu einer bestimmten Zeit abgeschlossen, sondern ein fortgesetzter Prozess. Ebenso wenig stand irgendwo geschrieben, dass der Pelikan nur bedeuten könne, was im ‚Physiologus‘ zu lesen war; die Konsequenzen der Offenheit werden in der Auslegungsgeschichte erkennbar, zu der auch der zwar geistliche, aber nicht eben ‚orthodoxe‘ Sinn in einem Sangspruch Frauenlobs über den Vogel Vellica gehört (GA VII,*7; Gerhardt, Metamorphosen; vgl. Reinitzer, Phoenix). Durchaus erhellend könnte in diesem Zusammenhang die Polemik des Meißners (Obj. XII,1–4) gegen die aus der ‚Physiologus‘-Tradition bezogene Naturdeutung in einem Sangspruch des Marners sein (Wms. 7,15; Haustein, Marner-Studien, S. 37–39, 226–228; Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 256–260), die nicht



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die Irrigkeit der Auslegungen, sondern die der gedeuteten Tiereigenschaften moniert: Das Gedeutete, nicht die Deutung ist das Traditionsmaterial, für das Verbindlichkeitsansprüche erhoben werden können; wenn die Aussagen über das Ausgelegte nicht korrekt sind, schwindet der Erkenntniswert der Auslegungen. Es gab keine autoritative Begrenzung der Deutungen von Bibel und Natur; der in der Tradition bezeugte Konsens war zwar ein Wahrheitskriterium, aber keines, das Neufindungen ausschloss. Nicht auf der Tradition einzelner Bedeutungszuschreibungen, sondern auf Begriffsimplikationen beruhte deshalb die Plausibilität von Deutungen und mit ihnen diejenige von Begründungen durch Analogiebildungen. Daher rührt der Eindruck, dass die Glaubhaftigkeit des Begründungszusammenhangs durch das topische Verfahren selbst bewerkstelligt wird: Jede gefundene Analogie bestätigt die Wahrheit der begrifflichen Implikation. Sangspruchdichter nehmen dabei weder eine poetische Freiheit in Anspruch noch säkularisieren sie geistliche Codes; sie operieren vielmehr im Rahmen des deutungspraktisch Möglichen und Üblichen. Insofern die Regularitäten der sozialen Praxis als Bestandteil der gottgeschaffenen Ordnung verstanden sind, geht die Unterscheidung zwischen Weltlichem und Geistlichem an der den Naturanalogien zugrundeliegenden kulturellen Wissensordnung ohnehin in derselben Weise vorbei, wie es auch bei jeder Bibelauslegung nach dem sensus moralis und jeder narrativen Exemplarik der Fall ist, die auf der Basis tugendethischer Tun-Ergehen-Zusammenhänge operiert. Eine Strophe Friedrichs von Sonnenburg (Mas. 49) erweckt sogar den Eindruck, dass die Ubiquität der Deutungspraxis mit einer ironischen Tendenz thematisiert werden konnte: Dass man Wein nicht mit Wasser mischen soll, figuriert hier als ein bîspel, das der Sänger von seinem Liebchen erhalten haben will, auf dass er es deute; und selbstverständlich ist er  – erwartungsgemäß mit dem Blick auf das angesprochene Praxisfeld – erbötig: Man soll minne nicht mit unminne mischen. In aller Regel geht es freilich ungebrochen ernsthaft zu wie in einem Sangspruch Frauenlobs, der von einer Deutungsdemonstration erzählt und diese durch ihre Präsentation im historiographischen Exempel vergleichsweise explizit als Ursprung einer Deutungstradition ausweist (GA V,19): Als Alexander die Länder bis zum Paradies erobert hatte, erhielt er einen Edelstein, der nicht aufzuwiegen war, bis ihn ein wîser mit Erde bedeckte – man soll im Glück nicht dessen Vergänglichkeit vergessen. Allgegenwärtig ist das Deutbare, und die Sangspruchdichter gehören zu den wîsen, die sowohl den Traditionsbestand der von früheren wîsen gefundenen Deutungen pflegen als auch selbst Deutungen finden können. Traditionsbestimmt bleiben die Deutungen der Sangspruchdichter allerdings meistens bei Bibelauslegungen nach dem allegorischen Schriftsinn, die im erhaltenen Textbestand spät in Erscheinung treten und auch in den Jahrzehnten um 1300 selten sind. Das mag damit zusammenhängen, dass professionelles theologisches Wissen als notwendige Voraussetzung dafür gelten konnte und Laien hier weder etwas zu suchen noch zu ‚finden‘ hatten. So steht Nebukadnezars Traum beim Marner – wenig überraschend – für die Vier Weltreiche (Wms. 7,11); der Meißner deutet den Exodus (Obj.

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VI,7  f.) und die Wunder bei der Berufung Mose (Obj. X,2  f.) als Präfigurationen der Erlösung sowie Aarons Rute als Präfiguration der Verkündigung (Obj. XV,1). Bibeldeutungen nach dem moralischen Sinn erweisen sich dagegen als findungsfreudiger und werden früher, aber ebenfalls mit relativ geringer Frequenz praktiziert: Bei Walther von der Vogelweide etwa steht Nebukadnezars Traum für die zunehmende Schlechtigkeit der Welt (L. 23,11), bei Kelin für den Gegensatz zwischen äußerer Schönheit und innerer Schlechtigkeit (Whm. I,1), bei Rumelant von Sachsen für die den Sünder ereilende Bestrafung (Ruw./Krn. IV,1–3); traditioneller sind Sigehers Deutung der Schrift an Belsazars Wand als Strafe für Hochmut (Brt. 16) und die Auslegung der Geschichte von Noahs Söhnen als Ursprung des Adels beim Kanzler (KLD 28,I,1). Ähnliche Korrelationen lassen sich bei der Reproduktion von Deutungstradi­ tionen und dem Finden von Deutungen im Bereich der insgesamt erheblich häufigeren Naturanalogien beobachten. Ebenso selten wie allegorische Bibelauslegungen bleiben mit der ‚Physiologus‘-Tradition konforme allegorische geistliche Auslegungen  – neben den schon erwähnten Sangsprüchen des Marners und des Meißners, in denen Löwe, Elefant, Strauß, Adler, Phönix und Pelikan für die Erlösung stehen, etwa die Auslegung von Einhorn und Jungfrau auf Christus und Maria bei Rumelant von Sachsen (Ruw./Krn. V,2  f.) und die des Galadrius auf die Sündenvergebung beim Meißner (Obj. IV,5). Häufiger finden Sangspruchdichter andere, vorzugsweise moralische Auslegungen für traditionelle Gegenstände der geistlichen Naturexegese: Im Stolle-Korpus bedeuten die ‚Physiologus‘-Eigenschaften von Löwe und Strauß den friedenstiftenden und freigebigen Herrscher (Zapf J. 12). Bei Konrad von Würzburg steht die Aspis-Schlange für die Unempfänglichkeit gegenüber Reden schlechter Menschen (Schr. 25,1), Biber und Einhorn bedeuten – wie eingangs erwähnt – Ehre suchende Freigebigkeit. Beim Kanzler bedeutet der Phönix, dass die Guten sich verjüngen und die Schlechten keine Nachkommen haben sollten (KLD 28,XVI,2). Bei Boppe steht der Leopard für den rîchen zagen (Alx. I,7), der Antilopus für den Zerstörer höfischer Tugenden (Alx. I,25), der Galadrius für das Urteilsvermögen sowohl der herren als auch des Sängers (Alx. I,5; Bulang, Geltungspotentiale). Beim Meißner bedeuten die Farben des Chamäleons diverse Tugenden (Obj. XVII,6). Noch öfter – und auch schon früher – stellen Sangspruchdichter Naturanalogien her, bei denen nicht nur die Deutung, sondern ebenso das Gedeutete weniger leicht klaren Traditionslinien zuzuordnen ist: Mit einer gängigen naturkundlichen Taxonomie, aber nicht mit einem üblichen Gegenstand geistlicher Naturexegese operiert Walthers von der Vogelweide Analogie zwischen der Ordnung der Tiere und derjenigen der Menschen in der zweiten ‚Reichston‘-Strophe (L.  8,28). Bei Reinmar von Zweter stammen die körperlichen Bestandteile des idealen Manns (Roe. 99  f.; Gerhardt, Idealer Mann; Curschmann, Bild-Text-Formeln; Hübner, Inventio) nur teilweise aus identifizierbaren naturkundlichen Traditionsbeständen; diejenigen des ungetriuwen mannes beim Wilden Alexander (KLD 1,II,1–3) indizieren einen ähnlich großen inventiven Kombinationsspielraum. Deutbares ermöglicht entsprechend der Anzahl seiner jeweiligen Eigenschaften unterschiedliche Auslegungen: Bei Konrad von Würzburg



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etwa steht die Fledermaus einmal für das mangelnde moralische Erkenntnisvermögen des Geizigen (Schr. 25,61) und ein anderes Mal für das Streben des Tugendlosen nach Ehre (Schr. 24,18). Auch dezidiert geistliche Analogiebildungen gehören zu den Optionen: Beim Marner steht die Vorratssammlung der Ameise für die Heilsvorsorge des Menschen (Wms. 1,1), bei Friedrich von Sonnenburg bedeuten Holunderblatt und Holunderblüte Judentum und Christentum (Mas. 40). Die beiden zuletzt genannten Beispiele illustrieren möglicherweise die Berechtigung der Frage, ob die unterschiedliche Nähe respektive Ferne von Analogien eine kategoriale Relevanz für die Sangspruchdichter hatte. (Mit den Mitteln der ‚formalen‘ – dialektischen – Topik lässt sich die Unterscheidung anhand der Anzahl begrifflicher Zwischenglieder operationalisieren, die nötig sind, um eine Begriffsbeziehung zwischen den beiden Teilen einer Analogie herzustellen.) In der lateinischen Poetik spielte die Differenz durchaus eine Rolle; Galfrid von Vinsauf etwa hat sie in seiner um 1215 verfassten ‚Poetria nova‘ (v. 770–1097; Gallo, Poetria nova), insbesondere bei der Behandlung der Metapher, zum Maßstab für den inventiven Schwierigkeitsgrad und deshalb der poetischen Kunstfertigkeit gemacht. Auch wenn historische Zusammenhänge zwischen Sangspruchdichtung und einzelnen Lehrgegenständen der ars poetria nicht konkret nachzuweisen sind, drängt sich die Verortung von Deutungen auf einer imaginären Nähe-Ferne-Skala doch immer wieder auf: An ihrem einen Ende ließen sich beispielsweise die gewissermaßen auf der Hand liegenden – und deshalb auch konventionalisierten  – Analogien zwischen der Vergänglichkeit und dem Eis in der Sonne (Stolle Zapf J. 7) respektive dem gefällten Baum (Hermann Damen Schl. IV,9) ebenso situieren wie diejenige zwischen dem Ablegen der Sünde und der Schlangenhäutung (Meißner Obj. VIII,2); am anderen Ende stehen erheblich preziösere Analogien wie diejenigen zwischen dem Kometen und dem schönen Mann voller Falschheit (Boppe Alx. I,26), zwischen den nur große Vögel jagenden Falken und den keine nidere minne treibenden Frauen (Der von Buchein KLD 5,V,3) oder zwischen dem Rosenwasser, in das kein Tropfen anderen Wassers geraten darf, und der Ehre, die durch die kleinste valschheit verdirbt (Konrad von Würzburg Schr. 32,61). Aufgrund seiner Mittelstellung zwischen Naturphänomen und handwerklichem Produkt mag Konrads Rosenwasser als Indiz dafür dienen, dass die Begründung praktischer Regularitäten im Prinzip auch mit anderen als natürlichen Analogien operieren kann. Das öffnet zwar einen Spielraum für alles Allegorische, doch stehen alternative Modelllieferanten in der Sangspruchdichtung quantitativ weit hinter der Natur zurück, und die Findigkeit operiert dann eher im Rahmen verbreiteter Analogien mit konventionalisierten Bedeutungen wie denjenigen zwischen Schifffahrt übers Meer und Menschenleben oder Kleidern und Tugenden bei Reinmar von Zweter (Roe. 41, 170), zwischen Burg respektive Schiff und Christenheit beim Wilden Alexander (KLD 1,II,5  f.) oder zwischen der Hauswirtschaft und der Sorge für das Seelenheil beim Meißner (Obj. I,11); auch die Glücksrad-Allegorie – unter anderem bei Reinmar von Zweter (Roe. 91) – gehört in dieses Repertoire.

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Gestaltung menschlicher Erfahrung Ähnlich wie das quantitative Verhältnis zwischen Naturanalogien und anderen Analogiebildungen stellt sich im erhaltenen Textbestand dasjenige zwischen den häufigen Tierbîspeln und den viel selteneren Bîspeln mit menschlichen Akteuren dar (Teschner, bîspel). Nicht zuletzt auf Tierbîspeln und Tierfabeln beruht die große Menge der Naturanalogien: Tierfabeln waren in den Pool leicht einzuspeisen, weil der Erzähltypus immer schon zur Begründung sozialer Regularitäten mit natürlichen Eigenschaften gedient hatte; die Deutungen der Sangspruchdichter sind in ähnlicher Weise wie bei den ‚Physiologus‘-Tieren traditionsbestimmt oder neu gefunden. Durch Tierbîspel ließ sich das Repertoire des Deutbaren erweitern. Ein weit weniger attraktives Verfahren als die Begründung praktischer Regularitäten mittels Tieranalogien war für Sangspruchdichter offenbar ihre Exemplifikation mittels eines Falls aus der menschlichen Praxis selbst: So erzählt Reinmar von Zweter die Geschichte eines Schiffsunglücks als Beispiel für die Missachtung guten Rats (Roe. 193); Konrad von Würzburg exemplifiziert mit der Geschichte vom Riesen und den zwölf Räubern, dass Einigkeit stark macht (Schr. 32,121); beim Meißner steht die Geschichte vom Jahreskönig für die notwendige Sorge um das Seelenheil (Obj. IV,11  f.); dass der Tor, der dem Toren folgt, der größere Tor ist, exemplifiziert Rumelant von Sachsen mit der Geschichte von den beiden Männern, die auf einem abgelegenen Weg Räubern in die Hände laufen (Ruw./Krn. VI,4). Im Vergleich mit den Tieranalogien bleiben nicht nur solche Beispielgeschichten mit namenlosen menschlichen Akteuren – argumenta im Sinn der rhetorischen narratio-Lehre, weil es sich um mögliche Geschehnisse ohne faktischen Wahrheitsanspruch handelt – quantitativ randständig, sondern ebenso namentlich identifizierte Exempla aus Bibel, Historiographie und Dichtung (Yao, Exempelgebrauch). Diese eröffnen die gerade für kleine Textformate eigentlich vorteilhafte Option, die Beispielgeschichte nicht eigens zu erzählen, sondern durch die Nennung des Akteurnamens und gegebenenfalls einiger Situationsbestandteile lediglich anzudeuten; die Adressaten müssen das Narrativ dann allerdings schon kennen. Wenn Exempla unter den faktischen Wahrheitsanspruch des rhetorischen historia-Begriffs fallen – für biblische und historiographische gilt dies generell, für poetische je nach materia  –, können sie Allgemeingültiges zudem prinzipiell zuverlässiger begründen als argumenta und fabulae, weil die Wahrheit des Falls diejenige der Generalisierung belegt. Die Spruchgedichte in Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘ beispielsweise nutzen beide Vorteile konsequent: Sie begründen generalisierte Aussagen über richtiges und falsches Handeln weder mit tierischen noch mit namenlosen menschlichen Akteuren, sondern mit einer Vielzahl zumeist nur knapp angedeuteter biblischer, historiographischer und poetischer Exempla. Als umso bemerkenswerter darf gelten, dass die größere Häufigkeit von fabulae in der Sangspruchdichtung einen höheren, wohl nur mit dem Prinzip der Naturanalogie erklärbaren Begründungswert indiziert, während Exempla nicht im Zentrum der Begründungsverfahren stehen und das Figurenarsenal recht begrenzt ist: Bruder



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Wernher exemplifiziert mit Adam die Verführung durch schlechten Rat (Zck. 21); bei Reinmar von Zweter figuriert Adam zusammen mit Samson und Salomo als Minnesklave (Roe. 103); Judas dient bei Dietmar dem Setzer als Beispiel für falsche Zeugen (KLD 7,1  f.). Alexander (der Große) exemplifiziert gelegentlich Freigebigkeit (Walther L. 16,36; Sigeher Brt. 7) und bei Frauenlob, wie schon erwähnt, die Vergänglichkeit des irdischen Glücks (GA V,19); die Geschichte von Alexander und dem Giftmädchen wird von Frauenlob als Beispiel für Vorsicht (GA V,20), von Boppe – mit dem Fokus auf Aristoteles – als Beispiel für guten Rat erzählt (Alx. I,29). Der Henneberger exemplifiziert mit Trajan gute Herrschaft (HMS III,12,10), Frauenlob mit Tarsilla und Justinian die Belehrung über gute Herrschaft (GA V,18; Stackmann, Rat). Beim Marner dient die möglicherweise als historia eingeschätzte Geschichte von Anteus (Perseus) und Gorgo als Beispiel dafür, dass Fürsten ein valsches hǒbet abschlagen sollen (Wms. 6,12); bei Frauenlob exemplifiziert Parzival – sollte die Figur aus dem ‚Jüngeren Titurel‘ gemeint sein, könnte sie wegen der dortigen Anbindung des Grals an die biblische Passionsgeschichte als Bestandteil einer historia gelten – den Zusammenhang zwischen Lastervermeidung und Ehre (GA V,47). Eine Liste historiographischer Exempla – Plato, Aristoteles, Hippokrates, Galen, Sokrates, Vergil, Boethius, Cato, Seneca, Donatus, Beda  – steht bei Rumelant für das Wissen, über das der Dichter nicht verfügt, um Albrecht von Braunschweig angemessen zu loben (Ruw./Krn. II,12); bei Boppe exemplifiziert eine aus biblischen, historiographischen und poetischen Figuren gemischte Liste – Salomo, Absalom, David, Samson, Horant, Aristoteles, Vergil, Artus, Adam, Guras, Gawan, Seneca, Asahel – eine Reihe guter männlicher Eigenschaften (Alx. I,18). Poetizität und Ästhetik Die Frage nach der Poetizität von Auslegungs- und Begründungsverfahren, die als hermeneutische aus anderen kulturellen Praktiken als der Dichtung stammten und als rhetorische ebenso wenig dichtungsspezifisch waren wie jede Art topischer inventio und formulierungstechnischer elocutio, sollte meines Erachtens in erster Linie mit den Mitteln einer historischen Poetologie beantwortet werden. Wenn man von poetischen Texten Funktionen und diese Funktionen tragende Verfahrensweisen erwartet, mittels derer sie von allen anderen Arten von Texten zu unterscheiden sind, dann projiziert eine solche Frage unvermeidlich Implikationen moderner Wissensordnungen auf vormoderne kulturelle Praktiken zurück. Einen funktionsdifferentiellen Dichtungsbegriff hat – sieht man vom gerade in dieser Hinsicht lange wirkungslos gebliebenen Aristoteles ab – erst die philosophische Ästhetik des 18. Jahrhunderts hervorgebracht, und er lässt sich nicht vom neuen Begriff der ‚schönen Künste‘ trennen, der eine Lösung für das durchaus zeitspezifische epistemologische Problem der Relation zwischen Wahrnehmung und Vernunft ermöglichen sollte. In der Zeit der Sangspruchdichtung war es dagegen üblich, poetische Texte allein formal durch den Vers, nicht durch für sie spezifische Funktionen und Verfahrensweisen gegen andere Arten von Texten zu differenzieren.

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Allerdings gab es eine aus der Antike ins Mittelalter gelangte und in der lateinischen Bildungstradition verfestigte Neigung, das Interesse an allen Arten textueller Verfahren um seiner selbst willen als Besonderheit der Produktion wie Rezeption poetischer Texte einzuschätzen (Cizek, Imitatio; Hübner, Poetik). Man kann das beispielsweise gut an den Unterschieden zwischen ars poetria (Dichtungslehre) einerseits und ars praedicandi (Predigtlehre) sowie ars dictandi (Brief- und Urkundenlehre) andererseits erkennen (vgl. zum rhetorikgeschichtlichen Überblick Murphy, Rhetoric): Auch die Predigt- und Brieflehren lenken das Interesse auf die rhetorischen Verfahren der Textproduktion, verfolgen damit jedoch das Ziel, die pragmatischen Funktionen der zu produzierenden Texte zu optimieren; Dichtungslehren schulen die Identifikation und Beherrschung rhetorischer Verfahren zur Optimierung einer Kennerschaft, deren Gegenstand sie als venustas oder elegantia des Textes bestimmen. Sie aktualisieren damit einen Dichtungsbegriff, den ins westliche Mittelalter überlieferte antike Traktate seit Cicero und Horaz dokumentieren, der in der spätantiken Rhetorik systematisch entfaltet und der sowohl in der lateinischen Dichtung der karolingischen ‚Renaissance‘ als auch in der des 12. und 13. Jahrhunderts – hier mit unverkennbaren Auswirkungen auf die volkssprachige Dichtung – neu zur Geltung gebracht wurde. Von modernen Konzepten ästhetischer Selbstbezüglichkeit unterscheidet sich das vormoderne poetologische dadurch, dass es keine Opposition zwischen dem Schönen und dem Nützlichen herstellt und deshalb Entpragmatisierung nicht als Voraussetzung, Implikation oder Folge von Selbstbezüglichkeit einschätzt: Das Interesse an den textuellen Verfahrensweisen beruht weder auf einer Suspendierung pragmatischer Textfunktionen noch führt es sie herbei, sondern besteht neben ihnen. In der Sangspruchdichtung lässt sich dies besonders gut an Marien- und Fürstenlobsprüchen exemplifizieren (Hübner, Lobblumen, S. 160–279). Marienlob ist in Sangsprüchen (etwa Reinmar von Zweter Roe. 21; Marner Wms. 5,1, 7,1; Boppe Alx. I,14; Rumelant von Sachsen Ruw./Krn. III,1  f.; Frauenlob GA IX,*1–*3) – wie in anderen volkssprachigen Mariendichtungen – elokutionär mittels Anaphern und syntaktischer Parallelismen hochgradig überstrukturiert; die Formulierungsmuster stimmen mit denjenigen lateinischer Marienhymnen überein. Ebenso begegnet in Sangsprüchen und anderen volkssprachigen Gattungen das auch in Marienhymnen aktualisierte große Repertoire der Marienprädikate (Salzer, Sinnbilder; Szövérffy, Motivik), deren historischer Kernbestand auf Typologien beruht und damit ein Produkt der Bibelauslegung nach dem sensus allegoricus ist, jedoch in der Hymnentradition um ein gewaltiges Arsenal von Metaphern mit zumeist moralischen Bedeutungen erweitert wurde. Maria mittels dieser Prädikate zu loben, heißt in Hymnen wie in Sang­ sprüchen stets, ihre Funktion im Heilsplan Gottes und ihre Tugendfülle zu benennen; die Anhäufung der uneigentlichen Prädikate und die syntaktische Überstrukturierung machen das Verfahren freilich stets auch als ein kunstvolles wahrnehmbar. Selbstverständlich kann dies aber weder in Hymnen noch in Sangsprüchen die religiösen Funktionen suspendieren; die Preziosität des Verfahrens ist, ähnlich wie Edelsteine



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auf Reliquiaren, ein kostbares Zeichen des Heiligen. Allerdings hielten Rigoristen wie Bernhard von Clairvaux solche Symbolisierungsrelationen offenbar nicht für apriorisch stabil: Mit dem Blick auf die edelsteinbesetzten Reliquiare schimpfte Bernhard jedenfalls darüber, die Leute würden in der Kirche mehr das Schöne bestaunen als das Heilige verehren (Apologia, S. 105). Auf ein Analogieverhältnis zwischen der Qualität der Rede und derjenigen des Gegenstands zielen ebenso Fürstenlobstrophen (vgl. dazu auch unten → Kapitel V.6), die dabei in – wie auch immer vermittelten – rhetorischen Traditionen lateinischer Panegyrik stehen (Georgi, Preisgedicht). Auch hier gibt es charakteristische elokutionäre Kombinationen aus syntaktischer Überstrukturierung und Reihen laudativer Metaphern oder Vergleiche, deren Bedeutungen auf Herrscherqualitäten bezogen sind (Reinmar von Zweter Roe. 136; Friedrich von Sonnenburg Mas. 51; Meißner Obj. XVII,8  f.). Anders als in Marienlobsprüchen thematisieren Sangspruchdichter in solchen Fürstenlobstrophen jedoch im Verlauf des 13. Jahrhunderts zunehmend häufig und ausführlich ihre eigene technische Kunstfertigkeit (Friedrich von Sonnenburg Mas. 41; Marner Wms. 7,4; Konrad von Würzburg Schr. 32,361; Hermann Damen Schl. VI,1–3; Frauenlob GA V,7–11; Stackmann, Redebluomen; Obermaier, Nachtigallen, S. 244–252; Huber, C., Herrscherlob; Haustein, Freiheit; Cölln, Fürstenlob); Frauenlob rühmt den Fürsten in einer Strophe (GA V,*12) überhaupt nur noch, indem er das eigene poetische Können rühmt. Insofern solche Sangsprüche als Fürstenlob vorgetragen wurden – und für etwas anderes gibt es keine Indizien –, lässt sich freilich auch hier keine Ablösung der pragmatischen Funktion unterstellen. Ganz im Gegenteil ist es, nicht anders als beim Marienlob, gerade die pragmatische Funktion, welche die technische Brillanz hervorbringt: Die hohe Qualität der inventio- und elocutio-Verfahren soll in einer Analogie zu derjenigen des Gegenstands stehen. Gleichwohl dokumentieren einige Fürstenlobsprüche in einer recht eklatanten Weise die vormoderne Option, das Interesse an poetischen Texten primär als Interesse an den textuellen Verfahren einzuschätzen. In diesem Sinn können vielleicht alle rhetorischen und hermeneutischen Praktiken der Sangspruchdichter – einschließlich der aus geistlichen Auslegungstraditionen stammenden – immer auch, wenngleich eben nie allein als Kunstdemonstrationen und damit als Aktualisierung eines in der gelehrten rhetorischen Episteme verankerten Dichtungsbegriffs gelten. Wie die Sangspruchdichter zu dem Wissen gelangten, das sie in ihren hermeneutischen und rhetorischen Praktiken benutzten, und wie eigenständig – in Abhängigkeit von der Art des Wissenserwerbs – ihr Zugang zu den einschlägigen lateinischen Bildungstraditionen war (am Beispiel des Marners kontrovers diskutiert von Kühne, Überlegungen, und Haustein, Überlieferung), muss mangels Quellen offen bleiben. Prinzipiell vorstellbar ist ein Spektrum, das vom Besuch des artes-Unterrichts in Domoder Klosterschulen bis zu – etwa durch das Anhören von Predigten – unsystematisch Angesammeltem reicht (s. oben auch → Kapitel III.2). Aus den Sangsprüchen selbst abgeleitete Hypothesen über Bildungsniveaus können generell nur eine geringe Validität beanspruchen, weil es sich bei Wissensbeständen und ihrer textuellen Aktua-

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 Gattungsinterferenzen und literarische Kontexte

lisierung auf einer möglichen Skala zwischen adressatenorientierter Vereinfachung und selbstdarstellungsorientierter Prätention um Variablen handelt, deren Relation zueinander anhand der Texte allein nicht zu bestimmen ist. Nur bei Konrad von Würzburg ist die Annahme einer systematischeren Bildung wegen der Bearbeitung lateinischer Vorlagen in einigen epischen Werken und der dort auch unabhängig von den konkreten Vorlagen eingebrachten Wissensbestände schwer abweisbar (s. unten → Kapitel VII.7). Das Gattungsspektrum seiner Textproduktion macht ihn jedoch zu einem Sonderfall unter den Sangspruchdichtern, und die durch diesen Sonderfall ermöglichte Erkenntnis besteht vor allem darin, dass es nicht Konrads Sangsprüche sind, die eine andere Art von gelehrter Bildung indizieren als – um in der zeitlichen Umgebung zu bleiben – etwa diejenigen Boppes, Rumelants von Sachsen oder des Meißners. Was generell gilt, gilt auch für das Textproduktionswissen der Sangspruchdichter: Es bedürfte anderer Quellen als die Sangsprüche selbst, um seine Relationen zu den im lateinischen Grammatik- und Rhetorikunterricht gelehrten Verfahren genauer einschätzen und ein Urteil darüber fällen zu können, inwieweit es als ein Fachwissen im Sinn der lateinischen Bildungstradition zu bewerten ist. Dass dieses Textproduktionswissen als volkssprachige poetische Praxis professionalisiert war, bleibt davon selbstverständlich unberührt. Sangspruchdichter selbst führen die Herkunft ihres Wissens im Übrigen nicht auf lateinischen Schulunterricht, sondern auf Gott zurück, und weisen ihre kunst, nicht zuletzt mit der beständigen Charakterisierung als gesungene, eher als adlig-höfische aus (Hübner, Hofhochschuldozenten). Anders geartete terminologische Reminiszenzen wie etwa Walthers von der Vogelweide Anspielung auf die Dreistillehre (L. 84,22; Urbanek, Genera dicendi), die Aufzählung der artes liberales beim Kanzler (KLD 28,XVI,10) oder Frauenlobs an den inventio-Begriff anklingende Verwendung des Wortes vunt (GA V,114) bleiben demgegenüber, auch wenn sie selbstverständlich nicht übersehen werden dürfen, relativ selten. In gattungsgeschichtlicher Hinsicht dokumentieren hermeneutische und rhetorische Praktiken ein hohes Maß an Kontinuität von Reinmar von Zweter bis in die Zeit Frauenlobs: Die Regularitäten der sozialen Praxis in Analogien zu moraliter gedeuteten Naturphänomenen zu stellen und damit ihre ordnungsbedingte Dauerhaftigkeit zu begründen, war ein von vielen Sangspruchdichtern besonders häufig aktualisiertes Verfahren. Geistliche Bibel- und Naturauslegungen nach dem Prinzip des sensus allegoricus stellen demgegenüber eine vergleichsweise späte und noch in den Jahrzehnten um 1300 seltene Erscheinung dar, obwohl sie eigentlich leicht verfügbar waren und keinen großen inventiven Aufwand erforderten. Möglicherweise indizieren sie – ähnlich wie die im späteren 13. Jahrhundert häufigeren Strophen mit spekulativ-theologischen Themen – einen Versuch, dem Gattungsrepertoire Wissensbestände einzugliedern, die in der lateinischen Gelehrtenkultur stärker als andere mit Professionalität assoziiert waren, und die Gattung dadurch mehr als zuvor mit einer Aura professioneller Gelehrtheit zu versehen. Die selbstbezüglichen Fürstenlobstrophen, die das Interesse ausdrücklich auf die textuellen Verfahrensweisen lenken



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und dadurch in besonders offensichtlicher Weise einen Kernaspekt des rhetorischen Dichtungsbegriffs der lateinischen Bildungstradition aktualisieren, könnten gut zu einer solchen Tendenz passen. Ausg. Alx.; Augustinus, Doctrina christiana; Bernhard von Clairvaux, Apologia; Brt.; C.-W.; GA; HMS; KLD; Krn.; L.; Mas.; MF; Obj.; Roe.; Ruw.; Schl.; Schr.; Whm.; Wms.; Zapf; Zck. – Lit. Baltzer, Strategien; Beutel [u.  a.], Predigt; Brinkmann, Hermeneutik; Bulang, Geltungspotentiale; Cizek, Imitatio; Cölln, Fürstenlob; Curschmann, Bild-Text-Formeln; Einhorn, Spiritalis unicornis; Freytag, Theorie; Gallo, Poetria Nova; Georgi, Preisgedicht; Gerhardt, Idealer Mann; Gerhardt, Metamorphosen; Grubmüller, Regel; Haustein, Freiheit; Haustein, Marner-Studien; Haustein, Überlieferung; Henkel, Studien; Huber, C., Herrscherlob; Huber, C., Wort; Hübner, Hofhochschuldozenten; Hübner, Inventio; Hübner, Lobblumen; Hübner, Poetik; Krause, „milte“-Thematik; Kühne, Überlegungen; Lauer, C., Sänger-Rollen; Mühlenberg, Schriftauslegung; Murphy, Rhetoric; Obermaier, Nachtigallen; Ohly, Bedeutungsforschung; Ostheeren [u.  a.], Topos; Padberg, Kirchenkritik; Reinitzer, Phoenix; Robert, Ars praedicandi; Salzer, Sinnbilder; Schmidtke, Tierinterpretation; Schröder, C., Millstätter Physiologus; Stackmann, Rat; Stackmann, Redebluomen; Szövérffy, Motivik; Tervooren, Sangspruchdichtung; Teschner, bispel; Urbanek, Genera dicendi; Wagner, Topik; Warning, Lyrisches Ich; Yao, Exempelgebrauch.

V Thematische Kerne 1 Religiöse Unterweisung ‒ Gebet ‒ Gottes- und Marienpreis

Stefan Rosmer

Religiöse Unterweisung, Gebet, Gottes- und Marienpreis als einen thematischen Kern der Sangspruchdichtung anzusetzen, ist durch die große Anzahl überlieferter Sangsprüche, Spruchlieder und Meisterlieder mit geistlicher Thematik und deren Präsenz in allen Phasen der Gattungsgeschichte begründet. Inhaltlich enger lässt sich als Kern das Wissen über Schöpfung, Sündenfall, Inkarnation, Erlösung durch Kreuzestod und Auferstehung Christi, Trinität, die Gebote für das Verhalten des Einzelnen und die Hoffnung auf ewiges Leben abgrenzen. Dieses Basiswissen ist in lateinischen, in der Liturgie verwendeten Texten ‒ ‚Credo‘, ‚Pater noster‘, ‚Confiteor‘, ‚Ave Maria‘ ‒ formuliert, die seit dem 9. Jahrhundert auch ins Deutsche übersetzt wurden. Nicht wenige Texte gehen über dieses Grundwissen hinaus. Sie nehmen z.  B. auf alt- oder neutestamentliche Ereignisse Bezug oder bewegen sich im Bereich der Kosmologie (vgl. für das meisterliche Lied Gade, Wissen, S. 180–182), wobei auch ein kosmologischer Spruch mit geistlicher Ermahnung schließen kann (z.  B. Frauenlob GA VII,11). Gebet und Lobpreis unterscheiden sich inhaltlich nicht von den lehrhaften Texten, sondern in Faktur und Sprechakt; Unterweisung, Lobpreis und Gebet können gemeinsam auftreten. Religiöses Wissen wurde auch in anderen volkssprachigen Gattungen behandelt (s. oben → Kapitel IV.2 und IV.4), mehrere Sangspruchdichter verfassten auch religiöse Leichs (Walther von der Vogelweide, Reinmar von Zweter, Konrad von Würzburg, Hermann Damen, Frauenlob; vgl. Apfelböck, Tradition, S. 137–150). Grundlegendes Religiöses Wissen in Sangsprüchen, Spruchliedern und Meisterliedern geht  – ob es sich um einfache Ermahnung oder Erläuterungen zur Trinität handelt ‒ auf die lateinische Bildungstradition zurück, alle Inhalte entstammen letztlich der gelehrten Sphäre. Weiter gilt, dass mit einem thematischen Kern ‚religiöse Unterweisung, Gebet, Gottes- und Marienpreis‘ auch ein pragmatischer Kern angesetzt wird. Mit dem Vortrag der Texte wurde in einer bestimmten kulturellen Konstellation gehandelt: belehrt, ermahnt, in Erinnerung gerufen, gelobt oder gebetet (s. oben → Kapitel  III.4). Aus diesen Rahmenbedingungen resultieren die Frage nach dem in den Texten verarbeiteten religiösen Wissen und dessen Herkunft einerseits, die Frage nach der Befugnis der Sänger zu religiöser Unterweisung, Lobpreis und Gebet andererseits. Beide Fragen sind mit der nach den Funktionen von religiösen Sangsprüchen, Spruchliedern und Meisterliedern in ihren sozialen und kulturellen Kontexten verknüpft. Nach der Herkunft des Wissens fragte man bei Texten, die offensichtlich auf theologische oder philosophische Diskurse Bezug nehmen. Die Forschung konzenhttps://doi.org/10.1515/9783110351897-005

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trierte sich auf Frauenlob und Heinrich von Mügeln (s. unten → Kapitel  VII.11 und VII.12), wobei sachgemäß auch andere Gattungen einbezogen wurden. Nachgewiesen oder zur Diskussion gestellt wurde der Einfluss bestimmter theologischer oder philosophischer Denktraditionen (Huber, C., Aufnahme; Kibelka, Meister; Peter, Gedankenwelt; Krayer, Frauenlob; Stolz, ‚Tum‘-Studien; Steinmetz, Liebe). Bei Michel Beheim (vgl. Wachinger, Beheim, und unten → Kapitel VII.14) und einigen anonymen Meisterliedern (Gade, ‚Lucidarius‘; Gade, Wissen) sind direkte Vorlagen bekannt, wobei es sich um volksprachige Wissensliteratur handelt; die Möglichkeit volkssprachiger Vermittlungsstufen ist grundsätzlich in Betracht zu ziehen. Möglicherweise lassen sich weitere direkte Vorlagen in hoch- und spätmittelalterlicher Schullektüre, in Florilegien und Kompendien ermitteln, die editorisch oder durch Kataloge und Repertorien nicht erschlossen sind. Zumeist ging es bei der Heranziehung lateinischer Texte um die Rekonstruktion der zeitgenössischen Wissensbestände, auf welche die Autoren Bezug nahmen und die den Verständnishorizont für die Texte bildeten. Auch im Rahmen anderer Fragestellungen wurde religiöses Wissen in Sangsprüchen, Spruchliedern und Meisterliedern untersucht (Gerhardt, Metamorphosen; Huber, C., Aufnahme; Huber, C., Wort; Hübner, Lobblumen; Kern, P., Trinität; Nowak, Studien; Volfing, John the Evangelist). Bei lobpreisenden Strophen und Liedern wurde neben der Funktion des Lobens, die bei religiösen Texten nicht suspendiert wird, die autoreflexive Funktion einiger Texte herausgearbeitet (Hübner, Lobblumen, S. 212‒218, 425‒427). Zahlreiche andere religiöse Liedtexte bieten keinen Anlass, nach zugrundeliegenden Quellenbereichen zu suchen, sie scheinen religiöses Allgemeinwissen zu verarbeiten. Was aber jenseits von ‚Pater noster‘, ‚Ave Maria‘, ‚Credo‘ und dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe als solches zu gelten hat, ist keine ganz tri­viale Frage. Wenn man zum Verständnis der Texte – z.  B. mithilfe von Salzers Belegstellensammlung (Sinnbilder) ‒ parallele Stellen ermittelt, suggeriert dies leicht einen einheitlichen und breiten Wissenshorizont. Grubmüller (Freidank, S.  42) hat darauf hingewiesen, dass ein solcher in einer nur teilweise literaten und noch stark von Mündlichkeit geprägten, zudem auch hinsichtlich der Bildung sozial, lokal und zeitlich stark differenzierten Gesellschaft nicht vorausgesetzt werden kann (vgl. auch Angenendt, Geschichte, S. 46‒54). Man könnte z.  B. die Namen der Apostel für Allgemeinwissen halten. Die Apostel sind aber in den bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts überlieferten Sangsprüchen nur viermal erwähnt: Alle dreizehn Namen zählt der Hardegger auf (C.-W. I,3), Reinmar von Zweter hebt namentlich Paulus und Johannes unter den Zwölfen hervor (Roe. 161), allgemein auf die bzw. einen Apostel verweisen Lupold Hornburg (Cramer  II, I,2,11) und Stolle (Zapf J. 22). Jüngere Texte nennen die Apostel öfter, dreimal sind die Namen annähernd vollständig aufgezählt (GA-S VIII,203; Poynter, Poetics, S.  195–199, RSM 1Frau/14/2; Konrad Nachtigall, Sanfter Ton, Cramer IV, IV; Regenbogen WKL II, Nr. 438, RSM 1Regb/4/512, Str. 1; Hal., ‚Stubenkrieg‘, S. 452, Str. 26). Das erlaubt kaum den Schluss, die Namen der Apostel seien gelehrtes Wissen gewesen und später Allgemeinwissen geworden. Es zeigt aber, dass



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auch das, was als weit verbreitet gelten kann, variabel und die Rekonstruktion auch dieses Wissenshorizontes eine Aufgabe der Forschung ist. Die zweite Fragerichtung ging davon aus, dass mit dem Vortrag der Texte Sprechakte vollzogen wurden, die in den Kompetenzbereich des Klerus fielen. Die Forschung sah teils einen Konflikt zwischen Sangspruchdichtern bzw. Meistersingern und Geistlichen (Kästner, Wettstreit; Obj., S.  83‒89; Stackmann, Vorstudien, S.  173‒181; Taylor, A., Literary History, S. 82  f.; vgl. auch Schubert, E., Volk, S. 112‒130), teils ein unproblematisches Verhältnis (Brunner, Alte Meister, S. 14; Müller, S., Bettelmönche; Schanze, Liedkunst I, S. 388; Stackmann, Poetica, S. 229‒231). Neben der zeitlichen Differenzierung sollte man nicht übersehen, dass Sangspruchdichter nur in der Lehre, nicht aber in der Heilsvermittlung in den Kompetenzbereich der Kleriker eindringen konnten, denn nur Kleriker waren für den Vollzug der Sakramente geweiht (vgl. Angenendt, Geschichte, S. 440‒462, 478‒481; Bradshaw, Priesteramt; Hanson/ Schäferdiek, Amt; Hauschild/Kaufmann, Amt). Es gibt Texte, die den Klerus kritisieren oder ihn zu vorbildhaftem Lebenswandel ermahnen: Alblin Cramer  I, 1; Michel Beheim, Gille/Spr. 269, 270, 316, 445; Ehrenbote Roe. 307‒309; RSM 1 Ehrb/2/5; Frauenlob GA V,33; GA V,34; GA VII,34; GA IX,18; GA IX,15; GA-S V,206; GA-S V,226; WKL II, Nr. 1306, RSM 1Frau/25/1; Friedrich von Sonnenburg Mas. 70; Konrad Harder, Bartsch (Hg.), Meisterlieder, Nr. 185, RSM 1Hardr/3/7; Heinrich von Mügeln, RSM 1HeiMü/502, 504, 509; Muskatblut Grte. 63, 73, 75; Regenbogen, Bartsch (Hg.), Meisterlieder, Nr. 56, RSM 1Regb/1/504; Wunderle, Sammlung, S. 113‒117; Reinmar von Zweter Roe. 86; Jörg Schiller Cramer III, XII; Stolle Zapf k. 9.1‒3; Suchensinn Cramer III, II; ‚König Tirol‘, Winsbeckische Gedichte, S. 67‒78; Walther von der Vogelweide L. 33,31.

Andere Texte erläutern die Würde des Priesters oder seine sakramentalen Befugnisse: Michel Beheim, Gille/Spr. 13, 261, 276; Boppe Alx. I,12; RSM 1Bop/1/528; Frauenlob GA V,3‒6; GA VII,22  f.; GA-S V,206; GA-S V,219; GA-S VII,211; GA-S VIII,203; Frauchiger, Dresden M 13, Nr. 23, S. 38, RSM 1Frau/7/518; Frauchiger, Dresden, M 13, Nr.  25, S.  40  f., RSM 1Frau/7/519; Friedman, C.  W., Prefigurations, S. 95‒99, RSM 1Frau/2/567; 1Frau/23/9; Heinrich von Mügeln Stmn. 320‒322, 334‒338; Konrad von Würzburg RSM 1KonrW/6/504; Der Marner RSM 1Marn/1/502; 1Marn/7/516; Muskatblut Grte. 86; Regenbogen RSM 1Regb/4/546; 1Regb/4/593; 1Regb/4/615; 1Regb/4/650; WKL II, Nr. 440, RSM 1 Regb/4/670; Reinmar von Zweter Roe. 245; Jörg Schiller, Maienweise, Cramer IV, II; Stolle Zapf k. 2; Suchensinn Cramer III, I; Veit Weber Cramer III, VI; Bruder Wernher Zck. I,1; Fritz Zorn, RSM 1 Zorn/2/13; Zwinger, Roter Ton, Cramer IV, IV.

Wenige Texte setzen meister und Priester in direkte Konkurrenz (RSM 1Ehrb/2/6; 1 Regb/5/2). Spruchdichter mussten ihre kunst als wichtig und entlohnenswert darstellen. Dazu waren religiöse Inhalte gut geeignet, weil sie per se große Relevanz hatten. Anderer­ seits konnte die religiöse Rede eines Laien aufgrund seiner Nicht-Zugehörigkeit zu den durch Weihe und Amt Befugten als begründungsbedürftig angesehen werden; Texte des ‚Wartburgkrieg‘-Komplexes thematisieren das Problem der Kompetenz des Laien (Hal., ‚Rätselspiel‘, S. 350‒415, hier Str. L 22, L 27‒28, L 32, S. 374 u. 378‒381; Hal.,

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‚Stubenkrieg‘, S. 444–454, hier Str. 14‒15, 29, S. 448 u. 453). Davon ausgehend wurde nach den textuellen Geltungsstrategien in Sangspruchdichtung und Meisterkunst gefragt (Braun, Situation; Bulang, Geltungspotentiale; ­Kellner‌/‌Strohschneider, Poetik; Kellner‌/‌Strohschneider, Wartburgkriege; Kellner‌/‌Wenzel, Einleitung; Strohschneider, Institutionalität; Strohschneider, Oberkrieg; Wenzel, F., Formen; Wenzel, F., Meisterschaft; Wenzel, F., Rätsel; vgl. auch Hal., S. 134‒140). Die Gestaltung der Sängerrollen im Text erscheint dabei als ein wesentlicher Faktor (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 50‒88, 288  f.; vgl. dazu auch oben → Kapitel III.5). Bei inhaltlich unkomplizierten Texten sah die Forschung es als ausgemacht an, dass es sich bei der Sangspruchdichtung in ihren gattungsgeschichtlichen Anfängen um einen literarischen Typus der Weisheitsdichtung bzw. der Gnomik handle. Dieser in verschiedenen Kulturen auftretende literarische Typus vermittelt in prägnanter Form Lebensklugheit und Wissen zur Orientierung in der Welt. Der Sänger weiß, was alle wissen sollen, und aktualisiert dieses Welt- und Erfahrungswissen (Stackmann, Poetica; Stackmann, Spruchweisheit, S. 54, sah konzeptionelle Ähnlichkeiten zur Weisheitsliteratur des Alten Testaments; siehe auch Volfing, wisheit; Assmann, Weisheit; Eikelmann, Gnomik; Figal, Weisheit; Hummel/Kalivoda, Gnome; Hutter [u.  a.], Weisheitsliteratur; Rudolph [u.  a.], Weisheitsliteratur). Der Charakter von Weisheitsdichtung, der sich in unpersönlicher Redeweise und der Nähe zum Sprichwort zeigt, wurde im Rahmen der Sangspruchdichtung als vorliterarisches Substrat interpretiert, das schon in der frühen Geschichte der Gatttung um eine profilierte Gestaltung der Sprechinstanz ergänzt wurde (Brem, ‚Herger‘/Spervogel; Grubmüller, Regel). Religiöses gehörte vom 12. bis zum 16. Jahrhundert sicherlich zum für die Orien­ tierung in der Welt nötigen Wissen, und sofern die Texte über religiöses Allgemeinwissen nicht hinausgingen, mochte der Sänger auch in diesem Bereich die Autorität der Rolle eines Weisen in Anspruch nehmen können. Im Kontext einer Schrift- und Offenbarungsreligion und angesichts der durchgängigen Latinität mittelalterlicher Theologie und Liturgie war die Annahme eines selbstevidenten religiösen Erfahrungswissens allerdings generell schwer zu begründen; letztlich war jedes religiöse Wissen lateinisch-gelehrt und basierte auf dem Studium der Schrift (ins Mittelalter tradierte, christliche und antik-heidnische Gnomik gehörte ohnehin zum lateinischgelehrten, schriftlich überlieferten Wissen, Hummel/Kalivoda, Gnome, Sp. 1016  f.). Zugangsweisen zur Religiosität, die das Affektive betonten und ihr religiöses Wissen aus der persönlichen Erfahrung von Gottesbegegnungen und der Frömmigkeitspraxis bezogen, wie Mystik (Angenendt, Geschichte, S. 188‒191; Ruh, Geschichte, Bd. II u. III) oder spätmittelalterliche Frömmigkeitstheologie (Angenendt, Geschichte, S. 188‒191), standen dem gelehrten theologischen Diskurs sozial und institutionell deutlich näher als die Sangspruchtradition und wurden erst spät von ihr rezipiert. Beheim versifizierte das ‚Buch der Liebhabung Gottes‘ und Teile von ‚Erkenntnis der Sünde‘ (siehe RSM, Bd. 16, Quellen s.  v. Thomas Peuntner, Heinrich von Langenstein; zur mystischen Lyrik siehe Theben, Mystische Lyrik). Im Bereich des Religiösen



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sind deswegen die Rollen des Weisen und die des Lehrers/Predigers deckungsgleich. Grubmüller (Autorität) stellte eine Veränderung der Autorisierungsstrategien ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts fest. Während davor die unhinterfragte Predigerrolle den Text legitimierte, wurde mit dem Auftreten des Meisterschaft-Konzepts im späten 13. Jahrhundert die Prätention von Gelehrtheit – u.  a. mittels theologisch anspruchsvoller Inhalte – als Autorisierungsstrategie eingesetzt (vgl. Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 49‒88). Der folgende Überblick versucht die thematisierten religiösen Inhalte und typische Gestaltungsweisen herauszuarbeiten. Er ist grob chronologisch geordnet. Themen und Gestaltungsweisen im chronologischen Aufriss Unter den Spervogel  I (‚Herger‘, Spervogel-Anonymus A) zugewiesenen Sangsprüchen behandeln zwei Strophenreihen Geburt, Tod und Auferstehung Christi (MF 28,13 u. 30,13). Sie erinnern an Heilstaten und Erlösung, warnen vor den Qualen der Hölle, stellen die Freuden des Himmels in Aussicht und loben Gottes Allmacht. Die Texte sind überwiegend unpersönlich-konstatierend, einmal tritt das Sänger-Ich als reuiger, auf Gottes Gnade hoffender Sünder auf (MF 29,6). Bei Spervogel II (Sper­vogel) und Spervogel III (Junger Spervogel; Spervogel-Anonymus B) fehlt die religiöse Thematik. Unter den im Korpus Walthers von der Vogelweide überlieferten Sangsprüchen dominiert das Religiöse nicht. Inhaltlich treten Maria, Inkarnation (L. 36,21), die Engel (L. 79,1 u. 79,9) und das Passionsgeschehen hinzu. In einer Segensbitte des Sängers für sich selbst erinnert er Gott an seine Empfängnis und Geburt (L. 24,18). Die Erwähnung des Traums des ‒ namentlich nicht genannten ‒ Nebukadnezar wird zur Zeitklage genutzt (L. 23,11; später mit anderer Deutung bei Kelin Whm. I,1; Rumelant von Sachsen Krn. IV,1‒3; Wizlav HMS III,23: I,7  f.). Die Passion tritt in szenisch gestalteten Strophen mit der neutestamentlichen Empfehlung von Johannes an Maria, der Lanzen-Episode mit dem apokryphen Namen Longinus und der mittelalterlich-legendarischen Heilung von Blindheit auf (L.  36,1; unecht?). Profiliert ist gegenüber dem Spervogel I-Korpus die Rolle des Ichs. Es wendet sich direkt an Gott oder Maria und tritt als Sünder, der sich mit dem Gebot der Feindesliebe auseinandersetzt (L.  26,3), als Warner angesichts der Endzeit (L.  21,25), als lobpreisender Sänger (L. 78,24, 78,32, 79,9) und als vor Gottes Unbegreiflichkeit fromm Kapitulierender (L. 10,1) auf. Im Korpus Bruder Wernhers warnen drei Strophen vor Tod, Sünde und zu später Reue (Zck. 15, 20, 41), eine vor dem Jüngsten Gericht (Zck. 22), eine vor den Folgen von Acht und Bann für die Seele nach dem Tod (Zck. 2), eine weitere mit Tiergleichnissen und unter Berufung auf die wîsen davor, die Vergänglichkeit nicht zu bedenken (Zck. 25). Maria und Johannes werden als Fürsprecher erwähnt (Zck. 17). Diese Strophen sind unpersönlich oder in der Wir-Form gehalten. In drei Strophen ist die Sprechin­ stanz wie bei Walther stärker profiliert. Das Ich fragt, wieso es für Evas Sünde, die es nicht begangen habe, entgelten müsse (Zck. 21). In einer Strophe klagt es über seine

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Sünden und bittet Maria um Beistand (Zck. 65). Als Sänger tritt das Ich hervor, wenn der Gesang dem Kreuz gilt statt wie bisher der Welt und dazu mahnt, jeder solle so leben, dass der Schutzengel für ihn sorgen könne (Zck. 75). Eine weitere Strophe nutzt den Bericht von der Geburt Christi zum Kreuzzugsaufruf (Zck. 76). Im kleinen Hardegger-Korpus ist Religiöses mit vier markanten Strophen vertreten: Ein SängerIch ruft Maria an und bittet sie um wâre minne als Gegenleistung für sein Lob (C.-W. I,2), die dreizehn Apostel werden namentlich angerufen (C.-W. I,3), eine Strophe legt Petrus und Christus einen Dialog über Sünde, Beichte und Buße in den Mund (C.-W. I,6, zu den Gegenstrophen C.-W., S. 50‒57, vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 132‒138), der Vortrag eines konstatierend-unpersönlichen Marienlobs wird im Text an Weihnachten situiert (C.-W. I,5; vgl. auch Rumelant von Sachsen Krn. IX,3). Zwei Strophen Ulrichs von Singenberg setzen den religiösen Sangspruch in der Linie Walthers und Bruder Wernhers fort (SM 12,16,If.). Während in den frühen Korpora Religiöses randständig bleibt, gewinnt es bei Reinmar von Zweter an Gewicht. Prominent am Beginn der Reinmar-Sammlung des Cpg 350 (Sigle D) stehen zwei religiöse Strophenreihen, die mit einem versifizierten ‚Pater noster‘ (Roe. 1‒13) und einer erweiternden ‚Ave Maria‘-Paraphrase (Roe. 14‒22) enden; diese und 14 weitere Strophen (Roe. 77, 85, 87, 88, 89, 161, 170, 181, 191, 192, 217, 218, 219, 226) behandeln ein breites Spektrum religiöser Themen: Sündenfall, Erlösungsratschluss, Inkarnation, Passion, Abstieg in die Vorhölle, Jüngstes Gericht ‒ bei dem Christus seine Wunden zeige (Roe. 219) ‒, Trinität, Schar der Heiligen und Engel um Gottes Thron, fünf Freuden Marias (Roe. 18), Visionen des Johannes und Paulus (Roe. 161) und menschliche Natur Christi, die allein am Kreuz gestorben ist (Roe. 6). Sündenlehre spielt bei Reinmar eine bedeutende Rolle: Ein Rätselgleichnis vom Wasser, das ein Lamm durchwaten könne, aber nicht der Elefant, warnt vor der curiositas (Roe. 85); das Wissen um die göttliche vorgewizzenheit (providentia) soll den Menschen nicht zum versûmen (praesumptio) verleiten, was wiederum zwîvel (desperatio) zur Folge habe (Roe. 87); nur der Abfall vom Glauben sei eine unverzeihliche Sünde (Roe. 88); Verlangen nach Sünde ist selbst noch keine (Roe. 89). Auch in den weiteren Strophen über Sünde, Reue und Buße ist die Mahner-Rolle ausgeprägt (Roe. 170, 181, 191  f.); öfter fordert der Wissende Aufmerksamkeit (Roe. 1, 14, 86). Die Evangelistensymbole seien ungelêrten zu wilde (Roe. 8), doch der Sangspruchdichter ist gelehrt genug, um sie zu erläutern (Roe. 9); zur Belehrung über die Zehn Gebote wird dagegen auf die wîse[n] liute (Roe. 191) verwiesen. Neben mahnender Sündenlehre dominieren der unpersönlich-konstatierende Gestus und die bittende oder lobpreisende Anrede Gottes, Marias, der Engel und einmal Gabriels (Roe. 15). Insgesamt ist die Sprechinstanz schwach profiliert, das Ich geht oft im Gemeinde-Wir auf. Auch wenn Reinmar ein „Ausbreiten von Gelehrsamkeit“ (Brunner, Reinmar von Zweter, Sp. 1204) abgesprochen wurde, ist die verstärkte Aktualisierung religiösen Wissens doch unverkennbar. Dass die personifizierten göttlichen Eigenschaften Minne (caritas), Erbermde (misericordia) und Güete (bonitas) den Fall des Menschen beklagen und Minne Inkarnation und Erlösungstod des Sohnes vorschlägt (Roe. 1; vgl.



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Roe. 217), ist kaum ohne eine gewisse Kenntnis theologischer, heilsgeschichtlich-allegorischer Narrative wie dem Erlösungsrat der Trinität oder dem Streit der Töchter Gottes vorstellbar (vgl. Ohly, Trinität). Im Vergleich mit zeitgenössischen Kollegen muss Reinmar einen gelehrten Eindruck gemacht haben. Es fehlen aber Ausführungen zum Wesen der Trinität und das Thema Eucharistie. Die nicht genau datierbaren religiösen Sangsprüche des Stolle-Korpus in J kann man, was Inhalte, Faktur und Gestaltung der Sprechinstanz angeht, dem Œuvre Reinmars eng an die Seite rücken. Neu ist die Erwähnung des ‚Canon missae‘ bei Stolle Zapf J. 22, aber eine Erklärung der Eucharistie fehlt auch hier, der Wandlungsvorgang wird mit dem unspezifischen Ausdruck, dass die Priester in [Gott/Christus] segenen, bezeichnet. Offenbar verläuft bei diesen Autoren eine Grenze zwischen genuin priesterlicher, sakramentaler Kompetenz und der Lehrer-/Predigerrolle der Sangspruchdichter, die eine genauere theologische Erklärung des Glaubensgeheimnisses der Eucharistie nicht zuließ. Der Verzicht auf Trinitätsspekulation und die Konzentration auf die Sünde- und Buße-Thematik, die oft in der Rolle des Sängers als reuigem Sünder gestaltet wird, können als Gemeinsamkeiten der Sangsprüche zwischen ca. 1170 und ca. 1250 angesehen werden. Die geistlichen Strophen im Marner-Korpus bringen graduelle Neuerungen. Generell ist darauf hinzuweisen, dass beim Marner oft verschiedene Themen in einer Strophe erwähnt und miteinander verknüpft werden. So werden wiederholt mehrere zentrale Ereignisse der Heilsgeschichte genannt, jedoch nicht breit dargestellt, sondern es wird der Bedeutungszusammenhang zwischen ihnen herausgearbeitet. Beispielsweise beginnt Wms. 6,18 mit dem Wasserwunder des ‒ namentlich nicht genannten ‒ Moses (Ex 17,6/Nm 20,11), setzt fort mit dem Wasser der Tränen aus Reue über die Sünde, dem Wasser, das aus Christi Wunde am Kreuz floss, und assoziiert das Wasser der Taufe (v. 9); das Verfahren der allegorisch-moralischen Auslegung ist erkennbar. Der Abgesang preist Gottes Schöpferkraft und Allwissen, das jeden Tropfen Wasser kennt. Die Texte werden durch solche Verknüpfungen inhaltlich dicht und verlangen rezeptionsseitig einen gewissen Aufwand beim Nachvollzug der Bedeutungsebenen und ihres Zusammenhangs. Zur Darstellung von Gottes Größe werden Kosmosbeschreibungen ‒ Planetenbahnen, vier Elemente, Wetterphänomene  – eingesetzt (Wms. 1,2  f. u. 6,16), was sich als Gelehrtheitssignal auffassen lässt. Es wird aber auch davor gewarnt, diese Wunder erforschen zu wollen (Wms. 6,3; ähnlich der Henneberger HMS III,12,4). Der Begriff meisterschaft taucht bezogen auf Gottes Schöpferkraft erstmals in einem religiösen Sangspruch auf (Wms. 1,2; so auch bei Kelin Whm. I,5). In markanten Rollen tritt das Ich nur in den althergebrachten des Sünders (Wms. 6,9 u. 7,6) und des Warners vor dem Jüngsten Gericht in Josaphat (Wms. 1,4) auf. Ansonsten bleibt die Sängerinstanz wie bei Reinmar schwach profiliert. Die Mehrzahl der geistlichen Strophen ist Maria gewidmet (s. unten → Ka­pi­ tel  VII.4). Sie erscheint als Jungfrau, Mutter, Himmelskönigin und Fürsprecherin, alttestamentliche Präfigurationen sind einmal gehäuft verwendet (Wms. 7,1). Ihre

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Schmerzen und ihre compassio sind nicht thematisiert; Trinitäts- und Eucharistielehre fehlen (zu Wms. *4,3 s.  u.). Dagegen werden in den vier religiösen Sangsprüchen Konrads von Würzburg Trinität und Eucharistie behandelt. Eine an Gott gerichtete Strophe preist seine Ewigkeit und Allmacht, das wunder der Trinität wird in der Metapher vom Flechten eines stric[kes] durchgespielt (Schr. 32,1). Eine weitere Strophe kombiniert die Themen Trinität, Inkarnation, Passion und Eucharistie (Schr. 32,16). Der zu Beginn apostrophierte Gott ist Vater (altherre) und Sohn (brûner jungelinc), der sich zeiner spîse gibt. Die Speise ist zugleich das inkarnierte Wort des Johannesevangeliums. Die Formulierungen, dass der Leib sunder pîn und âne schranz (v. 24) empfangen wird und sich ze brôte mischet (v. 29), dürften die Lehre reflektieren, dass Christi Leib in der Brotgestalt real, aber wesensverwandelt, daher nicht aufgeteilt präsent ist. Auch der Opfercharakter der Eucharistie ist einbezogen (v. 28). Zwei weitere Strophen wenden sich an Maria. Eine erfleht ihre Fürsprache beim Jüngsten Gericht, an dem Christus vom Sünder Gegenleistung für seine Passion einfordert; dabei wird geschildert, dass Christus dem Sünder seine Wundmale, Maria Christus ihre Brüste zeigt (Schr. 32,31; beim Henneberger und bei Rumelant von Sachsen wird die Jüngste-Gericht-Szene als Dialog zwischen Maria und Christus gestaltet, Maria weist auch auf ihre Schmerzen hin: Der Henneberger HMS III,12,8  f.; Rumelant Krn. II,5‒9). Konrads andere Ma­ rien­strophe (Schr. 32,46) lobt wie ältere Strophen das Wunder der Inkarnation im Paradox des allumfassenden Gottes, der sich in Maria birgt, ergänzt aber, dass die göttliche Natur (sîn gotheit) dennoch gleichzeitig im Himmel war und die Inkarnation mit frîer muotgelüste geschah. Inkarnation und Trinität ‒ zumindest das Verhältnis von Gottvater und Sohn, der Heilige Geist kommt in den Sprüchen nicht vor ‒ rücken eng zusammen. Konrads Sprüche greifen weitaus stärker als die seiner Vorgänger in theologische Themenbereiche aus. Der Autor dieser Strophen erwies sich als theologisch ziemlich versiert, vielleicht sogar versierter als mancher Gemeindepfarrer (vgl. Angenendt, Geschichte, S. 447‒450). Da in der Eucharistie-Strophe davon die Rede ist, dass wir das ôsterliche[] lamp (Schr. 32,28) Christus schlachten und Gott sich tegelich […] uns (Schr. 32,18‒19) zur Speise gibt, ist zu fragen, ob mit der 1. Person Plural nicht klerikale Kompetenz beansprucht wird. In Marners versifiziertem ‚Vaterunser‘ (Wms. *4,3) wird das ‚tägliche Brot‘ zum gtliche(n) brot, womit die Eucharistie gemeint sein dürfte, auch hier spricht ein Wir. Haustein (Marner-Studien, S. 98) nimmt an, dass die Strophe nur in Präsenz der konsekrierten Hostie verständlich sei, und leitet daraus ein Eindringen des Sangspruchdichters in den priesterlichen Kompetenzbereich ab. Es handelt sich aber möglicherweise beim Marner und bei Konrad von Würzburg nur um ein Gemeinde-Wir, in dem jeder Christ sprechen konnte, auch der Sangspruchdichter: Der Priester vollzieht als Teil der Kirche mittels der durch Weihe verliehenen Konsekra­ tionsgewalt die Eucharistie für alle, und Gott gibt sich ihm als Stellvertreter täglich zur Speise. Daher können auch alle, die Teil der Kirche sind, davon sprechen, dass wir opfern und kommunizieren. Festzuhalten ist gleichwohl, dass die Glaubensgeheim-



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nisse der Eucharistie nicht mehr aus dem Sangspruch ausgeklammert bleiben und der Marner und Konrad die religiösen Sangsprüche der klerikalen Sphäre deutlich annähern. Anders als Konrad von Würzburg meiden die übrigen Sangspruchdichter der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts das Thema der Eucharistie und des Verhältnisses von inkarniertem Leib Jesu zum Leib Christi in der Hostie. In den Korpora des Meißners, Rumelants von Sachsen und des Jungen Meißners kommt es nicht vor; bei Friedrich von Sonnenburg und Boppe wird es im Zusammenhang mit anderen Wundern erwähnt, die Gottes Größe zeigen (Alx. I,11), für die der Mensch danken soll (Alx. I,13) oder die der Welt besondere Würde verleihen (Mas. 4). Die religiösen Sangsprüche Friedrichs von Sonnenburg schließen an die Gestalt des religiösen Sangspruchs an, wie sie bei Reinmar von Zweter ausgeprägt ist. Eine Strophe warnt vor dem Jüngsten Gericht (Mas. 43), insgesamt dominiert der Lobpreis Gottes und Marias (Mas. 11‒15, 32, 61). Ungewöhnlich sind jedoch die Verteidigung der Welt (Mas. 1‒5; mit Gegenstrophen Mas. 6‒10, vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 141‒150) und die Drohung an Maria, ihr Verhältnis mit der Trinität auszuplaudern (Mas. 62). Friedrichs Strophen geben sich durch die Verwendung eines Naturgleichnisses (Mas. 40) und lateinischer Wörter (trinitas Mas. 14,5; nativitas Mas. 32,10) einen gelehrten Anstrich. Eine Strophe streicht Marias Präexistenz in Gottes vürgedanc heraus (Mas. 50,5; vorgedachticheit in Mas. 14,3). Zudem findet sich wortspielerische Gestaltung: Mas. 50 behandelt die Beteiligung des wort[s] an verschiedenen Heilsereignissen, wobei wort einmal als Aussage Gottes, einmal als inkarniertes Wort/Gott selbst aufzufassen ist; Mas. 71 häuft das Wort got. Solche Verfahrensweisen begegnen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mehrmals (Hermann Damen Schl. IV,2; mit geist Der Meißner Obj. X,5; mit wunder Rumelant Krn. I,11; mit minne Rumelant Krn. V,1). Im Meißner-Korpus dominiert der lehrhafte Gestus, hymnisch-lobpreisende oder unpersönlich-konstatierende Strophen sind selten (Obj. II,1, VIII,5 u. XIX,1  f.). Die inhaltliche Verdichtung und sprachliche Prägnanz der Konrad- und Marner-Strophen fehlen. Gottes Allmacht wird häufig anhand von Naturerscheinungen dargestellt (Obj. VI,1 u. VIII,1). Erstmals in der Gattungsgeschichte thematisiert sind die Vertreibung aus dem Paradies (Obj. VIII,4), der Auszug aus Ägypten mit Auslegung (Obj. VI,7  f.), Moses und die eherne Schlange mit Auslegung (Obj. X,2  f.), die sieben Zeichen bei Christi Tod (Obj. VI,1), die 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts (Obj. VI,9  f.); neu sind weiter die direkte Ansprache der Ketzer (Obj. XV,2) und das Lob des Wortes, weil Worte Christi Leib und Blut hervorbringen (Obj. IX,1). Die Sündenthematik wird in prätendierter Gelehrsamkeit angegangen, wenn diskutiert wird, wann Lügen Sünde sei (Obj. VIII,3), und die Mahnung, die Sünde abzulegen, anhand der Analogie zum Häuten der Schlange erfolgt (Obj. VIII,2). Gelehrtheitssignal sind auch Trinitätsgleichnisse (Obj. XV,2) und ‚Physiologus‘-Beispiele (Obj. XII,1‒4). Im Korpus des Jungen Meißners sind die religiösen Sangsprüche ganz auf Mahnung und Warnung ausgelegt (Pep. A I,15‒18, 20), Christus wird zweimal aufgefordert, die Sünder zu strafen (Pep. A I,12 u. I,19).

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Das Rumelant von Sachsen-Korpus bringt weitere inhaltliche Neuerungen (die Traditionshintergründe erschließen die Kommentare in Krn.): der Heide Cato als Beispiel für die Ablehnung der Sünde (Krn. II,1), namentliche Nennung Salomos (Krn. II,3), eine frei paraphrasierte (Krn. II,2) und eine erfundene Evangelienperikope (Krn. IV,9; vgl. Der Hardegger C.-W. I,1a; Friedrich von Sonnenburg Mas. 66), die Auslegung des Hahnenschreis auf Christi Passion (Krn. IV,21). Gottes Größe als Schöpfer und Erhalter des Kosmos wird zweimal thematisiert (Krn. I,5 u. V,4). Die Mahner-Rolle ist bei Rumelant schwächer ausgeprägt als beim Meißner und beim Jungen Meißner. Die Sprechinstanz tritt überhaupt wenig hervor, markant nur als reuiger Sünder (Krn. IV,25) und als Sänger in vier Tonweihe-Strophen (Krn. V,1, VII,1, VIII,1 u. IX,1; weitere Tonweihen: Höllefeuer C.-W. I,1; Hermann Damen Schl. IV,1; Sigeher Brt. 11 u. 14; Walther von Breisach KLD 63,III,1–4; Wizlav HMS III,22,IV [unter Friedrich von Sonnenburg], RSM 1Wizl/1/1). Zentrales Thema der religiösen Rumelant-Strophen ist der Zusammenhang von Inkarnation, Passion, göttlicher und menschlicher Natur Christi sowie göttlicher Barmherzigkeit. Auffällig und verglichen mit Reinmar, dem Marner und Konrad neuartig ist, dass das Verständnis in einigen Strophen offenbar forciert erschwert werden sollte. Dies beruht in der Regel auf verkürzt dargebotenen Analogien ‒ z.  B. zwischen Elementen und Passion (Krn. I,1‒4) oder Kosmos und Gott ‒, deren Bedeutungszusammenhang der Rezipient selbst erschließen muss (Krn. I,5: Gottvater ist geometra, der in seiner Schöpfung alles nach Ordnung und in Proportion zusammenfügt, Gott-Sohn ist die Zusammenfügung des Alten und des Neuen Bundes, Kosmos und Heilsgeschichte entsprechen sich in ihrem Zusammengefügt- und Geordnet-Sein im dreieinigen Gott). Diese verständniserschwerende Ausdrucksweise ist als Gelehrtheitssignal aufzufassen. Indem der Dichter Schwieriges bzw. Unerforschliches in schwer zu verstehender Weise behandelt, zeigt er sowohl Sachkenntnis als auch Formulierungskompetenz. Die Rezipienten mussten zum Verständnis über einiges Wissen verfügen, was sicherlich nur für wenige galt, für andere blieb der Text dunkel. Als Gelehrtheitssignal ist auch die Verwendung von alttestamentlichen Episoden, ‚Physiologus‘-Beispielen und anderen Gleichnissen in Verbindung mit einer Auslegung aufzufassen, was schon beim Meißner begegnet. Mehrfach werden Strophen zu größeren liedhaften Einheiten gruppiert (Krn. II,5‒9, V,2  f. u. IX,1–3). Weiter trifft man auf ungewöhnliche Auslegungen (Krn. V,1‒3 mit Berufung auf die glosa) und auf das Referat kontroverser theologischer Lehrmeinungen (Krn. II,11). Die Tendenz zur Schwerverständlichkeit und die Verwendung von Allegorien mit Ausdeutung ist auch in den Korpora des Wilden Alexander (KLD 1,II,5  f. u. 1,II,17– 21) und Fegfeuers (Whm. I,4 u. I,5) ausgeprägt. Im Fegfeuer-Korpus begegnen erstmals Marias Mutter Anna, der Name Herodes und die Kreuzholzlegende. Auch eine Strophenreihe Boppes (Alx. VII,1‒4), die unter Berufung auf die meisterpfaffen, des küniges Tirols buoch, den wîssagen Dâniêl und die wîse[n] liute Gottes Geheimnisse erläutern will, gehört zu den dunklen Texten. Sie behandelt die Präexistenz Marias und die Ratschlüsse Gottes, die mit der Vorstellung eines Tugendkonzils verknüpft



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werden. Gelehrt gibt sich das Boppe-Korpus mit einer Begriffsexplikation der barmung (Alx. I,17) und einer Strophe über die göttliche und menschliche Natur Christi (Alx. I,11). Zwei weitere Strophen bieten einen Abriss der Heilswahrheiten (Alx. I,10, mit einer Strick-Metapher für die Trinität wie bei Konrad; Alx. I,13), eine andere preist Maria mit alttestamentlichen Präfigurationen (Alx. I,14). In den religiösen Strophen Hermann Damens herrscht das Gottes- und Marienlob vor. Das Ich tritt in der Sänger-Rolle und als um Barmherzigkeit Bittender hervor (Schl. III,2, III,6, IV,3 u. IV,10). Theologisch geriert sich eine Strophe, die erörtert, warum Gott selbst Mensch wurde (Schl. IV,11). Abgesehen von Marien-Präfigurationen fehlen bei Boppe und Damen Bezüge auf das Alte Testament. In kleineren Korpora oder solchen mit wenigen religiösen Strophen dominiert der Lobpreis Gottes als Schöpfer, Allmächtiger und Ewiger (Gervelin HMS III,10: [I,]1; Süßkind von Trimberg KLD 56,III,1; Kelin Whm. I,5; Walther von Breisach KLD 63,I,1  f.; Wizlav HMS III,22,IV [unter Friedrich von Sonnenburg], RSM 1Wizl/1/1), der Trinität und Passion (Sigeher Brt. 11 u. 14; Höllefeuer C.-W. I,1) sowie Marias (Gervelin HMS III,10: [I],2; Kelin, Whm. I,4; Sigeher Brt. 17; Wizlav, WKL II, Nr. 348, RSM 1Wizl/2/2). Daneben begegnen Warnung vor dem Jüngsten Gericht (Wizlav, WKL II, Nr. 347, RSM 1 Wizl/2/1) und Bitte des Sünders an Jesus (WKL II, Nr.  349, RSM 1Wizl/2/6; WKL II, Nr. 350, RSM 1Wizl/3/2), das Lob des Verrats des Judas, weil dieser das Heil bewirkte (Walther von Breisach KLD 63,III,1‒4), die Prophezeiung an Belsazar (Sigeher Brt. 16) und Noahs Trunkenheit (Der Kanzler KLD 28,I,1). Im Überblick ergibt sich für die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts eine Ausweitung der thematisierten religiösen Wissensbestände, wobei sich die Autorkorpora teilweise deutlich voneinander unterscheiden, die genaue Rekonstruktion zeitgenössischer Wissenshorizonte also nur spezifisch für den Einzelfall erfolgen kann. Im Gesamtüberblick sind als häufig behandelte Theologumena auszumachen: Trinität – unter Bevorzugung von Gottvater und Sohn, der Heilige Geist kommt selten vor ‒, Inkarnation, Erlösung von der Erbsünde, göttliche Barmherzigkeit und Liebe, Verhältnis von menschlicher und göttlicher Natur Christi, göttliche providentia, Passion ‒ wobei detaillierte Schilderungen des Leidens sehr selten sind ‒ und Maria. Maria bleibt Jungfrau, Mutter und Königin, ihr Leiden spielt auch in der zweiten Jahrhunderthälfte so gut wie keine Rolle. Der Anteil lobpreisender Strophen nimmt zu. Die Mahner- und Sünder-Rolle ist nach wie vor anzutreffen, jedoch wird sie proportional seltener als in älteren Texten aktualisiert. Für die in die GA aufgenommenen religiösen Sangsprüche Frauenlobs ist vor diesem Hintergrund zu betonen, dass sie in deutlicher Kontinuität mit der Entwicklung seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stehen. Bei den behandelten Theologumena bringen sie wenig Neues, auch in ihnen geht es um Schöpfung, Trinität, Inkarnation und das Lob Marias (s. unten → Kapitel VII.11). Die Eucharistie kommt in den Frauenlob-Sprüchen mehrmals vor (GA V,1, V,3‒6 u. VII,10), ihr Wesen und der Zusammenhang zur Inkarnation werden aber nur in einer sehr schwierigen Strophenreihe behandelt (GA VII,1‒3; Polemik gegen GA VII,1: GA V,120, vgl. Wachinger,

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Sängerkrieg, S. 270‒273). Die Passion wird erwähnt (GA V,2, VII,2), aber nicht breit behandelt. Traditionsgebundenheit zeigt sich in der Aufnahme der Strick- und Flechtmetapher für die Trinität (GA VII,7 u. VII,4); eine zahlenspielerische Erläuterung der Trinität (GA VII,6) hat eine Parallele beim Meißner (Obj. VII,1). Neu ist die Betonung der Ordnung der Natur, die durch die Inkarnation überwunden wurde (GA VI,2, VII,5, VII,6 u. X,1‒3). Die göttliche Providenz tritt häufiger auf als zuvor. Blickt man auf die Gestaltung der Sprechinstanz und den Redegestus in den Frauenlob-Strophen, so stehen die bekannten Modelle ziemlich gleichmäßig nebeneinander (lehrhaft-ermahnend/Lehrerrolle, unpersönlich-konstatierend/ohne Profilierung der Sprechinstanz, Sündenwarnung/Sünderrolle, lobpreisend-hymnisch/Sängerrolle oder ohne Profilierung der Sprechinstanz), während sich innerhalb anderer Autorkorpora meistens ein Übergewicht einer Textrolle und eines Redegestus ausmachen lässt. Frauenlob steht auch bei der Anreicherung des religiösen Sangspruchs mit theologisch-gelehrtem Wissen in Kontinuität mit der Sangspruchtradition seit Reinmar von Zweter, bei seiner sprachlich komplizierten Darstellung in Kontinuität mit den Autoren des letzten Drittels des 13. Jahrhunderts. Gleichwohl sind diesen gegenüber Gelehrsamkeit und Kompliziertheit deutlich gesteigert. Eine Reihe von Strophen muss man als ausgesprochen schwierig oder änigmatisch charakterisieren (GA V,59‒61, VI,1, VI,2, VII,1‒3, VII,4, VII,6 u. X,1‒3). Abgesehen von Verständnisproblemen, die aus dem Bezug auf theologische Wissensbestände resultieren, über die nur wenige zeitgenössische Rezipienten verfügten und die für die moderne Forschung nur schwer oder gar nicht mehr zugänglich und rekonstruierbar sind (s.  o. ‚Grundlegendes‘), ist die Schwerverständlichkeit der Frauenlobtexte oft ein Effekt stark verkürzender Formulierungsverfahren (vgl. Stackmann, Bild). Die mögliche Funktion dieser gesteigerten Dunkelheit und der ‒ zumindest beim gegenwärtigen Kenntnisstand ‒ nicht immer aufzuschlüsselnden Metaphorik einiger religiöser Sangsprüche Frauenlobs wurde noch nicht detailliert untersucht. Zu diskutieren wäre, ob Frauenlob darauf zielte, in seinen dunklen religiösen Sangsprüchen das Paradoxe und Unbegreifliche des Göttlichen ins Wort zu fassen, wobei an die Forschung zu den Leichs und Liedern anzuknüpfen wäre (Hübner, Lobblumen; Köbele, Frauenlobs Lieder; Steinmetz, Liebe; Wachinger, Cantica canticorum). Frauenlobs Ruhm bei Zeitgenossen und späteren Meistern ist sicherlich auch auf die intendierte Schwerverständlichkeit und die forcierte Gelehrtheitsprätention seiner religiösen Sangsprüche zurückzuführen. Die Frauenlob-Nachfolger und -Nachahmer schließen inhaltlich und sprachlich-stilistisch daran an (Stackmann, Abhängigkeit; Wachinger, Corpusüberlieferung). Daneben gibt es im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts weiterhin Texte, die nicht auf Schwerverständlichkeit und Gelehrtheitssignale setzen, wie die Sangsprüche Johanns von Ringgenberg zeigen (SM 13,1: III‒VI, IX). Sie preisen – ohne dass ein Sänger-Ich in Erscheinung tritt – Gott als den Kosmos umspannenden Schöpfer, Maria als seine klôse (SM 13,1: IV,11), die Barmherzigkeit als Grund für Inkarnation und Erlösung durch Jesu Passion und mahnen zu einem gottgefälligen Leben angesichts von Tod und Jüngstem Gericht. Als Adliger ist Johann ein



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untypischer Sangspruchautor, die Texte schließen aber bruchlos an die Tradition des religiösen Sangspruchs an, wie sie seit Reinmar von Zweter ausgeprägt ist und in den kleineren Korpora der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts fortgeführt wird. Entwicklungstendenzen zwischen ca. 1320 und 1450 Durch die Forschungen der letzten 40 Jahre und durch die Gliederung des RSM in einen älteren Teil, der die Texte bis zur Reformation einschließt, und einen jüngeren mit dem nachreformatorischen Meistergesang ist ins Bewusstsein getreten, dass die Gattungsgeschichte nicht nach Frauenlob endet, sondern dass die „zweite, […] spätmittelalterliche Periode“ (RSM, Bd.  1, S.  2) der Gattungsgeschichte trotz der Überlieferungslücke zwischen ca. 1350 und 1420 eng mit dem höfischen Sangspruch verflochten ist. Gleichwohl sind vielfältige und tiefgreifende Umformungs- und Transferprozesse im Gang (s. unten → Kapitel  VIII.2; grundlegend Rettelbach, Skizze; Stackmann, Meisterliches Lied; Wachinger, Sangspruchdichtung). Hinsichtlich der thematischen Kerne ist zuerst festzuhalten, dass ab der Mitte des 14. Jahrhunderts das religiöse Themenfeld die Gattung dominiert. In den frühen Meisterliederhandschriften d und m herrscht das geistliche Meisterlied deutlich vor; auch in Handschrift b ist über ein Drittel der Lieder geistlichen Inhalts. In k und x haben ca. zwei Drittel der Texteinheiten ein religiöses Thema (zu den Hss. s. oben → Kapitel III.3). Für die namentlich bekannten Berufsdichter des 14. und 15.  Jahrhunderts ergibt sich ein gemischtes Bild. Bei Heinrich von Mügeln hat ‒ zählt man als Einheit Strophen, nicht Bare bzw. Strophenreihen ‒ knapp die Hälfte seines Lied-Œuvres religiöse Inhalte, dieser hohe Anteil kommt durch Großformen wie die 72 Strophen des ‚Tum‘ (Stmn. 110‒181) zustande. Bei Muskatblut ist ein Drittel der Lieder geistlich, noch schwächer ist das Religiöse bei Jörg Schiller und Suchensinn vertreten. Dagegen hat ‒ ohne Einbezug der chronikalischen Texte in der Angstweise ‒ mehr als die Hälfte von Michel Beheims Spruchliedern geistlichen Inhalt. Bei den stadtbürgerlichen Dilettanten Konrad Harder (Lokalisierung und Datierung mit Schanze, Liedkunst I, S. 261‒266), Albrecht Lesch und Fritz Kettner, deren Œuvres allerdings deutlich kleiner sind als die der Berufsdichter, sind religiöse Lieder stark in der Mehrzahl, was auch bei Hans Folz der Fall ist. Diese Proportionen könnten andeuten, dass die religiöse Thematik vor allem im Bereich der städtischen Dilettanten maßgeblich war und die Verlagerung bzw. Beschränkung der thematischen Schwerpunkte mit dem sozialen Transformationsprozess der Gattung korreliert. Nicht geklärt ist, wie die beiden Prozesse zusammenhängen und welche weiteren Faktoren und Akteure eine Rolle spielen. Eine erste Orientierung über Entwicklungstendenzen der religiösen Spruch- und Meisterlieder zwischen ca. 1320 und 1450 lässt sich anhand der relativ sicher datierbaren Texte gewinnen. Den Anfang machen die nicht altüberlieferten Strophen, die in den Faszikeln H und R sowie im Nachtrag d der ‚Heidelberger Liederhandschrift Cpg 350‘ stehen (s. oben → Kapitel III.3; Transkription der Texte von Kochendörfer in: Blank [u.  a.] [Hg.], Heidelberger Lhs. Cpg 350). In ihnen lassen sich deutlicher als

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 Thematische Kerne

in C und J Veränderungstendenzen ausmachen. Darauf folgen die Œuvres namentlich bekannter Autoren: Heinrich von Mügeln, Muskatblut, Harder, Lesch, Kettner, Schiller und Michel Beheim (zu Suchensinn vgl. Schanze, Liedkunst I, S. 144  f. u. 256  f.). Skizzenhaft kann die Masse des anonym überlieferten Materials damit verglichen werden. Sucht man gezielt nach Veränderungen und Neuartigem in H, R und d, fällt ins Auge, dass mehrstrophige Einheiten begegnen, wobei mehrmals Strophenanapher die Bindung sichert. Der größere Umfang erlaubt eine breitere Behandlung mehrerer verwandter Themen bzw. verschiedener Aspekte eines Themas. Vorbilder für die Gestaltungstechniken von größeren Formen fanden sich in den religiösen Leichs oder in umfangreichen, nicht-sangbaren religiösen Texten wie Konrads ‚Goldener Schmiede‘. Dem Marienlob sind zwei umfangreiche Strophenreihen gewidmet (RSM 1KonrW/6/100, 40 Strophen, vgl. Miedema, Konrad, S. I/98–100, I/108  f., II/26–41, II/75–81, II/94–109; RSM 1Bop/1/100, neun Strophen, vgl. Hübner, Lobblumen, S. 206‒208). Beide Texte schließen in der Reihung von Marienprädikaten und deren Verflechtung mit Themen der Mariologie an Strukturierungs- und Formulierungsmuster des 13. Jahrhunderts an. Der längere Text im Ton Konrads enthält aber auch mehrere narrative Abschnitte. Er berichtet in den ersten beiden Dritteln ausführlich über das Leben Jesu von der Passion bis zur Himmelfahrt, verbindet dies mit Marias Mitleiden und Freuden und verweist auf die Theophilus-Legende. Neben Maria, die in zwei Strophen einen Dialog mit dem fingierten Autor-Ich Cuͦ nrad führt, wird auch Christus angesprochen. Weiter sind mehrere Strophen mit antijüdischer Polemik eingefügt. Diese begegnet auch im Streitgespräch zwischen Christ und Jude (RSM 1Regb/4/1). Derartige Polemik ist in Sangsprüchen vor ca. 1320 selten (Fegfeuer Whm. I,2 u. I,16; Meißner Obj. VI,2; Friedrich von Sonnenburg Mas. 50, erst in H überliefert; im Kontext des Marienlobs begegnet sie allerdings schon in Konrads ‚Goldener Schmiede‘), tritt in im 15. Jahrhundert überlieferten Liedern aber häufiger auf. Autorfiktion begegnet auch in RSM 1 Marn/7/101 und in drei Frauenlob in den Mund gelegten Strophen mit Sündenklage des Sängers angesichts des Todes (GA-S VII,201). Die Autorfiktionen schließen an die in der Sangspruchdichtung etablierten Sänger- und Sünderrollen an. Eine Strophenreihe im Langen Ton Marners (RSM 1Marn/7/102) steht nahe bei den Sangsprüchen um 1300, bringt aber einen frühen Beleg für die Vision des Johannes, die mit Ausführungen zum Verhältnis zwischen Maria und der Trinität, zu Inkarnation und Erlösung verbunden wird (bei älteren Belegen fehlt die Verbindung der Johannesvision zu solchen ‚spekulativen‘ Themen; vgl. Reinmar von Zweter Roe. 161: Johannes und Paulus besonders ausgezeichnet unter den Aposteln; GA-S V,205: Rätselstreit, Auslegung des apokalyptischen Tiers auf den Antichrist; zeitlich am nächsten steht Pfalz von Straßburg, Rohrton, Cramer IV, I). Einige Formulierungen erwecken den Eindruck gesuchter Dunkelheit. Die eindeutigen Bezüge auf Frauenlobs Marienleich könnten darauf hindeuten, dass die Verbindung der Johannesvision mit Fragen von Trinität, Inkarnation und Marias Präexistenz in der göttlichen providentia, die in späteren Liedern häufig auftritt, sich neben anderem auch der Orientierung an



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Frauenlobs Marienleich verdanken könnte. Neuartig sind die deutlich häufigeren Verweise auf alt- und neutestamentliche Personen. Im Anschluss an eine altüberlieferte Marner-Strophe mit weltlicher Minnelehre (Wms. 7,18) führt die Strophenreihe RSM 1 Marn/7/101 Beispiele für die Gefahren der minne bzw. unminne auf, die dem Alten Testament entnommen sind: Adam, Abraham, Kain und Abel, David und Bathseba. Für den Wandel von unminne zur göttlichen minne stehen Maria Magdalena, Petrus und Paulus. RSM 1JungMei/1/100 erzählt von Noahs Trunkenheit, David, Bathseba und Goliath und legt die Episoden moralisch als Exempel für unrechtes Verhalten aus. Im Bestand bis ca. 1320 sind Auslegungen biblischer Episoden und Personen dagegen selten (s.  o. zu Meißner, Sigeher und Kanzler sowie → Kapitel IV.8). Umakzentuierungen bei den lehrhaft-ermahnenden Texten und bei den Gebetstexten deuten sich in zwei Strophen in Frauenlobs Langem Ton an. GA-S V,202 ermahnt nicht allgemein zu guten Werken und gottesfürchtigem Leben, sondern spezifiziert dies als Voraussetzung für den heilswirksamen Empfang der Eucharistie (ähnlich ist GA V,*5 über die Vorbereitung auf das Bußsakrament, die in Handschrift F überlieferte Strophe kann echt und somit älter sein). GA-S V,201 geht für die Mahnung zur Betrachtung der Passion von einem Passionsbild aus (vgl. auch RSM 1Bop/1/527, 1KonrW/5/508) und legt dem zuhörenden Sünder die fromm-bittenden Worte an Christus und Johannes in den Mund. Anders als die Sangsprüche vor ca. 1330 inszenieren diese Texte eine deutliche Nähe zur liturgisch-sakramentalen Praxis bzw. zur Frömmigkeitspraxis. Diese Veränderungen finden bei Heinrich von Mügeln (s. unten → Kapitel VII.12) nur im verstärkten Interesse am Alten Testament eine Fortsetzung. Mügeln verweist häufig auf alttestamentliche Personen und Präfigurationen – hinzu treten Personen der antiken Geschichte und Mythologie ‒ und listet in einer langen Strophenreihe die Bücher des Alten Testaments auf (Stmn. 71‒109). Ein ähnlicher Fall findet sich in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k mit der ‚Bibel‘ in Regenbogens Langem Ton (RSM 1 Regb/4/581‒585, 38 Strophen); anders als bei Mügeln, der nur kurze Inhaltsangaben macht, wird dort das Buch Genesis relativ ausführlich nacherzählt. Ansonsten steht Heinrich in der Tradition des dezidiert gelehrten, inhaltlich wie sprachlich anspruchsvollen religiösen höfischen Sangspruchs um 1300. Die Fülle der verarbeiteten Wissensbestände einerseits, die Bevorzugung von Genitivmetaphern sowie Hyperbata und Parenthesen andererseits (Stackmann, Vorstudien; Stolz, ‚Tum‘-Studien, S. 401–437) führen noch einmal zu bisweilen ausgesprochen komplizierten Texten, gleichwohl bestehen in der Art der Schwerverständlichkeit Differenzen zu Frauenlob (Wachinger, Sangspruchdichtung, S. 237‒239). Gesteigerte Gelehrtheitsprätention zeigt sich auch darin, dass Autoritäten mit Namen genannt werden (Stmn. 4: Averroës; Stmn. 334: Aristoteles; Stmn. 369: Augustinus; Stmn. 370: Bernhard von Clairvaux). Charakteristisch ist für Mügeln die Verbindung von Kosmologie, Naturkunde und Naturphilosophie mit theologischen Fragen und dem Lobpreis Gottes und Marias (Gade, Wissen). Neben dem Lobpreis werden das Verhältnis von ewig-zeitlosem Schöpfer und endlicher Schöpfung, Trinität, Inkarnation und Eucharistie behandelt. Eine ausführliche und auf inneren Nachvollzug zielende Darstellung der Passion fehlt. In den Dar-

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 Thematische Kerne

stellungsmitteln (Präfigurationen, Metaphorik für Trinität und Inkarnation) schließt Heinrich eng an Sangspruchdichter wie Konrad von Würzburg, den Meißner, Rumelant von Sachsen und Frauenlob an. Bei Muskatblut (s. unten → Kapitel VII.13) herrscht in den geistlichen Spruchliedern das Marienlob vor, verbunden mit dem Thema der Inkarnation. Zumeist wird Marias Position in der Heilsgeschichte dargelegt, wobei Muskatblut mehrfach auf die Zeitspanne von 5000 oder 5200 Jahren zwischen Sündenfall und Inkarnation verweist (Grte. 4; 16; 17) und die Präexistenz Marias bei Gott bzw. in Gottes Heilsplan betont (Grte. 9; 19; 21). Die Passion tritt einmal in Form einer allegorischen Erzählung auf (Grte. 28; Allegorien auch in Grte. 3; 19; 29). Eine Tendenz zum Erzählen zeigt sich bei allen Texten, die mehrere Stationen der Heilsgeschichte behandeln (Grte. 2; 4; 23; 24; 45). Ansonsten begegnet – dem Autorprofil entsprechend (Schanze, Liedkunst I, S. 172  f., 178) ‒ Sündenmahnung und -warnung. Das Marienlob arbeitet mit Präfigurationen, Marienprädikaten und vergleichsweise wenigen Metaphern, auch sonst ist rhetorischer ornatus eher schwach vertreten. Es findet sich eine Autoritätenberufung (Grte. 28: Gregorius, Augustinus, Ambrosius, Hieronymus), von den alttestamentlichen Präfigurationen Marias abgesehen, sind Bezüge auf Altes und Neues Testament selten. Ein Lied – mit 29 Strophen auch im Umfang ein Sonderfall – legt die Steine in der Krone Salomos auf die zwölf Apostel und die Tugenden Marias aus. Als Gelehrtheitssignale können lateinische Zitate in den Liedern aufgefasst werden (Grte. 16; 22–24), ein Lied häuft sie stark (Grte. 13). In Muskatbluts Œuvre gibt es neun Lieder, die im Text den Liedvortrag an Weihnachten oder Neujahr situieren (Grte. 6; 7; 13–15; 22; 24; 26; 27). Auch bei Albrecht Lesch (Cramer  II, III u. XIII) und in anonymen Liedern der Meisterliederhandschriften des 15. Jahrhunderts begegnet die Bindung von Liedern an Festtage im liturgischen Jahreskreis (Weihnachten: RSM 1Ehrb/2/6; 1 Kanzl/2/503; 1KonrW/6/506; 1Lilg/1; 1Regb/3/12; Ostern: RSM 1Ketn/3/2, Bartsch [Hg.], Meisterlieder Nr. 34; Fastenzeit/Vorbereitung auf österlichen Kommunionempfang: RSM 1Frau/23/1). In Sangsprüchen vor 1320 sind solche Fälle selten. Reminiszenzen an Frauenlob bzw. an Dichtungen in Frauenlobs Stil könnten bei Muskatblut in Grte. 10,67‒72 (vgl. GA I,15,30; I,17,14  f.) und in Grte. 12,8‒10, 17,45‒60 (vgl. GA I,13,36; VII,1,10; I,11,1; I,3,12  f.) vorliegen. Muskatbluts Texte verzichten aber auf forcierte Schwerverständlichkeit. Dass in Grte. 24 die Inkarnation als Liebesverhältnis Gottes zu Maria beschrieben wird, könnte sich direkter oder indirekter Kenntnis des Marienleichs verdanken. Diese Darstellung der Inkarnation als Liebesverhältnis findet sich ‒ mit zusätzlichen erotischen Elementen ‒ auch bei Konrad Harder (RSM 1Hardr/1/1, Bartsch [Hg.], Meisterlieder Nr. 2; bei RSM 1Hardr/2/1 bleibt offen, ob Maria oder die Geliebte gemeint ist) und bei Albrecht Lesch (Cramer II, II), bei Lesch mit eindeutigen Bezügen auf den Marienleich (Koester, Lesch, S. 61‒64; Kornrumpf, Mülich, S. 238‒244). In den Liedern Harders, Leschs, Kettners und Schillers begegnen außer dem Marienlob: Namen von alttestamentlichen Propheten (Lesch, Cramer II, XIII; Kettner, Cramer II, III, das Lied hat ein Pendant in RSM 1Marn/11/1, dort Prophetennamen mit Marienlob verbunden) bzw. ein Abriss alttestamentlicher Geschichte



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(Schiller, Cramer III, VIII), Fall der Engel, Sündenfall, innertrinitarischer Erlösungsrat, Geburt Jesu und Flucht nach Ägypten mit legendarischen Ergänzungen (Lesch, Cramer II, III u. XIII). Bei Lesch nehmen narrative Abschnitte größeren Raum ein, bei Kettner und Schiller treten katalogartige Reihungen als charakteristisches Gestaltungsmittel auf (Rosmer, Geistliche Meisterlieder). Harders Texte geben sich gelehrt (RSM 1Hardr/2/1, musikalische Terminologie) und arbeiten extensiv mit Metaphern (RSM Hardr/1/1). In den Liedern der anderen Autoren ist der elokutionäre Aufwand deutlich geringer, Schwerverständlichkeit ist offensichtlich nicht angestrebt. Nimmt man für die religiösen Texte die Aspekte der Gelehrtheitsprätention, der intendierten Schwierigkeit der Texte und des elokutionären Aufwands in den Blick, ergibt sich ein Gegensatz zwischen bis ca. 1320 entstandenen Sangsprüchen und dem Œuvre Heinrichs von Mügeln einerseits, den Texten Muskatbluts und städtischer Autoren, die um und nach 1400 entstanden sind, andererseits; unter den jüngeren Autoren sticht nur Harder etwas heraus. Der ständisch-soziale Unterschied zwischen einem mit einem Hof verbundenen Berufsdichter wie Muskatblut und städtischen Autoren hat auf die Inhalte und Faktur der Texte – bei allen Unterschieden im Einzelnen – offenbar keinen grundsätzlichen Einfluss. Das religiöse Themenspektrum der Masse der anonym überlieferten Lieder stimmt in weiten Teilen mit den zuvor skizzierten Œuvres um 1400 überein. Einige Themen haben aber im Vergleich ein größeres Gewicht und weitere kommen hinzu. Einen schnellen Überblick ermöglichen die Inhaltsübersichten zu b, d, m, k und x in Schanze, Liedkunst II, sowie die zugehörigen Inhaltsangaben im RSM. Zuerst ist der Themenkomplex von Trinität, Inkarnation und Erlösung hervorzuheben. Er tritt bei Muskatblut, Harder, Lesch und Kettner vor allem im Zusammenhang mit dem Marienlob in Erscheinung. Marienlob, Maria in der Heilsgeschichte und Bitten an Maria spielen auch in den anonymen Liedern eine wichtige Rolle (z.  B. GA-S V,207; V,222; V,227; VIII,208; VIII,212). Es gibt aber auch Lieder, die hauptsächlich Inkarnation und Erlösung (z.  B. GA-S V,232) oder die Trinität thematisieren und in denen das Marienlob nicht dominiert. Häufig werden Trinität, Inkarnation und Erlösung gemeinsam behandelt (z.  B. GA-S V,216). Fragen nach dem Wesen der Trinität und der innertrinitarischen Perichorese werden dabei mit der Vorstellung der innertrinitarischen Ratschlüsse über Erschaffung und Erlösung des Menschen verbunden (z.  B. GA-S VIII,211). Den Texten liegt ein heilsgeschichtliches Verlaufsschema zugrunde, das von der Trinität/Existenz Gottes vor der Schöpfung über den Fall Luzifers, den innertrinitarischen Schöpfungsund Erlösungsrat, die Schöpfung, den Sündenfall, alttestamentliche Personen und Ereignisse hin zu Inkarnation, Passion und Erlösung führt, dann über den descenus Christi zu Himmelfahrt und Pfingsten fortgesetzt werden und einen Ausblick auf das Jüngste Gericht enthalten kann. In einem Lied können eine oder mehrere dieser Stationen ausführlicher dargelegt werden (z.  B. GA-S VII,207; zu Großformen vgl. Baldzuhn, ‚Hort‘), oft wird nur eine Station behandelt und andere werden nur erwähnt (z.  B. GA-S V,231). In einigen Liedern wird auch die Himmelfahrt Marias behandelt (z.  B. RSM 1Regb/4/512; 1Regb/4/513). Maria wird oft als bei den innertrinitarischen

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 Thematische Kerne

Räten anwesend gedacht (z.  B. GA-S VII,215,B2; RSM 1ZX/500/1, Bartsch [Hg.], Meisterlieder Nr. 194; vgl. Kern, P., Trinität, S. 78‒80). Die Texte über die Trinität und Inkarnation umkreisen die Theologumena von den drei Personen der Trinität und den göttlichen und menschlichen Naturen Christi. Damit verbunden sind Fragen nach dem Wesen Gottes, die öfter in Form der Johannesvision behandelt werden (z.  B. GA-S VIII,219 u. 220; IX,204; XI,210). Der Bezug auf Johannes als Visionär bietet die Legitimation, über göttliche Mysterien zu sprechen (Volfing, John the Evangelist; Volfing, Authorship; Stackmann, Meisterliches Lied, S. 384‒387). An die Frage der Naturen Christi lassen sich Überlegungen zur Eucharistie, der Realpräsenz Christi und den Gestalten von Brot und Wein anschließen. Aussagen zur Eucharistie finden sich daher in Verbindung mit diesen Themen, sie kann aber auch ein eigenständiges Liedthema sein (RSM 1Marn/1/501; 1Marn/7/516; Lesch, Mühlweise, Cramer IV, I; Junger Meißner Pep. B I,63‒65; GA-S V,223; VII,204; VII,211: Interessanterweise sind alle diese spätüberlieferten Eucharistie-Strophen in Tönen Frauenlobs mit alten Strophen kombiniert). In den meisterlichen Liedern zu Trinität, Inkarnation und Maria kommen bisweilen Formulierungen vor, die aus dogmatischer Sicht problematisch erscheinen (Kern, P., Trinität). Im Nürnberg der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts führte dies offenbar zu einem Disput zwischen Hans Folz und Fritz Zorn über die Kompetenz des Laien. Ein Lied von Folz richtet sich gegen Zorn (Mayer Nr. 53); im 15. Jahrhundert scheint dies aber ein singulärer Fall zu sein, der im Kontext der spezifischen Gegebenheiten in Nürnberg zu sehen ist (vgl. Janota, Trinitätsspekulation; Schanze, Liedkunst I, S. 121‒131, 346‒350; Rettelbach, Fritz Zorn, S. 259). Ein weiteres zentrales Thema, das im heilsgeschichtlichen Gesamtzusammenhang, aber auch für sich behandelt werden kann, ist die Passion. Lieder mit Passionsthematik können die Ereignisse nacherzählen (z.  B. GA-S VIII,207; VIII,213; XI,204) oder zum inneren Nachvollzug des Leidens Christi auffordern (z.  B. GA-S V,213; VIII,202, mit Fürbitte für Frounlobes sel; VIII,216; XI,211). Die verstärkte Behandlung der Passion an sich wie auch die beiden Gestaltungsweisen stellen im Vergleich mit den Sangsprüchen vor 1320 eine markante Neuerung dar. Darüber hinaus gibt es nicht wenige Texte, die biblische (z.  B. Simeon: GA-S VII,212; Turmbau zu Babel und Nimrod: GA-S X,205), apokryphe oder legendarische (z.  B. ‚Kreuzholzlegende‘: RSM 1 Regb/2/35; 1Regb/4/526; 1Regb/4/527; ‚Veronika‘: RSM 1Regb/1/535, Lange, Veronica II) Stoffe verarbeiten. Wie schon in H begegnen Texte, die eine Nähe zur liturgisch-sakramentalen Praxis inszenieren: Vorbereitung auf die Messe, die Eucharistie oder die Beichte (RSM 1Dangk/2; 1KonrW/5/502; GA-S VII,211; Zapf k. 2). Ein Überblick über die Lieder Michel Beheims mittels des RSM zeigt, dass bei ihm für den religiösen Bereich grundsätzlich keine neuen Themen hinzukommen (vgl. Schanze, Liedkunst I, S. 241‒244). Im Gestaltungsanspruch liegen Beheims geistliche Lieder ebenfalls in etwa auf dem Niveau, das sich bei stadtbürgerlichen Dilettanten wie Lesch und Kettner sowie vielen der anonymen Lieder findet: Der dichterische Anspruch richtet sich auf das Erfinden neuer Töne zusammen mit ihren Melodien und



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auf das Dichten in diesen Tönen sowie auf die anspruchsvolle Gestaltung des Reimgebindes. Mit Beheims – für die Gattungstradition in dieser Form ungewöhnlichem ‒ Verfahren der Versifikation geistlicher Prosa (Wachinger, Beheim, S. 379–390) tritt ein Quellenbereich ins Blickfeld, der jenseits von Beheims Versifikationspraxis für die Kontextualisierung geistlicher Meisterlieder im 15. Jahrhundert aufschlussreich sein könnte: die geistliche Prosa der Wiener Schule und vergleichbare Texte. Es sind keine theologischen Texte im engeren Sinn, und sie verstehen sich selbst nicht direkt als gelehrte Literatur, gehen aber – anders als die Sangspruchtradition – unmittelbar auf diese zurück. Die Texte dienen der Vertiefung der Frömmigkeit (vgl. Knapp, Literatur II, S. 218‒247). Sie und andere volkssprachige geistliche Literatur (vgl. die bei Kern, P., Trinität, neben der Sangspruch- und Meisterliedtradition ausgewerteten Texte) könnten im gesamten Bereich der religiösen Spruch- und Meisterlieder des 15.  Jahrhunderts einen wichtigen Vergleichspunkt für die Wissensgeschichte, die Frage nach möglichen Gebrauchszwecken der Lieder und unter Umständen auch für ihre Formulierungsverfahren darstellen. Ausg. Alx.; Bartsch (Hg.), Meisterlieder; Blank [u.  a.] (Hg.), Heidelberger Lhs. Cpg 350; Brt.; Cramer; C.-W.; Frauchiger, Dresden M 13; GA; GA-S; Gille/Spr.; Grte.; Hal.; HMS; KLD; Koester, Lesch; Krn.; L.; Mas.; Mayer; MF; Obj.; Pep.; Poynter, Poetics; Roe.; Schl.; Schr.; SM; Stmn.; Winsbecki­ sche Gedichte; Whm.; WKL; Wms.; Wunderle, Sammlung; Zapf; Zck. – Lit. Angenendt, Geschichte; Apfelböck, Tradition; Assmann, Weisheit; Baldzuhn, ‚Hort‘; Baldzuhn, Sangspruch; Bradshaw, Priesteramt; Braun, Situation; Brem, ‚Herger‘/Spervogel; Brunner, Alte Meister; Brunner, Reinmar von Zweter; Bulang, Geltungspotentiale; Eikelmann, Gnomik; Figal, Weisheit; Friedman, C. W., Prefigurations; Fritsch, Eucharistie; Gade, ‚Lucidarius‘; Gade, Wissen; Gerhardt, Metamorphosen; Grubmüller, Autorität; Grubmüller, Freidank; Grubmüller, Regel; Hanson/Schäferdiek, Amt; Hauschild/Kaufmann, Amt; Haustein, Marner-Studien; Huber, C., Aufnahme; Huber, C., Wort; Hübner, Hofhochschuldozenten; Hübner, Lobblumen; Hummel/Kalivoda, Gnome; Hutter [u.  a.], Weisheitsliteratur; Janota, Trinitätsspekulation; Kästner, Wettstreit; Kellner/Strohschneider, Poetik; Kellner/Strohschneider, Wartburgkriege; Kellner/Wenzel, Einleitung; Kern, P., Got; Kern, P., Trinität; Kern, P., Überlegungen; Kibelka, Meister; Klein, D. Sangspruchdichter; Kornrumpf, Mülich; Knapp, Literatur II; Köbele, Frauenlobs Lieder; Köbele, Verheißung; Krayer, Frauenlob; Lange, Veronica II; Lauer, C., Sänger-Rollen; Löser, Reich; Mertens, Meistergesang; Miedema, Compilator; Miedema, Konrad; Müller, S., Bettelmönche; Nowak, Studien; Peter, Gedankenwelt; Rettelbach, Fritz Zorn; Rettelbach, Skizze; Rosmer, Geistliche Meisterlieder; RSM; Rudolph [u.  a.], Weisheitsliteratur; Ruh, Geschichte; Salzer, Sinnbilder; Schanze, Liedkunst; Schubert, E., Volk; Stackmann, Abhängigkeit; Stackmann, Bild; Stackmann, Meisterliches Lied; Stackmann, Poetica; Stackmann, Spruchweisheit; Stackmann, Vorstudien; Steinmetz, Liebe; Stolz, ‚Tum‘-Studien; Strohschneider, Institutionalität; Strohschneider, Oberkrieg; Taylor, A., Literary History; Theben, Mystische Lyrik; Tomasek, Sangspruch; Volfing, Authorship; Volfing, John the Evangelist; Volfing, Meisterlieder; Volfing, wisheit; Wachinger, Beheim; Wachinger, Cantica canticorum; Wachinger, Corpusüberlieferung; Wachinger, Sängerkrieg; Wachinger, Sangspruchdichtung; Wenzel, F., Formen; Wenzel, F., Meisterschaft; Wenzel, F., Rätsel.

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 Thematische Kerne

2 Ethik und Pragmatik für den Adel

Dorothea Klein

Orientierung zu geben für eine Lebensführung, die das Ansehen in der Welt wie das Seelenheil sichert, gehört zu den Grundzügen der mittelalterlichen Literatur. Die Anleitung zu vorbildlicher Haltung und Lebensgestaltung war keineswegs auf die lehrhafte Dichtung wie das deutsche ‚Moralium dogma philosophorum‘ Wernhers von Elmendorf (1170/80), den ‚Welschen Gast‘ Thomasins von Zerklaere (1215/16), den ‚Winsbecke‘ (1. H. 13. Jh.) oder den ‚Seifried Helbling‘ (um 1300; s. dazu oben → Kapitel  IV.2) beschränkt. Auch die erzählende Dichtung bietet Fürsten- und Ritterlehren, stellt teils abstrakt-erörternd, teils im Medium der Narration Leitwerte und Normen der adligen Kultur zur Diskussion. Vor allem aber die Sangspruchdichter hatten das ehrgeizige Ziel, auf attraktive Weise, in zum Teil kunstvollen Strophen, Adelsethik und speziell auch Fürstenlehre zu vermitteln und damit die Herren zu großzügigem Lohn zu bewegen. Die Zahl dieser einschlägigen Sprüche ist Legion. Möglichkeiten der Distinktion Häufig vermitteln die Sangsprüche Maximen und Werte der Lebensführung im generalisierenden Duktus, mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit; dass sie für ein adliges oder besser: höfisches Publikum gedacht sind, erschließt sich nur aus ihrem pragmatischen Zusammenhang. (In der späten Überlieferung wird man allerdings auch mit einem anderen Publikum rechnen müssen.) Wiederholt werden die Adressaten aber auch direkt benannt: Walther von der Vogelweide spricht in einer Strophe den Junc man (L. 22,33) an, der Meißner die edele jugent, also die jungen Adligen (Obj. XVII,6,7), der Guter einen junge[n] edelman (HMS III,13: I,6,1). Andere Strophen formulieren eine explizite Ritterlehre: Got grüze, ritter, dinen hoch geherten namen, beginnt Frauenlobs Spruch GA V,31; an Ir herren, ritter, knehte richtet sich GA IX,6,1, an die Ritter, die hohes Ansehen erlangen wollen, auch Singauf (C.-W. I,1) oder der Henneberger (HMS III,12,1). Den Loter ritter boese, den „Taugenichts von einem Ritter“, schilt hingegen Rumelant von Sachsen (Ruw. I,6,1). Ausdrücklich an die adligen Frauen richtet sich etwa Frauenlob GA XIII,36  f. Überhaupt gelten die Tugendlehren häufig dem Hof und den Fürsten: So rät Boppe in der Strophe Alx. I,29 Königen und Fürsten, sich mit klugen Ratgebern zu umgeben, und Unterweisungen für die „Herren“ (zu ihnen gehören der gefürstete Adel, die kleineren und größeren Landesherren sowie der ritterliche Kleinadel) haben so gut wie alle Sangspruchdichter im Repertoire (wenige Beispiele: Reinmar von Zweter Roe. 56 u. 68, Wilder Alexander KLD 1,II,1–3, Kanzler KLD 28,II,5  f.). Die in der Forschung gebräuchliche Unterscheidung in allgemeine Sittenlehre und Unterweisungen für die Jugend, die Fürsten und „Herren“ ist jeweils von dem in den Sangsprüchen angesprochenen Zielpublikum abgeleitet. Ein qualitativer Unterschied in den Inhalten der Tugend- und Morallehren besteht hinge-



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gen nicht. Verhandelt werden jene ethisch-ästhetischen Werte und Normen, die schon der höfische Roman verbindlich machte: stæte und triuwe, manheit, mâze, reht, milte, zuht, güete, diemüete, kiusche und schame. Fürsten- und Herrenlehren geben darüber hinaus pragmatische Hinweise und Empfehlungen zur Herrschaftsführung und für die sozialen Interaktionen am Hof. Die Frage nach der Herkunft der ethischen Vorstellungen ist noch nicht abschließend beantwortet; sie wären für jeden einzelnen Fall sorgfältig zu untersuchen. Zweifellos amalgamieren aber die Lehren der Sangspruchdichter wie der volkssprachigen didaktischen Literatur überhaupt antike und genuin christliche Elemente (Ehrismann, G., Grundlagen; Curtius, Tugendsystem; Wentzlaff-Eggebert, Lebenslehre; Rocher, Tradition). Auf die vier Kardinaltugenden der antiken Moralphilosophie, fortitudo, iustitia, prudentia und temperantia (‚Unerschrockenheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Klugheit‘, ‚Besonnenheit‘), lassen sich etwa die mittelhochdeutschen Begriffe manheit, reht, bescheidenheit und mâze zurückführen. Im allgemeinen wurden antike Vorstellungen aber, wie z.  B. auch stoisches Gedankengut, an und in die christliche Lehre assimiliert. So nimmt der Begriff der milte Bezug auf die der Primärtugend der iustitia zugeordnete liberalitas bzw. largitas, ist häufig aber mit der Vorstellung christlicher Nächstenliebe kontaminiert. Andere Elemente mittelhochdeutscher Tugend- und Morallehren verdanken sich biblischer Paränese und Appellen zu einer christlichen Lebensführung in der Predigt, und wiederum anderes ist aus dem reichen Schatz an Erfahrungs- und Handlungswissen geschöpft. So ist die vielfach beschworene triuwe eine Qualität, die sich in der frühmittelalterlichen Kriegeraristokratie herausgebildet hatte. Entsprechend verschieden sind die den einzelnen Lehren zugrundegelegten Bewertungskategorien. Spruchdichter, die bestimmtes Verhalten als Tugend bzw. Laster und Sünde qualifizieren und die himmlische Seligkeit oder auch ewige Höllenpein in Aussicht stellen, partizipieren am moraltheologischen Diskurs. Wo sie ‚Ehre‘ und ‚Schande‘ als obersten Bewertungsmaßstab anlegen, nehmen sie innerweltlichen Rang und Status zum Bezugspunkt, obgleich sie in letzter Konsequenz immer auch Gott und das Seelenheil im Blick haben mögen. Stets aber bestimmt ein scharfer Dualismus die Argumentation. Das gilt selbst für Texte, die in der Tradition des frühen Spruchsangs sentenzhaft-verallgemeinernd Welt- und Lebenserfahrungen formulieren. Während die Tugend- und Morallehren eine moralische Unterscheidung zwischen Gut und Böse treffen, bewerten die Lebenslehren freilich nach Klugheit und Torheit (vgl. z.  B. Marner Wms. 2,1–3). Eine weitere Distinktion ergibt sich aus den Redegesten bzw. Modi des Sprechens, also aus der Vielfalt der Sprecherrollen und Sprechakte. Häufig wird über Werte und Normen in Form von Aussagesätzen geurteilt und belehrt; ihre Qualität und Geltung werden durch Prädikationen bestimmt. So expliziert der Meißner den Begriff der tugent aus einem normativen Horizont durch eine Serie von Propositionen: Tugent und gte site minnet got, / tugentlichez leben ist gotes gebot. / tugent, ane spot, / ist gar ein werder name usw. (Obj. IV,7; weitere Beispiele im Stichwortregister zum RSM s.  v.

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‚Begriffsexplikation‘). Die Sprüche, die durch abstraktes Lob einer Tugend oder durch abstrakte Lasterkritik belehren wollen, machen indes nur einen kleinen Teil aus; die große Mehrheit will jemanden mit einer bestimmten Intention ansprechen, wobei die Illokutionen keineswegs durch entsprechende performative Verben bezeichnet werden müssen: Man rät beispielsweise zu triuwe und zuht (wie Reinmar von Zweter Roe. 68), ermahnt zum rechten Umgang mit Reichtum und Besitz (z.  B. Meißner Obj. IV,11  f.) oder zu Tapferkeit, Mut und milte, um Volk, Ehre und Gut nicht zu verlieren (Friedrich von Sonnenburg Mas. 64), und man fordert auf, die Ehre des Hauses und anderes zu achten (z.  B. der Junge Meißner Pep. A I,3); man warnt vor Hochmut (‚Herger‘/Spervogel [I] MF 29,34) oder die Geizigen vor zu später Reue (Wernher Zck. 72), und man richtet auch Bitten an Gott oder an Personifikationen von Tugenden wie der Meißner, der die triuwe darum bittet, ihre Freunde reichlich zu belohnen (Obj. XVI,10); man wünscht sich z.  B. weise Ratgeber für die Fürsten (Boppe Alx. I,15), man beklagt, wie Walther L. 24,33, den Verlust von êre und anderen Tugenden oder die Ausbreitung von Lastern, und man betreibt ausgiebig Lasterschelte wie etwa Reinmar von Zweter Roe. 94 (in einer ‚Zungenschelte‘ wider Lüge und Heuchelei). Das Ziel der illokutiven Akte ist so heterogen wie diese selbst. Es geht darum, die Adressaten durch Rat, Mahnung, Appell oder Warnung zu Erwerb oder Wahrung der empfohlenen Tugenden anzuhalten und von den perhorreszierten Untugenden abzuschrecken, durch Klage zu rechtem Lebenswandel zu bewegen, durch die Androhung von Schande oder Höllenstrafe einzuschüchtern und die Tugendhaften durch Lob zu noch mehr Tugendhaftigkeit, Streben nach Ansehen in der Welt und Verdienstlichkeit vor Gott anzuspornen. Und kaum weniger ausdifferenziert sind die Sprecherrollen (vgl. dazu Lauer, C., Sänger-Rollen und oben → Kapitel III.5): Lobredner, Lehrer und Ratgeber, Kritiker, Klagender und Ankläger, Mahner und Warner, und bisweilen sprechen auch Personifikationen (Wiener Hof, Frau Ehre, Triuwe oder Untriuwe). Gern werden die Rollen auch miteinander kombiniert. Ob die Sangsprüche jeweils ernsthaft am ethischen Diskurs partizipieren oder ob sich hinter der vordergründigen Thematik andere, ganz und gar pragmatische Interessen oder auch manipulative Absichten verbergen, z.  B. das Interesse an materieller Unterstützung, Aggressionen oder poetologische Spitzfindigkeiten, müsste die individuelle Analyse der einzelnen Spruchstrophen ermitteln; sie kann im Rahmen eines Handbuchartikels nicht geleistet werden. Lesbarkeit auf mehrere Bedeutungsebenen hin ist jedenfalls schon aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen der Geltungsprätention der Sprecherrollen und der rechtlich-sozialen Existenz der Sangspruchdichter zu erwarten. Thematische Schwerpunkte der Moral- und Tugendlehre Eine Systematik lässt sich den vielfältigen Regeln und Empfehlungen für den Umgang der Menschen miteinander nicht abgewinnen. Anders als die moralphilosophischen und moraltheologischen Traktate der lateinischen Gelehrtenwelt können die Sang-



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sprüche schon aufgrund ihres begrenzten Formats immer nur einzelne Aspekte herausgreifen. Aber auch so wäre der volkssprachigen Literatur, wie die längst schon ad acta gelegte Debatte um das ‚ritterliche Tugendsystem‘ gezeigt hat, eine systematisch orien­ tierte Darstellung fremd (Eifler, Einleitung, S. XII): Es dominiert der pragmatische Zugriff, der immer Varianz, auch ständische und geschlechtsspezifische, einschließt. So bestimmt Frauenlob in GA VIII,2 als Tugenden, die einen Mann von 40 Jahren vor Gott und der Welt auszeichnen, zunächst einmal die bekannten Kardinaltugenden; sie sind das Fundament, auf dem weitere Tugenden und gute Eigenschaften erwachsen, nämlich milte, gedult, barmunge, zuht und triuwe nebst einem Leben in gesetzmäßiger Ordnung (elich leben), welche die Anerkennung durch die Damen eintragen. Reinmar von Zweter hatte dem idealen Mann hingegen die folgenden Qualitäten zugeschrieben (Roe. 100): Freundlichkeit (lieplich angesihte), Bedachtsamkeit und Lauterkeit im Reden, richtige Einschätzung dessen, was er hört, Tapferkeit, milte, Einsatz für andere und Beherrschung des Zorns. Der Unverzagte wiederum erinnert daran, dass dem Seelenheil triuwe, milte und Erbarmen förderlich seien – und daneben auch die Promotion von Rittern (C.-W. I,5), die Nachwuchsförderung also, ein Element, das in Tugendkatalogen sonst eher unüblich ist. (Für weitere Kataloge s. etwa Reinmar von Zweter Roe. 261; RSM 1ReiZw/1/247; Süßkind von Trimberg KLD 56,I,2; Der Unverzagte C.-W. I,7; Der Meißner Obj. I,8, II,5, XVII,6 u. XVII,7; Frauenlob GA V,90  f.) Als spezifisch weibliche Tugenden hebt Reinmar von Zweter Sanftmut, zuht, schame, erbermde, güete und kiusche hervor (Roe. 36; abweichend davon der Katalog in Roe. 37 u. 51). Regenbogen nennt als Tugenden, welche die Frau in den Himmel und zur Kaiserin des Mannes erheben, wiplich ere, zuht, bescheidenheit, kiusche und milte (HMS II,126,5), während Muskatblut den ‚gegenderten‘ Tugendkatalog um Kategorien wie Wahrhaftigkeit, jungfräuliche Demut, Frömmigkeit und (Ehr-)Furcht erweitert (Grte. 33, Str. 5). Sehr viel häufiger als solchen Aufzählungen gilt das Interesse der Sangspruchdichter der Reflexion und Erörterung einzelner Qualitäten. Das Register der Stichwörter zum RSM gibt einen ersten Eindruck davon, welchen Werten man Aufmerksamkeit gezollt und welche man verworfen hat. Es sind jeweils Werte, deren Bedeutung in der und für die semiorale Kultur des Mittelalters gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Das gilt zuvörderst für die triuwe. Als ethischer Begriff bezeichnet sie die Verlässlichkeit im Einhalten vertraglicher Beziehungen und die dazu nötige innere Haltung, darüber hinaus jede auf unerschütterlicher Aufrichtigkeit beruhende personale Bindung, besonders auch zwischen Herrn und Vasallen. Als solche ist triuwe die zentrale Ordnungskategorie, auf der das gesamte Leben in der Gemeinschaft beruht. Wo ihr zuwidergehandelt wird, sind Herrschaft und soziale Ordnung gleichermaßen bedroht. Boppe erklärt die triuwe darum zur besten tugent ‚Eigenschaft‘ und zum höchsten Schatz hie und dort, im Himmel wie auf Erden (Alx. VIII,1), Walther von Breisach rühmt sie als der tugende muoter gar ân unterscheide („ohne Grenze, ohne Pause“; KLD 63,I,6). Bruder Wernher hatte sie schon zuvor als rehtiu saelecheit „wahre

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Glückseligkeit“, die sich in zahlreichen Wohltaten kundtut, definiert und noch vor der êre plaziert (Zck. 29). Friedrich von Sonnenburg sieht sie, zusammen mit der Wahrheit, als Bedingung für die Mehrung des Ansehens in der Welt und für den Gewinn des ewigen Lebens (Mas. 23), während Spervogel II dem Getreuen als Lohn für seine Treue das Gedenken über den Tod hinaus in Aussicht stellt (MF 20,17). Entsprechend oft rügen die Sangspruchdichter die untriuwe; die Morallehre mutiert dabei zur Sozialkritik. In einer Strophe Reinmars von Zweter, Roe. 196, richtet die personifizierte Treue höchstselbst ihre Klage an Gott und bittet ihn, die gestörte Ordnung wiederherzustellen und den Treuen beizustehen. Bei Stolle tritt die personifizierte Untreue aggressiv und präpotent gegenüber der Treue auf, die vorerst aber das letzte Wort behält mit dem ohnmächtigen Wunsch, Gott möge die Hochschätzung der Untreue unter den Vornehmen und Adligen schmerzen (Zapf J. 8). Wie Reinmar den idealen Mann, so imaginiert der Wilde Alexander den ungetriuwen man als eine aus verschiedenen Tieren zusammengesetzte Chimäre, die das Abstractum untriuwe als Falschheit, Hinterhältigkeit und Heuchelei spezifiziert (KLD 1,II,1  f.). Gemeint sind offensichtlich Höflinge, vielleicht Ratgeber, vor denen sich die herren in Acht nehmen sollen. In Schrecken und Trauer gar versetzt das seltsæn kunder („eigentümliche Ungeheuer“), das Walthers Alter ego in einer apokalyptischen Vision geschaut haben will (L.  29,4): einen zweiten Antichrist, den Inbegriff der Scheinheiligkeit, Heimtücke und Doppelzüngigkeit, einer vergifteten Gewürznelke im süßen Honig gleich. Schrecken und Trauer sind nicht unbegründet. Denn in einer weitgehend auf Mündlichkeit beruhenden Kultur funktionieren politisches und soziales Handeln nur dort, wo (Rechts-)Verbindlichkeit besteht: Was man sieht und hört, muss wahr sein. Verbale Manipulationen, Verstellung, Lügen untergraben die Geltung von Worten und Gesten, sie zerstören Transparenz und Vertrauen. Mit einem schlimmen Fluch endet darum die Scheltrede Reinmars von Zweter Roe. 94 auf den Intriganten, Lügner und Heuchler – mögen sich doch die Maden an seiner bösen Zunge mästen (d.  h., möge er doch sterben). Auch andere Spruchdichter ziehen engagiert gegen Lüge, Heuchelei und Verleumdung zu Feld. Die Omnipräsenz der Lüge, sichtbar und hörbar gemacht durch obstinate Anaphern (Lüg ist …, lüg hat …, lüg lat …), behauptet der Marner in der bitteren Bilanz Wms. 7,17: Sie gilt ihm als ein unausrottbares und sich stetig vermehrendes Übel mit einem großen Zerstörungspotential, als Vater der Lüge aber sieht er in Anknüpfung an Io 8,44 den Teufel. Der Meißner stellt die böse Zunge in puncto Gift, Falschheit und Schaden noch über die schlimmste Spinne (Obj. I,3) und sieht sie in die Hölle fahren, er geht die Störung der sozialen Ordnung also von der moraltheologischen Seite an. Gleiches unternimmt Rumelant von Sachsen, wenn er Ruw. IV,12 konstatiert, dass viele zwar verdammt seien, vor allem aber der Heuchler, dessen Buße Gott nie beachte. Hier wird wohl unterstellt, dass noch die Buße der Heuchler ein Akt der Heuchelei ist. Ein zentraler Wertbegriff auch bei den Spruchdichtern ist die mâze, die zunächst einmal ‚Maß‘ und ‚Größe‘ bedeutet, unter dem Einfluss des lateinischen Begriffs temperantia aber auch die Bedeutung ‚Maßhalten, Selbstbeherrschung, Besonnenheit,



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Dämpfung der Affekte‘ angenommen hat. Mâze ist damit einerseits Kriterium zur Bestimmung von Tugenden, andererseits selbst eine Tugend. Diese Heterogenität spiegelt sich auch in der Spruchdichtung. Walther von der Vogelweide hält die Jugend zum rechten Umgang mit dem guot an, als ez diu mâze uns ie gebôt, „wie es uns das rechte Maß schon immer gebot“ (L. 23,10). Gemeint ist hier die rechte Mitte zwischen Habgier und Verschwendung gemäß der verbreiteten Lehre vom goldenen Mittelmaß. Für dieses votiert auch der Meißner Obj. XVII,12, für das Maßhalten etwa zwischen z riche, z arm, z karc und z milte (vgl. auch Obj. X,4; Reinmar von Zweter Roe. 96 u. 120  f.; Heinrich von Mügeln Stmn. 272–274). Als ganzer tugende urspring preist sie Johann von Ringgenberg (SM 13,1: VIII,9), als mittel aller dinge und als Instanz, die Tugend hervorbringen kann, rühmt sie Frauenlob GA V,90. Walther von der Vogelweide doziert auch über das rechte Maß beim Schenken (L.  80,11) und wider verschiedene Formen der Maßüberschreitung, etwa gegen das übermäßige Trinken (L. 29,25 u. 29,35), das ebenso bei Reinmar von Zweter in der Kritik steht (Roe. 114). Daneben kennt Walther die mâze indes auch als „ethischen Maßbegriff“, der „auf das jeweils Richtige oder Angemessene“ (Haustein, „mâze“, S. 74) zielt, wenn er etwa die Selbstüberschätzung (L. 80,3) oder Verstöße gegen die Ständeordnung (L. 80,19) kritisiert. Der Meißner singt das hohe Lob der Selbstbeherrschung – nur der sei ein wahrer Mann, swelich man uber sinen mt ist man (Obj. XIII,2) –, Reinmar von Zweter mahnt sie wiederholt vor allem bei den jungen Herren an (Roe. 58  f.). In die gleiche Richtung geht Friedrich von Sonnenburg, der mâze und zuht soziiert (Mas. 33), sie freilich in der Gegenwart nicht mehr realisiert sieht. Bemerkenswert sind schließlich die Unterscheidungen, die Frauenlob GA V,91 trifft: Tugenden, die keiner mâze bedürfen, sind triuwe, ware minne, wisheit, zucht, andacht, geloube und ere; hingegen sei maßzuhalten bei scham ‚Schamgefühl‘, kündikeit ‚Klugheit‘ und erbarmen. Und während Hermann Damen maßvolles, nämlich bedachtsames Reden und Schweigen für einen Ausdruck der Weisheit hält (Schl. IV,6), bewertet Johann von Ringgenberg mâze und unmâze mit moraltheologischer Brille als Tugend und Laster, die in den Himmel bzw. in die Hölle führen (SM 13,1,VII). Von den Dichtern als zentrale Werte propagiert und immer wieder direkt oder indirekt eingefordert sind auch schame, kiusche, zuht und bescheidenheit. Das Lob der schame ‚Schamgefühl, Dezenz‘, die böse Worte, Untreue und Unbeständigkeit ausschließt – was zugleich heißt: Wer schame besitzt, hat auch die Tugenden der triuwe und stæte  –, singen etwa der Marner und der Meißner. Während Wms. 7,10 dabei die adlige Elitebildung im Hier und Jetzt im Blick hat, akzentuiert Obj. IV,6 auch die Bedeutung der schame als Schlüssel zur himmlischen Seligkeit und als Schutz vor der heilverwirkenden Sünde (ebenso Reinmar von Zweter Roe. 277). Beide räumen (wie Konrad von Würzburg Schr. 25,21) der schame den obersten Rang in der Hierarchie der Tugenden ein. Solche Wertungen sind freilich, wie schon die Sprüche über triuwe und mâze lehren, kontextabhängig und damit manipulativ. In einem anderen Spruch, Obj. XV,3, preist der Meißner die bescheidenheit ‚Einsicht, Differenzierungsvermögen‘ als Mutter aller Tugenden, als Ursache allen Heils und der Weisheit, während Rume-

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lant von Sachsen Ruw. V,6 die Barmherzigkeit als Ursprung aller Tugend herausstellt: abstrakt und personifiziert in der Gestalt der Gottesmutter. Der Tugendpreis ist hier zugleich ein Marienpreis, wie ja überhaupt die Grenzen der Tugend- und Morallehren zu religiösen Sprüchen, zu Fürstenlob und Zeitkritik fließend sein können. Boppe Alx. I,17 fordert, mit Verweis auf die Barmherzigkeit Gottes und ihre erlösende Kraft, êre und Heil vermehrendes Erbarmen vom mensche wîs ein. Zusammengefasst sind all diese Qualitäten im Oberbegriff zuht, der die Summe der durch höfische Erziehung erworbenen Verhaltensstandards bezeichnet; ihr hat Boppe ebenfalls eine eigene Strophe gewidmet (Alx. I,27; vgl. dazu Friedrich von Sonnenburg Mas. 33). Gelegentlich wird auch die edelkeit als Inbegriff aller inneren und äußeren Qualitäten gefasst, besonders der kiusche und wolgezogenheit (Reinmar von Zweter Roe. 80). Tugendlehre nimmt wiederum gesellschaftskritische Züge an, wo Klage oder Scheltreden wider Sittenverfall und schlechte Manieren erhoben werden (der jungen Ritter: Walther von der Vogelweide L.  24,3; in Österreich: Wernher Zck. 13; generelle Verurteilung der unzucht: Boppe Alx. I,28; Zuchtlosigkeit speziell der Alten: Heinrich von Mügeln Stmn. 209–211). Hinter all diesen Sprüchen steht die Überzeugung von der Möglichkeit und Notwendigkeit moralischer Besserung, gerade der Eliten. Auch über das Verhältnis von Tugend und Adel nachzudenken – es ist Thema vor allem im 13. Jahrhundert –, ergibt sich beinahe zwangsläufig aus diesem didaktischen Impetus der Spruchdichtung, die damit freilich an die Diskussion von Geburts- und Tugendadel anschließt, wie sie in Roman und lehrhafter Großdichtung geführt wurde. Konrad von Würzburg belehrt die adlige Jugend, dass rîlicher herzen tugent, also der Adel des Herzens, mehr zähle als die vornehme Abkunft und nur die Verbindung von beidem aller êren houbetwünne ist (Schr. 18,11). Andere geben allein dem inneren Adel den Vorzug: Edel ist, wer edel handelt und seinen Adel nicht durch unedle Gesinnung ruiniert, lehrt Reinmar von Zweter Roe. 79 (ähnlich auch Roe. 80 u. 81, der Kanzler KLD 28,I,2, der Unverzagte C.-W. III,3). Dass man den Adel durch Tugenden erkennt – das zielt gewiss vor allem auf die milte (s. dazu unten) –, weiß auch der Meißner (Obj. I,5), der seine These durch proverbiale Lebenslehre belegt. In Obj. I,10 geht er noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, Adel verbunden mit Sittenlosigkeit sei unart, ein Nichtadliger könne sich hingegen durch tugent nobilitieren (dieselbe Position bei Süßkind von Trimberg KLD 56,I,1). Eindringlich ermahnt er die Adligen darum zur Tugend als edeles adels gar ein ubergulde, „vollkommener Übergoldung“ bzw. als „das, was dem vornehmen Adel höchsten Wert verleiht“ (Obj. XVII,14,4). ‚Adel‘ und ‚edel‘ sind damit aber nicht mehr nur ständische, sondern auch moralische Begriffe geworden (pointierter dagegen de Boor/Janota, Deutsche Literatur, S. 378, der den ständischen Begriff durch den moralischen abgelöst sieht). Gelegentlich stellt man auch die êre in eine Reihe mit moralischen Qualitäten. So beklagt etwa der Unverzagte (C.-W. I,5) den Verfall von triuwe, milte, schame und êre, ohne dass eine Hierarchisierung erkennbar wäre. Das Wort bezeichnet bekanntlich zunächst den qua Geburt erworbenen Rang und Status bzw. Ansehen



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und Ruhm aufgrund herausragender Leistungen und deren Anerkennung durch besondere Ehrerbietung (vgl. Maurer, Tugend und Ehre), im Laufe des 13. Jahrhunderts dann aber auch „subjektive(s) Wertbewußtsein“ und „persönliches Ehrgefühl“ (Schreiner/Schwerhoff, Verletzte Ehre, S. 8). Wenn die Spruchdichter êre für ein tugendhaftes Leben in Aussicht stellen, meinen sie in aller Regel aber eine äußere Kategorie: die öffentliche Anerkennung und Reputation. So etwa Süßkind von Trimberg in seinem Lobpreis auf die êre im Bild der Heilsalbe (KLD 56,I,2), die aus fünf reinen Bestandteilen gemischt sein soll: triuwe, zuht, milte, manheit und mâze, Leitbegriffe der höfischen Kultur allesamt. Damit wird gesagt, dass die genannten Qualitäten Voraussetzung für den Erwerb von êre sind. In dieselbe Richtung geht des Hennebergers Bild vom Tugendkleid, mit dem der Ritter Lob und Ehre erwirbt (HMS III,12,1; ebenso Spervogel  II MF 24,1 und der Kanzler KLD 28,II,6). Ehre ist die wertvolle Gratifikation für ein tugendhaftes Leben. Die Klage über den Verlust der Ehre und über das Regiment der Schande, die viele Spruchdichter anstimmen, impliziert Sittenverfall und die Geringschätzung von Tugend und Moral; bei Kelin Whm. III,3  f. klagt beispielsweise die personifizierte Ehre ihre Antipodin an, sie, die Ehre, aus dem Haus vieler Herren vertrieben zu haben. Wenn man annehmen dürfte, dass êre auch den zu Ehren der Herren gesungenen Lobpreis und die Förderung von Kunst und Künstlern überhaupt meint, wäre die Klage über den Ehrverlust auch selbstreferentiell, auf die Kunst des Spruchsangs bezogen. Jedenfalls enthält eine jede Klage oder Anklage auch die direkte oder indirekte Aufforderung, sich um êre zu bemühen. Der Sonderfall standesbezogener Tugendlehre: Explizite Fürsten- und Herrenlehre Die Grenze zwischen Fürsten- und Herrenlehre ist fließend; gelegentlich sprechen die Spruchdichter nur die fürsten an, öfter aber die fürsten und herren oder auch nur die herren. Mit den ‚Fürsten‘ ist die politische Führungsschicht der Großen oder der königliche bzw. nichtkönigliche Machthaber gemeint (Goetz/Zielinski, Fürst, Sp. 1029  f.), die ‚Herren‘ meinen alle Vornehmen und Höhergestellten, namentlich alle, die „Verfügungsgewalt über Sachen und Rechte oder polit[ische] Befugnisse, insbes[ondere] im Bereich der Gerichtsbarkeit“ (Willoweit, Herrschaft, Sp. 2177) haben. Der Begriff ‚Herren‘ schließt also die Fürsten mit ein. Speziell an die Adresse der Fürsten richten sich Strophen, die ethische Normen für Amt und Person des Herrschers, aber auch konkrete Ratschläge und Handlungsanweisungen für die Amtsführung zum Gegenstand haben. Theoretische Erörterung von Herrschaft und ‚Politik‘ oder Fragen der geistig-literarischen Bildung, wie sie in den zeitgenössischen lateinischen Fürstenspiegeln etwa eines Thomas von Aquin (1255) oder Aegidius Romanus (1277/79) mit behandelt sind, haben im Spruchsang keinen Raum. Dessen Lehren stehen eher in der Tradition der kleinen Herrscherlehren höfischer Romane (z.  B. Hartmann von Aue, ‚Gregorius‘, v. 244–258; Wolfram von Eschenbach, ‚Parzival‘ 169,5–175,18), die ja auch kaum über die Vermittlung höfischer

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Leitwerte und die praktische Unterweisung über rechtes Verhalten bei Hof hinausgehen. Exemplarisch für das, was die Spruchdichtung in diesem Zusammenhang leistet und leisten kann, ist ein Appell Walthers von der Vogelweide an ir fürsten, den höfischen Wertekanon einzuhalten und in die Tat umzusetzen (L. 36,11). Gefordert sind Güte, Sanftmut gegen Freunde, Stolz gegen Feinde und Friedfertigkeit, sodann die Wahrung des Rechts und Herstellung der Ordnung, swaz die armen klagen, Dankbarkeit gegen Gott für Macht und Rang, was auch heißt: christliche Demut, schließlich Freigebigkeit, rücksichtsvolles und ehrbares Verhalten, Treue und nicht zuletzt die Bereitschaft, gutem Rat zu folgen und Lügnern kein Ohr zu schenken. Das zielt auf moralische Vorbildlichkeit ebenso wie auf Vorbildlichkeit in den politischen und sozia­ len Beziehungen. Marners Strophe Wms. 7,5 spricht direkt einen staufischen Prinzen, wohl Konradin, an und fordert von ihm höfische und herrscherliche Qualitäten, die sich unter dem Rubrum „Achtung vor und respektvoller Umgang mit anderen“  – Rittern, Damen, Vorgängern, Untertanen und Fahrenden – zusammenfassen lassen, außerdem die Liebe zu Gott und dem deutschen Land. Der Unverzagte wiederum ermahnt Fürsten und Landesherrn, den Kernaufgaben des Herrschers – Rechtsprechung, Friedenssicherung, triuwe und milte – gerecht zu werden (C.-W. III,3). Rechte Amtsführung, Recht und Gerechtigkeit fordert noch Michel Beheim (Gille/Spr. 443) ein; als Voraussetzungen dafür nennt er Demut, Gerechtigkeitssinn, Barmherzigkeit, Ehrfurcht vor Gott und ein gesundes Misstrauen gegen Falschheit am Hof. Heinrich von Mügeln sieht diese Herrschertugenden, vor allem milte und Friedensherrschaft, in der Person Kaiser Karls IV. realisiert (Stmn. 18–20); dabei setzt er sie in Bezug zu alttestamentlichen Exempelfiguren. Ähnlich verfuhr schon Boppe (Alx. II,1,) der den künic von Rôme preist und mit Karl dem Großen vergleicht, dem Gott die vorzüglichen Eigenschaften alttestamentlicher Leitfiguren (Gerechtigkeitssinn, Tapferkeit, Geduld, Weisheit, Gottgefälligkeit u.  a.  m.) verliehen hat – Fürstenspiegel, Fürstenlob und Zeitkritik sind öfter kaum mehr trennscharf auseinanderzuhalten. Die Sicherung von Frieden und Recht ist die vornehmste Aufgabe des Herrschers. Beides gehört nach mittelalterlichem Verständnis zusammen, gemäß der Maxime, die Kaiser Friedrich I. in die Pfalz von Kaiserswerth eingravieren ließ: Iustitiam stabilire volens, ut undique pax sit. Gemeinsam bilden sie das Fundament staatlicher Ordnung. Theologen wie Thomas von Aquin erheben den Frieden schließlich in den Rang einer Tugend, als Sünde qualifizieren sie hingegen Krieg und alle anderen Formen der Zwietracht (Becker/Hödl, Friede, Sp. 919  f.). Friede und Recht als Voraussetzung für êre, Reichtum und Gottes Huld sind nicht von ungefähr das Thema in der ersten Strophe von Walthers Reichston (L. 8,4); die gegenwärtige Situation des Reiches sieht er freilich von Untreue und Gewalt bestimmt. Die Forderungen nach vride und reht häufen sich in der Zeit des Interregnums mit seinen zahlreichen Adelsfehden und Missständen (Hagenlocher, Friede, S. 231–234); thematisiert werden zu dieser Zeit vor allem auch deren soziale Folgen (Hohmann, S., Friedenskonzepte, S. 172). Über Unrecht und Unfrieden klagen darum der Meißner (Obj. XVI,8) und Rumelant von



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Sachsen (Ruw. IV,8–10), und sie ermahnen die Fürsten, die gestörte Ordnung wiederherzustellen, wenn ihnen nicht ewige Höllenpein drohen soll; Sigeher erbittet gleich von Gott Hilfe (Brt. 3); der Unverzagte macht besonders die geistlichen Fürsten für Raub und Brand verantwortlich (C.-W. I,8; zu Herrscherpflichten und Herrscherkritik s. auch → Kapitel V.3). In einem Lied im Grauen Ton Regenbogens (WKL II, Nr. 420, RSM 1Regb/2/43) bricht sich die Sehnsucht nach Frieden in der utopischen Erwartung der Friedensherrschaft Kaiser Friedrichs (II.) Bahn, die der Zwietracht zwischen den beiden Häuptern der Christenheit ein Ende setzen soll. Die Wiederherstellung der Ordnung durch den römischen Kaiser nach dem Jahr 1460 kündigt Beheim in Gille/ Spr. 109 an, während er den Frieden bis zum Erscheinen des Antichrist in Gille/Spr. 116 durch die Wiederkunft Kaiser Friedrichs geschaffen sieht. Dieses Lied hat, schon wegen der Namengleichheit, den Gönner Beheims, Friedrich III., im Visier, mit dem man ähnliche friedenskaiserliche Erwartungen verband. Etliche Spruchdichter verbinden Friedens- und Kreuzzugsthematik: Für Walther von der Vogelweide sind die Herstellung des inneren Friedens und damit die Einigung der ganzen Christenheit die Voraussetzung für einen erfolgreichen Zug gegen die Heiden (L. 12,18). Auf einen Sonderfall der Friedensstörung zielt Wernher in Zck. 35, wenn er an die Amtsethik Gregors IX. appelliert, wider die lombardische Ketzerei vorzugehen und das Reich, d.  h. den Kaiser, darin zu unterstützen, daz reht behaben. Gegen „die Verletzung des von Gott in der Heilsordnung geschaffenen christlichen Friedenszustandes“ (Hohmann, S., Friedenskonzepte, S. 322) durch hussitische Häresie und Schisma wendet sich Muskatblut Grte. 70, zum Kampf gegen die Hussiten ruft Grte. 92 auf (vgl. auch Grte. 72 u. 81). Und an die Fürsten des Nürnberger Reichstages von 1466 richtet sich Beheims Appell zum Kampf gegen die Türken (Gille/Spr. 101, vgl. z.  B. auch Gille/Spr. 238, 239, 329 u. 446). Dass die Abwehr der Feinde im Inneren und Äußeren sowie die Herstellung und Bewahrung des Friedens oberste Herrscherpflicht sei, zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Spruchdichtung (zu den Sangsprüchen über Herrschermacht und Frieden im Kontext der ‚politischen Lyrik‘ bzw. ‚historisch-politischen Ereignisdichtung‘ s. Hohmann, S., Friedenskonzepte, zum Sangspruch im Kontext kirchlicher und anderer Friedenskonzepte Hagenlocher, Friede). Als vornehmste Herren- und Herrschertugend wird immer wieder, einzeln oder im Verbund mit anderen Qualitäten, die milte ‚Großzügigkeit, Freigebigkeit‘ gerühmt. Sie ist Ausdruck der Treue gegen den Vasallen, Ausdruck aber auch höfischer Repräsentationspflicht, sichert die Loyalität der vom Herrn Abhängigen und dient der Herrschaftssicherung ebenso wie adliger Selbstvergewisserung, zumal sie symbolisches Kapital einträgt: den Zugewinn an êre. Für die Sangspruchdichter war die Großzügigkeit, ja Verschwendungssucht der Herren von existentieller Bedeutung. Ihr Lob der milte ist deshalb nie uneigennützig (zu diesem ganzen Themenkomplex Krause, „milte“-Thematik). Entsprechend dicht, vor allem in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, ist die Zahl der Belege. Die Macht der milte preist Friedrich von Sonnenburg in anaphorischen Prädikationen (Mas. 24), und Boppe beschwört sie in einer langen Reihe solcher Preisungen regelrecht herbei (Alx. I,3). Selbstverständlich gesteht er

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 Thematische Kerne

auch dieser Tugend den „höchsten Ruhm“ zu, ebenso wie Johann von Ringgenberg, der sie in der Hierarchie der Tugenden ganz oben sieht, bringe sie doch Ehre und habe uns Menschen zur Erlösung verholfen (SM 13,1,XIV; vgl. ferner den Kanzler KLD 28,XVI,18 und Konrad von Würzburg Schr. 18,1). Immer wieder werden deshalb, von Walther von der Vogelweide bis Heinrich von Mügeln und dem Zwinger, Generosität und Freigebigkeit eingefordert. Walther deutet sie als Maßstab für wahre Größe (L.  26,33) und verheißt König Philipp von Schwaben im Falle seiner Großzügigkeit Macht und Reichtum, wie sie einst Alexander besaß (L. 16,36). Unter Berufung auf die Autorität Freidanks mahnt Rumelant von Schwaben die kargen richen zur milte (HMS III,21,2). Fegfeuer ist die milte eine Gabe Gottes, von der die Armen profitieren sollen (Whm. I,15), und Heinrich von Mügeln bewertet sie als Quelle von Liebe, Adel und Ehre (Stmn. 27–29). Beinahe noch höher ist die Zahl der Lehren ex negativo, die Scheltsprüche auf knausrige und habgierige Herren bzw. die Kritik an Habgier und Geiz, die bekanntlich zu den Hauptsünden zählen. Reinmar von Zweter Roe. 61 schilt Geiz und materielle Gesinnung, verkörpert im Herrn Pfennig, als êrendiep. Mit dem Teufel, der nie vergesse, einen Dienst zu vergelten, droht er in Roe. 281 den kargen Herren. Der Meißner wünscht ihnen den Tod, vor dem die wenigen milten, die noch die Armen (wie den Ich-Sprecher) nach Kunst und Können entlohnen, aber verschont sein sollen (Obj. II,4). In einer anderen Strophe, nicht weniger drastisch, vergleicht er die Herren in ihrer Habgier mit Feuer, Meer und Hölle, wo er sie denn auch enden sieht (Obj. II,12). Der Marner Wms. 7,3 verurteilt Habsucht und Geldgier als Ausdruck irdischer Verfallenheit; der Meißner deutet den Geiz gar als Zweifel an Gott (Obj. V,3). Und der Schulmeister von Esslingen verwünscht den König (Wol ab, „Weg mit ihm“) – gemeint ist zweifellos Rudolf von Habsburg – wegen seines Geizes und seiner nicht eingehaltenen Versprechen (KLD 10,I,1). Mit Argumenten aus der contemptus mundi-Tradition versucht schließlich Michel Beheim, dem Laster entgegenzusteuern (Gille/Spr. 185). Ob die Kritik verfangen hat, darf man angesichts der hohen Zahl von Sangsprüchen und Spruchliedern, die vor Habgier und Geiz warnen, sie beklagen oder schelten, bezweifeln. Fürstenlehre ist weitgehend Handlungsethik. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu den pragmatischen Handlungsanweisungen, mit denen die Spruchdichter aufwarten. Sie vermitteln sie in Form von Warnungen, Ratschlägen und Appellen, häufig auch ex negativo, als Fürstenschelte. So kritisiert Walther L. 106,3 den Meißner Markgrafen Dietrich wegen des Verstoßes gegen das Prinzip von Dienst und Lohn; in einer Strophe des Ersten Philippstons, L. 20,4, tadelt er blinde Verschwendung und unhöfische Zustände am Thüringer Hof. Der Marner schilt in Wms. 3,2 die dünkelhaften vornehmen Leute am Rhein, die sich nach der neuesten französischen Mode kleiden, gegenüber den gernden aber knausrig sind; in Wms. 7,11 setzt er die eisernen Beine vom Standbild Nebukadnezars mit der eigenen Zeit, in der Witwen und Waisen leiden, gleich, die tönernen Füße der Statue aber mit den Fürsten, die ihrer Schutzpflicht nicht nachkommen und – so darf man folgern – das Reich zu Fall bringen.



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Politische und rechtliche Missstände im Sinn haben auch Kelin, der den ehrlosen loterritter schilt (Whm. III,2), Rumelant von Sachsen, der über korrupte Richter klagt (Ruw. VII,3), oder Sigeher, der die Fürsten für Unfrieden, Raub und Not verantwortlich macht (Brt. 3). Auffällig oft mahnen die Spruchdichter Fürsten und Herren, sich vor untreuen und falschen Ratgebern, Heuchlern und Denunzianten zu hüten (z.  B. Kanzler KLD 28,II,5 u. III,2; Konrad von Würzburg Schr. 25,1; Kelin Whm. III,1; Guter HMS III,13: I,7; Boppe Alx. I,29; Frauenlob GA VIII,1 u. XII,4; Heinrich von Mügeln Stmn. 197–199 u. 266–268; Michel Beheim Gille/Spr. 26). Dahinter steht die Sorge vor dem Missbrauch des Treueverhältnisses bzw. der besonderen persönlichen Nähe zum Herrn, welche die Ratsfunktion mit sich brachte. Die Sorge ist um so virulenter, als Intrige, Falschheit und Korruption konstitutiv zur Hofkultur des europäischen Mittelalters (und weit darüber hinaus) gehören (Haferland, Interaktion, S. 263–289). Auffällig ist die Konzentration solcher Sangsprüche auf die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts. In ihnen spiegelt sich ganz offensichtlich die Herausbildung eines Rats der „‚geschworenen‘, ggf. ‚heimlichen‘ (secretarii) R[ät]e des F[ür]s[t]en“ (Heinig, Rat, Sp. 450), welcher dem traditionellen Rat der Vasallen Konkurrenz machte. Zur pragmatischen Herrenlehre gehören darum auch der nachdrückliche Rat, Fremden nicht zuviel Macht und Einfluss einzuräumen (Frauenlob GA V,77  f.), die eigenen Leute durch Freundlichkeit und milte in Friedenszeiten zu binden, um sich ihres Beistands in Notzeiten zu versichern (GA IX,10), Ratgeber unter dem Gesichtspunkt der Ehre zu beurteilen (Konrad von Würzburg Schr. 18,31), Adel und Souveränität zu bewahren (Meißner Obj. VI,5), offen und ehrlich zu sein und die Zunge in Zaum zu halten (Reinmar von Zweter Roe. 57), gerecht zu richten und gegen Übeltäter einzuschreiten (Stolle Zapf J. 9) und anderes mehr. Diskursive Mittel: Fürsten-, Tugend- und Morallehre als Variationskunst Moralische Werte und Regeln des sozialen Miteinanders werden wieder und wieder beschworen. Sprachliche und gedankliche Monotonie bedeutet dies keineswegs. Vielmehr haben die Dichter ein breites Spektrum an Argumentationsweisen und Vermittlungsstrategien entwickelt (s.  o.) und ein nicht minder breites Spektrum diskursiver Möglichkeiten, um ihre Geltungsansprüche wirkungsvoll zu repräsentieren. Sie prunken mit rhetorischen Figuren wie Anaphern, Antithesen und figurae etymologicae und mit den verschiedensten Tropen, kreuzen dabei narrative Elemente in das lehrhaft-räsonnierende Genus ein und adaptieren verschiedene hermeneutische Praktiken. Das kann hier nur angedeutet werden (zum Grundsätzlichen vgl. → Kapitel IV.8). Die älteste Form ist die Verknüpfung der moralisierenden Aussage mit Sprichwort oder Sentenz, die es erlauben, die Lehre an ein generalisiertes Erfahrungswissen zurückzubinden und sie damit zu autorisieren. Sie begegnet bereits bei ‚Herger‘/ Spervogel I, dem ältesten namentlich bekannten Spruchdichter. Auch Bruder Wernher bringt einmal die Bedeutung der Treue auf den proverbialen Punkt: „Treuer Freund, erprobtes Schwert sind gut in der Not“ (Zck. 29; dasselbe Sprichwort bei Walther von

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der Vogelweide L. 30,38), und mit dem Sprichwort ez loufet selden wise mus slafender vohe (‚Füchsin‘) in den munt ermahnt auch der Guter junge Adlige, nach Ehre zu streben (HMS III,13: I,6). Genauso früh zum Zug kommt der Vergleich. Walther vergleicht Herren, die dem fahrenden Künstler falsche Versprechungen gemacht haben und dann brüskieren, mit Trickbetrügern (L. 37,34). Die Technik, eine These durch ein anschauliches Beispiel zu untermauern, hat er aus der gnomischen Tradition übernommen; bereits die Sprüche der Spervögel I und II mit ihren Tiervergleichen folgen diesem Darstellungsmuster. Zu einem aparten Bild greift Konrad von Würzburg, wenn er die reine Ehre in einem Vergleich mit dem Rosenwasser rühmt (Schr. 32,61): So wie dieses durch einen einzigen Tropfen anderen Wassers verdirbt, so wird der Glanz der Ehre schon durch einen Anflug von Falschheit getrübt. Dass die milte eine Kippfigur sei, die bei aller materiellen Verausgabung (ideell) viel einträgt, erläutert Konrad hingegen im Vergleich mit dem Meer, aus dem alle Gewässer stammen und zu dem alle wieder zurückkehren. Ab dem frühen 13. Jahrhundert übt man sich bisweilen auch in ironischen Tönen und in Parodie. Häufig gelten diese Verfahren den Dichterkollegen und deren Sangeskunst (s. unten → Kapitel V.5). Doch stammt von Wernher mit Zck. 74 ein ironisches Lob auf die Sparsamkeit des Herzogs von Österreich (Leopold VI.), der sein ganzes Hab und Gut für eine Kreuzfahrt zusammengehalten hat. Ein Lob auf Rudolf von Habsburg, das durch die Schlusszeile ironisch relativiert wird, dichtete der Unverzagte (C.-W. III,1). Eine Tugendlehre im Stolle-Corpus für junge Adlige wiederum verkehrt ins Satirische, was Morallehre und Herrenlehre an positiven Werten vermitteln (Zapf J. 10): Das ist Kritik an den bestehenden Umständen, Belehrung ex negativo und Parodie auf die notorische Tugendlehre der Spruchdichtung in einem. Namentlich die Dichter nach der Jahrhundertmitte haben sich neue poetische Möglichkeiten erschlossen, um von den Vorzügen eines Lebens in Tugend und Moral zu überzeugen. Von den abundanten Begriffsexplikationen mit ihrer Vorliebe für anaphorische Reihen war oben schon die Rede. Nach 1250 nutzen die Autoren vielfach die Möglichkeiten bildhaften Sprechens, setzen Begriffsallegorien in Szene und beuten für ihre Lehren ausgiebig verschiedene Wissensbestände aus. Ein wichtiges Mittel der Persuasion ist in diesem Kontext das Exempel: Aus dem Beispiel des römischen „Königs“ Trajan zieht der Henneberger die Lehre, auch die zeitgenössischen Fürsten mögen so handeln, dass man ihren Tod beklage (HMS III,12,10), während Heinrich von Mügeln das aus Valerius Maximus entlehnte Beispiel des Kaisers Decius und des Atheners Codrus beizieht als Beweis für aufopfernde Treue der Herrn zum Volk, die es heute nicht mehr gebe (Stmn. 351–353)  – das Exempel wird hier für indirekte Herrscherkritik instrumentalisiert. Boppe leitet aus der kleinen Geschichte von Alexander und dem Giftmädchen den Rat für König und Fürsten ab, sich mit klugen Ratgebern zu umgeben (Alx. I,29), Frauenlob nutzt hingegen dieselbe Geschichte, um den Fürsten zu raten, mit Klugheit, miltem mut und Gnade zu regieren (GA V,20). Neben solchen illustrativen Exempeln kommen öfter auch Vergleichsfiguren zum Einsatz, die als herausragende Vertreter bestimmter Eigenschaften gelten.



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In einer Strophe Sigehers wird der böhmische König Wenzel (I.) in puncto milte mit König Fruote (von Dänemark), in puncto Weisheit mit Salomo und im Hinblick auf die Tugend mit Artus verglichen (Brt. 8); vielleicht Wenzels Nachfolger Ottokar II. rät er Freigebigkeit an, wie sie Alexander (der Große) pflegte (Brt. 7), der schon König Philipp als leuchtendes Vorbild fürstlicher milte vorgehalten worden war (Walther L. 16,36). Walther hatte überdies, um seiner Forderung gegenüber dem Staufer mehr Nachdruck zu verleihen, auch auf zeitgenössische Herrscher, nämlich Saladin und Richard Löwenherz, verwiesen (in der Philippschelte L. 19,17). Wenn Friedrich von Sonnenburg hingegen Saladin neben Cosdras nennt (Mas. 53), so gehört der muslimische Herrscher bereits in die lange Reihe historischer Beispielfiguren, allenfalls graduell zu unterscheiden von den Figuren des Alten Testaments, die Boppe in einem Lobpreis des römischen Königs als Verkörperungen wichtiger Fürstentugenden listet (Alx. III,1). Besonders intensiv ziehen Heinrich von Mügeln und Michel Beheim historische Exempel und Beispielgestalten heran (vgl. etwa Stmn. 18–20, 248–250, 378– 380; Gille/Spr. 164, 169, 186, 239, 447). Als Exempel im weiteren Sinn nutzte man auch Fabeln oder naturkundliche Beispiele. Konrad von Würzburg wünscht sich, dass so mancher Herr seine Ohren gegen entehrende Rede verschließe wie die Aspisviper, die ihre Ohren vor den Worten des Schlangenbeschwörers zuhält (Schr. 25,1), und das Exempel vom Biber, der sich rettet, indem er seine Hoden abbeißt, deutet er auf die vor Schande bewahrende milte gegenüber den gerenden aus (Schr. 32,331; vgl. auch die Herrenlehre Schr. 18,31 mit der Fabel vom Löwen, der sich im Spiegel mit seinem Wärter vergleicht). Aus dem ‚Physiologus‘ bezieht (Pseudo-)Stolle das Beispiel vom Löwen, der seine Jungen durch Gebrüll zum Leben erweckt, und das Beispiel des Vogels Strauß, der mit der Strahlkraft seiner Augen seine Eier ausbrütet, und er leitet daraus zwei Herrschertugenden ab, die Herstellung des Friedens und die milte als Gegenleistung für Ritterdienst (Zapf J. 12). Die ursprünglich allegorisch-heilsgeschichtliche Auslegung der naturkundlichen Beispiele wird bei solcher Gelegenheit freilich öfters überschrieben, die Beispiele werden neu semantisiert (vgl. z.  B. auch Boppes Spruch Alx. I,5 über den Vogel galadriûs ‚Regenpfeifer‘ aus dem ‚Physiologus‘), vielleicht in Frontstellung zu den Predigern der Bettelorden, die ja ähnliche Verfahren praktizierten, auf jeden Fall aber mit einem Überraschungseffekt kalkulierend. Herrenlehre anhand botanischer Beispiele – der faule Apfel, der andere Äpfel ansteckt, die Verwilderung edler Bäume – gibt der Guter (HMS III,13: I,7  f.; zu weiteren Beispielen s. Heinrich von Mügeln Stmn. 197–199, 203–205 u. 266–268). Persuasive Wirkung hat man sich offensichtlich aber vor allem von Tiermetaphern und Tiervergleichen erwartet. Der Meißner ermahnt die Herren, weder ‚Wolf‘ noch ‚Hund‘ noch ‚Fuchs‘ zu werden, die er mit Raub, Schmarotzertum und Falschheit assoziiert, sondern ‚Löwe‘ zu bleiben, also Adel und Souveränität zu wahren (Obj. VI,5). Frauenlob unterfüttert seine Lehre, die Vasallen in Friedenszeiten durch Freundlichkeit und milte zu binden, um sich ihres Beistands in der Not gewiss zu sein, u.  a. mit dem Hinweis auf die Katze, die gestreichelt wird, damit sie Mäuse fängt (s. auch das Register zum

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RSM s.  v. ‚Tierallegorese‘, ‚Tierbeispiele und -gleichnisse‘ und ‚Tiervergleiche‘ sowie oben → Kapitel IV.3). Kennzeichnend für all diese Fälle ist der Bezug von ursprünglich Sachfremdem (Historie, Natur) auf ein aktuelles Thema oder Problem in der Absicht, zu vorbildlicher Lebensführung anzuhalten und zu überzeugen. Das gilt nicht zuletzt für jene Sangsprüche, die mit allegorischen Verschlüsselungen operieren; von hier ist es zum hermetischen Sprachstil Frauenlobs, der zum Entschlüsseln einlädt, nur ein weiterer Schritt. Am attraktivsten scheinen Begriffsallegorien gewesen zu sein: Reinmar von Zweter sieht am Hof der Frau Ehre einstmals triuwe, milte, manheit und andere Tugenden die familia bilden (Roe. 261), den idealen Mann allegorisiert er als Hybrid aus den Körperteilen verschiedener Tiere, die je verschiedene männliche virtutes symbolisieren (Roe. 99 u. 100, vgl. dazu Gerhardt, Idealer Mann), und ein unbekannter Autor entwarf nach demselben Muster die Allegorie der idealen Frau (Roe. 302ab). Vielfach begegnen Tugenden und Laster in personifizierter Gestalt, Triuwe und Untriu­we, Milte, Êre und Schande u.  a., die emphatisch angerufen werden (z.  B. die Triuwe beim Meißner Obj. XVI,10) oder die selbst das Wort ergreifen, selbständig agieren und ein Eigenleben entwickeln. In diesen Kontext gehört auch die Metapher vom Tugendkleid eines Ritters (z.  B. Meißner Obj. II,5) oder einer Frau (Roe. 41, 337–339). Und gelegentlich erzählen die Dichter auch eine Parabel. Ein Beispiel wäre Stolles Erzählung vom Mann, der in seinem Garten Unkraut an einem Galgen aufhängt (Zapf J. 9). Die Erzählung ist ganz auf die Lehre hin konstruiert, in diesem Fall auf die Mahnung, gerecht zu richten und gegen Übeltäter einzuschreiten. Parabeln dienten auch schon Bruder Wernher dazu, ein aktuelles Problem zu illustrieren. So bezieht er etwa das Gleichnis vom Blinden, der seinen Knecht verjagt, auf Herren, die einen milten König nicht wertschätzen und sich damit nur selbst schaden (Zck. 26). Das alles sind diskursive Strategien, um das Ziel aller Tugend- und Morallehren zu erreichen: Orientierung zu geben für das rechte Leben in der Welt und vor Gott und adlige Identität zu stärken, dem Sänger-Ich aber Autorität und Dignität einzutragen. Mit immer neuen Prädikationen, Argumenten und Perspektiven auf das Thema und immer anderen Darstellungsweisen werden die immer gleichen Tugenden und Laster verhandelt: Spruchsang ist der notorische Versuch, sich der Verbindlichkeit von Werten, Normen und Pflichten zu versichern und von der Notwendigkeit einer besseren Lebensführung zu überzeugen – „konstatierende Dichtung“ eben (Stackmann, Vorstudien, S. 71 u. ö.). Aufs Ganze gesehen, führt die Fülle der Argumente, Bilder und Vergleiche freilich zur Desorientierung. Je mehr sich davon auftürmt, desto unübersichtlicher wird das Ganze. Die Tugend- und Morallehren der Spruchdichter erscheinen unter diesem Gesichtspunkt als ein prätentiöses, in der Adelskultur des hohen und späten Mittelalters hochgeschätztes Gesellschaftsspiel, das den genuinen Anspruch des Sangspruchs auf Geltung und Verbindlichkeit untergräbt. Daran ändert auch nichts, wenn man annehmen darf, dass der mittelalterliche Hörer davon jeweils nur eine kleine Auswahl wahrgenommen hat.

Zeitkritik 

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Ausg. Alx.; Brt.; C.-W.; GA; Gille/Spr.; Grte.; HMS; KLD; L.; Mas.; MF; Obj.; Pep.; Roe.; Ruw.; Schl.; Schr.; SM; Stmn.; Whm.; WKL; Wms.; Zapf; Zck. – Lit. Anton, Fürstenspiegel; Anton [u.  a.], Fürstenspiegel; Bartsch, Programmwortschatz; Becker/Hödl, Friede; de Boor/Janota, Deutsche Literatur; Curtius, Tugendsystem; Ehrismann, G., Grundlagen; Eifler, Einleitung; Flüeler/Rohde (Hg.), Laster; Gerhardt, Idealer Mann; Goetz/Zielinski, Fürst; Haferland, Interaktion; Hagenlocher, Friede; Haustein, „mâze“; Heinig, Rat; Hohmann, S., Friedenskonzepte; Hübner, Einsprüche; Janota, Orientierung; Krause, „milte“-Thematik; Kroeschell [u.  a.], Recht; Lauer, C., SängerRollen; Maurer, Tugend und Ehre; Maurer, Tugendsystem; Rocher, Tradition; RSM; Schreiner/ Schwerhoff, Verletzte Ehre; Stackmann, Vorstudien; Terrahe, Idealität; Tracey [u.  a.], Tugenden; Wentzlaff-Eggebert, Lebenslehre; Willoweit, Herrschaft; Yeandle, „schame“.

3 Zeitkritik

Mathias Herweg

Zeitkritik als ‚thematischer Kern‘ der Sangspruchdichtung: Begriffliche Zugänge Zeitkritik findet sich in vielen literarischen Formen, und sie ist in der Sangspruchdichtung nur ein Thema unter anderen. Die zeitkritischen Strophen bilden hier auch kein eigenes Subgenre, sondern ein funktional bestimmtes Teilcorpus, das Schnittmengen mit anderen Teilcorpora aufweist. Vor allem zur Standes- und Moraldidaxe sind die Übergänge fließend, da „Sangsprüche moralischen Inhalts […] nicht nur die historisch älteren“ sind, sondern auch „die moralischen und ethischen Positionen [formulieren], die es dem Rezipienten ermöglichen, das aktuelle und konkrete Ereignis im Rahmen politischer, ständischer und religiöser ordo-Regeln angemessen und richtig zu deuten und zu beurteilen. Sie sind also gleichsam der Rahmen der möglichen Ereignisdeutung, so daß Aktuelles und Regelhaftes aufeinander verweisen“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 119  f.; vertieft dazu Lauer, C., Sänger-Rollen, Kap. 3.1–3.3). Ulrich Müller (Untersuchungen; ders. [Hg.], Politische Lyrik) fasst die hier einschlägigen Strophen als „politische Lyrik“. Allerdings ist politisch in einem weiteren Sinne jede Literatur, und Müllers Lyrikbegriff schert unter Nivellierung aller Stil-, Gebrauchsund Formunterschiede sehr heterogene Typen über einen Kamm, die nur das gemeinsame Thema verbindet (so Lied, Spruch, Reimrede, Kurzchronik; vgl. auch Schanze, Überlieferungsformen, bes. S. 301). Differenzierung tut daher not. In diesem Beitrag ist gattungsdistinkt allein von zeitkritischer Sangspruchdichtung die Rede, einem Genre, das um 1198 mit Walther einsetzt, sich im 13. Jahrhundert breit etabliert und seit dem 14.  Jahrhundert in formal heterogene, teils sangbare, teils gesprochene Nachfolgetypen übergeht (zum Gattungsende vgl. Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 127–130, zu Anschlussformen Kellermann, Abschied, S. 60–104). Literarische Zeitkritik lässt sich als Absicht des Dichters (bzw. Gönners), als mehr oder minder explizite, direkte und referenzialisierte Tendenz des Textes und/oder als implizite oder empirische Wirkung auf den Rezipienten fassen. Die konstitutiven Bestimmungskriterien ergeben sich aus den Begriffsteilen: ‚Kritisch‘ zielt auf inten-

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diert beeinflussende bzw. wertende Tendenz und Wirkung (Tadel, Schelte, Klage, Mahnung, Lob, Appell usw.), ‚Zeit‘ markiert den kritischen Bezug auf ak­tuelle, überindividuell relevante Personen, Ereignisse oder Probleme, die im Regelfall benannt, jedenfalls dem Zielpublikum bekannt sind. Dazu treten die (relativ offenen) Gattungskriterien der Sangspruchdichtung, etwa Sangbarkeit, Einstrophigkeit und der Autortyp des Fahrenden. Angesichts der schon erwähnten Übergänge und nicht selten themenübergreifender Strophen ist dieses Merkmalsbündel nur relativ gültig. Es erlaubt aber die heuristisch nötige Grenzziehung in drei Richtungen: (a) zu zeit- und ereignisenthobener, ‚reiner‘ Gesellschafts- und Standesdidaxe (-klage/-kritik); (b) zu Lob oder Schelte, die zeitgebunden, aber nicht überindividuell fundiert ist (etwa auf Kollegen und Gönner; die Weitung zur Zeitkritik liegt im letzteren Fall nahe); (c) zu Zeitdichtung, die primär auf Information oder Erinnerung, nicht auf Kritik und Beeinflussung zielt, etwa auf dem Feld der Chronistik. Tatsächlich ist die Einschätzung des zeitkritischen Potentials aber stets eine Ermessensfrage, die unter anderem mit verfügbaren Quellen- und Kontextdaten korreliert. Mehr als für die Gattung im Ganzen ist für ihr zeitkritisches Corpus der Primat der Wirkung vor der Ästhetik konstitutiv: Der Kunstanspruch ordnet sich im Regelfall den außerliterarischen Zwecken unter. Letztere reichen von gefärbter oder bewusst selektiver Information über Manipulation bis zur Agitation, vom Kommentar über Meinungsbildung bis zur Propaganda. Nachricht und Urteil fallen in eins, so dass sich der objektive Hintergrund nicht aus dem Text allein erschließt. Die Deutung muss Kontextwissen einbeziehen, verlangt damit dem modernen Interpreten zugleich philologisch-textkritische und historisch-quellenkritische Kompetenzen ab. Wirken wollen die Sänger auf mächtige Einzelne, auf Standes- und Hofkreise, mitunter auch schon (und erst dann im eigentlichen Sinne publizistisch) auf breitere Öffentlichkeiten ze hove und an der strâzen (mit Walthers vielzitierter Formel, L. 105,38/Cor. 76,II,12; vgl. Göhler, ze hove). Vor allem in der späteren Stauferzeit gewinnen die ökonomisch aufsteigenden Städte als neuer Resonanzraum neben dem Hof an Bedeutung. Eine um 1240 verfasste antistaufische Strophe Reinmars von Zweter übt bereits scharfe Kritik: ez wurden nie sô starke lügevræze, / als in des rîches steten die liute: / swaz man in lüge mac zuo getragen, / die slindents alle mit ir cragen (Roe. 169,8–11). Hatten sich frühere Meinungskämpfe wie der Investiturstreit noch im exklusiven Latein und im Medium gelehrter Brief- und Traktatliteratur abgespielt, so markiert die zeitkritische Sangspruchdichtung insofern den Beginn einer neuen Meinungsöffentlichkeit um die laikalen Zentren Fürstenhof und Stadt oder am Bischofshof. Wie weit der in den Sängerrollen und Texten formulierte Geltungsanspruch tatsächlich reichte, lässt sich indes nur aus den Strophen selbst erschließen. Genannte oder adressierte Personen mussten nicht anwesend sein, doch indiziert die Art ihrer Ansprache, in welchem Verhältnis das Publikum zu ihnen stand, und die Anlässe setzen Interessiertheit und Informiertheit voraus. Exklusivere Insidermilieus, in denen auch niederschwellige Andeutungen verstanden wurden, lassen sich von ad hoc-Publica unterscheiden, bei denen deutlichere Aussagen angezeigt sein, die Reak-

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tionen aber auch unberechenbarer ausfallen mochten. Hinweise auf die Verbreitung und Wirkung einer Strophe geben neben der Überlieferung Bezugnahmen von Kollegen, Abwehr und Widerspruch sowie Übernahmen in fremde Repertoires: „Sprüche eines beliebten Künstlers verbreiteten sich wohl kaskadenartig, wenn andere Sänger sie vortrugen“ (Johnson, Höfische Literatur, S. 205). Namentlich allgemeinere Themen wie Kirchen-, Rom- und Hofkritik sowie Aufrufe zum Ketzer- oder Heidenkampf waren stets neu aktualisierbar, während Spezifischeres meist mit dem Anlass verklang. Doch liegt schon in der Niederschrift ein Moment der Entaktualisierung und Verschiebung publizistischer Tagesbrisanz ins Allgemeingültige begründet. Ansatz und Ziel der Kritik ist die je aktuelle Politik im Bedingungsrahmen vormoderner Herrschaft. Da der Herrschaftsdiskurs maßgeblich religiös geprägt ist und seine allgemein anerkannten, von allen Seiten berufenen auctoritates in Bibel, Patristik und klerikaler Fürstendidaxe findet, spielen heilsgeschichtlich-theologische Begründungs- und Deutungsmuster für aktuelle politische Ereignisse und Strukturen eine überragende Rolle. Dies gilt uneingeschränkt auch für Berufssänger, die oft über eine solide klerikale Bildung verfügten. Hinzu kommt, dass weltliche und geistliche Macht gemeinsam den ordo der Welt verkörpern. Weltlich und Geistlich, Politisch und Religiös lassen sich daher nur analytisch trennen, und auch die heftigste, grundsätzlichste Kirchenkritik argumentiert nie säkular, sondern engagiert religiös, indem etwa der korrumpierten Praxis die hehre Idee, den Taten die kirchliche Botschaft entgegengehalten wird (vgl. Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 188–193). Der kritische Gestus ist (nicht nur hier) alles andere als revolutionär: Er beruft sich konservativ auf altes Recht und die zeitlose Norm, zielt statt auf Institutionen auf Fehltritte Einzelner in ihnen und zeigt positive Korrektive (so Walthers fromm-resignierter Klausner gegen den selbstherrlichen Papst, vgl. L. 9,37, 10,33 u. 34,33). Die Zukunft liegt „in der Wiederherstellung der angeblich […] vorbildlichen Vergangenheit“ (Müller, U., Mittelalter, S.  54). Maß aller Dinge ist der ordo, vom Kosmos der unbelebten und belebten Natur über die menschliche Gesellschaft, die Lebensalter und Geschlechter bis hin zur individuellen Lebensführung in Stand, Familie und Ehe. Gesellschaftliche und kosmische Ordnung hängen dabei untrennbar zusammen: Umfassende Klagen über den ordo-Verfall münden nicht selten in apokalyptische Visionen (vgl. Sigeher Brt. 12 u. 15; Friedrich von Sonnenburg Mas. 43). Stehen die transpersonalen Instanzen Kirche und Reich als Institutionen, die den universalen ordo verbürgen, über dem tageskritischen Für und Wider, so liefern die Amts- und Herrschaftsträger auf allen Ebenen vielfältige Anlässe für Urteil und Kritik. Auf der einen Seite sind der Papst und alle Ränge des Klerus angesprochen, auf der anderen Seite Kaiser und Reichsfürsten, im 13. Jahrhundert zunehmend auch Landesherren und Landesverbände, mitunter die Häupter benachbarter Reiche (die armen künege Walthers, L. 9,14/Cor. 2,II,23), Ostrom und die heidenschaft. Die Machthaber im Reich und in den Territorien werden individuell oder kollektiv, allgemein oder anlassbezogen auf Einheit und Eintracht eingeschworen, an ihre Pflichten erinnert, für Taten und Tugenden gelobt, für Untugenden, falsches oder Nichtstun gescholten, zum (rechten) Handeln ermahnt. Die Urteilsmaßstäbe entstammen tradierter Fürsten-

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und Herrschaftslehre. Als vornehmste Pflichten des Herrschers gelten der Schutz von Frieden und Recht (leitmotivisch sind Gericht und Gerechtigkeit beschworen, so Reinmar von Zweter Roe. 138; Bruder Wernher Zck. 23; Der Hardegger C.-W. I,7), die Verteidigung des Glaubens nach innen (Häresieabwehr) und außen (Kreuzzug im Widerstreit von Ideal und Realität), die Sorge für Bedürftige, Witwen und Waisen. Herrschaft wird dabei amtsrechtlich verstanden ganz im Sinne des klerikalen Diskurses, aber auch des feudalen Vertrags- und Konsensideals: Ein Herrscher, der seines Amtes unwürdig ist, ist ein Regent auf Abruf. So stellt Walther, durch Küchenkomik kaum gemildert, König Philipp im sog. Spießbratenspruch seine mögliche Entthronung durch die Fürsten vor Augen (L. 17,11/Cor. 8,II) und fordert Reinmar von Zweter in drei sich steigernden Strophen Fürsten, Kurfürsten und Gott zum Widerstand gegen Friedrich  II. auf: Daz rîche dast des keisers niht, / er ist sîn phleger unt sîn vogt: ir vürsten, seht ir iht / an im sô schuldehaftes, dâ von er süle des rîches abe gestân, / Sô nemt iu einen, der iu zeme / unt ouch dem rîche baz dan er […] (Roe. 146,1–5); […] werde er iu liep, sô stât im eben, / unt sî des niht, so lât iu geben / daz rîche wider ze hant sô irs geruochet! (Roe. 147,10–12); […] lâz uns alrêrst dîn ellen sehen, / des dir die Cristen müezen jehen, / unt widerstânt von Stoufen Vriderîche! (Roe. 143,10–12). Indes konzedieren die Sänger dem römischen Kaiser auch eine dem Amtsgedanken enthobene Sakralität. Der auf den Propheten Daniel (Dn 2 und 7) zurückgehenden Lehre von den Vier Weltreichen folgend, bürgt das vierte, römische Weltreich für den Bestand der irdischen Geschichte. Sein Herrscher ist singulär in der Welt als Schutzherr (voget) der Kirche, irdischer Statthalter Gottes und lex animata in terris (vgl. eindrucksvoll Reinmar von Zweter Roe. 137). Er ist gesalbt und trägt jenen sagenumwobenen Stein in der Krone, den Walther als leitestern der Fürsten verklärt (vgl. L. 9,15/Cor. 2,II,24 u. L. 18,29/Cor. 9,I; zum Symbolgehalt Herkommer, Waise). Der Kaiser rückt damit auch als Person in heilsgeschichtliche Dimensionen. Walther und Reinmar statuieren die Nähe zur Transzendenz in emphatischen Panegyrici auf Philipp bzw. Friedrich II. und erklären das irdische Amt zum göttlichen Mandat. Walthers ‚Magdeburger Weihnacht‘ (L. 19,5/Cor. 9,II) argumentiert dabei gewagt typologisch, trinitarisch und marianisch, Reinmars Friedrichhymnus (Roe. 136) lässt eine unüberbietbare Epithetareihe effektvoll im Namen des Adressaten gipfeln (vgl. Hübner, Lobblumen, S. 227–229; Schulze, Vorstellung, S. 415–421): Ez gienc eines tages, als unser hêrre wart geborn von einer maget, die er im ze muoter hât erkorn, ze Megdeburc der künic Philippes schône. dâ gienc eins keisers bruoder und eins keisers kint in einer wât, swie doch die namen drîge sint, er truoc des rîches zepter und die krône. Er trat vil lîse, im was niht gâch, im sleich ein hôhgeborne küniginne nâch, rôse âne dorn, ein tûbe sunder gallen. […] (L. 19,5–13/Cor. 9,II,1–9).

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Der triuwen triskamerhort, ein ankerhaft der stæte,   ein vürgedanc ûf ieglich wort, ein wahter Cristentuomes,   Rœmischer êren gruntveste unde grunt, Ein bilder houbethafter zuht, ein volliu gruft der sinne,   ein sâme sældebernder vruht, ein zunge rehter urteil,   vrides hant, gewisser worte ein munt. Ein houbet, dem nie smit deheine crône vol machen kunde sîner tugent ze lône, […] des suln wir jehen   dem keiser Vriderîche. (Roe. 136,1–12).

Wenn nun die gleichen Dichter, wie erwähnt, in späteren Sprüchen die gleichen Fürsten schroff fallen lassen, wird diese Inkonsequenz einem neuen Publikum (das mit dem heutigen, das Gesamtœuvre überblickenden Leser nicht zu verwechseln ist) zwar nicht aufgefallen sein; doch für die Autoren selbst offenbart ein solcher Befund das konstitutive Oszillieren der Reichs- und Kaiseridee zwischen Unterordnung (unter das Amt, was irdische Justiziabilität impliziert) und Überordnung (über alle anderen Ämter auf Erden, was irdische Justiziabilität nahezu ausschließt). Und er zeigt, fundamentaler, die Situations- und Auftragsgebundenheit des einen wie des anderen Urteils, das offenkundig keiner inneren Überzeugung entsprang (dazu unten). Thematisch-diachrone Konstanten Ein hier nur in Schraffuren mögliches Corpusprofil kann chronologisch und angesichts der repräsentativen Breite dessen, was er thematisch verarbeitet, allein bei Walther ansetzen. Schon dessen wohl früheste zeitkritische Strophe im sog. Reichston (L. 8,4/ Cor. 2,I) formuliert, was als Quintessenz und tiefste Rechtfertigung der mit ihr neu eröffneten Reihe gelten kann: Die gottgewollte menschliche Bestimmung ist nur in intakten politisch-gesellschaftlichen Bezügen realisierbar, denn die Gütertrias Besitz, Ansehen und göttliche Huld als Inbegriff solcherart ‚geglückten‘ Lebens enh[ât] geleites niht, diu zwei – sc. Friede und Recht – enwerden ê gesunt (L. 8,27/Cor. 2,I,24). Wenn es aber kein individuell richtiges Leben im gesellschaftlich falschen gibt, wird Politik zur Hypothek für Leib und Seele, wird der zeitkritische Appell zur ethischen Pflicht. Mit dieser Erkenntnis scheint Walthers Karriere als politischer Sänger und mit ihr die Konjunktur zeitkritischer Sangspruchdichtung zu beginnen. Bei allen Orts- und Lagerwechseln zieht sich eine konstante, mitunter bis zur Demagogie verzerrte Polemik gegen Rom und die Kurie durch Walthers Zeitkritik. Der Sänger verleiht ihr in unterschiedlichen Rollen (Denker, Beobachter, Seher, Mahner, Weitgereister, Bote, gar Gottesbote) und mit unterschiedlichsten rhetorisch-stilistischen Mitteln (Bild und Metapher, Allegorie, laudatio temporis acti, fingierte Rede, zwîvellop) Ausdruck – die genannten Rollen und Stilfiguren bleiben über Walthers Œuvre hinaus stets neu variierte und wirksame Mittel publizistischer Rede. Die Kurie trägt in den Augen des Sängers die Hauptschuld am Verfall von vride und reht im

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 Thematische Kerne

Reich, amoralische Macht- und Besitzinteressen bestimmen ihr Kalkül (vgl. in extremo die beiden sog. Opferstockstrophen, L. 34,4/Cor. 12,VIII u. L. 34,14/Cor. 12,IX; dazu Padberg, Kirchenkritik). Die Argumentation ist hier strikt dichotomisch, den antiklerikalen Topoi (phaffen gegen leien) treten nationale (walhe gegen tiutsche) zur Seite, wobei der Konflikt auch die als Gemeinde der Gläubigen verstandene Kirche zerreißt (Papst und Klerus stehen gegen den Klausner als Vertreter frommer Weltabwendung). Auch hier geht es also um Personen, nicht um die Institution, gar die intakte christliche Lehre. Der Sänger kritisiert in zeitlich über zwei Jahrzehnte gestreuten Strophen und Tönen und im Dienst wechselnder Gönner allgemein die Diskrepanz kirchlicher Lehr- und Lebenspraxis, die Fehlleitung der Herde durch die Hirten, die Begünstigung von Unmoral und Häresie, ja den Rückgriff auf Teufelsbündnerei und schwarze Magie, und spezieller die Politik der Kurie im staufisch-welfischen Thronstreit ab 1198. Weil aber Kirche und Reich gemeinsam den ordo repräsentieren (sollten), ist auch die Welt aus den Fugen und das Ende nah: Nû wachet! uns gêt zuo der tac, / gegen dem wol angest haben mac / ein ieglich kristen, juden unde heiden. / wir hân der zeichen vil gesehen, / dar an wir sîne kunft wol spehen, / als uns diu schrift mit wârheit hât bescheiden (L. 21,25/Cor. 10,IV). Der Konflikt zwischen Reich und Kurie, seine ideologischen Ursachen (Zweischwerterlehre, Konstantinische Schenkung) und machtpolitischen Anlässe (Kämpfe um die Vormacht in Italien) bleiben ein Hauptthema zeitkritischer Sangspruchdichtung bis zum Interregnum (1254–1273). Auch die Sänger nach Walther ergreifen dabei selten für die Kurie und ihre als phaffenkünige geschmähten Elekten im Reich Partei: Rom bleibt, von Ausnahmen abgesehen (Der von Wengen, zeitweise Reinmar von Zweter), das identitätstiftende Widerspiel. Zur Kritik gesellen sich Ironie, Spott, Satire und Sarkasmus: Walther bringt Innozenz III. in selbstentlarvender Rede direkt auf die Bühne: Ahî, wie kristenlîche nû der bâbest lachet (L. 34,4/Cor. 12,VIII,1); Reinmar ridikülisiert Gregors IX. Geburtsnamen (Hugo/Ugolino di Segni): Nû treit ez [sc. Sankt Petri Schwert] Pêter Hügel mit dem schîne: / dô man Grêgôrjum worhte ûz Pêterlîne, / dô solt er [Petrus] mit dem selben swerte / sich Hügelînes hân erwert (Roe. 135,7–10); Sigeher fasst die Verhältnisse der 1250er Jahre in ein plastisches Bild: Als der tocken spilt der Walch [wieder ist der Papst, nun Innozenz IV., als Italiener fremd-markiert] mit tiutschen fürsten / er setzt si ûf, er setzt sie abe, / nâch der habe / wirft er si hin unt her als einen bal (Brt. 2,11–14). Die Liste ließe sich fortsetzen. Dabei zeigte sich aber auch, dass ‚antikurial‘ nicht zwingend ‚prokaiserlich‘ heißt: Häufig gilt die Distanznahme beiden, wobei der Sänger nur die Haltung seines jeweiligen Auftraggebers propagiert (vgl. am Beispiel Reinmars Schupp, Reinmar; Schulze, Vorstellung). Andere Themenkonstanten zeitkritischer Sangspruchdichtung sind das Verhältnis von Kaiser und Fürsten (für das die milte oft Zeichenwert erhält, s.  u.), die Symbole und Insignien der Herrschaft als ‚Wegweiser‘ in Krisenlagen sowie konkrete politische Ereignisse im Reich und in den Territorien, wobei aus letzteren im 13./14. Jahrhundert Baiern, Österreich und Böhmen, dazu zeitweise das nicht zum Reich gehörige Dänemark herausragen. Einen relativ hohen Anteil zeitkritischer Texte weisen in Wal-

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thers Gefolge vor allem die Œuvres folgender Sänger auf: Reinmar von Zweter, Ulrich von Singenberg, Bruder Wernher, Der von Wengen, Der Marner, Sigeher, Rumelant von Sachsen, Friedrich von Sonnenburg, Der Schulmeister von Esslingen, Hermann Damen, Frauenlob, im 15. Jahrhundert Muskatblut und Michel Beheim (für in diesem Rahmen nicht mögliche Details sei auf das Register und die Regesten des RSM, die ²VLArtikel sowie bestehende Überblicke verwiesen, z.  B. Müller, U., Untersuchungen). Im Interregnum verliert nach dem Papsttum auch das rîche für die Sänger an Bindekraft. Beschworen werden nun vor allem die Krisensymptome, wobei historische Exempla wie die Salvatio Romae (Marner Wms. 6,4; Sigeher Brt. 6) oder Nebukadnezars Traum (nach Dn 2, u.  a. bei Marner Wms. 7,11; vgl. Löser, Reich) die Einordnung und Deutung der aktuellen Lage erleichtern sollen, aber funktional ganz unterschiedliche Auslegungen erlauben. Nicht selten (so schon bei Walther) mündet die Zeitdiagnose in intensive Endzeitklagen (vgl. Friedrich von Sonnenburg Mas. 43). Als aber das Reich 1273 mit Rudolf von Habsburg wieder einen Herrscher hat, der unerwartet machtvoll regiert, wird der Gewinn an Frieden und Recht zwar gewürdigt (Lobsprüche Rumelants von Sachsen, Friedrichs von Sonnenburg oder Konrads von Würzburg), der ‚gierige‘ Hausmachtpolitiker und ‚geizige‘ Gönner aber mit Wut und Spott überzogen (Der Schulmeister von Esslingen, Stolle, Der Unverzagte). Diese späte(re) Phase zeitkritischer Sangspruchdichtung ist insgesamt vom Bedeutungszuwachs territorialer Themen bestimmt. Zugleich steigt die „Zahl der Strophen, in denen der aktuelle Anspielungshintergrund nicht mehr rekonstruierbar ist“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 117). Beides hängt miteinander zusammen, da die Quellenlage für kleinteilig-diffuse Anlässe meist lückenhafter ist als für reichsweit wirksame und beachtete Themen. Doch erklärt sich der zweite Befund auch aus der literarischen Entwicklung und aus neuen poetologischen Normen und Moden, die insgesamt einer Entaktualisierung und literarischen Chiffrierung Vorschub leisteten, wie dem ‚Blümen‘ sowie der Entfaltung laikaler Gelehrsamkeit und meisterschaft. Ein weiteres Charakteristikum dieser Phase ist die Ausbreitung funktional nahestehender Formen didaktischer, chronistischer oder politisch-publizistischer Reimrede und Lieddichtung, die konstitutive Merkmale der Sangspruchdichtung wie die Einstrophigkeit, den Dichtertypus und die Primärbindung an den Hof preisgeben und deren pointiert-prägnanten Stil ins Chronistisch-Narrative oder ins Lehrhaft-Diskursive verschieben. Für sie hat sich in der jüngeren Forschung die Sammelbezeichnung ‚politische Ereignisdichtung‘ etabliert (zu Begriff, Begriffskritik und Gattung vgl. Kellermann, Abschied, bes. S. 87–89; Kerth, Landsfrid; Nix, Historisches Lied). Generisch-methodische Fragen Der zeitkritische Sänger agiert vor Publikum. Die face to face-Situation ist zwar mitnichten ein Alleinstellungsmerkmal, aber für zeitkritische Dichtung von besonderer Relevanz und Brisanz. Freilich fehlt in der Überlieferung der kommunikativ-performative Kontext mit seinen für die Rezeption so wichtigen verbalen und nonver-

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balen Interpretamenten (Melodievortrag, Mimik und Gestik, Betonung, Artikulation usw.). Man kann an heutigen Analogien maßnehmend nur ahnen, welche Rolle er bei der Kürze und Lakonie der Texte für die Wirkung gespielt haben muss. Mit dem performativen fehlt überdies auch der situative Kontext, fehlen Reaktionen, Reaktionen auf Reaktionen usw. Nur selten, spät und schlaglichthaft bieten die Texte selbst vage Indizien, so bei Muskatblut, der handfeste Reaktionen auf eine Wucherschelte beschreibt, oder bei Michel Beheim, der im generisch benachbarten (sangbaren) ‚Buch von den Wienern‘ mitteilt, wy dy wiener ir schand puch gern vertilkt heten, indem sie dem kaisertreuen Dichter mit allen Mitteln nachstellten (1462; Müller, U. [Hg.], Politische Lyrik II, hier S. 298–301). Indes: Was ist hier Dichtung, was Wahrheit? Die in ihrer Art nicht minder singuläre Kritik des Friauler Klerikers Thomasin von Zerklaere an der antikurialen Polemik Walthers immerhin ist nicht primär Profilierung der eigenen Rolle: Sie lässt erkennen, dass Sängerkritik wirken und den Gegner sogar nachhaltig treffen konnte (vgl. Schupp, Wirkung); wie und mit welchen Folgen für die kritisierte Instanz dies konkret geschah, bleibt aber offen. Hier ist in Rechnung zu stellen, dass sich Texte aus ihrem Primärkontext lösen, weitere Kreise ziehen und sich neue Wirkungskontexte eröffnen konnten. Überlieferungsvarianten reflektieren fallweise den Mehrfachgebrauch oder das vom Autor gelöste Weiterleben einer Strophe. So enthält die ‚Kleine Heidelberger Liederhandschrift‘ A eine gegenüber der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C erweiterte und verschärfte Fassung der ersten sog. Opferstockstrophe Walthers, die als Zudichtung eines Anonymus gelten muss (L. 34,4/ Bein 12,VIII [C] u. 12,VIII [A]). Eine methodische Herausforderung anderer Art liegt im immer schon deutenden Bezug zeitkritischer Texte auf außerliterarisches Geschehen. Daher bedarf das Verständnis (konträr zum von Intertextualität, Autopoetizität und Fiktionalität bestimmten Minnesang) des Rückhalts in historischen Quellen. Da aber auch diese, sofern verfügbar, schon auswählten und deuteten, da die Sänger das ihnen Bekannte darüber hinaus rhetorisch und poetisch überformten, entsteht ein heuristisch-hermeneutischer Zirkel, der sich kaum aufbrechen lässt. Man muss überdies mit einer Dunkelziffer heute unerkannt zeitkritischer Strophen rechnen, deren Kritik hinter ex post unverdächtigen Äußerungen, Metaphern oder Anspielungen verschwindet; und man muss Grenzen der Deutbarkeit aufgrund des aus Text und Kontext nicht mehr schlüssig rekonstruierbaren Bezugs akzeptieren. Dies gilt etwa für zwei tongleiche Strophen Walthers, L. 17,25/Cor. 8,III (Bohne und Halm) und L. 18,15/Cor. 8b (Licht/ Lied aus Franken), die im Tonverbund Zeitkritik vermuten lassen, ohne dass entsprechende Deutungen bislang überzeugten. Andererseits muss nicht jede polemische Strophe überindividuell zeitkritisch sein bzw. gedeutet werden, auch wenn solche Implikationen mitschwingen. So nutzen Walthers bitterböse Atze-Sprüche im Gefolge eines offenbar verlorenen Rechtsstreits (L. 104,7/Cor. 73,III u. L. 82,11/Cor. 55,I) oder seine scharfe Wendung gegen einen konkurrierenden Dichter resp. Kritiker (je nach Fassung Volcnant oder Wicman; L. 18,1/Cor. 8a) die gleichen poetisch-rhetorischen Mittel und Metaphern zur Selbstprofilierung und ‚Feindmarkierung‘ wie einige seiner

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schärfsten politischen Sprüche. Die Übergänge zwischen ‚politischer‘ Agitation und ‚persönlicher‘ Schelte sind auch hier fließend und nicht zuletzt quellenbestimmt. Generell gilt: Je konkreter das Netz von Namen und Daten im Text und je dichter der Quellenkontext, desto klarer und valider ist auch die Deutung. Der Primat der Außenreferenz hat neben den interpretatorischen indes auch editorische Folgen: Wo sonst philologische Grunddaten zur Einordnung und Kommentierung ausreichen, müssen bei zeitkritischer Dichtung kleinteilige Sachkommentare zunächst den bloßen Literalsinn (er)klären, bevor sich die darauf abgestimmte (Wirkungs-)Poetik erschließt. Auch literarhistorisch werfen Entstehung und Herkunft zeitkritischer Sangspruchdichtung Fragen auf. In der dürftig überlieferten Gattungsgeschichte vor Walther (vgl. Johnson, Höfische Literatur, S. 191–196) sind Herrenlob und Herrenschelte noch eher gnomisch gefasst; die Herren interessieren als Gönner, nicht als Herrscher. Der nach der donauländischen Frühzeit im Regelfall mehrstrophige Minnesang kennt appellativ-kritische Tendenzen im Kreuzlied (Aufruf, Schelte Daheimgebliebener, Reflexe der Kreuzzugsrealität), doch sind diese in der Regel minnediskursiv überlagert. Als primus inventor politisch-zeitkritischer Sangspruchdichtung im Deutschen muss daher Walther gelten. Er aber führte sie auch schon zu ihrer höchsten Blüte und ist in jeder Hinsicht ein Ausnahmefall. Man hat historische und biographische Gründe für seinen Gattungsimpuls geltend gemacht: den plötzlichen Tod des Staufers Heinrich VI. 1197, der einen zwei Jahrzehnte währenden Thronstreit auslöste, und Walthers fast gleichzeitige unfreiwillige Trennung vom wunneklîchen hof ze Wiene (L. 84,10/ Cor. 55,VI,10), mit dem 1198 seine lange Fahrendenexistenz begann. Beides kann vielleicht das Warum, aber nicht das Wie der literarischen Neuerung erklären. Hier wird man am ehesten mit sprachübergreifenden Anregungen rechnen: Mit Fragen der (eigenen oder abstrakten) Künstlerexistenz verknüpfte Zeitkritik kennt vor Walther die lateinische Lyrik (u.  a. Archipoeta, Peter von Blois, Walter von Châtillon; vgl. Kühne, Lyrik; Rädle, Leben; Worstbrock, Politische Sangsprüche). Je nach Zeitansatz mehr oder minder parallel zu Walther kombiniert das romanische Sirventes in vergleichbarer Weise politische, persönliche und künstlerische Belange (so u.  a. Peire Vidal, Bertran de Born, Guilhem Figueiras; vgl. Müller, U., Sirventes; Shields, Spruchdichtung, bes. S.  275–287). Ein klerikal gebildeter Sänger wie Walther, der auch in seinen Minneliedern allenthalben romanisch-lateinische Literaturkompetenz verrät, konnte hier wie dort anknüpfen und so ein noch kaum (aus-)differenziertes Gattungsformat weiterentwickeln. Wie weit die Entwicklung dann bis um die Mitte des 13. Jahrhunderts gediehen war, deutet die Spottstrophe Reinmars des Fiedlers auf Leutolt von Seven an, die eine vielgliedrige Reihe von Liedbezeichnungen enthält: tageliet, klageliet, hügeliet, zügeliet, tanzliet, leich, kriuzliet, twingliet, schimpfliet, lobeliet und rüegliet (KLD 45,III,1). Einige der Begriffe scheinen ad hoc gebildet, andere lassen ein in statu nascendi befindliches Genrebewusstsein vermuten, das an den Kriterien Thema, Sprechhaltung und Situationskontext Maß nimmt (vgl. Schubert, M. J., Hügeliet, S. 102–104; Wachinger, Sängerkrieg, S. 131; orientierend Kornrumpf, Reinmar der Fiedler, Sp. 1196). Die ersten fünf Termini dürften auf Minnesang, die

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letzten auf Sangspruchartiges zielen, der Leich steht in der Mitte für sich; kriuzliet und klageliet sind im Minnesang etabliert, schließen aber auch Zeitkritisches nicht aus. Zeitkritik, milte-Postulat und Fahrendenexistenz Der Sänger zeitkritischer Strophen ist poète engagé im doppelten Sinne, nämlich als politisch engagierter u n d als von Dritten engagierter bzw. in Dienst genommener Dichter. Während die meisten Minnesänger ihre Kunst als ‚adlige Dilettanten‘ ohne Erwerbszwang ausübten und die Epiker längerfristige Gönnerbeziehungen unterhielten, ist er mit wenigen Ausnahmen (z.  B. Ulrich von Singenberg) varnder und gernder, dem guot umbe êre-Diktat unterworfen (vgl. Krause, „milte“-Thematik, S.  67–118, sowie oben → Kapitel III.1 und III.2). Er steht dabei in Konkurrenz mit seinesgleichen, aber auch mit anderen Nachrichtenvermittlern und Kunsttreibenden am jeweils gastgebenden Hof. Und zieht er weiter, weil sein wirt ihn nicht mehr finanziert, muss er aufs Neue mit seiner Kunst ‚hausieren gehen‘. Der Stand impliziert den Zwang, seriell mehreren Herren zu dienen und dabei mitunter scharfe Positionswechsel zu vollziehen. Prinzipienstärke passt nicht zu diesem Berufsbild, und zwischen Auftrag und Eigenurteil ist strikt zu trennen: Institutionelle Positionswechsel ziehen politische fast regelhaft nach sich. Der schon betrachtete Fall Rudolfs von Habsburg zeigt paradigmatisch die Überblendung der Felder Politik, Kunst und Sängerexistenz unter dem verbindenden Dach der milte, welche die eingangs angedeutete Frage in ein neues Licht rückt, inwiefern Kritik an einer individuell erfahrenen Untugend auch Zeitkritik impliziere. Gegen Rudolf richten sich Verse wie diese: Ich gan im wol, daz im nâch sîner milte heil geschiht: / der meister singen, gîgen, sagen, daz hœrt er gerne und gît in dar umbe niht (Der Unverzagte C.-W. III,1,7  f.); er ne git ouch nicht, der kuninc Rodolf, / swaz eman von im singet oder geseit (Stolle Zapf J. 11,14  f.); wol ab, der küng der gît iu niht (Der Schulmeister von Esslingen KLD 10,I,1). Das stets gleiche Fehlverhalten ist in allen drei Fällen explizit auf die Behandlung der Sänger bezogen, aber es werden auch Amtstitel genannt, und der Transfer des persönlichen Geizes auf eine allzu ‚einnehmende‘ Politik liegt kontextuell nahe (vgl. Kleinschmidt, Herrscherdarstellung). Schon lange vor Rudolf wechselten Sänger das Lager und schalten frühere Herren, weil sie als Gönner nicht überzeugten. Solche Mischung von Politik und ‚Eigennutz‘ führte Walther vom Staufer- ins Welfenlager und zurück (wo er dann endlich sein Lehen erhielt), führte Reinmar von Zweter von der kaiserlichen zur kurialen Seite und wieder zurück. Walther benennt auch den Grund, indem er erst Philipp, dann Otto IV. des Geizes zeiht, Friedrichs II. milte dagegen in höchsten Tönen preist. (Dass er im Gegenzug bei Hermann von Thüringen auch ein Übermaß an milte für unbillig hält, hat wiederum mit der Sängerkonkurrenz zu tun: L. 20,4/Cor. 9,V.) Ob die hier willkürlich ausgewählten Frontwechsel auch mit Gesinnungswechseln einhergingen, ist nicht zu klären, tut aber auch nichts zur Sache, weil es der Interpretation nicht um Sängerbiographien, sondern um den ‚Sitz im Leben‘ von Texten gehen muss.

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Die Verknüpfung von Politik und milte, die Walther explizit, die zitierten Rudolfgegner implizit voraussetzen, ist dabei kein bloßer gernden-Gestus. Largitas, mhd. milte, ist eine kardinale und (dies exemplifizieren die Dichter immer wieder) vielfach bewährte Fürstentugend. Wo sich das milte-Postulat vom expliziten Heischegestus löst, so in Walthers Philippstönen (L. 16,36/Cor. 8,I; L. 17,11/Cor. 8,II; L. 19,17/Cor. 9,III), wird der genuin politische Bezug deutlich: Die Gewährung materieller und herrschaftlicher Teilhabe ist notwendige Prämisse des immer wieder zu sichernden feudalen Konsenses. Als Existenzprämisse für Sänger und Herrschaft zugleich wird die milte so auch zum Argument der Zeitkritik. Dass die Gönnergunst Gradmesser für herrscherlichen Konsenswillen sei und sich politisch auszahle, macht Walther an mehreren (für den Stauferhof brüskierenden) Exempelfiguren deutlich: e contrario an dem mit Philipp verschwägerten oströmischen Kaiser Alexios IV., affirmativ an Barbarossas Kreuzzugsgegner Saladin und am Welfenfreund Richard Löwenherz. Ein noch prominenteres Vorbild steht ganz explizit für die Reziprozität der milte: Swelh künic, der milte geben kan, / si gît im, daz er nie gewan. / wie Alexander [sc. der Große] sich versan! / der gap und gap, und gap si [sc. milte] im elliu rîche (L. 16,36/Cor. 8,I). Dass milte-Urteile schwanken, liegt in der Natur der Sache, wenn sie eben auch Argument im zeitkritischen Herrschaftsdiskurs sind. Walther schilt Philipp, dessen diesbezügliches Bild in den Quellen sonst tadellos ist, als er seinen Hof verlässt. Rumelant von Sachsen bescheinigt Rudolf die milte, die andere ihm mit Verve absprechen (Ruw. V,7,11), und alle reden dabei nicht nur von und für sich und nicht nur von Sängerlohn. Die politische Dimension der milte eint sie. Die Ethik von guot umbe êre ist dabei durchaus umstritten (vgl. das Belegmaterial bei Müller, U., Untersuchungen, S. 311–324, und Krause, „milte“-Thematik, S. 119–185): Was später Lessing auf die geläufige Formel ‚die Kunst geht nach Brot‘ verkürzte, wird von mittelalterlichen Sängern einmal abgelehnt (Der Tugendhafte Schreiber HMS II,102,XII), einmal geadelt (Friedrich von Sonnenburg Mas. 67–69; anders Mas. 18), aber viel öfter als schlicht gegeben hingenommen. Noch am Ende der Epoche vermerkt der Spruchdichter und Chronist Michel Beheim lapidar: Der furst – gemeint ist hier Friedrich I. von der Pfalz (1451–1476) – mich hett in knechtes miet, / ich ass sin brot vnd sang sin liet. / ob ich zu einem andern kum, / ich ticht im auch, tut er mir drum (Schlussstrophe der ‚Pfälzischen Reimchronik‘, um 1471; Müller, U. [Hg.], Politische Lyrik II, hier S. 319). Tugendschelte und Zeitkritik, welche die Gattung Sangspruchdichtung und ihre Nachfolgetypen seit Walther prominent begleiten und bereichern, hängen damit an der sozialen Existenzform und literarischen Rolle (beides ist zu trennen) des Fahrenden, Heischenden, und wirken auch in dieser Hinsicht gegen den ersten Lektüreeindruck eher affirmativ als subversiv und kritisch. Ausg. Brt.; C.-W.; HMS; KLD; L.; L./Bein; L./Cor.; Mas.; Müller, U. (Hg.), Politische Lyrik; Pfaff/ Salowsky (Hg.), Große Heidelberger Lhs.; Roe.; Ruw.; Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters; Wms.; Zapf; Zck. – Lit. Brem, Gattungsinterferenzen; Brunner, Verkürztes Denken; Bumke, Mäzene; Göhler, ze hove; Haustein, Marner-Studien; Herkommer, Waise; Hübner, Lobblumen; Ilgner, Scheltstrophen; Johnson, Höfische Literatur; Kellermann, Abschied; Kerth, Landsfrid;

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 Thematische Kerne

Kleinschmidt, Herrscherdarstellung; Kornrumpf, Reinmar der Fiedler; Krause, „milte“-Thematik; Kühne, Lyrik; Lauer, C., Sänger-Rollen; Löser, Reich; Müller, U., Mittelalter; Müller, U., Sirventes; Müller, U., Untersuchungen; Nix, Historisches Lied; Nix, Untersuchungen; Nolte, Sänger; Padberg, Kirchenkritik; Rädle, Leben; RSM; Schanze, Überlieferungsformen; Schnell, R. (Hg.), Reichsidee; Scholz, Walther; Schubert, M.  J., Hügeliet; Schulze, Vorstellung; Schupp, Reinmar; Schupp, Wirkung; Shields, Spruchdichtung; Tervooren, Sangspruchdichtung; Wachinger, Sängerkrieg; Worstbrock, Politische Sangsprüche.

4 Artes und Wissen

Tobias Bulang, Sophie Knapp

Bei aller Vielfalt sangspruchdichterlicher Themen beansprucht die stark didaktisch geprägte Gattung von den Anfängen an die Vermittlung von Wissensinhalten. Im Laufe der Gattungsentwicklung führt dies zu einer zunehmend differenzierten Auseinandersetzung mit verschiedenen Wissensbereichen, unter anderem mit den Inhalten der septem artes liberales und mit theologischen Themen. Bereits in der frühesten Ausprägung der Sangspruchdichtung bei ‚Herger‘/Spervogel (= Spervogel I) sind Regeln und Normen des Zusammenlebens sowie Sachverhalte christlicher Heilsgeschichte Gegenstand einer unterweisenden Rede. Das in Sangspruchstrophen von Laien für Laien dargebotene Wissen – Männer sollen nicht ehebrechen, Christus ist vom Grab erstanden und hat die Menschen erlöst (MF 29,27; 30,13) etc. – aktiviert einen Konsens aller Vernünftigen durch gnomische Rede (Grubmüller, Regel, S. 22–40; Brem, ‚Herger‘/Spervogel, S. 10–37). In dieser konstatierenden Rede kann der gattungsgeschichtliche Ausgangspunkt eines Prozesses gesehen werden, in dessen Verlauf Sprecherpositionen ausdifferenziert, die aktivierten Wissensressourcen expliziert bzw. auch problematisiert und Gesten der Wissensvermittlung aufgefächert werden. Literatursoziologisch und wissensgeschichtlich lässt sich dieser Prozess zunächst durch den Hinweis auf die Partizipation der Sangspruchdichter an verschiedenen Öffentlichkeiten abstecken. Konstitutiv für die Produktion deutscher Lyrik mit wissenvermittelndem Anspruch sind die repräsentative Öffentlichkeit der laikalen und geistlichen Höfe, die mittelalterliche Predigtöffentlichkeit sowie die Wissensinstitutionen von Schule und Universität. In allen diesen Feldern stehen die Verfasser deutscher Spruchstrophen nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie. Als Fahrende in prekärer Nähe zu den Spielleuten sind sie, wie diese, beim höfischen Fest auf Almosen weltlicher und geistlicher Herren angewiesen. Wenn sie sich über göttliche Gebote und heilsgeschichtliche Sachverhalte äußern, verfügen sie für diese Aufgaben nicht über die Legitimation klerikaler Experten. Wenn sie schließlich gelehrte Ausführungen über Kosmologie oder Theologie vorbringen, ist – in den allermeisten Fällen – davon auszugehen, dass solcher Rede keine universitätsgelehrte Kompetenz zugrunde liegt



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(s.  o. auch unter V.1). Dennoch bilden Hofzucht, unterweisende Predigt und Paränese sowie gelehrtes Wissen dominierende Themenfelder der Gattung, die im Weiteren gesondert zu betrachten sind. Mit der Übernahme der Kanzonenform aus dem höfischen Minnesang für die Sangsprüche und der thematischen Öffnung auf höfische Themen wird Walther von der Vogelweide modellbildend für höfische Wertediskussionen. Damit bemächtigen sich Sangspruchdichter des Wissensfeldes der Hofzucht, inszenieren sich als Unterweiser der Herren und Fürsten. Im Zentrum sangspruchmeisterlicher Gnomik und Panegyrik steht dabei insbesondere die fürstliche Freigebigkeit (milte). Deren Lob sowie – komplementär – die Schelte des Geizes (kerge) werden von den Sangspruchdichtern ausdifferenziert, wobei die für die Fahrenden unverfügbaren herrscherlichen Gaben über ethische Normierungen als einforderbare Güter gefasst werden (Krause, „milte“-Thematik, bes. S. 87–92). Aus der inferioren Perspektive der Verfasser wird für das Geschäft der Panegyrik, welche die Ehre des Fürsten steigert, die Gabe als Äquivalent eingefordert. Die vielfach variierte Formel dafür lautet: guot umbe êre nemen. Für eine solche Ethisierung der Heische werden verschiedene Wissensressourcen und gelehrte Verfahren in Anspruch genommen. Den Fürsten werden bezüglich der milte besonders vorbildliche Exempel der Antike (z.  B. Alexander der Große, Walther L. 16,36), des Alten Testaments oder der Geschichte vorgeführt (z.  B. Boppe Alx. II,1), Allegorisierungen sowie komplexe Kasuistik kommen zum Einsatz. Die lerer aller gten dinge (so der Meißner Obj. XV,4,2) spezialisieren sich so als selbsternannte Experten für die Hofzucht und entwerfen eine Herrenlehre, die in den meisten Fällen eng an die prekäre ökonomische Situation der Ausführenden zurückgebunden und mithin als interessengeleitet kenntlich bleibt (Heische). In ihren Strophen übernehmen Spruchdichter zudem Themen und Redeweisen der Predigt (s. oben → Kapitel  IV.4), die mit  der Autorisierung der  Bettelorden zur Predigt  (Viertes  Laterankonzil  von 1215)  einen bedeutenden Aufschwung nahm. Formale und inhaltliche Elemente der Predigt als appellativer Textsorte zur Verkündigung der Heilsbotschaft sind allenthalben erkennbar: Dazu zählen die konsequente konzeptionelle Mündlichkeit der Rede (angezeigt durch Interjektionen, Publikumsadressen, z.  B. nû merket daz!, Nu seht etc. – Reinmar von Zweter Roe. 1,2/7) sowie eine autoritäre Sprecherhaltung, die aber auch immer wieder vom hierarchischen Ich zum egalitären Wir als Zeichen brüderlicher Gemeinschaft, gemeinsamer Sündhaftigkeit und Heilsbedürftigkeit wechselt (z.  B. Marner Wms. 7,15,12–20: da mugt ir michel wunder spehen / […] / mit der bezeichenunge sin wir von der helle erlset hie; vgl. Auerbach, Literatursprache, S.  227; Lauer, C., Sänger-Rollen; s. oben → Kapitel III.5). Auf diese Weise bemächtigen sich die Verfasser des zentralen Mediums autorisierter religiöser Kommunikation (Hasebrink/Schiewer, Predigt, S. 151), ohne freilich über entsprechende Expertise und Autorität zu verfügen. Klerikale Invektiven mit expliziter Nennung der Namen deutscher Sangspruchdichter in einer Berthold von Regensburg zugeschriebenen Predigt (Bd. 1, S. 155  f.) sowie im ‚Buch der Natur‘ Konrads von Megenberg (III.B.37) zeigen, dass eine solche Übernahme alles andere

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als konfliktlos vonstatten ging (Kästner, Wettstreit; Müller, S., Bettelmönche; Schreiner, Laienbildung). Die Bußpredigt bietet im Rahmen der Verkündigung auch Wissensvermittlung. Mit der Predigt teilt die Sangspruchdichtung in dieser Hinsicht eine Reihe kleinerer Formen und Gattungen, z.  B. Allegorien, Sentenzen, Predigtmärlein, Fabeln, Satiren und Exempel. Themen und Redeweisen der Bußpredigt werden dort überschritten, wo sich die Sangspruchdichter auch der Rede über die Geheimnisse Gottes bemächtigen und über Schöpfung, Trinität und Inkarnation dichten (z.  B. Frauenlob GA V,2 u. VI,2; Heinrich von Mügeln Stmn. 317–319; vgl. Kern, P., Trinität, passim). Insbesondere die mariologischen Dogmen – unbefleckte Empfängnis, Jungfrauengeburt – werden in zahlreichen Strophen Gegenstand einer Laientheologie in kompakten Bildern. Aus der anfänglichen Konkurrenz mit dem Bußprediger geht seit der Mitte des 13. Jahrhunderts mehr und mehr eine Konkurrenz mit dem Gelehrten hervor (Grubmüller, Autorität, S. 703–711). Auch wenn sich hier in Einzelfällen (Rumelant von Sachsen, Konrad von Würzburg, Frauenlob, Heinrich von Mügeln) eine erstaunliche Informiertheit über Gegenstände schulischer, ja universitärer Auseinandersetzungen zeigt, stellt sich immer wieder die Frage, ob dieses Wissen originärer Art oder über sekundäre, wissenvermittelnde Texte in die Gattung eingegangen ist. Von Vertrautheit mit lateinischer Schriftlichkeit zeugen dabei vereinzelt Dichter, die in beiden Sprachen produktiv werden (Marner, Heinrich von Mügeln). Soziale Inferiorität am Fürstenhof, fehlende ständische Befugnis zu Predigt und Paränese sowie die Randständigkeit hinsichtlich gelehrter Konsoziation werden in den Texten der Spruchdichter durch unterschiedlich modellierte Legitimations- und Inspirationsfiguren unter Rückgriff auf verschiedene Wissensbereiche kompensiert. Dabei konkurrieren – wie im Folgenden zu zeigen ist – Entwürfe einer buchfernen, aus frommer Inspiration erklärten Laiengelehrsamkeit mit den häufiger vorgebrachten, offensiven und expliziten Berufungen auf eine eigene Buchgelehrsamkeit bis hin zur Beanspruchung der artes als Legitimationsgrund der wahren kunst. Die erste Inspirationsfigur ist ein Import aus der höfischen Epik und findet ihre paradigmatische Ausformung im sog. ‚Rätselspiel‘ des unter dem Begriff ‚Wartburgkrieg‘ zusammengefassten Strophenkomplexes. Hier wird im Rahmen eines Sängerkriegs die Fehde zwischen Wolfram von Eschenbach und Klingsor von Ungerlant inszeniert und als Konflikt zweier Wissensentwürfe ausgetragen. Wolfram tritt als vom Geist Gottes inspirierter Laie gegen Klingsor, den universitätsgelehrten meisterpfaffen an, dessen fragwürdige Wissensquellen inkriminiert werden. Mit seiner universitären Bildung prahlt der zwielichtige Klingsor unverhohlen: Ze Pârîs guote schuole ich vant. / ze Constantinopel ist mir wol erkant / der kern von kunst ûz meister pfaffen sinne. / ze Baldac ich ze schuole kam, / wand ich ze Babylône hôhe kunst vernam. / driu jâr ich diende in Machemets minne; / der kunde mir daz herze wol von rehten sinnen wîsen (Schweikle [Hg.], Parodie, S. 122, RSM 1Wartb/2/1a [14]). Die Inszenierung einer Laiengelehrsamkeit, die sich gegenüber solchem als sinnlos deklariertem Vagieren durch die Welten des Wissens überlegen zeigt, generiert sich aus Erzählerentwürfen aus



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Wolframs Epik. Bereits im ‚Parzival‘ hatte Wolfram seine Illiterarität betont, im ‚Willehalm‘ macht er diesen Sachverhalt zum Gegenstand einer Inspirationsfigur: swaz an den buochen stât geschriben / des bin ich künstelôs beliben. / niht anders ich gelêret bin: / wan hân ich kunst, die gît mir sin (2,19–2,22; vgl. Ragotzky, Studien, bes. S. 54–64; Wachinger, Sängerkrieg, bes. S.  87  ff.; Kellner/Strohschneider, Geltung, bes. S. 157–161, Kellner/Strohschneider, Poetik, bes. S. 341– 344, 352–355). Abgesehen von der Inszenierung im ‚Wartburgkrieg‘, die von entsprechenden Erzählerstilisierungen der Epik ausgeht, begegnet eine solcherart betonte Inszenierung von Laiengelehrsamkeit im Kontext der Sangspruchdichtung eher selten (Hal., S. 121). Als anderes Beispiel kann Rumelant von Sachsen angeführt werden (die lützel kunnen, / die ne gunnen / mir nicht, daz ich lenge, breite, wîte / mit kunsten von in rîten muoz. / mich treit die Gotes helfe unde ouch mîn sin; Ruw. VII,2,6–10; vgl. Krn. VII,2). Häufiger scheint sie in Invokationen auf, in welchen die himmlischen Mächte zur Unterstützung des Sängers für seine Kunst angerufen werden (RSM 1Marn/7/561, 1 Frau/21/6 an den Heiligen Geist, 1Kanzl/8/1 zudem an Gott). In expliziter Abgrenzung von den artes findet sich die Figur noch bei Jörg Schiller: In einer Gottesanrufung erbittet er – gerade weil er die septem artes liberales nicht beherrsche – Gottes stere (Cramer III, Schiller IV,1,12). Daneben etabliert sich aber eine gegenläufige Position, die gelehrte Aussagen sangspruchmeisterlicher Laien ostentativ auf Bücher bezieht. Wenn beispielsweise der Meißner vom Marner fordert, er möge die Bücher besser lesen, wenn er gelehrte Tierallegorien präsentiert (Obj. XII,1–4; zur Meißner-Marner-Kontroverse vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S.  151–162; Wms., S.  253–257; Grubmüller, Laiengelehrsamkeit, S. 69  f.), wenn sich der Spruchdichter Boppe bei der Entfaltung einer allegorischen Darstellung des innertrinitarischen Beschlusses über die Menschwerdung Gottes auf des küniges Tirols buoch bezieht (Alx. VII,4), so zeigt dies die enorme Bedeutung des Buches als Wissensspeicher, aber auch als auratisches Objekt bei der Legitimation von Geltungsansprüchen, welche die eigene Rede betreffen (vgl. Bulang, Geltungspotentiale, S. 50  f.). Auch im ‚Wartburgkrieg‘ finden sich Gelehrsamkeitsstilisierungen, die über Berufungen auf und Auratisierungen von Büchern operieren (Brandans und Zabulons Buch; vgl. Kellner/Strohschneider, Geltung, bes. S. 161–165). Gleichzeitig zum Aufkommen einer solchen Wissensdiskussion in der Gattungsgeschichte begegnet auch die Thematisierung der artes. So finden sich in den lateinischen Dichtungen des Marners katalogisierende Vergegenwärtigungen der Künste: fundamentum artium / ponit grammatica. / ad methodi principium / dat viam dialetica. / duplici colore decorat sermonem rhethorica […] (Wms. 7,19). Der Spruch beschränkt sich nicht auf die Sieben freien Künste allein, sondern ergänzt die modernen scholastischen Wissenschaften (Theologie, Jura, Medizin) sowie Naturphilosophie, Metaphysik, Alchemie und Magie. Abweichend von der Überlieferung dieses Spruches in Handschrift C, wird in der ‚Augsburger Cantionessammlung‘ im Schlussvers eine antiklerikale Invektive plaziert, welche den Wissenschaften die, wie bedauert wird, beliebtere Simonie, den Ämterkauf und das Pfründewesen entgegensetzt (Wachinger [Hg.],

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Lyrik des späten Mittelalters, S. 252–255 [Text], S. 758  f. [Kommentar]; Wms., S. 264  f.). In deutschen Strophen in Tönen des Marners und des Harders wird betont, dass die Sieben freien Künste gegen den Tod nicht helfen (Poynter, Poetics, S. 569  f., RSM 1 Hardr/3/11; WKL II, Nr. 187, RSM 1Marn/7/573), in einer anderen Strophe in Marners Ton wird auf die Insuffizienz der Sieben freien Künste für die Gotteserkenntnis insistiert (Poynter, Poetics, S. 293–296, RSM 1Marn/7/565, vgl. auch RSM 1Regb/4/521; Poynter, Poetics, S. 299–304, RSM 1Regb/4/551; 1Regb/4/571). Bereits gegen Ende des 13. Jahrhunderts, vollends aber im 14. Jahrhundert etabliert sich gegen solche skeptischen Vorbehalte das Lob der Freien Künste. Dabei dominieren Auflistungen der artes und Allegorisierungen, welche in der artifiziellen Rhetorik des geblümten Stils eigene sprachliche Kompaktheit ausprägen können. Die Künste werden dabei als die sieben Töchter der Philosophie vorgestellt bzw. als sieben Blumen, die in einen Kranz gewunden werden oder den ‚Baum der Philosophie‘ zieren (z.  B. Michel Beheim, Gille/Spr. 417; RSM 1Ehrb/2/11; 1Frau/6/507; 1Frau/21/6; 1HeiMü/530; 1 KonrW/8/5; Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr. 188, RSM 1Marn/6/505; Poynter, Poetics, S.  342–351, 1Marn/7/535; Muskatblut Grte. 96; HMS III,126: I,4–6, RSM 1Regb/1/526; 1 Tanh/6/5; Zwinger Cramer III, VII; vgl. zu Artes-liberales-Zyklen Stolz, Artes-liberales-Zyklen, bes. Bd. 1, S. 556–578, Bd. 2, S. 730–732). Weiterhin erscheint die Philosophie als Brunnen, bisweilen mit sieben Röhren oder Flüssen (Poynter, Poetics, S. 217–219, RSM 1Frau/9/523; 1HeiMü/555; 1KonrW/6/519), bzw. die septem artes liberales werden als sieben Brunnen (Sieb., S. 232  f., RSM 1Tanh/1/501) oder als (meister-)Trank imaginiert (RSM 1Regb/4/616). Paradoxerweise konstatiert gerade ein Verfasser mit dem programmatischen Namen Der Ungelehrte die sieben Künste als Straße, der zu folgen ist (Cramer IV, I), worin in besonderer Zuspitzung das Changieren zwischen verschiedenen Legitimationsfiguren manifest wird. Den jeweiligen Wissenschaften werden in einigen Sangsprüchen antike Autoritäten zugeordnet, welche sie als meister repräsentieren, ferner wird dargestellt, was die jeweilige kunst leistet, wobei in Ansätzen eine deutsche Fachterminologie entfaltet wird. Solche artes-Kataloge sind nicht fest, wie neben der oben zitierten Marnerstrophe auch eine Strophe in Heinrichs von Mügeln Langem Ton zeigt, in welcher der Bestand auf 15 Künste ausgeweitet wird (Stmn. 281– 295; zu Artes-Reihen bei Mügeln bes. Kibelka, Meister, S. 19–37). Den Wissenschaften werden dabei einzelne repräsentative Autoritäten der Tradition zugeordnet: Meister der Philosophie: Platon, Grammatik: Priscian, Logik: Aristoteles, Rhetorik: Cicero, Arithmetik: Pythagoras, Geometrie: Euklid, Musik: Boëthius, Astronomie: Ptolemäus, Alchemie: Geber. In einer Strophe des Hans Folz werden solche Zuordnungen noch um die Angabe von Metallen, Planeten und Farben im Sinne einer kosmologischen Verweisstruktur ergänzt (Ellis, Solution, S. 449–455, RSM 1Folz/76). Nicht immer ist dabei zu entscheiden, ob es sich um authentische Bildungsgüter oder um Wissensprätentionen handelt, zumal die fachterminologischen Ausdrücke mitunter – überlieferungsbedingt? – beinahe bis zur Unkenntlichkeit verstellt werden (zu diesem Problem zuletzt Runow, Rezeptionsbedingungen). Zusammenhängend damit ist im Einzelnen zu fragen, ob hier als Wirkungsfunktion der Texte tatsächlich



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Wissensvermittlung angestrebt ist oder ob nicht vielmehr Bekanntes abgerufen und somit vorausgesetzt wird, wobei die Aufmerksamkeit der rhetorischen und sprachlichen Virtuosität der Umsetzung gilt (vgl. dazu für Heinrich von Mügeln Gade, Wissen, S. 317  f.). Eine weitere Frage betrifft die Quellen des so präsentierten Wissens. Mit guten Gründen ist beispielsweise für Mügeln die Tradition der Lehrdichtung, insbesondere die Rezeption des ‚Anticlaudianus‘ des Alanus ab Insulis (vgl. Huber, C., Aufnahme, S. 247–313; Stolz, Artes-Dichtungen) veranschlagt worden. Über diese wie auch immer im Einzelfall durch Vorlagen bedingte und auf bestimmte Wirkungen funktionalisierte Exponierung von Wissen hinaus aber kommt es auch – in Ausprägungen verschiedener Komplexität – zur poetologischen Indienstnahme der Sieben freien Künste. Bisweilen erscheint die Unterstützung durch transzendente Kräfte unabdingbar für den Erwerb und das Verständnis der artes liberales (Hülzing Cramer II, III; RSM 1Regb /4/622) und ihr Beistand wird erbeten (Mönch von Salzburg, Geistliche Lieder, G33, an den Heiligen Geist; RSM 1Regb /4/616 an Maria). Die artes liberales werden in der Sangspruchdichtung zunehmend zur Bedingung der Verfertigung meisterlicher Liedkunst erklärt und als grunt der Sangeskunst stilisiert (Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr.  188, RSM 1Marn/6/505; 1Regb/2/65; 1Römer/1/10), ihre Beherrschung gilt als abprüfbarer Ausweis von meisterschaft (Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr. 92, RSM 1Regb/7/6; 1Ehrb/2/11). Damit korrespondiert die Schelte der nur scheinbar in den sieben Künsten Bewanderten als Abgrenzungsfigur, die unübersehbar die eigene meisterschaft betont (Heinrich von Mügeln Stmn. 1–3; Muskatblut Grte. 96; im Ton Regenbogens: swer rehte kunst nu anders füeret dan er sol, / der dunket mich ein tumber man: / daz wil ich lâzen ziehen an die wîsen. / Wil er ein rehter meister sîn, / sô muoz er hân die kunst Jeomâtrîe […], Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr. 83, RSM 1Regb/4/539). Damit tritt eine dezidierte Behauptung der Gelehrsamkeit als Möglichkeitsbedingung für die Sangspruchdichtung neben jene Handwerksmetaphern, welche für die poetologische Reflexion der Spruchdichter prägend sind. Die gattungsinterne Diskursivierung des Meisterschaftskonzepts wechselt zwischen den beiden Legitimationstypen des inspirierten Laienwissens und -könnens und dem die Sieben freien Künste voraussetzenden Wissen. Die gattungstypischen Berufungen auf die besonderen Kompetenzen der Sänger im Zeichen des kunst-Begriffs und seiner Auratisierung empfangen bedeutende Assoziationspotentiale auch vom Begriff der artes, die offensive Selbstdeklaration der Sangspruchdichter als meister wird somit nicht nur auf die Virtuosität des Handwerkers, sondern auch auf den Universitätsgrad des Magisters beziehbar (Hübner, Hofhochschuldozenten). In den solcherart akzentuierenden artes-Katalogen wird jede der Sieben freien Künste auf einen Aspekt spruchmeisterlicher Kunst enggeführt. So weist musica die Töne, Philosophie ist die Mutter des Gesanges, Grammatik hilft reimen, arismetrica (die Schreibung verdankt sich einer hier aufgesuchten figura etymologica) hilft beim Silbenzählen, loica lehrt anmutige Rede vor Fürsten – bisweilen wird aber auch vor ihrer spehe gewarnt, die alle Fragen verdrehen und Recht in Unrecht verkehren kann etc. –, astronomie unterrichtet über

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Sterne und Planeten, Rhetorik blüemt die Rede, und Jeomâtrîe hilft beim Ausmessen des Gesangs  – hier vereint sich in den topischen Bildern und Begriffen vom Ausmessen, Wägen und Zirkelmaß die poetologische Beanspruchung der Wissenschaft wiederum mit der Handwerkskunst (siehe etwa Konrad Dangkrotzheim Cramer I, I, wo zugleich Gott als geomiter und Maria als arismetricus vergegenwärtigt werden). Zu den artes-Katalogen siehe z.  B. Poynter, Poetics, S. 489–491, RSM 1Ehrb/2/11; 1Frau/6/507; 1Frau/21/6; Albrecht Lesch Cramer  II, VI; Bartsch (Hg.), Meisterlieder, Nr.  188, RSM 1Marn/6/505; 1Kanz/8/1; Poynter, Poetics, S. 385–390, RSM 1KonrW/8/3; Bartsch (Hg.), Meisterlieder, Nr. 83, RSM 1Regb/4/539; 1 Regb/4/618; 1Regb/4/622; Der Ungelehrte Cramer IV, I; Zwinger Cramer III, VII; RSM 1ZX/570/1.

Allgemein lässt sich beobachten, dass diese Kataloge nicht fest sind, vielmehr variiert werden. Bisweilen nehmen sie auch Disziplinen auf, die nicht im engeren Sinne zu den Sieben freien Künsten gehören, oder sie setzen je eigene Schwerpunkte, wobei interessengeleitet meist Musik, Grammatik und Rhetorik besonders hervorgehoben erscheinen. Diese poetologische Veranschlagung der artes liberales wird dabei nicht immer expliziert, sondern sie zeigt sich – besonders bei Frauenlob – im souveränen Umgang mit ihnen, so beispielsweise in sprachphilosophischen Erörterungen zu verschiedenen Begriffen. Unter Berufung auf Aristoteles diskutiert Frauenlob beispielsweise am Begriff hôchvart den Zusammenhang zwischen Ding und Wort und gelangt spitzfindig etymologisierend zu einer Aufwertung dieses Begriffs (GA V,38–41; dazu Huber, C., Wort, S. 134–167). Der Ursprung der Sieben freien Künste liegt bei Gott, der folgerichtig auch über sie verfügt (Hülzing Cramer II, III). Insofern vergeht sich der tumbe, der sich unrechtmäßig die Kenntnis der Sieben freien Künste anmaßt, in doppelter Hinsicht (ebd.). Zugleich wird eine solche Anmaßung von der innerweltlichen Instanz der meister geahndet (Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr.  83, RSM 1Regb/4/539). Hier zeigt sich bereits, dass die Aufzählung der Sieben freien Künste genutzt wird, um das eigene Wissen unter Beweis zu stellen; entsprechend schließen sich daran häufig Agglomerationen einschlägiger universitärer und poetischer Terminologie an (RSM 1HeiMü/411; 1 Kanzl/8/1; Muskatblut Grte. 96; RSM 1Tanh/6/5; Der Ungelehrte Cramer IV, I; Zwinger Cramer III, VII) sowie Ausführungen über bestimmte Wissensfelder (besonders Astro­ nomie; z.  B. GA-S XI,201; vgl. Siebert, Astronomie, S. 14–23). Wesentliche Implikation der Orientierung der Sangspruchdichtung an den artes ist die Erlernbarkeit meisterlicher Sangeskunst. Sie ist für den späteren Meistergesang obligatorisch. Die Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts war in dieser Hinsicht weniger festgelegt. Heißt es bei Konrad von Würzburg noch über den sanc (gegen die Instrumentalmusik): elliu kunst gelêret / mac werden schône mit vernunst, / wan daz nieman gelernen kan red und gedœne singen (Schr. 32,303–305), so werden diese Verse bei der Wiederaufnahme in einem meistersingerlichen Dreierbar wie folgt geändert: und wer die kunste leret, / gewinnet schön und gut vernunst (Str. III,3  f., Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 282 [Text], S. 774  f. [Kommentar], RSM 1KonrW/7/510). Hier wird schlaglichtartig der Umbau von Inspiration zu Lernbarkeit deutlich.



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In den sog. Sängerfehden (s. unten → Kapitel V.5), also in Strophenbeständen, in denen die Ansprüche bestimmter Sänger auf meisterschaft von Gegnern bestritten werden, können auch die in Anspruch genommenen artes-Kompetenzen Gegenstand der Auseinandersetzung sein. Die Beherrschung der Sieben freien Künste avanciert damit zum Ausweis von meisterschaft bzw. wird für diese unabdingbar, und sie expliziert den Konnex von Meisterschaft und artes (Albrecht Lesch Cramer  II, VI; Muskatblut Grte. 99; Sieb., S. 232  f., RSM 1Tanh/1/501; Zwinger Cramer III, VII; RSM 1 Regb/4/622). Daneben attestieren diese aber auch Kenntnisse über meisterschaft, entsprechend wird ausgebreitet, wo sie herkommt, wer sie innehatte etc. (Albrecht Lesch Cramer  II, VI). Meisterschaft kann dabei als angeboren postuliert werden, wobei jedoch weitere Bedingungen für ihren Vollzug genannt werden (sinne, spehe fünde etc.; Albrecht Lesch Cramer  IV, Hofton  II). Das darin eingebettete Darlegen von Wissen unterstützt den impliziten Selbstanspruch und zeigt die Bedeutung von Expertise zur Untermauerung der eigenen meisterlichen Position (Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr. 188, RSM 1Marn/6/505; 1Marn/7/561; Muskatblut Grte. 99). Als besonders einschlägiger Fall sei in diesem Zusammenhang die Invektive Heinrichs von Mügeln gegen Regenbogen angeführt. Sie ist innerhalb einer autornahen Werküberlieferung zu situieren, die im Göttinger Cod. Philos. 21 (Hs. g) besonders greifbar wird. Hier sind die Sangsprüche Heinrichs von Mügeln in 15 Büchern mit jeweils thematischem Schwerpunkt auf bestimmten Wissensgebieten sinnfällig geordnet (Stmn.). Das erste Buch entfaltet in 17 Strophen dicht aufeinander bezogene Wissensfelder in kompakten Bildern. Ausgangspunkt ist eine Äußerung des Berufskollegen Regenbogen. Er hatte im Zusammenhang mit kosmologischen Darstellungen von einem ort (einer ‚Spitze‘) des Himmels gedichtet. Dagegen wird die Sphärenordnung des Kosmos ausgeführt, die keine Spitzen vorsehe. Die Polemik gegen Regenbogen wird begleitet von der Forderung, ware kunst, die sich auch über theologische Sachverhalte äußere, müsse in den Sieben freien Künsten fundiert sein, wolle sie nicht in ihrem Anspruch scheitern und der Beschämung preisgegeben werden. Bedingung für die Kunst sei die Freigebigkeit des Fürsten, wobei im Verlauf der Strophen deutlich wird, dass damit der Herrscher der Welt und seine Gnadengaben gemeint sind. In den 17 Strophen des ersten Buches wird kosmologisches Wissen ausgeführt, wobei versucht wird, die aristotelische Himmelstheorie mit dem christlichen Schöpfungsgedanken in Übereinstimmung zu bringen. Dabei werden sowohl das aristotelische Weltewigkeitspostulat zum Gegenstand literarischer Bearbeitung als auch Positionen der aristotelischen Kosmologie, Physik und Metaphysik. Die aristotelische Lehre von den Himmelsbewegungen, die in einem primus motor, der selbst unbewegt ist, gründen, wird dabei im Sinne des christlichen Schöpfergottes gefasst und mit mariologischen und eucharistischen Grundsatzdiskussionen in Zusammenhang gebracht. Gegenstand dieser Auseinandersetzung sind auch das Wesen göttlicher Trinität, die kategorialen Unterschiede einer Naturlehre und des Seins der über die Natur hinausgehenden Wesenheiten, die Durchdringung der biblischen Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht durch typologische Bezugnahmen und Tieralle-

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goresen nach dem Muster des ‚Physiologus‘. Am Ende der Zeit werde Gott der natürlich unzerstörbaren Welt, die aus Prozessen des Werdens und Vergehens besteht, ihr übernatürliches Ende setzen. Nach solchem Durchmessen der Heilsgeschichte wendet sich Heinrich in den drei Schlussstrophen dem Geheimnis der Eucharistie zu und breitet das neuplatonische Konzept eines nicht nur verweisenden, sondern partizipierenden Zeichens aus, um die zentrale Frage des eucharistischen Disputs im Mittelalter, ob das Brot Körper oder Zeichen Christi sei, poetisch zu traktieren (Stmn. 1–17; Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 440–459 [Text], S. 911–928 [Kommentar]; vgl. außerdem Kibelka, Meister, passim; Gade, Wissen, S. 181–315). Diese Strophen führen nicht nur exuberante Gelehrsamkeit vor, sondern bieten auch programmatische Aussagen zur gelehrten Poetik des Sangspruchs. Sie können für die Gattung insofern nicht als repräsentativ gelten, da sie das Übliche übersteigende Maximalansprüche stellen und außergewöhnliche wissenschaftliche Expertise und Eloquenz aufweisen, denen innerhalb der Gattung wenig zur Seite zu stellen ist. Nicht auf demselben Elaborierungsgrad wie das erste Buch Mügelns, welches Gattungsreflexion, Bildgebrauch und ein breitgefächertes Wissensspektrum besonders dicht verschränkt, präsentieren auch die folgenden Bücher des Göttinger Codex eine beeindruckende Vielfalt gelehrter Themen. So bietet etwa das zweite Buch historische Exempeldichtung, das dritte Buch entfaltet die Traumdeutung des Rhazes, das zwölfte Buch die humoralpathologisch begründete Temperamentenlehre. Im achten Buch werden naturkundliche Allegorien (‚Physiologus‘-Tradition) in kompakter Rhetorik auf mariologische Wunder hin ausgelegt. Die aristotelische Kometenlehre wird im zehnten Buch entfaltet (s. dazu auch unten → Kapitel VII.12). Die bei Mügeln zusammengeführten Themen und Wissensbereiche liegen jedoch in den Fluchtlinien der von Sangspruchdichtern geführten Wissensdiskussion. Themen wie Naturkunde, Eucharistie, Trinität und Mariologie werden allenthalben Gegenstand von Sangsprüchen, selten allerdings in vergleichbarer synthetisierender Art und Weise. Ausgehend von dieser in hohem Maße konsistenten Zusammenführung verschiedenster Wissensbereiche lassen sich rückblickend besonders häufig in Anspruch genommene Wissensbereiche und Quellen für die Gattung Sangspruchdichtung benennen. Erwähnt wurde bereits die auch bei Mügeln noch fassbare Auseinandersetzung über die fürstliche Freigebigkeit nach Art einer Herrenlehre. Wie auch in der Predigt werden Tierallegorese, Fabeln und Predigtmärlein eingesetzt. Kosmologisches Wissen (sphärischer Aufbau des Kosmos), Exempla aus der Geschichte, kompakte bildreiche Darstellungen der Schöpfung, der Inkarnation, der Eucharistie sind Themen spruchmeisterlicher Wissenspräsentation. Wissen wie dieses ist in einer Vielzahl mittelalterlicher Quellen zu finden, etwa in den Bestiarien und Enzyklopädien im Gefolge der ‚Physiologus‘-Tradition, Himmelskundliches findet sich in der ‚Sphaera‘ des Johannes von Sacrobosco, die ab Mitte des 14. Jahrhunderts auch in der deutschen Übersetzung Konrads von Megenberg verfügbar war. Besonderer Berücksichtigung bedarf die Predigtliteratur, die Einblicke in eine bedeutende Form mündlicher Wissensvermittlung erlaubt. Für die Sangspruchdichtung bleibt daher im Einzel-



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nen immer fraglich, ob solche heute verfügbare Quellen auch tatsächlich konsultiert wurden oder ob Wissen über weitere vermittelnde Instanzen (volkssprachige Schriftlichkeit, mündliche Wissensvermittlung in Predigt und Schule, Lehrdichtung) seinen Weg in die Strophen fand. Konkrete Einflusshypothesen sind hier selten möglich. So finden sich in der Sangspruchdichtung beispielsweise häufig Bearbeitungen einer allegorischen Szene, die den ‚Streit der Töchter Gottes‘ behandelt. Dargestellt wird dabei der innertrinitarische Ratschluss über die Menschwerdung Gottes. Durch sie wird der Konflikt zwischen göttlicher Gerechtigkeit und göttlicher Barmherzigkeit (die Attribute werden als Töchter allegorisiert) gelöst. Dieser Konflikt war mit der Verdammung der Menschen aufgrund des Sündenfalls eingetreten: Die göttliche Gerechtigkeit fordert die Bestrafung des Tabubruchs, die Barmherzigkeit kann sie nicht dulden (Bearbeitungen z.  B. von Reinmar von Zweter Roe. 1  f.; Boppe Alx. VII,1–4 u.  a.; vgl. Bulang/Runow, Allegorie; Bulang, Geltungspotentiale, S. 53  f.). Diese allegorische Umsetzung eines komplexen theologischen Problems wird erstmals in einer Predigt Bernhards von Clairvaux greifbar (vgl. Mäder, Streit). Eine konkrete Rückführbarkeit von in Sangsprüchen präsentiertem Wissen auf konkrete Vorlagen und Prätexte ist nur in Ausnahmefällen möglich. Manifest wird sie etwa bei Michel Beheim, der eine ganze Reihe konkret benennbarer Erbauungsschriften und Predigten versifiziert (vgl. hierzu die Quellenangaben in RSM 1Beh; Wachinger, Beheim; s. auch unten → Kapitel VII.14). Insgesamt kann die Sangspruchdichtung unter wissensgeschichtlichen Aspekten als Ort einer bemerkenswerten Transponierung von Expertenwissen aus der Latinität in die Volksprache und aus den Expertenbereichen zu den Laien betrachtet werden. Programmatisch ausgereizt werden dabei die Möglichkeiten der Volkssprache, solche Wissensbestände wiederzugeben und zu verarbeiten. Die meisterschaft der Sang­ spruchdichter begründet sich im Verfügen über das Wissen einerseits, in der artifiziellen sprachlichen Umsetzung andererseits. Ausg. Alx.; Bartsch (Hg.), Meisterlieder; Berthold von Regensburg, Predigten; Cramer; GA; GA-S; Gille/Spr.; Grte.; Hal.; HMS; Konrad von Megenberg, Buch der Natur (a); Krn.; L.; MF; Mönch von Salzburg, Geistliche Lieder; Obj.; Poynter, Poetics; Roe.; Ruw.; Schr.; Schweikle (Hg.), Parodie; Sieb.; Stmn.; Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters; Wms.; Wolfram von Eschenbach, Willehalm. – Lit. Auerbach, Literatursprache; Brem, ‚Herger‘/Spervogel; Bulang, Geltungspotentiale; Bulang, Intertextualität; Bulang/Runow, Allegorie; Burkard, Sangspruchdichter; Ellis, Solution; Gade, Wissen; Grubmüller, Autorität; Grubmüller, Laiengelehrsamkeit; Grubmüller, Regel; Hasebrink/Schiewer, Predigt; Huber, C., Aufnahme; Huber, C., Wort; Hübner, Hofhochschuldozenten; Kästner, Wettstreit; Kellner/Strohschneider, Geltung; Kellner/Strohschneider, Poetik; Kern, P., Trinität; Kibelka, Meister; Krause, „milte“-Thematik; Lauer, C., Sänger-Rollen; Mäder, Streit; Müller, S., Bettelmönche; Obermaier, Nachtigallen; Ragotzky, Studien; RSM; Runow, Rezeptionsbedingungen; Schreiner, Laienbildung; Siebert, Astronomie; Stackmann, Vorstudien; Stolz, Artes-Dichtungen; Stolz, Artes-liberales-Zyklen; Strohschneider, Agon; Strohschneider, Institutionalität; Tervooren, Sangspruchdichtung; Wachinger, Beheim; Wachinger, Sängerkrieg; Wenzel, F., Meisterschaft.

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 Thematische Kerne

5 Kunst

Manuel Braun

Unter den Themen, die der Sangspruch behandelt, nimmt das der Kunst einen der hinteren Plätze ein; nur vergleichsweise wenige Strophen beschäftigen sich mit dem Singen selbst. Dieses Bild, das einem die Durchsicht der zentralen Autorkorpora des 13. Jahrhunderts vermittelt, entspricht nicht unbedingt dem, das die Forschung von der Gattung zeichnet. Denn diese hat sich intensiv mit den einschlägigen Texten beschäftigt und so die Bedeutung des Themas ‚Kunst‘ für den Sangspruch überbetont. Auch der sich im 14. Jahrhundert intensivierende meister-Diskurs mag für den Eindruck mitverantwortlich sein, wonach es sich beim Sangspruch um eine stark selbstbezügliche Gattung handele. Dass dieser Eindruck falsch ist, folgt schon aus der asymmetrischen Sprechsituation – sozial Niedriggestellte adressieren sozial Höhergestellte (Franz, Studien) –, welche die Autoren vor allem dann über sich selbst und ihr Tun sprechen lässt, wenn sie sich heischend oder lobend an die Herren wenden oder um deren Aufmerksamkeit buhlen; reine Selbstbezüglichkeit erschiene hingegen leicht als Selbstüberhebung. Der Hinweis, dass der Sangspruch selten über sich selbst spricht, soll helfen, den Anteil des Themas ‚Kunst‘ an dessen Semantik richtig einzuschätzen – und dieser ist eben weit geringer als der von Religion, Moral, Politik oder Wissen –, nicht aber die Bedeutung selbstbezüglicher Aussagen für die Erforschung der Gattung in Abrede stellen. Schließlich gibt es keine anderen zeitgenössischen Quellen zum (Selbst-)Verständnis der Autoren. Aussagen zur Kunst lassen sich am einfachsten über das RSM auffinden (vgl. dazu Körndle/Löser, Gesänge, S. 214). Sie kommen in drei Kontexten vor: in solchen, in denen die Sänger das Verhältnis zu ihren Kollegen klären (I), in solchen, in denen sie ihre Beziehung zum Publikum verhandeln (II), sowie in solchen, in denen sie andere Themen erörtern (III). Ihrer textnahen Untersuchung folgt ein Fazit, das auf Systematisierung, Evaluierung und Historisierung angelegt ist (IV). Vorauszuschicken sind der Textarbeit Bemerkungen zum Begriffsgebrauch, und zwar sowohl methodisch-theoretische als auch historisch-semantische. Was die Beschreibungssprache anbelangt, so lassen sich zwei Formen der Selbstbezüglichkeit unterscheiden (zum Folgenden Braun/Gerok-Reiter, Selbstbezüglichkeit): Selbstreferenz als einfache Bezugnahme eines Autors, eines Textes oder einer Gattung auf sich selbst und Selbstreflexion als gedankliche Durchdringung eines solchen Selbstverhältnisses (Pichler, Spiel, S. 65–74). Selbstredend ist das eine idealtypische Unterscheidung, und so gibt es zwischen Selbstreferenz und Selbstreflexion eine Zone der Überschneidung. Zusammen lassen sie sich auf den Begriff der Poetologie bringen (Obermaier, Nachtigallen, S. 12–16). Poetologische Aussagen im Sangspruch wären also solche über den Sänger, über die Verfertigung von Sang und dessen Vortrag, über das Gesungene sowie über dessen Aufnahme durch den Rezipienten. Schließlich berühren sich selbstbezügliche Äußerungen mit dem Konzept der Ästhetik, wobei

Kunst 

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man sich freilich darüber im Klaren sein muss, dass sie keinen kohärenten Zusammenhang bilden, sondern textspezifisch und kontextgebunden fallen (Braun, Kristallworte). Auch erheben sie keinen Anspruch auf begriffliche Konsistenz. Allenfalls in Einzelfällen rekurrieren die Sangsprüche auf vorgängige ausgearbeitete ästhetische Theorien, doch sind diese wiederum metaphysisch überformt. In Hinblick auf den Sangspruch von ‚Ästhetik‘ zu sprechen, bedeutet also eine Abkürzung für ‚Protoästhetik‘ – und hinter ihr stehen die Bedingungen der Vormoderne im Allgemeinen (Ästhetik als eigene philosophische Disziplin existiert noch nicht) und der volkssprachigen mittelalterlichen Literatur im Besonderen (zeitgenössische Theorien wie die Rhetorik beziehen sich nur auf die lateinische Literatur). In Bezug auf die Objektsprache ist festzuhalten, dass der Sangspruch zwar den Begriff der kunst kennt, ihn aber nicht unbedingt im modernen Sinne der ‚schönen Kunst‘ verwendet, sondern ihn mit Bedeutungen wie ‚Geschicklichkeit‘, ‚Wissen‘ oder – spezifischer – ars und scientia versieht (Braun, Ars, S. 69–73): Wer ich in künsten wîs alsô Plato was, ein Aristotiles unde ein meister Ipocras, Galienus unde ein Socrates, die wîsen; Virgilius kunst, Boecius, Cato, Seneca mite, Donatus, Beda: het ich al ir künste site, dennoch sô ne kundich nimmer vollen prîsen des hôch gelobeten vürsten lob volbrecht ich nicht, sîn ist mê und ie mêre. (Ruw. II,12,1–8)

‚Künste‘ sind zunächst einmal das, worüber antike Gelehrte wie Sokrates, Platon, Hippokrates, Galen und Aristoteles verfügen, also ‚Gelehrsamkeit‘ bzw. ‚Weisheit‘ (Lexer III, Sp. 936, s.  v. wîse), dann aber auch spezifischer jenes Wissen, das die artes liberales vermitteln, sind Vergil, Boethius, Cato, Seneca, Donat und Beda doch wichtige Autoren des universitären Bildungskanons (Hübner, Hofhochschuldozenten, S. 70  f.; Löser, Sängerkrieg, S. 105  f.). Wenn sich Rumelant von Sachsen für die eigene Tätigkeit, das Verfassen eines Fürstenlobs, also alle nur denkbaren ‚Künste‘ wünscht, dann zeichnet sich dieses durch reiche Kenntnisse aus, nicht durch seine ästhetische Faktur (die es durchaus aufweist, vgl. Runow, Rezeptionsbedingungen, S.  102  f.). Wenn Sangspruchdichter von ihrer kunst sprechen, klingt diese Bedeutung meist mit. Dazu kommt „das Können im Sinne einer Fähigkeit und Kundigkeit, im Sinne von Kompetenz“ (Obermaier, Nachtigallen, S.  311), womit auch die technisch-formale Seite gemeint ist (Boesch, Kunstanschauung, S. 13, 15). Wer über die entsprechenden Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, vermag sanc als kunst (ars) auszuüben. Mitunter hat man allerdings den Eindruck, dass sich die mittelhochdeutsche Semantik von ‚Kunst‘ auf die neuhochdeutsche hinbewegt.

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 Thematische Kerne

Das Verhältnis zu anderen Sängern Im Sangspruch sind die meisten selbstbezüglichen Äußerungen solche zu anderen Sängern und deren Sang. Zusammengestellt und aufbereitet werden sie durch die grundlegenden Studien von Burkard, Sangspruchdichter, Obermaier, Nachtigallen, und Wachinger, Sängerkrieg. Im Sangspruch erscheinen tote Kollegen meist als Vorbilder, lebende als Konkurrenten – besonders anschaulich wird diese Zuordnung bei Rumelant von Sachsen, der den Marner zu dessen Lebzeiten hart angeht, ihn nach seinem Tod aber würdigt (Löser, Feind, S. 532  f.). In die Form eines Totengebets kleidet Boppe das Lob Konrads von Würzburg (Burkard, Sangspruchdichter, S. 44–48). Er bittet Gott, es dem erwelten meister wert (Alx. I,21,18) anzurechnen, dass dieser ihn wolzungic (8) und wolklungic (10) gepriesen habe. Das Attribut der Meisterschaft drückt die Wertschätzung der Person aus, bei den ihm beigefügten Adjektiven handelt es sich um Neubildungen – wolklungic nimmt Konrads Prägung hôchklunge auf –, welche die rhetorische und die klangliche Qualität der Konradschen Dichtung hervorheben. Auch in Frauenlobs Totenklage fällt Konrads Name erst am Ende, was einen Spannungsbogen aufbaut, weil bis zum Schluss offengehalten wird, wem das an die kunst (GA VIII,26,1) gerichtete Lob gilt (Burkard, Sangspruchdichter, S. 101–109; Hübner, Lobblumen, S. 70–72; Obermaier, Nachtigallen, S. 200  f.). Frauenlob kleidet es in einer Reihe dunkler Metaphern aus der Botanik, der Astronomie und der Goldschmiedekunst, die sich nicht in wörtliche Bedeutungen übersetzen lassen, weil die Bildempfänger nur angedeutet sind (Stackmann, Bild, S. 453–459). Das erste Bildfeld verweist wohl auf die flores rhetorici bzw. das blüemen, das zweite evoziert die Vorstellung der himmlischen armonie (GA VIII,26,15), das dritte ist eng mit der Kunst selbst verbunden. Alle drei Bildfelder beschwören zudem den geblümten Stil des Verstor­ benen herauf, zum Teil vergegenwärtigen sie ihn durch Zitate aus dessen ‚Goldener Schmiede‘ (Haustein, Metaphern, S. 152). Damit bezieht sich der Spruch Frauenlobs in uneigentlicher Rede auf das Konzept der Rhetorik, belegt das Bewusstsein eines Autor- bzw. Epochenstils und bringt mit der Harmonie eine werkästhetische Kategorie ins Spiel, die sich aus dem metaphysischen Konzept der Sphärenharmonie herleitet. Schmuck schließlich steht gleichermaßen für Kostbarkeit wie für Kunstfertigkeit. Auch Rumelants Würdigung des ermordeten Marners bedient verwandte Register, wenn es dort heißt, dieser habe die Gottesmutter schône (Ruw. I,9,20) gelobt – ein Urteil, in dem sowohl der metaphysische Schönheitsbegriff mitschwingt als auch die Anerkennung des sprachlich-rhetorischen Aufwands. In einem Katalog gedenkt Hermann Damen der Toten Reimar, Walter, Robîn, Nîthart, / Vriderîch der Sůnenburgêre (Schl. III,4,1  f.). Offenbar macht es für ihn keinen Unterschied, ob sich ein Autor nur im Minnesang (Rubin, Neidhart) oder nur im Sangspruch (Friedrich von Sonnenburg) oder in beidem hervorgetan hat (Walther von der Vogelweide) – sie alle sind für ihn Sänger (welcher Reinmar gemeint ist, ist unklar, vgl. Burkard, Sangspruchdichter, S. 55  f.). Dabei gibt es durchaus Belege dafür, dass die Autoren zwischen Sangspruch und Minnesang unterscheiden (etwa den Nachruf des Marners auf verstorbene Minnesänger, Wms. 6,17). Offenbar besteht aber auch die

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Möglichkeit, beide Gattungen unter einem Konzept ‚Sang‘ zusammenzuziehen (wie das ja auch die Überlieferung tut). Hermann Damens Strophe fährt fort mit einem Lob des Marners und Heinrichs von Ofterdingen sowie Wolframs von Eschenbach und Klingsors von Ungarn und stellt so den Marner mit drei Protagonisten des ‚Wartburgkriegs‘ zusammen, denen man heute einen anderen, einen fiktiven Status zuschreiben würde, während sie hier unterschiedslos neben den faktualen Autor treten. Hermann Damen hebt den wîsen sin (Schl. III,4,59) der Genannten hervor und nennt ihre tichte […] meisterlîch (ebd., v. 63), billigt ihnen also Gelehrsamkeit zu. Dagegen spielt das die Strophe beschließende Urteil zum Sang der besten (ebd., v. 65) lebenden Meister, des Meißners und Konrads, ins Gebiet der Ästhetik hinüber, indem es deren Texten Qualitäten wie Gleichmaß und Proportion zuspricht: ir sanc gemezzen und ebene stât (ebd., v. 66). Der Kontext legt es nicht nahe, gemezzen hier auf das Silbenzählen zu beschränken – eine Bedeutung, die später die vorherrschende wird (Boesch, Kunstanschauung, S. 16). Offenbar greift hier der Modus des Lobs von den toten auf die lebenden Kollegen aus, denn sonst werden die Zeitgenossen zumeist angegriffen. Aufschlussreich ist hieran viererlei: 1. das Faktum der Kollegenschelte an sich, weil es ein Reflex der Lebens- und Schaffensbedingungen der Sänger ist, die vom Wettstreit um die Gunst des Publikums geprägt waren; 2. die dabei vorgetragene Kritik an anderen Sängern, weil sich aus ihr ex negativo die ästhetischen Ideale der Dichter rekonstruieren lassen; 3. kommen diese auch in der Sprache der Sangsprüche selbst zum Ausdruck, setzt die Polemik doch eine erhebliche Kreativität frei; 4. kann die Konkurrenz zu anderen Sängern narrativiert und fiktionalisiert werden, wofür der ‚Wartburgkrieg‘ das bedeutendste Beispiel darstellt. Insgesamt erweist sich das „agonale Muster […] als Faszinationskern“ des Sangspruchs, und so, wie es diese Kunstform prägt, bildet es auch den Rahmen für ihre „immer wieder forcierte[] Selbstbezüglichkeit“ (Wenzel, F., Souveränität, S. 172  f.). Zu 1. Ein Indiz dafür, dass die Angriffe auf andere Sänger Schlüsse auf die Konkurrenz der Sangspruchdichter erlauben, liefert deren Härte (s.  u. zum polemischen Sprachgebrauch), zumal Schmähungen ja leicht auf ihren Urheber zurückfallen. Ein weiteres stellt der Umstand dar, dass die Texte in ihrer überlieferten Gestalt nicht immer voll verständlich sind, was auf verlorene pragmatische Kontexte schließen lässt. Ein Beispiel hierfür liefert eine Strophe, die sich im Rumelant-Korpus von J findet, den Autor aber angreift: An Rûmelande  ich des wânde,  daz er kunde walten kluocher witze; nu dunct mir, her wolle swachem knechte louben, swaz her in sîn ôren liuget durch daz iâr. her hât den iungen  vor gesungen  und dar zuo den alten, daz ich im sîn singerlîn benæme; gar unrechte hât er mich gezigen an den dingen, daz ist wâr! (Ruw. VI,12,1–6)

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 Thematische Kerne

Unbekannt bleiben sowohl der Autor der Strophe als auch der Anlass, aus dem heraus er Rumelant die Freundschaft aufkündigt (Ruw., S. 258  f.). Angeblich hört dieser auf die lügenhafte Einflüsterung eines swache[n] knecht[s], der überall verbreitet, dass er im sîn singerlîn benæme. Wer bzw. was das singerlîn ist – ein Schüler? ein Spielmann, der Rumelants Werke vorträgt? –, liegt genauso im Dunklen wie die Identität des Verleumders (Wachinger, Sängerkrieg, S.  181; Löser, Bewertungskategorien, S.  392). Und ob die Strophe eine Replik auf einen Text Rumelants darstellt (Krn., S. 550  f.) oder ob sie sich nur auf Ereignisse in dessen Umfeld bezieht, lässt sich ebenfalls nicht sagen. Solche Lücken sind ein Hinweis darauf, dass Sangsprüche, die sich Konkurrenten vornehmen, tief in soziale Situationen eingelassen sind, aus denen heraus sie erst voll verständlich werden. Wie sehr diese durch die Sorge um materielle Zuwendung bestimmt ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Sangspruchdichter gegen (Bettel-) Mönche wettern (Kästner, Wettstreit), die zwar nicht singen, aber eben auch Almosen erbitten: man sol geistliche müniche nicht sere uberkrupfen (Meißner Obj. XVII,13,7). Auch gegen die Spielleute suchen sich die Sangspruchdichter abzugrenzen, um ihre Pfründe zu sichern (Boesch, Kunstanschauung, S. 226–234; Franz, Studien, S. 77–82; Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 30, 33  f.); entsprechend lassen sie ihre Konkurrenten auf dem messetage, also auf dem Jahrmarkt, liren (Konrad von Würzburg LDM C KonrW 113,10  f.; vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 162  f.). Zu 2. Aus der Kritik, die die Autoren an ihren Kollegen üben, lassen sich die folgenden Kriterien für gute Sänger und guten Sang gewinnen: P r o d u k t i v i t ä t : Wenn Walther von der Vogelweide (oder ein Sänger, der ihn verteidigt) gegen Volcnant polemisiert, sagt er, er bringe mehr zu Stande als sein Gegner: singent ir einz, er singet driu (L. 18,9/Bein 8a[C],9; vgl. Herrmann/Wenzel, Wicman, S. 17; Obermaier, Nachtigallen, S. 167). Vielleicht steht hinter dieser Ansage eine Praxis des Wettdichtens, bei der es auf den ‚Output‘ ankommt. V i e l s e i t i g k e i t : Des Weiteren behauptet Walther, über ein reicheres Register lyrischer Formen zu verfügen als sein Gegner: her Walther singet, swaz er wil, / des kurzen und des langen vil (L. 18,11  f./ Bein 8a[C],11  f.). Das Kriterium der Länge könnte sowohl auf die Beherrschung unterschiedlich ausgebauter Vers- oder Strophenformen als auch auf die unterschiedlicher Gattungstypen (Sangspruch, Minnelied, Leich) oder rhetorischer Register (brevitas versus dilatatio, so Ebbinghaus, Walther) verweisen (zur Unterbestimmtheit der Formulierung Wachinger, Sängerkrieg, S. 110). Implizit erhebt Walther hier den Anspruch, ein vielseitiger Autor, beschlagen in allen Arten des Singens, zu sein. Das Verfügen über eine Vielfalt lyrischer Subtypen thematisiert eine Strophe Reinmars des Fiedlers auf Leuthold von Seven: tageliet klageliet hügeliet zügeliet tanzliet leich er kan, / er singet kriuzliet twingliet schimpfliet lobeliet rüegliet alse ein man / der mit werder kunst den liuten kürzet langez jâr (KLD 45,III: 1,4–6). Das offensichtlich ironisch gemeinte Lob auf das reiche Inventar an Gattungstypen (Burkard, Sangspruchdichter, S. 183–185), über das Leuthold gebietet (oder das er sich von anderen Autoren angeeignet hat; vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 130  f.), ist ein weiterer Beleg dafür, dass auch der Sangspruch Vielseitigkeit verhandelt. O r i g i n a l i t ä t : Der Marner wirft Reinmar von Zweter vor: du núwest mangen alten vunt (Wms. 3,3,2). Unabhängig davon, worauf sich diese Anschuldigung konkret bezieht und ob sie die Neuheit in der Dichtung nun einfordert oder verwirft (dazu Wachinger, Sängerkrieg, S.  123  f.; Haustein, Marner-Studien, S. 17–19; Löser, Sängerkrieg, S. 108; Willms, Anmerkungen, S. 338–340), lässt sich festhalten, dass Eigenständigkeit im Sangspruch thematisch wird. Sie ist allerdings nicht als absolute zu verstehen, vielmehr zeigt sie sich nur im Verhältnis zu vorhandenen Mustern (zur Bedeutung von

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Traditionsbezügen im Sangspruch vgl. Löser, Bewertungskategorien, S. 380). Dazu passt es, wenn man die Beschimpfung Reinmars als dœnedieb (Wms. 3,3,16) dahingehend deutet, dass sie einen Verstoß gegen die Anforderung anprangert, nur eigene metrisch-musikalische Formen zu verwenden (Bein, Untersuchungen, S. 126  f.), aber auch die Lesung als ‚Tönewiederholer‘ (Löser, Sängerkrieg, S. 108) oder als ‚Kunstverderber‘ impliziert einen Traditionsbezug (Haustein, Marner-Studien, S. 22); die alternative Auffassung, wonach sie auf den unrechten Erwerb von Lob mittels der vorgetragenen Töne abzielt (Wachinger, Sängerkrieg, S. 125  f.; Burkard, Sangspruchdichter, S. 153), verlässt den thematischen Kontext der Neuheit hingegen. S t i l : Dass es unterschiedliche Stilregister und Stilhaltungen gibt, sodass die Sangspruchdichter wählen können, ist eine Vorstellung, auf die man häufiger trifft. Die Wahl eines Stils ist nicht beliebig, sondern unterliegt einer Bewertung, und entsprechend scheint hinter dem falschen Sprechen der Konkurrenten das richtige auf. Wenn Walther klagt, bei seinem Publikum nicht mehr durchzudringen, erklärt er das damit, dass er zu vorsichtig formuliert: Nû wil ich mich des scharpfen sanges ouch genieten, dâ ich ie mit vorhten bat, dâ wil ich nû gebieten. ich sihe wol, daz man hêrren guot und wîbes gruoz gewalteklîch und ungezogenlîch erwerben muoz. Singe ich mînen höveschen sanc, sô klagent siz Stollen. dêswâr ich gewinne ouch lîhte knollen, sît sî die schalkheit wellen, ich gemache in vollen kragen. (L. 32,7–14/Bein 12[C mit A],IV,1–7) Sein Sang, den Walther mit dem Etikett des Höfischen versieht, steht in der Gunst des Publikums hinter dem Stolles zurück. Der Rest des Zitats vermittelt eine Vorstellung davon, wodurch sich Walthers Stilregister von dem seines Konkurrenten unterscheidet, nämlich durch eine vornehme Zurückhaltung, die polemische Schärfe genauso meidet wie unverfrorene Heische (Kralik, Kärntner Sprüche, S. 357). Seine Klage verwandelt sich dem Stil der Gegner freilich insofern an, als die Drohung, künftig auch anders zu reden, deutlich derb daherkommt (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 230). Der Vorwurf der schalkheit versieht ein solches Sprechen mit einem ständisch-moralischen Vorzeichen, meint diese doch die niedrige Gesinnung des Knechts und des Betrügers (Kralik, Kärntner Sprüche, S. 369–371), während die Anspielung auf wîbes gruoz den Minnesang in die Strophe hineinholt (Unzeitig, Wîbes gruoz). In eine ähnliche Richtung weist eine Strophe, die entweder Boppe (so die Zuschreibung in C) oder dem Meißner (so der verwendete Ton) oder keinem von beiden (so Wachinger, Sängerkrieg, S. 157) zugehört, indem sie einem ungenannten Gegner vorwirft, zuviel schal (Meißner Obj. Ia,2,6/Alx. III,2,6) zu verursachen. In diesem Vorwurf verbirgt sich die Vorstellung, dass der Lautstärke des Auftretens ein Maß gesetzt ist. Ob diese nur vom schieren Schalldruck bestimmt ist oder auch von der Art des Sprechens abhängt, bleibt offen. Auch die in der Folgezeile aufgereihten Metaphern, die den Sang des Opponenten erst mit dem Muhen der Kühe, dann mit dem Geschrei der Frösche und schließlich mit dem Gegacker der Hühner identifizieren, ermöglichen es nicht, einen genauen Kritikpunkt und damit ein bestimmtes ästhetisches Prinzip auszumachen, doch umspielen sie Ideale wie Geformtheit, Ordnung oder Harmonie. In der über zwei Strophen geführten Auseinandersetzung Rumelants von Sachsen mit dem Marner wird das rechte Maß eingefordert, das auch bei der Entfaltung der Kunst zu wahren ist; gekleidet ist sie in eine Allegorie von Fluss, Mühle und Müller (zum Verständnis der Strophen Krn., S. 375–382; Ruw., S. 222–224). Laut der ersten Strophe gleicht der Strom der Marnerschen Kunst einer übervlüete, die den Deich mit ungevuoch durchbricht und so die Mühle leer lässt (Ruw. IV,4,5  f.). Er treibt aber dann doch, so die zweite Strophe, drei Räder an, das erste mahlt die lateinische Dichtung,

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 Thematische Kerne

und zwar mit guten Ergebnissen: des vil dîn kunst geniuzet, doch bleibt diese für Rumelant selbst ohne Bedeutung: dar umme endanke ich dir nicht sêre grôzes wâges (ebd., IV,5,3  f.). Das zweite Rad zerkleinert das Schwäbische, seine Produkte werden verworfen: dîn diutsch ist uns ze dræte (ebd., v. 5), also etwa zu ‚schnell‘ bzw. zu ‚vorlaut‘ (Wachinger, Sängerkrieg, S. 166) oder zu ‚überhastet‘ (Haustein, Marner-Studien, S. 45). Das dritte wird auf das Alter des Marners hin ausgelegt und gipfelt in dem Satz: nû ist dîn kunst verkunstet (Ruw. IV,5,7). Da das Verb verkunsten ein Neologismus ist, muss offenbleiben, ob es eher das altersbedingte Ende des Könnens des Marners meint oder dessen manierierten Stil. In jedem Fall entwickelt Rumelants Strophenpaar vor der Folie des Marners das Leitbild einer Kunst, die jedes Zuviel zu vermeiden versucht. Was da vorgeblich zu viel ist, lässt auch der mitgelieferte Schlüssel der Allegorie offen, sodass lediglich das Prinzip der modestia bzw. der vuoge klar hervortritt. Der Kontext der Strophen macht es wahrscheinlich, dass dieses hier im stilistischen, nicht im ethischen Sinn verstanden ist, da in der rhetorischen Gestaltung ein Übermaß eher denkbar ist als in der Tugend(lehre). W i s s e n , W a h r h e i t , We i s h e i t : Der Anspruch, den die eigene Kunst erhebt, wird häufig auf einem Fundament von Wissen errichtet (Hübner, Hofhochschuldozenten). Wem es an diesem gebricht, der setzt sich auch dem Vorwurf der Lüge aus: Swer valsch singet, der mac wol wesen kunsten blint (Meißner Obj. XII,1,9). Dass der Meißner Wissen derart eng mit Wahrheit verknüpft – die Strophe überblendet die Opposition ‚valsch/richtig‘ mit der von ‚wahr/unwahr‘ –, ist eine Folge seines Gegenstandes, denn er behandelt die Naturkunde und damit die Religion. Fehler in der Sache verderben folglich das Werk: Swer sanc, daz der fenix vurbrinne sich in viure / unde werde wider lebende, des sanc ist ungehiure (ebd., v. 4  f.). Spruchdichtung, die sich wie die des Marners auf die volkssprachige ‚Physiologus‘-Tradition bezieht (Haustein, Marner-Studien, S. 38  f.), sie aber insofern verfälscht, als sie dem Vogel Phönix eine Wiedergeburt zuschreibt, wo doch aus der Asche des alten ein neuer Vogel ersteht, ist ‚unlieblich‘, ja ‚ungeheuer‘ (Lexer II, Sp. 1837, s.  v. ungehiure). Die ‚richtige‘ bzw. ‚wahre‘ Kunde – Kunst und Wahrheit sind hier unmittelbar ineinander verschränkt (Egidi, Sängerpolemik, S. 41) – über den Phönix, den Strauß und den Pelikan samt Auslegungen liefern drei weitere Strophen des Meißners, dessen Kritik an angeblich konkurrierendem Wissen mithin die Geltung des eigenen Sangs sichern soll (Wachinger, Sängerkrieg, S. 154). Eine Strophe des Marners greift genau diesen Anspruch (und möglicherweise auch seinen Vertreter, den Meißner) an und wirft dem ungenannt bleibenden Opponenten das Prahlen mit Wissen vor: er hat die liste erkunnen, / e er geboren wart (Wms. 5,3,7  f.). Auch hier ist es Wissen über die Natur – genauer: über die Astronomie –, über das gestritten wird, und auch hier ist das Argument am Ende ein religiöses: ja, er ubersinnig tumber gŏch, / lasse uns ein lútzel got geben sinnes ŏch; / er kúnste git im nah sinem dunke (ebd., v. 18–20). Der angebliche Anspruch des Gegners, den Lauf der Gestirne zu kennen und damit seinen Rang als Sänger zu erweisen, erscheint als Hybris, weil er übersieht, dass das Dichtungsvermögen von Gott gegeben wird (Haustein, Marner-Studien, S. 41). Noch massiver formuliert das Rumelant von Sachsen, wenn er sich die Behauptung Singaufs vornimmt, es an Weisheit mit vier Konkurrenten aufnehmen zu können: sich hielt ein engel alze hô, den Got verstiez, der wart unvrô. swer alsus tuot, deme schicht alsô. Got selber dreuwet dise drô: hôchvart vor Gote ne hât neheinen dinger. (Ruw. VIII,2,13–17) Singaufs Hochmut erscheint als luziferisch und wird von Gott mit dem Höllensturz bestraft (Löser, Feind, S. 521  f.). Gegründet ist er – so der Aufgesang derselben Strophe – auf ein Wissen, das zur göttlichen Weisheit verdichtet erscheint:

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Der sich sô hô gesetzet hât mit sange in meistersinger grât, daz ein durchgründet meister nicht müez’ mit im kunst allieren, swie gar durchgründich wîs her sî, her gebe im spæher meister drî ze helfe: und solte ich halten phlicht, ich hieldez mit den vieren. (Ruw., VIII,2,1–8) Seiner angeblichen Selbsteinschätzung zufolge übertrifft Singauf seine Konkurrenten dadurch, dass er durchgründich wîs ist. ‚Meisterschaft‘ gründet demnach auf Weisheit, auch das Adjektivattribut spæhe gehört in dieses Wortfeld. Die zweite Strophe, mit der Rumelant Singauf entgegentritt, führt diese auf Buchwissen (Löser, Bewertungskategorien, S. 373) zurück: nu lobe den Mîsner, der kan mê / wen du, her leset in buochen (Ruw. VIII,3,3  f.). Auch Konrad von Würzburg übertrifft Singauf dank seiner Literarizität: der schrift in buochen kunde hât, / dâ von ist sîn getichte vil die reiner (ebd., v. 11  f.). Die Buchgelehrsamkeit läutert also die Dichtung, indem sie sie vor Fehlern bewahrt, wie sie Rumelant Singauf vorhält (Löser, Feind, S. 522  f.). Es ist bezeichnend, dass Singauf zwei Rätselstrophen benutzt, um seine Überlegenheit im Wissen zu behaupten. Denn das Rätsel ist eine Gattung, die Kommunikation über Wissen institutionalisiert: Ein Wissender bringt einen Unwissenden durch seine Frage dazu, seinerseits nach Wissen zu streben (Jolles, Formen, S. 129  f.). Damit ist das Rätsel „eine Prüfung des Ratenden, eine Untersuchung seiner Ebenbürtigkeit. Darüber hinaus aber enthält die Frage einen Zwang“ (ebd., S. 134). Wenn man aber den Rätselsteller wie den Rätsellöser als Vertreter einer Gruppe versteht, dann muss Ersterer „bei der Verrätselung dafür […] sorgen, daß der Ratende bei der Enträtselung seine Würde, seine Ebenbürtigkeit zeigt“ (ebd., S. 135). Auf den Sangspruch bezogen, bedeutet das, dass der Sänger zwar sein Wissen demonstrieren kann, indem er ein Rätsel stellt (Bulang/Runow, Allegorie, S. 28  f.), dass er es dabei in Rücksicht auf sein Publikum aber nicht übertreiben darf und sein Rätsel lösbar bleiben muss (zur Frage der Lösbarkeit von Rätseln Tomasek, Rätsel, S. 12–20). Anders ist das, wenn das Rätsel an Kollegen adressiert ist, weil hier Über- und Unterordnung gewollt sind. Genau diese werden im Singauf-Rumelant-Streit verhandelt. So kann Singaufs Anspruch, ein unlösbares Rätsel zu formulieren, von Rumelant auch nur als Provokation aufgefasst werden. Nur aus Gründen der Vollständigkeit soll erwähnt werden, dass der Sangspruch neben dem ernsten auch das spielerische Rätsel kennt (zu dieser Unterscheidung Tomasek, Räsel, S. 10–12), in dem etwas so harmloses wie die Laus zu erraten ist (Boppe Alx. I,16). Auch sind Ernst und Spiel beim mittelalterlichen Rätsel nicht immer strikt getrennt (Tomasek, Rätsel, S. 22  f.). In ein ironisches Dichterlob kleidet der unbekannte Autor einer Strophe, die in der FrauenlobSammlung von J überliefert ist, seine Feststellung, Dichtung setze ein gelehrtes Wissen und dieses wiederum ein gewisses Alter voraus (Wachinger, Sängerkrieg, S. 279; Löser, Bewertungskategorien, S. 384). Das Ziel der Invektive wird als Kind mit frischem Bartflaum verspottet, das zwar das 13. Lebensjahr noch nicht erreicht habe, aber bereits mit seinem Wissen renommiere. Entsprechend gilt ihm die einleitende Frage: Wa bistu gewest zu schule, / daz du so hohe bist gelart? (GA VII,42 G,1  f.). Das ist zum einen wieder spöttisch gemeint – der Gegner hat noch nicht einmal die Schule besucht –, zum anderen zeigt es aber auch, dass Schulbildung die Voraussetzung dafür ist, als Sänger uf meisters stule (ebd., v. 7) zu sitzen. Dass das Wissen, das sie vermittelt, ein gelehrt-geistliches ist, zeigt das ironisch übertreibende Lob, wonach kein Geistlicher und kein Sänger in ganz Deutschland dem Angegriffenen gleichkämen. Neben das Wissen tritt die wisheit (ebd., v. 19), die hier als Gabe Gottes gesehen wird. Sie wird freilich von den Sangspruchautoren eher selten beansprucht (Stackmann, Vorstudien, S. 92–94; zur Semantik von mhd. wîsheit Löser, Bewertungskategorien, S. 372).

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Während in den bislang untersuchten Texten das Wissen, auf dem die Autorität des Autors aufruht, in den Bereich der Religion hinüberspielt (als Naturkunde, als Weisheit, als Buchwissen), steht diese in der Entgegnung (Pseudo-)Stolles auf eine Strophe des Hardeggers im Zentrum. Dabei geht es um das Thema der Sündenvergebung. Der Hardegger fordert den Menschen auf, seine Schuld gelten gar (Zapf J. 5,15), was Stolle – so die unsichere Autorzuschreibung in J (Wachinger, Sängerkrieg, S. 134) – aufgreift, um dieser bußtheologischen Aussage, welche die Bedeutung der vollständigen Wiedergutmachung betont, eine eigene entgegenzusetzen, die stärker auf die Gnade Gottes abhebt und Reue und Beichte als entscheidend für dessen Vergebung ansieht (genauer Wachinger, Sängerkrieg, S. 135–137; Mertens, Rezension, S. 15  f.). Dem Opponenten wird dieser Fehler vorgehalten: waz hat der Hartecker an uns gerochen, / Daz er so gar vurgezzen hat / an sime liede, daz got ist also milte (Zapf J. 6,8–10). Der Hardegger wird als Urheber der theologisch falschen Position namentlich genannt, und er wird dafür kritisiert, in seinem Sangspruch (liet) die Großherzigkeit Gottes übersehen zu haben. Der Sprecher gliedert sich in die Gemeinschaft mit dem Publikum ein (uns) und bildet mit ihm – das gibt der Gegenstand vor – eine christliche Gemeinde, wodurch er seinen Gegner latent aus dieser hinausdrängt. R i c h t i g k e i t : sîn liet ist valsch (Ruw. XI,2,5) – so urteilt Rumelant über die Rätselstrophe Sing­ aufs, um diesem Verdikt die inhaltliche Korrektur folgen zu lassen, wonach der Schlaf nicht so alt sei wie der Mensch. Damit tritt ‚sachliche Richtigkeit‘ als Kriterium hervor, das an Sangsprüche herangetragen wird. In der bereits zitierten Invektive des Marners gegen Reinmar von Zweter erscheint es in Gestalt der Anforderung, der Sangspruch solle die Dinge korrekt benennen. Der Gegner hingegen verzerre sie: dir wirt us einem orte ein pfunt (Wms. 3,3,4; ein orte ist nach Lexer II, Sp. 171, ein Viertel Pfennig) und: dir wirt us einem tage ein jar, / ein wilder wolf wirt dir ein hunt, / ein gans ein gŏch, ein trappe ein star (Wms. 3,3,6–8). Die Dichtungen Reinmars sind demnach voller Fehler, sie verkennen sowohl Quantitäten wie Qualitäten und verfehlen damit das Wesen der Dinge. Dass der Marner die rhetorischen Prinzipien der Lügendichtung genau gekannt hat, belegt sein eigener Lügenspruch und macht seine Poetologie zum Produkt der Polemik (Wachinger, Sängerkrieg, S. 122; Haustein, MarnerStudien, S. 16  f.). Auch ethische Urteile können falsch sein. Das jedenfalls behauptet Rumelant von Sachsen: Heralt ein singer was genant, des muot was sô verkêret, / der sanc den bœsen herren lob unde schalt die guoten (Ruw. IV,26,1  f.). Da ein Sangspruchdichter namens Heralt nicht bekannt ist und da die Strophe einen Adeligen als möglichen Empfänger eines Heralt-Lobes denunziert, ist zu vermuten, dass der angegriffene Kollege einen Platzhalter darstellt. Dennoch formuliert die Strophe den Anspruch, dass das Fürstenlob in moralischer Hinsicht zutreffen muss, es also keine Schmeichelei darstellen darf.

Zu 3. Die Beschimpfungen der Konkurrenten sind selten subtil, aber oft kreativ. Beispielsweise bringen sie neue Komposita hervor: her dunkelguot, her erenniding, / her galgenswenkel, […] her niemansvriunt (Meißner Obj. Ia,2,1  f./Boppe Alx. III,2,1  f.). Schon diese Komposita sind zum Teil metaphorisch, und Metaphern sind auch ein weiteres sprachliches Mittel zur Bloßstellung des Gegners: er fúrvras, stahel kúwender munt, / er berges slunt (Marner Wms. 5,3,4  f.). Hier etwa vermitteln die Bilder den Eindruck eines Großsprechers. In beiden Zitaten ist ein Prinzip der Textorganisation angelegt, das Komik auf Kosten des Gegners zu erzeugen vermag: der Katalog. Witzige Wortspiele sind ein weiteres Mittel, um den Konkurrenten zum Gespött zu machen. Ansetzen können sie an dessen Namen: Sing ûf, sing abe, sing hin, sing her! (Ruw. VIII,2,9). Rumelant verspottet Singauf, indem er dessen Namen als sprechenden auffasst und ihn zudem vervierfacht, womit er dessen Anspruch aufspießt, es gleich mit vier Gegnern aufzunehmen (Obermaier, Nachtigallen, S. 215; Löser, Feind, S. 521,

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524  f.; Krn., S. 586). Falls es sich bei ‚Singauf‘ um einen Künstlernamen handelt, wird dieser mit angegriffen (Wittstruck, Namengebrauch, S.  147; Löser, Sängerkrieg, S. 110). In einer anderen Strophe verrätselt Rumelant den Spott auf den Namen des Marners. Das lässt die Beziehung des Rätsels zur Sprache hervortreten, nutzt es diese doch auf eigene Weise – André Jolles spricht von einer „Sondersprache“ (Formen, S.  142  f.), die jüngere Literaturwissenschaft hebt auf die Verschlüsselung ab und benennt etwa Vagheit und Tropen als deren Mechanismen (Tomasek, Rätsel, S. 27–49; Bismark/Tomasek, Rätsel, S. 212) –, sodass solche Rätselstrophen als sprachreflexiv begriffen werden können. Das zeigt sich auch am Rumelant-Beispiel: Ren, ram, rint – rechte râten ruoch nâch meisterlîcher orden: wie mac daz wunderlîche wunder sîn genennet? […] ez ist ein ren der wildicheit, ein ram der unbehende, der zucht ein rint […] (Ruw. IV,7,1–6).

Die ersten beiden der sechs durch die r-Alliteration verbundenen (Schimpf-)Wörter enthalten die Lösung des Rätsels: Rückwärts gelesen (zur Medialität Runow, Rezeptionsbedingungen, S.  105  f., zur Originalität des Palindroms Wachinger, Sängerkrieg, S. 168) bedeuten sie den Namen ‚Marner‘. Den Tiernamen Ren, ram, rint wird im Verlauf der Strophe eine Ausdeutung beigefügt, die deren schmähenden Charakter unterstreicht und dem Gegner Gesinnung und Erziehung ab- und Ungeschicklichkeit zuspricht (Wittstruck, Namengebrauch, S. 153). Der Scharade, in die der Meißner sein Marner-Namensrätsel kleidet – Marn was sin vleisch, groz was sin ere (Obj. II,18,9; vgl. Burkard, Sangspruchdichter, S. 158  f., 166) –, geht das erste bekannte deutsche Abecedarium voraus: Aleke bat Cunzen dem ein friunt gab hechte / in Kreken lant man nam of pant quam rechte / schalkes tat vur Xristofer ym zů selbe sprach (Obj. II,18,1– 3). In dem angeblichen Rätsel – sliez of den sin (ebd., v. 5), fordert der Sprecher der Strophe den Rezipienten auf – verbirgt sich wohl nur Unsinn, und dieser färbt auf das folgende Namensrätsel ab, da der Marner aus ihm lere (ebd., v. 7) zu gewinnen sucht (Wachinger, Sängerkrieg, S. 152  f.; Wittstruck, Namengebrauch, S. 155–158; Tomasek, Rätsel, S. 296  f.). Insgesamt verweist der Text in seiner Komplexität auf konzeptionelle Schriftlichkeit (Runow, Rezeptionsbedingungen, S. 99–102). Anklänge an das Rätsel zeigen auch die Equivoca des Meißners, in denen die durchgehende Verwendung von Homonymen die spöttischen Aussagen manchmal an die Grenze des Unsinns treibt (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 261): Ein snellez rat  lief unde rat. daz selbe rat  trieb Cůnrat, der bůch unrat.  gůt was der rat. nu rat den rat mit můzen. (Obj. XIII,3,1–4)

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Die Aufforderung zu raten weist den Text als Rätsel aus. Dass dessen Kern die Kritik eines Kollegen ausmacht, zeigt die Nennung Konrads (von Würzburg? dazu Burkard, Sangspruchdichter, S. 170–174) als desjenigen, der das Rad in Bewegung versetzt hat, und seine Attribuierung als ‚Unrat der Bücher‘, was entweder meint, dass er diese bzw. die in ihnen enthaltene Dichtung verdirbt oder dass es ihm an ihnen bzw. ihrer Kenntnis gebricht (Wachinger, Sängerkrieg, S. 161  f.). 4. Text- und strukturbildend ist die Sängerkonkurrenz im ‚Wartburgkrieg‘ geworden (grundlegend Wachinger, Sängerkrieg, S.  1–89; Hal.). Auf diesen Namen hat die Forschung zehn Strophenkomplexe getauft, die vom 13. bis ins 15. Jahrhundert in Thüringen entstanden und einen lokal verankerten Gattungstyp sui generis ausbildeten. Ihr Grundmuster ist das Gegeneinander der Sprecher, denen die einzelnen Strophen zugeteilt werden. Der ‚Wartburgkrieg‘ lässt sich also zunächst einmal als Dialog beschreiben – dieses Bauprinzip sichert seine Kohärenz (Wenzel, F., Textkohärenz, S. 324) –, jedoch ist er über seine Strophik und seinen Inhalt mit dem Sangspruch verbunden; zudem weist er einige narrative Passagen auf. Im Agon messen sich – in jeweils unterschiedlicher Besetzung – die Sänger Biterolf, Heinrich von Ofterdingen, Klingsor von Ungarn, Reinmar von Zweter, der Tugendhafte Schreiber, Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Die Entscheidung in ihrem kriegen – „kriec ist die wichtigste poetologische Metapher der Selbstbeschreibung der ‚Wartburgkriege‘“ (Kellner/Strohschneider, Poetik, S. 339) – führen nicht nur künstlerische Fähigkeiten herbei, sondern auch theologische Kenntnisse. Insofern ist der Dissens immer schon entschieden, weil eine Position als die gute respektive wahre privilegiert ist (Strohschneider, Agon, S. 107). Am unmittelbarsten verschränkt sind Dichten und Wissen im Rätsel (Tomasek, Rätsel, S. 220–252). Zentral ist dieses im ‚Rätselspiel‘ (um 1230/1240) – die Namen der einzelnen ‚Wartburgkrieg‘-Teile gehen auf Karl Simrock zurück –, in dem Wolfram von Klingsor Rätsel gestellt werden, deren Lösung religiös-allegorisches Wissen erfordert. Hier wird das Wesen des Rätsels als „Streit“ (Jolles, Formen, S. 145) also strukturbildend. Der Autor Wolfram tritt gegen Klingsor und damit gegen eine jener Figuren aus seinem ‚Parzival‘ an, die dort eine ephemere Existenz führen, indem sie nie selbst auftreten (Bulang, Intertextualität). Auch jenseits dieser Metalepse bezieht sich der ‚Wartburgkrieg‘ in vielfältiger Weise auf Wolframs Epen; so stammt seine Autorrolle aus dem ‚Willehalm‘-Prolog: Wolfram ist ein Christ und Laie, der über vielfältige Kenntnisse verfügt – diese schließen die Einsicht ein, dass dem Wissen eines illiteratus Grenzen gesetzt sind – und so den Heiden und meisterpfaffe(n) (Hal. L 22,2) Klingsor (samt dem Teufel Nasion) besiegen kann. Dieser Rollenentwurf weicht von dem Selbstbild ab, das die Sänger im meisterlichen Sangspruch von sich zeichnen (Hal., S. 121  f.). Indem Wolfram die Rätsel mit derselben Souveränität löst, mit der er ihre Lösung verweigert, nutzt er die verschiedenen Varianten der Rätselstruktur, nämlich die des Examens, bei dem das Rätsel unbedingt enträtselt werden muss, und die des Prozesses, bei dem es gerade nicht enträtselt werden darf (Jolles, Formen, S. 131–133). So stellt auch das ‚Rätselspiel‘ die Frage nach der Geltung des Sangs und der Bedeutung des Wissens,

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auch wenn es sie anders beantwortet als der Sangspruch (Kellner/Strohschneider, Geltung, S. 160–162; Strohschneider, Textualität, S. 31). Sein Schluss spielt (auch) in eine andere Gattung hinüber, mit der sich der ‚Wartburgkrieg‘ ebenfalls berührt, nämlich in die erzählende Literatur: Wolfram trägt der auf der Wartburg versammelten thüringischen Hofgesellschaft die Geschichte Lohengrins vor. Dass sein Auftritt mit dem Horant(s) vor der künigin Hilden (Hal. L 30,9) aus der Kudrunsage überblendet wird, belegt ebenfalls die intertextuelle Faktur des Textes. Für die Vorstellung vom Sängerkrieg wiederum ist das ‚Fürstenlob‘ (um 1260/1270) zentral, in dem Heinrich von Ofterdingen die Sänger des Thüringer Hofes herausfordert. Die Situation, in der es zum Schlagabtausch kommt, wird teils von einem Sprecher  – er übernimmt Funktionen des Erzählers und des Autors (Wachinger, Sängerkrieg, S. 62  f.) –, teils in (pseudo-)referentialisierenden Äußerungen der Sänger entworfen. Sie entspricht einem Gerichtskampf, der klären soll, ob Heinrich seinen Gönner, den Herzog von Österreich, besser lobt als die einheimischen Sänger den ihren, den Landgrafen von Thüringen, und ob er so seine künstlerische und dessen adelige Suprematie durchsetzen kann (Kellner/Strohschneider, Geltung, S. 149– 151). Nacheinander tritt er gegen den Tugendhaften Schreiber, Biterolf, Reinmar, Wolfram und Walther an – Autoren, die teilweise am Hof Hermanns I. belegt sind. Gespielt wird mit höchstem Einsatz, dem Leben, entsprechend heißt die Auseinandersetzung auch kamph[] (Hal. JBa 1,9; vgl. Kellner/Strohschneider, Poetik, S. 345– 347), was auf allegorische Art aussagt, dass Singen einen Existenzkampf bedeutet (Löser, Sängerkrieg, S. 87). Die Sänger fungieren als Richter, und sie urteilen „selbständig und nach ästhetischen Kriterien“ (Kellner/Strohschneider, Geltung, S. 151). Die Entscheidung führt „Walther von der Vogelweide durch seinen virtuosen Einsatz von Vergleich und Metapher“ (Kellner/Strohschneider, Poetik, S.  350) herbei, jenen rhetorischen Mitteln, die auch die Sangsprüche seines historischen Vorbilds auszeichnen. Die Kunst des Sangspruchs – das ‚Fürstenlob‘ bezieht sich in Form und Gehalt unmittelbar auf sie – erscheint so als bedeutsam, vor allem aber als pragmatisch eingebunden, und zwar in den Wettbewerb, in die Rechtspraxis und in die Panegyrik. Dass der Text vom Fürstenpreis handelt und zugleich ein solcher ist, zeigt seine selbstreflexive Struktur (Hal., S. 206–216). In der textexternen Gegenwart gelobt werden die Nachfolger jenes Hermann, der textintern das Ideal eines freigebigen Fürsten verkörpert; auch die Sänger an seinem Hof gehören einer Vergangenheit zu, die als vorbildhaft empfunden wird (Wachinger, Sängerkrieg, S. 64  f.). Und dass die Sänger selbst den Sieger küren und dass die Gabe, die sie empfangen, ein Moment der ‚Anökonomie‘ enthält, deutet, der pragmatischen Einbindung zum Trotz, die Verselbständigung der Kunst gegen Herrschaft an (Kellner/Strohschneider, Geltung, S. 153–156). Der Sängerkrieg ist für eine Fortsetzung offen: Als Heinrich zu unterliegen droht, schlägt er vor, Klingsor als Helfer herbeizuholen. Aussagen über die Kunst fallen im ‚Wartburgkrieg‘ nur wenige. Etwa erscheint im ‚Fürstenlob‘ das gelehrte Buchwissen als Grundlage des Sangs, und zwar in verschiedener Weise: als meisterliches Wissen überhaupt (min ticht, daz ist von meis-

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terkünsten slecht, Hal. JBa 7,13), aber auch als konkreter Text (Alexanders buch han ich gelesen, Hal. JBa 3,11). Diese Texte werden, so Klingsor in ‚Zabulons Buch‘, vom Sänger vertont (bring ichz in der Düringer herren don, Hal. C 5,16), was heißt, dass sie den Melodien vorgängig und dass Letztere vorgegeben sind. Wenn Wolfram im ‚Stubenkrieg‘ bekundet, dass er uß warem geiste tichte mit vernuft / und dar zu uß der edeln gottes minnen (Hal. C 13,5  f.), stellt er sich als göttlich inspiriert dar. Sein Gegner Klingsor hält mit der Zauberei dagegen, spricht aber auch von stollen, rimen uß meisterlichem munde (Hal. C 14,6), verwendet also ein Vokabular, mit dem Meisterlieder beschrieben werden. Wenn er das getichte seines Gegners als eben unde slecht (Hal. C 18,2) lobt, mag man darin auch ein ästhetisches Urteil sehen, doch begründet ist dieses dann rein religiös. Viel mehr selbstbezügliche Aussagen enthält der ‚Wartburgkrieg‘ nicht, für die Kunstthematik im Sangspruch ist er in anderer Hinsicht wichtig: als zeitgenössische Fiktion eines Sängerwettstreits, der mit Rätseln arbeitet, sich der Polemik bedient und die Panegyrik prüft. All das zusammengenommen, lässt er sich als „Selbstbeschreibung[] meisterlichen Singens und seiner Poetologie“ (Strohschneider, Agon, S. 106) lesen. Selbstbezüglichkeit in Publikumsadressen Die eigene Position entwerfen die Spruchdichter nicht nur mit Blick auf ihre Kollegen, sondern auch mit dem aufs Publikum. Letzteres erscheint in zweierlei Gestalt: als fürstlicher Mäzen und als höfische Gesellschaft. Die Fürsten, von denen sich der Sänger Unterstützung für seine Kunst erbittet oder sie erhält, werden teilweise direkt adressiert. So spricht Walther in seiner ‚Lehensbitte‘ den Staufer Friedrich II. an – Von Rôme voget, von Pülle künic (L. 28,1/Bein 11[C],XI,1) kann niemand anderer sein (Nolte, Walther, S. 77) – und stellt sich als jemand vor, dessen rîcher kunst (L. 28,1/ Bein 11[C],XI,2) materielle Armut gegenübersteht und der, wenn sein Unterhalt gesichert wäre, sich wieder dem Minnesang widmen könnte (Ortmann, Spruchdichter, S. 26). Wenn man bedenkt, dass diese Äußerungen in einer Sangspruchstrophe stehen, bedeuten sie eine Zuordnung des Sangspruchs zur Lebensform des Fahrenden (gast, L. 28,8/Bein 11[C],XI,8) und seine Unterordnung unter den Minnesang, und zwar in sozialer wie in ästhetischer Hinsicht. Diese Wertung schwingt möglicherweise auch im ‚Lehensdank‘ mit, in dem Walther eine neue Art des Sprechens ankündigt: ich was sô volle scheltens, daz mîn âten stanc, / daz hât der künic gemachet reine und dar zuo mînen sanc (L. 29,2  f./Bein 11[C],VII,9  f.). Wenn Walther verspricht, künftig auf die Scheltrede zu verzichten, lässt sich das in zweierlei Hinsicht verstehen: als Verzicht auf Polemik im Sangspruch oder als Abwendung vom Sangspruch überhaupt. Für die erste Interpretation spricht, dass der Satz in einer Sangspruchstrophe steht, für die zweite, dass er sich auf die ‚Lehensbitte‘ zurückbezieht, die von einer Rückkehr zum Minnesang spricht. Unabhängig davon, ob man sie als Ankündigung eines Registeroder eines Gattungswechsels liest, ist festzuhalten, dass die Schlussverse der Strophe eine bestimmte Art des Singens mit der synästhetischen Metapher des Gestanks

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belegen und dass die ‚Reinigung‘ des Gesangs auf die Intervention des Fürsten zurückgeht (Ortmann, Spruchdichter, S. 27). Die Prägnanz, mit der Walther das Verhältnis des Sängers zu seinem Mäzen formuliert hat, zeigt sich an intertextuellen Bezügen, etwa in der parodistischen Kontrafakturstrophe, welche die Handschrift B unter dem Namen Walthers bewahrt und die ein gänzlich unabhängiges Sängerleben entwirft (L. 153,1/Bein 11[B],IV), oder in einer Strophe des Meißners, der die Frage aufwirft: sol ich sus bi richer kunst vurarmen unde vurterben? (Obj. XVI,4,3) und dem geizigen Gönner droht: den schelte ich, daz er stinket wirs dan ein vuler rabe (ebd., v. 11). Häufiger als in der Heische denken die Sänger über ihre Gönner nach, wenn sie diese zu loben haben. So möchte Friedrich von Sonnenburg dem Grafen Friedrich IV. von Beichlingen ein lop […] williclich / uz reinem sinne singen (Mas. 60,4  f.), weil dieser großzügig und ehrenvoll sei. Der Sang erscheint als Lob, und dieses entspricht dem Wert des Gelobten. In anderen Sprüchen finden sich im Kontext des Fürstenlobs weitere Aussagen über die Kunst: Walther erhofft sich vom ‚Rat des Königs‘ (einer Person? einer Institution?) einen Hinweis darauf, welche Stilhöhe angemessen sei, da er selbst sich nicht für den hôhen und den nidern und den mittelswanc (L. 84,23/Bein 3[C],VII,2) entscheiden könne. Damit schreibt er dem (oder den) Mäzen(en) nicht nur die Kenntnis der drei genera dicendi zu (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 239  f.; Urbanek, Genera dicendi, S. 1–3), sondern macht ihn/sie sogar zum Mitautor: nû hilf mir, edlr küniges rât, dâ enzwischen dringen, / daz wir alle ein ungehazzet liet zesamene bringen (L. 84,28  f./Bein 3[C],VII,9  f.). Hermann Damen singt das Lob des Herzogs von Schleswig (Waldemars IV.?) in dem nûwen dhône (Schl. V,8,135), womit er die Originalität der metrisch-musikalischen Form behauptet, und er webt das Lob Johanns von Gristow und seines Bruders, womit er eine eingeführte Metapher der Textproduktion verwendet (Schl. V,9,138). Vor allem aber findet sich bei Damen eine ausgebaute Kampfmetaphorik: Der Sänger tritt mit seinem Lob für den Gönner ein und fordert andere Sänger heraus, womit er an das ‚Fürstenlob‘ aus dem ‚Wartburgkrieg‘ anschließt (Schl. IV,4; V,8  f.). Konrad von Würzburg widmet Konrad III. von Lichtenberg, dem Bischof von Straßburg, [e]yn lob geblůmet (LDM J KonrW 2,1), und auch der Meißner rekurriert auf die flores rhetorici (Hübner, Lobblumen, S. 73  f.), als er sich fragt, ob er Albrecht von Brandenburg angemessen preisen könne (Obj. XVII,11,1). Ganz ins Metaphorische kleidet Frauenlob das Fürstenlob, und entsprechend sind auch die Aussagen zur Kunst bildhaft, welche die Sprüche im Langen Ton in besonderer Verdichtung enthalten (Obermaier, Nachtigallen, S.  244–252; Hübner, Lobblumen, S. 263–277). Anleihen bei der Tradition nimmt das Lob Ottos von Ravensberg: die hohe gotes stiure / Wibet ez [das Fürstenlob] in miner witze hamen (GA V,8,12  f.). Die Textualitätsmetapher des Webens erfährt hier insofern eine eigene Ausprägung, als das Netz im Verstand des Sängers verfertigt wird – das macht die Metapher zur Metonymie (Cölln, Fürstenlob, S. 204  f.) –, der Webmeister aber die von Gott gegebene Begabung ist. Erst durch das Zusammenwirken beider entsteht die Kunst (Klein, D., Poeta artifex, S. 242). Ins Bild des Schmiedens bringt das Lob auf Wizlav von Rügen

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den dichterischen Prozess: Grif, herze, zu und hilf den sinnen ein lob smiden, / daz allen liden / der kunst si wol gelenke (GA V,10,1–3). Herz und Verstand, „also emotionale, intellektuelle und ästhetische Fähigkeiten“ (Klein, D., Poeta artifex, S. 244), sollen gemeinsam ein Fürstenlob schmieden, „das allen Regeln der Kunst entspricht“ (so die paraphrasierende Übersetzung bei Harant, Poeta Faber, S. 59). Diese invocatio „richtet sich […] nicht an eine inspirierende externe Macht, sondern an das SprecherIch selbst“ (Klein, D., Poeta artifex, S. 244). Bei Frauenlob hat das Fürstenlob nicht nur fürsten-, sondern auch kunstgemäß zu sein. Weitere seiner Sangsprüche verwenden andere Metaphern für das Dichten, etwa das Läutern von Edelmetall (GA V,11,3–5), das Kramen in den Kaufmannswaren (GA V,*12,1–3), das Herstellen und Ausschenken von Gewürzwein (ebd., v. 5  f.), das Messen eines Baumeisters (GA V,13,1–9), das Läutern von Gold und das Schmieden einer Krone (GA V,46,11  f.) oder das Ködern eines Falken (GA V,114,7–12). Sie zielen auf den ornatus sowie auf die verschiedenen Teile der Verfertigung des Gedichts – das zeigt etwa der Gebrauch von vunt in der Bedeutung von inventio (Harant, Poeta Faber, S. 89 zu GA V,114,1) –, rekurrieren also auf die Regeln der Rhetorik, dann aber auch auf ästhetische Normen (vuge), die beim Dichten zu beachten sind (Huber, C., Herrscherlob, S.  464  f.; Obermaier, Dichter, S.  63). Die Bilder Frauenlobs sind nicht nur gesucht, sondern sie eröffnen vielfältige Bezüge – zur Bibel, zur Antike oder zur Lebenspraxis mit den artes mechanicae (Bickert, Dichter; Braun, Ars, S. 78–81; Klein, D., Poeta artifex, S. 246  f.) – und lenken die Aufmerksamkeit auf die sprachliche Seite der Texte. So „tritt“, zumindest der Tendenz nach, „die Thematisierung des künstlerischen Prozesses an die Stelle des eigentlichen Herrscherpreises und übernimmt dessen Funktion“ (Obermaier, Nachtigallen, S. 276; vgl. Huber, C., Herrscherlob, S. 463–467; Haustein, Freiheit, S. 105–112; Hübner, Lobblumen, S. 419–430; Braun, Ars, S. 81  f.; Wenzel, F., Meisterschaft, S. 145–152, 189–193). Dazu kommt noch, dass sich Frauenlobs Fürstenlobstrophen aufeinander sowie auf Dichtungen Hermann Damens und Konrads von Würzburg beziehen und mit diesen in einen Wettbewerb treten (Stackmann, Redebluomen, S. 333–344; Cölln, Fürstenlob). Andere Sangsprüche wenden sich nicht an einen bestimmten Fürsten, sondern bearbeiten das Thema der gönnergebundenen Kunst auf allgemeine Weise. Konrad etwa kritisiert den Adligen, der einen kunstelosen schalk / tru̍tet (LDM C KonrW 105,7  f.), während er gefuͤ gem man durh kunst enheine gabe reichen (ebd., v. 178) will. Damit unterscheidet er Könner von Nicht-Könnern und verlangt es seinem Publikum ab, diese Unterscheidung nachzuvollziehen. Indem Rumelant von Sachsen Heische an Freude bindet, bestimmt er die Funktion des Sangspruchs als deren Vermittlung: Ich wil den herren singen und sagen unde lachen, / daz sie gedenken mîner kunst, ich denke ir milde (Ruw. IV,24,1  f.). Andere Ausführungen zum Fürstenlob stellen hingegen den Gedanken ins Zentrum, dass das Lob durch die Tugenden des Gelobten gedeckt sein muss (Meißner Obj. I,9), sonst ist es zu versagen (Stolle Zapf J. 25) oder wird zur Lüge (Friedrich von Sonnenburg Mas. 18). Hier zeigt sich ein weiteres Mal die ethische Bindung des Sangspruchs, doch findet sich in diesem Zusammenhang auch ein Nachdenken über die Sprache und die Kunst (Huber, C., Wort, S. 112–115).

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Vom Thema des Fürstenlobs entfernt sich eine Strophe Friedrichs von Sonnenburg, sie verficht mit Nachdruck die Bedeutung der Kunst überhaupt: In al der werlde habent rehte vürsten kunst vür guot, diu kunst kan vürsten eren unde vröuwet wol der herren muot, diu kunst den edelen sanfte tuot, kunst hat got selben wert. Diu kunst ist heilic da von muoz si got sin undertan, diu kunst diu nimt durch got umbe ere guot von manigen werden man; […] ir rehten edelen, gebet durch kunst, ezn wirt iu niemer leit! (Mas. 19)

Die Heische generiert eine ganze Reihe von Aussagen über die kunst respektive den Sangspruch (Obermaier, Nachtigallen, S. 181–183). Beschrieben wird das Tauschverhältnis, in das dieser eintritt, wobei er nicht nur Ehre für Lohn zuspricht – der Topos für Panegyrik schlechthin –, sondern gleichsam auch sich selbst in die Waagschale wirft, wenn kunst vür guot gegeben wird. Letzteres ist deswegen möglich, weil Friedrich über wirkungsästhetische Vorstellungen verfügt. So schenkt der Sangspruch seinen Hörern Freude und wirkt wohltuend auf sie. Außerdem ist seine Geltung von Gott gestützt, dem er unmittelbar zugeordnet ist. Der Wilde Alexander wiederum verpackt die Heische in eine Geschichte der Kunst, die eine Geschichte der Arbeitsteilung ist: Do durch der werlde ummuͦ zicheit her abe von kuninges kunne schreit daz tichten unde daz singen, von sundehaften sculden ez quam, daz daz seitenspil urloͮ b nam unde der juncvrouwen spryngen. do viel ez an die ergeren hant: ein arme diet sich es underwant, of daz der kunste nicht gienge abe. do truͦ gen die herren durch die kunst den selben helfebere gunst unde nerten sie mit varender habe. (LDM J WAlex 15)

Angesichts ihrer Überlastung (ummuͦ zicheit) haben die Könige daz tichten unde daz singen an Leute aus dem einfachen Volk (arme diet) delegiert. Diese haben auch daz seitenspil und den Tanz übernommen, weil beide sich ob ihrer Sündhaftigkeit für den Adel nicht schicken. Dass die sozial Niedrigstehenden die Kunst ausüben, hat diese vor dem Aussterben bewahrt; im Gegenzug unterstützen die sozial Höhergestellten die Sänger und Tänzer. Wenn sie es an Freigebigkeit fehlen ließen, müssten sie, so die Folgestrophe, wieder wie David und Salome selbst spielen und tanzen. Die Ausübung

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von Kunst ist also einerseits gegenüber der Ausübung von Herrschaft ausdifferenziert, andererseits bleiben beide über die Belohnung aufeinander bezogen. Die Sänger treten aber nicht nur dem Fürsten entgegen, sondern auch einem breiteren Publikum. Dieses rufen sie etwa zum Schiedsrichter im Wettstreit mit ihren Kollegen auf: […] ir sult weln, ob iu sin bach si lieber dan min vliez, Sit von dem edelen brunnen Pegases komt ir beider vluz […] (Frauenlob GA VII,41 G,11–14)

Frauenlob verlangt seinen Hörern hier viel ab, da sich die beiden Dichterwerke ähneln (sie werden beide als Bäche metaphorisiert) und da sie beide denselben Ursprung haben (von der pegasischen Musenquelle her). Sie dennoch zu hierarchisieren, setzt ein sicheres Urteils- und Unterscheidungsvermögen voraus. Genau dieses kann dem Publikum aber auch bestritten werden, so wenn Hermann Damen die Wirkungslosigkeit seines (guten) Sangs mit der corruptio der Rezipienten erklärt: Sind es heute nur noch wenige, die rechter meister kunst / wirden nâch iren wirde, war recht meistersanc früher – hier bedient sich Damen einer laus temporis acti, einer Zeitklage – in al der werlt genême (Schl. III,3,45–48). Schon Bruder Wernher beschwerte sich über die ôrendriusel (Zck. 55,6), die ihn hindern, am Hof guoten sanc (ebd., v. 7) darzubieten und vom Fürsten Lohn zu empfangen. Auch dem Anspruch der Sänger, bedeutsames Wissen auszubreiten, muss auf Seiten des Hofes die Bereitschaft entgegenkommen, dieses sowohl zu erkennen als auch anzuerkennen (Hübner, Hofhochschuldozenten, S.  80–82). Entsprechend beklagt sich der Marner darüber, dass das Publikum etwas ganz Anderes verlangt, als er ihm gibt, nämlich heldenepische Erzählungen, und dass es beim Vortrag von Sangspruch entsprechend unaufmerksam ist (Wms. 7,14; vgl. Obermaier, Nachtigallen, S. 175  f.; Wms., S. 250  f.). Wenn der Sangspruch gegenüber erzählender Literatur zurücksteht, kann er sein Wirkpotential nicht entfalten. Aussagen über die Kunst in verschiedenen Kontexten Sehr selten stehen Aussagen zur Kunst in Zusammenhängen, die nicht unmittelbar pragmatisch bestimmt sind. In einem gebethaften Sangspruch stilisiert sich Walther zu einem inspirierten Autor: Vil wol gelopter got, wie selten ich dich prîse, / sît ich von dir beide wort hân unde wîse (L. 26,3  f./Bein 11[C],X,1  f.). Beide, Text wie Melodie, verdanken sich göttlicher Eingebung (Obermaier, Nachtigallen, S.  168; Hübner, Hofhochschuldozenten, S. 74–76). Weil sie eine Gabe Gottes darstellt, lässt sich die Sangeskunst laut Konrad auch nicht erlernen, was sie von allen anderen artes absetzt (LDM C KonrW 114; vgl. Löser, Sängerkrieg, S. 104). Der Inspiration stellt Rumelant von Sachsen immerhin den eigenen Verstand an die Seite, wenn er die Ursachen

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seiner überlegenen Kunstfertigkeit benennt (Ruw. VII,2,10). Dem inspirierten Autorschaftsmodell entsprechen Funktionsbestimmungen der Kunst als Tugend- oder als Gotteslob. So definiert sich der Meißner als praeceptor, der seine gottgegebene Kunstfertigkeit dazu nutzt, seinen Hörern ethische Werte zu vermitteln und sie so vor Schande zu schützen: Ez vraget maniger, waz ich kunne. / ich spreche, ich bin ein lerer aller gůten dinge / unde bin ein ratgebe aller tugent. ich hazze schande (Obj. XV,4,1–3; vgl. Obermaier, Nachtigallen, S. 187  f.). In einem weiteren Spruch koppelt er Selbstbeherrschung und Kunstausübung aneinander, und zwar im Duktus einer Verfallsklage: Ich klage, daz zucht unde kunst nu sol vurterben. / mit zucht, mit kunst mac man nu nicht irwerben (Obj. II,14,1  f.). Und so widmet Rumelant Gott den ersten Spruch in einem neuen Ton: dir daz êrste / lob in dirre nûwen wîse ich singe (Ruw. VII,1,7  f.; die erste Tonweihestrophe findet sich bei Walther, wo sie den Bognerton eröffnet: L.  78,24/ Bein 54[C],I; weitere Tonweihestrophen s. RSM, Bd. 15, S. 582). Dass der Bezug auf die Religion eine Strategie der Autorisierung darstellt, macht Meißners Gesangeslob – ein Genre, das die Kunst ins Zentrum rückt (Braun, Ars, S. 82–90) – mehr als deutlich: Daz sanc daz hoeste si in himele unde of erden, des zie ich an die engele, die mit sange lobent got in himele dort. Mit worten mac von brote gotes lichnam werden. des ist sanc unde wort daz hoeste, sit daz ie unde i was gotes wort. Sanc leret tugende phlegen, vlien valschen rat. sanc vreuwet, sanc ringet vil der swere. Sanc ist gotelich, sanc der ist lovebere. gedone ane wort daz ist ein toder galm, so ist vur gote sanc gehort. (Obj. X,1)

Zwar hängt die Geltung des Sangspruchs von Gott ab, doch stellt sein transzendenter Bezug den Sangspruch zugleich an die Spitze der Künste (Obermaier, Nachtigallen, S.  188–190; Körndle/Löser, Gesänge, S.  221  f.). Die eigentliche Stoßrichtung des Textes tritt besonders an dessen Schluss zutage, der den Sangspruch der reinen Ins­ trumentalmusik überordnet. Die Argumente dafür sind der Engelsgesang, die Bedeutung des Wortes bei der Wandlung und – im Rekurs auf den Prolog des Johannesevangeliums – dessen Uranfänglichkeit. Dazu passen die Aufgaben, die dem Sangspruch zugeschrieben werden: die Unterweisung, die Unterhaltung und der Trost. Auch die konsolatorische Funktion des Gesangs folgt einem biblischen Modell, dem Gesang Davids vor Saul. Ein weiteres Argument für den Sang führt der Unverzagte an: sanc mac man schrîben unde lesen (C.-W. II,1,10). Da man Texte aufschreiben kann, stehen sie jederzeit zur Rezeption bereit. Dieselben Aufgaben wie der Meißner weist auch Hermann Damen der Kunst zu, doch leitet er diese nicht mehr von Gott ab: Ich mâle of des sanges simz mit tichte sam ich beste kan. her sin, ir sůlt polieren swache trůbe von mîme wort,

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sô tuot ir liebe mir, ouch sagen es iu die wîsen danc. (Schl. VI,1,1–6)

Es ist der Verstand (sin), der sanc bzw. tichte zu ihrem vollen Glanz verhilft. Er mag zwar, so eine verbreitete Auffassung, von Gott gegeben sein (Boesch, Kunstanschauung, S. 113–125), doch wird das hier eben nicht mehr gesagt. Zur Ablösung der Verstandeskräfte von der religiösen Inspiration stimmt es, dass die künstlerische Produktion als Ausübung eines Handwerks, der Malerei, metaphorisiert wird, das auf Können beruht, und dass erst der Dichter selbst sein Werk beurteilt, bevor er es dem Publikum überantwortet (Hübner, Lobblumen, S. 259; Braun, Ars, S. 77  f.). Vom aptum handelt Frauenlob: ez zimt daz hie, daz dort nicht zimt, daz dort, daz hie nicht zeme (GA V,114,6). Was angemessen zu sein hat, ist wegen der bildhaften Rede weniger klar: In der vünde krame (ebd., v. 1) – es geht also um die dichterische Erfindung – gibt es gleichermaßen Billiges wie Teures sowie Geheures wie Ungeheures, und die gegensätzlichen Qualitäten erscheinen den unterschiedlichen Beobachtern auf unterschiedliche Weise: dem spehen scharf, dem slechten weich nach der witze stiure (ebd., v. 5). Den Rest der Strophe nimmt die Metapher des Falken ein, die dem Ingenium des Sängers (spehe merke sinnes, ebd., v. 7) zugeordnet wird. Die Aussage bleibt dunkel. Wenn man sie „als Begründung des Schwankens zwischen schwer- und leichtverständlichem Stil“ (Wachinger, Sängerkrieg, S. 270) versteht, muss man hinzufügen, dass sie selbst sich auf die Seite der obscuritas schlägt.

Fazit Der textnahe Zugriff auf die Kunstreflexion im Sangspruch soll nun durch abstraktere Ansätze abgerundet werden. Der erste Ansatz ist synthetisierend: Er bündelt und ordnet die Aussagen zur Kunst und stellt zugleich das Vokabular zusammen, mit dem der Sangspruch von sich selbst spricht (Obermaier, Nachtigallen, S. 287–338). Der zweite Ansatz ist insofern evaluierend, als er danach fragt, was die gesammelten Selbstauskünfte über den Status des Sangspruchs sagen. Der dritte Ansatz s­ chließlich ist historisch und umreißt die Geschichte der Selbstbezüglichkeit im Sangspruch. Zu 1. Das Ordnungsschema, das auf die Selbstaussagen des Sangspruchs angewandt werden soll, stammt aus der Ästhetik, die zwischen Produktions-, Werk- und Wirkungsästhetik unterscheidet. Die wichtigsten produktionsästhetischen Begriffe sind singen und – deutlich seltener – tihten. Während singen die Musik mitmeint, auf Mündlichkeit und Performanz verweist und sowohl Produktion (wie carmen componere) als auch Reproduktion (wie cantare) abdeckt, steht tihten eher auf der Seite der Schrift und bezieht sich nur auf den „Produktionsvorgang“ (Obermaier, Nachtigallen, S. 290; vgl. dazu auch → Kapitel III.4). Für singen können Verben des Sprechens wie jehen, reden, sagen oder sprechen eintreten, möglich sind auch Doppelformeln wie singen und sagen. Zum singen und tihten befähigt die Autoren an erster Stelle

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Gott  – ein Begründungsmuster, das sich bis in den Meistergesang hält (Poynter, Poetics, S. 34–37). Autorschaft beruht im Sangspruch aber nicht nur auf Inspiration; für die Gattung wichtiger und charakteristischer ist das Modell der Meisterschaft. Entsprechend ist meister(singer) das häufigste Wort für den Autor – und zwar weit bis in die Frühe Neuzeit hinein –, dessen Verwendung den Anspruch impliziert, andere Autoren (die künstelosen) im Rang zu übertreffen. Meisterschaft gründet auf Können und Wissen, und der Gedanke, dass Gott beide gibt, bindet den meister an die Religion zurück (Stackmann, Vorstudien, S. 94–98). Die Sänger können sich aber auch als eigenständige Erfinder darstellen, und ihren Verstand als Ursprung der Dichtung ausgeben (spehe merke sinnes), wobei sin freilich auch als im Kontakt mit göttlicher Inspiration stehend gedacht sein kann (Poynter, Poetics, S.  46  f.). Zudem tragen die Sänger eine sprachlich-musikalische Begabung in sich, die sie wolzungic und wolklungic macht. Die künstlerische Fähigkeit entscheidet im Verbund mit Moral und Wissen über ihren Rang, den die Kommentare zu Kollegen verhandeln. Eingeteilt werden die Sänger in unterschiedlicher Weise, entweder werden sie als Urheber von Lyrik überhaupt gesehen oder spezifischer als Produzenten von Sangsprüchen. Für weitere pro­duk­tions­ästhetische Konzepte wie Produktivität, Vielseitigkeit oder Originalität existieren nur Einzelbelege, deren Interpretation unsicher und deren Repräsentativität gering ist; auf den Begriff gebracht werden können sie schon gar nicht. Im Gegensatz zu ihnen steht die Ausrichtung an Mustern, wie sie vor allem im Lob der toten Sänger greifbar wird. An den Totenklagen lässt sich auch der Rang ablesen, den die Sänger ihren verstorbenen Kollegen zugesprochen haben, machen sie diese doch zum Gegenstand der memoria und heben so ihre Bedeutung hervor. Die Ausbildung eines Katalogs der Zwölf alten Meister (Henkel, Alte Meister), an denen man sich als Sänger auszurichten hat, zeigt erst recht die Autorität von Autoren. Des Weiteren dient die Aufzählung von Sängern der „Identitäts- und Gruppenstiftung“ (Löser, Sängerkrieg, S.  112). Institutionalisiert ist das gemeinschaftliche Singen dann im Meistergesang, für das Begriffe wie bruderschaft, gesellschaft, schule, singstuhl oder zeche stehen (Plate, Kunstausdrücke, S. 215–219; vgl. dazu auch → Kapitel VIII.4). Das sängerische Schaffen bringen ‚Blümer‘ wie Konrad von Würzburg oder Frauenlob in Handwerker-Metaphern, die wie das Weben, das Schmieden oder das Bauen durchaus traditionell sind (Harant, Poeta Faber, S. 147–170). Das heißt allerdings nicht, dass sie das Singen als erlernbares Handwerk sehen, vielmehr liegt die Analogie in der gekonnten Bearbeitung vorgegebenen Materials (Obermaier, Nachtigallen, S.  337  f.), und zwar auf produktive, schöpferische Weise (Klein, D., Poeta artifex, S. 254). Dazu kommen noch Metaphern wie die des kriegens, welche die agonale Dimension des Dichtens hervorheben und die für eine spezifisch mittelalterliche Selbstbeschreibung charakteristisch sind. Agonal ist auch die Kunstpraxis des Meistergesangs, dabei aber strikt an Regeln gebunden, wofür Begriffe wie merker, schulkron, schulordnung oder tabulatur einstehen (Plate, Kunstausdrücke, S. 219–231).

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Wichtiger als die produktions- sind die werkästhetischen Konzepte. Unter ihnen wiederum spielt das Wissen die Hauptrolle, das mit Wahrheit verbunden und zur Weisheit verdichtet erscheint (vgl. → Kapitel V.4). Letztlich gründet das Wissen des Sangspruchs in der christlichen Religion, und entsprechend ist es ein gelehrtes Wissen. Zu diesem wissensbasierten Werkverständnis passt es, dass dichterische Aussagen auf ihre Richtigkeit hin befragt werden können. Der Sangspruch bestimmt seinen Rang im Vergleich mit anderen artes, vor allem der Instrumentalmusik (Körndle/Löser, Gesänge). Außerdem verfügt er über Stilbewusstsein, wenn auch über keinen Stilbegriff. Stil ist dabei eminent sozial, wenn dem höfischen Stil der des schalks gegenübersteht. Auch das rhetorische Konzept dreier Stilniveaus (genera dicendi) kennt der Sangspruch. Hinter der Kritik an Werken, die sich durch ihre Lautstärke oder ihre Direktheit vordrängen, stehen Ideale wie das der mâze und der vuoge. Eine vergleichsweise geringe Rolle spielen Vorstellungen wie Schönheit (schône), Harmonie (armonie) oder Proportion (eben, gemezzen, sleht), die für die moderne Werkästhetik so wichtig sind. Von ihnen aus ergeben sich Durchblicke auf metaphysische Begriffe, doch wahrt der Sangspruch gehörigen Abstand zur theologischen Ästhetik. Häufiger sind Anleihen bei der Rhetorik, etwa beim Begriff der flores rhetorici bzw. beim blüemen. Diese intensivieren ‚Blümer‘ wie Frauenlob und Heinrich von Mügeln, wenn sie metaphorische Entsprechungen für lateinische Begriffe zur inventio (vunt) und elocutio (farben, ferben, flechten, volzieren) verwenden. Neutral werden Sangsprüche als getihte, liet, sanc und spruch bezeichnet, wobei getihte und sanc auch als Kollektivsingular für die Gattung gebraucht werden können. In der Paarformel wort unde wîse tritt die Melodie neben den Text. Für sich genommen firmiert die metrisch-musikalische Struktur unter dôn, ein solcher Ton kann und soll neu sein. Die Verszeile wird als rîm angesprochen, bei den Meistersingern kommen noch weitere metrische Termini wie silbe und zal hinzu. Auf die polemische Stoßrichtung vieler Sangsprüche zielen Formulierungen wie hône wîse, scharpfer sanc oder schelten ab – als Gegenvorstellung scheint die Idee einer ‚reinen‘ Rede auf. Während die Sänger das eigene Werk als rehte kunst, mithin als Produkt von Können und Wissen ansehen, ist das des Gegners unkunst bzw. valsche kunst. Ein Spruch Reinmars des Fiedlers enthält einen ausführlichen Katalog von Gattungsbegriffen, darunter auch solche, die sich wie lobeliet, rügeliet und schimpfliet auf den Sangspruch beziehen lassen, ohne dass freilich absehbar wäre, ob ihnen ein terminologischer Status eignet. Die Meistersinger bilden Gattungsbegriffe auf -wîse, weitere wie antwurt, fürwurf oder strâfliet beziehen sich auf den „institutionalisierte[n] Sänger-Wettstreit“ (Obermaier, Nachtigallen, S. 310; vgl. Plate, Kunstausdrücke, S. 235–239); ihre Begriffe sind inhaltlich stärker bestimmt. Ihnen treten Bezeichnungen für den Bau der Strophe (liet) – etwa auf- und abgesang, gebände, houbetrîm oder stollen – und für den des Bars wie gemess sowie deren Fehler wie differenz, irren, strafen, stutzen oder zu hoch (Plate, Kunstausdrücke, S. 239–258; Poynter, Poetics, S. 63–67) zur Seite. Wenig ausgebaut ist das Nachdenken über wirkungsästhetische Aspekte. Zentral sind hier die traditionellen Topoi, der Sang gebe Rat (prodesse), vermittle Freude

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(delectare) und spende Trost (remedium). Zudem wirken Sangsprüche, indem sie dem Gelobten Ehre (laus) und dem Getadelten Schande (vituperatio) eintragen. Diese Wirkung setzt einen Konsens über Tugenden voraus, sie ist also an soziale und ethische Normen gebunden. Das Publikum (in Gestalt des fürstlichen Gönners oder der höfischen Gesellschaft) wird auch als Schiedsrichter im Sängerkrieg gesehen – anders ist das freilich im ‚Wartburgkrieg‘ und im Meistergesang, wo die Sänger selbst urteilen –, entsprechend wichtig ist seine Kompetenz. Fehlt diese, ist es um die Wirkung des Sangspruchs getan (und um den Lohn des Sängers), zumal dieser mit anderen Gattungen konkurriert. Zu 2. Hält man sich an die Selbstauskünfte, ist der Sangspruch eher als heteronome Kunstform (zur Skalierbarkeit der Konzepte ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ vgl. Kablitz, Alterität[en], S.  205–214) zu sehen. Zum einen zeigt sich das daran, dass die meisten selbstbezüglichen Aussagen in Sangsprüchen stehen, in denen sich die Autoren zu Konkurrenten oder Rezipienten ins Verhältnis setzen. Die produktivsten Generatoren von Selbstreferenzialität sind also pragmatisch gebunden, „‚Dichtung über Dichtung‘ [ist] ganz eng an die Person eines Sänger-Ichs und seine Situation geknüpft“ (Obermaier, Nachtigallen, S. 190). Dazu passt es, dass der ‚Wartburgkrieg‘ den Sang unter die Vorzeichen von kampf und kriec stellt. Zum anderen denkt der Sangspruch Kunst als religiös oder moralisch bestimmt. Das beginnt bei den Modellen von Autorschaft  – der Inspiration und der Meisterschaft  –, setzt sich über die Geltungssicherung fort, die vor allem über religiöses Wissen erfolgt, und endet noch nicht bei der Wirkabsicht, die über den Tausch von Ehre gegen Lohn gleichermaßen sozialethisch wie ökonomisch verfährt. Selbst der Versuch, den Vorrang der eigenen Kunst zu erweisen  – eine Diskussion, die in ähnlicher Weise noch im Zeitalter der Autonomieästhetik geführt wird –, argumentiert religiös. Zwar widmen sich die Genres des Gesangeslobs, der Totenklage und der Polemik ganz der Kunstthematik, doch bleiben sie, aufs Ganze der Gattung gesehen, randständig und belegen auch das Bedürfnis der Sänger, ihre Kunst gegen Kritik (der Kirche, der Fürsten, der Hofgesellschaft, der Kollegen) zu verteidigen. Die fehlende Ausdifferenzierung des Sangspruchs in kommunikativer und thematischer Hinsicht wiederholt sich auf der Ebene der Selbstbezüglichkeit (Egidi, Sängerpolemik), wo zwar selbstreferentielle Aussagen zu finden sind, sich jedoch kaum einmal eine tiefer gehende Selbstreflexivität ausbildet: „Dichtung wird nicht definiert, die Prädikationen dienen ihrem Lob“ (Obermaier, Nachtigallen, S. 346), und Letzteres wiederum betreibt, so könnte man fortfahren, die Geltungssicherung. Dass sich der Sangspruch selbst als heteronom darstellt – ohne das Konzept zu kennen –, entspricht dem Bild, das man von der Gattung auch heute hat. Das bedeutet allerdings nicht, dass einzelne Texte nicht auch in Richtung literarischer Autonomie vorstoßen könnten (Braun, Situation). Woraus diese vor allem entsteht, deuten die Produktivität und die Kreativität der Sprache an, die sich gerade in den polemischen Sangsprüchen mit ihren Wortneubildungen, Metaphern, Wortwitzen oder Rätseln entfalten. Dazu kommt die form- und klangästhetische Dimension

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 Thematische Kerne

der Sangspruchdichtung (Haustein, Grenzgänger; Haustein, Metaphern, S. 147–150). Beides zusammengenommen, lenkt die Aufmerksamkeit auf die ‚poetische Funktion der Sprache‘ (Jakobson, Linguistik, S. 92–96). Aber auch auf der Ebene des Kunstdenkens finden sich erste tastende Versuche, Autonomieansprüche zu formulieren (dies ließe sich in Anlehnung an Klein, D., Inszenierungen, auch für den Sangspruch genauer herausarbeiten). Dass gerade im Fürstenlob über Kunst nachgedacht wird (Huber, C., Herrscherlob; Haustein, Freiheit) und dass das „literarische Ritual des Wettlobens und Übertrumpfens die Aufmerksamkeit auf die Vertextung lenkt“ (Huber, C., Herrscherlob, S. 462), belegt ein weiteres Mal die Vorgängigkeit der pragmatischen Einbindung wie auch der Möglichkeit, sie zu transzendieren. Diese Verschränkung von Selbst- und Fremdreferenz ist in der Rhetorik vorgedacht (ebd., S. 467  f.). Zu 3. In literaturgeschichtlicher Hinsicht steht Walther von der Vogelweide – wie so oft in der Geschichte des Sangspruchs – am Anfang, zumindest an dem des in der Überlieferung Greifbaren. Bei ihm finden sich die ersten Angriffe auf Kollegen sowie die ersten Klagen über das Publikum, das einen unhöfischen Stil einfordert (Eschke, Leben). Selbstreferenz ist also kein Spätphänomen, sondern begleitet den Sangspruch von Anfang an (Obermaier, Nachtigallen, S. 361). Aus der Draufsicht lässt sich allerdings auch erkennen, dass bestimmte Autoren ihre Kunst so gut wie überhaupt nicht thematisiert haben, etwa Boppe, Bruder Wernher, Hardegger, Höllefeuer, der Junge Meißner, der Litschauer oder Reinmar von Zweter. Überhaupt nicht schulbildend geworden ist Walther mit dem Thema des dichterischen Erfindungsreichtums. Auch seine Ausrichtung auf das höfische Singen, hinter dem sich der Minnesang abzeichnet, tritt im Laufe des 13. Jahrhunderts zurück. Dem entspricht es, dass nicht Walther, sondern Konrad von Würzburg der von den Kollegen am meisten gerühmte Sangspruchdichter ist (Burkard, Sangspruchdichter, S. 296  f.). Konrad steht für die neue meisterliche Begründung der Gattung, die sich im Laufe des 13. Jahrhunderts durchsetzt und für die (formales) Können und (gelehrtes) Wissen entscheidend sind (Boesch, Kunstanschauung, S. 173–195). Einmal etabliert, kann sie auch kritisiert werden, etwa als übersteigert, als ungedeckt usw. Erklärt hat man sie mit dem Aufkommen der Bettelorden, deren wandernde Prediger die Bedeutung der fahrenden Sänger für die Belehrung der Laien bedrohen und sie mit ihren Predigten unter Begründungsdruck setzen (Kästner, Wettstreit). Außerdem ist eine Verschiebung hin zur Ausbildung von Traditionen und zum Wettbewerb der Sänger untereinander zu beobachten (Obermaier, Nachtigallen, S. 275  f.). Die Traditionsbildung beginnt bei den Totenklagen des 13.  Jahrhunderts, und sie verfestigt sich mit dem Zwölfer-Kanon alter Meister im Meistergesang des 14. und 15. Jahrhunderts. Während sich die Sänger den toten Kollegen unterlegen fühlen, behaupten sie ihre Überlegenheit über die lebenden Sänger. Die Hauptprotagonisten entsprechender Angriffe sind – in zeitlicher Ordnung – der Marner, der Meißner, Rumelant von Sachsen sowie Hermann Damen (mit Datierungen Wachinger, Sängerkrieg, S.  301  f.). Ihre Rivalität gründet zum einen in ihrer sozialen Situation. Gemeint ist damit nicht, dass sie direkt um Lohn konkurrieren – eine solche Konkurrenz wird so gut wie nie thema-

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tisch, in vielen Fällen dürfte sie auch nicht bestanden haben –, sondern dass sie ihre Geltung als Sänger erhöhen, indem sie sich als überlegen erweisen, und dass das daraus resultierende Prestige die Grundlage ihrer Existenz ist (ebd., S. 303  f.). Zudem dürfte auch der ‚Wartburgkrieg‘ einigen Einfluss ausgeübt haben (ebd., S. 312; Hal., S. 286–295.; Löser, Rätsel, S. 270; Tomasek, Rätsel, S. 304, 307  f ). Dafür spricht, dass die Protagonisten des Sängerkrieges wie selbstverständlich unter die Zahl der Sangspruchdichter gerechnet werden, dass ihr Wettstreit in panegyrischen Sangsprüchen nachklingt und dass spätere Rätsel auf das ‚Rätselspiel‘ rekurrieren. Wichtiger als die Frage nach dem Einfluss ist die Einsicht, dass sowohl hinter den Sängerfehden als auch hinter dem ‚Wartburgkrieg‘ das meisterliche Literaturverständnis steht, das die gelehrten Berufsdichter des 13. Jahrhunderts ausprägen und vor dessen Hintergrund sich auch das Modell des Agons ausbildet (Wachinger, Sängerkrieg, S. 306–309). Es gibt freilich auch Sänger, die sich der Kollegenschelte ganz enthalten haben, etwa Bruder Wernher, Reinmar von Zweter oder Friedrich von Sonnenburg. Die Polemik, die sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts an Frauenlob entzündet, ist nur in geringem Ausmaß selbstreferenziell, da sie vorwiegend auf der Sachebene (wîp/vrouwe) geführt wird. Immerhin nimmt sie die Kampfhaltung (und -metaphorik) auf und vermittelt sie an den Meistergesang weiter, wo sie zur Ausbildung eigener Gattungen wie dem Fürwurf und dem Straflied sowie zu der fiktionaler bzw. gespielter Sängerkriege führt, während Angriffe auf reale Kollegen in Spruchdichtung und Meistergesang des 14. und 15. Jahrhunderts kaum mehr vorkommen (ebd., S. 315–319). Auch selbstreferentielle Aussagen, die im Kontext von Äußerungen zum Publikum auftauchen, finden sich bei den verschiedenen Sängern in unterschiedlichem Ausmaß. Auch hier hat Walther Maßstäbe gesetzt, denen sich seine Nachfolger zum Teil völlig entzogen haben. Angriffe auf Fürsten wagen sie kaum mehr (vgl. aber die Angriffe auf Rudolf von Habsburg durch Ps.-Stolle, den Unverzagten und den Schulmeister von Esslingen), auch das Fürstenlob verliert an politischem Biss. Erst bei Frauenlob wird die Panegyrik wieder stark selbstbezüglich, aber auf andere Art, indem sie das Verfertigen des Lobs in auffälliger Weise thematisiert bzw. metaphorisiert. Mit dem Übergang zu städtischen Autoren, für die der Sang Nebenbeschäftigung darstellt und deren Autorschaftsverständnis sich entsprechend verändert (Obermaier, Dichter), tritt die Panegyrik im späten Mittelalter immer weiter zurück. Dafür etabliert sich im Meistergesang das Gesangeslob als fester Typ. Stark selbstreflexiv sind auch diejenigen Meisterlieder, die das Verfertigen von Meisterliedern lehren – Kunst ist für die Meistersinger entsprechend etwas Erlernbares (Boesch, Kunstanschauung, S. 128  f.; Poynter, Poetics, S. 37) – oder eine Übersicht über das Gattungsrepertoire geben. Die Tabulaturen in Liedform schließlich können ob ihres normativen Charakters „als versifizierte Poetik“ (Obermaier, Nachtigallen, S. 281) gelten. Bei Michel Beheim wiederum finden sich Lieder, die das Leben des Dichters erzählen. Für ihn ist das Dichten eine Notwendigkeit, unabhängig vom Publikum.

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 Thematische Kerne

Ausg. Alx.; C.-W.; GA; Hal.; KLD; Krn.; L.; L./Bein; LDM; Mas.; Obj.; Poynter, Poetics; Ruw.; Schl.; Wms.; Zapf; Zck.– Lit. Bein, Untersuchungen; Bickert, Dichter; Bismark/Tomasek, Rätsel; Boesch, Kunstanschauung; Braun, Ars; Braun, Kristallworte; Braun, Situation; Braun/GerokReiter, Selbstbezüglichkeit; Bulang, Intertextualität; Bulang/Runow, Allegorie; Burkard, Sangspruchdichter; Cölln, Fürstenlob; Ebbinghaus, Walther; Egidi, Sängerpolemik; Eschke, Leben; Franz, Studien; Harant, Poeta Faber; Haustein, Freiheit; Haustein, Grenzgänger; Haustein, Marner-Studien; Haustein, Metaphern; Henkel, Alte Meister; Herrmann/Wenzel, Wicman; Huber, C., Herrscherlob; Huber, C., Wort; Hübner, Hofhochschuldozenten; Hübner, Lobblumen; Jakobson, Linguistik; Jolles, Formen; Kablitz, Alterität(en); Kästner, Wettstreit; Kellner/Strohschneider, Geltung; Kellner/Strohschneider, Poetik; Klein, D., Inszenierungen; Klein, D., Poeta artifex; Körndle/Löser, Gesänge; Kralik, Kärntner Sprüche; Lauer, C., Sänger-Rollen; Löser, Bewertungskategorien; Löser, Feind; Löser, Rätsel; Löser, Sängerkrieg; Mertens, Rezension; Nolte, Walther; Obermaier, Dichter; Obermaier, Nachtigallen; Ortmann, Spruchdichter; Pichler, Spiel; Plate, Kunstausdrücke; RSM; Runow, Rezeptionsbedingungen; Stackmann, Bild; Stackmann, Redebluomen; Stackmann, Vorstudien; Strohschneider, Agon; Strohschneider, Textualität; Tervooren, Sangspruchdichtung; Tomasek, Rätsel; Unzeitig, Wîbes gruoz; Urbanek, Genera dicendi; Wachinger, Sängerkrieg; Wenzel, F., Meisterschaft; Wenzel, F., Souveränität; Wenzel, F., Textkohärenz; Willms, Anmerkungen; Wittstruck, Namengebrauch.

6 Fürstenlob und Heische

Dorothea Klein

In dem um 1260 entstandenen ‚Fürstenlob‘, einem Teil des ‚Wartburgkriegs‘, wird als literarische Fiktion inszeniert, was Bestandteil repräsentativen höfischen Lebens gewesen ist: das Lob zu Ehren des Fürsten, mit dem die Dichter zugleich ihre eigene künstlerische Leistung ausstellen. Sechs Sänger treten im ‚Wartburgkrieg‘ gegeneinander an und streiten um die Frage, wer der tugendhafteste Fürst sei: Heinrich von Ofterdingen spricht dem Herzog von Österreich höchstes Lob zu, der Tugendhafte Schreiber, Reinmar von Zweter, Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach brechen eine Lanze für den Landgrafen Hermann von Thüringen, Biterolf (in nachträglich interpolierten Strophen) für den Grafen von Henneberg. Gerühmt werden die Tugenden der Fürsten, zumal ihre milte, die für die Dichter existentielle Bedeutung hat. Die materielle Zuwendung an den Sänger ist auch Gradmesser seines künstlerischen Rangs; mit der Frage nach dem besten Herrscher ist darum zugleich die Frage verbunden, wer der beste Sänger sei. Nahezu programmatisch ausgestellt wird diese Beziehung zwischen den Herren und den Spruchdichtern, den gernden, in der ersten Strophe: Daz erste singen hie nu tut / Heinrich von Ofterdingen in des edelen vürsten don / von Düringenlant, der teilt uns e sin gut / und wir im gotes lon (‚Fürstenlob‘ JBa, Str. 1, Hal., S. 516). Die Spruchdichter haben diesen Zusammenhang von Lobpreis und milte in die Formel guot umbe êre nemen gefasst (zu dieser Formel mit Belegen Franz, Studien, S.  118–122; Ilgner, Scheltstrophen, S.  109–111). Verknüpft sind hier das von den



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Dichtern ausgebrachte Fürstenlob als gültige Form adliger Selbstdarstellung, wie sie einer jeden Panegyrik eigen ist, und der Anspruch auf Anerkennung künstlerischer Leistung auch in Form einer angemessenen materiellen Entlohnung des Sängers, ein Anspruch, den die Dichter im Wissen um den Wert der eigenen Kunstleistung nachdrücklich erheben (s. oben → Kapitel V.5). Im Spruchsang ist dieser Zusammenhang, der die lebensweltliche Praxis bestimmt haben mag, häufig nicht so offensichtlich. Vielmehr rühmen die Dichter einen Fürsten wegen seiner Tugenden und appellieren damit indirekt an seine Generosität, zumal wenn als Haupttugend die milte herausgestellt wird. Bleibt der erhoffte Lohn freilich aus, ist dies Anlass für Fürstenschelte; bekannt sind die Invektiven gegen den als Geizhals verschrienen Rudolf von Habsburg (vgl. Stolle Zapf J. 11; Unverzagter C.-W. III,1; Schulmeister von Esslingen KLD 10,I,1). In diesen Kontext gehören aber auch alle Strophen, die auf den pragmatischen Zusammenhang der Spruchdichtung Bezug nehmen, seien es direkte Appelle wie die verschiedenen Heischestrophen oder indirekte, die das armselige Dasein der Fahrenden thematisieren. Fürstenlob Sangsprüche, die dem Herrscher huldigen, führen eine alte Tradition fort: Prunkreden und Lobrhetorik hatte bereits die griechische Antike gepflegt, und seitdem riss der Bedarf an Lob- und Preisgedichten, sei es auf weltliche Größen, sei es auf geistliche, nicht ab (zur lateinischen Panegyrik vgl. Curtius, Europäische Literatur, S. 164–166, 184–186, 423–425, zum Preislied in der altnordischen Tradition vgl. Marold, Preislied). Die lateinische Tradition unterscheidet zwei Grundtypen: den biographischen Herrscherpreis, der herausragende Ereignisse reiht oder auch nur ein einzelnes Ereignis im Leben eines Herrschers herausstellt, und den Lobpreis, der Tugenden und Fähigkeiten rühmt (Georgi, Preisgedicht, S. 32–46), insbesondere die Kardinaltugenden der fortitudo ‚Tapferkeit‘ und prudentia ‚vorausschauende Klugheit‘, aber auch musische Begabung, Bildung und Eloquenz (Curtius, Europäische Literatur, S. 185). Bevorzugt hat man letzteres, den ethischen Herrscherpreis, Lobgedichte auf spezifische Leistungen oder auf eine Herrschergenealogie begegnen eher selten. Im Mittelalter musterbildend waren namentlich die Gedichte des Venantius Fortunatus (um 540 – um 600/610) und des Theodulf von Orléans (um 750/60–821) mit ihrem ausgeprägt „substantivischen Stil“ (Georgi, Preisgedicht, S. 53), besonders der asyndetischen Reihung von Metonymien und Metaphern. Das Fürsten- und Gönnerlob der Spruchdichter (s. die Zusammenstellung im Registerband des RSM, s.  v. ‚Fürsten-, Herren-, Herrscherlob‘ und ‚Totenklage‘) knüpft an diese Tradition an, setzt aber durchaus eigene Akzente. Im Ganzen dominieren wie in der lateinischen Tradition Sprüche, welche die Tugenden der gewürdigten Person herausstellen. Strophen, die Bezug auf eine bestimmte historische Situation nehmen, sind die Ausnahme wie etwa die idealisierenden Königs- und Reichsvisionen Walthers von der Vogelweide im Ersten Philippston (L.  18,29 und 19,5), die auf die Krönung

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Philipps von Schwaben im September 1198 bzw. auf seine prunkvolle Festkrönung an Weihnachten 1199 in Magdeburg Bezug nehmen (Schw., S. 351). Walthers Preisstrophe L. 25,26 auf Herzog Leopold VI. von Österreich lobt überschwenglich und, wie es scheint, unironisch dessen außerordentliche Freigebigkeit, die er den Fahrenden anlässlich seiner Schwertleite im Mai 1200 (oder bei seiner Hochzeit mit der byzantinischen Prinzessin Theodora im November 1203) erwies. Ihn, seinen Vaterbruder Heinrich von Mödling und den Patriarchen von Aquileia, Wolfger von Erla, rühmt der sog. Drei-Fürsten-Preis L. 34,34 wegen ihrer milte, die dem Sprecher-Ich zumindest zeitweise ein angenehmes Auskommen sichert. Diesen Zusammenhang zwischen Fürstenlob und materieller Absicherung der Sängerexistenz stellt ungeniert auch der Preis L. 35,7 auf den Thüringer Landgrafen (Hermann I.) heraus, dezenter, nämlich die Bedürftigkeit des Berufsdichters hintanstellend, ist Walthers Lob L. 85,1 auf den Kölner Erzbischof Engelbrecht von Berg (1216–1225), den er als treuen Sachwalter des Königs sowie der Reliquien der Drei Heiligen Könige und anderer Heiliger preist. In allen Strophen aber wird die Kunstfertigkeit des Lobes ausgestellt: durch gesuchte Vergleiche, Pflanzenmetaphorik oder die Klimax der lobenden Benennungen. Den Zusammenhang von Generosität und ‚Ehre‘ – diese im Doppelsinn als erworbener Rang und Status einerseits, als öffentliche Anerkennung und Ehrerbietung in Form von Lobpreis, Gesten und symbolischen Handlungen andererseits verstanden – thematisieren schon die ältesten Sangsprüche, ‚Hergers‘/Spervogels (I) Klage über den Tod der Herren von Steinsberg und anderer Gönner, die êre durch milte erwarben (MF 25,20, 25,27, 25,33), und das hoffnungsvolle Lob ihrer Nachfolger, der Grafen von Oettingen (MF 26,6). Der bedeutendste Zeitgenosse Walthers unter den Spruchdichtern, Bruder Wernher, führt diese Traditionslinie fort. Sein hyperbolischer Lobpreis auf den österreichischen Grafen Wilhelm IV. (?) von Heunburg (Zck. 32) bestätigt diesem eine abundante Großzügigkeit, die ihn zum makellosen Sohn der Frau Ehre (v. 2) und zu der gernden ôstertac (v. 6), also zu deren Auferstehung und Neugeburt zu einem leidfreien Leben, macht. Das Herrscherlob Zck. 62 akzentuiert das Thema der milte ganz aus der Perspektive eines betroffenen Ichs (v. 1: Ich bin des edelen werden küneges milte vrô), das am Schluss jedoch selbstironisch eingestehen muss, von dieser milte bislang nicht profitiert zu haben. Mit dem künec ist vielleicht Konrad IV. gemeint oder sein Halbbruder Heinrich (VII.). Die ‚blümenden‘ Pflanzenmetaphern, welche dessen Tugenden, besonders aber reine und milte umschreiben, sind von Walther angeregt (vgl. die Einlassbitte L. 20,31, die den umworbenen Fürsten mit mildem Regen und blühender Heide vergleicht). Auch das Lob Zck. 61 auf den von der Burg Osterberg zurückkehrenden Grafen – es kann sich nur um einen Henneberger handeln, wohl Poppo VII. († 1245) – stellt seine Qualitäten und vor allem seine milte (v. 5) heraus. Hingegen rückt das Lob Zck. 38 auf den Grafen Poppo VII. von Henneberg allein dessen triuwe und êre, seine herrenmäßige Gestalt und Gesinnung sowie die Abstammung aus einem edlen Geschlecht in den Mittelpunkt. Die thematische Ausrichtung dieser Strophe Wernhers ist symptomatisch für die Lobsprüche der Folgegeneration: Sie heben nurmehr die virtutes des Fürsten, häufig



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auch seine milte hervor, ohne auf die Geschäftsgrundlage, den Konnex von Lohn und Lob, zu pochen. Gemeinsam ist all diesen Strophen die laudative Absicht, sie unterscheiden sich aber auffällig im Einsatz der poetischen Mittel und setzen so auch konzeptionell neue Akzente: So baut Reinmar von Zweter sein konventionelles Lob auf König Erik  IV. von Dänemark (Roe. 148) auf einer figura etymologica mit dem Basislexem crône auf (das Kronenmotiv schon bei Walther L. 18,29, dann auch bei Wernher Zck. 39 und Sigeher Brt. 8; Georgi, Preisgedicht, S. 141–154). Der Meißner spielt hingegen figurenetymologisch mit dem Substantiv und Adjektiv hêr, um sein Lob auf Bischof Hermann von Kammin auszubringen (Obj. IV,4). Ein Wortspiel mit ist und was, ferner mit wol tuon und baz tuon nutzt Reinmar von Zweter, um das Verhalten Markgraf Heinrichs  III. von Meißen in Vergangenheit und Gegenwart zu kontrastieren (Roe. 227). Aparte Tiervergleiche setzt er in seinen vielleicht als zwîvellop gemeinten Preisstrophen auf den Mainzer Erzbischof Siegfried  III. von Eppstein ein, um dessen Umtriebigkeit, politische Vorsicht und Ehr-Geiz zu charakterisieren (Roe. 185, 228). In seinem Lob auf den jungen König Erik VI. Menved nutzt Rumelant von Sachsen das argumentum a nomine, d.  h. er operiert mit der Etymologie des Namens: Êrîch = der êren rîche (Ruw. V,8), während er in seinem Lobspruch auf zwei Herren namens Zabel (von Plawe bzw. von Reddichsdorp) metaphorisch die Namengleichheit mit dem Zobel nutzt (Ruw. VIII,12). Eine auffällige Lichtmetaphorik, mit motivischen Anklängen an Heinrichs von Morungen Lied MF 133,13 bzw. an die Heilige Nacht, bestimmt Rumelants Lobsprüche auf einen Braunschweiger Fürsten (Albrecht I.?, Ruw. VI,5) und auf Rudolf von Habsburg anlässlich seiner Wahl zum deutschen König (Ruw. V,7), während sein Lobpreis auf Herzog Ludwig II. von Bayern (Ruw. II,13) Anleihen beim Tagelied macht: So wie der graue Morgen die finstere Nacht durchbreche und die Sonne hervorleuchte, so erstrahle Baiern im Glanz seines Kurfürsten, des Pfalzgrafen bei Rhein. Den Namen des Gepriesenen, Albrecht (I.) von Braunschweig, verrätselt Rumelant (wie auch der Marner den Namen Hermanns von Henneberg in Wms. 7,4) schließlich in Strophe Ruw. II,12, die überdies effektvoll-gelehrt, durch Aufzählung antiker Autoren, den Unfähigkeitstopos einsetzt. Und der Goldener, indem er einen Ehrenkranz aus verschiedenen ethischen Qualitäten wirken lässt, betreibt gänzlich die Metaphorisierung des Lobs (HMS III,19,4), löst es damit aber auch von der Person des zu Lobenden. Eine weitere, oft genutzte Möglichkeit, um die Uniformität der laudativen Rede zu vermeiden (und in der Konkurrenz der professionellen Spruchdichter zu bestehen), war der Vergleich des Gepriesenen mit legendären Vorbildern aus Bibel, Mythos und Geschichte: So spricht Sigeher in Strophe Brt. 8 König Wenzel  I. von Böhmen die legendäre milte Fruotes, eines sagenhaften Dänenkönigs, die Weisheit Salomons und die werdekeit eines Artus zu, Friedrich von Sonnenburg rühmt den böhmischen König, der milte wunderaere (v. 12), indem er ihn mit Saladin und seinen Reichtum mit dem des Cosdras auf eine Stufe hebt (Mas. 53), und Boppe setzt die Qualitäten Rudolfs von Habsburg in Alx. II,1 mit Vorbildern aus dem Alten Testament in Bezug; schon ‚Herger‘/Spervogel (= Spervogel I) hatte als Vergleichsfiguren für die milte Wernharts

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von Steinsberg Fruote und Rüdiger von Bechelaren genannt (MF 25,20; 25,33; zu einzelnen Vergleichsfiguren, etwa Alexander dem Großen, Saladin und Welf VI., vgl. den Registerband des RSM). Zu den Möglichkeiten der Variation wird man schließlich auch die Ironie rechnen dürfen (vgl. etwa Walthers Dankstrophe L. 80,35 an einen Grafen von Katzenellenbogen; Wernhers Lob Zck. 74 auf den Herzog von Österreich, wohl Leopold VI., der zur Fahrt ins Heilige Land aufbricht; des Unverzagten Spruch C.-W. III,1, der das Lob auf Rudolf von Habsburg durch eine ironische Schlusspointe unterläuft). Bevorzugtes poetisches Mittel sind freilich die der lateinischen Panegyrik abgeschauten, sich bisweilen über die ganze Strophe erstreckenden Prädikatreihen, welche die Tugenden und Fähigkeiten des Fürsten preisen, zugleich aber auch vorzüglich geeignet sind, die ästhetische Kompetenz des Lobredners unter Beweis zu stellen. Eingeführt hat diesen Typus in deutscher Sprache, wenn nicht alles täuscht, Reinmar von Zweter mit dem Lobpreis Roe. 136 auf Kaiser Friedrich II. (Hübner, Lobblumen, S.  226). Diese Strophe, welche die vier Kardinaltugenden (maßvolle Besonnenheit, Tapferkeit, Klugheit, Gerechtigkeit), höfisch-feudale Normen (triuwe, staete, zuht) und fundamentale Aufgaben des Herrschers (Schutz der Christenheit, Wahrung des Friedens und der Gerechtigkeit) jeweils mit „hyperbolischen Nominativen zu Genitiv­ metaphern“ verknüpft (ebd., S. 227), wurde musterbildend für das Fürstenlob in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Diesem Modell folgten etwa Friedrich von Sonnenburg in seiner Preisstrophe auf Herzog Otto II. von Bayern (Mas. 51), der Meißner in seinen Lobsprüchen auf die Brandenburger Markgrafen Otto V. den Langen (Obj. XVII,8), Otto IV. mit dem Pfeil (Obj. XVII,9) und Albrecht III. (Obj. XVII,11), der Goldener in einem Spruch gleichfalls auf Otto V. von Brandenburg (HMS III,19,5) und Frauenlob in seinen Lobsprüchen auf die Grafen Otto III. von Ravensberg und Gerhard von Hoya sowie Herzog Heinrich II. von Mecklenburg (GA V,8, 9 u. 11). Variiert wurde durch die Auswahl des Metaphernspenders. Benutzt der Meißner etwa Bilder aus der ‚Physiologus‘-Tradition und der Tierallegorese, bezieht Hermann Damen in seiner Lobstrophe Schl. VI,3 die Qualitäten des Gepriesenen, des Grafen Heinrich  I. von Holstein-Rendsburg, metaphorisch auf die Vertreter hochgeschätzter Handwerke: Ein bilder vurstelîcher werc, / ein houbetmâler reiner site, / ein goltsmit gantzer truwe, […] (v. 1–3, „Ein Bildhauer fürstlicher Werke, ein meisterhafter Maler reinen Verhaltens, ein Goldschmied vollkommener Treue […]“). Dass Damen vorzugsweise Metaphern gewählt hat, die traditionell auch das Handwerk des Dichtens umschreiben, ist sicherlich nicht zufällig: Denn über die gemeinsame Metaphorik kann er Ethos und Kunst zusammenschließen und damit auch den Dichter dem Fürsten gleichstellen. Totenklage Eine Sonderform des Fürstenlobs stellt die Totenklage dar; auch sie hat Vorbilder und Vorläufer in der lateinischen Schriftlichkeit (vgl. Hengstl, Totenklage; Kiening, Totenklage). Die begrenzte Form des Sangspruchs erlaubte freilich kaum je eine Ent-



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faltung der Teile, die traditionell den Aufbau der Totenklage bestimmen: ‚Klage über den Verlust‘, ‚Lobpreis des Verstorbenen‘ einschließlich Fürbitte und ‚Trost für die Hinterbliebenen‘ (Kiening, Totenklage, S. 655). Verschieden ist auch der imaginierte Zeitpunkt des Sprechens: Die Klage kann unmittelbar auf den Tod eines Großen reagieren, so etwa Walthers – unkonventionelle, weil die Größe des Verlusts in einem hyperbolischen Rachewunsch ausdrückende – Klage L. 85,9 auf den gewaltsamen Tod des Kölner Erzbischofs Engelbrecht oder Bruder Wernhers Klage Zck. 63 auf den Mord an Herzog Ludwig I. von Bayern († 1231) – sie übernimmt dann auch die Funktion eines politischen Kommentars. Oder sie ist aus der erinnernden Rückschau gesprochen wie etwa Frauenlobs Klage GA V,81 über den Tod Rudolfs von Habsburg († 1291) und Heinrichs (IV. oder V.) von Breslau († 1290 bzw. 1296), deren nicht verblasster Ruhm die allgemeine Erfahrung bestätigt, dass die Lebenden nie für den Verlust der Gestorbenen entschädigen – die Klage übernimmt in solchem Fall als Spielart der laus temporis acti zeitkritische Funktion. Kaum je einmal werden Charakter und Leistung des Verstorbenen ‚objektiv‘ gewürdigt. Eines der wenigen Beispiele ist Rumelants von Sachsen Totenklage auf Herzog Albrecht  I. von Braunschweig († 1279), dessen Unvergleichlichkeit in Bezug auf tugent und êre gerühmt wird und der darum, dies eine Variante der commendatio, der Fürsprache Mariens anvertraut wird (Ruw. VIII,4); ein anderes Beispiel ist Rumelants Ermahnung Ruw. II,14  f., des verstorbenen Fürsten Barnim I. von Pommern-Stettin († 1278) nicht zu vergessen, der sich zu Lebzeiten durch milte und Unterstützung aller Notleidenden ausgezeichnet habe. Wird hier die Topik des Fürstenlobs abgerufen, so hatte Wernher in seiner Klage über den ermordeten Bayernherzog (Zck. 63) – wohl beschönigend – den unermesslichen Verlust für Kaiser und Reich geltend gemacht. Seine Klage Zck. 12 über den Tod Friedrichs II. von Österreich († 1246) hebt die Großzügigkeit des Herzogs gegenüber dem Adel und dessen Loyalität gegenüber dem Landesherrn hervor; die commendatio wird indes durch die säkulare Bitte an den König von Böhmen ersetzt, dem biderben ûz Ôsterrîch zu helfen, also dem Land als Ganzem oder dem Sänger, der seine Kunst zukunftsorientiert einem neuen Herrn anträgt. Gänzlich subjektiviert erscheint der Verlust in der Totenklage des Tannhäusers auf seinen Gönner, denselben österreichischen Herzog (Sieb. XIV,4); dessen Tod bedeutet ihm ausschließlich, der eigenen materiellen Existenz beraubt zu sein, und die Folgestrophe Sieb. XIV,5 expliziert diesen Verlust durch die Aufzählung der Güter, die das Ich zu Lebzeiten seines Gönners besessen hat. Ähnlich thematisieren auch Der von Buchein den persönlichen Verlust (mir zu schaden) in seiner Klage auf einen Grafen von Calw (KLD 5,V,2) und Rumelant von Sachsen in seiner Klage auf Graf Gunzelin III. von Schwerin († 1274). Konsolatorische Funktion erfüllt keine der spruchsanglichen Totenklagen, wohl aber haben sie Memorialfunktion: Sie sind darauf angelegt, der Vergänglichkeit des Leibes entgegenzuwirken und den Nachruhm des toten Fürsten zu sichern – tôt ist sîn lîb, noch lebet sîn lob (Rumelant Ruw. VIII,4,3), „… doch sein Ruhm lebt noch fort“, nicht zuletzt in und durch Fürstenlob und Totenklage.

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Das Fürstenlob als Medium der Selbstthematisierung Aus der Doppelbedeutung des mittelhochdeutschen Worts lop, das die Preisrede und ihren Gegenstand, nämlich Ruhm und Ehre des zu Preisenden, meinen kann, haben die Dichter namentlich nach der Mitte des 13. Jahrhunderts Ansätze zur Selbst­ thematisierung entwickelt (s. dazu Huber, C., Herrscherlob; Haustein, Freiheit; oben → Kapitel V.5). Rumelants Aussage noch lebet sîn lob kann ja auch heißen: „… doch seinen Lobpreis (der Ruhm und Ehre des Verstorbenen verkündet) gibt es noch“, sie verwiese damit auf sich selbst. Ähnlich Friedrich von Sonnenburg, der dem Grafen von Beichlingen die Fähigkeit zuspricht, werdez lop durch seine freigebige Hand zu verdienen (Mas. 60), also Ruhm und Anerkennung, aber auch den hochgeachteten Lobpreis, der Ruhm und Anerkennung, die entsprechenden Tugenden des Gelobten vorausgesetzt, in eine ästhetisch befriedigende Form kleidet. Das Lob des Fürsten wird damit unter der Hand zum dichterischen Selbstlob. Allein das Preisgedicht meint lop in des Sonnenburgers Lobpreis Mas. 41 auf Ulrich von Reifenberg, der den Herrn am Baum der Ehre, größer als die Zeder, misst und Lob zurückweist, das ihn nur mit einem Zweig vergleicht. Reflektierte Intertextualität dürfte dem Lob Rumelants von Sachsen auf Herzog Ludwig II. von Bayern (Ruw. VI,9) zugrundeliegen, das behauptet, die Unvergleichlichkeit des Fürsten auch nicht mit elaborierten Tiervergleichen beschreiben zu können; das ist wohl ein Seitenhieb auf den Meißner, der gern Exempla aus dem ‚Physiologus‘ und der Tierallegorese genutzt hat. Noch einen Schritt weiter geht der Marner, der in seiner Preisstrophe auf den Grafen von Henneberg, wohl Hermann I. (Wms. 7,4), die Allegorie eines stürmischen – alles hinwegreißenden, emphatischen – und zugleich wohlklingenden lobes entwirft, das sich rasch in allen Landen, besonders an den Höfen des Adels, ausbreitet: Es rúschet als windes brut / ein lob in tútschú lant, / es hillet unde schone lut, „Es rauscht wie eine Windsbraut / ein Lob durch die deutschen Lande, / es tönt und klingt schön“ (v. 1–3). Begleitet wird es von Frau Ehre, ferner von Riesen und Zwergen, also von groß und klein (oder vom Personal der aventiurehaften Dietrichepik, was seine Außerordentlichkeit unterstriche?), es spricht alle Sinne an, mehrt das Ansehen des Gepriesenen in der Welt und ist Fürsprecher bei Gott (v. 12: und wúnschet hin ze gotte). Die Anaphern Es rúschet, es hillet, Es rúchet, es ist und es wirdet (v. 1, 3, 6, 8, 12) generieren eine Dynamik des Preisens und zugleich einen Spannungsbogen, der auf die Auflösung der Spannung – von wem ist eigentlich die Rede? – hindrängt, und das Spiel mit identischen und homonymen Wörtern – ger, wern, gewern, gernden gern, werende, wern und gerndú (v. 14–18, 20) – erzeugt ein euphorisches Sprechen, an dem der Lobende sich und seine Hörer berauscht. Eine andere Möglichkeit selbstreferentiellen Sprechens erprobt Konrad von Würzburg in seinem Lobspruch auf den Straßburger Bischof Konrad III. von Lichtenberg (Schr. 32,361), der seine Funktion, das Loben, und seine poetische Machart explizit ausstellt: Ein lob geblüemet vert in hôher werdekeite solde (32,361, „Im Dienst hoher Würde fährt ein ‚geblümtes‘, d.  h. mit laudativen Metaphern geschmücktes Lob einher“). Die Metaphern spendet der Herkunfts- bzw. Geschlechternamen des



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Gerühmten, Lichten-berg; es dominieren darum die Isotopien der Höhe, des Glanzes und des Lichts. Es ist aber das Lob, das metaphorisch in die Höhe wächst und vielfältig strahlt, und auch der Wortschatz des Glänzens und Leuchtens (gesteine ûz golde, brehen, schînen, glesten sam der liehte morgensterne, wünneclichen sehen, glenzen […] alsam der sunnen schîn und nochmals glesten) ist samt und sonders auf das Lobgedicht bezogen. Lob und zu Lobender sind indes metaphorisch zusammengeschlossen, die kunstvollen Ausdrucksformen sind, da vom Namen des zu Rühmenden inspiriert, auch poetisches Mittel, das Lob des Lichtenbergers zu croenen: Sie erweisen sich damit als eine Kippfigur, die den Glanz des Fürsten und noch mehr den Glanz des Dichters und seines Gedichts zur Geltung bringen. Eine eigene Position im Spannungsfeld von Konvention und Innovation, Fremdlob und Eigenlob nimmt schließlich Frauenlob ein (dazu schon Georgi, Preisgedicht, S. 168–172; Stackmann, Redebluomen; Hübner, Lobblumen, S. 263–277; Klein, D., Poeta artifex). Nicht nur nutzt er den pragmatischen Zusammenhang, das Lob des Fürsten, zur Reflexion der eigenen Kunst und zur dichterischen Selbstinszenierung; er macht den Ruhm des Herrschers auch vollends von seinem Lob abhängig. Nicht weniger als fünf Lobsprüche werden mit poetologischer Reflexion eröffnet. In der Lobstrophe GA V,8 auf den Grafen Otto III. von Ravensberg deklariert das Sänger-Ich sich als Medium und damit sein Lob als Geschenk göttlicher Inspiration; in GA V,10, einem Lob auf den jungen Wizlav von Rügen, ruft das Ich seine Seelenkräfte, namentlich sein schöpferisches Vermögen und Talent, an und ermächtigt sich damit selbst zum Gesang, wie auch in GA V,11, einer Strophe auf Heinrich II. von Mecklenburg, in der das Ich an herze und sin (v. 1, 4), also das eigene ästhetische Urteilsvermögen, appelliert, eine qualitativ hochwertige Lobrede hervorzubringen. Der jeweils unmittelbar folgende Lobpreis bestätigt die Wirksamkeit des Appells – und damit auch die künstlerische Selbsteinschätzung. In Frauenlobs Preis auf Graf Otto II. von Oldenburg (GA V,*12) werden auch die Preismetaphern (die Blüten der Bäume, die Zierde des Mai, der Sonnenschein), ähnlich wie in Konrads Lobstrophe auf den Lichtenberger, selbstbezüglich, mutiert der Fürstenpreis abermals zu einem Preis der eigenen Kunstfertigkeit. Dies gilt vollends für Strophe GA V,13, die das Dichten eines Preislieds mit der Arbeit eines Architekten vergleicht und damit als einen Akt planerischen Gestaltens und ästhetischer Formung. Ein solches lob, in diesem Fall dem jungen Markgrafen Waldemar von Brandenburg gewidmet, bewirke wunder (v. 19). Auch dies kann selbstreferentiell gelesen werden; es hieße, dass Rang und Bedeutung des Fürsten sich der Kunst Frauenlobs, der Kunstfertigkeit seines Lobs, verdanken. Frauenlobs Strophe GA XI,1 im Neuen Ton schließlich, vielleicht die „Einleitungsstrophe eines mehrstrophigen Preisgedichts“ (GA II, S. 973), legt sein poetologisches Programm des Lobpreisens dar: das kunstvolle ‚Blümen‘, das durchgrunthaftigen list „den Grund ganz und gar erfassendes Wissen und Kunstverstand“ (v. 8) voraussetzt. Während sein Vorbild Konrad von Würzburg einen Kranz flicht und mit Blumen besteckt (vgl. den Prolog zur ‚Goldenen Schmiede‘), muss es bei Frauenlob in überbietender Absicht indes gleich eine ganze Laube sein. Der Empfänger des Lobs, Erich VI., wird nur in versteckter

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Form (vgl. v. 7: eren richer) und nebenbei erwähnt (v. 16  f.: in Tenemarken ie ich bin / priser des küniges, „in Dänemark bin immer ich der Lobpreiser des Königs“), gelobt wird primär das eigene dichterische Vermögen. Heische, Schelte und Armutsklage Zur Selbstreferentialität im weiteren Sinn gehört auch die Thematisierung des pragmatischen Kontexts, der Lebensumstände der Spruchdichter. Zahlreiche Strophen haben darum die Forderung oder den Anspruch auf Lohn für erwiesene dichterische Leistung explizit zum Gegenstand, einen Anspruch, den die außerhalb jeder Rechtsnorm lebenden Fahrenden rechtlich nicht einklagen konnten. Umso öfter nutzten sie die Kunstform des Sangspruchs. Als dezent formulierte Heische darf man auch die vielen Strophen mit Reflexion und Lobpreis fürstlicher milte (vgl. RSM, Bd. 15, s.  v. milte) verstehen, als weniger dezente Heischestrophen die zahlreichen Armuts- und Unglücksklagen. So beharrlich die Strophen auch um die immer gleichen Themen kreisen, so variationsfreudig sind sie in den Argumentationsstrategien und poetischen Mitteln, und nicht weniger verschieden sind die zum Geben stimulierenden Sprechmodi: Man klagt, bittet und fordert, argumentiert und versucht zu überzeugen, droht, beschimpft und verwünscht, und man lobt, wobei Wert darauf gelegt ist, dass dies nach Verdienst und Würdigkeit geschieht. Mit der Fülle von Heische-, Schelt- und Klagestrophen unterstreichen die Spruchdichter nicht nur das Wissen um den Wert ihrer Kunst, sie erheben damit auch nachdrücklich Geltungsansprüche und die Forderung nach Anerkennung in Form von guot. Kein Dichter hat, überzeugt vom Rang seiner Kunst, so nachdrücklich und so unverblümt seine Forderung nach milte vorgetragen wie Walther von der Vogelweide. In Strophe L. 28,1 im König-Friedrichs-Ton behauptet das Sprecher-Ich, seine mate­rielle Not stehe im Kontrast zu seinem hohen literarischen Rang (v. 2). An den König, gemeint ist wohl der junge Staufer Friedrich II., richtet sich darum sein Appell, Erbarmen zu zeigen und die Sängernot zu beheben. Wie in L. 31,23, einer vielleicht an Kaiser Otto IV. gerichteten Klage über Heimatlosigkeit und unstetes Wanderleben, wird die Behebung der Sängernot zur Bedingung dafür gemacht, dass auch die (politische? das Seelenheil gefährdende?) Not des Königs vergeht. In dieser Lehensbitte artikuliert sich das enorme Selbstwertgefühl eines Fahrenden, der seine materielle Abhängigkeit vom königlichen Mäzen in dessen Abhängigkeit vom Sänger bzw. von der Würdigung der Sängerleistung verkehrt. Eine andere Taktik wählt Walther mit der Einlassbitte L. 20,31, wenn er die milte des Herzogs von Österreich als wohltuenden Regen rühmt: Allenthalben regne es Gaben, nur einer, der Ich-Sprecher, sieht sich im Trockenen stehen: wie möht ein wunder grœzer sîn? (v. 4). Damit wird nicht nur eine Mangelsituation exponiert; mit der Anspielung auf das Wunder von Gedeons Vlies, das trocken bleibt, während der Boden darum herum von Himmelstau benetzt ist (vgl. Idc 6,36–40), bekräftigt das Ich auch seinen außerordentlichen künstlerischen Rang (ähnlich doppeldeutig sein Selbstvergleich mit ein weise [v. 2], was das Waisenkind



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oder den lapis orphanus der Kaiserkrone, den Stein „ohne seinesgleichen“, meinen kann). L. 84,1, eine Preisstrophe, mit der Walther um die Aufnahme am Wiener Hof und um die milte des Herzogs, Leopold VI., wirbt, setzt abermals eine raffinierte Werbestrategie ein: Sie schmeichelt, indem sie der Gabe aus des Herzogs Hand einen Platz in der „mittelalterlichen Wertetrias“ (Schw., S. 501), neben Gottes Huld und Minne der Damen, zuweist. Öfter noch hat Walther die Bitte um Anerkennung und Lohn indes in aggressive Formen gekleidet: Eine versteckte Lohnforderung an die Adresse König Friedrichs II. ist wohl die „Mängelrüge“ (Schw., S. 379) des vorherigen Gönners, Kaiser Ottos IV., der für fehlende milte gescholten wird (L. 26,23; ähnlich auch L. 26,33). Eine Bittstrophe versteckt sich wohl auch hinter der hochironischen Ergebenheitsadresse an den Bogner, d.  i. der Graf von Katzenellenbogen, der primitive Musikanten einem meister und Vertreter hofwürdiger Kunst, also Walther, vorziehe (L. 80,27). Als „offene und aggressive Kampfansage“ (Schw., S. 423) an den Wiener Hof kommen indes die Klagen L. 31,33 und 32,7 über den sich breit machenden unhovelîchen Gesang daher, mit dem Walther den Fortbestand des höfischen Gesangs und, als dessen Repräsentant, sein eigenes materielles Auskommen bedroht sieht. Und nicht minder kämpferisch, nämlich weitere rufruinierende Schelte in Aussicht stellend, erweist sich Walthers Sprecher-Ich in den Scheltstrophen auf den Markgrafen (Dietrich) von Meißen (L. 105,27, 106,3), der die angemessene Entschädigung für geleistete Dienste, d.  h. die ideelle und materielle Anerkennung für das erbrachte lob, schuldig geblieben sei. Vom Zwang, Scheltlieder zu singen, zeigt sich endlich Walthers Sprecher-Ich in Strophe L. 28,31 befreit, dem Dank für das Lehen des Königs, das den fahrenden Künstler aus der Armut erlöst. Damit ist auch die Bandbreite der Möglichkeiten abgesteckt, Anerkennung und Lohn für die erbrachte Kunstleistung geltend zu machen. Sie reicht von verhüllten, sich hinter Beispielen oder allgemeinen Betrachtungen über die Fürstentugend der milte verbergenden Forderungen bis zu unverhüllter Aggression, nämlich Androhung von Fürstenschelte oder Bloßstellung fürstlichen Geizes und/oder fehlenden Kunstverstands, und von der Klage über die Erfolglosigkeit der Kunst über den Appell an die Reichen, den gast willkommen zu heißen, bis zum Lob der êre, milte oder Kunst. Der älteste namentlich bekannte Sangspruchdichter, ‚Herger‘/Spervogel I, versteckt seine Forderung nach Lohn hinter das allegorische Bild vom Hungrigen, der den Obstbaum, nämlich den Herrn, schüttelt, aber aufgrund von unheil, gemeint ist wohl der Geiz, kein Obst bekommt (MF 29,13), Spervogel II hinter das Exempel des Mannes, der an einen großen See kommt, aber ungetränkt bleibt, so oft er auch den Becher hinhält (MF 23,13). Namentlich die Spruchdichter nach 1250 untermauern ihren Wunsch bzw. ihre Aufforderung zur milte mit Beispielen, die aus der geistlichen Naturallegorese geborgt sind, mit Bibelzitaten oder allgemeingültigen Lebensregeln. So verlangt Konrad von Würzburg von den adligen Herren, dem Beispiel des Bibers zu folgen, der seine Hoden opfert, um sein Leben vor den Jägern zu retten, soll heißen: die gernden großzügig zu entlohnen, um sich Schande zu ersparen, und dem Einhorn nachzutun, das zur Jungfrau, d.  h. zur Ehre, flieht (Schr. 32,331). Boppe benutzt das Exempel vom

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Vogel galadrîus aus dem ‚Physiologus‘ für einen Appell an die Herren, mit kritischem Blick ihre Gaben zu verteilen; sich selbst aber wünscht das Ich die Augen des Vogels, um die Geizigen zu töten und die Mildtätigen zu erkennen (Alx. I,5). Friedrich von Sonnenburg erinnert an Jesu Wort (Mt 5,24), jedem zu geben, der in seinem Namen bitte, weshalb die Bitte des Gehrenden um ein geringez guot keine Sünde sein könne (Mas. 66). Und Hermann Damen verkleidet seine Lohnforderung in die fromme Sentenz, dass Gottes Freund sei, wer seinen Pfennig teile, dass Ehre aber verliere und in die Hölle komme, wer den Pfennig zu sehr liebe (Schl. IV,8). Zahlreich sind die Klagen über den Verfall der alten adligen Leittugenden der triuwe und milte, insbesondere aber über Geiz, Knausrigkeit und gebrochenes Lohnversprechen. Dahinter verbirgt sich die manipulative Absicht, diejenigen, denen solche Klagen zu Gehör gebracht werden, zu (mehr) Freigebigkeit anzuspornen. So klagt etwa der Meißner, dass viele, die einst der milte pflegten, gestorben seien, man heute nur noch zwölf und unter diesen nurmehr vier finde, die Kunst und Können angemessen belohnen (Obj. II,4). Mitunter sind solche Klagen mit der Drohung, die Schande der geizigen Herren öffentlich zu machen, kombiniert (z.  B. Der Unverzagte C.-W. III,4) – mit ihr spielt der Machtlose selbstbewusst seine Macht gegenüber den Herren aus –, mitunter auch mit Reflexionen über den Wert der Sangeskunst. So nutzt (Pseudo-)Stolle seine Klage Zapf J. 25, um die Authentizität seiner Kunst zu bekräftigen: Den geizigen Herren wolle er bzw. sein Ich-Sprecher nicht mehr singen, denn sänge er die Wahrheit, bliebe der Lohn ohnehin aus. Bruder Wernher verknüpft die Heische mit einem Selbstlob, wenn er in Strophe Zck. 44 die Integrität seines Sangs geltend macht und den geringen Lohn dafür beklagt. Von der strengen Observanz gibt sich auch der Unverzagte, wenn er in C.-W. I,7 vom Sänger mit sin fordert, nur ein Lob zu singen, das moralisch zu verantworten ist, und im übrigen Lasterschelte. Die Klage des Marners über die ungleiche Verteilung der Güter schließt pointiert mit einem Lobpreis auf den glücklichen Besitzer, der dem vom Schicksal weniger begünstigten Ich zu Hilfe kommt (Wms. 7,2), seine Klage über die Habgier (Wms. 7,3) vergleicht hingegen gehorteten Reichtum mit den Eigenschaften von Tieren, z.  B. dem Quaken des Frosches, die dem Menschen zu nichts nütze sind. Kelin wiederum erinnert an die Regel, dass mit ehrschmähender Schelte rechnen muss, wer dem Dichter seinen Lohn vorenthält (Whm. II,2); subjektive Betroffenheit verrät allerdings der „Wutausbruch“ (Whm., S. 89): Swie tump ich bin, er toeret sich, swer mich denket betriegen! (v. 7). Dem Geiz und mangelndem Kunstverstand der „Hiesigen“ versucht Kelin in einer anderen Strophe mit dem Hinweis auf seine Wertschätzung in Swâben, an dem Rîne, in Beiern und in Ôstervranken (Whm. II,3,5  f.) beizukommen. Gelegentlich werden falsche Ratgeber des Fürsten für die Misere des Dichters verantwortlich gemacht. So räsonniert Bruder Wernher, offenbar wegen ausbleibender Freigebigkeit, über das ‚Verglühen‘ des Fürstenlobs und deutet an, dass der milte man offensichtlich manipuliert worden sei (Zck. 47; ähnlich auch Zck. 55, eine Klage über die ôrendriusel ‚Ohrenbläser‘, die den Herrn davon abhalten, milte zu üben). Der Meißner klagt an einer Stelle auch über die Konkurrenz der Mendikanten, die unpassenderweise mit weltlichen Gewändern



Fürstenlob und Heische 

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entlohnt werden, und fordert damit indirekt zur angemessenen Würdigung der professionellen Dichtersänger auf (Obj. XVII,13). Auffällig oft begegnen Schelte und Verwünschung der geizigen Herren (zum Subtyp der Scheltstrophe allgemein vgl. Ilgner, zur Schelte des kargen rîchen bes. S. 60–64): Den Widerspruch von adliger Lebensart und Geiz deckt der Marner in Strophe Wms. 3,2 auf, einer Schelte über die Leute am Rhein, die vornehm tun, den Fahrenden aber nichts geben. Der Unverzagte verwünscht die Reichen, die vorgeben, nichts zu besitzen (C.-W. I,3), oder er wünscht, der Tod möge nicht nur die Edlen, sondern auch die Geizigen und Wucherer holen (C.-W. I,6). Ungeniert die Macht des Spruchsangs auszuspielen, kündigt der Meißner an, der sich bi richer kunst vurarmen (vgl. Walther L. 28,2) sieht: Den Geizigen wünscht er den Tod, den Ehrlosen aber will er schelten, daz er stinket wirs dan ein vuler rabe (Obj. XVI,4; weniger drastisch, aber mit den gleichen Argumenten Obj. XVI,5). Und in Spruch Obj. XIV,4 wünscht er, der Teufel möge die Schlafmützen in puncto milte mit einer glühenden Zange wecken. Ein ausgesprochen produktiver Nebenzweig der Heischestrophen sind die Armutsklagen, die, wohl oft genug vor einem realen Hintergrund, direkt oder indirekt an milte, Mitleid und christliche Nächstenliebe appellieren. In das Register der Spruchdichter gehören sie von Anfang an (vgl. Spervogel II MF 22,21, 22,9), beim Tannhäuser sind sie gewissermaßen das Markenzeichen seines kleinen Spruchsangœuvres. Mögen auch die Bedürfnisse des Magens das Motiv des Dichtens gewesen sein, so brachten sie doch, neben eher konventionellen Produkten – vgl. Höllefeuers Klage C.-W. I,6 über eine bedrückende Dauernot, aus der allein freigebige Herren befreien können, denen zum Dank ein Gesang „nach dem Geschmack der Besten“, wohl ein Preislied, in Aussicht gestellt wird (s. auch Fegfeuer Whm. I,15; Rumelant Ruw. IV,23; Singauf C.-W. I,2) –, auch originelle Darstellungen hervor. So verknüpft Friedrich von Sonnenburg Mas. 18 die Armutsklage mit einer scharfen Abrechnung mit dem Kunstbetrieb: Dem Sänger trage seine Kunst nichts ein, denn die Herren schätzten nur Dilettanten, und des Lebensunterhalts wegen sei er zur Lüge gezwungen. Süßkind von Trimberg macht, ähnlich wie Tannhäuser Sieb. XII,3, seine Not anschaulich durch allegorische Personifikationen mit sprechenden Namen, etwa Nihtenvint ‚Findenichts‘, Bîgenôt von Darbîân ‚Notvoll vom darbenden Land‘ und Dünnehabe ‚Habenichts‘, die ihn und seine Kinder bedrängen (KLD 56,V,1); in einer zweiten Strophe (KLD 56,V,2) formuliert das Ich eine resignierte Absage an die geizigen Herren und kündigt an, fortan als (oder wie ein) alter Jude leben zu wollen, d.  h. ein Leben fortwährender Diskriminierung, Not und Gefährdung auf sich zu nehmen. Und Boppe bewältigt das Armutsthema in Form eines Adynatakatalogs: Seine Strophe Alx. IV,1 zählt gänzlich unrealistische Bedingungen auf, z.  B. das Versiegen des Weins in Würzburg, die erfüllt sein müssten, damit die Armut des Ichs ein Ende hat. Die Armutsklage wird hier ins Spielerische gewendet, sie liefert nurmehr ein literarisches Motiv, ohne den dahinterstehenden existentiellen Ernst ganz ausblenden zu können, der das Gros der Klagen bestimmt. Hingegen bekennt Sigeher in der kleinen Strophe Brt. 4, das Dasein in

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 Thematische Kerne

Freiheit und Armut, mit Ausflügen in den Wald nach herren site, dem Hofdienst des gerenden vorzuziehen. Der heitere Sinn des Ungebundenen wird auch im beschwingten Rhythmus der Strophe – ihre Stollen sind nach dem Prinzip der steigenden Silbenzahl gebaut – vernehmbar. Realisiert ist hier ein kleines literarisches Gegenprogramm zu den Armutsklagen, das man vielleicht nicht weniger als diese materiell honoriert hat. Ausblick Die berufsmäßigen Spruchdichter des 14. und 15. Jahrhunderts bedienen das Register der Armutsklage, ebenso wie das Fürstenlob, nur noch sporadisch. Nur von Michel Beheim sind vier Armutsklagen überliefert. Dass es ihm, trotz der Konventionalität des Themas, damit ernst ist, unterstreicht er in Lied Gille/Spr. 61 mit einer Autorsignatur zu Beginn. Sein Lied Gille/Spr. 93 verknüpft die Bitte an das Christkind, im neuen Jahr zu helfen, mit Armutsklage und Fürstenlob: Nach der Entlassung aus kaiserlichen Diensten erhofft Beheim bzw. das Sprecher-Ich sich Unterstützung von Herrn Christoph von Mörsberg, dessen Lob es ankündigt. Thematisch ganz in der Tradition steht sein Lied Gille/Spr. 322, das eine Klage über die Geringschätzung der Sangeskunst durch die heutigen Herren und die Vorliebe für unseriöse Unterhaltung mit einer Armutsklage verbindet. Im autobiographischen Lied Gille/Spr. 358 schließlich, das die Sammlung der Lieder in der Slegweise eröffnet, inszeniert Beheim sich im Konflikt zwischen seiner Berufung zum Dichter und dem Brotberuf des Webers, zu dem ihn die Armut zwingt, hofft aber, einstmals sein Auskommen bei Fürsten zu finden und ein berühmter Sänger wie Muskatblut zu werden. Loblieder dichtete Beheim unter anderem auf Konrad von Weinsberg, seinen ersten Gönner, und dessen Gemahlin (Gille/Spr. 416), auf Herzog Albrecht VI. von Österreich (Gille/Spr. 244, mit allegorischer Einkleidung und Wappenallegorese) und auf den in Diensten Kaiser Friedrichs III. stehenden böhmischen Heerführer Jan Giskra nach seinem Sieg in der Schlacht bei Losoncz 1451 (Gille/Spr. 102; vgl. die entsprechenden Regesten im RSM). Ein bedeutendes Fürstenlob, das sich ganz über die Allegorese des böhmischen und mährischen Wappens konstituiert, hatte bereits Heinrich von Mügeln auf Kaiser Karl IV. verfasst (Stmn. 18–20; zu diesem Lobgedicht Stolz, Fürstenpreis); als Schutzherrn der Kirche lobt er den Kaiser in Lied Stmn. 21–23. Aufs Ganze gesehen, spielten Fürsten- und Herrenlob im späten Spruchsang freilich keine Rolle mehr; diese Aufgabe war seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zunehmend an die Vertreter der Reimsprecherkunst delegiert (s. Janota, Orientierung, S. 344–353, und oben → Kapitel I.2). Allein 22 Preisreden und Totenklagen, meist mit Wappenbeschreibungen, öfter auch mit allegorischen Personifikationen, haben sich von Peter Suchenwirt (um 1320/30 – nach 1395) erhalten. Ausg. Alx.; Brt.; C.-W.; GA; Gille/Spr.; Hal.; HMS; KLD; L.; Mas.; MF; Obj.; Roe.; Ruw.; Schl.; Schr.; Schw.; Sieb.; Stmn.; Whm.; Wms.; Zapf; Zck. – Lit. Bittner, Herrscherlob; de Boor/Janota, Deutsche Literatur; Cölln, Fürstenlob; Curtius, Europäische Literatur; Franz, Studien; Georgi,



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Preisgedicht; Haustein, Freiheit; Heinemann, Totenklagen; Hengstl, Totenklage; Hübner, Lobblumen; Huber, C., Herrscherlob; Ilgner, Scheltstrophen; Janota, Orientierung; Kiening, Totenklage; Klein, D., Poeta artifex; Krause, „milte“-Thematik; Marold, Preislied; Müller, U., Untersuchungen; Ortmann, Spruchdichter; RSM; Stackmann, Redebluomen; Stolz, Fürstenpreis; Ukena-Best, Strategien; Wachinger, Sängerkrieg.

VI Formen 1 Die Töne: Töneprinzip und Formgeschichte

Horst Brunner

Töneprinzip Als wichtigstes formale Kriterium der Sangspruchdichtung bis zum Ende der Gattungsgeschichte gegen 1470 gilt, dass die von den Autoren verwendeten, als ‚Töne‘ bezeichneten Strophenformen und Melodien in aller Regel nicht ad hoc erfunden und nur je einmal verwendet wurden, wie dies beim Minnelied seit der Zeit um 1170 der Fall war. Vielmehr schufen die einzelnen Spruchdichter sich ein meist kleines Repertoire nur ihnen eigener Töne, die sie für Strophen der unterschiedlichsten Inhalte verwendeten, in nicht wenigen Fällen umfasste dieses ‚Repertoire‘ nur einen einzigen Ton. Die produktivsten Tonautoren mit nicht weniger als 20 eigenen Tönen waren Walther von der Vogelweide und der Meißner, über elf Töne verfügte Michel Beheim, zehn sind für Rumelant von Sachsen nachgewiesen, je neun für Bruder Wernher und Frauenlob, je sieben für Marner, Konrad von Würzburg und Jörg Schiller, je sechs für Reinmar von Zweter, Sigeher, Süßkind von Trimberg und Wizlav, je fünf für den Kanzler, für Hermann Damen und Albrecht Lesch; das Repertoire aller anderen Autoren bestand aus ein bis vier verschiedenen Tönen. Die einzelnen Töne wurden unterschiedlich häufig benutzt: Walther von der Vogelweide verwendete (nach unserer Kenntnis) einige Töne je nur ein einziges Mal, andere bis zu 21mal (König-Friedrichs-Ton); ähnlich etwa Bruder Wernher, in dessen Tönen VII und IX nur je eine Strophe überliefert ist, wohingegen wir 28 im Ton I abgefasste Strophen kennen; in Frauenlobs neun Tönen reicht die ‚Spannbreite‘ von neun Strophen (Ton  IX = Goldener Ton) bis 115 (Ton  I = Langer Ton). Im Fall Reinmars von Zweter täuscht die Zahl von sechs Tönen über den tatsächlichen Sachverhalt hinweg: Reinmar verwendete einen einzigen Ton, den Frau-Ehren-Ton (Ton I), offenbar zeitlebens für nicht weniger als 234 heute für echt gehaltene Strophen; in der Neuen Ehrenweise (Ton II; bei Roe. Minnenton, der mittelalterliche Tonname wurde erst später bekannt) sind hingegen nur 24, im – namenlos überlieferten, von Roe. so genannten – Meister-Ernst-Ton (Ton III) nur zwei Strophen überliefert, in drei weiteren, ungewöhnlich kurzen Tönen (IV, V, VI) stehen je sieben, drei und zwei Strophen, deren Echtheit nicht durchweg als gesichert gelten kann. Die Töne galten offenbar als ausdrückliches Eigentum des jeweiligen Autors, als eine Art Kennmarke, Benutzung durch andere Dichter wurde als unstatthaft betrachtet  – bekannt (jedoch der Nachwelt in diesem Fall unverständlich) ist die Brandmarkung Reinmars von Zweter durch den Marner als dœnedieb (Wms. 3,3,16; vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 125  f.; Haustein, Marner-Studien, S. 21–23). Tatsächlich ist ‚Fremdbenutzung‘ durch andere Autoren im Bereich der Sangspruchdichtung https://doi.org/10.1515/9783110351897-006

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 Formen

ausgesprochen selten (vgl. die Übersicht bei Brunner, Alte Meister, S.  185); allenfalls wurden einzelne Töne in Polemiken benutzt oder um einen Sängerkollegen zu rühmen. Offenbar als Gemeingut angesehen wurde lediglich der Stolle zugeschriebene Ton, der bezeichnenderweise Alment, d.  h. ‚Allmende‘, ‚Gemeineigentum‘, heißt; er wurde von nicht weniger als sechs weiteren Dichtern benutzt (Bligger von Steinach, dem Marner, Hardegger, dem Tugendhaften Schreiber, Dem von Wengen, Boppe). Den Meistersingern blieb es seit dem 14./15.  Jahrhundert vorbehalten, mit dem Prinzip der Identität von Ton- und Textautor zu brechen. Sie unterschoben im Übrigen auch zahlreichen der von ihnen als Alte Meister oder als Nachdichter der alten Meister bezeichneten Spruchdichter weitere, von der Forschung als ‚unechte Töne‘ bezeichnete Tonschemata und Melodien. Vermutlich schon im 13.  Jahrhundert, sicher belegt seit dem 14.  Jahrhundert, wurde es üblich, die Töne nicht nur mit dem Namen ihres jeweiligen Urhebers, sondern zusätzlich mit einem Eigennamen zu bezeichnen. Die meisten Namen werden durch die Überlieferung der Meistersinger, im 15. Jahrhundert in erster Linie durch die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k, in manchen Fällen auch durch spätere Quellen, überliefert, die Tonnamen Michel Beheims kennen wir aus den von ihm selbst angelegten, teilweise autographen Handschriften. In sehr vielen Fällen – in fast allen, in denen ein Ton keinen Eingang in die Überlieferung der Meistersinger gefunden hat – sind die mittelalterlichen Tonnamen – falls es sie überhaupt gegeben hat – allerdings unbekannt; hier behilft die Forschung sich mit schlichter Durchnumerierung nach dem Muster: Meißner, Ton I, Ton II, Ton III usw. Die überlieferten Tonnamen beziehen sich vielfach auf Kürze (Kurzer Ton, etwa des Marners, Frauenlobs, Beheims) oder Länge (Langer Ton, ebenfalls etwa des Marners, Frauenlobs, Beheims), zwei als besonders artifiziell angesehene Töne des Kanzlers und Frauenlobs erhielten die Bezeichnung Goldener Ton (im Fall des gleichnamigen Tons des Marners, der nicht sonderlich kunstvoll erscheint, ist der Grund nicht erkennbar). Bisweilen waren inhaltliche Momente namengebend. So heißt der Aspiston Konrads von Würzburg (Schr. XXV) nach der in einer Strophe begegnenden Schlange Aspis, der Grüne Ton Frauenlobs nach dem Anfang einer darin abgefassten Strophe: Ich saz uf einer grüne (GA VII,15), der FrauEhren-Ton Reinmars von Zweter nach der bei diesem Autor mehrfach begegnenden Personifikation der Frau Ehre. Frauenlobs Würgendrüssel ‚Kehlenwürger‘ verdankt seinen Namen der, was den Umfang der benutzten Notenskala angeht, außerordentlich anspruchsvollen Melodie und die Trummetenweise Beheims den signalartigen Tonwiederholungen in der Melodie. Ebenso auf die Singweise beziehen dürfte sich die mehrfach erscheinende Bezeichnung Süßer Ton, z.  B. bei Harder, Lesch, Schiller. Eine Ausnahme stellen die Namen im Spruchtonkorpus Walthers von der Vogelweide dar. Die drei aus meistersingerlicher Überlieferung bekannten Tonnamen fanden – da zur Zeit der neuzeitlichen Benennung noch nicht bekannt – bis in die jüngste Zeit keine Berücksichtigung. Die noch heute üblichen Tonnamen wurden in erster Linie durch Karl Simrock in seiner erstmals 1833 erschienenen Walther-Ausgabe geprägt. Die Töne wurden dabei nach inhaltlichen Momenten benannt: Reichston, Erster Philippston, Zweiter Philippston, Wiener Hofton (in Handschrift k findet sich dafür die Bezeichnung



Die Töne: Töneprinzip und Formgeschichte 

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Hof- oder Wendelweise), Ottenton (in der Überlieferung der Meistersinger seit dem 16. Jahrhundert: Feiner Ton), Unmutston, Bognerton, König-Friedrichs-Ton (in Handschrift k Gespaltene Weise), Kaiser-Friedrichs-Ton, Atzeton, Meißnerton, König-Heinrichs-Ton, Leopoldston und Fürstenspiegelton; einige Einzelstrophen erhielten keine eigenen Tonnamen, z.  B. der Tegernseespruch.

F ormgeschichte Die Formgeschichte der Spruchtöne wurde erst in jüngster Zeit systematisch erforscht. Wichtigste Grundlagen sind der in RSM, Bd. 2.1 (2009), veröffentlichte Katalog der metrischen Schemata sämtlicher Spruch- und Meistertöne sowie die von Brunner/ Hartmann edierte Gesamtausgabe aller erhaltenen ‚echten‘ und der ihnen lediglich zugeschriebenen, sog. unechten Melodien der Spruchdichter (Sps.). Die folgenden Ausführungen bieten eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse von Brunners ‚Formgeschichte der Sangspruchdichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts‘ (2013); für weitere Details wird vor allem auf diese ausführliche Darstellung sowie auf die angegebene Literatur verwiesen. Formbestimmungen im Bereich des Spruchsangs brauchen sich in weitem Umfang nicht ausschließlich auf die metrischen Schemata zu beschränken, sie können und müssen vielmehr die Strukturen der vielfach überlieferten Melodien mit einbeziehen. Die bei weitem wichtigste und autornächste Quelle ist die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J, die 75 Spruchmelodien tradiert, davon 65 unikal; Ergänzungen zu dieser ältesten Überlieferungsschicht bieten Handschrift W und die Fragmente Mar, T und Z (s. dazu auch oben → Kapitel III.3). – Bedeutendste Quelle aus dem 15. Jahrhundert ist Handschrift k, die neben Melodien, die sich auch in J und W finden, weitere, aus älterer Überlieferung unbekannte Melodien zu ‚echten‘ (und ‚unechten‘) Tönen bietet. Die Melodien des Mönchs von Salzburg und Michel Beheims finden sich darüber hinaus (Mönch) oder ausschließlich (Beheim) in Autorhandschriften des 15.  Jahrhunderts (zur Überlieferung allgemein s. oben → Kapitel III.3). – Dritter Quellenbereich sind Meistersingerhandschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts, die Melodiefassungen zahlreicher Spruchtöne enthalten, jedoch nur vereinzelt solche, die aus früherer Überlieferung nicht schon bekannt sind (vgl. dazu insbesondere Brunner, Alte Meister). – Von zahlenmäßig relativ geringer Bedeutung ist die handschriftliche Überlieferung von Spruchmelodien, die im 14. und 15. Jahrhundert für geistliche Cantiones in lateinischer Sprache benutzt wurden. Die Verse der Spruchtöne sind durchweg alternierend gebaut, d.  h. es findet sich die regelmäßige Abfolge von Hebung und Senkung, die zusammen einen Verstakt bilden. In den im Folgenden wiedergegebenen Schemata werden zu jedem Vers die Taktzahl, die Kadenz und der zugehörige Reim vermerkt: 4a steht für einen Vers aus vier Takten (bestehend aus Hebung und Senkung) mit männlicher Kadenz (d.  h. der Vers endet mit einer Hebung, wobei diese auch in zwei kurze Silben aufgespaltet sein kann) – diese Kadenz bleibt unbezeichnet; 3’b steht für einen Vers aus drei Takten, der mit Senkung endet, d.  h. weiblich kadenziert. Bei Langzeilen, d.  h. Versen mit mehr als sechs Hebungen und regelmäßiger Zäsur, wird die Zäsur durch einen Schrägstrich angezeigt, z.  B. 4x/3’a (Verse mit mehr als sechs

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 Formen

Hebungen ohne eine regelmäßige Zäsur heißen lange Zeilen). Auftakte bleiben unberücksichtigt. a b c … sind die Reimbuchstaben, Waisen werden mit x bezeichnet. Die jeweilige Strophengliederung wird markiert durch Kommata bzw. Schrägstriche: dabei werden erster und zweiter Stollen durch Komma voneinander getrennt, zwischen Auf- und Abgesang steht Doppelstrich (//). Sonstige Unterteilungen werden durch einfachen Schrägstrich (/) markiert. Die Melodieschemata stehen jeweils unter den metrischen Schemata. Signifikante Melodieteile – sie decken sich nicht immer mit den Textzeilen – werden durch kleine griechische Buchstaben bezeichnet, notengetreue oder nur wenig abweichende Wiederholungen erhalten den gleichen Buchstaben, Variationen werden durch Indizes (arabische Zahlen) kenntlich gemacht (α1, α2, α3  …). Deutliche Melodieeinschnitte werden durch Punkte markiert. Melodiewiederholungen sind am Wiederholungszeichen (://) zu erkennen. Die Verse werden mit einem Zeilenzähler von 5 zu 5 gezählt. Am Ende der Schemata werden in Klammern die jeweilige Zeilenzahl, die Taktzahl (in eckiger Klammer dahinter bei stolligen Formen die Verteilung der Takte auf Auf- und Abgesang) sowie die Zahl der Reimklänge vermerkt. Aus der Taktzahl ergibt sich der Umfang jedes einzelnen Tones, da normalerweise jeder Takt aus zwei Textsilben besteht. Je höher die Taktzahl, desto mehr Text kann im Ton ‚untergebracht‘ werden. Als kurze Töne bezeichne ich Töne mit bis zu 40 Takten, als mittlere solche mit bis zu etwa 70 Takten, bei langen Tönen liegt die Taktzahl darüber. Wenn bei hoher Zeilenzahl die Zahl der Versklänge niedrig ist, kann der Ton als besonders anspruchsvoll gereimt gelten. Gelegentlich werden distinkte Bauteile mit großen lateinischen Buchstaben (A, B …) bezeichnet.

Die Anfänge im späten 12. Jahrhundert Die Geschichte der Spruchdichtung begann, soweit erkennbar, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Als älteste Texte gelten fünf ohne Autorangabe überlieferte Einzelstrophen (Brunner [Hg.], Früheste deutsche Lieddichtung, S. 118–121: I,1–3, II, III; im RSM nicht berücksichtigt). Da eine davon (Brunner III) mit einer Notation in linien­losen Neumen versehen wurde, ist bewiesen, dass zumindest diese Strophe gesungen werden konnte. (Linienlose Neumen geben nicht die genauen Tonhöhen, sondern lediglich, zur Erinnerung für den, der die Melodie kennt, die Bewegungsrichtung der Melodie an; sie können nicht in moderne Notenschrift übertragen werden.) Die in diesen Strophen verwendeten Töne sind denkbar einfach gebaut. Drei von ihnen (I,1  f. u. II) bestehen aus vier weiblichen Drei- bzw. männlichen Vierhebern mit Paarreim aabb, sie umfassen lediglich je 14 Takte. Strophe I,3 ist aus sechs drei- bzw. vierhebigen Versen, ebenfalls mit Paarreim, zusammengesetzt (21 Takte). Die ebenfalls sechs­ zeilige neumierte Strophe III verbindet weibliche Drei- mit männlichen Vierhebern, der Strophenschluss wird allerdings deutlich durch einen weiblichen Fünfheber markiert: Anonym III 3’a 3’a 4b 4b 3’c5 5’c (6 Verszeilen, 22 Takte, 3 Reimklänge)

Als ältester namentlich bekannter Spruchdichter, datiert auf die Zeit um 1170, gilt Spervogel I (‚Herger‘; Brunner [Hg.], Früheste deutsche Lieddichtung, S. 124–141). Die Ähnlichkeit seines einzigen siebenzeiligen Tones mit den Bauprinzipien der ano-



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nymen Töne ist unübersehbar. Er stimmt weitgehend überein mit dem Ton der anonymen Strophe III, allerdings ist der Strophenschluss bei ihm durch den Einschub einer vierhebig-männlichen Waisenzeile zwischen die abschließenden Paarreimzeilen noch deutlicher hervorgehoben: Spervogel I (‚Herger‘) 4a 4a 3’(4)b 3’ (4)b 4’c5 4x  5’c (7 Verszeilen, 27 bzw. 29 Takte, 3 Reimklänge)

Eine verwandte Struktur zeigt auch der sechszeilige einzige Ton des etwas jüngeren Spervogel  II (ebd., S.  144–167), des ‚eigentlichen‘ Spervogel. Die Strophe ist  – wie anhand der in J überlieferten Melodie erkennbar – zweiteilig. Den ersten Teil bilden zwei männliche Sechs- und zwei Vierheber, der zweite Teil besteht  – auch hier ist der Strophenschluss besonders betont – aus zwei weiblichen Langzeilen, alle Verse sind paargereimt. Die Melodie besteht aus zwei melodisch durch Wiederholungen von Melodiestücken miteinander verbundenen Teilen (Bauform A/B): Spervogel II 6a  6a 4b 4b  // 4x/3’c5 4x/3’c    α          β/γ    γ δ  //  ε/ γ    δ     / ζ (6 Verszeilen, 34 Takte, 3 Reimklänge)

Spervogel III (in den Handschriften als Spervogel, Junger Spervogel, in k als Junger Stolle bezeichnet; Brunner [Hg.], Früheste deutsche Lieddichtung, S. 170–181), dem in der Überlieferung vier Töne zugeschrieben werden, nimmt eine Sonderstellung ein. Ton III ist durch seine Struktur eng mit den Tönen von Spervogel I und II verwandt: Spervogel III, Ton III 3’a 3’a 3b 3b 4x/3’c5 4x/3’c  (6 Verszeilen, 26 Takte, 3 Reimklänge)

Alle Spruchtöne dieser frühen Stufe sind kurz, sie umfassen vier bis sieben durchweg paargereimte Zeilen, 14 bis 34 Takte, zwei oder drei Reimklänge, meistens Kurzzeilen, bei Spervogel II und Spervogel III, Ton III finden sich auch zwei Langzeilen. Die Strophenschlüsse sind in den Spervogeltönen durch Langzeilen bzw. durch den Einschub eines reimlosen Vierhebers bei Spervogel I deutlich markiert, im anonymen Ton III findet sich eine etwas verlängerte Schlusszeile. Strukturelle Unterschiede zu im frühen Minnesang anzutreffenden Strophenformen finden sich nicht – zu erinnern ist hier, ohne detaillierte Nachweise, an den Kürnberger, die (oder den) Burggrafen von Regensburg und von Rietenburg, an einzelne Töne im Korpus Dietmars von Eist (vgl. Brunner [Hg.], Früheste deutsche Lieddichtung). Die Melodie zu Spervogel II zeigt, dass wir es wohl durchgehend mit zweiteiligen Strophen zu tun haben, in denen der Schlussteil vom Eingangsteil musikalisch abgesetzt ist.

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 Formen

Die Töne I, II, IV von Spervogel III – dies ist nachzutragen – weisen bereits die jüngere Kanzonenform auf. Dabei ist Ton I insofern von Interesse, als hier der Ton von Spervogel II auf verhältnismäßig einfache Weise in eine Kanzone umgearbeitet wurde: Aus den beiden paargereimten Sechshebern zu Beginn des Tons von Spervogel II wurde durch Verkürzung des ersten und Teilung des zweiten Verses ein Stollen geformt, der dann musikalisch-metrisch verdoppelt wurde; das übrige Schema blieb unangetastet. Die Melodie findet sich in k, sie zeigt keine Verwandtschaft mit dem Ton von Spervogel II: Spervogel III, Ton I 4a 3b  3c, 4a 3b5 3c // 4d 4d 4x/3’e 4x/3’e10      α          β      γ.                ://   β1      α1.      [ ]+δ   β2+γ1. (10 Zeilen, 42 Takte [Aufgesang 20: Abgesang 22], 5 Reimklänge)

Walther von der Vogelweide Durch das Wirken Walthers von der Vogelweide (L./Cor.) wurde der Spruchsang zu einer Liedgattung, die von da an gleichrangig neben dem Minnesang und dem Leich stand. (Zu Sangspruchartigem bei Heinrich von Veldeke, auf das hier nicht eingegangen werden kann, vgl. Lieb, Modulationen.) Walther erschloss dem Spruch neue Themen und Inhalte, er machte ihn nicht zuletzt zu einer Waffe im politischen Tageskampf und in seinem eigenen Lebenskampf. Außerdem führte er formale Neuerungen ein, die fortan gültig blieben. Zum einen begnügte er sich nicht mehr mit einem einzigen Spruchton, sondern er schuf im Lauf der Zeit 20 Töne, die er jeweils nur eine Zeitlang benutzte. Zum andern gab er die relativ schlichte Form der älteren Spruchtöne bald auf und erhob auch auf diesem Feld die im Minnesang seit etwa 1170 übliche, der Romania entlehnte dreiteilige Kanzonenform aus zwei metrisch-musikalisch identischen Stollen, die zusammen den Aufgesang (AA) bilden, und einem davon abweichenden Abgesang (B) zu kanonischer Geltung. Diese Grundform galt – mit allerlei Varianten  – für den Spruchsang bis ins späte 15.  Jahrhundert und darüber hinaus für den städtischen Meistergesang bis ins 18. Jahrhundert. Sie ist überhaupt eine der Elementarformen musikalischer Gliederung, die auch in zahlreichen weiteren Liedtypen, etwa (wenn auch nicht ausnahmslos) im Kirchenlied seit dem 16. Jahrhundert, anzutreffen ist, die aber auch noch für den klassischen Sonatenhauptsatz gültig war. Spruchtöne Walthers sind: Atzeton (L.  103,13  ff.), Bognerton (L.  78,24  ff.), Erster Philippston (L.  18,29  ff.), Zweiter Philippston (L.  16,36  ff.), Fürstenspiegelton (L.  36,11  ff.), Kaiser-Friedrichs-Ton (L.  10,1  ff. und 84,14  ff.), König-Friedrichs-Ton (L.  26,3  ff.), König-Heinrichs-Ton (L.  101,23  ff.), Leopoldston (L.  82,11  ff.), Meißnerton (L. 105,13  ff.), Ottenton (L. 11,6  ff.), Reichston (L. 8,4  ff.), Unmutston (L. 31,13  ff.), Wiener Hofton (L. 20,16  ff.), ferner der Ton des Tegernseespruchs (L. 104,23) und die teilweise liedartigen Töne zu L. 13,5 (zwei Strophen), L. 37,34 (Einzelstrophe), L. 85,25 (Einzelstrophe), L. 102,29 (drei Strophen) und L. 104,33 (Einzelstrophe).



Die Töne: Töneprinzip und Formgeschichte 

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Walthers frühester Spruchton, der wohl 1198 entstandene Reichston, basiert freilich noch auf den Formprinzipien der älteren Spruchdichtung, allerdings in eminenter Ausdehnung. Walthers längster Ton überhaupt besteht aus der regelmäßigen Abfolge weiblicher Drei- und männlicher Vierheber mit Paarreim, der Abschluss in Zeile 24 wird mit einer Langzeile 4x/4k markiert: Reichston 3’a 3’a 4b 4b 3’c5 3’c 4d 4d .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4k 4x/4k24 (24 Verszeilen, 88 Takte, 12 Reimklänge)

Wie man sich die Struktur der (verlorenen) Melodie vorstellen muss, ist nicht zu ermitteln. Man könnte sich auch hier, wie bei Spervogel II, Zweiteiligkeit vorstellen, freilich in viel größerem Rahmen. Die weiteren, zeitlich folgenden Spruchtöne Walthers bedienen sich der Kanzonenform, jedoch – das ist ihre Besonderheit – fast durchweg in eher ungewöhnlicher Gestalt, anders als Walthers Minneliedtöne, die kaum formale Besonderheiten aufweisen. ‚Normale‘ Kanzonen AA//B begegnen lediglich im 13-zeiligen, aus 67 Takten [40:27] bestehenden und über sechs Reimklänge verfügenden König-Heinrichs-Ton und im zehnzeiligen, 42-taktigen [28:14], mit vier Reimklängen versehenen Ton des Tegernsee-Spruchs. Eines der mehrfach anzutreffenden Bauprinzipien von Walthers Spruchtönen besteht darin, den Abgesang in sich metrisch zu verdoppeln, d.  h. nicht nur der Aufgesang, sondern auch der Abgesang besteht aus zwei metrisch identischen Teilen (AA//BB). Dies ist der Fall beim Ersten Philippston und beim Atzeton, mit geringfügiger metrischer Variation der letzten Zeile (5’ statt 3’) auch beim Zweiten Philippston, ferner beim Ottenton (älteste Melodieüberlieferung 1584/88 in Adam Puschmans ‚Singebuch‘ p): Ottenton (Feiner Ton) 4a 4a 5’b, 4c 4c5 5’b // 3’d 4e 5’f  3’d10 4e 5’f    α    β   γ.                  :// δ. α1 α2. /        δ.   α1  γ1.  (12 Zeilen, 50 Takte [26:24), 6 Reimklänge)

Eine Sonderform stellt der Unmutston dar, bei dem sowohl in den Stollen wie im gedoppelten Abgesang die metrische Identität durch Verwendung unterschiedlicher Kadenzen vermieden ist (Bauform AA’//BB’): Unmutston 6’a 7’a, 6b 7b // 6’c5 5’c 7d                 6d 5d   7’c10  (10 Zeilen, 62 Takte [26:36], 4 Reimklänge)

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 Formen

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, an den gedoppelten Abgesang (BB) noch eine Coda (C) anzuhängen. Dies ist der Fall beim Leopolds-, beim Meißnerton und beim Wiener Hofton (Melodie überliefert in k; Bauform AA//BB/C): Wiener Hofton (Hof- oder Wendelweise) 4a 4a 5’b, 4c 4c5 5’b // 4’d 4’d 4e  5’f10/ 4’g 4’g 4e  5’f / 4e15     α   β     γ.                  :// δ   β1          β2. /    δ’      ε     ε β3. /         ζ      η. (15 Zeilen, 64 Takte [26:38], 7 Reimklänge)

Eine weitere Besonderheit Waltherscher Spruchtöne ist schließlich das Auftreten sog. Gespaltener Weisen A//B//A. Hierher gehören der Kaiser-Friedrichs-Ton und der KönigFriedrichs-Ton. In beiden Tönen steht der ersten Stollen regelgerecht am Anfang (A), es folgt dann aber nicht der zweiten Stollen (B), sondern der Abgesang; der zweiten Stollen, steht, metrisch leicht variiert (A’), am Schluss: Im König-Friedrichs-Ton kadenzieren die Zeilen des ersten Stollens weiblich, die des zweiten Stollens männlich, im Abgesang, dessen Zeilen wiederum verdoppelt werden (BB’), unterscheiden sich die Kadenzen: Ein Paarreim 7c 6c wird gerahmt von 6’b und 7’b (Bauform A//BB’//A’): König-Friedrichs-Ton 6’a 6’a 7’a // 6’b 7c5 6c 7’b // 6d 6d 7d10  (10 Zeilen, 64 Takte [19:26:19], 4 Reimklänge)

Abgesehen vom Reichston bestehen die meisten Spruchtöne Walthers aus 8–16 Zeilen, sie umfassen überwiegend 42–67 Takte, haben also durchweg mittleren Umfang (kürzer ist nur der Bognerton mit 35 Takten, länger der Ton der Einzelstrophe L. 37,34 mit 70 Takten). Die meisten Stollen sind dreizeilig, eher selten sind zwei- und vierzeilige Stollen. Benutzt werden 14 unterschiedliche Versarten. Zum Vergleich: Die Liedtöne Walthers bestehen aus 6–12 Verszeilen; meist umfassen sie acht Zeilen, haben in der Regel zweizeilige Stollen, selten dreizeilige, die Taktzahlen liegen mit in der Regel weniger als 40 Takten meist deutlich unter denen der Spruchtöne. Der umfangreichste Liedton (L. 47,36: Zwô fuoge hân ich doch, swie ungefüege ich sî) besteht aus 56 Takten. Die Zahl der verwendeten Versarten liegt mit 20 deutlich über denen der Spruchtöne. Spruchtöne in der Art der Liedtöne sind L. 13,5 (7 Zeilen, 39 Takte), L. 102,29 (7 Zeilen, 29 Takte), L. 85,25 (9 Zeilen, 37 Takte, Daktylen). Zur musikalischen Gestaltung kann man nur wenig sagen, da nur vier Spruchmelodien Walthers überliefert sind, zwei davon (Erster Philippston, König-FriedrichsTon) im ‚Münsterschen Fragment‘ Z nur fragmentarisch, die übrigen zwar vollständig, aber erst aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Die Melodien zum Wiener Hofton in k und zum Ottenton in Puschmans ‚Singebuch‘ überlagern, wie an den oben angegebenen Melodieschemata zu erkennen ist, die metrische Struktur der Abgesänge nochmals durch weitere Strukturen, die gerade darauf verzichten, die metrischen Bauformen genau nachzuzeichnen.



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Walthers Art der Spruchdichtung hat in vieler Hinsicht Schule gemacht, nicht aber im Hinblick auf die Elaboriertheit seiner Töne. Hier waren in der Folge eher simplere, weniger kunstvolle Strukturen gefragt. Unter den wenigen zeitgenössischen Autoren, deren Töne deutliche Bezüge zu Walther aufweisen, ist neben Spervogel III (Ton II und IV) Gottfried von Straßburg (MFMT XXIII.I) zu nennen. Der Ton der beiden ihm zugeschriebenen Spruchstrophen zeigt nahe Verwandtschaft mit Walthers Erstem Philippston (Form: AA//BB). Vielleicht weist Walthers rühmende Erwähnung in der Dichterrevue des ‚Tristan‘ (v. 4798–4820) nicht nur auf bloßes Hörensagen, sondern auch auf ein persönliches Hörerlebnis Gottfrieds hin. Die Spruchdichtung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts Einige etwas jüngere Zeitgenossen – der prominenteste von ihnen ist Reinmar von Zweter (Roe.) – schufen ohne große formale Ambitionen relativ einfache, kurze oder mittellange, vorwiegend sieben- bis 13-zeilige, 28- bis 71-taktige Strophenformen mit fast ausnahmslos zwei- oder dreizeiligen Stollen, wobei bisweilen strukturell wenigstens teilweise Walthers Einfluss zu erkennen ist. Ein Beispiel ist Reinmars berühmter Frau-Ehren-Ton (älteste Melodieüberlieferung in k): Reinmar von Zweter, Ton I (Frau-Ehren-Ton)     4a  7a 3’x/5b, 4c 7c5 3’x/5b //       5’d   5’d    4’e /      4f10 4f 2x/3’e α+β. γ+ δ+α1+γ’.                     :// α1+β1. ε+γ1.  δ1. /  α +  β.      γ’’ . (12 Zeilen, 65 [38:27] Takte, 6 Reimklänge)

Die Abgesangsstruktur dürfte von Spruchtönen Walthers mit der Bauform AA//BB’ angeregt sein. 1 .   A l m e n t u n d A l m e n t g r u p p e . Wichtiger als Walthers Töne wurde in der Folge das Strukturschema des (dem historisch kaum greifbaren) Stolle (Zapf) zugeschriebenen Tons, den man – wie oben bereits erwähnt – offenbar schon früh mit dem Namen Alment versah (vgl. Kornrumpf/Wachinger, Alment) und gewissermaßen als Allgemeingut betrachtete. Er lieferte offensichtlich schon zu Walthers Lebzeiten ein vielfach aufgenommenes Strukturmuster: Stolle, Alment       7a      7a   4b 5’c, 7d5 7d 4b 5’c // 4e 5’f10 4e 7’f   7g 4x/5g α+β. α+γ. β1 δ.                 ://    ε    β2.   ε δ1.        δ2. ζ /δ. (14 Zeilen, 82 Takte [46:36], 7 Reimklänge)

Der ausgesprochen lange Ton (älteste Melodiefassung in J) bietet mit 82 Takten viel Raum, wesentlich mehr als, mit Ausnahme des 88-taktigen Reichstons, alle Walthertöne. Das war zweckmäßig, weil man viel Text unterbringen konnte. Man hat errechnet, dass die durchschnittliche Länge der Spruchtöne des 13. Jahrhunderts bei 60,3 Takten, die der Minneliedtöne nur bei 35,4 Takten liegt (Rettelbach, Differenzen, S.  154). Die Stollen der Alment sind aus zwei langen, siebenhebigen Zeilen mit Paarreim und

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 Formen

zwei Kurzzeilen zusammengesetzt, wobei die Kurzzeilen beider Stollen miteinander reimen. Charakteristisch für den Abgesang sind die Eröffnung mit vier kreuzgereimten Versen (efef) mit abwechselnd männlicher und weiblicher Kadenz und der markante Abschluss, bestehend aus einer langen Zeile und einer Langzeile, die aufeinander reimen. Das sehr rational gegliederte Strukturschema konnte man sich leicht einprägen. Der übereinstimmende melodische Einsatz der beiden miteinander reimenden Vierheber am Abgesangsbeginn v. 9/11 bewirkt die Andeutung eines gewissen Gleichlaufs von v. 9/10 und 11/12. Die zweite Hälfte von v. 14, der Abgesangsschluss, wird auf die Melodie der Stollenenden gesungen – dadurch ergibt sich die melodische Form der sog. Rundkanzone (darunter versteht man Kanzonen, an deren Ende sich musikalisch [und metrisch] die Melodie der letzten Stollenzeile wiederholt). Der Almentstruktur folgen zahlreiche Töne des 13.  Jahrhunderts. Sie besitzen zwei-, meist jedoch drei- oder vierzeilige Stollen, im Abgesang zu Beginn ein Zeilenquartett mit Kreuzreimen, als gewichtigen Abschluss zwei paargereimte lange Zeilen oder Langzeilen. Meist sind die Töne zwölfzeilig, manchmal 14-zeilig, sie boten mit in der Regel 70–84 Takten ebenfalls viel Raum. Wichtigste Vertreter der Almentgruppe sind die neun Töne von Walthers jüngerem Zeitgenossen Bruder Wernher (Zck.). Wernhers Texte sind Walther in Thematik und Darstellung eng verbunden, die Töne lehnen sich jedoch samt und sonders an die Alment an. Als Beispiel das Schema des am häufigsten verwendeten Tons I: Bruder Wernher, Ton I        4x/4a 4x/4a                        7b,  4x/4c 4x/4c5 7b //      4d         5’e 8d    5’e10 4x/4f 4x/4f                     A.                          A1.             ://        B /       C        B’,       C       B’. /        A1. α+β/γ+δ+δ+δ/ε+ε1. β/ε2+ε1.                                        :// ζ+ε1.//: β+η+ζ+ε2+ε1.         :// β/ε2+ε1. (12 Zeilen, 84 Takte [46:38], 6 Reimklänge)

Der Aufgesang ist hier nur sechszeilig, besteht allerdings durchweg aus Langzeilen bzw. einer langen Zeile, der Abgesang wird mit der almenttypischen Kreuzreimpassage eröffnet und mit paargereimten Langzeilen abgeschlossen. Weitere Töne, die dem Almentmuster folgen, stammen von den Spruchdichtern Henneberger, Dietmar dem Setzer, Tannhäuser, Reinmar von Brennenberg. Hierher gehört auch der Bernerton, der Ton zahlreicher heldenepischer Texte, etwa des ‚Eckenliedes‘ und des ‚Sigenot‘. Im späten 13. Jahrhundert hat etwa noch der kunstvolle Hofton (Ton I) Boppes auf das beliebte Almentschema zurückgegriffen. 2 .   D e r d r i t t e S t o l l e n u n d s e i n e Va r i a n t e n . Die nach der Einführung der Kanzonenform durch Walther zweite große Neuerung in der Formgeschichte der Spruchtöne war das Aufkommen des sog. dritten Stollens, d.  h. der vollständigen metrisch-musikalischen Wiederholung eines Stollen am Ende des Abgesangs. Auf diese Weise wurde der künstlerische Aufwand reduziert, es kam  – mehr noch als im Fall der Alment  – ein konstruktivistisches Element in die Form der Töne, beim Vortrag wurde das Gedächtnis entlastet. Das alles war wohl auch Vorbedingung für die nunmehr ab und zu festzustellende Komposition extrem langer Strophenformen.



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Dem dritten Stollen geht im Abgesang ein kürzeres Text- und Melodiestück – der sog. Steg – voraus, das mit oder ohne Repetition erscheinen kann. Schematisch darstellen lassen sich Kanzonen mit drittem Stollen als AA//B/A oder, bei Stegwiederholung, als AA//BB/A. Der dritte Stollen begegnet seit den 1230er Jahren; ungefähr datieren kann man ihn durch einen Ton, der im ‚Wartburgkrieg‘ (Hal.) verwendet wird. Die ältesten darin abgefassten Texte entstanden um 1239. Der kurze, relativ anspruchslose Ton weist dreizeilige Stollen auf. Der einzeilige Steg besteht aus einer Langzeile, die letzte Zeile des dritten Stollens ist an den Steg angereimt (älteste Melodiefassung in J): ‚Wartburgkrieg‘, Ton II (Klingsor, Schwarzer Ton) 4a 6a 5’b, 4c 6c5 5’b // 4x/3’d   4e 6e 5’d10  α +β.   γ.                   ://          δ + γ’. / 3. Stollen (10 Zeilen, 52 Takte, 5 Reimklänge; Bauform AA/BA)

Es gab Spruchdichter, die den dritten Stollen grundsätzlich für alle ihre Töne verwendeten, z.  B. in der zweiten Jahrhunderthälfte Konrad von Würzburg (Schr.), dessen sieben Spruchtöne von vorbildhafter Bedeutung gewesen sein dürften. Dritte Stollen finden sich etwa beim Kanzler, Kelin, dem Unverzagten, Hermann Damen, Wizlav, Regenbogen und anderen. Auch für zwei jüngere Zeitgenossen Konrads war der dritte Stollen maßgeblich, allerdings nicht in dieser Ausschließlichkeit. Unter den recht variabel gestalteten zehn Tönen Rumelants von Sachsen (Ruw., Krn.; Melodien in J) finden sich Kanzonen mit repetierten oder nichtrepetierten Stegen. Hierher gehört etwa Ton I, dessen Abgesang einen repetierten Steg und dritten Stollen (Bauform AA// BB/A) aufweist: Rumelant von Sachsen, Ton I 3’a/2’b   4’a/3’b   3’c/3d,  3’e/2’f  4’e/3’f5  3’c/3d  //   5g  5’h, 5g 5’h10/ 3’i/2’k  4’i/3’k  3’c/3d    α+ β.       α+ γ.       δ+ β1.                            ://: ε.  δ’.         ://              3. Stollen (13 Zeilen, 74 Takte, 10 Reimklänge)

In einem Fall (Ton VI) steht am Ende zwar ein dritter Stollen, doch ist hier der Steg musikalisch variiert: Die Melodie zur vierten Stegzeile weicht von der zur zweiten Zeile ab (teilrepetierter Steg, schematisch α β/α γ). Ein weiterer Ton (VIII) lässt auf den teilrepetierten Steg und den dritten Stollen noch eine Coda folgen. Eine andere Variante besteht darin, dass auf einen teilrepetierten oder einen repetierten Steg gerade kein dritter Stollen folgt, sondern ein neues metrisch-musikalisches Glied, das dem Ton durch die Wiederholung der beiden letzten Zeilen der Stollenmelodie am Abgesangs­ ende die Form der Rundkanzone (s.  o.) gibt (Ton VII). Schließlich findet sich in Ton V, der metrisch die Struktur einer Kanzone mit repetiertem Steg und drittem Stollen aufweist (Bauform AA//B/A’), ein durchkomponierter Abgesang: In melodischer Hinsicht stellt der Ton somit eine Rundkanzone dar, in der am Schluss die beiden letzten Stollenzeilen wiederholt werden (Bauform AA//B):

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 Formen

Rumelant von Sachsen, Ton V 4a      6a 5’b, 4c 6c5 5’b // 4d 5’e, 4d       5’e10 / 4f          6f  5’e   α.    α+β +γ.                 ://  β + γ.      δ  +  ε.            β.  γ’+β.      γ. (13 Zeilen, 63 Takte, 6 Reimklänge)

Die Stege der meisten Töne Rumelants von Sachsen greifen metrisch die kreuzgereimten Zeilenquartette des Almentschemas auf. Rumelants Töne haben nur 10–13, einmal 17 Zeilen, die Stollen sind meist dreizeilig, die Taktzahlen betragen 42, 45, 57–67, 74, 81 – die weitaus meisten Töne haben somit mittleren Umfang. Der Dichter verwendet insgesamt die große Zahl von 18 unterschiedlichen Versarten. Der für das letzte Drittel des 13. Jahrhunderts belegbare Meißner (Obj.), der mit 20 erhaltenen Tönen der neben Walther fruchtbarste Tonautor des Jahrhunderts (Melodien in J), bietet – nicht ganz so einfallsreich – ebenfalls unterschiedliche Spielarten des dritten Stollens. Bei ihm finden sich Kanzonen mit repetiertem Steg und drittem Stollen, ferner solche mit repetiertem Steg und verkürztem oder variiertem dritten Stollen, Kanzonen mit nichtrepetiertem Steg und vollständigem oder verkürztem dritten Stollen. Ein Beispiel ist Ton VIII, in dem nach einem repetierten Steg mit einem um das Eingangsglied verkürzten dritten Stollen abgeschlossen wird (Bauform AA// BB/A’): Meißner, Ton VIII 6’a        7’a        6b, 6’c 7’c5 6b // 2d      2d 5e 3’f10, 2g 2g 5e 3’f /      7’f15       6b    α.  β+γ. δ+γ.                   ://: γ’+ ε.  ζ_____.                :// β+γ. δ+γ. (16 Zeilen, 75 Takte, 7 Reimklänge)

Kreuzgereimte Zeilenquartette finden sich auch hier mehrfach in den Stegen. Die Töne des Meißners umfassen 7, 9–13, 16–19 Zeilen, die Stollen sind fast ausnahmslos dreioder vierzeilig, die Taktzahlen reichen von 53–78, der längste Ton (XVII) besteht aus 96 Takten. Auffallend ist die große Variabilität der unterschiedlichen Versarten: Der Meißner steht mit nicht weniger als 20 unterschiedlichen Verstypen in dieser Hinsicht an der Spitze aller Spruchautoren. Von besonderem Interesse sind Töne, deren Urheber sich zwar mit der Erscheinung des dritten Stollens auseinandersetzten, seiner genauen Realisierung aber bewusst aus dem Weg gingen. Als Beispiele genannt seien Friedrich von Sonnenburg und der Marner. Friedrichs von Sonnenburg Sprüche (Mas.) entstanden, soweit datierbar, im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts. Seine vier Töne bestehen aus 7–16 Zeilen, sie bleiben mit 56–73 Takten bei mittlerem Umfang. Charakteristisch für den in metrischer Hinsicht recht einfachen Ton  IV ist der Umstand, dass hier der dritte Stollen gerade nicht am Schluss steht, er folgt vielmehr auf den mit B’ bezeichneten Steg; abgeschlossen wird der am Ende mit einer Langzeile markierte Abgesang von einer Coda A’ B’’. An den griechischen Buchstaben sieht man, dass die in J überlieferte Melodie aus wenig Material generiert ist: α+β bezeichnet eine absteigende Melodielinie c-D, γ+δ eine Schwebezeile um F. Beide Melodiestücke werden fortwährend variiert:



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Friedrich von Sonnenburg, Ton IV 4a      3’b  4c 3d, 4c5 3’b 4c 3d // 4e      3’f10 / 4e 3’f 4g 3h/     4g        7h    α + β.    γ + δ.                          ://          γ’ + δ’.           α + β. γ’’  +  δ’ α+ β’+δ.    A                    B                                    B’                 A    B          A’           B’’ (16 Zeilen, 60 Takte, 8 Reimklänge)

Die Spruchtöne des Marners, eines der bedeutendsten Spruchdichter der Generation unmittelbar nach Walther, zeugen von intensiver Auseinandersetzung mit der ‚neumodischen‘ Erscheinung des dritten Stollens. Als Beispiel zunächst sein kürzester Ton I, der später (wie oben erwähnt aus nicht recht ersichtlichen Gründen) Goldener Ton genannt wurde (Melodie in k): Marner, Ton I (Goldener Ton) 4a 4a 7’b, 4c 4c5 7’b // 4d  7’e 4d 7’e10          4f 7f 7’b   α      β    γ                   ://: β1      γ        ://  α1  β1  γ (13 Zeilen, 70 Takte, 6 Reimklänge)

Die Bauform ist klar und übersichtlich: Auf dreizeilige Stollen folgt als Abgesang ein repetierter Steg, anschließend dann ein dritter Stollen (AA//BB/A’). Dieser bietet jedoch metrisch und musikalisch nicht die exakte Repetition eines Aufgesangsstollens, vielmehr eine erweiterte Variante: Die vorletzte Zeile ist nicht vierhebig, sondern siebenhebig, entsprechend ist auch die Melodie verlängert. Charakteristisch für den Marner ist übrigens das erneute Erscheinen des die Aufgesangsstollen abschließenden b-Reims am Abgesangsende. Marners bedeutendster, noch jahrhundertelang geschätzter Ton ist Ton VII, der Lange Ton, der bis dahin längste Spruchton überhaupt (Melodie in k). Er stellt nicht zuletzt durch die Art der Reimgestaltung hohe Anforderungen – hinzuweisen ist vor allem auf den fünffachen f-Reim (Tiradenreim) im Abgesang; auch hier wird übrigens der letzte Stollenreim am Abgesangsende wieder aufgenommen. Der Abgesang ist geradezu verzwickt konstruiert. Auf den ersten Blick scheint man zwei Blöcke gleicher Länge und Bauform zu erkennen: v. 11–14 (24 Takte) und v. 15–19 (ebenfalls 24 Takte), gefolgt von einer einzeiligen Coda v. 20 (Bauform AA//BB’/C). Die Melodie in k zeigt jedoch, dass diese Struktur überlagert wird von einer zweiten: Die beiden letzten Zeilen des zweiten Blocks (v. 18/19) bilden nämlich zusammen mit der Coda v. 20 einen dritten Stollen, der freilich um das Anfangsglied α verkürzt ist (Bauform AA//B/A’). Offensichtlich setzte der Marner sich mit der Erscheinung des dritten Stollens auseinander; er übernahm ihn jedoch nicht einfach, sondern variierte ihn – die bloße Stollenrepetition, wie sie sich zu seiner Zeit bereits oft findet, war die Sache dieses gelehrten und anspruchsvollen Autors nicht:

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 Formen

Marner, Ton VII (Langer Ton) 4a 3b 4a 4b 8c5, 4a 3b 4a 4b 8c10 //     7d     6d 3e   8e/      7f15      2f      3f        4f  8     f /         8c20   α  β β1  β2      γ+δ                              :// ε+β1’ ζ+β η  β1’’+β2’ / ε+β1’ζ’ / β β1  β1+β2  γ+δ. (20 Zeilen, 102 Takte, 6 Reimklänge)

Beim Marner begegnet im übrigen erstmals der Gegensatz eines sehr kurzen, anspruchslosen, hier siebenzeiligen Tones mit 36 Takten (Ton  II) und eines kunstvollen, sehr langen Tons, des Tons VII, im Duvre eines einzelnen Autors. Diese Gegensätzlichkeit wurde von jüngeren Autoren aufgegriffen, etwa von Hermann Damen, bei dem sich ein siebenzeiliger Ton mit nur 28 Takten und ein sehr langer Ton – der längste der ganzen Epoche – mit 36 Zeilen und 134 Takten findet. Ähnliches begegnet bei Regenbogen und Frauenlob. Eine erhebliche Zahl von ‚kleineren‘ Autoren des späten 13.  Jahrhunderts  – Boppe, Sigeher, Süßkind von Trimberg, der Schulmeister von Esslingen, Kelin und andere – ging dem dritten Stollen aus dem Weg. Die Abgesänge ihrer Töne sind in der Regel durchkomponiert. Mehrfach spielte dabei erneut das alte Muster der Alment eine Rolle – Boppes Hofton wurde als Beispiel bereits genannt. Die Töne bestehen vorwiegend aus 8–16 Zeilen mit fast ausnahmslos drei- oder vierzeiligen Stollen, die Taktzahlen bewegen sich in den meisten Fällen zwischen 43 und 73, der längste Ton ist der oben erwähnte Hofton Boppes mit 90 Takten. Bei einer kleinen Gruppe mit lediglich vier Tönen (Wilder Alexander KLD 1,II; Kelin Whm. III; Der Kanzler KLD 28,XVI; Singauf HMS III,17) bestehen die Abgesänge aus zwei metrisch-musikalisch identischen Hälften (Bauform AA//BB). Anders als dies in den im Schema vergleichbaren Tönen Walthers von der Vogelweide der Fall ist, wird hier die Melodie des ersten Abgesangsteils im zweiten schlicht repetiert. 3 .   F r a u e n l o b . Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob, ist mit mehr als 300 Sangsprüchen in neun Tönen der nach Walther zweifellos produktivste Spruchdichter (GA). Frauenlob lehnte den dritten Stollen entschieden ab. Charakteristisch für seine Spruchtöne ist vielmehr, soweit angesichts der teilweise schlechten Überlieferung der Melodien erkennbar, der Rückbezug am Abgesangsende lediglich auf die letzte Stollenzeile. Somit ist für ihn das Formschema der Rundkanzone typisch. Charakteristisch ist ferner, dass er im Strophenbau nicht einem einzigen Schema folgte, sondern sich darum bemühte, immer wieder neue Strukturen zu schaffen. Frauenlobs neun Töne umfassen acht bzw. 15–21 Verszeilen, sie bestehen aus 32, 53, 60, 64, 71, 72, 76, 82, 83 Takten: einem sehr kurzen Ton (II) stehen fünf Töne mittlerer Länge (III, IV, V, VII, VIII, IX) und drei lange Töne (I, IV, VI) gegenüber. Das von Frauenlob selbst am häufigsten benutzte Schema ist Ton I, der bei den Meistersingern als bedeutendster Ton überhaupt geltende Lange Ton (älteste Melodiefassung in k), der schon zu Frauenlobs Lebzeiten mehrfach nachgeahmt wurde. Die drei Strophenteile werden markant abgeschlossen: Die langen sechszeiligen Stollen durch je zwei Langzeilen, der siebenzeilige Abgesang durch eine Langzeile. Während der Aufgesang insgesamt 56 Takte umfasst, besteht der Abgesang aus lediglich 27



Die Töne: Töneprinzip und Formgeschichte 

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Takten. Wie bei Marner wird am Abgesangsende der Endreim der Stollen c wieder aufgenommen. Die Verslängen wechseln in den Stollen je viermal, im Abgesang dreimal – mit Ausnahme des den Abgesang bestimmenden Vierhebers finden sich die hier erscheinenden Versarten bereits in den Stollen. In reimtechnischer Hinsicht kennzeichnend für den Abgesang ist die sechsfache Reimtirade mit dem f-Reim, ebenfalls eine Erscheinung, die schon beim Marner begegnete. Als Gesamteindruck kann man formulieren, dass die Stollen ein unruhiges, zerklüftetes, beinahe bizarres Bild bieten, während der Abgesang Ruhe ins Spiel bringt (die in k schlecht überlieferte Melodiefassung kann hier nicht einbezogen werden): Frauenlob, Ton I (Langer Ton) 6a 2a 3’b 3’b 4x/3’b5 4x/3’c, 6d 2d 3’e 3’e10 4x/3’e 4x/3’c // 4f 4f 2f15 2f 4f 4f 4x/3’c (19 Zeilen, 83 [56:27] Takte, 6 Reimklänge)

Ebenfalls 19-zeilig, im Hinblick auf den Gesamtumfang jedoch etwas kürzer, ist Frauenlobs Ton III, der Grüne Ton (älteste Melodiefassung in J und W). Wie bei Ton I bestehen die Stollen aus je sechs Zeilen, während der Abgesang sieben Zeilen aufweist. Auch hier ist der Abgesang erheblich kürzer als der Aufgesang. Stollen und Abgesang sind metrisch auf das Engste verbunden, der Abgesang ist nämlich nichts anderes als eine metrisch geringfügig erweiterte und in der letzten Zeile mit weiblicher Kadenz versehene Wiederholung eines Stollens: Stollen 3’ 4 3’ 4 4 5, Abgesang 3’ 4 3’ 3 4 4 5’. Verwendet werden insgesamt nur vier, in ihren Längen nur wenig variierte kurze Versarten, anders als im Ton I fehlen Langzeilen. Die Schlüsse der Strophenteile werden deutlich markiert, nämlich durch die metrische Sequenz 4 4 5(’). Durch Reime verbunden sind hier jedoch nur die Stollenschlüsse, eine Reimverbindung zum Abgesangsschluss fehlt. Insgesamt erzeugen die völlige Ausgewogenheit der Verslängen und der Strophenteile ein ruhiges, harmonisches Bild – insoweit steht Ton III in deutlichem Kontrast zu Ton I: Frauenlob, Ton III (Grüner Ton) 3’a 4b  3’x 4b    4c5  5d, 3’a 4e 3’x 4e10 4c 5d // 3’f 4x 3’f15 3’g           4h 4h 5’g α+β+γ. β1+ δ+γ1.β2+γ2+ε.                              :// ζ + ζ1. β3+γ3+γ4. β4+δ1+γ2+ε. (19 Zeilen, 72 Takte [46:26], 8 Reimklänge)

Einzigartig, zumindest bis dahin, und noch bis in das 17. Jahrhundert hochberühmt war auch Frauenlobs Ton IX, der Goldene Ton. Sein Ruhm basiert auf der großen Zahl von Anreimen, die ihn zu einem höchst anspruchsvollen Reimkunststück machen. Im Schema sind die Anreime mit großen Buchstaben angegeben, dazu kommt der k-Reim, der sich am Ende des zweiten Stollens, ferner als Anreim der ersten Abgesangszeile und als Endreim der letzten Abgesangszeile findet. Die beiden Stollen sind mit durchgehenden Endreimen von a bis k versehen, sämtliche Reime finden dann im Abgesang ihren Partner, freilich in ganz unregelmäßiger Folge: c g a i f h b e d k. Abgesehen von den Reimen ist der Ton recht einfach gebaut. Auf- und Abgesang sind genau

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 Formen

gleich lang, es finden sich durchweg dreihebige Verse mit weiblicher oder männlicher Kadenz (die älteste Melodiefassung in k kann auch hier aus dem oben genannten Grund nicht einbezogen werden):   Frauenlob, Ton IX (Goldener Ton) 3’A.a 3’A.b 3’A.c 3’A.d 3B.e5, 3’B.f 3’C.g 3’C.h 3’i 3k10 // 3’k.c 3’g 3’a 3’i 3’f15 3’h 3’b 3e 3’d 3k20 (20 Zeilen, 60 Takte [30:30], 13 Reimklänge)

Die Spruchdichtung bis zum Ende der Gattungsgeschichte Die letzte Phase der Gattungs- und damit der Formgeschichte begann um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Nunmehr wurde die prinzipielle Einstrophigkeit zugunsten mehr-, oft vielstrophiger Spruchlieder (Bare) aufgegeben. Im Bereich der Metrik sind lange Zeilen und Langzeilen verschwunden, es finden sich nurmehr zwei- bis siebenhebige Kurzverse. Unterscheiden kann man im Wesentlichen kürzere Töne mit 11–18 Verszeilen und längere mit 20–36 Verszeilen bzw., nach der Taktzahl, mittellange und lange Töne. Wie Frauenlob ging auch der bedeutendste Spruchdichter der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, Heinrich von Mügeln (Stmn.), in seinen vier Tönen dem dritten Stollen aus dem Weg. Für seinen Ton III (Langer Ton) bediente Mügeln sich des Schemas von Boppes Hofton, er schuf allerdings offenbar eine neue Melodie. Während dieser Ton, wie sein Vorbild, mit 20 Verszeilen und 90 Takten zu den längsten Tönen überhaupt gehört, halten Mügelns übrige Töne mit 47 (Ton  II), 57 (Ton  IV) und 65 Takten (Ton  I) mittleren Umfang ein. Melodisch weisen alle Töne die Struktur der Rundkanzone auf. Etwa die Hälfte der mittellangen Töne des 14. und 15. Jahrhunderts – 10 von insgesamt 21 Tönen mittlerer Länge – zählt zur sog. Suchensinn-Gruppe. Namengebend ist dabei der einzige Ton des in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts gehörenden Suchensinn (hg. Pflug; Melodie in k). Zu dieser Gruppe gehören auch Töne der wenig bekannten und dürftig überlieferten Dichter Sighart, Meffrid, Alblin, Schonsbekel, Liebe von Giengen, Jöriger und Anker (Cramer I–IV), doch gehört auch Muskatbluts Ton II (Grte.) hierher: Suchensinn, Ton 4a 4a 4a      3’b,  4c5 4c 4c 3’b //      5’d  / 4e10 4e 4e 3’d    α + β.  γ.  α’+β’.                      :// α’’+β’. /   3. Stollen (13 Zeilen, 50 Takte [30:20], 5 Reimklänge)

Die Töne der Suchensinn-Gruppe haben drei- oder – wie Suchensinns Ton – vierzeilige Stollen, bestehend aus zwei oder drei miteinander reimenden Vierhebern, gefolgt von einem weiblichen Dreiheber, der im Aufgesang mit der Schlusszeile des zweiten Stollens reimt. Darauf folgt ein einfacher oder repetierter Steg, die letzte Zeile des dritten Stollens ist an den Steg angereimt. Die Zeilenzahlen betragen 11–18, die Taktzahlen 46–59, in einem Fall 40 (Jöriger), in einem anderen 79 (Schonsbekel).



Die Töne: Töneprinzip und Formgeschichte 

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Andere mittellange Töne – hierher gehören Töne Harders (Ton I u. III), Leschs (Ton II, IV, VII, VIII), Hülzings, auch Mügelns Töne I, II, IV – folgen diesem Schema nicht. Gleichwohl stimmen die Umfänge mit denen der Suchensinn-Gruppe weitgehend überein: die Zeilenzahlen betragen 11, 12, 14 und 16–18, die Taktzahlen 46–68, die Stollen umfassen meist vier Zeilen. Hier finden sich Rundkanzonen, Kanzonen mit drittem Stollen, manchmal auch solche mit verkürztem dritten Stollen. Neben den mittellangen Tönen stehen 13 lange, teilweise sehr lange, reimtechnisch oft überaus anspruchsvolle Töne mit 20 bis 36 Verszeilen und mit 59–108 Takten, die Stollen umfassen 3–10 Zeilen. Die Abgesänge sind teilweise durchkomponiert (Muskatblut Ton I, Mönch Ton V, VI, VII), teilweise findet sich ein dritter Stollen (Liebe von Giengen Ton II, Lesch Ton II, Muskatblut Ton IV), der auch verkürzt sein kann (Muskatblut Ton  III), die übrigen Töne sind Rundkanzonen (Mügeln Ton  III, Hopfgart Ton II, Mönch Ton I, Hopfgart I, Meienschein). Die langen Töne stehen teilweise in Verbindung mit einer für das 14. und frühe 15. Jahrhundert charakteristischen, noch kaum erforschten Gruppe von Einzelliedern, die ich in Ermangelung eines besseren Begriffs als ‚artifizielle Lieder‘ bezeichne. Dabei handelt es sich um Lieder, die teilweise von Spruchdichtern (Mülich von Prag, Lesch, Harder, Schonsbekel), teilweise von anderen, vielfach unbekannten Autoren geschaffen wurden. In den Handschriften sind sie mit Bezeichnungen wie ‚Parat‘, ‚Reihen‘ oder ‚Tanz‘ bezeichnet, meist handelt es sich um geistliche Lieder. Die Töne dieser Lieder wurden in aller Regel nur ein einziges Mal, eben für ein bestimmtes Lied, verwendet; sie sind dadurch mit den üblichen Spruchtönen nicht zu vergleichen. Gemeinsam ist ihnen ein hoher künstlerischer Anspruch: Es handelt sich um oft besonders umfangreiche und reimreiche Töne, die gleichsam an die Stelle des Leichs traten, der seit etwa Mitte des 14.  Jahrhunderts nicht mehr gepflegt wurde. Besonders tat sich auf diesem Gebiet Albrecht Lesch (Cramer II) hervor, von dem wir einen ‚Gekrönten Reihen‘ (95 Takte, 5 Strophen), einen ‚Goldenen Reihen‘ (72 Takte, 3 Strophen), ein ‚Goldenes Schloss‘ (98 Takte, 13 Strophen), einen ‚Kurzen Reihen‘ (85 Takte, 3 Strophen) und eine ‚Tagweise‘ (127 Takte, 5 Strophen) kennen. Mindestens einer der Töne, der zu Harders ‚Goldenem Reihen‘ (105 Takte, 3 Strophen), wurde sekundär allerdings auch als Spruchton benutzt. Zu den Vorläufern dieser Gruppe gehört vielleicht der schon im ersten Drittel des 14.  Jahrhunderts Frauenlob zugeschriebene, jedoch als unecht geltende Überzarte Ton (vgl. Rettelbach, Variation, S. 14  ff.). Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch der in Handschrift k überlieferte Barantton Peters von Sachs, zu dem es neben dem deutschen Lied Peters auch ein lateinisches Lied des Mönchs von Salzburg gibt. Peter von Sachs war freilich nicht der Tonautor, der Ton stammt vielmehr von einem Anonymus aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, der in ihm das reimreiche Lied Man siht louber touber (65 Takte, 15  Reimklänge) verfasste (vgl. Röll, Hof; Kornrumpf, Hof). Gelegentlich wurden offenbar auch Spruchtöne in der Manier der artifiziellen Lieder neu geschaffen – zu vermuten ist dies mindestens für den langen und reimreichen Langen Ton Meienscheins (108 Takte, 17 Reimklänge).

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 Formen

Als Beispiel eines der langen und kunstvollen Töne stehe hier der Lange Ton des Mönchs von Salzburg, der von Muskatblut (Ton IV) nachgeahmt wurde. Der Mönch schuf in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein umfangreiches Corpus weltlicher und geistlicher Lieder. In die Geschichte der Spruchtöne gehört der Mönch – gewiss kein professioneller Spruchdichter  – durch mehrere geistliche Lieder in umfangreichen kanzonenförmigen Tönen (Chorweise, Zarter Ton, Süßer Ton, Langer Ton), die von den Meistersingern zum Teil bereits im 15. Jahrhundert adaptiert wurden; im Meistergesang hielt man ihn für einen der, wie schon erwähnt, auf die Alten Meister folgenden ‚Nachdichter‘. Zum Langen Ton (Ton V) des Mönchs haben sich drei authentische Lieder erhalten: Mönch von Salzburg, Langer Ton 4a 4a 4a 4a 4a5 4a 3’b, 4c 4c 4c10 4c 4c 4c 3’b // α + α’. β + γ + δ + ε.   ζ.                                       ://                                 4d15 4d 4d 3’e, 4d 4d20 4d 3’e     / 4d   4d   4d25 3’e                                      //: η + θ + ι + κ.                              ://  λ____. ε +     κ. (26 Zeilen, 99 Takte [54:45], 5 Reimklänge)

Die Stollen weisen je sechsfachen Tiradenreim auf, sie sind durch den Schweifreim b miteinander verbunden. Die drei metrischen Zeilenquartette, die den Abgesang bilden, haben je identische Dreireime (d)  – somit neunfachen Tiradenreim  – und einen gemeinsamen dreifachen Schlussreim e. Der Ton ist somit ein ausgesprochen anspruchsvolles Reimkunststück. In der Melodie (älteste Fassung in der ‚MondseeWiener Liederhandschrift‘ D) wird allerdings die parallele Dreigliederung der metrischen Struktur nicht nachvollzogen. Am Ende der Formgeschichte stehen im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts zwei Berufsdichter mit interessanter Töneproduktion. Neben zwei artifiziellen Liedern in eigenen Tönen, dem Parat (60 Takte, 15 Reimklänge, 5 Strophen) und dem nicht­ chiller stolligen (!) Reihen (84 Takte, 7 Reimklänge, 8 Strophen) stammen von Jörg S (Cramer III) fünf Spruchtöne mit 14–24 Zeilen und mit 50–58, 73 Takten – alle Spruchtöne weisen somit mittleren Umfang auf; meist haben sie einen dritten Stollen. Einen Höhepunkt der Formgeschichte stellen die ausgesprochen vielgestaltigen elf Spruchtöne Michel Beheims (Gille/Spr.) dar. Drei davon sind in die Reihe der artifiziellen Töne zu stellen, es handelt sich um Strophenschemata mit höchsten, bis dahin unerhörten Anforderungen an die Reimkunst (Ton VI = Gekrönte Weise: 89 Takte, zwei Reimklänge für 23 Zeilen; VII = Sleht guldin Weise: 56 Takte, 22 Reimklänge verteilt auf elf Zeilen; VIII = Hohe guldin Weise: 40 Takte, 25 Reimklänge verteilt auf neun Zeilen). Die ‚eigentlichen‘ Spruchtöne bestehen aus 10–29 Zeilen mit 21, 36, 42, 48, 62, 65, 70 und 108 Takten, in denen zwölf Versarten benutzt werden. Noch einmal begegnet das Gegenüber eines hier extrem kurzen Tons (Ton II = Kurze Weise) mit zehn Zeilen und 21 Takten und eines sehr langen Tones (Ton XI = Lange Weise) mit 29 Zeilen und 108 Takten. Dem ‚platten‘ dritten Stollen ging Beheim aus dem Weg. Die Abgesänge sind in drei Fällen durchkomponiert, einmal begegnet eine Rundkanzone, in den übrigen



Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit – Barbildung – Anordnung in den Quellen 

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Fällen finden sich verkürzte bzw. variierte dritte Stollen. Als Beispiel ein Ton mittlerer Länge: Michel Beheim, Ton V (Trummetenweise) 3’a      5b 3’a    4c, 3’d5 5b 3’d 4c // 6e 3’f10 7g 3e / 4’f 5e 3’f15      4g     α + β.    γ + δ.                    ://     ε__________. /   α’+ β.     γ  + δ. A_________     _,                            ://     B__________. /  A’_________. (16 Zeilen, 65 Takte [30:35], 7 Reimklänge)

Der Tonname ist auf die häufigen, signalartigen Tonwiederholungen in der in den Autorhandschriften Beheims überlieferten Melodie zurückzuführen. Auffällig ist die für diese Zeit relativ große Zahl unterschiedlicher Versarten: 3, 3’, 4, 5, 6, 7 – Siebenheber sind im 15.  Jahrhundert absolute Ausnahme. Der Abgesang besteht, wie die Melodie zeigt, aus einem vierzeiligen Steg und einem am Anfang geringfügig variierten Stollen. In den Aufgesangsstollen sind zwei miteinander reimende weibliche Verse mit zwei männlichen Zeilen mit Schweifreim kombiniert. Die Reime im Zeilenquartett des Stegs finden ihre Pendants im dritten Stollen, wobei gleiche Reime durchweg mit in der Zeilenlänge unterschiedlichen Versen verbunden sind. Ausg. Brunner (Hg.), Früheste deutsche Lieddichtung; Brunner [u.  a.] (Hg.), Überlieferung Walthers; Cramer; GA; HMS; KLD; Krn.; L.; L./Cor.; Mas.; MFMT; Mönch von Salzburg, Geistliche Lieder; Mönch von Salzburg, Weltliche Lieder; Obj.; Pflug (Hg.), Suchensinn; Rietsch (Hg.), Wiener Leichhandschrift; Roe.; Ruw.; Schr.; Simrock (Hg.), Wartburgkrieg; Sps.; Stmn.; Werg (Hg.), Wizlav; Whm.; Wms.; Yao (Hg.), Gervelin, Der Guter und Reinolt von der Lippe; Zapf; Zck. – Lit. Brunner, Alte Meister; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Sangspruchdichtung; Brunner, Spruchtöne um 1300; Brunner/Hahn [u.  a.], Walther; Haustein, Marner-Studien; Kornrumpf, Hof; Kornrumpf/ Wachinger, Alment; Lieb, Modulationen; Rettelbach, Aspis; Rettelbach, Bauformen; Rettelbach, Differenzen; Rettelbach, Skizze; Rettelbach, Variation; Röll, Hof; RSM; Tervooren, Sangspruchdichtung; Wachinger, Sängerkrieg.

2 Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit – Barbildung – Anordnung in den Quellen

Horst Brunner

Charakteristisch für die Sangspruchdichtung ist neben dem durchweg geltenden Töneprinzip bis zum ersten Viertel des 14. Jahrhunderts, bis Frauenlob und Regenbogen, die prinzipielle, nicht ausschließlich, aber doch fast ausschließlich geltende E i n s t r o p h i g k e i t . Normalerweise ist jede einzelne der in diesem Zeitraum entstandenen Spruchstrophen eine in sich geschlossene Einheit, die für sich vorgetragen werden konnte. Die vor allem in den 1950er und 1960er Jahren geführte, von Maurers Buch ‚Die politischen Lieder Walthers von der Vogelweide‘ (1954) und seiner Ausgabe ‚Die religiösen und politischen Lieder Walthers von der Vogelweide‘ (1956) ausgehende

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 Formen

lebhafte Diskussion, in der es vor allem darum ging, Minnesang und Spruchdichtung unter einen einheitlichen Liedbegriff zu subsumieren (dokumentiert in einzelnen Beiträgen bei Moser [Hg.], Spruchdichtung; vgl. ferner Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 81–89), somit die Spruchdichtung als eigene literarische Gattung abzuschaffen, kann heute als obsolet gelten. Sie setzte darauf, die in den Handschriften gegebene Abfolge von Sprüchen im gleichen Ton als zusammenhängende ‚Lieder‘ zu verstehen. Selbst der Meinung, Spruchstrophen würden „von Anfang an zu mehr­ strophigen Verbänden“ tendieren (ebd., S. 85), wird man nach Prüfung der Sachlage nicht zustimmen können. M e h r s t r o p h i g k e i t erscheint in der Spruchdichtung bis zu Frauenlob nur in sehr begrenztem Umfang. Seit dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts trifft man auf die B a r b i l d u n g . ‚Bar‘ ist der bereits zeitgenössische Begriff für das mehrstrophige Spruchlied, zusammengesetzt aus mehreren, meist – aber nicht ausnahmslos – einer ungeraden Zahl von Strophen, mindestens drei. Beim jüngsten in der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J enthaltenen Autor, Reinolt von der Lippe (urkundlich vermutlich 1332–1356), finden sich zwei Dreierbare, ein weiterer früher Dreierbar begegnet im Sängerlob des Lupold Hornburg von Rothenburg, abgefasst im Langen Ton Marners, überliefert um 1350 in der ‚Würzburger Liederhandschrift‘ E. Bare stehen ferner in den in das zweite Viertel des 14. Jahrhunderts zu datierenden, mit der Handschrift D zusammengebundenen Sammlungen H und R. Einzugehen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Anordnung der Töne und Texte in den maßgeblichen Texthandschriften, die sich keineswegs als willkürlich erweist. Mehrstrophigkeit in der Spruchdichtung bis Frauenlob Dem für die Spruchdichtung prinzipiell geltenden Prinzip der Einstrophigkeit scheint die in den Handschriften A und C überlieferte Sammlung der Texte des ältesten fassbaren Spruchdichters ‚Herger‘/Spervogel I zu widersprechen (MFMT VII; Brunner [Hg.], Früheste deutsche Lieddichtung). Die insgesamt 28 Spruchstrophen sind thematisch in fünf Fünfergruppen, Pentaden, sowie in einer Triade geordnet. Der Zusammenhang der einzelnen Strophen in den jeweiligen Gruppen ist freilich unterschiedlich eng. Pentade I kann man als zusammenhängendes Spruchlied verstehen: Unter Verweis auf die Armut und Unbehaustheit des Sängers (Str. 1) und auf verstorbene großzügige Fürsten und adlige Standesgenossen, die Bedürftige um des Ansehens willen unterstützt haben, werden die Grafen von Oettingen aufgefordert, dahinter nicht zurückzustehen (s. oben auch → Kapitel III.1). Der Zusammenhang in den übrigen Gruppen ist lockerer. Pentade  II thematisiert lehrhaft die kluge Vorsorge für die Zukunft; Pentade  III belehrt mit Anspielungen auf geläufige Tierfabeln darüber, dass die wahre Natur eines Lebewesens sich immer wieder durchsetzt – der Wolf bleibt stets ein Wolf – und dass der Frechere und Stärkere stets gewinnt (s. oben → Kapitel IV.3); in Pentade IV wird religiöse Belehrung geboten; Pentade V sammelt wichtige Lebens-



Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit – Barbildung – Anordnung in den Quellen 

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weisheiten in relativ lockerem Zusammenhang; die religiösen Strophen der Triade rühmen die Erlösungstaten Christi und preisen Gottes Allmacht. Abgesehen von Pentade I ist der thematische Zusammenhang nirgends so eng, dass die einzelnen Strophen nicht auch für sich allein verstanden werden können. Angesichts der Kürze der Strophenform (27 oder 29 Takte) lag der Strophenverbund freilich nahe. Etwas umfangreicher ist mit 34 Takten der Ton des etwas jüngeren ‚eigentlichen‘ Spervogel (Spervogel II). Die Einzelstrophen stehen hier ganz für sich, wenngleich sich durch gemeinsame Themen nähere Zusammenhänge ergeben können: So behandeln die in Handschrift J aufeinander folgenden Strophen 1–3 das Thema Verwandtschaft, in 8–10 beklagt der Sänger seine misslichen Lebensumstände. Von Mehrstrophigkeit kann man hier jedoch keinesfalls sprechen (vgl. auch Tervooren, Einzelstrophe, S. 192). Prinzipielle Einstrophigkeit gilt auch für die Sprüche Walthers von der Vogelweide. Die Zusammenstellung der Einzelstrophen zu den jeweiligen Tönen in den Handschriften erscheint fast durchweg geordnet, in manchen Fällen jedoch nur einigermaßen. Wirkliche Mehrstrophigkeit begegnet nur gelegentlich – fast stets können zusammengehörige Einzelstrophen durchaus auch für sich selbst stehen. Am wenigsten gilt das für zwei in unikalen, liedhaften Tönen verfasste Texte, die zweistrophige ‚Aufforderung zum Kreuzzug‘ (L. 13,5), sofern man sie überhaupt zur Spruchdichtung zählen will, und für den dreistrophigen Text Mir ist diu êre unmaere (L. 102,29). Nicht sinnvoll separat stehen können zweifellos die vier Strophen der sog. Engelsschelte im kurzen (35 Takte) Bognerton (L. 78,24), auch die Zusammengehörigkeit der beiden Strophen zum Gedenken an Reinmar den Alten im Leopoldston (L. 82,24) ist kaum zu bestreiten – allerdings findet sich in Handschrift C lediglich Strophe L. 83,1, als Ganzes steht der Text nur im Anhang zu Handschrift A (Sigle a). Weitere enge Strophenverbünde sind: die drei Begrüßungsstrophen für Kaiser Otto im Ottenton (L. 11,30; 12,6; 12,18); die beiden Scheltstrophen auf Otto im König-Friedrichs-Ton (L. 26,23; 26,33); die drei Antipapststrophen im Unmutston (L. 33,21; 34,4; 34,14); die beiden Scheltstrophen gegen Dietrich von Meißen (L. 105,27; 106,3); schließlich die fünf Strophen zur Unterstützung des Kreuzzugs Kaiser Friedrichs II. im Kaiser-Friedrichs-Ton (L. 10,1; 10,9; 10,17; 10,25; 10,33). Über Einzelnes und Weiteres kann man diskutieren. Fast alle genannten Strophen sind sehr genau an einzelne Ereignisse und Personen gebundene ‚Gelegenheitsgedichte‘, die Walther bei späterer Gelegenheit kaum noch hätte vortragen können, die aber eindrucksvoll oder wichtig genug waren, um aufbewahrt zu werden. Sichere Mehrstrophigkeit nach Walther im Zeitraum bis Frauenlob ist relativ selten. (Grundlage der folgenden Darstellung sind die Angaben in den Bänden 3–5 des RSM.) Bei zwei der bedeutendsten Spruchdichter, Bruder Wernher und dem Marner, findet sie sich gar nicht. Ebenso wenig bei einer ganzen Reihe ‚kleinerer‘ Autoren: Albrecht von Haigerloch, Bligger von Steinach, Dem von Buchein, Ehrenbote, Fegfeuer, Gast, Geltar, Gervelin, Gottfried von Straßburg, Hard­ egger, Höllefeuer, dem Jungen Meißner, Leuthold von Seven, Litschauer, Mülich von Prag, Robin,

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 Formen

Rumelant von Schwaben, Singauf, Ungelehrter, Unverzagter, Urenheimer, von Wengen, Wernher von Teufen, Zilies von Sayn (Seine).

In manchen Fällen zwang offenbar die Kürze der Töne zur Mehrstrophigkeit. Dies ist der Fall bei Reinmars von Zweter kurzen Tönen IV (Roe.; 32 Takte, 7 Strophen), V (32 Takte, 3 Strophen) und VI (36 Takte, 2 Strophen); inhaltlich sind die Texte verwandt: In Roe. IV werden Frauen und Männer über den tugendhaften Umgang mit­ einander belehrt, in V und VI die Frauen über tugendhaftes Verhalten. Gleiches gilt für das Strophenpaar 3/4 in Hermann Damens Ton II (Schl.; 28 Takte), einem Lob treuer Freunde. Auch Frauenlobs Kurzer Ton (32 Takte) provozierte öfter Mehrstrophigkeit: Zweistrophig ist die Minnelehre GA XIII,47  f., fünfstrophig das Lob der Frauen in GA XIII,37–41. Bei weiteren Strophenreihen im Kurzen Ton ist Frauenlobs Autorschaft zweifelhaft, z.  B. GA XIII,5–13 (neunstrophig; über Dichter), XIII,15–19 (fünfstrophig; über Lob und Freigebigkeit). Im einzelnen vgl. das RSM. Relativ am meisten, nämlich 44 Mal, begegnet Z w e i s t r o p h i g k e i t . Am häufigsten findet sie sich bei Reinmar von Zweter (siebenmal, auf Ton VI wurde bereits hingewiesen), dem Meißner und Rumelant von Sachsen (je fünfmal) und beim Wilden Alexander (viermal). Je zweimal finden sich zweistrophige Texte bei Boppe, Hermann Damen, Frauenlob (zu einem Text im Kurzen Ton s.  o.), Johann von Ringgenberg, dem Kanzler, Konrad von Würzburg, Walther von Breisach; je einmal beim Alten Meißner, bei Dietmar dem Setzer, Friedrich von Sonnenburg, dem Henneberger, Kelin, dem Schulmeister von Esslingen, Stolle, Süßkind von Trimberg und Wizlav. Das Frauenlob zugeschriebene Rätsel mit Lösung GA-S V,205 gilt als unecht. Strukturell kann man bei zweistrophigen Texten in der Regel drei unterschiedliche Muster erkennen: 1. Der Raum einer einzelnen Strophe reicht für den dargebotenen Zusammenhang nicht aus, deshalb ist eine zweite Strophe notwendig. 2. In der ersten Strophe wird eine Erzählung, eine Allegorie, ein Rätsel geboten, in der zweiten folgt die Deutung bzw. Auflösung. 3. Einem Positivum in der einen Strophe wird in der folgenden ein Negativum gegenüber gestellt. Unter den 234 als echt geltenden Strophen Reinmars von Zweter im 65-taktigen Ton I (Frau-Ehren-Ton) begegnet Zweistrophigkeit sechsmal. Das Paar Roe. 1/2 enthält eine durchgehende Erzählung (Geburt Christi auf Veranlassung der Minne); in den durch das gleiche eindringliche Incipit verbundenen Strophen Roe. 133/134 wird angesichts der Geldgier der Welt der Antichrist herbeigerufen. In drei Texten folgt in der zweiten Strophe jeweils die Deutung: Roe. 8/9 die Symbole der vier Evangelisten; Roe. 99/100 der mit Tierattributen beschriebene ideale Mann; Roe. 213/214 die zwei Schwerter der Christenheit. Etwas abweichend strukturiert ist das Paar Roe. 44/45: In der ersten Strophe wird dargelegt, wie eine Dame sich verhalten und sich um einen Mann bemühen soll, in der zweiten wird dem Mann, der sie geheiratet hat, aufgegeben, sich über sie zu freuen und sie zu ehren, sie keinesfalls schlecht zu behandeln. Von den fünf zweistrophigen Texten des Meißners sind drei nach dem Muster Erzäh-



Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit – Barbildung – Anordnung in den Quellen 

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lung-Deutung strukturiert: Obj. IV,11/12: Bispel vom Jahreskönig; Obj. VI,7/8: Auszug Israels aus Ägypten; Obj. X,2/3: Wunder bei der Berufung des Moses. Durchgehende Texte begegnen in Obj. VI,9/10: die 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts (Vorzeichen 1–7 in Str. 9, die übrigen in Str. 10), ferner in Obj. XX,1/2 Schelte von Schwalbe und loterritter, die gleichgesetzt werden. Rumelant von Sachsen gliedert seinen Nachruf Ruw./Krn. II,14/15 auf Barnim I. von Pommern-Stettin in zwei Strophen, wobei Strophe 14 den Fürsten rühmt, 15 auffordert, für sein Seelenheil zu beten. (Strukturell vergleichbar ist das unter Stolles Namen in J überlieferte zweistrophige Gedicht auf die Ermordung Marias von Brabant, Zapf J. 16/17: In der ersten Strophe wird die Ermordung beklagt, in der zweiten werden die Mörder verflucht.) Die Gegenüberstellung von Negativum und Positivum findet sich bei Rumelant in Ruw./Krn. VIII,6/7: Der Vorstellung, die Huld der Herren sei wie Eis, darauf könne man nicht bauen, stellt der Dichter getreue Herren gegenüber, deren Gunst nicht wie Eis ist. Vergleichbar ist Ruw./Krn. VIII,2/3, Teil einer Polemik mit dem Sängerkollegen Singauf (vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 170–179): Hier wird Singauf erst zurechtgewiesen, dann werden vier Sänger (Konrad von Würzburg, Höllefeuer, Der Unverzagte, Der Meißner) aufgezählt, denen der Gegner nicht gewachsen sei. In Ruw./Krn. V,2/3 wird nach dem Schema Erzählung (das wilde Einhorn) und Deutung verfahren. Den Wilden Alexander scheint der knappe Umfang seines Spruchtons (48 Takte) mehrfach zu Strophenverbindungen genötigt zu haben. Vier Texteinheiten sind je zweistrophig. In KLD 1,II,5/6 wird die Allegorie der Christenheit im Bild einer sturm­ umtosten Burg durch das eines Schiffes im Sturm fortgesetzt. Wiederum durchgehend dargestellt ist die Warnung vor übertriebener huote in KLD 1,II,22/23. In KLD 1,II,12/13 wird zunächst ausgeführt, die Kunst sei aus den Händen der Herren mittlerweile in die der armen diet gelangt (Str. 12); die Herren sollen sie dafür bezahlen oder die Kunst wieder selbst ausüben (Str. 13). In KLD 1,II,14/15 werden Tierbeispiele für das Fehlverhalten von Hofleuten in der Folgestrophe ausgelegt. Weitere Beispiele für durchgehende Darstellungen in zwei Strophen finden sich bei Dietmar dem Setzer KLD 7,1/2 (Warnung vor falschen Zungen), dem Henneberger HMS III,12,8/9 (Bitte an Maria), Konrad von Würzburg Schr. 32,256/271 (Memento mori), Walther von Breisach KLD 63,I,1/2 (Lob Gottes) und 3/4 (Lob der Eintracht zwischen Mann und Frau). Die Verbindung von Exempel, Erzählung usw. und Deutung begegnet auch in der Herrenlehre des Guters  II,1/2 (Ausgabe: Yao [Hg.], Gervelin, Guter und Reinolt von der Lippe) und bei Wizlav Werg II,7/8 (Nebukadnezars Traum). Die Gegenüberstellung von Positivum und Negativum in zwei Strophen erscheint auch beim Alten Meißner Roe. 249/250 (wahre und falsche Freundschaft), Johann von Ringgenberg SM 13,1,I/II (triuwe – untriuwe) und XIV/XV (milte – kerge), bei Kelin Whm. III,3/4 (Frau Ehre – Frau Schande), bei Boppe Alx. I,3/4 (milte – kerge) und 27/28 (zuht – unzuht), bei Friedrich von Sonnenburg Mas. IV,35/36 (man soll sich an gute Ratgeber halten – die schlimmsten Sünder halten sich nicht an diesen Rat), bei Frauenlob GA V,103/104 (vrouwe – wîp).

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 Formen

D r e i s t r o p h i g k e i t findet sich weit seltener, nur fünfzehnmal, davon viermal bei Rumelant von Sachsen. Je zweimal begegnet sie bei Konrad von Würzburg, dem Wilden Alexander und dem Kanzler, je einmal bei Reinmar von Zweter (in dem oben bereits erwähnten kurzen Ton V), bei Hawart, Reinmar von Brennenberg, Regenbogen und Frauenlob. Bei weiteren Frauenlob-Texten, die das RSM verzeichnet: GA VIII,*19–*21, IX,*1–*3 ist die Echtheit fraglich; GA-S VII,201 und GA-S VIII,201 sind auf alle Fälle unecht.

In Rumelant Ruw./Krn. IV,1–3 berichtet Strophe 1 Nebukadnezars Traum, die beiden Folgestrophen enthalten die Auslegung; Ruw./Krn. X,3–5 thematisiert in den beiden ersten Strophen die Ermordung König Erichs V. von Dänemark, die abschließende Strophe enthält eine Drohung an die Mörder; in Ruw./Krn. IX,1–3 findet sich in der ersten Strophe die Tonweihe, die zweite preist Gottes Güte, die dritte hebt Weihnachten als Zeugnis für Gottes Verkündigung hervor; Ruw./Krn. IV,8–10 klagt über Unfrieden und Räuberei, die erste Strophe spricht über den Erfolg der Räuber, die zweite beschuldigt jene, die für den Frieden sorgen sollten und betont das Leid der armen Bauern, die dritte ermahnt Fürsten und Herren. Die folgenden drei Beispiele sind Ergebnisse eines Gattungsexperiments: Konrad von Würzburg Schr. 19,1–30 beginnt in der ersten Strophe mit einem Natureingang, in den Folgestrophen werden die reichen Geizhälse gescholten. Strukturell und inhaltlich nahe verwandt ist das Reimkunststück Schr. 23,1–60, auch hier folgt auf einen Natureingang die Klage über die Verdrängung der milte durch die schande – eine Dublette dazu ist des Kanzlers Text KLD 28,XIII,1–3, der Inhalt ist der gleiche, der Ton, ebenfalls ein Reimkunststück, sucht Konrads Ton 23 an Schwierigkeit zu übertreffen (vgl. Brunner, Formgeschichte, S. 83). Des Kanzlers Strophen KLD 28,II,1–3 wiederum preisen die Trinität, exakt verteilt auf drei Strophen (Gott – Christus – Hl. Geist). Strukturell vergleichbar ist Hawart KLD 19,I, eine Zeitklage, in der in den drei Strophen zunächst nach Lob und Anrufung Gottes die gottlosen Christen ermahnt werden (Str. 1), es folgt die Klage über den Verlust des Heiligen Landes (Str. 2), schließlich eine Klage über die Wirrnis im Reich (Str. 3). Die Strophen KLD 1,II,1–3 des Wilden Alexanders beschreiben zuerst den ungetreuen Mann, in der dritten Strophe werden die Herren ermahnt, sich die Zungen ungetreuer Ratgeber anzusehen; KLD 1,II,7–9 hat die Falschheit der Frau Welt zum Thema und bringt einen Katalog der Hauptsünden. Reinmar von Brennenberg KLD 44,IV,10–12 lässt zunächst in zwei Strophen Liebe und Schönheit streiten, in der dritten Strophe wird hervorgehoben, dass beides zusammenkommen müsse. Bei Regenbogen HMS II,126,2–4 findet sich eine schlichte Aufzählung der sieben Artes und ihrer Tugenden. In Frauenlobs Strophen GA V,27–29 wird ausgeführt, Bart und Kindlichkeit würden nicht zusammenpassen. V i e r s t r o p h i g k e i t begegnet nur sechsmal: zweimal bei Rumelant von Sachsen, je einmal bei Reinmar dem Fiedler, dem Meißner, Boppe und Frauenlob. In Rumelants Strophenfolge Ruw./Krn. I,1–4 werden der Reihe nach, jedes in einer Strophe, die vier Elemente auf Christi Leiden und Erlösung gedeutet. In den Strophen Ruw. II,5–8/



Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit – Barbildung – Anordnung in den Quellen 

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Krn. II,6–9 geht es um Marias Erbarmen über den Sünder, ihre in wörtlicher Rede vorgetragene Fürsprache bei Christus (Str. 7) und, wieder in wörtlicher Rede, dessen Fürsprache bei Gott (Str. 8; zur Überlieferungsproblematik vgl. Ruw., S. 210–212, Krn. S.  290). Boppes Strophen Alx. VII,1–4 berichten, dass Gott seine Mutter vor aller Schöpfung gesehen habe (Str. 1), es folgt das Rätsel von den sieben Frauen (Str. 2) mit Auflösung (Str. 3), abschließend: In seiner Mutter ließ Gott barmunge Mensch werden (Str. 4). Die vier Strophen von Reinmars des Fiedlers kunstvollem Text KLD 45,I,1–4 werden – eine Einmaligkeit in der Spruchdichtung – durch einen dreizeiligen Refrain zusammengehalten, Inhalt: Ein geiziger König wird vertrieben (Str. 1); wenige bemühen sich um Ehre (Str. 2); vier Torheiten: Lüge, leere Drohung, Bosheit, nur vorgebliche Klugheit (Str. 3); Mahnung, zu erwachen und sich um Ehre zu bemühen (Str. 4). Der Refrain vertieft diese Ermahnung durch Tageliedmotivik: „Jeder, der sich um Ehre bemühen will, der soll nicht säumen.“ In Frauenlob GA V,38–41 finden sich spitzfindige Ausführungen dazu, dass hochvart positiv zu sehen ist und nicht mit übermut verwechselt werden darf. Der Meißner polemisiert in Obj. XII,1–4 ausführlich gegen die ‚Physiologus‘-Spruchstrophe des Marners (Wms. 7,15). Marner hatte in einem kurzen Abriss das ‚Brutverhalten‘ des Löwen, des Elefanten, des Straußes, des Adlers, des Phönix und des Pelikans thematisiert – der Meißner behandelt aus offenbar gelehrterer Sicht ausführlich Strauß, Phönix und Pelikan. Zunächst werden die falschen Aussagen zurückgewiesen (Obj. XII,1), dann wird gelehrtes Wissen ausgebreitet (Obj. XII,2 u. 3), demzufolge es sich in diesen drei Fällen durchaus anders verhält, schließlich werden der Pelikan auf Gottes Sohn und die ihn hassende Schlange auf den Teufel gedeutet (Obj. XII,3) – Marner hatte den typologischen Bezug nur in der letzten Verszeile etwas kryptisch angedeutet (vgl. den Kommentar bei Wms., S. 254–257; Wachinger, Sängerkrieg, S. 153–157; s. oben auch → Kapitel IV.8). F ü n f s t r o p h i g k e i t findet sich neunmal (Frauenlob GA XIII,37–41 im Kurzen Ton wurde oben bereits erwähnt). Das Marienlob Roe. 235–239 im Frau-Ehren-Ton Reinmars von Zweter mit der strophenweisen Deutung der fünf Buchstaben des Namens Maria gilt, obwohl auch in Handschrift C enthalten, als unecht (vgl. Roe., S. 120–122). Guter verbindet in seinem Lied I,1–5 (Ausgabe: Yao [Hg.], Gervelin, Guter und Reinolt von der Lippe) die Erzählung vom Besuch der Frau Welt am Bett eines sterbenden Ritters (Str. 1  f.) mit einem ausführlichen Memento mori (Str. 3–5). Dem Tugendhaften Schreiber wird in Handschrift C ein Disput zwischen Gawein und Keie über das rechte Hofleben in der Alment zugeschrieben, das in Handschrift J im Stolle-Corpus überliefert ist (Zapf J. 32,1–5); Gawein und Keie kommen abwechselnd zu Wort, das letzte Wort behält Keie, der für negative Verhaltensweisen eintritt. Friedrich von Sonnenburg verteidigt und rühmt in seiner Pentade Mas. 1–5 Frau Welt, in der Pentade Mas. 6–10 werden die Argumente des vorausgehenden Textes (vermutlich von einem Anonymus, vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 146–150) widerlegt. Der Wilde Alexander bringt in KLD 1,II,17–21 zunächst die Allegorie der Herrschaft des Antichrist (Str. 1  f.), darauf folgt die Auslegung (Str. 3  f.), am Schluss steht Zeitkritik (Ende von Str. 4, 5). Frauenlob bindet in GA V,7–11 fünf Preisstrophen auf verschiedene Fürsten durch

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den Beginn der fünften Strophe, in dem er sich auf die vier vorausgehenden Strophen bezieht, zu einem zusammenhängenden Ruhmeskranz zusammen (vermutlich gehört auch die folgende Strophe GA V,12 in diesen Zusammenhang – dann hätten wir es mit Sechsstrophigkeit zu tun; vgl. Wachinger, Sangspruchdichtung, S. 235–237). Boppe zählt in Alx. V,2–6 in fünf in Klingsors Schwarzem Ton (‚Wartburgkrieg‘, Ton II) abgefassten Strophen Adynata auf, nämlich die unerfüllbaren Wünsche der Minnedame. Im RSM werden die sechs Strophen Tannhäusers in Ton Sieb. XIV als zusammenhängende Strophenfolge aufgefasst. Das erscheint nicht zwingend, da die Strophen trotz durchgehender Thematik (Armutsklage) ohne weiteres einzeln für sich stehen können. Das siebenstrophige Marienlied Sigehers (Brt.) ist zu Unrecht unter die Sangsprüche eingereiht, es handelt sich vielmehr um ein geistliches Lied. Das ebenfalls siebenstrophige Lied Ulrichs von Singenberg SM 12,35, in dem die vanitas mundi entlarvt wird, steht allenfalls ganz am Rand der Spruchdichtung – auch hier denkt man eher an ein geistliches Lied.

Neben zahlreichen Einzelstrophen zählt man in der nachwaltherschen Spruchdichtung lediglich etwa 75 Fälle von sicher oder doch einigermaßen sicher mehrstrophigen Texten. Bei so bedeutenden Autoren wie Bruder Wernher und Marner findet sich Mehrstrophigkeit überhaupt nicht. Im Corpus der 234 als echt geltenden Strophen in Reinmars von Zweter Frau-Ehren-Ton spielen sechs zweistrophige Texte eine völlig untergeordnete Rolle. Beim Meißner findet sich Mehrstrophigkeit nur sechsmal, sie betrifft lediglich 14 von 128 Strophen. Am häufigsten, nämlich elfmal, finden sich mehrstrophige Texte bei Rumelant von Sachsen – bei einer Gesamtzahl von 111 erhaltenen Spruchstrophen sind 30 in Mehrstrophigkeit eingebundene Strophen freilich auch nur von begrenzter Bedeutung. Barbildung Barbildung, die Verbindung mehrerer Strophen zu einem Spruchlied, begegnet regelmäßig und ausschließlich seit etwa Mitte des 14. Jahrhunderts. Auf die beiden dreistrophigen Spruchlieder Reinolts von der Lippe in eigenen Tönen, die Handschrift J überliefert (Yao [Hg.], Gervelin, Der Guter und Reinolt von der Lippe), wurde oben schon hingewiesen, ebenso auf das ebenfalls dreistrophige Sängerlob Lupold Hornburgs von Rothenburg in Handschrift E (Cramer II, I) und auf die Bare in den Sammlungen H und R (vgl. Blank [u.  a.] [Hg.], Heidelberger Lhs. Cpg 350, S.  87–89, 99, dazu Wachinger, Rezension, S.  192–194). Im Werk Heinrichs von Mügeln (Stmn.), des bedeutendsten Spruchdichters der Jahrhundertmitte, finden sich 44 Dreierbare, 2 Fünfer- und 2 Sechserbare, ferner Strophenkomplexe mit 12 (1 Lied), 15 (2), 17 (1), 18 (1), 39 (1) und 72 (1) Strophen. Dass die später ausschließlich übliche ungerade Zahl von Strophen in einem Bar im 14.  Jahrhundert noch nicht definitiv festgelegt war, zeigen die 20 Spruchlieder des 1390/92 urkundlich nachweisbaren Suchensinn (Pflug [Hg.]), von denen 10 vierstrophig, die übrigen dreistrophig (6 Lieder) bzw. fünfstrophig (4) sind. Bei seinen Zeitgenossen Lesch (Cramer II, I–XIII) und Harder domi-



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nieren Drei- und Fünfstrophigkeit, doch gibt es auch siebenstrophige und dreizehnstrophige Bare. Der seit 1410 nachweisbare Muskatblut (Grte.) hat Spruchlieder mit 3 (9 Lieder), 5 (61), 7 (13), 9 (6), 11, 13, 14 und 29 Strophen (je 1 Lied). Unter den als echt angesehenen Dichtungen des in der Mitte des 15. Jahrhunderts wirkenden Jörg Schiller finden sich Bare mit 5 (1 Lied), 7 (2 Lieder), 8, 9, 11, 12 und 17 Strophen (je 1 Lied). Im umfangreichen Spruchkorpus Michel Beheims gibt es Spruchlieder unterschiedlichster Strophenzahl (vgl. dazu auch Wachinger, Beheim, S.  373–375). Die Verteilung auf die einzelnen Töne ist dabei ganz ungleichmäßig. Lieder mit mehr als neun Strophen, jeweils 37 Texte, wurden überwiegend in der sehr kurzen Osterweise (10 Zeilen, 36 Takte) und in der Verkehrten Weise (13 Zeilen, 48 Takte) abgefasst; in der Hofweise (14 Zeilen, 42 Takte) finden sich 15 derartige Lieder, in weiteren Tönen jeweils nur zwei bis fünf, im Kurzen Ton und in der Hohen guldin Weise gar keine. Dreierbare dominieren mit 147 Texten, gefolgt von Fünferbaren mit 97, Siebenerbaren mit 48, Neunerbaren mit 33 Liedern. Elfer- und Dreizehnerbare begegnen je 17 Mal, Fünfzehnerbare 15 Mal, Siebzehnerbare zehnmal, Neunzehnerbare zweimal. Es gibt jedoch auch umfangreichere Komplexe mit 20–27, 31, 15, 37, 42, 47, 49, 50, 51, 55, 61, 71, 75, 77, 106 und 107 Strophen (meist je einmal, Spruchlieder mit 21 Strophen begegnen immerhin achtmal). Einen Sonderfall stellt die zyklische Versifikation von Thomas Peuntners beliebtem Erbauungstext ‚Büchlein von der Liebhabung Gottes‘ (Gille/ Spr. 125–147) dar: Die insgesamt 23 Lieder, zusammen 521 Strophen, umfassen jeweils neun bis 44 Strophen, wobei Geradzahligkeit (10–44 Strophen) mit 14 Liedern dominiert, nur neun Lieder haben eine ungerade Strophenzahl (9 bis 41 Strophen). Durch die Barbildung wurde der Umfang der Sangspruchdichtungen variabler, als er dies zuvor war. Der nicht immer leicht erreichbare, bei Einstrophigkeit aber unvermeidlich hohe Komprimierungsgrad wurde umgangen, es konnte einlässlicher, weitschweifiger, wohl auch leichter verständlich dargestellt, es konnten manche Themen systematischer, summahaft  – wie das späte Mittelalter es liebte  – behandelt werden. Freilich dehnten die Spruchsänger ihre Form nicht, ohne offensichtlich zugleich wieder eine Kunstregel einzuführen: In der Regel mussten Spruchlieder nun aus einer ungeraden Zahl von Strophen bestehen, völlige Beliebigkeit scheint dem hohen Kunstanspruch widersprochen zu haben. In dem seit der Zeit um 1400 anzunehmenden städtischen Meistergesang galt das Prinzip der Barbildung von Anfang an und bis zum Ende seiner Geschichte, wobei Dreierbare weit bevorzugt wurden. Alte Sangspruchstrophen, die man weiter überlieferte, wurden regelmäßig durch Zudichtungen in Bare mit ungerader Strophenzahl eingebunden (vgl. Brunner, Liedtypen um 1400, S. 253–255). Anordnung in den Quellen Nach welchen Prinzipien sind die Sangspruchdichtungen in den maßgeblichen Handschriften angeordnet? In aller Regel kann man klare Strukturen erkennen, die auf die Autoren selbst, aber auch auf Redaktoren zurückgehen. Da eine umfassende Unter-

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suchung bisher nicht vorliegt, müssen vorläufige Hinweise genügen. Grundlegend für Handschrift J ist Tervooren, Einzelstrophe, für Beheim Wachingers Aufsatz über diesen Dichter. Größere geordnete Sammlungen der Strophen oder Lieder eines einzelnen Autors gehen sicherlich oder vermutlich auf Thesauri zurück, welche die Autoren sich selbst anlegten oder anlegen ließen, um, bei leichter Auffindbarkeit, für ihre Vorträge daraus schöpfen zu können (sie eigneten sich jedoch auch zur systematischen Textlektüre durch weitere zeitgenössische oder spätere Benutzer). Erhalten haben sich solche Thesauri für Reinmar von Zweter, Heinrich von Mügeln, Muskatblut und Michel Beheim (bei diesem zum Teil als Autographe). Reinmars Autorsammlung in Handschrift D (vgl. Roe., S. 97  ff.) umfasst 193 Strophen im Frau-Ehren-Ton. Im Hauptteil sind die Sprüche geordnet nach den Themen Gott (Roe. 1–22), Minne (Roe. 23–55) und Welt (Roe. 56–157/160?); der Rest sind nachträglich hinzugefügte Ergänzungen ohne erkennbare Ordnung, ferner 22 Sprüche in der Neuen Ehrenweise (bei Roe. Minneweise, vgl. ebd., S. 113; s. unten auch → Kapitel VII.3). Die späteren großen Autorsammlungen sind grundsätzlich nach Tönen geordnet. Die Göttinger Handschrift ordnet die Spruchlieder Heinrichs von Mügeln in 15 Bücher (vgl. Stackmann, Untersuchungen, S. 123  ff.): Buch 1–4: Langer Ton; 5–12: Hofton; 13: Grüner Ton; 14–15: Traumton (Buch 16 enthält die Minnelieder). Die Kölner Handschrift mit den Spruchliedern Muskatbluts ordnet in der Reihenfolge Hofton – Langer (Goldener) Ton – Fröhlicher (Neuer) Ton – Unbenannter Ton. Schließlich ordnen auch die Sammlungen Michel Beheims nach Tönen: Zugweise – Kurze Weise – Osterweise – Verkehrte Weise – Trummetenweise – Gekrönte Weise – Sleht guldin Weise – Hohe guldin Weise – Hofweise – Slegweise – Lange Weise – Angstweise. Auch in den Sammelhandschriften, in erster Linie also in den Handschriften C und J, sind die Autorkorpora nach Tönen geordnet. Die Anordnung der Strophen oder Spruchlieder innerhalb der Töne wird auch hier vielfach auf Sammlungen der Autoren selbst zurückgehen, kann freilich auch durch Redaktoren hergestellt worden sein. Akzeptiert man die gängige Datierung der drei Texte in Walthers von der Vogelweide Reichston  – 1198 entstanden die beiden ersten Strophen, 1201 wurde der dritte Spruch gedichtet  –, so kann man vermuten, dass der Autor selbst die Texte aus literarisch-typologischen Gründen zyklisch angeordnet hat, obwohl zusammenhängender Vortrag ausgeschlossen gewesen sein dürfte. Einen Hinweis auf planvolles Vorgehen bei der Anordnung von Strophen liefern auch Tonweihestrophen oder -lieder, die eine Textreihe in den betreffenden Tönen eröffnen. Solche Weihetexte gibt es von Walther von der Vogelweide, Höllefeuer, Sigeher, dem Meißner, Rumelant von Sachsen, Walther von Breisach, Hermann Damen, Wizlav, Frauenlob und Beheim (im einzelnen vgl. RSM, Bd. 15, S. 582). Ein (beliebiges) Beispiel ist Rumelants Ton V (Ruw./Krn.): Er beginnt (Str. 1) mit der Widmung des Tones an Maria, es folgt (Str. 2  f.) eine geistliche Allegorie mit der Auslegung (Erlösung durch Christus im Bild des Einhorns). Weiter: Ein Ehrenmann hat nichts dagegen, wenn man seine Ehre rühmt, auch Gott will gelobt werden (Str. 4) – die Strophe kann als Einleitung zu den folgenden



Einzelstrophe – Mehrstrophigkeit – Barbildung – Anordnung in den Quellen 

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Preisgedichten auf Christus, Maria, König Rudolf von Habsburg und König Erich (VI. Menved) von Dänemark (Str. 5–8) gesehen werden. Es handelt sich hier zweifellos nicht um einen Vortragszyklus, doch bemühte der unbekannte Sammler (der Autor?) sich deutlich um eine sinnvolle, einigermaßen zyklische Anordnung (vgl. Tervooren, Einzelstrophe, S. 237–239; Krn., S. 474). Vergleichbare Anordnungsprinzipien finden sich vielfach auch sonst. In der Göttinger Mügelnhandschrift finden sich alle größeren Liedkomplexe jeweils als eigene Bücher zwischen die Bücher mit den kürzeren, fast ausnahmslos dreistrophigen Liedern eingeschoben. Das erste Buch enthält das 17-strophige Spruchlied, das sich mit Gott als Schöpfer und Erlöser befasst, das vierte Buch bietet eine 15-strophige Fabelsammlung, das fünfte behandelt in 39 Strophen die Bücher des Alten Testaments, das sechste enthält die 72 Strophen des Marienpreisgedichts ‚Der Tum‘, das achte Buch enthält ein weiteres, 12-strophiges Marienlob, im siebten Buch werden in 15 Strophen ebenso viele Künste behandelt, im zwölften in 18 Strophen die Tierkreiszeichen, im 14. Buch werden zwei je sechsstrophige Lieder zusammengefasst (Maria, Trinität, Inkarnation; Lob des Kreuzes). Ob man sich diese Liedkomplexe als Vortragseinheiten (oder lediglich als Lektüreeinheiten) vorstellen darf, bleibt unklar, teilweise, etwa bei den Fabeln, ist der Vortrag einzelner Strophen oder Strophengruppen aus dem Verbund ohne weiteres denkbar. Wachinger hat auf die „Sorgfalt“ hingewiesen, „mit der Beheim die Lieder innerhalb der Töne so arrangiert hat, daß der Ton als ganzer als eine Art von literarischer Einheit mit eigenem planvollem Aufbau erscheint“ (Beheim, S. 369). Insbesondere hervorzuheben sei dabei die außerordentliche Sorgfalt, mit der die Lieder in der Hofweise und in der Slegweise thematisch arrangiert wurden. Was die vielstrophigen Lieder Beheims angeht, die in den Handschriften teilweise als ‚Büchlein‘ bezeichnet werden, so könne man sie sich entweder als Vortrags- oder als Lesedichtungen vorstellen. Man könne sich dabei manche Lieder durchaus einzeln vorgetragen denken, manche Zyklen aber auch in einer „Vortragsserie“, vergleichbar einem „Predigtzyklus“ (ebd., S. 372). Wir sind durch die aus dem 16. und 17. Jahrhundert erhaltenen Nürnberger, Augsburger und Iglauer Singschulprotokolle genau darüber informiert, wie die Singschulen der städtischen Meistersinger in dieser Zeit abliefen. Wie die Spruchdichter ihre Vorträge arrangiert haben, wissen wir hingegen nicht. Wir haben keinerlei Kenntnis, in welcher Weise das Textmaterial verwendet wurde, in welcher Gestalt es zur Verfügung stand, ob es Instrumentalbegleitung gab, in welchem Rahmen und in welchem zeitlichen Umfang solche Vorträge stattfinden konnten, mit welchen und wievielen Zuhörern der Sänger rechnen durfte. Allenfalls unverbindliche Vorstellungen von all dem sind uns heute noch möglich. Ausg. Alx.; Blank [u.  a.] (Hg.), Heidelberger Lhs. Cpg 350; Brt.; Brunner (Hg.), Früheste deutsche Lieddichtung; Cramer; GA; GA-S; Gille/Spr.; Grte.; HMS; KLD; Krn.; Mas.; Maurer (Hg.), Lieder Walthers; MFMT; Obj.; Pflug (Hg.), Suchensinn; Roe.; Ruw.; Schl.; Schr.; SM; Stmn.; Werg (Hg.),

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Wizlav; Whm.; Wms.; Yao (Hg.), Gervelin, Der Guter und Reinolt von der Lippe; Zapf. – Lit. Brunner, Formgeschichte; Brunner, Liedtypen um 1400; Haustein, Gattungsinterferenzen; Maurer, Politische Lieder; Moser (Hg.), Spruchdichtung; RSM; Stackmann, Untersuchungen; Tervooren, Einzelstrophe; Tervooren, Sangspruchdichtung; Wachinger, Beheim; Wachinger, Rezension; Wachinger, Sängerkrieg; Wachinger, Sangspruchdichtung.

VII Autorenprofile 1 Walther von der Vogelweide

Manfred Kern

Selbst- und Fremdcharakteristik von Walthers soziopolitischer Lyrik Schon die Autorstimme Walthers von der Vogelweide weiß zwischen Minnesang und dem, was die Germanistik traditionell Sangspruchdichtung nennt, zu unterscheiden und will beides auch unterschieden wissen, wie einige explizite Charakterisierungen im Œuvre selbst zeigen. Sie behaupten eine scharfe Divergenz beider Modi des Singens, sehen sie zugleich aber als integrale Bereiche eines lyrischen Gesamtwerks, das sich durch Interferenzen zwischen den Texten sowie durch ein textübergreifend agierendes Sängersubjekt konstituiert und gerade in seiner Heterogenität Kohärenz beanspruchen kann. Die einschlägigen Stellen finden sich in der Lehensbitte an Friedrich II. (L. 28,1) und im korrespondierenden Lehensjubel (L. 28,31), also in Strophe XI und VII des König-Friedrichs-Tons nach Fassung C (L./Bein 11[C], man beachte die der imaginierten Ereignischronologie zuwiderlaufende Strophenfolge). Mit der Bitte verbindet sich zum einen das Versprechen, dann wieder wie früher von den Blumen und der grünen Heide zu singen und die Frauen, die sich geneigt zeigen, zu preisen, also eben wieder Minnesang zu treiben; zum anderen die Aussage, dass der König des Sängers Atem, der vom Schelten schon stank, und damit seinen Gesang wieder rein gemacht habe. Beide Stellen suggerieren eine zeitliche und den Lebensumständen des poetischen Subjekts geschuldete Abfolge zwischen Minnesang und Sangspruch, die den tatsächlichen Gegebenheiten freilich kaum entsprochen haben wird, weil Walther wohl in jeder Auftrittssituation beide Register bedienen konnte. Zudem hierarchisieren sie deutlich: Demnach wäre Minnesang (wie auch die in C Ulrich von Singenberg zugewiesene Parodie-Strophe [L. 153,1] betont, die in B direkt an die ‚Lehensbitte‘ anschließt, L./Bein 11,IV[B]) eine Art cantus liberalis, ‚reiner‘ Gesang eines Subjekts, das sich frei von den üblichen Lebenssorgen ganz der erotischen Sorge hingeben kann. Sangspruchdichtung hingegen wäre ästhetisch abgewertet ein Singen mit Mundgeruch. Dass sie cantus servilis, Gesang des gebundenen Subjekts, ‚Knechtsgesang‘ gar wäre, ist freilich nicht gesagt. Die korrespondierende Lehensbitte wertet milder: Wenn sich der Sänger hier beklagt, daz man bî rîcher kunst mich lât alsus armen, so fasst er sein soziopolitisches Dichten wohl als Teil jener reichen Kunst, in deren Ausübung er sich zu Unrecht als zu kurz gehalten begreift. Von Interesse für eine Selbstcharakteristik soziopolitischer Lyrik sind außerdem die Strophen L. 31,33 und 32,7/Bein 12,III und IV, mit denen der Unmutston in Handschrift A eröffnet; sie sprechen von einer anderen, ‚verkehrten‘ Weise, in der sich der Sänger angesichts der unhöfischen Zustände zu singen genötigt sehe (L. 31,35  f. und 32,6), bzw. vom „scharfen Sang“ (L. 32,7). https://doi.org/10.1515/9783110351897-007

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Unter dem Terminus ‚soziopolitisch‘ subsumiere ich Lyrik mit allgemein oder spezifisch (insbesondere auf die Hofwelt bezogener) gesellschaftlicher und die soziale Position des poetischen Subjekts reflektierender Thematik ebenso wie Poesie, die konkret Politisches und (was im Sinne eines weiteren Politikbegriffs mitgemeint ist) Religiöses bzw. Religiös-Ideologisches verhandelt. Das Soziale und das Politische interferieren dabei, beides interferiert zugleich mit dem erotischen Sujet, das naturgemäß auch von soziopolitischer Relevanz ist, so wie erotische Elemente auch das Soziopolitische durchdringen, wie zu zeigen sein wird. Alle genannten Belege wären natürlich zuerst in ihrer Funktion innerhalb der Strophe, dann im Ton und im Tönekontext eingehend zu analysieren, bevor man aus ihnen allgemeine poetologische Kategorien ableiten dürfte. Das Wort von der „Sangeskunst mit Mundgeruch“ im ‚Lehensjubel‘ scheint aber jedenfalls eine Reichweite zu haben, die über die Strophe und den Ton hinausgeht, und kann mit gutem Grund etwa als ironische, aber treffende Stilbenennung der polemischen Invektiven gegen Papst, Fürsten und Welt im Unmutston begriffen werden. Analoges mag für die „verkehrte und scharfe Weise“ gelten, mit denen die Eröffnungsstrophen des Unmutstons in A den Tenor dieses Tons vorab benennen. Dass schon die mittelalterliche Rezeption Walthers soziopolitische Poesie als bemerkenswert ansah, darauf deuten die berühmten Miniaturen in B und C hin. Sie repräsentieren in den Motiven des sitzenden und sinnenden Dichters und der in die Hand gelegten Wange zwar einen ikonographischen Typus, der auch in den Autorbildern Heinrichs von Veldeke und Reinmars von Zweter (hier freilich nicht in freier Natur und nicht alleine) vorliegt. Mit den spezifischen Akzentuierungen ist jedoch offensichtlich der Beginn des Reichstons ins Bild gesetzt, wobei der Text seinerseits auf ikonographisch eingespielte und autoritative Muster (u.  a. des Psalmisten David) zurückzugreifen scheint (Wenzel, H., Melancholie). Die Walther-Miniaturen in B und C dokumentieren zunächst den kanonischen Status des Reichstons, der in C auch als erster weltlicher Text nach Walthers religiösem Leich plaziert ist und zudem innerhalb des Œuvres zitiert wird. In einem weiteren Sinn mögen sie aber eben auf die Signifikanz und mithin das innovative Potential der soziopolitischen Dichtung für das Œuvre Walthers verweisen. Daraus abzuleiten, dass die zeitgenössische Rezeption (im Widerspruch zu den genannten Selbstcharakterisierungen) den soziopolitischen Lyriker dem Minnesänger Walther vorgezogen hätte, verbietet schon die Kür der „Nachtigall von der Vogelweide“ zur „Leitherrin“ der Minnesänger in Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘ (v. 4798–4801) als noch zeitnäheres Rezeptionszeugnis als die Lyrikhandschriften A, B und C. Dass vielmehr die vielschichtige Interferenz erotischer und soziopolitischer Poesie schon zu Walthers Lebzeiten als das eigentlich Außergewöhnliche und Charakteristische seines Œuvres zu begreifen ist, darauf könnte die ironisch-vertrackte Anspielung im ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach (286,19–22) hindeuten, die Walthers Minneherrin aufgrund von dessen Klage über knausrige Fleischscheiben in der ‚Spießbratenstrophe‘ (L. 17,11) als hungernd imaginiert. In diese Richtung weist (mit interpretatorischem Vorbehalt) auch die (nach BC) erste Strophe des ‚Alters-



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tons‘ (L. 66,21/Bein 43,I): Wenn sich der Sänger rühmt, vierzig Jahre und mehr von minnen und alse ieman sol gesungen zu haben, so ließe sich die Formulierung auf erotische und soziopolitische Lyrik beziehen. In den Schlussversen ist dann aber (bei deutlicher Varianz in den Handschriften) nur von (mîn) minne(n) sanc die Rede, den der Sänger dem Publikum als sein bleibendes Vermächtnis anheim gibt. Man würde sich wünschen, dass einfach von mîn sanc die Rede wäre, eine solche schon metrisch schwierige, wenn auch nicht unmögliche Konjektur muss freilich hypothetisch bleiben. Walthers Sangspruchtöne – Kritik an einer strengen Gattungssystematik Die folgende Auflistung jener Töne, die in der Forschung üblicherweise als Walthers Sangspruchtöne firmieren, orientiert sich an der ausführlichen Darstellung von Ulrich Müller (Walthers Sangspruchdichtung, S. 144–190), der sie nach ihrer mutmaßlichen Entstehungszeit ordnet, die sich im Einzelnen hinterfragen lässt. Mitberücksichtigt sind die Editionen von Bein und Schweikle, verwiesen sei außerdem auf die umfassende Dokumentation im RSM (Bd. 5, S. 460–491). Zu bedenken ist, dass Strophenbestand und Strophenreihung in den Handschriften stark variieren können. Die Benennung der Töne ist neuzeitlich und geht auf Karl Simrocks Übersetzung von 1833 und Konrad Burdachs Untersuchungen von 1900 zurück (hierzu Müller, U., Walthers Sangspruchdichtung, S. 141). Sie suggerieren mitunter eine Sicherheit der historischen Referenz und des thematischen Schwerpunkts, die ebenfalls zumeist unter großem Vorbehalt zu sehen ist. (Ich gebe in Klammer den Bestand in den wichtigsten Handschriften, die Nummer der jeweils ersten Strophe nach der Zählung Lachmanns sowie die Tonnummer bei Bein an.) • Reichston (3 ABC, A reiht 3 BC vor 2 BC; L. 8,4/Bein 2): wird üblicherweise als der große Anfang von Walthers soziopolitischer Poesie gesehen, mit der Selbstinauguration des Sängers als eines kritischen Beobachters von Weltgeschehen, Kirchen- und Reichspolitik. Die Termini post quos bilden die Thronstreitigkeiten nach dem Tode Kaiser Heinrichs VI. 1197 bzw. die Wahl von Papst Innozenz III. am 8. 1. 1198. • Erster Philippston (5 B, 3 C mit anderer Reihung; L. 18,29/Bein 9): adressiert (preisend und kritisch) vorwiegend Philipp von Schwaben, den Bruder Heinrichs  VI., als (nicht allgemein anerkannten) deutschen König, datiert wohl zwischen 1198 und 1201 (Krönung bzw. Bannung Philipps durch Innozenz III.), das Interesse biographischer Deutung fand vor allem die sog. Hofwechselstrophe IV nach B (L. 19,29), in welcher der Sänger erst seinen Ansehensverlust nach dem Tod Herzog Friedrichs I. von Österreich (1198) beklagt und dann über seine Aufnahme am Königshof jubelt. • Wiener Hofton (2 B, 14 C, 11 D mit unterschiedlicher Reihung; L. 20,16/Bein 10): ist thematisch sehr vielfältig, zu den gleichwohl gegebenen Korrespondenzen, möglichen Reihungsprinzipien und perspektivischen Bögen ausführlich unten. • Zweiter Philippston (5  AC, 1  B; L.  16,36/Bein 8/8a/8b): kreist ausgehend von einer Mahnung an Philipp über die Spießbratenstrophe hin zur allegorischen Schelte gegen „Frau Bohne“ vor allem um das Problem herrscherlicher milte (‚Freigebigkeit‘). Die sog. Volcnant-Strophe (L. 18,1, mit Nennung Walthers in der dritten Person) und die Meißnerstrophe (L. 18,15) stehen damit nur in losem Zusammenhang und bleiben in ihrer Bedeutung dunkel.

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• Zweiter Thüringerton bzw. Erster Atzeton (3 C; L. 103,13/Bein 73): mündet von allgemeiner, allegorisch formulierter Gesellschafts- und Hofkritik in die berühmte Spottstrophe gegen Herrn Gerhard Atze (L. 104,7), der des Sängers Pferd erschossen habe, weil es mit dem verwandt gewesen sei, das ihm einen Finger abgebissen habe. Dass dem nicht so sei, will der Sänger mit zwei vollständigen Händen (im Gegensatz zu Atzes unvollständigen) bezeugen. • Leopoldston bzw. Erster Thüringerton bzw. Zweiter Atzeton (2 A [im namenlosen Anhang a], 5 C, die erste Strophe von A nicht in C; L. 82,11/Bein 55): übt neben einer weiteren Spottstrophe gegen Gerhard Atze vor allem allgemeine Gesellschafts- und Hofkritik. Strophe L. 84,14 artikuliert Sehnsucht nach (Wieder-?)Aufnahme am „wonnevollen Hof zu Wien“ unter Leopold VI. (*1176, reg. 1198–1230), die Strophen L. 82,24 und 83,1 bilden den berühmten Nachruf auf Reinmar den Alten. Da A für den Ton nur diese beiden Strophen (im Anhang a) überliefert, könnte man ihn dort genauso gut ‚Reinmarton‘ nennen. • Ottenton (5 A, 3 B, 6 C mit unterschiedlicher Reihung; L. 11,6/Bein 4): kreist um die Einsetzung des Kaisers durch den Papst, dessen Begrüßung und die Aufforderung zur Kreuznahme (bei der sich der Sänger zum Gottesboten stilisiert) und wird üblicherweise auf den von Papst Innozenz III. 1209 zum Kaiser gekrönten Otto IV. bezogen (was die Wappenstrophe L. 12,18 nahelegt). Theoretisch ließen sich die Strophen aber auch auf Friedrich II. beziehen oder könnten nachträglich auf ihn bezogen worden sein. • Meißnerton (3  AC; L.  105,13/Bein 76): umfasst eine Bitte an den Kaiser (wohl Otto), dem offen abtrünnigen Landgrafen (Hermann von Thüringen) zu vergeben, verbunden mit der Kritik an jenen scheinheiligen Fürsten, die ihre Opposition kaschieren wollten. Die beiden weiteren Strophen fordern kritisch gegenüber dem Meißner (wohl Dietrich von Meißen, † 1221) Anerkennung für das Sängerlob. • Unmutston (13 A, 7 B, 16 C, Bestand und Reihung unterschiedlich; L. 31,13/Bein 12): ist einer der formal ambitioniertesten und inhaltlich markantesten Töne, umfasst die berühmten Papstinvektiven, die sich wohl auf die Kreuzzugspolitik von Innozenz III. um 1213 beziehen, aber auch Reichs-, Herrscher-, Hof- und Weltkritik üben. Mehrfach adressiert wird der österreichische Herzog Leopold VI., der Kärntner Herzog Bernhard von Spanheim (reg. 1202–1256), der Sänger zählt sich außerdem in einer panegyrischen Strophe (L. 35,7) zum Ingesinde des Landgrafen Hermann von Thüringen. • König-Friedrichs-Ton (5 A, 8 B, 14 C, 10 Z [mit L. 29,4/Bein 11a], Bestand und Reihung unterschiedlich; L. 26,3/Bein 11): beschreibt die Abkehr des Sängers von Otto und seine Hinwendung zu Friedrich II., verhandelt ferner Fürstenkritik, aber auch frouwen- und Minnethematik und umfasst die genannte Lehensbitte und den Lehensjubel. Terminus ante quem ist, jedenfalls für die Strophen, die Friedrich als König adressieren, dessen Kaiserkrönung 1220 durch Papst Honorius III. • Bognerton (17 C; L. 78,24/Bein 54): beginnt mit je einer Preisstrophe an Gott und Maria, auf die zwei sonderbar kritische Strophen an die Engel folgen, formuliert dann vorwiegend allgemeine Gesellschafts- bzw. Hofkritik, die beiden letzten Strophen verhandeln aber auch Minnetheorie. Der Tonname bezieht sich auf die Erwähnung des Grafen von Katzenellenbogen bzw. des Bogners (wohl Diether II., † um 1245) in den Strophen L. 80,35 und 80,27. • Kaiser-Friedrichs- und Engelbrechtston (5 BC sowie 6 getrennt überlieferte weitere Strophen in C; L. 10,1 bzw. 84,14/Bein 3): Die ersten beiden Strophen richten sich an Gott mit Kritik an der kreuzzugsunwilligen Christenheit, die in der dritten Strophe in eine verklausulierte Kreuzzugsaufforderung mündet, verbunden mit einer Kirchen- und Klerikerschelte, welche die beiden folgenden Strophen (mit Referenz auf den Reichston) weiterführen. Inhaltlich heterogener sind die weiteren Strophen in C, sie preisen u.  a. den Kölner Bischof (Engelbrecht I.) und beklagen seine Ermordung im Jahr 1225. Aufgrund dieses Datums wird der adressierte Kaiser mit Friedrich II. identifiziert. • König-Heinrichs-Ton bzw. Rügeton (1 A [im namenlosen Anhang a], 3 C; L. 101,23/Bein 71): geht von der gleichsam aus pädagogischer Perspektive geäußerten Strafpredigt gegen ein „selbst-“ bzw. „wildgewachsenes Kind“ aus und führt über eine Warnung der „reinen“ Frauen vor falscher, „kindischer“ Liebe zu einer an die Gottesmutter und ihr Kind gerichteten Klage, dass nun ein „dummer Reicher“ die



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drei Herrschaftsstühle innehabe, die ehemals Weisheit, Adel und Alter besetzten. Der Ton wird üblicherweise auf Heinrich (VII.) bezogen, den jungen Sohn Friedrichs II., der vom Vater 1220 als deutscher König eingesetzt und 1235 wieder abgesetzt wurde. Historischer Bezug und Deutung der Sprechperspektive (aus der man gar auf eine Prinzenerzieherrolle Walthers schloss) bleiben freilich spekulativ. • Abschließend sind die Einzelstrophentöne zu nennen: der Tegernseeton (1 C; L. 104,23/Bein 74), in dem sich das Sänger-Ich beschwert, entgegen dem Ruf der Abtei nur karg mit Wasser bewirtet worden zu sein, die Zeitklagestrophe L. 85,25/Bein 56 (1 C) und die Strophe über die schwierige Tugend der Freigebigkeit (1 AC; L. 104,33/Bein 75), ferner die liedartigen Töne L. 13,5/Bein 5, L. 37,34/Bein 13 und L. 102,29/Bein 72. Als unecht gilt zumeist der aus Ton L. 37,34 abgeleitete Fürstenspiegelton L. 36,11/ Bein 12a (Brunner/Hahn [u.  a.], Walther, S. 59).

Die eingangs genannten Selbst- und Fremdcharakteristiken geben ein Bewusstsein von der Differenz zwischen erotischem und soziopolitischem Singen frei, zeigen aber auch, dass beides interferiert. Problematischer noch ist eine strikte Einteilung in Lied- und Spruchlyrik innerhalb des soziopolitischen Registers, weil sie die fließenden Kohärenzgrade ignoriert, die zwischen den Strophen der unterschiedlichen Töne bestehen können, und es sich somit um willkürliche Zuschreibungen handelt. Zudem gibt es vor Walther keine ausentwickelte Gattung ‚Sangspruchdichtung‘, und es ist Walthers große Leistung, eine solche geschaffen zu haben. Was die Handschriften A, C und J an moralischer Lyrik unter dem Autornamen Spervogel überliefern, stellt eine nahezu vernachlässigbare Größe dar. Die chronologische Priorität eines Teils dieses Corpus zu Walther ist formal wie inhaltlich sehr wahrscheinlich, Bezüge Walthers lassen sich aber nicht mit Sicherheit nachweisen (am ehesten noch zur wirt-gastThematik in MF 27,6 sowie den Bezug der Phrase von gwissen herbergen in MF 26,20 zum Schlussvers des Dialoglieds mit Frau Welt, L. 101,14/Bein 70,IV,10). Vielmehr ist Walther als jener Autor anzusehen, der wohl in Referenz zur mittellateinischen und romanischen Lyrik (hierzu u.  a. Ranawake, Ottenton; Ranawake, Walther; Müller, U., Walthers Sangspruchdichtung, S. 137  f.; Bastert, Sänger) soziopolitische Poesie in großem Stil und als der erotischen Lyrik äquivalente Kunstform entwickelt. Aus einer multiperspektivischen Wahrnehmung und Kommunikation von Weltund Subjektbelangen, seien sie erotischer, sozialer und/oder politischer Natur, konstituiert sich nicht zuletzt ein textübergreifendes poetisches Subjekt, das sich immer auch in seiner Rolle als singendes und schaffendes Ich, als Autor-Sänger begreift. Die Autorgestalt im Œuvre Walthers zeigt sich zudem eminent personal konturiert. Personalität ist dabei etwas, was von den Texten her (in unterschiedlicher Intensität und Prägnanz) entworfen wird. Sie repräsentiert eine lyrische persona (Kern, M., Auctor), die nicht zuletzt in ihrer „biographischen Prätention“ (Brandt, Prätention) so individualisiert wirkt, dass man noch als heutiger Leser ‚seinen Walther‘ zu kennen, den Autor in persona fassen zu können meint. Walthers persona ist freilich immer schon textualisierte Autorinstanz, die vielleicht den Blick auf ingeniöse Autorschaft freigibt, aber keine biographisch-historische Person fassen lässt, wie schon Spannbreite und Widerspruch der spekulativen, gerade von Walthers soziopolitischer Lyrik her imaginierten Vorstellungen zeigen: zum einen die des Reichssängers, den man vom 19. bis

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über die Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem im soziopolitischen Autor Walther sah, zum anderen nach 1968 die des dissidenten Protestsängers, wie ihn am wirkungsmächtigsten (bis hinein in die Forschung) Peter Rühmkorf (Walther) phantasierte. Im Folgenden soll die soziopolitische Lyrik Walthers unter diesen Prinzipien der kohärenten Heterogenität, der Interferenz in sich und mit dem erotischen Register dargestellt werden. Konsequenterweise vermeide ich für Walther den Begriff ‚Sangspruch‘, weil er eben eine klare Unterscheidbarkeit zwischen liedhaft einheitlichen und strophisch reihenden Tönen behauptet (anders Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 1  f. und Müller, U., Walthers Sangspruchdichtung, S. 137, die der Konvention halber den Terminus beibehalten). Im Zentrum stehen zunächst formalästhetische und thematische Aspekte, allem voran die Perspektivierung der lyrischen Sujets durch das lyrische Subjekt, dann die Frage der Referenz und Referenzierbarkeit, was historische Zeit-Räume, Ereignisse, Institutionen und Biographisches angeht, und schließlich der Kunstanspruch. Überlieferung – Ton, Strophe, Lied – Variante Kohärenz Die frühe systematische Überlieferung in den Handschriften A, B und C (nicht aber in  E) vollzieht keine strikte Trennung zwischen Walthers erotischer und soziopolitischer Lyrik, sie lässt auch keine klaren Ordnungskriterien erkennen, wenngleich gewisse thematische und inhaltliche Kalküle oder auch die kanonische Geltung eines lyrischen Textes bzw. die Bildung von kleineren, offenbar als enger zusammengehörig angesehenen Textgruppen tendenziell zu bemerken sind (hierzu allgemein Holznagel, Wege, bes. S. 257–280). So eröffnet C das Walther-Corpus (Gesamtkonkordanz in: Brunner [u.  a.] [Hg.], Überlieferung Walthers, S.  18*–27*) mit dem religiösen Leich, es folgen der Reichston und weitere soziopolitische Töne (L.  8,4/Bein 2–5), mit Ton  6 (L.  13,33/Bein 6: Maniger frâget, waz ich klage) das erste Minnelied, das gängige Klagetopik auf das abstraktere Niveau einer Minnetheorie hebt, die durchaus in die soziopolitische Sphäre ausgreift. Es schließen an das ‚Palästinalied‘ (L. 14,38/ Bein 7), der thematisch sehr heterogene Leopoldston (L. 82,11/Bein 55) sowie die Einzelstrophe L. 85,25/Bein 56, schließlich das zweite Minnelied Frowe lât iuch niht verdriezen (L. 85,34/Bein 57), das in der modernen Waltherrezeption wie das erste nicht besonders geschätzt wird. Die scheinbare Beliebigkeit der Reihung ist zunächst eine Frage des mehr oder weniger guten interpretatorischen Willens oder auch Aufwands, also zuallererst eine Angelegenheit der methodischen Perspektive. Das Walthercorpus von C – so ließe sich sagen – will zunächst eine repräsentative Palette lyrischer Themen und Gestaltungsstrategien vorführen, die nicht zuletzt den politischen Aspekt und also die reichs- und religionspolitische Ingerenz seiner Poesie ins Zentrum rücken. Generell könnte man für die Kalküle der Anordnung von zwei Prinzipien sprechen, die ineinandergreifen: von (inhaltlicher wie formaler) Varianz und Kohärenz. Um die Integralität des Verfahrens zu betonen, würde sich auch der Begriff einer ‚varianten Kohärenz‘ anbieten, die



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nun nicht nur auf der Ebene der Reihung der Töne, sondern auch innerhalb der Töne, zumal der üblicherweise als auffällig heterogen wahrgenommenen sog. Sangspruchtöne gelte. Von ihrer thematischen Heterogenität leitet sich die traditionelle Gattungsunterscheidung ja wesentlich her. Die damit postulierte Geschlossenheit, welche die Liedlyrik im Unterschied zur Spruchlyrik kennzeichne, ist jedoch kein absolutes Kriterium, sondern wiederum nicht zuletzt eine Frage des interpretatorischen Zugangs. Dies macht eine kategoriale Unterscheidung eben genauso problematisch wie die andere, vor allem von Friedrich Maurer (Politische Lieder, 1954) vertretene Extremposition, die für alle Töne die gleiche liedhafte Geschlossenheit behauptet. (Zur Mehrstrophigkeit in der Spruchdichtung vgl. oben → Kapitel VI.2, speziell zu Walther auch Ranawake, Spruchlieder.) Um ein Beispiel zu geben: Ebenso gut, wie sich der Reichston ‚spruchhaft‘ heterogen und von nur loser Kohärenz lesen lässt, könnte man dasselbe Kriterium an die sog. Elegie (L. 124,1/Bein 97) anlegen. Umgekehrt gibt es – selbst wenn die einzelnen Strophen zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sein sollten – keinen inhaltlichen und formalen Grund, im Reichston gleichsam das Urbild strophisch lockerer Sangspruchdichtung zu sehen. Ebenso gut könnte man von markanter Strophenbindung sprechen, die schon im variierten anaphorischen Eingang gegeben ist, von der in sich homogenen Szenerie des räsonierenden Sängers mit souveränem Einblick ins Weltgeschehen zu schweigen. Eine strenge Gattungszuordnung ist also in diesem Fall nichts mehr als ein Konstrukt, das seine Suggestivkraft nicht zuletzt durch die neuzeitliche Titelgebung entfaltet: zum einen ‚Elegie‘ für das Lied, Reichs t o n für den Spruch. Vollends willkürlich ist sie schließlich für die Einzelstrophentöne. Was die Beurteilung der thematischen Diversität und Offenheit in den Tönen mit hoher Strophenzahl angeht, so ist zunächst die jeweilige Überlieferungslage zu berücksichtigen. Ich skizziere einige Phänomene varianter Kohärenz an einem der prominentesten Beispiele, dem Wiener Hofton (L.  20,16/Bein  10). Ein vielstrophiger Ton ist er zunächst einmal nur in den Handschriften C (14 Strophen) und D (11 Strophen). B bietet nur zwei Strophen (VII und IV, bezogen auf die Zählung nach C), die Zürcher ‚Schwabenspiegel‘-Handschrift r (um 1300) nur eine Strophe, die in allen anderen Handschriften fehlt (XV) und die einzige Waltherstrophe in dem auf ein Blatt beschränkten lyrischen Anhang darstellt. Die thematische Folge in C stellt sich folgendermaßen dar: Strophe I beginnt mit dem Erstaunen vor den seltsamen Wundern in der Welt, für das die ungleiche Verteilung des Besitzes das eindringlichste Beispiel gibt; der verständige Arme sei dabei demjenigen Reichen, der sich nicht um seine Ehre schere, vorzuziehen. Strophe II, auf die ich unten noch detailliert eingehen werde, zeigt den Sänger vor dem ihm versperrten Freudentor des Hofs zu Wien. Wenn sie die allgemeine Lehre ins Konkrete transponieren will, dann wäre er, der Sänger, der „Arme“ und der Fürst von Österreich jener Reiche, der Gefahr liefe, ehrlos zu werden, sofern er den Sänger nicht bedient. Strophe III schwenkt mit der Anklage gegen die scham- und ehrlose Welt wieder in die Totale, wobei sie den Initialbegriff der ersten Strophe, eben die Welt, personifiziert und – ähnlich wie II – eine kleine

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allegorische Szene entwirft. Strophe IV schließt hier mit der Warnung vor der nahen Apokalypse und dem Topos der verkehrten Welt homogen an. Darauf folgt wiederum thematisch sinnvoll die Mahnung, die Gebote Gottes einzuhalten (Strophe V). Sie ist verschränkt mit dem Vergänglichkeitstopos, dass im Tode Reiche wie Arme gleich seien, womit an das Grundthema von Strophe I angeknüpft ist. Strophe VI stellt die Torheit dessen bloß, der sich den Todsünden hingibt, Strophe VII konkretisiert die allgemeinen Mahnungen und Klagen der vorangehenden Strophe mit einer Warnung vor Habgier, die sich an den Typus des jungen Mannes richtet und also wiederum ein in Strophe I etabliertes Generalthema des Tones variiert. Strophe VIII schwenkt mit ihrer Zeitklage zurück auf eine allgemeine Ebene, dies über das konkrete Beispiel vom Traum des Nebukadnezar, mit dem der Topos des Niedergangs, der von Generation zu Generation schlimmer werde, beglaubigt wird. Es folgen eine Generationenklage über die Jungen, welche die Alten verdrängen (Strophe IX), und die dies neuerlich im Typus konkretisierende Invektive gegen die jungen Ritter, deren mangelndes Benehmen sich nicht zuletzt darin manifestiere, dass sie reine frouwen schelten – mit ihren Leitbegriffen weiß Strophe X also die Sphäre des Minnesangs in den soziopolitischen Themenkreis des Tones zu integrieren. Mit Strophe XI stellt sich wiederum der Sänger selbst ins Zentrum. Er formuliert (mit Referenz auf das Weihnachtsgeschehen) ein Gebet an Christus um Behütung, wohin er auch gehe oder fahre (was die konkrete ebenso wie die allegorische Lebensreise meinen kann). Wenn sich der Hof zu Wien in Strophe XII namentlich an Walther wendet und über den Verlust seiner Bedeutung jammert, die einst dem Artushofe geglichen habe, will er dann etwa den reisigen Sänger von Strophe  XI zu sich locken? Aus dessen Mund formuliert sich allerdings zunächst eine neue Invektive gegen die Missstände in der Welt, konkret gegen den Klerus, der sich in die Reichspolitik einmische und sie in Unordnung bringe (mit Referenz auf Strophe XI in der Figur des Engels, der dort Klage über die verkommene Christenheit führt). Erst in der letzten Strophe von C (XIV) stilisiert sich der Sänger als am Wiener Hof Angekommener und preist die spendable milte des jungen Fürsten überschwenglich – desselben Fürsten, zu dem ihm in Strophe II das Tor der Glückseligkeit noch verschlossen blieb? Liest man die Strophenreihe von C in einem solchen Duktus, so gibt sie einen relativ stringenten und konstanten Themenhorizont frei (ungerechte Verteilung von Besitz und Ansehen, Weltklage, Zeitklage, apokalyptische Drohung), der in einer dynamischen Wellenbewegung zwischen allgemeiner Reflexion und konkreter Exemplifizierung (Sängergestalt, Hof zu Wien, Typus des jungen Mannes bzw. der jungen Ritter) entfaltet wird. Auf beiden Ebenen stiftet die rhetorisch-poetische Gestaltung auch Kohärenzen über präzise, mithin allegorische Szenerien (Tor der Sælde in II, personifizierte Welt in III, personifizierter Wiener Hof in XII) oder Anspielungen auf historische bzw. geistlich-topische Figuren und Ereignisse mit Exempelstatus (Apokalypse in IV, Traum des Nebukadnezar in VIII, Salomon in IX, Verkündigung und Weihnachtsgeschehen in XI, der Babenberger Herzog Leopold VI. in II und XIV). Wenn man dem die Reihung in D gegenüberstellt und auch hier ein gewisses Kalkül annimmt, so ließe sich von einer eher statischen Orientierung an den Kern-



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themen sprechen: Auf die Zeitklage (VIII–X) folgen Apokalypse und Buße (III–V), Sündenklage, vor allem unter dem Aspekt von Reichtum und Habgier (I, VI, VII, XI), am Ende die „private“ Unglücksgeschichte des Sängers, der vom Hof zu Wien angelockt, dann aber vor verschlossenen Türen steht (XII und II). Mit diesem Aufriss sei nun gerade nicht negiert, dass der Ton bei aller thematischen, motivischen, szenischen und rhetorischen Konnexion oder Korrespondenz nicht ebenso von einem hohen Grad an Varianz und Offenheit gekennzeichnet ist, die einer modernen Ästhetik lyrischkompositorischer Bindung jedenfalls zuwiderläuft und sich mithin auch schärfer darstellt als in jenen Texten Walthers, welche die Forschung als Lieder kategorisiert. Produktionsästhetisch ist auch kaum davon auszugehen, dass sämtliche Strophen in einem Zuge gedichtet wurden (was auch bei den sog. Liedern nicht sein muss, wie die unterschiedlichen Fassungen nahelegen). Unter einer rezeptionsästhetischen und rezeptionsgeschichtlichen Perspektive, wie sie uns die Überlieferungsträger vermitteln, wird zugleich jedoch eine durchaus klar konturierte Balance zwischen Varianz und Kohärenz, Offenheit und Bindung sichtbar, zu der auch die Strophen vielstrophiger Töne zu finden wissen. Das Stereotyp einer normativen Gattungsunterscheidung wirkt am einflussreichsten in jenen Editionen weiter, die strikt zwischen Lied und Spruch, Erotischem und Soziopolitischem unterscheiden. Ironischerweise wird ausgerechnet die auf Karl Lachmann zurückgehende Ausgabe (vgl. L., L./Cor., L./Bein) den historisch-ästhetischen und rezeptionsgeschichtlichen Gegebenheiten am ehesten gerecht, indem sie – wie schon Lachmanns Edition – nicht nach modernen Gattungskriterien, sondern überlieferungsorientiert ordnet und so die glückliche, weil produktive Interferenz zwischen Walthers Minnesang und soziopolitischer Lyrik, liedhaft gebundenen und strophisch reihenden Tönen sichtbar bleiben lässt. Soziopolitisches und erotisches Subjekt, Sprech- und Subjektperspektiven Ganz allgemein gesagt, stellt sich das soziopolitische Subjekt in Walthers Lyrik als gesondertes und genau darin besonderes Subjekt dar. Ähnlich wie das erotische Ich begreift es sich als mithin ‚exzentrisch‘ im eigentlichen Wortsinn, als von der übrigen Gesellschaft separiert. Genau in dieser Separation gründet zugleich jedoch die subjektive Ermächtigung zu Rede und Singen als einem eminent sozialen Kommunikationsakt. Im Minnesang weiß sich das Ich durch seine behauptete absolute Bindung an die Minne legitimiert, ästhetische Manifestation dieser Bindung ist der schöne Gesang. Die Verschränkung von Sujet- und poetologischer Ebene bildet ganz analog auch die Legitimationsbasis soziopolitischer Lyrik: Der Liebesbindung entspricht die prätendierte Verkörperung einer absoluten Moral, der subjektiven Einsicht in sie, der Integrität und Betroffenheit des Ich sowie der Dringlichkeit seiner Rede. Die unauflösbare und zugleich paradoxe Relation von Sujet (Liebesleid) und Poetologie (Sangesfreud’) mag nicht in dem hohen Maße wie im Minnesang expliziter und unmittelbarer Aspekt der poetischen Aussage sein, grundsätzlich begreifen sich soziopolitischer Kommentar

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und Kritik aber immer auch als Form der Sangeskunst, und umgekehrt versteht sich Kunst als essentiell kritisches Medium. Nicht zuletzt das poetische Vermögen des Subjekts beglaubigt also die Triftigkeit seiner soziopolitischen Aussage. Dass seine Disposition und Ermächtigung im Falle Walthers auf den Minnesang referiert, ist dann nicht erstaunlich, wenn man den Minnesang als eingespielte poetische Tradition und das produktive Verfahren der Übertragung als Ausdruck einer prinzipiellen poetischen Ökonomie begreift. Die Genese des soziopolitischen Subjekts aus dem Geiste des erotischen ist in diesem Sinne ein höchst plausibler Prozess. Insofern dessen Charakter in den Minnesang zurückwirkt, lässt sich in der Folge aber auch von Interdependenz sprechen. Dies gilt nicht zuletzt für jene Pose, welche die Forschung als für die Sang­ spruch­dich­tung und den Sangspruchdichter genuin begreift: die Pose des Gehrenden, des Bittenden (zu den verschiedenen Sprecherrollen im Spruchsang vgl. auch → Kapitel III.5). Auch sie lässt sich zumal bei Walther auf das begehrende Subjekt des Minnesangs beziehen. Ein prägnantes Zeugnis, auch für den Aspekt des poetischen Spiels mit den Übertragungen und den daraus resultierenden ironischen Effekten gibt Strophe II des Wiener Hoftons nach C (L. 20,31/Bein 10,II). Hier beklagt der Sprecher zunächst, dass ihm das Tor zur Seligkeit versperrt sei und es wundersamerweise zu seinen beiden Seiten regne, er aber keinen Tropfen abbekomme (v. 1–6). Auch wenn mit dem Bild vom Glückstor von Beginn an klar ist, dass es sich um einen allegorischen Raum und damit um einen allegorischen Regen, nämlich um den ‚Gabenregen‘ aus dem Füllhorn der Fortuna (übrigens ein äußerst gelehrtes Motiv) handelt, deutet die metaphorische Verschiebung einen ironischen Grundduktus der Strophe an, da es wohl auch einem mittelalterlichen Menschen lieber war, nicht vom Regen nass zu werden. Der Abgesang führt das Bild zunächst weiter und preist die Freigebigkeit des „Fürsten aus Österreich“ als etwas, das wie der süße Regen Leute und Land erfreue. Die folgenden Verse bieten eine Serie von Bildern, die Topik und Handlungsmotive des Minnesangs anzitieren, wobei der Wechsel von Bild zu Bild jeweils eine mehr oder weniger heftige Kreuzung und Brechung vollzieht, rhetorisch gesprochen also mit den Mitteln von Krasis und Katachrese operiert: erst ein schœne wol gezieret heide, dar abe man bluomen brichet wunder.
 und bræche mir ein blat dar under
 sîn vil milte rîchiu hant,
 sô möhte ich loben die süezen ougenweide. hie bî sî er an mich gemant. (v. 10–15) Er [der Fürst aus Österreich] ist eine schöne, wohl verzierte Heide, von der man Wunder was an Blumen pflückt. Und wenn mir davon nur ein kleines Blatt seine so spendable, reiche Hand pflückte, so wäre es mir möglich, die süße Augenweide zu preisen. Hiermit sei er an mich erinnert. [Übers. M. K.]



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In diesen Versen steht sich einiges ironisch im Weg: Die Freigebigkeit des Fürsten gleicht dem segensreichen Regen, der Fürst selbst jedoch der Heide, auf die dieser Regen treffen müsste. Wenn das nicht ökonomisch hellsichtig die Umwegrentabilität von Investitionen benennen will, ist sie eben kluger Unsinn, der darin gesteigert wird, dass diese gezierte Heide minnesängerisch kodiert ist. Flugs wechselt der Fürst aber in die Rolle des Blumenpflückers seiner selbst, wobei das Ich schon zufrieden wäre, bekäme es von ihm nicht einmal eine Blume, sondern ein bloßes Blatt. Nach der Logik des Minnesangs, den die metaphorische Rede deutlich präsent hält, gerät dieses Ich damit in die Rolle, die dort die blumenbegabte Geliebte einnimmt. Der Gender-Witz wird im Abschlussvers fortgeführt und zugleich invertiert: Denn vom Fürsten mit dem Blatt begabt, will der nun explizit als solcher erkennbare Sänger die süße Augenweide (der Fürstenheide, des Fürstenblattes?) preisen. Wie immer man das genau deutet, mit dem intendierten Fürstenpreis gerät der umworbene Fürst jedenfalls nun seinerseits in eine Rolle, die im Minnesang weiblich verkörpert ist. Es ist wohl davon auszugehen, dass die Interferenz zwischen soziopolitischem und erotischem Register, die in dieser Strophe ironisch auf die Spitze getrieben wird, vom Publikum nachvollzogen werden konnte und das genau ihren ästhetischen Reiz ausmachte. Allgemein aber lässt sich sagen: Wie der Liebende von seiner Minneherrin Liebeslohn erwartet, erwartet das soziopolitische Subjekt vom Fürsten Gabenlohn, dieser ist wie jene gleichsam Ziel des Begehrens und kann daher eben auch mit para-erotischen Mitteln besungen werden. Soziopolitische Forderung und Kritik wird bei Walther grundsätzlich aus einer autoritativen Position heraus formuliert. Im Minnesang kommt dem Liebenden diese Autorität in seiner Eigenschaft als Sänger und aufgrund seiner Sangeskunst zu, die den wiederum begehrlichen Gefallen der Gesellschaft findet, der seinerseits als Druckmittel gegen die Geliebte fungieren kann. Auch hier scheint das soziopolitische Register analog zu denken, wie die Schlussverse der zitierten Strophe und der Lehensbitte an Friedrich II. andeuten: die nôt bedenkent, milter künic, daz iuwer nôt zergê! (L.  28,10), „Bedenkt, freigebiger König, meine Not, damit die Eure vergehe!“ Das formuliert wohl in Umkehrung der üblichen Phrase do ut des ein kühnes da ut dem und somit den Anspruch, dass der Sänger dem König dann helfen könne oder wolle, wenn der zuerst ihm hilft. Diese im Medium selbst propagierte Allmachtsphantasie des Mediums findet sich auch im Minnesang, bei Walther am drastischsten in der vierten Strophe des ‚Sumerlaten‘-Liedes (L. 72,31/Bein 49, hier IV,6): sterbet si mich, sô ist si tôt – „Lässt sie mich sterben, ist sie selber tot“, weil eben niemand von ihr Notiz nimmt, wenn nicht über seinen schönen Gesang, schärfer gesagt: weil sie nur ist, solange Sänger und Gesang sind, weil sie Sujet, Geschöpf des Sanges ist. Zwar finden sich Grobianismen gegen Minne oder Minneherrin schon vor Walther (etwa bei Friedrich von Hausen oder Heinrich von Morungen), der mitunter prononciert rüde Ton in seinem Minnesang ließe sich aber durchaus als deutlichste Rückwirkung aus der soziopolitischen Lyrik begreifen. Ein ‚Missing Link‘ zwischen den dort männlichen und dem hier weiblichen Objekt der Invektive bilden Allegorien wie die letztlich von

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Walther erfundene Frau Welt (Kern, M., Weltflucht), die ihrerseits nach den Konturen der Minneherrin gestaltet ist. Konkretisiert wird die autoritative Rolle ganz prominent im Reichston durch die Pose des erhöhten Sitzes, gewissermaßen ‚on top of the world‘, woraus der behauptete totale Über- und Einblick in alle Belange der Welt, zumal in Reich und Kirche, resultiert. Ähnlich, aber mit spezifischem polemischem Ziel behauptet eine Strophe des Unmutstons (L. 34,4/Bein 12,VIII), eine geheime Rede des Papstes wiedergeben zu können. Fingierte poetische Allmacht erweist sich in Wahrheit als eine wirkungsmächtige ästhetisch-rhetorische Operation, in diesem Fall ist es die der sermocinatio. Zu den konkreteren Posen, auf die der Sänger im Sinne seiner Ermächtigung zu kritischer Rede referiert, zählt ferner die des Predigers, so in den Anfangsworten der Eröffnungsstrophe des Unmutstons nach Fassung A (L. 31,33/Bein 12,III): In nomine domini, ich wil beginnen, sprechent âmen („Im Namen des Herren, so will ich beginnen, ihr sprecht Amen“). Einen generell predigthaften Ton schlagen vor allem Strophen und Lieder mit allgemeiner Weltkritik an, die zudem mit basalen theologischen Argumentationsmustern wie mit dem Vergänglichkeitsvorwurf und der apokalyptischen Drohung operieren (vgl. die entsprechenden Strophen des Wiener Hoftons, aber etwa auch den ‚Alterston‘ und die ‚Elegie‘). Damit verbindet sich die Pose des Weltweisen, mithin des Welterziehers, Minnelehrers und Weitgereisten, der Wunder was schaute. Die scheinbar traditionelle Perspektive, aus der heraus das Subjekt spricht, ist dabei im je individuellen Text wenigstens akzentuiert, wenn nicht überhaupt erst geformt. Insofern verbietet sich eine allzu abstrakte Beschreibung von Sänger- und Sangesrollen bei Walther, weil sie textspezifische Tendenzen nivelliert. Dies gilt zumal für die Perspektiven des Boten und des Fahrenden oder für das Verhältnis von Sänger und Fürst, aus der man nur allzu rasch biographische und sozialgeschichtliche Gegebenheiten ableiten wollte (s.  u.). Insgesamt resultieren die markanten Konturen der Autor-persona gerade nicht aus einem homogenen Entwurf, sondern aus der Vielzahl der Subjektrollen und Subjektperspektiven, die sie einnimmt. Dass sie zunächst und vor allem eine Sache der poetischen Inszenierung und des sprachmächtigen Spiels sind, zeigt nicht zuletzt die Figur des Klausners, die im Reichston prominent geprägt wird, in mehreren weiteren Strophen erscheint und in Strophe L. 10,33/Bein 3,V als „mein alter Klausner“ bezeichnet wird, womit die Sängerstimme den literarischen Charakter der Figur bewusst macht und ihre ‚Erfindung‘ zugleich für sich reklamiert. Themenfelder, rhetorische Strategien und kulturelle Leistung Die eminent subjektive Perspektive verantwortet wesentlich die poetische Dynamik und Qualität, die Walthers soziopolitische Lyrik ihren durchaus auch konventionellen Inhalten abzugewinnen vermag. Thematische Palette und Reichweite sind denkbar breit und werden tonübergreifend verarbeitet. Im Focus der Forschung standen und stehen die im engeren Sinn kirchen- und reichspolitischen, papst- und herrscher-



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kritischen Texte. Was Walthers Lyrik hier leistet, ist wenigstens in der Geschichte der mittelalterlichen deutschen Poesie neu und beschreibt in seiner Intensität zugleich einen Anfangs- und Höhepunkt. Kulturhistorisch wie kulturtheoretisch frappant und letztlich unerklärlich ist der Grad von gleichsam anmaßender Ermächtigung zu Kritik und Polemik, die das Sängersubjekt äußert. Das Ziel der schärfsten Kritik gibt dabei der Papst ab. Die dem Klausner in den Mund gelegte Aussage im Reichston, er sei zu jung, weshalb Gott seiner Christenheit beistehen müsse (L. 9,39  f.), wirkt dabei nur scheinbar milde, denn sie bestreitet ja nichts weniger als die Amtsfähigkeit des Stellvertreters Christi überhaupt (nach allgemeinem Konsens Innozenz III., reg. 1198–1216). Drastisch offene Polemik formulieren die Papststrophen des Unmutstons, wenn sie wie Strophe L. 33,21 den obersten Hirten als Wolf unter Schafen bezeichnen, ihn und mit ihm die angesprochenen Bischöfe und höhergestellten Priester zu Teufelsbündlern stilisieren (L. 33,1) oder – mit deutlicher Referenz zu Strophe L. 9,16 des Reichstons – eine geheime Rede des Papstes imaginieren, in der er unter dem Vorsatz persönlicher Bereicherung als bewusster Störer der Reichspolitik und Zerstörer des Reiches auftritt und dabei seine „Pfaffen“ anhält, es ihm gleichzutun (L. 34,4). Die Strophe bedient unter der Maxime ‚Wasser predigen, Wein trinken‘ klassische Klischees der Klerikerschelte, Fassung A treibt die Invektive ins äußerste, indem sie noch massiver als C mit Grobianismen arbeitet („während die Laien abmagern, werden wir fett wie die Schweine“, L. 34,4/Bein 12,VIII [A],9) und den letzten Vers vierfach anaphorisch variiert („Meine Pfaffen sollen mir zulasten der dummen Laien fett werden,/ Meine Pfaffen sollen fressen, die Laien schwächen und fasten heißen“ usw., L. 34,4/Bein 12,VIII[A],10–14). Aufgerufen ist zudem das bis in die Gegenwart wirkende nationale Stereotyp von den ehrlichen Deutschen, die von den falschen „Welschen“ (Romanen) betrogen werden. Zu Polemik gerät Kritik in diesen und weiteren Strophen durch die persönliche Invektive und die maßlose Subjektivität, die nicht argumentativ, sondern mit freilich rhetorisch kunstvollen Strategien der Schmähung operiert. Die Kunst der Polemik kultivieren, wenngleich graduell weniger aggressiv, auch einige an die rivalisierenden Könige Philipp von Schwaben und Otto  IV. gerichtete Strophen. So trifft Philipp Mahnung und Spott wegen seiner vorgeblichen Knausrigkeit (L.  16,36 u. 19,17), im thematisch gleichen Metier herrscherlicher milte bewegt sich die Kritik an Otto, die sein uneingelöstes Lohnversprechen gegen die Freigebigkeit Friedrichs II. ausspielt (König Friedrichs-Ton, L. 26,23/Bein 11,II[A] bzw. 11,I[C]). Die in C anschließende Strophe (L. 26,33) bedient sich Verfahren der (polemischen) Karikatur, wenn sie Otto mit dem Maßband als der physischen Größe nach so groß wie seiner Ehre nach klein befindet, Friedrich hingegen bei aller physischen Kleinheit Otto gegenüber riesenhaft an Ehre erscheinen lässt – womit der eher kleingewachsene Belobte ebenfalls, wenngleich liebevoll karikiert wird. Soziopolitische Lyrik gibt in den einschlägigen Strophen und Strophenverbünden ein brisantes Medium künstlerischer Kommunikation ab. Sie spiegelt einen gesellschaftspolitischen Diskurs nicht einfach wider, sondern lässt sich durchaus als

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Bedingung seiner Möglichkeit begreifen. Markant sind in dieser Hinsicht Phänomene, die man – modern gesprochen – mit dem Begriff der Empörung benennen könnte, die eben nicht von hierarchisch abgesicherter Position, sondern aus der Perspektive des betroffenen, weil ‚beherrschten‘ Subjekts geäußert wird, dem Kunst und Kunstvermögen erlauben, sich im Namen einer ständische Hierarchien überschreitenden Allgemeinheit sozusagen unbeherrscht über die Herrschaft zu äußern. In der Forschungsgeschichte haben dabei immer wieder die Positionswechsel irritiert, die das Sänger-Ich, insbesondere gegenüber den genannten historischen Königen, aber auch gegenüber Fürsten vollzieht. Das Nebeneinander von panegyrischer Huldigung, beißender Kritik und schließlich Polemik gegenüber den höchsten politischen Akteuren als Zeichen eines am Ende gar verwerflichen politischen Opportunismus der historischen Person Walther von der Vogelweide zu begreifen, stellt jedoch offensichtlich ein Fehlverständnis dar und geht an der zivilisationsgeschichtlichen Leistung des Mediums wie des Autors, der es entwickelt, vorbei. Diese Leistung ließe sich darin fassen, dass Walthers politische Poesie mit ihren Verfahren der Kritik und der politischen Beweglichkeit absolute und verbindliche Strukturen der Herrschaft relativiert, so etwas wie eine politische Lernfähigkeit seitens der Herrscher einfordert, seitens des beherrschten Subjekts aber vorführt und nicht zuletzt daraus seine Souveränität und Befugnis zu politischer Rede ableitet. Auf diese Weise konstituiert sich im Kunstmedium eine durch die Sängerstimme repräsentierte kritische Öffentlichkeit, welche die Idee einer kraft Amt gegebenen ‚charismatischen Herrschaft‘ (Max Weber) relativiert, wenn nicht gar verabschiedet. Sie insistiert jedenfalls auf der Verpflichtung, der Herrschaft unterworfen zu sein, und setzt damit die Vorstellung des seinerseits ‚gebundenen‘ Herrschers in die Welt, der den Beherrschten gegenüber verantwortlich und zu Dialog und Verhandlung angehalten ist. Es ist vor allem das intrikate Thema der milte, über das diese Verpflichtung historisch spezifisch formuliert wird (vgl. das oben angesprochene Prinzip da ut dem in L. 28,10), ferner auch die Frage der rechten und falschen Menschen am Hof, der rechten und falschen Ratgeber zumal. Die entsprechenden Strophen der Hofkritik (vgl. die Beispiele aus dem Wiener Hofton oben) fordern politische Verantwortlichkeit und Integrität nicht nur vom Herrscher, sondern von der privilegierten Schicht generell ein. Der Sänger will sich dabei wie dem edlen Fürsten jenen ‚andienen‘, die er als die Rechten erkennt und mithin mit der markanten Apostrophe reiniu wîp, werde/guote man (L. 66,21; 81,16; 91,9) adressiert. Eindringlichkeit und Effekt dieses poetisch-politischen Programms dokumentiert die Gegenpolemik zu Walthers Invektiven gegen den Papst, die Thomasin von Zerklaere zeitnah in seinem höfischen Lehrgedicht ‚Der Welsche Gast‘ (1215/16) äußert (v. 11091–268; vgl. dazu auch → Kapitel IV.2). Wenn er den Papst mit dem Argument entschuldigt, er sei nicht Gott und daher theoretisch auch fehlbar, so zeigt er ihn als höchsten, aber eben ‚gebundenen‘ Würdenträger (v. 11149–162), ja stilisiert ihn geradezu zum Opfer der kritischen Öffentlichkeit, die ihm – wie das Beispiel Walther zeige – auch und gerade dann übel nachrede, wenn er gut handle (v. 11251–262). Thomasin untermauert seine Gegenpolemik, indem er die Bedeutung der Dichter (tihtære)



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als Instanzen der öffentlichen Rede hervorhebt und sie auf einer Ebene mit den Predigern und Herrschern (herren) sieht. Der nicht namentlich genannte Walther habe tausend Menschen zum Ungehorsam gegen Papst und Gott verführt (v. 11223–225), gerade weil er ein begabter und ansonsten guter Dichter sei (v. 11239–250). Damit ist ex negativo eben die konstitutive Funktion soziopolitischer Lyrik für so etwas wie einen öffentlichen politischen Diskurs behauptet. Im Übrigen spielt Thomasin geschickt das Prinzip politischer Verpflichtung und Verantwortlichkeit an den zurück, der sie einfordert. Was auf moralischer Ebene kluges Kalkül ist, erweist sich freilich als poetologisches Missverständnis. Soziopolitische Dichtung steht nicht unter dem Diktat einer objektiven Wahrheit, sondern, wie die Reichston-Pose zeigt, einer subjektiven Einsicht, einer Ästhetik als künstlerischer Wahrnehmungsform, die poetisch-dynamisch ins Hyperbolische zielt, Übertreibungskunst im Zeichen scharfen Singens darstellt, die vermeintlich feste Hierarchien im zumindest tendenziell gegebenen oder sich ausbildenden Freiraum poetischen Sprechens radikal relativiert. Diese Lizenz ist realpolitisch sicherlich durch institutionelle und mäzenatische Interessen gedeckt, aber eben auch essentiell intrinsisch bedingt, wie gerade Thomasins Kritik zeigt. Es ist das ästhetische Faszinosum, das Walthers Texte auf durchaus konventionellem Grunde durch versiertes Rollenspiel des sprechenden Subjekts, souveräne Rhetorik, sprachbildliche und szenische Plastizität gewinnen. Insbesondere was das rhetorische Profil angeht, befinden sie sich für die Volkssprache auf höchstem Stand, wie die Palette an Verfahren – Anapher, sermocinatio, Metaphorik, Allegorie und Ironie, um nur weniges zu nennen – zeigen. Die rhetorische Beweglichkeit verantwortet neben dem hyperbolischen auch den grundsätzlich ambivalenten Duktus, der sich nicht zuletzt in den scheinbar panegyrischen Strophen fassen lässt, wie etwa in der oben angesprochenen Leopoldsstrophe. Neben den im engeren Sinn politischen Themenfeldern bespielt Walthers Œuvre allgemeine Morallehre und religiöse Fragen, auch hier mitunter mit hyperbolischem Gestus, wie etwa die Gott direkt gegenüber geäußerte Kritik am Gebot der Feindesliebe (L. 26,3) zeigt. Den Geist der Hyperbolie atmen schließlich jene Strophen, die wiederum tonübergreifend Klagen über Welt, Vergänglichkeit und Mahnungen vor der Apokalypse formulieren. Insbesondere das Verhältnis der Sänger-persona zur Welt erweist sich dabei als ambivalent: Die Welt, Frau Welt, hat es ‚Walther‘ im mehrfachen Wortsinn angetan, ähnlich wie Frau Minne. Im Übrigen zählt sie zu den glücklichsten Erfindungen des Dichters und dokumentiert sein Faible zur Personifikation, das man auch in Frau Bohne (17,25) oder Herrn Stock (L. 34,14) greifen kann. Die textuelle Plastizität, die sich in den genannten Verfahren und Figurationen äußert, mag außerdem eine entsprechende Herausforderung und ein entsprechendes Potenzial für die Performanz bedeutet haben (Lauer, C., Aufführungsräume; Lauer, C., Sänger-Rollen) und lässt auf das Talent des Aufführungskünstlers Walther schließen. Dass die performative Dimension für das soziopolitische Register wichtiger gewesen sei als im Minnesang (so Lauer, C., Aufführungsräume, S. 108  f.), ist allerdings wohl kaum mehr als eine Behauptung.

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Referenz Es ist Walthers soziopolitischer Lyrik (wie der anderer Autoren) zu eigen, dass sie im Unterschied zum erotischen Register einen hohen Grad an Wirklichkeitsreferenz, Anspielungen auf konkrete Orte, Begebenheiten, historische Figuren, aber auch scheinbar persönliche Lebensumstände und Erlebnisse aufweist. Die ‚realitätsaffine‘ Verfasstheit hat in der Forschung große Aufmerksamkeit erfahren. Zum einen bietet sie (im Unterschied zum Minnesang) die Möglichkeit, die Texte wenigstens grob zu datieren, sie entwirft ein konkretes poetisches Zeit-Raum-Gefüge, das ästhetische Prinzipien der Gestaltung und Kommunikation politischer und sozialer historischer Erfahrungswelten  – wiederum aus eminent subjektiver Perspektive  – freizugeben scheint. Sie entäußert ein zeitliches und räumliches Profil der Entstehung, des Bezugs und der Wirkung der Texte. Schlussendlich haben die ‚persönlichen‘ Aussagen des poetischen Subjekts, was Peter Rühmkorf (Walther, S.  48) treffend die „Privatissima“ nennt, insbesondere die frühere Forschung zu biographischen Spekulationen angehalten, die – was Lebensverlauf wie Lebensumstände des historischen Autors angeht – solche bleiben müssen. Allgemein lässt sich sagen, dass es sich bei der Wirklichkeitsreferenz in Walthers Texten, sei sie räumlich, ereignishaft, auf historische Personen oder das sprechende Subjekt bezogen, immer um poetisch gestaltete, also inszenierte und imaginierte Wirklichkeit handelt. Die Singularität des Realen gerät damit a priori in einen Status der sinnreichen, über das bloß Gegebene hinausweisenden Exemplarizität und Bedeutsamkeit; der historische Moment, auf den angespielt ist, ist poetisch immer schon in eine Sphäre der Dauer hinüber gestaltet, die sein Momenthaftes transzendiert. Wäre es anders, hätten die entsprechenden Texte über ihren historischen Kontext hinaus nicht gewirkt und würde die moderne Rezeption an ihnen keinen ästhetischen Gefallen finden können. Ich greife für das poetische Referenzspiel wieder exemplarisch einige konkrete Texte heraus, nicht zuletzt, um methodische und theoretische Problemlagen zu skizzieren. Was die Ereignisreferenzen angeht, so hat man vielfach versucht, sie möglichst punktuell festzumachen. Dies gilt zumal für die reichspolitischen Turbulenzen, die im Reichston, in den beiden Philippstönen, im Ottenton und im König-Friedrichs-Ton angesprochen werden. Für sie ergibt sich zunächst ein Datierungszeitraum von 1198 (dem Beginn der Thronstreitigkeiten in der Nachfolge Heinrichs VI. zwischen Philipp von Schwaben und Otto IV.) bis 1215 (der endgültigen Anerkennung Friedrichs II. als römisch-deutschen Königs). Auf welche Ereignisse die einzelnen Töne bzw. Strophen genau referieren, ist eine Frage der mehr oder weniger plausiblen Deutung und nicht (wie häufig behauptet) einer faktischen Gewissheit. So hängt die Datierung des Reichstons (üblicherweise 1198, aber auch 1201) auch davon ab, ob man in ihm eine in einem Zuge entworfene Komposition oder eine gewachsene Strophenreihe sieht. Was die Papststrophen des Unmutstons angeht, so mag die sog. Opferstockstrophe (L. 34,14) durchaus auf die Kreuzzugsbulle ‚Quia maior‘ anspielen, in der Innozenz III. die Aufstellung von Opferstöcken in den Kirchen veranlasste (Schw., S. 403  f.). Dieser Ereigniskontext ist für die anderen Papststrophen des Tones freilich nicht zwingend, sie



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könnten auch früher oder später datieren. Im Œuvre bildet die Papstkritik jedenfalls eine thematische und invektivische Klammer, die aus rezeptionsästhetischer Sicht die jeweiligen konkreten historischen Referenzen, ihren produktionsästhetischen Anlass hinter sich lässt und die mutmaßlich erste, auf Innozenz III. zielende Schelte im Reichston noch mit der letzten Klage über die „unsanften Briefe aus Rom“ in der ‚Elegie‘ verschränkt, die üblicherweise auf die Bannung Friedrichs  II. durch Papst Gregor IX. im Jahr 1227 bezogen wird. Das Œuvre generiert im Wechselspiel der Texte so etwas wie eine ihm eigene Papstfigur, gewissermaßen einen Walther-Papst oder eben auch eine Papst-persona, die wie das Sängersubjekt als Autor-persona ein anderer ist als die historische Person. Analoges mag für die Könige und Fürsten gelten. Nicht der historische Otto und der historische Friedrich, sondern der Walther-Otto und der ­Walther-Friedrich geben diesen Texten ästhetisches Profil und poetischen Reiz. Poetisch gestaltet und insofern imaginativ ist auch der Raum, den sich Walthers soziopolitische Lyrik zu eigen macht. Man könnte von verschiedenen räumlichen ­Kategorien und Ebenen der Raumsemantik sprechen. Die im Œuvre genannten Toponyme mögen dabei ein ‚Bewegungsprofil‘ des historischen Walther abstecken, das weiteste (und deshalb verdächtig hyperbolische) entwirft (in Analogie zum ‚Preislied‘, L. 56,14/Bein 32) die erste Strophe des Unmutstons nach C (L. 31,13/Bein 12,I): von der Seine bis zur Mur, vom Po bis an die Trave. Auch in diesem Fall sind aber nicht die Tatsachen („War Walther wirklich in Paris?“) das poetisch Wesentliche, es ist einmal mehr die Behauptung einer absoluten Erfahrung und also Redeermächtigung des kritischen Subjekts („ich kenne sie alle“). An dem berühmten Vers ze Œsterrîch lernde ich singen unde sagen (L. 32,14/Bein 12,IV,8) ist ebensowenig die biographische Aussage, deren Richtigkeit man nicht bezweifeln muss, das Entscheidende, sondern, dass der Hof zu Wien deshalb als erstes den scharfen Gesang und die Klage zu hören bekommt, derer sich der Sänger des Unmutstons befleißigen will. Die Strophe zeigt zudem, dass der konkrete Hof zugleich immer ein Raum höherer Bedeutsamkeit ist: der Hof zu Wien etwa als Ort der Kritik, der Sehnsucht, der Lockung, aber auch der Verweigerung (vgl. die Beispiele oben). Generell bietet er dem Sänger und seiner Kunst das entscheidende Forum der Etablierung, in dessen Rahmen er sich neben den vielen falschen Höflingen als rechter und rechtschaffener Intimus des Fürsten, des Königs oder Kaisers gar inszeniert. Wie Peter Strohschneider (Fürst) gezeigt hat, ist dies zunächst einmal eine intrinsische Behauptung, die eher auf den prekären Status künstlerischer Kommunikation verweist. Umgekehrt kann freilich auch die immer wieder geäußerte Klage, zu Hofe mithin vom Fürsten ungehört zu bleiben, reine Behauptung sein. Da sie jedenfalls als Gesang vorgetragen und also rezipiert wird, verrät sie sich leicht als performativer Selbstwiderspruch. Aus der Inszenierung des Verhältnisses zwischen Sänger und Hofwelt lässt sich also institutionengeschichtlich (für den Hof als Kunstraum wie für die Kunst als höfische Kommunikationsform) ebenfalls kaum mehr als Spekulatives entwickeln. Ein äußerster Ort ist in mehrfacher Hinsicht Palästina, konkret wie der Bedeutsamkeit nach. Palästina ist als Zielort der Kreuzzüge Brennpunkt des politischen

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Streits zwischen Reich und Kirche, als Ort des messianischen Heilsgeschehens jener Boden, den zu erreichen Walthers Kreuzzugsaufforderungen die christlichen Ritter verpflichten. Er trägt in diesem Sinn das Seligkeitsversprechen der ‚Elegie‘, das dem Sänger selbst uneinlösbar bleibt, wohingegen sich das Ich des ‚Palästinaliedes‘ als genau dort angekommen sieht – eine Kreuzfahrt des historischen Walther lässt sich daraus weder festmachen noch abstreiten. Was schließlich die sog. Privatissima angeht, so entwerfen sie lebensweltliche Mikronarrative, die sich historisch weder belegen noch widerlegen lassen. Dass dies mit Witz geschieht, dokumentieren nicht zuletzt die Atze-Strophen (L. 82,11 u. 104,7). Der für die adressierte Öffentlichkeit an sich belanglose und philologisch auch nicht mehr rekonstruierbare Ereignismoment ist in die Sphäre einer exemplarischen Behauptung – pathetisch gesprochen – der Würde des Individuums gehoben, die als Kulturleistung der Poesie eben doch von Belang ist. Spezifischer formulieren dies die eindringlichsten Strophen des ‚privaten‘ Lohnbegehrens eines Subjekts, das sich dabei immer als Künstler begreift, zumal – um auf den Beginn zurückzukommen – Lehensbitte und Lehensjubel an Friedrich II. (L. 28,1 u. 28,31). Der in gewisser Weise prekäre Anspruch und Status des Künstlers, sein nicht ständisch, sondern ästhetisch begründetes hohes Ethos und Selbstbewusstsein sowie die gesellschaftliche Anerkennung, die er reklamiert und die ihm, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt, auch zugekommen ist, dies alles lässt sich wohl für den historischen Sangeskünstler Walther von der Vogelweide als biographisches Faktum aus seinem Werk ableiten. Er wird wohl auch weit herumgekommen und ‚lohnabhängig‘ gewesen sein. In welcher Eigenschaft er dies tat und wes Standes er genau war, bleibt freilich spekulativ und ist aus den Texten im wissenschaftlichen Sinn nicht zu rekonstruieren. Gewiss aber ist, dass sich das Sängersubjekt im Œuvre als Dichter aus Berufung begreift. Gesellschaftliche Würde und Wert des Künstlers behaupten mit Nachdruck und wohl durchaus mit Blick auf den Sprecher selbst die beiden Nachrufstrophen auf Reinmar (L. 82,24; 83,1). Sie beklagen im Tod des Künstlers den unwiederbringlichen Verlust seiner hohen Kunst, was den Aspekt der Aufführung und also das nicht nur poetische, sondern performative Talent des mittelalterlichen Sängers ins Zentrum rückt. Wenn das Publikum, in Reinmars Fall die Damen, zu fortwährendem Dank verpflichtet und aus dem Werk des Verstorbenen zitiert wird, dann ist zugleich das Ewigkeitsversprechen der Poesie angedeutet. Der Autor geht, das Werk bleibt, und in ihm denn doch auch der Autor. Diesen Gedanken der Verdauerung behauptet auch der ‚Alterston‘. Walther von der Vogelweide ist der Begründer soziopolitischer Lyrik in deutscher Sprache als Kunstform, auch wenn es vor ihm eine gewisse moralische Lyrik gegeben hat. Insofern ist Walther auch unbedingter Archeget in der Geschichte dieser offenen Kunstform und nicht ihr Sonderfall (gegen Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 83  f.). Er begründet sie in Relation zum Minnesang und mit einer formalästhetischen Spannbreite und inhaltlichen Elastizität, die thematisch homogene wie heterogene Töne, also das, was man traditionellerweise Lieder und Sangsprüche nennt, umfasst und



Bruder Wernher 

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vielfach interferieren lässt. Walther steht damit am Beginn einer langen Tradition, deren maßgebliche Autoren im 13.  Jahrhundert wie der Marner, der Tannhäuser, Konrad von Würzburg oder Frauenlob ebenso wie er und mithin nach seinem Vorbild die beiden lyrischen Register zu bedienen und in poetisch fruchtbarer Weise zu vernetzen wissen. Ausg. Brunner [u.  a.] (Hg.), Überlieferung Walthers; L.; L./Bein; MF; Schw.; Thomasin von Zerclaere, Welscher Gast.  – Lit. Bastert, Sänger; Brandt, Prätention; Holznagel, Wege; Kern, M., Auctor; Kern, M., Weltflucht; Lauer, C., Aufführungsräume; Lauer, C., Sänger-Rollen; Maurer, Politische Lieder; Müller, U., Walthers Sangspruchdichtung; Ranawake, Ottenton; Ranawake, Spruchlieder; Ranawake, Walther; RSM; Rühmkorf, Walther; Strohschneider, Fürst; Tervooren, Sangspruchdichtung; Wenzel, H., Melancholie.

2 Bruder Wernher

Joachim Hamm

Wernher war ein jüngerer Zeitgenosse Walthers von der Vogelweide. Als politischer Spruchdichter ist er – neben Reinmar von Zweter – Walthers bedeutendster Nachfolger (Brunner, Wernher, Sp. 901). Urkundliche Belege für Wernhers Wirken fehlen, und seinen Sprüchen sind nur wenige Hinweise auf seine Lebensumstände zu entnehmen (Zck., S. 6–26). Wernhers Sangsprüche lassen sich in die Zeit von ca. 1217 bis 1250/51 datieren (im Folgenden wird Zck.s Nummerierung der Töne und Strophen zitiert und in eckigen Klammern um die Zählung der Strophen bei Schönbach [Hg.], Sprüche Wernhers, bzw. der Töne im RSM ergänzt). Wahrscheinlich war Wernher ein fahrender Berufsdichter und vor allem in Österreich, Bayern und Franken tätig: Mehrere Sprüche setzen sich mit Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark (12 [48], 28 [5], 67 [34], 69 [35]?, 71 [37]) und mit dessen Vater Herzog Leopold VI. auseinander (73 [39], 74 [32]); die übrigen Lobsprüche gelten Grafen vorrangig aus dem österreichischen und südostdeutschen Raum (32 [56], 38 [60], 61 [74]). Wernher zählt sich selbst zu den Laien (wir leien 57,11 [19]). Er dürfte eine klösterliche Ausbildung erfahren haben und gilt aufgrund seiner elaborierten Melodien als „profunde[r] Kenner der Psalmodie“ (Spechtler/Waechter, Psalmodie, S. 57). Der Namenszusatz „Bruder“, der in der Spruchdichtung einmalig ist und von allen Handschriften bezeugt wird, deutet darauf hin, dass Wernher Mitglied einer Pilgergemeinschaft war (vgl. auch 73 [39], 74 [32], 76 [41]) oder als Laienbruder einer klösterlichen Gemeinschaft angehörte. Möglich ist aber auch eine metaphorische Verwendung, die auf den erfahrenen Berufsdichter in der Rolle des Pilgers verweist (Brunner, Wernher, Sp. 897  f.). Die Autorminiatur der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C zeigt Wernher als Landfahrer mit Stab und Hut.

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Überlieferung, Textausgaben, Töne Unter Wernhers Namen überliefern drei Liederhandschriften und ein Fragment insgesamt 76 Strophen in neun Tönen. Ob das Œuvre ursprünglich wesentlich größer war (Spechtler, Strophen, S. 197), lässt sich schwer abschätzen. Von den 76 Strophen werden 45 unikal und 31 parallel tradiert (Abb. und Transkription bei Spechtler [Hg.], Überlieferung Wernhers; Strophentabelle bei Spechtler, Strophen, S. 194–196). Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J überliefert 67 Strophen, gruppiert nach sechs Tönen mitsamt Melodien. Das Grundstockkorpus von 50 Strophen wurde von zwei Nachtragshänden um 15 bzw. um zwei Strophen erweitert, die am Seitenrand unterhalb der Melodie eingetragen sind (Kornrumpf, Grundstock, S. 54–56, 58). Dieser reichen Überlieferung im Norden steht die schmalere und recht ungeordnete Tradierung in der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C gegenüber. Sie umfasst insgesamt 38 Strophen, davon 31 Strophen parallel zu J und sieben unikal (17 [24], 44 [11], 45 [13], 66 [30], 72 [36], 73 [39], 74 [32]). In C sind – im Unterschied zu J – Wernhers Strophen nur ansatzweise nach Tönen geordnet, und die Tonwechsel bleiben unmarkiert (nach Zck.s Zählung Ton  I [IV]: C12, 15  f., 24–26, 28; Ton  II [I]: C1–8, 13, 17–20, 27, 32, 38; Ton III [II]: C9  f.; Ton IV [III]: C14, 29, 31; Ton V [V]: C21–23; Ton VI [VI]: C33–37; Ton VII [VII]: C30; Ton VIII [IX]: C32). Womöglich kapitulierte der Redaktor von C vor der Ähnlichkeit von Wernhers Strophenformen (Kornrumpf, Grundstock, S. 58). Die ‚Kleine Heidelberger Liederhandschrift‘ A überliefert drei Strophen, davon zwei unikal (75 [40], 76 [41] = Ton IX [IX]). Wohl nicht viel jünger als J ist das ‚Tetschener Fragment‘ (jetzt: Prag, Nationalbibl., Cod. XXIV.C.55; vgl. Klein, K., Verbleib), das eine Strophe (3 [25]) parallel zu C und J tradiert. Da sich einzelne Strophen um 1217 datieren lassen, steht fest, dass Wernhers Töne II [I], VII [VII] und VIII [IX] bereits in dieser Zeit existierten. Am umfangreichsten sind die Töne I [IV] (17 Str.), II [I] (28 Str.) und III [II] (11 Str.). Weniger Strophen gehören zu Ton IV [III] (3 Str.), Ton V [V] (7 Str.), Ton VI [VI] (6 Str.), Ton VII [VII] (1 Str.), Ton VIII [IX] (1 Str.) und Ton IX [VIII] (2 Str.). In seinem Abdruck der Wernher-Sprüche hatte Friedrich Heinrich von der Hagen den größten Wert auf die C-Überlieferung gelegt und die Strophen nach Tönen (um)geordnet (HMS II,117; III,2; vgl. Spechtler [Hg.], Überlieferung Wernhers, S. VIIf.). In Anton Schönbachs Ausgabe folgen auf die nach Tönen gereihten C-Strophen (Nr. 1–41, einschließlich der A–Strophen) die unikal in J überlieferten Strophen (Nr. 42–76), die gleichfalls nach Tönen geordnet sind. In der Textherstellung orien­ tierte sich Schönbach an C (nicht ohne beherzt zu konjizieren) und fügte einen Lesartenapparat sowie inhaltliche Erläuterungen hinzu. Offenbar gingen beide Herausgeber davon aus, dass die J-Überlieferung sich bereits weit vom mutmaßlichen Autortext entfernt hatte. Da Schönbach bei Parallelüberlieferung die Varianz in J nur im textkritischen Apparat verzeichnet, ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, dass C und J bisweilen so erheblich voneinander abweichen, dass man von inhaltlich relevanten Lesarten oder gar von unterschiedlichen Fassungen („Vortragsvarianten“, so Spechtler, Strophen, S. 199) sprechen muss (vgl. Zck.s sehr kleinteilige Analyse insb. zu 3 [25], 5  f. [22, 26], 9 [27], 19 [3], 21–25 [1, 4, 10, 6, 16], 28 [5], 35 [2], 40  f. [12, 15], 53 [18], 59 [20], 62 [31], 64 [29], 67 [34], 70  f. [33, 37]). Da die Varianten in J im Vergleich zu C eine „stärker verallgemeinernde Lesart“ (Zck., S. 51) aufweisen, ging schon Schönbach (hierin Bartsch nachfolgend) davon aus, dass einige zeitgeschicht-



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liche Strophen in J inhaltlich „entaktualisiert“ wurden, da der ursprüngliche politische Kontext nicht mehr von Interesse war (Spechtler, Strophen, S. 198). Peter Kern hingegen versteht die varianten J-Strophen als frühere Autorfassungen, die in C aufgrund veränderter politischer Lage nachträglich „umaktualisiert“ wurden (Kern, P., Entaktualisierung). Die Frage, ob nun „entaktualisiert“ oder „umaktualisiert“ wurde, muss offen bleiben: Die Tendenz zur „Entaktualisierung“ gilt jedenfalls nicht durchgehend für J, und es finden sich in C auch allgemeinere und in J auch aktuell-politische Strophen (Müller, U., Untersuchungen, S. 87). Der Vergleich der J- und C-Fassungen auf Basis der neuesten Forschung (insb. Zck.s Kommentare) ist ein Desiderat. Gegenüber der bisherigen Privilegierung der C-Überlieferung – auch die Textauswahl bei Nolte/ Schupp ([Hg.], Sangspruchdichtung) folgt Schönbachs Ausgabe – legt Zuckschwerdt ihrer kommentierten zweisprachigen Neuausgabe (Zck.) als Leithandschrift die Handschrift J zugrunde, welche die umfänglichste Überlieferung von Wernher-Strophen enthält, zudem Melodien tradiert und insgesamt als „historische Dokumentation“ der Gattung Sangspruch gelten kann (Zck., S. 52; so schon Spechtler, Strophen, S. 198). Dass die J-Überlieferung vielfach nachgeordnet ist und ihre Fassungen Umarbeitungen von C darstellen, wird damit freilich nicht widerlegt. Die vermutlich bisweilen autornäheren C-Texte werden, soweit sie variante Verspartien bzw. eigenständige Fassungen darstellen, von Zck. zwar nicht in synoptischer Edition, aber doch zusammenhängend im Lesartenapparat abgedruckt und im Kommentar ausführlich diskutiert. Aus Zck.s Wahl der Leithandschrift J resultiert eine neue Reihung und Nummerierung der Strophen und Töne, die von den Ausgaben von der Hagens und Schönbachs (und damit auch vom RSM) abweicht (Synopse bei Zck., S. 680  f.): Zck.s Ausgabe folgt der jeweils maßgeblichen Handschrift und bietet die Strophen zu den Tönen I–VI in J (= RSM Ton IV, I–III,V–VI), danach die unikal in C überlieferten Töne VII und VIII (= RSM Ton VII und IX), abschließend den nur in A überlieferten Ton IX (= RSM Ton VIII).

Den Melodien, die J zu den Tönen I bis VI überliefert (Edition: Sps., S. 427–432, 486  f.) wird „wenig Eigencharakter“ bescheinigt (Brunner, Wernher, Sp. 900). Die Töne sind durchgehend in Kanzonenform abgefasst. Eine Bauform mit drittem Stollen kennen sie nicht bzw. nur in Ansätzen (Rettelbach, Bauformen, S. 95; zum verkürzten dritten Stollen in Ton V [V] vgl. Kornrumpf, Grundstock, S. 87). Alle Töne Wernhers folgen dem im 13. Jahrhundert verbreiteten Almentmuster (ob Wernher sich an Stolle orien­ tiert oder dieser ihn nachahmte, lässt sich nicht entscheiden). Damit ist Wernhers Tönen eine gewisse Uniformität eigen, die sich formgeschichtlich erklären lässt: Wernher steht zwischen den Einzeltönen der frühen Spruchdichtung und der seit Walther vorherrschenden Tönevielfalt (Brunner, Formgeschichte, S. 43; zum Folgenden ebd., S. 38–43). Sechs von Wernhers Tönen umfassen 12 Zeilen, Ton IX [VIII] hat 11 und die Töne VI [VI] und VII [VII] haben je 14 Zeilen. Mit Ausnahme von Ton IX [VIII] bestehen die Töne aus 70 bis 84 Takten, gehören also zu den sehr langen Tönen. Bis auf die Töne VI [VI] und VII [VII], die vierzeilige Stollen aufweisen, bestehen alle Stollen aus drei Zeilen. Die Stollen der besonders nahe verwandten Töne II–IV [I–III] haben durchweg lange Zeilen bzw. Langzeilen, in den Tönen I [IV], V [V], VIII [IX] und IX [VIII] werden Langzeilen oder lange Zeilen mit Kurzzeilen kombiniert. Die vierzeiligen Stollen der Töne VI [VI] und VII [VII] weisen nur Kurzzeilen auf. Die Reimschemata sind auffällig variabel. Weitgehend einförmig ist die metrische Gestalt der Abgesänge, die sechs Zeilen aufweisen (nur Ton IX [VIII] mit fünfzeiligem Abgesang). Dabei wird – almentgemäß – ein etwas ‚schlankerer‘ vierzeiliger Mittelteil mit Kreuzreim

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durch ein Verspaar aus Langzeilen oder langen Zeilen schwergewichtig (und meist mit besonders prägnanter Textaussage) abgeschlossen. In mehreren Sprüchen Wernhers stimmt zudem die inhaltliche Gliederung mit den Strophenteilen überein. Insgesamt bevorzugt Wernher die thematisch abgeschlossene Einzelstrophe. Strophenketten, die eigenständige Einheiten bilden, finden sich, wenn überhaupt, nur selten (zu den Kreuzzugstrophen 75/76 [40/41] vgl. Gerdes, Wernher, S. 24). Datierungsfragen Von den 76 Strophen Wernhers lässt sich kaum ein Dutzend sicher datieren, bei weiteren ca. elf Sprüchen ist zumindest eine ungefähre zeitliche Einordnung möglich (Brunner, Wernher, Sp. 898  f.; Zck., S.  11–13). Offenbar ging es Wernher in vielen Sprüchen nicht um die exakte Referenz auf ein bestimmtes zeitgeschichtliches Ereignis, vielmehr um eine aus dem Konkreten gewonnene allgemeine Erkenntnis: um eine exemplarisch begründete Lehre oder um einen ethisch-moralischen Ratschlag, die vor einem zeitgeschichtlichen Horizont dem Publikum vermittelt werden sollten (Gerdes, Wernher, S. 33  f.). Die zeitliche Einordung von Wernhers Sprüchen erörtert Zck.s Kommentar im Detail: Als frühester datierbarer Spruch gilt Strophe 74 [32], die sich auf Herzog Leopolds VI. Aufbruch zum (Damiette-)Kreuzzug im Spätsommer 1217 bezieht (vgl. auch 73 [39]). Womöglich 1220 entstand der Lobspruch 39 [61] auf den jungen König Heinrich (VII.). Der bîspel-Spruch 43 [63] bezieht sich wohl auf die Rückkehr Kaiser Friedrichs II. vom Kreuzzug im Juni 1229 und auf die Rückeroberung Siziliens. Strophe 63 [75] steht unter dem Eindruck des Todes von Herzog Ludwig I. von Bayern, der am 15. 9. 1231 auf der Kelheimer Donaubrücke ermordet wurde. In die frühen 1230er Jahren dürfte der Scheltspruch 45 [13] zu datieren sein, der sich gegen den Geiz der im Reich und in vielen Ländern zur Herrschaft gelangten jungen Herren wendet (Heinrich [VII.] regierte ab 1229 selbständig, 1230/31 wechselte die Herrschaft in Österreich, Böhmen und Bayern, vgl. Brunner, Wernher, Sp. 899). Vor dem Hintergrund der 1231 in Kraft getretenen Konstitutionen von Melfi ermahnt Spruch 23 [10] Kaiser Friedrich II., nach seiner bevorstehenden Rückkehr nach Deutschland (Mai 1235) auch hier Reformen im Rechtswesen durchzuführen (vgl. Reinmar von Zweter Roe. 138; Hohmann, S., Friedenskonzepte, S. 130–145). Auf die Unterwerfung König Heinrichs (VII.), die sein Vater Friedrich II. im Sommer 1235 erzwang, bezieht sich Spruch 21 [1], der zwischen Juli 1235 und Juli 1236 entstanden ist (Brunner, Verkürztes Denken, S. 317–319). Der Konflikt zwischen Kaiser, Papst und Lombardenbund ist Gegenstand von Spruch 35 [2], der wohl nicht vor 1228 (Schönbach [Hg.], Sprüche Wernhers), sondern erst im Frühsommer 1236 zu datieren ist, als Friedrich II. in Augsburg seine Truppen sammelte, um in die Lombardei zu ziehen (vgl. auch Cammarota, Con­testo). Die Entstehung von Spruch 67 [34], der von der Auseinandersetzung zwischen Herzog Friedrich II. dem Streitbaren von Österreich und seinen Nachbarn Ungarn und Böhmen sowie dem Kaiser handelt, lässt sich auf das Jahr 1236 datieren, als der Herzog von Kaiser



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Friedrich II. geächtet wurde. Den Konflikt zwischen Herzog und Kaiser thematisiert auch Spruch 28 [5], der wahrscheinlich 1236/37 verfasst wurde. Wohl im gleichen Zusammenhang stehen die Strophen 37 [7], 69 [35] und 71 [37], in denen Wernher „offenbar als Sprachrohr der österreichischen Landherren“ (Brunner, Wernher, Sp. 899; vgl. auch Heinzle, Wandlungen, S. 18  f.) auftritt. Spruch 4 [44] ist entweder nach der zweiten Bannung Kaiser Friedrichs  II. (20.  3. 1239) oder kurz vor seiner Absetzung durch Papst Innozenz  IV. (Sommer 1245) entstanden. Das Herrscherlob in 38 [60] gilt Graf Poppo VII. von Henneberg und ist wohl kurz vor dessen Tod (1245) zu datieren. Dass auch 61 [74] auf Poppo VII. oder seinen Sohn Heinrich III. (und nicht auf das bayerische Grafengeschlecht der Ortenburger) zu beziehen ist, vermutet Brunner (Wernher, Sp. 898  f.; anders Schönbach [Hg.], Sprüche Wernhers, und Zck., S. 529–532). Womöglich verweist Spruch 57 [19] auf die Vakanz des päpstlichen Stuhls (1241–1243). Ob der Lobspruch 32 [56] auf Graf Wilhelm IV. von Heunburg in dessen Todesjahr (1249) oder bald danach entstanden ist, muss offenbleiben. Spruch 12 [48] verbindet die Totenklage um Herzog Friedrich II. von Österreich († 15. 6. 1246) mit einer Beistandsbitte an König Wenzel I. von Böhmen und entstand wohl nach dem böhmischen Einmarsch in Österreich 1250/51. Wenn der in 26 [8] erwähnte Gegenspieler Konrads IV. nicht Heinrich Raspe († 16. 2. 1247), sondern Graf Wilhelm von Holland ist, lässt sich dieser Spruch vor Konrads Abreise aus Deutschland im Oktober 1251 datieren. Themenkreise Thematisch knüpft Wernher an die Sangspruchdichtung seiner Zeit an (vgl. RSM, Bd. 5, S. 548–564). Mit Gerdes (Wernher) lassen sich drei Schwerpunkte unterscheiden: Zeitgeschichtliches, Tugendlehre und Geistliches (die Minnethematik fehlt völlig). Hinzu kommt die Selbstthematisierung des Sängers und seines Dichtens. Die dominierende Sprechhaltung, die sich in nahezu allen Sangsprüchen nachweisen lässt, ist die der Belehrung. Ausnahmen sind der Spruch über die Jahreszeiten (18 [9]) oder das Traumlied (30 [54]). In seinen z e i t g e s c h i c h t l i c h e n S t r o p h e n thematisiert Wernher die (oben bereits genannten) aktuellen Ereignisse, Diskurse, Orte und Personen, lobt und tadelt geistliche und weltliche Herrscher, propagiert den Kreuzzug und nimmt als „Vollzugsorgan“ einer abstrakten politischen Ethik (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 155) zu Fragen der Herrschaftsführung Stellung (vgl. die Erläuterungen bei Müller, U., Untersuchungen, S. 86–103, und Zck.). Zumal in den auf die österreichischen Herzöge Leopold VI. und Friedrich II. bezogenen Strophen wird Wernher bisweilen zum „Propagandisten des Adels im babenbergischen Herrschaftsgebiet“ (Knapp, Herrschaftsideale, S. 284). In den Auseinandersetzungen zwischen Staufern und Papst bzw. Fürsten lässt er sich der staufischen Seite zuordnen. Die politische Parteinahme tritt allerdings oft hinter die abstrakte Ethik zurück, die ausgehend von einer aktuellen Situation im Gestus des Mahners und Ratgebers entfaltet wird. Die Kreuzzugsthematik ist Gegenstand meh-

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rerer Sprüche (Wisniewski, Kreuzzugsdichtung, S. 127–130). Auf den Kreuzzug von 1217 bezogen ist der (von Walther L. 36,1 inspirierte?) ironische Lobspruch auf Herzog Leopold VI. von Österreich und Steiermark, dessen Opferbereitschaft scheinbar preisend hervorgehoben wird (74 [32]; vgl. auch 73 [39]?). Wohl eher auf den Kreuzzug Kaiser Friedrichs II. (1228/29) verweisen 75 [40] und 76 [41], die nur in A überliefert und keinem der in J und C tradierten Töne zuzuordnen sind. Gerade in diesen Strophen ist Wernhers Auseinandersetzung mit Walthers (und Hartmanns von Aue?) Kreuzliedern erkennbar (vgl. Zck., S. 646, 653  f., 663). Dem Herrscherpreis gewidmet sind mehrere Sprüche, die den Tönen II [I] und V [V] zuzuordnen sind. Anlass des Lobens ist meist kein konkretes Verdienst, vielmehr die allgemeine Tugendhaftigkeit des Herrschers. So steht die milte gegenüber Fahrenden im Zentrum des Lobspruchs auf den Kärntner Grafen Wilhelm von Heunburg (32 [56]). Der Lobspruch auf Graf Poppo VII. von Henneberg, den Bruder Ottos von Botenlauben, preist den tugendhaften Herrscher und seine Herkunft (38 [60]). Strophe 39 [61] leitet die Rechtmäßigkeit des Herrschaftsanspruches gerade auch aus charakterlichen Qualitäten des Königs ab (gemeint ist Friedrich II. oder sein Sohn Heinrich [VII.]) und verbindet sie mit der Ermahnung, als Begünstigter des Glücks sich der Nöte seiner Untertanen anzunehmen. Mehrere Preisstrophen auf namentlich genannte Herren sind im Ton V [V] verfasst und folgen in J aufeinander: An die bereits erwähnte Strophe, welche die Ankunft eines Grafen von Osterberg zum Anlass eines Lobspruchs nimmt (61 [74]), schließen sich in J das (u.  a. an Walther L. 20,31 erinnernde) Lob des freigebigen und tugendhaften Königs (62 [31]; Konrad IV.?) und die Totenklage um Herzog Ludwig I. von Bayern (63 [75]; vgl. Walther L. 85,9) an. Unikal in C überliefert ist der Preis des oberösterreichischen Herrn Hartnit von Ort (66 [30]), dessen hohes Ansehen von allen bestätigt werde. Das Gegenstück zum Herrscherlob bildet Wernhers Kritik an weltlichen und geistlichen Herrschern, die ihren Amtspflichten nicht hinreichend nachkommen (vgl. Gerdes, Wernher, S. 37–40): So mahnt Strophe 35 [2] Papst Gregor IX., sich als guter Hirte seiner verirrten Schafe anzunehmen, gegen die Häresie in der Lombardei vorzugehen und dem Kaiser und dem reht seine Unterstützung zuteil werden zu lassen (vgl. Walther L. 33,21; zum Typus der Papst- und Kirchenschelte vgl. Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 188–193). Auch Strophe 4 [44] mahnt die Erfüllung der Amtspflichten an, da es der weltliche Herrscher an unvoreingenommener Rechtsprechung, der geistliche an Barmherzigkeit gegenüber den Sündern fehlen lasse. Insbesondere der Papst wird an den Ansprüchen seines officium im Rahmen der christlichen Heilsordnung gemessen und an seine Aufgabe erinnert, dem Wohl der Christenheit zu dienen (vgl. hierzu u.  a. Freidank 150,8–11 und 151,7–12). Dies bestätigt etwa Strophe 23 [10], „ein Fürstenspiegel in nuce“, der den Kaiser ermahnt, sein von Christus verliehenes Richteramt konsequent auszuüben (Gerdes, Wernher, S. 40–46, hier S. 46). Gar mit dem Sündenfall vergleicht Strophe 21 [1] das Verhalten des jungen Königs, der sich mit falschen Ratgebern umgeben und ein bitteres Ende genommen habe (man sieht dahinter den Sturz Heinrichs [VII.] im Juli 1235). Hier wie dort gewinnen zeitgeschichtliche Ereignisse exemplarische Bedeutung: Im Aktuellen werden überzeitliche Verhaltensmuster auf-



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gezeigt und einer christlich-ethischen Kritik unterzogen, die den Herrscher an seine Verantwortung erinnert (ebd., S. 49–52). Diese Indienstnahme des Exemplarischen für die christliche Amtsethik bestätigt der vielbeachtete Spruch 43 [63], der die Fabel vom Affen und der Schildkröte als bîspel (v. 10) auf die Rückkehr Kaiser Friedrichs II. vom Kreuzzug bezieht und lehrt, dass die miete gernden schorpelîn (v. 12), welche die Lage ausnutzen wollten, nun alle Hoffnung fahren lassen müssen (vgl. Kern, P., Bîspel-Spruch). Andere zeitgeschichtliche Sangsprüche Wernhers sind allgemeiner gehalten. Wenn Strophe 69 [35] Kaiser Friedrich II. vor hinterhältigen Fürsten warnt, so lässt das Sänger-Ich offen, ob dies auf eine bestimmte historische Person zielt, und beansprucht gerade dadurch Gültigkeit über eine konkrete Situation hinaus. Dies gilt auch für Spruch 26 [8], hinter dem vermutlich die antistaufische Politik adliger Herren gegen Konrad IV. steht: Viele Herren seien vom König abgefallen und damit hilf- und führungslos wie jener Blinde, der seinen Knecht verstoßen hat. Wie ein historisches Ereignis zum exemplum und von Wernher „sentenziös ausgewertet“ wird (Gerdes, Wernher, S.  61), erweist Strophe 67 [34], welche die Ächtung des österreichischen Herzogs Friedrich II. im Jahr 1236 zum Anlass für die Mahnung nimmt, man müsse sich die Zuneigung alter Freunde erhalten, um im Kampf mit Feinden bestehen zu können. In ähnlicher Weise wird die Politik Herzog Friedrichs auch in anderen Strophen thematisiert. Dass sich der Lehnsherr in Konfliktsituationen der Zuneigung und Hilfe seiner liute versichern müsse, betont 28 [5]. Die Auseinandersetzung zwischen Herzog Friedrich II. und Kaiser Friedrich II. wird auch in Strophe 71 [37] angedeutet, in der sich das Ich hypothetisch in die Lage des Herzogs versetzt und eine kaisertreue „Gegen-Agenda“ entwirft (ebd., S. 65–68). In der Totenklage auf den Herzog hingegen (12 [48]) stellt Wernher seine Kritik (gattungskonform) hinter den Preis des Verstorbenen zurück. Es wäre zu kurz gegriffen, wollte man Wernhers zeitgeschichtliche Sangspruchdichtung allein auf die österreichischen Verhältnisse zu beziehen. Dass Kaiser, König, Papst und Reich öffentliche Angelegenheiten sind, deren kritische Beobachtung in die Verantwortung des Sangspruchdichters fällt, hat sich Wernher in der Nachfolge Walthers zu eigen gemacht (vgl. etwa die Reichsklage 45 [13] und die Weltklage 34 [58]). Wenn sich auch erstaunlich wenige wörtliche Anklänge an Walthers Lyrik finden, so steht doch dessen Einfluss auf Wernher außer Frage und ist für einzelne Sprüche auch nachweisbar (vgl. Schönbachs und Zck.s Kommentare sowie Gerdes, Wernher, S.  73–84). An Walthers Engagement in der kritischen Analyse der Beziehung von Kaiser und Papst reicht Wernher, zumal im Vergleich zu Reinmar von Zweter, nicht heran. Wie Walther misst er die Herrscher an den Normen christlicher Ethik, geht aber, anders als sein Vorgänger, nicht darüber hinaus. Wernhers zeitgeschichtliche Sangsprüche sind weit weniger „politischer“ als vielmehr „paradigmatischer“ Natur (Gerdes, Wernher, S. 81). Da die zeitgeschichtlichen Strophen letztlich auch Fragen der Ethik erörtern, lassen sie sich von den S p r ü c h e n ü b e r T u g e n d e n u n d L a s t e r nicht grund-

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sätzlich trennen (s. oben → Kapitel V.2 und Gerdes, Wernher, S. 85–96). In diesen steht zunächst die Herrenethik im Mittelpunkt, die auf der Vorstellung vom Tugendadel basiert: Der christliche Adel, so lautet die Maxime, bedarf der Legitimierung durch ethisch einwandfreies Verhalten. Entsprechend propagiert Wernher Herrentugenden wie milte, êre und triuwe und warnt vor den Lastern, die diesen entgegenstehen. Im Unterschied zu anderen Spruchdichtern seiner Zeit spielt das Thema Minne bei Wernher keine Rolle, und damit kommen zentrale Aspekte der höfischen Tugendlehre nicht oder nur am Rande in den Blick: Statt Minne und höfischer Unterhaltung ist es der rechte Gebrauch von herrscherlichem Besitz, der als Quelle der fröide gilt (ebd., S.  90). Im Mittelpunkt von Wernhers weltlichen Lehrsprüchen steht die christlich begründete Anleitung zu einem rechtschaffenen Leben. Diese erhebt keinen systematischen Anspruch, sondern erinnert an bewährte und autoritativ gestützte Weisheitslehren, die etwa in den drei katalogartigen, an das Priamel erinnernden Strophen 24 [6], 46 [17] und 59 [20] in prägnante Formeln gefasst werden (vgl. Freidank). Die Sprechakte des Lobens, Tadelns, Klagens und Belehrens (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 127) dienen Wernher zu einer Didaxe, die Orientierung in christlicher Lebens- und Herrschaftsführung bieten will; in Thematik, Tendenz und z.  T. auch Argumentation schließt sie an die Lehrdichtung an, insbesondere an die des Strickers (Heinzle, Wandlungen, S. 18; Knapp, Herrschaftsideale; Knapp, Literatur I). Das Lob der Tugenden und die Klage über ihren Verlust stellen dabei einen Schwerpunkt dar. Das Sänger-Ich inszeniert sich als „Sprachrohr der Tugend“ (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 100): Es verbindet die Klage über den Verfall von Würde und Anstand mit einer laudatio temporis acti (3 [25], 13 [49], 40 [12]), verknüpft die Vorstellung des Tugendadels mit der Klage über lasterhafte Herren (5 [22]) und preist neben der triuwe insbesondere die milte als jene Tugend, die dem christlichem Gebot der Nächstenliebe entspreche und von einem adeligen Herrn zu erwarten sei (29 [53], 31 [55], 32 [56], 46 [17]). Eng verbunden ist damit die Lasterschelte, die sich insbesondere gegen den Geiz als Hauptlaster wendet (5 [22], 50 [67], 56 [72], 72 [36]). Bisweilen sieht sich das Sänger-Ich von allen möglichen Lastern geradezu belagert (60 [73]; vgl. Tannhäuser Sieb. XII,3) oder holt gar zu einem „moralischen Rundumschlag“ gegen die verderbte Gesellschaft aus (Zck., S. 514 zu 59 [20]). In manchem orientiert Wernher sich dabei an Walthers Spruchdichtung, begründet freilich seine Tugendforderung im Unterschied zu ihm meist geistlich (Gerdes, Wernher, S. 94  f.). Zu Tugendpreis und Lasterkritik treten die Scheltstrophen, die nicht eine konkrete Person, sondern herrscherliche Tugenden bzw. Laster im Allgemeinen thematisieren. Die Missachtung des guten Ratgebers wird angeprangert (9 [27]), die untriuwe anderer Berater und falscher Freunde kritisiert (16 [51], 47 [64], 69 [35], 70 [33]). Gerade das Fehlen herrscherlicher milte ist Gegenstand der Schelte, insbesondere mit Blick auf jene Herren, die ihre Standespflichten vergessen haben und entsprechende Kritik ihrer Berater nicht vertragen (11 [47], 49 [66]). Hierbei kommt auch das Verhältnis von Mann und Frau in den Blick, etwa wenn der lasterhafte Gönner mit einer übel gesinnten Ehefrau verglichen wird, die den Mann zu ihrem eigenen Schaden malträtiert (6 [26]), oder wenn der Ich-Spre-



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cher die gesellschaftlich normierten Geschlechterrollen in Erinnerung ruft (51 [68], 53 [18], vgl. Walther L. 80,19). Deutlicher noch als die weltliche Didaxe bauen Wernhers g e i s t l i c h e S p r ü c h e auf christlichem Fundament auf. Von Beginn an hatte die Sangspruchdichtung an die Tradition geistlicher Dichtung angeknüpft, und spätestens ab Mitte des 13. Jahrhunderts, mit Reinmar von Zweter, Wernher und dem Marner, war der geistliche Sang­ spruch fest etabliert (Rosmer, Tradition, S. 322). Die Sprechakte von Klage und Belehrung zielen auf zentrale christliche Grundwerte wie Seelenheil, rechten Glauben und christliche Lebensführung. Beabsichtigt war freilich nicht vornehmlich die gelehrte theologische Erörterung, sondern die Erinnerung an das, was „jeder anständige Christenmensch schon vorher wußte oder hätte wissen sollen“ (Stackmann, Vorstudien, S. 109). In Wernhers Sprüchen finden sich zahlreiche Typen geistlicher Lyrik: Sie pflegen den Gestus des Mahnens und Erinnerns, argumentieren aus der Glaubensgewissheit eines christlichen Kollektivs heraus und verbinden den geistlichen Ratschlag oft mit konkreter Handlungsaufforderung (vgl. Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 50–88). Zur Klage des Ichs über die eigene sündige Existenz (65 [76]) treten die Mahnstrophen über die Vergänglichkeit der Welt (19 [3], 64 [29], vgl. Walther L. 67,8) oder die Warnung vor dem Bann, der den Menschen aus der Glaubensgemeinschaft ausschließt (2 [42]). Im Mittelpunkt von Wernhers geistlicher Lehre steht freilich die Ermahnung, sich schon im Diesseits auf das Jenseits vorzubereiten: Die Sündhaftigkeit des Menschen, die Notwendigkeit von Reue und Buße, das Memento mori und die Erwartung des Jüngsten Gerichts (2 [43], 15 [28], 17 [24], 20 [52], 21 [1], 22 [4], 36 [59], 41 [15]) prägen Wernhers geistliche Didaxe, die bisweilen Züge der Bußpredigt annimmt (Gerdes, Wernher, S. 96). Im Sprechergestus des Predigers fordert Wernher, gestützt auf das Selbstverständnis des Sängers als autoritativen Ratgebers in Angelegenheiten christlicher Ethik, zur Änderung des diesseitigen Lebens und zur Besinnung auf das Jenseits um des Seelenheils willen auf. Das Lob des geistlichen Standes, der den christlichen Laien (zu denen sich das Sänger-Ich zählt) nur Gutes widerfahren lasse (1 [42]), ist vor diesem Horizont zu sehen. Thematisch ist Wernhers Spruchdichtung damit weit weniger vielseitig als die seines Zeitgenossen Reinmar von Zweter (Brunner, Wernher, Sp. 902). „Der religiöse Ernst seiner Dichtung ist überwältigend; von der Diesseitsfreude der höfischen Kultur findet sich nichts in ihr“ (Heinzle, Wandlungen, S. 19). Zu zeitgeschichtlichen, weltlichen und geistlichen Strophen Wernhers treten mehrere Sprüche, in denen das Sänger-Ich die Existenz des fahrenden Dichters, das Verhältnis zu Gönner und Publikum und sein Selbstverständnis als Ratgeber, Lehrer und Schiedsrichter thematisiert (Gerdes, Wernher, S. 144–166). Mehrere Sängerklagen handeln vom glück- und freudlosen Los des Fahrenden (14 [50]), vom Unverständnis des Publikums (8 [45]), von mangelnder Entlohnung (55 [71]) und unehrenhaften Gönnern (42 [62]), von großspurigen Dichterkollegen (7 [23]) sowie vom eigenen Singen, das noch lange nicht am Ende sei (zu 44 [11] vgl. Walther L. 66,21). Im Mittelpunkt steht die Selbstinszenierung als Ratgeber und Lehrer (hierzu Heinzle, Wand-

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lungen, S. 98  f.), der je nach Verdienst Lob und Tadel zu verteilen wisse (52 [69], 54 [70], 68 [38]). Das Sänger-Ich präsentiert sich als maßgebliche moralisch-ethische Instanz, die aufgrund ihrer Erfahrung und Lebensweisheit zum Ansehen des Hofs beiträgt (58 [21], 52 [69]) und mit christlich fundierten Lehren und Ratschlägen Orientierung für die Lebensführung geben kann (2 [43], 24 [6], 25 [16]). Es obliegt dem Sänger-Ich, vom Standpunkt christlicher Tugendlehre aus zu raten und zu mahnen, zu urteilen und zu richten. Wernhers Leitthema, das Verhältnis von Diesseits und Jenseits, wirkt auch hier nach: In 75 [40] kommt das Sänger-Ich zur Einsicht, dass weltliches Singen keinen Lohn bringe, und wendet sich der religiösen Dichtung zu, um sich auf das Jenseits vorzubereiten. Wernhers Sprüche partizipieren an den Themen und Motiven insbesondere der zeitgenössischen Sangspruchdichtung (vgl. das Register bei Zck., S. 699) sowie der laikalen Lehrdichtung (insb. Freidank und Stricker). Von besonderem, auch sprachlich-stilistischem Einfluss war Walthers Spruchdichtung, auch wenn nicht alle der von Schönbach und Zck. notierten Similien eindeutige intertextuelle Bezüge darstellen. Wie souverän sich Wernher aus dem Motivinventar der Sangspruchdichtung bedient, zeigt etwa die Hausbaumetaphorik, die er, womöglich von Walther inspiriert, mehrfach aufgreift (14 [50], 37 [7], 42 [62]), oder das Motiv des Glücksrads (23,9 [10], 39,11 [61]), das etwa auch Gottfried von Straßburg MFMT XXIII.I,2, Reinmar von Zweter Roe. 91 und später Sigeher Brt. 7 ausgestalten. Stilistisch hat man die Bildhaftigkeit und Anschaulichkeit von Wernhers Lyrik hervorgehoben (Gerdes, Wernher, S. 15; Zck., S. 20). Sein Bemühen, abstrakte Zusammenhänge durch alltagsnahe Bilder zu vermitteln und mnemonisch zu verfestigen, zeigt sich etwa in den sentenzhaften Einleitungen vieler Sprüche, in gelegentlichen narrativen Einschüben, die der Veranschaulichung dienen (26 [8], 27 [14], 28 [5], 48 [65]), oder in der Verwendung von bîspel (15 [28], 37 [7], 42 [62], 43 [63], 60 [73], 69 [35]) und Gleichnissen, die einen konkreten Sachverhalt ins Allgemeine heben. Immer wieder weitet Wernher das Loben, Tadeln, Mahnen und Belehren ins Exemplarische, um zu zeigen, „wie der Mensch sein Leben einzurichten habe, um den sittlichen Forderungen zu genügen“ (Gerdes, Wernher, S. 30). Nachleben In der nachfolgenden Literatur findet Wernher kaum Widerhall (vgl. die Zusammenstellung der Rezeptionszeugnisse bei Zck., S.  22–26): Robin erwähnt ihn in seiner Totenklage (HMS III,6,2) neben Reinmar (dem Alten? von Zweter?), Walther, Stolle und Neidhart. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts nennt ihn Lupold Hornburg in seinem dreistrophigen Lied ‚Von allen Singern‘ (Cramer II, I) unter zwölf meistern, zumeist Sangspruchdichtern. Auch in den Dichterkatalogen von Konrad Nachtigall (1459/1482) und Valentin Voigt (1558) wird Wernher genannt. Von den Meistersingern wurde er jedoch nicht rezipiert, und er zählte auch nicht zu den Zwölf alten Meistern (Brunner, Wernher, Sp. 902).



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Ausg. Brt.; Cramer; Freidank; HMS; MFMT; Nolte/Schupp (Hg.), Sangspruchdichtung; Roe.; Schönbach (Hg.), Sprüche Wernhers; Spechtler (Hg.), Überlieferung Wernhers; Sps.; Zck. – Lit. Brunner, Alte Meister; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Rezension; Brunner, Töne Wernhers; Brunner, Verkürztes Denken; Brunner, Wernher; Cammarota, Contesto; Doerks, Wernher; Dorninger, Notizen; Edwards, Rezeption; Gade, Anleitung; Gerdes, Wernher; Händl, Wernher; Heinzle, Wandlungen; Hohmann, S., Friedenskonzepte; Kemetmüller, Glossar; Kern, P., BîspelSpruch; Kern, P., Entaktualisierung; Klein, K., Verbleib; Knapp, Herrschaftsideale; Knapp, Literatur I; Kornrumpf, Grundstock; Lamey, Wernher; Lauer, C., Sänger-Rollen; Meyer, K., Untersuchungen; Müller, U., Untersuchungen; Rettelbach, Bauformen; Rettelbach, Variation; Rosmer, Tradition; RSM; Spechtler, Strophen; Spechtler/Waechter, Psalmodie; Stackmann, Vorstudien; Strasser, Herrenlehre; Vetter, Sprüche; Wisniewski, Kreuzzugsdichtung.

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Martin Schubert

Reinmar von Zweter gilt als einer der wichtigsten Sangspruchdichter zwischen Walther von der Vogelweide und Frauenlob. Zu seiner Bedeutung tragen bei: ein umfangreiches, vielgestaltiges Duvre mit zahlreichen Sangspruchstrophen und einem Leich, eine intensive Rezeption durch die Zeitgenossen sowie eine ausführliche Nachwirkung bis ins Spätmittelalter. Reinmars bekanntester Ton, der Frau-Ehren-Ton (RSM 1 ReiZw/1), wird bereits im 13. Jahrhundert für Nachdichtungen aufgegriffen und bleibt bis zu den Meistersingern beliebt (s. Brunner, Reinmar von Zweter; Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 710–712). Chronologisch ist Reinmar als späterer Zeitgenosse Walthers einzuordnen. Datierungsversuche zu seinen politischen Strophen treffen auf die 1220er bis 1240er Jahre. In Lob- und einigen Scheltstrophen sind verschiedene Personen benannt (s.  u.); er dürfte sich jedenfalls am böhmischen Hof aufgehalten haben (Roe. 149  f.). Die Herkunft des Beinamens „Zweter“ ist nicht befriedigend geklärt; lautlich wäre am ehesten an eine Abwandlung des Namens des österreichischen Zwettl zu denken. Versuche, die Biographie des Autors zu rekonstruieren, ranken sich um die in Roe. 150 genannten Stationen von Rîne, Ôsterrîch und Bêheim. Die erhaltene Überlieferung ist außergewöhnlich umfangreich; sie bietet ReinmarStrophen in verschiedensten Überlieferungs- und Gebrauchskontexten und belegt eine weite regionale Streuung. Während die frühe Überlieferung oberdeutsch ist, liegt der Schwerpunkt späterer Zeugnisse im mitteldeutschen Bereich; sie greifen bis ins Niederdeutsche aus (Bonner Fragment: Berlin, SBB-PK, Hs. 401; Maastrichter Fragment: Maastricht, Regionaal Historisch Centrum Limburg, Ms. 237 [früher 167 III.11]). Korpusgebundene Überlieferung Ein besonderes Merkmal dieser Tradierung ist die geschlossene Korpusüberlieferung in einer wahrscheinlich bereits zu Lebzeiten des Autors in seiner Nähe entstande-

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nen Sammlung, welche die Texte in eine inhaltliche Ordnung bringt. Es handelt sich dabei, neben der Gruppe von Handschriften um die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J, um die einzige auf Sangsprüche spezialisierte Sammlung der Zeit vor 1350; als Korpusüberlieferung eines Sangspruchautors der Zeit ist sie ein Unikum (Schubert, M. J., Verschriftlichung). Diese vor allem im mitteldeutschen Raum überlieferte Sammlung bildet den Kern des Heidelberger Sammelcodex Cpg 350 (Sigle D); ihre Benutzung ist auch in anderen Handschriften nachzuweisen, so in den Schönrainer Fragmenten (T, siehe Schanze, Schönrainer Hs.; Schanze, Schelte) oder den Reinmar-Fragmenten U und V (Berlin, SBB-PK, Mgf 923 Nr. 19 und Halle/Saale, UB u. LB, Yg 4o 69) und in zwei der zahlreichen Vorlagen, welche die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C ausgewertet hat (Heidelberg, UB, Cpg 848). In den Handschriften wird Reinmar neben dem bevorzugt genutzten Frau-EhrenTon (193 Strophen in D) auch die Neue Ehrenweise zugeschrieben (RSM 1ReiZw/2; 22 Strophen in D). In Gustav Roethes Ausgabe von 1887 findet sich der Ton als ‚Minnenton‘, der mittelalterliche Name in der nuwen eren wise wurde erst später in einer Beischrift der Sammelhandschrift des Rudolf Losse entdeckt (Kassel, UB/LB u. Murhardsche Bibl., 2o Ms. iurid. 25, um 1330; siehe Stengel/Vogt [Hg.], Zwölf Minnelieder und Reimreden). Die Neue Ehrenweise ist fast ausschließlich mitteldeutsch überliefert; ihre Tradierung scheint zur Mitte des 14. Jahrhunderts abzubrechen. Das Wissen, dass dieser Ton dem Reinmar-Korpus zuzurechnen sei, war nach Ausweis der Zuordnungen in den Handschriften bis zu dieser Zeit recht stabil. Die Beischrift bei Losse nennt den Autor Reymarus cecus dux nacione; was mit einem „blinden Führer durch die Nation“ gemeint sei, bleibt allerdings undeutlich. Das Profil der Korpussammlung  – und damit das Profil des Autors Reinmar  – ändert sich leicht danach, welchen Kern der Sammelhandschrift D man als ursprüngliche Sammlung isoliert. Roethe ging in seiner Reinmar-Ausgabe von einer gut geordneten Kernsammlung X aus, die zu Reinmars Lebzeiten entstanden sei (D 1–159 = Roe. 1–157, 161  f.), und von einer Erweiterung durch minder geordnete Nachträge zur Sammlung Y nach dessen Tod (D 1–193 = Roe. 1–193). Allerdings ist das Phänomen der im Verlauf nachlassenden Ordnung ein geradezu klassisches Merkmal von Sammelhandschriften und sollte, trotz der investierten Ordnungsleistung und gerade angesichts des divergenten Materials, nicht überbeansprucht werden. Es ist durchaus gerechtfertigt, auch in den in D anschließenden Sprüchen Roe. 261–282 einen Bestandteil der Ursammlung D 1–215 zu sehen, womit auch die durch neuere Zeugnisse Reinmar zugewiesene Neue Ehrenweise mit zur Korpussammlung zu zählen wäre. Die Korpussammlung zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur in gekonnter Weise die Themen anordnet, sondern auch andeutet, dass sie vornehmlich nach literarischem Aspekt zusammengestellt ist: In ihrer Anlage stehen etwa Strophen unterschiedlichster politischer Stoßrichtung direkt nebeneinander; für propagandistische Zwecke wäre sie somit gänzlich unbrauchbar. Die inhaltlichen Abschnitte behandeln in dieser Folge: Trinität, Maria, Minnedidaxe, Tugendlehre, Kurie und Klerus; Kaiser und Fürst; Situation des Sängers; unterhaltende, sprachspielerische und scherzhafte



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Strophen; Neue Ehrenweise. Die Darstellung des Duvres folgt hier dem Korpus und seiner Ordnung. 1. Trinität (Roe. 1–13). Der Abschnitt enthält neben knappen Zusammenfassungen von Heilswahrheiten (Roe. 1–4) gebetsartige Strophen (vor allem Roe. 6–7, Roe. 10–12 und die den Abschnitt beschließende ‚Paternoster‘-Paraphrase Roe. 13). Bei der Erläuterung der Heilswahrheiten wird auf allgemeinverständliche Formulierungen Wert gelegt. 2. Maria (Roe. 14–22). Auch hier stehen beschreibende Strophen, vornehmlich zu Gründen des Marienlobs, zu Inkarnation und jungfräulicher Geburt (Roe. 14, 16  f.), sowie Gebetsstrophen (Roe. 18, 21 und, am Schluss, eine ‚Ave Maria‘-Paraphrase Roe. 22). Zwei Strophen (Roe. 19  f.) übertragen die Topik des höfischen Minnediskurses auf das Verhältnis des Christen zu Maria. Durchgängiges Thema ist das Marienlob, das in Anreden an die Allgemeinheit (Roe. 14, 16  f.), an die Gottesmutter selbst (Roe. 18, 21  f.) oder an den Erzengel Gabriel (Roe. 15) formuliert wird. 3. Minnedidaxe (Roe. 23–55). Die Strophen beschäftigen sich überwiegend mit allgemeinen Themen wie Lob der Minne, Lob der Frauen, Belehrung der Frauen (mehrheitlich in Form von Tugendlisten) und Belehrung der Männer (nur in Roe. 51  f.). Bereits die einleitende Strophe Roe. 23 vertritt ein Konzept kritischer Minnedidaktik, die sich gegen verfehlte Konzepte von Minne wendet, welche zur Untugend reizen, und beißend ironisches Spottlob nutzt. Eine Reihe Strophen (Roe. 24–29) inszeniert persönliche Betroffenheit; Redeweise und Motivik entsprechen hier dem Minnesang. Diese als liedhafte Einheit, gewissermaßen als „Lied im Sangspruchton“ einzustufen (Peil, Wîbes minne, S. 188), dürfte den lockeren Zusammenhang und die disparate Verwendung ähnlicher Motivik innerhalb der Strophen überstrapazieren (vgl. Egidi, Liebe, S. 51  f.). Die Strophen persönlicher Betroffenheit sind im Kontext durch eindeutig minnedidaktische Strophen gerahmt und dadurch in die Sangspruchsammlung integriert. Gerade die außenstehenden Strophen (Roe. 23, 52–55) teilen die direkte Kritik an Verfehlungen der Minne und beeinflussen so die Wahrnehmung der übrigen Strophen, wenn der Abschnitt der Sammlung als Einheit rezipiert wird. 4. Ein etwas offen als ‚Tugendlehre‘ zu bezeichnender Abschnitt (Roe. 56–124) enthält in deutlich loserer Folge Strophen über diverse Themen (wie Glaube, Ehe, Ritterwesen) sowie mehrfach Religionsdidaxe, also eine bunte Mischung allgemeiner didaktischer Hinwendungen zu einem vielfältig interessierten Publikum. Der offene Begriff ‚Tugendlehre‘, unter dem sich große Teile des Sangspruchs subsumieren ließen, weist auf die hier weniger zwingende Anordnung hin: In diesem Teil sind jene didaktischen Strophen erfasst, die nicht in den monothematischen Abschnitten stehen. Die einleitenden Strophen des Abschnitts wenden sich explizit an „Herren“ (Roe. 56–60, 68) und speisen sich vor allem aus dem Konnotationsraum von Herrschaft und Beherrschtheit; eine Reihe von ihnen sind „Begriffsstrophen“ (Huber, C., Wort, S. 52), die Explikationen zentraler Begriffe wie êre, edele, milte versuchen (Roe. 71–82, 116–121). Die Strophen zur êre, in denen etwa die Ungastlichkeit der Menschen gegenüber der personifizierten Frau Ehre beklagt wird (Roe. 71  f.), wurden wohl für

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wichtig angesehen, was sich in der Benennung des Frau-Ehren-Tons spiegelt. Des weiteren werden Besitz, das Verhältnis des inneren und äußeren Menschen, Glaube, Ehe, Spiel und Trunkenheit behandelt; weitere kleinere Gruppen verbinden diverse Themen (muot, Wankelmut, Glück, Macht der Zunge, Lob des Mittelwegs, der allegorische ‚Ideale Mann‘ Roe. 99  f. u. v. m.). 5. Kurie und Klerus (Roe. 125–135). Der Abschnitt enthält überwiegend Kritik an Papst und Kurie (Roe. 125–127, 130–132, 135), aber auch allgemein an der Geistlichkeit (Roe. 129). Die letzte Strophe führt eine Attacke gegen den als „Peter Hügel“ angesprochenen Gregor IX. (Ugolino; Roe. 135,7), der geldgierig sei und dem Reich nicht helfe. Den Strophen gemeinsam ist, dass das päpstliche Amt und die päpstliche Macht nicht als negativ dargestellt werden, sondern dass die Unwürdigkeit des derzeitigen Amtsinhabers als das Amt schädigend bezeichnet wird. Außergewöhnlich sind zwei Antichrist-Strophen (Roe. 133  f.), die das Kommen des Antichrists und damit das Welt­ ende beschreien. Sie reihen sich nur lose durch den Verweis, Reich und Priestertum seien nun käuflich (Roe. 134,11  f.), in den Abschnitt ein. 6. Kaiser, Fürst und Hof (Roe. 136–149). Kern der Gruppe sind an den Kaiser, Friedrich  II., gewandte Strophen, welche die Möglichkeiten gelungener Herrschaft erläutern oder ihr Misslingen verdammen. Hier stehen Herrscherpreis und Herrscherschelte, besonnene Abwägung und ätzende Polemik dicht beieinander: neben Lobstrophen auf den Kaiser (Roe. 137  f., 140) etwa die wüste antikaiserliche Strophe Roe. 143, die als Gebetsstrophe beginnt und in der letzten Zeile Friedrich krass attackiert, an einer Position, an der eigentlich mit der Nennung des Antichrists zu rechnen wäre. Ein Bestandteil des Abschnitts sind analog gebaute Preisstrophen auf verschiedene Herrscher, die erst am Ende den Namen des Gelobten enthüllen; sie richten sich an Friedrich (Roe. 136), aber auch an König Erich IV. von Dänemark (Roe. 148) und den böhmischen König, also Wenzel  I. (Roe. 149). Loser angeschlossen sind etwa eine Strophe über unbotmäßige Knappen (Roe. 139), eine allgemein gehaltene Strophe über Lobwürdigkeit (Roe. 144) oder die – allerdings an den Kaiser adressierten – Warnungen vor der Verstellung der Geistlichkeit (Roe. 141  f.). Die vermischten Stellungnahmen und zumal die vermutete Abwendung von Friedrich II. als einem wichtigen Adressaten hat seit Roethe immer wieder zu Versuchen geführt, die Meinungs- und Loyalitätswechsel des Autors zu motivieren. Es lohnt der Hinweis, dass die ganz überwiegende Zahl der Strophen zu den verschiedenen Passagen der böhmischen Politik und Propaganda passt, zu der sowohl eine Abwendung vom Stauferkaiser als auch die Protektion Erichs IV. zählte. Die Strophen könnten also durchaus zu dem in Roe. 150 behaupteten Aufenthalt beim König von Böhmen gehören. 7. Situation des Künstlers am Hof (Roe. 150–157). Eine Strophenreihe, die Roethe aufgrund mangelnder Abschnittsgliederung der Handschrift und aufgrund der Lokalisierung Bêheim in Roe. 150 mit zum vorigen Abschnitt gerechnet hatte, behandelt die Position des Dichters am Hof. Den Übergang bildet Roe. 150, eine Klage über das Publikum, aus dem nur der böhmische König positiv heraussticht. In dieser Strophe, die aufgrund der oben genannten Regionen in der Forschung überwiegend als Stich-



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wortgeber für die Rekonstruktion der Künstlerbiographie benutzt wurde, liegt also eine Scharnierstelle vor zwischen Strophen zur Situation des Hofes und der Situation des Dichters. Die folgenden Strophen sind insgesamt als Stellungnahme gegen gesellschaftliches Fehlverhalten gestaltet: sie enthalten Kritik an Verleumdung, Lüge und Schmeichelei (Roe. 151, 154  f., 157) sowie Attacken gegen Feigheit (Roe. 152  f., 155); in mehreren begegnet die topische Klage über zu geringe Beachtung (Roe. 150, 152, 154, 156). Herausgestellt wird die Person des Sangspruchdichters (Roe. 150–152, 155  f.); einige Strophen sind als subjektiv markiert (Roe. 154, 157). 8. Unterhaltende, sprachspielerische und scherzhafte Strophen im Ehrenton bilden den Teil, den Roethe nicht mehr zur Sammlung X zählte (D 160–193; Roe. 158–160, 163–186, 188–193). Dieser Abschnitt ist im Wesentlichen nicht thematisch gebunden, sondern enthält neben allgemeiner Didaxe vor allem besondere Strophentypen; so Rätsel (Roe. 186, 188), Scherzfrage (Roe. 158) und Lügenstrophen (Roe. 159  f.), Merkstrophen (Roe. 164  f., 192; z.  B. zum Recht Roe. 168, 182), bîspel-artige Strophen, die von einer exemplarischen Erzählung ausgehen und die Didaxe auf eine übertragene Bedeutungsebene gründen (Roe. 170  f., 178  f., 181, 189, 193), sowie die durch Wortwiederholungen und Adnominatio geprägten Sprachspiele (Roe. 166, 169, 172–174, 176  f., 184). Zum spielerischen Umgang dieser Texte gehört es auch, Strophentypen durch eine jokose Füllung ad absurdum zu führen (wie das scheinbare Rätsel in Roe. 158). In diesem Teil fällt als Strophe mit Zeitbezug ein Lob auf Siegfried III. von Eppstein, Erzbischof von Mainz (Roe. 185), auf. Ihr Vorhandensein wurde bezüglich der Dichterbiographie als Hinweis auf einen Aufenthalt in Mainz gedeutet. 9. Die Strophen in der Neuen Ehrenweise (D 194–215; Roe. 261–282) bilden einen Ausschnitt aus den im Ehrenton genutzten Thematiken. Hier finden sich wiederum Strophen zur Tugendlehre (Roe. 261–267), darunter Begriffsstrophen zur êre (Roe. 261– 263), weiter Strophen zur Minne (Roe. 268–278), allgemeinere Didaxe sowie Strophen zur Situation des Sangspruchdichters (Roe. 279–282). Damit ist die Übersicht über den durch die Korpusüberlieferung gestützten Bestand abgeschlossen. Zwei kurze, liedähnliche Töne im hinteren Teil der Handschrift D (Roe. 330–339; D 216–225) sind außer durch die Zusammenstellung in der weitgehend nach Autorprinzip organisierten Handschrift nicht dem Duvre zugeordnet; in der Handschrift sind sie aber Bestandteil eines Abschnitts, der deutlich als Sammelnachtrag vermischter Anonyma zu erkennen ist. Diese minnedidaktischen Strophen weisen wenig Berührungen zu den Inhalten der Korpusüberlieferung auf und werden eher aus Verlegenheit bei Reinmars Werken mitgeführt (vgl. Roe., S. 132). Nicht korpusgebundene Überlieferung Die weitere Überlieferung bietet vor allem zahlreiche Fragmente, die auf eine weite Verbreitung insbesondere des Frau-Ehren-Tons deuten; seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts enthält die Überlieferung auch Namensnennungen. Außerdem wird das

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Gattungs- und Tonspektrum ergänzt: Das Korpus in C enthält einleitend den Leich und abschließend als Nachtrag zwei nur hier überlieferte Strophen im (von Roethe so benannten) Meister-Ernst-Ton (Roe. 253  f.), die Lasterrüge und Minneerläuterung enthalten. Die Handschrift r (Zürich, Zentralbibl., Ms. Z XI 302, ca. 1300) führt in einer kleinen, nachgetragenen Sammlung unter dem Namen Der von Zweter einen weiteren Ton mit zwei minnedidaktischen Strophen (Roe. 340  f.), bei dem nicht nachzuweisen ist, ob er noch aus dem 13. Jahrhundert stammt. Vor allem bietet die Überlieferung weitere Strophen im Frau-Ehren-Ton, die thematisch und motivisch denen der Korpusüberlieferung ähneln. Die Zuordnungen sind dabei jeweils debattierbar. So birgt der ausschließlich im Anhang von D überlieferte ‚Kurfürstenspruch‘ (Roe. 240), der unter sieben Kurfürsten den böhmischen König nennt, wenig Überraschungen, wenn man ihn als späte Nachdichtung in Reinmars Ton ansieht. Ordnet man ihn dagegen – wie Roethe und mehrere spätere Interpreten – Reinmar zu, dann wird er ein Frühbeleg für die Zusammensetzung des Kurfürstenkollegiums; die Entwicklungen der Königswahl müssten dann aufgrund dieses einzelnen Zeugnisses neu datiert werden (s. Thomas, H., Wenzel I.; Erkens, Kurfürsten). Die meisten Plusstrophen gegenüber D enthält Handschrift C (Roe. 187, 194–239). Dazu gehören Sprüche mit Zeitbezug: Ein Lobspruch auf Markgraf Heinrich den Erlauchten von Meißen (Roe. 227), der seit 1244 Schwiegersohn Wenzels I. von Böhmen war, könnte zur böhmischen Periode Reinmars zählen. Ein weiterer Lobspruch auf den Mainzer Erzbischof Siegfried III. von Eppstein (Roe. 228) schließt an Roe. 185 an (s.  o.); allerdings steht daneben auch eine Strophe, die den Mainzer und den Kölner Erzbischof schilt (Roe. 224). Die Attacke richtet sich offenbar gegen die Bemühungen Siegfrieds und des Kölners Konrad von Hochstaden, die von 1241 bis zu Siegfrieds Tod 1249 gegen den Kaiser verbündet waren. In Hinsicht auf Siegfried wäre also wie im Fall Friedrichs II. von einer wechselnden Parteinahme oder von geänderten Rahmenbedingungen der Hofpropaganda auszugehen. Eine über zwei Strophen gestreckte Erläuterung der Zweischwerterlehre (Roe. 213  f.) ist ein interessantes Beispiel politischer Didaxe; allein aus seinem Inhalt ist das Strophenpaar aber keinem historischen Bezugspunkt zuzuordnen. Außergewöhnlich ist weiter eine über fünf Strophen (Roe. 235–239) gestreckte Deutung des Namens MARIA, die ihn als Akronym lateinischer Wörter ausführt (Mediatrix, Auxiliatrix usw.). Der fünfstrophige Verbund, gewissermaßen eine ausgereifte Barform, wäre für Reinmars Zeit ganz außergewöhnlich; er ergibt sich aber zwingend aus der strophenweisen Erläuterung der Einzelbuchstaben und wäre angesichts der anderen mehrstrophigen Verbindungen im engeren Duvre (Roe. 8  f., 44  f., 99  f., 141  f., vgl. Roe. 213  f.) somit nicht unmöglich (anders Brunner, s. oben → Kapitel VI.2, mit Verweis auf Roe., S. 120–122). Ausmaß und Prägung dieser nicht korpusgebundenen Überlieferung sind in der Edition Roethes erkennbar, die bis zur Mitte des 14.  Jahrhunderts insgesamt 254 Ehrentonstrophen aufführt. Seither sind nur wenige Strophen hinzugekommen (RSM 1ReiZw/1/247–258). Dazu gehört im Fragment T eine wütende Philippika gegen Homosexualität, die ein von einem „unedlen Edlen“ eingeführtes buch von Pulle, also



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aus Apulien, propagiert (RSM 1ReiZw/1/249; siehe Schanze, Schelte, S. 109–112). Der offenbar intendierte Zeitbezug ist allerdings nicht aufzuschlüsseln. Handschrift C zeigt ein beeindruckendes Autorenporträt, das den Dichter in nachsinnender Haltung auf einem thronähnlichen Sitz zeigt; zwei Personen sind beschäftigt, das Diktat seiner reichen Inspiration mitzuschreiben. Die an spätantike und mittelalterliche Heiligendarstellungen (Gregor der Große, Hieronymus) angelehnte Wiedergabe bringt die verehrungswürdige Fülle der Eingebung ins Bild und nähert den Abgebildeten den herausragenden Vertretern christlicher Schriftlichkeit an. Nur in C wird der mehrfach überlieferte Leich mit Reinmars Namen verbunden. Für Reinmars Autorschaft sprechen nicht nur die Analogien einer aus Leich-Zitaten kombinierten Frau-Ehren-Ton-Strophe (Roe. 217), sondern auch die inhaltliche Entsprechung zur Strophe Roe. 1. Der Leich ist ebenfalls breit überliefert, mit bislang acht Überlieferungszeugen, zu denen eine Melodieüberlieferung in der ‚Wiener Leichhandschrift‘ gehört (Wien, ÖNB, Cod. 2701). Ein zusätzliches Formzeugnis – mit mehreren Musikhandschriften – bietet der lateinische Conductus ‚O amor deus deitas‘, in weiteren acht Zeugen belegt, der im Verhältnis der Kontrafaktur zu Reinmars Leich steht, wobei der Leich primär sein dürfte (vgl. Schubert, M. J., Form). Thema des Leichs ist, wie im Frau-Ehren-Ton Roe. 1, der Sieg der Minne über Gott und die Fürsprache der Barmunge als Auslöser des Heilsratschlusses, die Menschheit zu erlösen. Die Minne steht für das Konzept der caritas der geistlichen Literatur: die durch Christus den Menschen mitgeteilte Liebe Gottes als Voraussetzung ihrer Liebe zu Gott und zueinander, damit als wirknotwendige Voraussetzung des Heilsratschlusses und also des Erlösungswerks. Über die Thematik, über einige Wortneuschöpfungen und auffällige Reimbindungen lässt sich eine beachtliche Nachwirkung des Leichs aufweisen (etwa auf die ‚Erlösung‘, auf Gundackers von Judenburg ‚Christi Hort‘, auf Lutwins ‚Adam und Eva‘, auf die ‚Geburt Christi‘ von dem Regensburger, wahrscheinlich auch auf die ‚Heilige Regel‘). Formale und diskursive Praktiken In formaler Hinsicht fällt die weitgehende Konzentration Reinmars auf einen Ton auf; er ist gewissermaßen sein Markenzeichen. Die Strophenform des Frau-Ehren-Tons ist formal ausgereift (vgl. Brunner, Formgeschichte, S. 49  f.). Mehrere zweistrophige Spruchgruppen tragen bereits dazu bei, die Einstrophigkeit des Sangspruchs aufzuweichen. Festzustellen ist eine Neigung zur Gattungsmischung (wie bei den genannten minneliedartigen Strophen Roe. 24–29) und zur Subgattungsmischung. So finden sich Minnethematik in religiösen Strophen und religiöse Verweise in Minnestrophen: Verquickt werden religiöse Thematik und höfischer Minnediskurs (Roe. 19  f.), Minneund Ehrendidaxe (Roe. 46  f.), Ehrenthematik und religiöse Strophen (Roe. 76  f.; vgl. Schubert, M. J., Hügeliet). Die Strophen des Reinmar-Korpus sind oft diskursiv aufgebaut. Eine beliebte Überzeugungsstrategie geht von einem allgemeingültigen Satz aus, der auf einen spe-

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zifischen Fall übertragen wird, um die Allgemeingültigkeit zwingend aus diesem Fall abzuleiten (Roe. 125, 130, 137, 141, 146, 148). In den religionsdidaktischen Strophen wird gerne von gemeinsamen Überzeugungen ausgegangen, die affirmativ bestätigt werden. Zu den verwendeten Techniken zählt wiederholt ein dichotomischer Aufbau (Roe. 125, 127) sowie die Hinleitung zu Denkanstößen (Roe. 2, 60, 81, 102, 125, 175). Verwendet wird eine breite Palette literarischer Techniken. Dazu zählt der Einsatz zahlreicher Personifikationen (wie der Frau Ehre, aber auch Milte, Minne, Mut und andere). Auffällig ist die Neigung zum Spiel mit der Sprache: In den genannten Begriffsstrophen geht es nicht vorrangig um Definitionen, sondern um das Ausloten von Facetten der Begriffe (z.  B. Roe. 79–82, 95). Beispielsweise wird êre in Roe. 74 irisierend teils als Abstraktum, teils als Personifikation sowie in verschiedenen Graden der Konkretisierung verwendet. Themenkreise werden geradezu nach grammatikalischen Kategorien gegliedert, wenn etwa Strophen aus der Tugendlehre alternierend auf abstrakte Tugendbegriffe (Roe. 56), Verhalten (Roe. 57) und Eigenschaften (Roe. 58) konzentriert sind. Sprachanalytische und sprachkritische Ausführungen werden, so in Roe. 90 und 122, verbunden (vgl. Huber, C., Wort, S. 74–76). Herausgestellt wird, dass am sprachlichen Verhalten Tugend und Untugend des Sprechers unterschieden werden können (Roe. 173). Wortneuschöpfungen, mit denen Fehlentwicklungen kritisiert werden, wie hovemünch und clôsterritter in Roe. 120, unterstreichen den Anspruch des Sangspruchdichters, die begriffliche Ordnung zu klären und damit die soziale Ordnung wiederherzustellen. Dem gegenüber stehen unernstes Sprachspiel und Verrätselung; häufig werden die Rezipienten irregeführt (Roe. 76, 102, 122, 175), gerne durch die Verwendung von Homonymen (Roe. 44, 47, 56, 60, 75, 119, 138, 177). Scheinbare Paradoxa werden durch übertragene Bedeutungen aufgelöst (Roe. 56, 60, 75, 119, 177). Durchgängig dienen diese Techniken dem didaktischen Anliegen, dem sangspruchtypischen Anspruch auf Belehrung. Geschickt werden dabei geteilte Rezep­ tionsangebote unterbreitet, indem dem Publikum ermöglicht wird, sich von den kritisierten tumben zu distanzieren und somit belehrt, aber nicht betroffen zu sein (z.  B. Roe. 191). Das Publikum verfolgt dann inszenierte Belehrungen, die eine mittelbare Bedeutung für die eigene Lebenswirklichkeit haben. Häufig betont wird die Bedeutung des eigenen Wissensvorsprungs, der meist schlicht vorausgesetzt wird (wie schon im ersten Vers des Korpus, Roe. 1,1: ich weiz wol waz). Berufungen auf andere autoritative Quellen sind selten (wîse alte in Roe. 121, diu schrift in Roe. 164, wîse liute in Roe. 191). Neben der überwiegenden Redeweise des Belehrenden werden in den Strophen viele Rollen eingenommen. Der Sprechende inszeniert sich als Berater des Papstes (Roe. 128), des Kaisers (Roe. 141) und der Fürsten (Roe. 146  f.). Gelegentlich stellt er negativ besetzte Redeweisen vor: diese werden bloßgestellt, wie die eines Pantoffelhelden in Roe. 104, oder noch innerhalb der Strophe kritisiert, wie die eines Spielsüchtigen in Roe. 107. Publizität wird hergestellt, indem der Sprechende in den kurienkritischen Strophen einen ‚Schreimann‘ darstellt, der das begangene Unrecht laut ausruft (Roe. 128, 130). Die eingenommene Rolle kann hier innerhalb der Strophe



Reinmar von Zweter 

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rasch wechseln. Gelegentlich verbirgt sich das sprechende Ich hinter Sentenzen und vermeidet die direkte Konfrontation (Roe. 127  f.) oder flüchtet sich in Ironie (Roe. 23, 126  f., 145). Die innerhalb einer Strophe wechselnden Sprechhaltungen werden offenbar bewusst als Stilmittel eingesetzt. Das Spiel mit Sprechhaltungen und Subgattungen setzt voraus, dass das Publikum ein Bewusstsein der Subgattungen hat und imstande ist, sowohl den Inhalt als auch die literarische Faktur der Strophen zugleich wahrzunehmen. Die Korpussammlung zeigt teils auf nahezu demonstrative Weise, wie gleiche Themen mehrfach verarbeitet werden, wie verschiedene Sprechrollen und Argumentationsschemata durchgespielt werden. Die Uneindeutigkeit selbst der Strophen mit offensichtlichem Zeitbezug, die bei Datierungsversuchen stets im Wege war, dürfte mit den Bedingungen der Aufführung zusammenhängen; sie hat wahrscheinlich System. Selbst die politischen Strophen erweisen sich als wiederverwendbar. Es ist gut möglich, dass die Offenheit für veränderte Gebrauchssituationen, also für Ent- und Umaktualisierungen, den Strophen von vornherein bewusst eingeschrieben war. Der aufführende Sänger hätte demnach sein Repertoire flexibel gestaltet, indem er vielfältige Umnutzungen bereits vorhersah. Ein wichtiger Aspekt des Duvres ist die (bei Roethe gering geachtete) religiöse Thematik. So tauchen in den verschiedenen Abschnitten mehrfach Strophen mit religionsdidaktischen Anliegen auf (Roe. 33, 41, 44  f., 65, 76  f., 85–89 usw.), die zum Teil zunächst verschleiert sind und erst nach mehrfacher Irreführung der Rezipienten klargestellt werden (Roe. 65). In den zahlreichen Gebetsstrophen zeigt sich im das Publikum vereinnahmenden wir ein Stellvertreteranspruch, in dem der Sprechende sich für die christliche Gemeinschaft an Gott, Maria und die Engel wendet. Reli­ gionsdidaktische Merkstrophen werden anhand von Zahlenreihen gegliedert (Roe. 18, 164  f., 192), so wie es in Predigt und religiöser Literatur gebräuchlich ist. Auch in politische Strophen wird Motivik der Apokalypse (Roe. 136) oder die AntichristThematik einbezogen (Roe. 133  f.). Festzuhalten ist weiter das in den Strophen bezeugte besondere Bildungsgut, so sehr frühe Kenntnisse des Thomas von Cantimpré (in Roe. 99  f., 164; vgl. Gerhardt, Idealer Mann); gelehrte Inhalte kommen auch in den Rätseln vor (Tomasek, Rätsel, S. 268). Für den Leich wurden lateinische oder französische Formvorlagen rezipiert (Schubert, M., J., Leichversikel). Die Übersetzungsleistung in den Gebetsübertragungen könnte auf den Verfasser zurückgehen. Auf Lateinkenntnisse deuten zumindest seine Wortneubildungen, die teils Lehnübersetzungen lateinischer Wortformen sind. Aspekte der Rezeption Eine umfangreiche Nachwirkung war Reinmar nicht nur durch die häufige Wiederverwendung seines wichtigsten Tones beschieden, die schon früh eingesetzt haben dürfte. Wohl noch zu Lebzeiten war er Ziel von Polemik, etwa der bislang nicht einheitlich aufgeschlüsselten Attacke als dœnedieb durch den Marner (Wms. 3,3, s.

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Haustein, Marner-Studien, S. 14), die wohl eher Teil einer Kette gezielt vager Anschuldigungen sein dürfte, als dass sie auf einen Verstoß gegen mittelalterliches Urheberrecht deutete. Ebenfalls beim Marner findet sich die wohl erste Nennung Reinmars von Zweter in einem Katalog verstorbener Dichter, denn er nennt zwene reimar (Wms. 6,17,3, s. Haustein, Marner-Studien, S. 195). Dies dürfte auf Reinmar den Alten und Reinmar von Zweter zielen – bei Einzelnennungen (bei Hugo von Trimberg, Rubin) bleibt offen, welcher von beiden gemeint ist. Die Zuordnung ist also problematisch, wenn nicht eindeutig auf Sangspruch oder Minnesang verwiesen wird oder weitere Informationen hinzukommen, wie beim Zitat aus Roe. 35 bei Hermann Damen (Onnes, Herman der Damen, S. 107  f.). Diese Offenheit konnte zu Verwirrung führen, so in der Beischrift zu Lupold Hornburgs Lobgedicht ‚Von allen singern‘ im ‚Hausbuch‘ Michaels de Leone (München, UB, 2° Cod. ms. 731), die das Grab Reinmars von Zweter in Eßfeld in Franken (bei Würzburg) nennt – doch unter einem Korpus, das Strophen Reinmars des Alten enthält. „Reinmar von Zweter“ tritt als einer der sechs Sänger im Fürstenlob des ‚Wartburgkriegs‘ auf; trotz der „chronologischen Unmöglichkeit“ (Rompelman [Hg.], Wartburgkrieg, S. 77), dass er mit Walther und Hermann von Thüringen zugleich agiert, dürfte er zum ursprünglichen Konzept des Werks gehört haben, worauf die vollständige Namensnennung in allen ‚Fürstenlob‘-Handschriften weist. Vielleicht war, jenseits chronologischer Stimmigkeit, sein Bezug zum Hof Heinrichs des Erlauchten von Meißen ursächlich: Dieser könnte der Mäzen des ‚Wartburgkrieg‘-Gedichts gewesen sein (Hal., S. 224  f.); dann wäre es auch schlüssig, dass ein Dichter auftritt, der Heinrich gepriesen hat (Roe. 227). Bei den Meistersingern ist Reinmar von Zweter zur Autorität avanciert. Die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k enthält 33 Ehrentonsprüche, die meist zu drei- und fünfstrophigen Baren verbunden sind. Die Handschrift bietet erstmals seit der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C wieder ein geschlossenes, dem Namen Reinmar zugeordnetes Korpus, wobei, wie in dieser Handschrift üblich, altbezeugte und vermutlich neugedichtete Strophen ununterschieden beieinander stehen. Die 15 altbezeugten Strophen sind in der Minderzahl. In der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ findet sich zudem die erste Melodieüberlieferung zum Ehrenton (ediert in Sps., S. 360–362). Im 15.  Jahrhundert vervielfältigen sich die varianten Namensformen (Reinhart von Zwetzen, von Zcwetschin, von Mörsborgk, Römer von Zwickau usw.). Es kommt zur Anlagerung ganzer Töne, so werden auch Römers Gesangweis (RSM 1Römer/1/1) und Ehrenbotes Spiegelweise und Schallweise (RSM 1Ehrb/1/1 und 2/1) teils Reinmar zugeordnet. Römer von Zwickau und Rember von Bibersee werden heutzutage als separate Autoren behandelt. In der Forschung seit dem 19. Jahrhundert interessierten zunächst vorrangig die politischen Sprüche, da sie Möglichkeiten historischer Zuordnung und Datierung boten. Gustav Roethe, der 1887 die epochale und für die Erforschung der Gattung insgesamt wegweisende Reinmar-Edition vorlegte, deutete den Eintrag der politischen Sprüche in der Sammlung – also der beiden Gruppen zu Papst und Kirche sowie



Der Marner 

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zu Kaiser und Hof – als eine chronologische Reihe, was ihm die Möglichkeit gab, einzelne Sprüche scheinbar auf den Tag genau zu datieren. Nur die Trennung der stark thematisch geordneten Sammlung X (Roe. 1–157, 161  f.) und des weniger ordentlichen in D folgenden Teils gaben Roethe die Möglichkeit, die Sammlung genau auf 1241 zu datieren, weil er nur außerhalb von X Strophen fand, die er nach dieses Datum setzte. Sobald man die – in der Überlieferung nicht vorhandene – Abtrennung von X bezweifelt, wird die Datierung der Sammlung sowie einer Reihe von Einzelstrophen obsolet. Die Zuordnung der politischen Strophen zu verschiedenen Mäzenen und die Hinweise aus Roe. 150 eröffneten die Möglichkeit, eine Künstlerbiographie zu erstellen, die vom österreichischen Hof der Babenberger über den Kaiserhof Friedrichs II. bis zum Böhmerhof führte und nach 1241 zu einem Wanderleben überging, das den Dichter an den Rhein und nach Dänemark schickte. Die Abtrennung der Sammlung X bedingte die Unterscheidung von Früh- und Spätwerk, von höfischem Wesen und lehrhafter Vagantenpoesie, von Sammlung durch den Autor und nachgetragener Ergänzung. Die Skepsis gegenüber diesem bestechenden Konstrukt ist seither übermächtig geworden. Auch wenn die generelle zeitliche Einordnung wenig verändert ist, so sind doch vielfältigere Optionen an die Stelle scheinbarer Sicherheiten getreten. Die umfangreiche Bearbeitung durch Roethe hat die Beschäftigung mit Reinmar für einige Zeit eher abgeschlossen als gefördert; Gegenstimmen arbeiteten sich zunächst vor allem an Roethes biographischen Setzungen ab (Bonjour, Reinmar; Thomas, H., Wenzel I.). Erfreulicherweise hat die erneut belebte Forschung zum Sangspruch dazu geführt, dass die vielfältigen Aspekte des Duvres wieder stärker in den Blick kommen. Ausg. Hal.; Onnes, Herman der Damen; Roe.; Rompelman (Hg.), Wartburgkrieg; Sps.; Stengel/Vogt (Hg.), Zwölf Minnelieder und Reimreden; Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters; Wms.  – Lit. Bonjour, Reinmar; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Reinmar von Zweter; Egidi, Liebe; Erkens, Kurfürsten; Gerhardt, Idealer Mann; Haustein, Marner-Studien; Huber, C., Wort; Peil, Wîbes minne; Schanze, Schelte; Schanze, Schönrainer Hs.; Schubert, M. J., Form; Schubert, M. J., Hügeliet; Schubert, M. J., Leichversikel; Schubert, M. J., Verschriftlichung; Thomas, H., Wenzel I.; Tomasek, Rätsel.

4 Der Marner

Jens Haustein

Leben In einer Strophe Rumelants von Sachsen wird der Marner als der beste diutische singer (Krn. IV,6,1) bezeichnet. Umstritten ist, ob dieses Lob ernsthaft gemeint war oder einen Selbstanspruch des Marners ironisiert (Krn., S. 384  f.). Unstrittig ist hingegen, dass im Verlauf der Strophe dem Schwaben Marner ein eher ungewöhnliches Maß an musikalischer Bildung konzediert wird. An anderer Stelle weist Rumelant (Krn. IV,5) auf die für Sangspruchautoren singuläre Fähigkeit des Marners hin, lateinisch dichten

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zu können, kritisiert aber zugleich seine in hohem Alter entstandenen deutschen Strophen als dræte, was mit ‚vorlaut‘, ‚exaltiert‘, unbedacht‘, ‚überhastet‘ oder ‚übermäßig verziert‘ übersetzt worden ist (Wachinger, Sängerkrieg, S. 166; Haustein, MarnerStudien, S. 45; Ruw., S. 224; Krn., S. 381), ohne dass eigentlich deutlich wird, was Rumelant an Dichtungen des Marners kritisiert haben wollte. Uneingeschränkt gelobt wird der Marner hingegen von Hugo von Trimberg im ‚Renner‘, wenn er meint, dass dieser sogar Dichtern wie Reinmar (von Zweter) oder Konrad von Würzburg überlegen sei (doch rennet in allen der Marner vor, v. 1198). Begründet wird dieses Lob ebenfalls mit einem Hinweis darauf, dass der Marner auch Latein beherrsche, und mit seinem Vermögen, lustic, schœne und süeze dichten zu können (Haustein, Marner-Studien, S. 31–36). Freilich ist der Marner nicht nur gelobt und kritisiert worden, er hat sich auch selbst mit anderen Autoren wie dem Meißner tadelnd oder spöttelnd auseinandergesetzt. Wichtig sind diese von Kollegen stammenden Lob- oder Tadelsprüche nicht nur als Zeugnisse sowohl eines Gattungsbewusstseins wie eines gehobenen Bildungsanspruchs, sondern auch als Verweise auf das Wenige, was wir über die Lebensumstände des Marners wissen. Abgesehen von der schon angesprochenen Hervorhebung seiner sprachlichen wie musikalischen Bildung erfahren wir, dass der Marner aus Schwaben stammt, dass er als alter Mann möglicherweise ermordet wurde und dass dies wohl vor 1287 geschehen sein wird. Anderes, vor allem seine Gönnerverhältnisse, können wir den Marner-Strophen selbst entnehmen: Genannt werden, die Echtheit auch der lateinischen Strophen vorausgesetzt (s.  u.), Heinrich von Zwettl (*L9; 1230/1231), Bruno von Olmütz (um 1255?), Hermann von Henneberg (Wms. 7,4; um 1247?) und der Staufer Konradin (Wms. 7,5; 1266/1267). Überlieferung Als ein im Wesentlichen als authentisch geltendes Œuvre überliefert die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C 81 deutsche Lied- und Spruchstrophen in sieben Tönen (dazu acht Minnelieder) sowie (als Nachtrag) eine lateinische Strophe in Ton 7 (Wachinger, Marner, Sp. 74  f.; Haustein, Marner-Studien, S. 269–277; RSM, Bd. 4, S.  263  f.). Die ‚Basler Rolle‘ (Basel, UB, Cod. N I 6/50) verzeichnet neben neun aus C bekannten Strophen zwei weitere; eine zuvor unbekannte Strophe bietet Cod. 256 der UB Innsbruck; Unsicheres überliefert das ‚Hausbuch‘ des Michael de Leone. Aber auch in der jüngeren Überlieferung könnten alte Marner-Strophen tradiert sein, ohne dass hier Gewissheit zu erreichen wäre. Ton 4 ist Stolles Alment, Ton 5 (überliefert in der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J) gehört Kelin; die Texte stammen hingegen wohl vom Marner. In der ‚Augsburger Cantionessammlung‘ (UB, II.1.2° 10) wird ihm irrtümlich ein weiterer Ton zugewiesen (XVIII), der aber identisch ist mit Meißners Ton XVII. – Aus J kennen wir auch die Melodien zu Ton 4 und 5; die sonstige Melodieüberlieferung stammt erst aus dem Meistergesang (Goldener Ton, Hofton/Kurzer Ton und Langer Ton); mit einer lateinischen Cantio, die in Marners Ton 6 verfasst



Der Marner 

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ist, reicht die Melodieüberlieferung zum Hofton bis ins 14. Jahrhundert zurück (vgl. Kornrumpf, Melodie; vgl. Wachinger, Marner, Sp. 75). – Die Miniatur in C zeigt einen älteren Mann mit Bart und Hut, der am Feuer sitzend aus einem Krug trinkt – wohl ein Hinweis auf die Existenz als Fahrender (s. Wms, S. 386  f.). – Eine detaillierte Analyse der Tonstrukturen bietet Brunner, der dem Marner ein auffälliges Maß an „Rationalität und Artifizialität“ konzediert, mit dem „er sich in Metrik und Melodiestruktur um eine variable, gleichwohl gewissen Prinzipien verpflichtete Gestaltung bemühte“ (Brunner, Formgeschichte, S. 63  f.). Die erhaltenen echten sowie die dem Marner nur zugeschriebenen Melodien sind ediert in Sps., S. 211–233. Themenkreise Im Œuvre des Marners begegnen auffällig viele r e l i g i ö s e S a n g s p r u c h s t r o p h e n . Ton 1 (Zählung nach Wms.) ist ganz durchzogen von der Mahnung vor dem Jüngsten Gericht, auf das hin der Mensch in seiner Gottebenbildlichkeit sein gesamtes Leben ausrichten soll. Gott ist alles bekannt, er selbst bleibt aber für uns ganz unerkennbar in seiner Allmacht. Die Töne 4, 5, 6 und 7 beginnen allesamt jeweils mit einem Marienlob. In Wms. 4,1 wird die Schönheit Marias hervorgehoben; der Sänger wäre gern dort zu Gast, wo die Engel das Lob der Gottesmutter singen und wo tausend Jahre wie ein Tag vergehen. Wms. 5,1 bildet ein anaphorisches Marienlob, das wohl in der Tradition lateinischer oder auch deutscher Hymnen- bzw. Sequenzdichtung steht. Die Strophenform kann man als AABB interpretieren, in der in kunstvoller Form der Bezug der drei Personen der Trinität zu Maria herausgestellt wird (Haustein, Marner-Studien, S. 74–76). Die Strophe Wms. 6,1 greift den schon aus Ton 1 bekannten Unsagbarkeitstopos auf und verbindet ihn mit einem Marienlob. Zudem wird das Inkarnationsgeschehen thematisiert und auf den Sündenfall bezogen: Maria ist der Schutzschild gegen die durch die Erbsünde Evas den Frauen bereitete Schmach. Wms. 7,1 schließlich betont ebenfalls das Sündenthema: Maria, die mit alttestamentlichen ‚Kämpferinnen‘ identifiziert wird (Judith, Esther, Jahel, Abigahel), erscheint im Weiteren der Strophe als helfende Gottesmutter gegen unsere Sündenbeladenheit beim Jüngsten Gericht. Aber auch an anderer Stelle wird Geistliches thematisiert, wobei das Marienlob dominiert, was offenbar auch Rumelant in seiner Nachrufstrophe für das Duvre des Marners hervorgehoben hat (Haustein, Marner-Studien, S. 58  f.). In Wms. 6,9 wird wiederum die besondere Rolle der Gottesmutter für den Sünder beim Jüngsten Gericht betont: nu bis du min geleite. / sit din sun dir niht versagt (v. 5  f.); dieser Vers ist fast wörtlich aufgegriffen in der Strophe Wms. 7,8,8; in Wms. 6,8 wird abermals die Mutterrolle verdeutlicht, hier aber mit einem besonderen Akzent auf dem Inkarnationsgeschehen. In der in ihrer Authentizität bezweifelten Strophe Wms. *4,3 aus dem ‚Hausbuch‘ Michaels de Leone wird ein Gotteslob in Gestalt des ‚Vaterunsers‘ mit einem paraphrasierten ‚Ave Maria‘ verbunden. Der Marner greift mit dieser Verbindung zweier zentraler Gebete in e i n e r Strophe eine Entwicklung auf, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt findet, in der Erwar-

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tung nämlich, dass beim Beten dem ‚Vaterunser‘ unmittelbar das ‚Ave Maria‘ zu folgen habe, eine Erwartung, die insbesondere von den Bettelmönchen vertreten und in die Messe hineingetragen wurde. Mit ihrer imperativischen Struktur bekommt auch die Strophe Wms. 7,6 einen Gebetscharakter, der von dem Gedanken geprägt ist, dass die gedankliche Konzentration auf die Marter Christi den Sünder auf den rechten Weg führen kann: dinen angestlichen tot la niht an uns verlorn sin. / gib, herre, mir der sin rehte in das herze min, / daz ich gelebe also / in dinem dienste hie, daz min der tievel dort iht werde vro. / so wir zesamen komen uf den jungestlichen tag, / da nieman mag / erwenden dinen slag, / da riche nicht (v. 11–18). Ton 6 bietet noch drei Gottesstrophen: Die Wasserspendung in der Wüste nach Ex 17,6 und das Blut- und Wasser-Schwitzen Christi am Kreuz werden in Wms. 6,11 mit der Bitte nach Sündentränen verbunden; der Verstand des Menschen versagt angesichts der Wunder und Geheimnisse auf der Welt und im Kosmos – so Wms. 6,16 und in ähnlicher Weise Wms. 6,3. Dass freilich angesichts materieller Ungerechtigkeiten in dieser Welt auch Kritik selbst an Gott zu Wort kommen kann, macht Strophe Wms. 6,18 deutlich, die übrigens als Nachtrag in die ‚Manessesche Liederhandschrift‘ C eingetragen wurde (innerhalb von Ton 7): Du teilest ungeliche, / lieber herre got, din guͦ t (v. 1  f.); und noch deutlicher: maniger, der ist riche / und hat grossen ubermuͦ t. / lieber vatter, jesus, ist daz guͦ t getan? (v. 5–7). Am Ende kommt es zu einer revocatio: du bist, der da teilen unde wellen sol. / ich wil niemer me gestrafen dich, wan du tuͦ st wol (v. 15  f.). Freilich setzt diese Bereitschaft, die materielle Ungerechtigkeit der Welt doch als gottgegeben zu akzeptieren, nicht die anfängliche Zustandsbeschreibung außer Kraft. Das nicht nur für Sangspruchautoren wichtige Thema Geld wird auch andernorts vom Marner aufgegriffen, an alttestamentliches Erfahrungswissen zurückgebunden (Haustein, Marner-Studien, S. 175  f.) und doch auch gleichzeitig aktuell gehalten: Derjenige, der sein Vermögen verliert, verliert auch Freunde und Verwandte – und nicht nur das: in armen mannes munde ertrinket wize vil. / swer in dem sekel niht enhat, daz ist ein hertes spil (Wms. 6,7,15  f.). We l t l i c h e T h e m e n . Neben Marien- und Gotteslob steht die Pfaffenschelte. In Wms. 6,4 wird die schon in der ‚Kaiserchronik‘ aufgenommene Sage von der ‚Salvatio Romae‘ aus den ‚Mirabilia Romae‘ aufgegriffen. Danach war jedes von Rom unterworfene Land auf einer Tafel mit einem Glöckchen vertreten, das dann läutete, wenn sich das entsprechende Land zum Aufstand gegen Rom erhoben hatte. Selbst wenn man in Deutschland überall Sturm läuten würde, gäbe es keine Hilfe, da die pfaffen fúrsten, gemeint sind wohl die großen geistlichen Fürsten im Reich, ihrer Aufgabe und Funktion nicht gerecht werden. Dies zielt, wie der letzte Vers nahelegt, darauf, dass sie keinen Kaiser wählen (da von lant die herren daz riche kúniges wol embern). Damit könnte auf die kurze Spanne einer königslosen Zeit in den Jahren 1256/1257 (während des Interregnums) angespielt sein. In eine ganz ähnliche Richtung zielt die Strophe Wms. 4,2, die noch deutlicher auch das materielle Streben der geistlichen Fürsten herausstreicht. Daneben wird natürlich auch im Duvre des Marners wie in dem der meisten Sangspruchautoren das Thema Geld im Zusammenhang mit dem Geiz der Wohlha-



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benden angesprochen. Hübsch gestaltet wird es in Strophe Wms. 3,2, in der sich der Marner über die wohlhabenden, modischen und affektierten Rheinbewohner lustig macht und ihren Geiz tadelt, den er auch – und wohl vor allem – gegen die gernden gerichtet sieht: i’n weis ir niender einen, der so milte si, / der den gernden teile mite / von siner gebe (v. 12–14). Eine zwar dualistische, aber doch etwas allgemeinere Perspektive gewinnt das Thema in der Strophe Wms. 5,4. Dort werden die ‚Geizigen‘ zu Gegnern der ‚Freigebigen‘, sie sind also geradezu boshaft-hinterhältig gezeichnet. Die milten werden im Himmel landen, die argen in der Hölle, überhaupt solle der arge möglichst schnell sterben, damit der milte dessen Frau und Besitz bekommen könne. Ebenfalls aus der Perspektive der Fahrenden ist das Motiv in Wms. 7,3 gestaltet: daz muͦ s ich unde maniger klagen, / swar ich der lande var, / daz arges muͦ tes riche zagen [elende Gesellen, die an Böswilligkeit reich sind] / mit schanden sitzent offenbar (v. 6–9); und wiederum wird der Blick auf das ewige Leben gerichtet, nur die Gabe für die Armen wird den Schatz im Jenseits mehren. Noch einen anderen Aspekt gewinnt der Marner dem Thema auf etwas sprunghafte, gleichwohl originelle Weise in Strophe Wms. 6,5 ab: Um den üblen Geruch zu verhindern, werden Leichen einbalsamiert. Aber was machen wir gegen den Geruch des Geizigen (Wachinger, Anmerkungen, S. 77) bzw. des Bösen (Haustein, Marner-Studien, S. 182  f.)? Helfen könnte nur ein guter Ruf (lob). Der Schluss perspektiviert das Problem auf den Gegensatz von Gut und Böse sowie Himmel und Hölle: Gott beschenkt den Gebenden, der Reichtum des bösen Geizigen lässt diesen in der Hölle versinken. Wachinger hat in diesem lob eine Aufgabe an den Sänger und den Anspruch des Marners auf „geistliche Wirkung“ für seine Dichtung gesehen, lebt in ihm der Tote doch auf Erden weiter und seine Seele im Himmel; Haustein hat mehr auf ein dichterisches Lob(lied) als Beitrag zum guten Gedächtnis und damit zur Memoria gezielt, Willms hat diesen Gedanken zurückgewiesen (Wachinger, Anmerkungen, S. 77  f.; Haustein, Marner-Studien, S. 182  f.; WMS., S. 175). Auch die Fabel als gängiges Mittel der Didaxe begegnet im Werk des Marners. In Wms. 6,6 hat er diejenige des Phaedrus von den Fröschen und dem Storch aufgegriffen und auf die Situation des Reiches während des Interregnums hin ausgelegt. Dabei folgen die Aussagen des Abgesangs nicht der Fabel insgesamt; es werden nur einzelne Elemente aufgerufen und verhältnismäßig frei ausgelegt, was methodisch eher an die Allegorese als an eine Fabelauslegung erinnert. In der Strophe Wms. 6,13 wird die Fabel von der Königswahl der Tiere mit der vom Frosch und Ochsen kombiniert. Nicht recht deutlich wird, ob die Strophe mit dem Motiv des ungerechtfertigten Anspruchs der Kröte auf die Herrschaft ebenfalls einen politischen Hintergrund hat oder ob es um den Gegensatz von ere und schande geht. Der Marner greift aber auch jenseits der aus der Antike bekannten Fabeln gern auf Tiermotivik zurück. In Wms. 7,7 geht es am Beispiel des am Ende kastrierten Esels gegen den Meineidigen, in Wms. 7,12 anhand von Beispielen aus einer ‚verkehrten‘ (Tier-)Welt, in der beispielsweise der König der Tiere unters Joch gespannt ist, allgemein um den beklagenswerten Zustand der Gegenwart; in Wms. 7,15 nimmt der Marner die ‚Physiologus‘-Tradition auf und

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legt sie auf die Erlösungstat Christi aus. In Wms. 3,1 verbindet er die Tiermotivik mit einer beliebten Gattung der späteren Spruchdichtung: dem Rätsel. Der Neid, so die Lösung, sleich uf einem bǒm der êrsten megede zuͦ (v. 12), gemeint ist hier die Eva verführende Schlange. Vergleichbar ist die Rätselstrophe Wms. 7,9, deren Lösung die verderbenbringende ‚Zunge‘ ist. Aber auch in einer seiner bekanntesten Strophen (Wms. 3,3) greift der Marner auf Tiermotivik zurück und verbindet sie mit der wohl durch Reinmar von Zweter in die Sangspruchdichtung eingeführten Gattung der Lügendichtung: ein wilder wolf wirt dir ein hunt, / ein gans ein gǒch, ein trappe ein star, / dir spinnet hirz dur dinen munt (v. 7–9). Bekanntlich wirft der Marner in dieser Strophe Reinmar, der ja nahezu ausschließlich nur einen – und wohl von ihm selbst stammenden – Ton benutzt hat, auch vor, dass er ein dœnedieb sei – dieser Vorwurf hat ganz unterschiedliche Erläuterungen gefunden, ohne dass letzte Klarheit erreichbar wäre (s. zuletzt Burkard, Sangspruchdichter, S. 145–155, mit älterer Literatur). Wie eingangs gesagt, haben dem Marner auch eher kritisch gesonnene Kollegen einen lateinischen Bildungshintergrund konzediert, der aber in seiner Sangspruchdichtung allenfalls punktuell greifbar ist, vielleicht im Grunde nur in der Strophe Wms. 6,12: Der Ritter Anteus (in antiker Tradition aber Perseus) konnte mit einer List, indem er nämlich einen kristallenen Schild trug, dem Ungeheuer Gorgo (Medusa) den Kopf abschlagen. Die edlen Fürsten sollen es ihm gleich tun und mit dem Schild der Ehre jedes valsche hǒbet abschlagen. Christoph Gerhardt (Perseus) hat gezeigt, dass der Marner hier auf die im Schulbetrieb benutzten Mythographen zurückgegriffen haben könnte, ohne dass diese als genaue Quelle belegbar wären. Ohnehin ist auch im Bereich der Volkssprache seit Albrechts von Halberstadt Übersetzung mit einer breiteren Kenntnis der Ovidschen ‚Metamorphosen‘ zu rechnen. – Der Traum Nebukadnezars (Dn 2,31–42), beim Marner singulär auf die Situation des Reiches hin ausgelegt, stellt kein gelehrtes Wissen dar, sondern ist in der Sangspruchdichtung breit belegt (Haustein, Marner-Studien, S. 216–218). Sein Wissen über volkssprachige Dichtung auch jenseits der Sangspruchdichtung stellt der Marner in seiner bekannten ‚Publikumsbeschimpfung‘ (Wms. 7,14) aus: Singe ich dien lúten minú liet, / so wil der erste daz, / wie dietrich von berne schiet,  / der ander, wa kúnig ruͦ ther sas usw. (v. 1–4). Der Forschung hat die Strophe zwei Fragen aufgegeben: 1. Wird durch die Strophe die Existenz liedhafter Formen der Heldendichtung vor und neben den Buchepen des 13.  Jahrhunderts belegt? 2. Wird mit den genannten Dichtungen auch das Vortragsrepertoire eines Sangspruchdichters umrissen? Während die Forschung die erste Frage eher zu bejahen geneigt ist, spricht manches dafür, die zweite zu verneinen: Vielleicht geht es eher um den Geltungsanspruch spruchsängerischer Kunst, der einfacheren Themen und Formen der Dichtung verärgert entgegengesetzt wird, als um ein Zur-Schau-Stellen eines ‚gemischten‘ Repertoires. Denn die Tradition, in die sich der Marner gestellt sieht, erhellt aus Strophe Wms. 6,17, die eine Totenklage mit einer literaturhistorischen Selbstbestimmung verbindet:



Der Marner 

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Lebt von der vogelweide noh min meister her walther, der venis, der von rugge, zwene reimar, heinrich der veldeggære, wahsmuͦ t, rubin, nithart! […] lihte vinde ich einen vunt, den si vunden hant, die vor mir sint gewesen. ich muͦ s us ir garten und ir sprúchen bluͦ men lesen.

Die Überlieferung der Marnerschen Strophen im ‚Codex Manesse‘ C hält zwei Auffälligkeiten bereit. Zum einen betrifft dies die drei Strophen Wms. 2,1–3. Thematisiert wird (auch hier) das Verhältnis des Sängers zu seinem Publikum. Der Sänger drängt ermahnend zum Guttun (Str. 1), bietet sich selbst auch bei Differenzen zum Freund an (Str. 2) und ist fähig, geschickt und klug die Grenzen zwischen den Dummen und den anderen zu ziehen (Str. 3). Auffällig ist die Form: Vers 5 bietet einen Anreim, die Verse insgesamt sind reimarm, die Aufgesangsstollen sind mit nur je zwei Versen extrem kurz, und alle Verse kommen ohne Auftakt aus, was beim Marner sonst nur für die acht Minnelieder gilt. Auch die Redaktoren des ‚Codex Manesse‘ müssen trotz der Thematik die formale Parallele zu den Minneliedern gesehen haben: Sie haben sie nämlich unter diese eingereiht, wo sich auch mit dem siebenversigen Lied 8 der nächste formale Verwandte findet (Haustein, Grenzgänger, S. 251–254). Die zweite Auffälligkeit stellt die lateinische Nachtragsstrophe Fundamentum artium (Wms. 7,19) in Marners Langem Ton dar. An der Frage, ob diese Strophe und auch die vier weiteren ihm in der Überlieferung zugewiesenen lateinischen Lieder tatsächlich vom Marner stammen, hat sich eine kleine Forschungskontroverse (Hau­ stein, Marner-Studien, S. 111–123; Kühne, Überlegungen; Haustein, Überlieferung; Wms., S.  18–25) entzündet, die immerhin dazu geführt hat, dass sämtliche Zuweisungen, die in der älteren Literatur unbezweifelt galten, kritisch gesichtet wurden. Wollte man an der Authentizität von 7,19 festhalten, bliebe doch eine für Sangspruchautoren ungewöhnliche Behandlung des Themas der Sieben freien Künste, die sonst gern in den Zusammenhang des meisterlichen Kunstanspruchs gestellt werden, zu konstatieren, was selbstverständlich angängig ist. Nimmt man freilich an, dass die Formidentität einer anonymen Strophe mit Marners Langem Ton nur vom Nachtragsschreiber erkannt worden ist, befindet man sich bereits in der Rezeptionsgeschichte dieses ‚gekrönten‘ Tons, an der bereits früh der Schulmeister von Esslingen und Boppe beteiligt waren und die weit auch in das lateinische Cantionesschaffen hinein reicht. So sind in der ‚Augsburger Cantioneshandschrift‘ (Callsen [Hg.], Augsburger Cantiones-Sammlung) sieben weitere Strophen in Marners Langem Ton überliefert, die zwei Dichtern namens Mersburg bzw. Tilo zugewiesen sind; die dort auch aufgezeichnete Strophe 7,19 ist hingegen ohne Autornamen überliefert. Die vier weiteren lateinischen Lieder, die der Marner verfasst haben könnte, sind jetzt bequem und mit einer Übersetzung bei Wms. (L*9–*12) zugänglich. Dort sind auch weitere deutsche Strophen in Marners Langem Ton (neu-)ediert, so etwa eine Strophe aus dem ‚Haus-

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buch‘ Michaels de Leone über Gebote und Sünden (Wms. *7,20) oder diejenige aus dem Innsbrucker Codex 256 mit ihrem Gotteslob. Die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k bewahrt dann zahlreiche Lieder in Marners Langem Ton mit und ohne alte Strophen; manche davon sind jetzt in der Willmsschen-Ausgabe abgedruckt; eine Übersicht bietet das RSM (s. auch Wachinger, Marner, Sp. 77–79). Der Marner zählt um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 13.  Jahrhunderts womöglich auch wegen seine kompositorischen Schaffens zu den profilierteren Gattungsvertretern; zu seinem Ansehen wird der Ruf der Gelehrsamkeit beigetragen haben, ohne dass diese in seinen deutschen Strophen, die weder thematisch noch stilistisch aus dem Erwartbaren in der späteren Sangspruchdichtung herausfallen, greifbar wird. Denn didaktische Dichtung bedient sich in ihrer Rollenhaftigkeit, ihren Themen und Formen noch weniger literarischer Innovationen als Mittel der Aufmerksamkeitssicherung als andere Gattungen mittelalterlicher Literatur. Nachleben in der meistersingerischen Rezeption Im Meistergesang werden  – mit Melodien und in unterschiedlichem Umfang  – die Töne I (Goldener Ton), VI (Kurzer oder Hofton) und vor allem VII (Langer Ton) rezipiert, der nicht nur früh von anderen Autoren benutzt, sondern im Meistergesang auch zu den vier Gekrönten Tönen gerechnet wurde (Wachinger, Marner, Sp. 77–79). Die Überlieferung in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k weist zahlreiche zu Baren erweiterte alte Strophen auf, deren Zahl die Überlieferung echter Strophen in C womöglich übersteigen könnte. Neben zahlreichen Liedern mit geistlicher Thematik in Ton VII, die weitgehend das Übliche bieten, ragen als Sonderfälle die Überlieferung im ‚Dornsberger Blatt‘ d (Albertus) heraus, die eine der frühesten Erweiterungen einer alten Einzelstrophe zu einem Bar darstellen dürfte (s. Haustein, Marner-Studien, S. 82–84), sowie die der alten Strophe Wms. 6,4 im Kontext der ‚Sibyllenweissagung‘ (Haustein, Marner-Studien, S. 171–173 und Wms., S. 172  f., Edition der Fassung der ‚Niederrheinischen Liederhandschrift‘ N). Neben echten Tönen wurden dem Marner im Meistergesang auch mehrere nicht vom ihm stammende Töne zugeschrieben. Ausg. Callsen [Hg.], Augsburger Cantiones-Sammlung; Hugo von Trimberg, Renner; Krn.; Ruw.; Sps.; Wms. – Lit. Brunner, Formgeschichte; Burkard, Sangspruchdichter; Gerhardt, Perseus; Haustein, Grenzgänger; Haustein, Marner-Studien; Haustein, Überlieferung; Kornrumpf, Melodie; Kühne, Überlegungen; RSM; Wachinger, Anmerkungen; Wachinger, Marner; Wachinger, Sängerkrieg.



Der Tannhäuser 

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5 Der Tannhäuser

Horst Brunner, Dorothea Klein, Leevke Schiwek

Historischer Dichter und Sagenfigur Über die historische Person des Tannhäusers ist so gut wie nichts bekannt. Sicher ist nur, dass er Berufsdichter war und am Hof des letzten Babenberger Herzogs Friedrichs II. des Streitbaren aufgetreten ist. Vermutlich stammte er aus der Gegend um Nürnberg. Welche Gönner der Tannhäuser nach dem Tod des Herzogs 1246 gefunden hat, wissen wir nicht. Zu den im – vermutlich zwischen 1256 und 1266 entstandenen – Leich VI (Sieb. VI) als Tote beklagten Herrschern aus dem Geschlecht der Staufer dürfte er kaum persönliche Beziehungen gehabt haben; fast alle Namen verdanken sich der literarischen Tradition (vgl. Bumke, Mäzene). Ob er unter den noch lebenden Fürsten, die der Leich für ihre abundante milte, triuwe und stæte sowie als Garanten von Friede und Recht preist  – gelistet werden Höfe des Nordens und Ostens sowie Thüringen und Baiern –, Gönner gefunden hat, muss offenbleiben. Mit seinem Leich mochte der Tannhäuser potente Fürsten auf einem Hoftag bzw. Hoffest umworben, vielleicht aber auch das konventionelle Fürstenlob im Sangspruch parodiert haben. (Grundlegend zu Sänger und Werk Wachinger, Tannhäuser; Brunner/Schrenk, Tannhäuser.) Die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C überliefert unter der Autorsignatur Tanhuser sechs Leichs, sieben Lieder und zwölf Sangsprüche in drei Tönen, ein überschaubares Œuvre mithin. Die Aufnahme des Dichters im Kapitel ‚Autorenprofile‘ ist gleichwohl aufgrund seiner professionellen Vielseitigkeit und seines Status als ‚Grenzfall‘ gerechtfertigt. Denn der Tannhäuser hat nicht nur alle drei lyrischen Register gepflegt, sondern als ‚Grenzgänger‘ zwischen den verschiedenen Registern auch Gattungsexperimente unternommen. Er hat Fürstenlob und Gönnerpreis, die traditionell ins Ressort der Sangspruchdichter gehören, in die Großform des Leichs gebracht, hat mit dem Pastourellenleich Sieb. III das Erzählen von der Liebe zum Kern eines elaborierten Liebesgedichts gemacht und damit zugleich den Kunstcharakter des Minnesangs ausgestellt, hat die Grenzen der konventionellen Liedgattungen (Frauenpreis, Minneklage, Kreuzlied) ausgetestet und über Gattungsgrenzen hinweg neue poetische Verfahren (Stichwort ‚Konkretisierung‘) erprobt. Nur ein Lied (Sieb. IX) steht in abweichenden Fassungen auch in zwei späteren Handschriften, und zwei Spruchstrophen sind einem Meisterlied des 15. Jahrhunderts integriert (s.  u.), was beides auf eine begrenzte Rezeption schließen lässt. Dennoch ist der Name Tannhäuser bis heute ein Begriff, da er seit dem späten Mittelalter in Liedern, Dialoggedichten und einer Ballade zur Sagengestalt avancierte (vgl. Tebben, Tannhäuser, S. 7–11). Diese Entwicklung erreichte mit Richard Wagners Oper ‚Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg‘ (1845) ihren Höhepunkt und wirkt durch deren Rezeption bis heute fort. Aus dem 15. Jahrhundert stammen ‚Tannhäuser und Frau Welt‘ sowie ‚Tannhäuser und Venus‘, Dialoggedichte, die eine Figur mit Namen Tannhäuser im Zwiespalt zwischen irdischer Liebeslust und jenseitigem Seelenheil

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zeigen. Die vom 15. bis 17. Jahrhundert in verschiedenen Fassungen verbreitete ‚Tannhäuser-Ballade‘ (vgl. dazu Wachinger, Tannhäuser-Ballade) lehnt sich thematisch an diese beiden kürzeren Texte an und übernimmt den Tannhäuser-Venus-Dialog als zentrales Gestaltungselement, auch wenn ein direkter Überlieferungszusammenhang bisher nicht bewiesen werden konnte. In der Ballade tritt erstmalig der Papst als neue Figur in Erscheinung, dessen Verdikt den reuigen Büßer Tannhäuser verzweifeln und in den Venusberg zurückkehren lässt. Damit bietet schon die Ballade jene Elemente, die später in Dichtungen Ludwig Tiecks und Heinrich Heines bis hin zur Oper Wagners verwendet werden (Haustein, Tannhäuser, mit Literatur). Bis heute prägen sie das Bild, das allgemein mit dem Namen Tannhäuser assoziiert wird. So wird der Zugriff auf die historische Überlieferung, die in der mediävistischen Forschung bislang vergleichsweise wenig beachtet wurde, von der Sage um die Gestalt des Tannhäusers überlagert. Überlieferung Tannhäusers Lyrik ist hauptsächlich in der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C überliefert. Das schmale Œuvre zeichnet sich durch thematische wie stilistische Vielfalt aus, auch spielt es mit lyrischen Formen und intertextuellen Referenzen. Eben dies könnte aber auch dazu geführt haben, dass die Lieder literaturgeschichtlich des ‚Minnesangs Wende‘ zugerechnet wurden und lange unter dem Verdacht mangelnden Innovationspotentials standen (vgl. Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 7–12). Wie in Handschrift C Usus, steht nach der Autorminiatur, die im Falle des Tannhäusers eventuell bereits Anspielungen auf die Sage enthält (vgl. Walther/Siebert [Hg.], Codex Manesse, S. 184), zunächst die Leichdichtung. Die sechs Leichs verbinden Merkmale verschiedener Gattungen, wenn im Leich I Panegyrik mit Minne- und Tanzmotivik und in den Minneleichs Sieb. II und III das Inventar der Minnekanzone mit ‚vagantischen‘ Typen kombiniert wird; auffällig ist in Leich I überdies die durchgängige Doppeldeutigkeit der laudativen Rede. Die Leichs Sieb. IV–VI stellen Kataloge literarischer (Frauen-)Figuren, fremder Länder und berühmter Herrscher und Fürsten in den Mittelpunkt, die jeweils mit Frauen- bzw. Gönnerpreis und/oder mit dem Tanzmotiv zusammengeführt werden. Mit den Tönen Sieb. VII–XI folgt eine Gruppe von Minneliedern. Drei Lieder (Sieb. VII, VIII, XI) verbinden Frauenpreis mit dem Tanzmotiv, die Lieder Sieb. VII und VIII auch mit Natureingang. In den Liedern Sieb. VIII–X präsentiert sich der Ich-Sprecher als Minnediener, der beteuert, alle Forderungen seiner Minnedame erfüllen zu wollen. Diese Forderungen erscheinen jedoch schon durch die Aufzählung in Adynatakatalogen, die mit geographischem und literarischem Wissen renommieren, als maßlos und unerfüllbar – die Lieder erweisen sich so als Minneparodien. Lied Sieb. IX und X verbindet zudem mehrzeilige Refrains, die kontrastierende Funktion haben. Die Töne Sieb. XII, XIV und XVI sind Sangsprüchen gewidmet. Eine Sonderstellung nehmen Lied Sieb. XV, das konventionelle Minnethematik mit einer Reflexion des Sängerdaseins verknüpft, und das Pilger- oder Kreuzlied



Der Tannhäuser 

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Sieb. XIII ein, das die Strapazen einer Seereise thematisiert und dabei zwischen literaler und allegorischer Bedeutungsebene oszilliert. Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J überliefert unter der Überschrift Der tanhvser das sog. Bußlied (Sieb., S. 207–210), in dem sich das Sprecher-Ich als reuiger Sünder inszeniert, der gelobt, Buße zu tun. Ob es einen Bezug zu den Texten in C gibt und ob überhaupt angenommen werden darf, dass es sich um denselben Verfasser handelt, kann nicht eindeutig geklärt werden (zuletzt wurde diese These von Kischkel, Trauer, vertreten). Die Überschrift könnte sich, wie in J durchaus üblich, durchaus auch nur auf den (vermuteten) Tonautor beziehen. Ganz unsicher ist auch die Zuschreibung einer Tischzucht in Reimpaarversen in zwei Handschriften des 15.  Jahrhunderts (Wien, ÖNB, Cod. 2885; Innsbruck, Ferdinandeum, FB 32001). Abgesehen von Lied  IX, ist Sekundärüberlieferung nur für Ton  XII nachgewiesen; unter der Überschrift In don heussers hoff don ist in der 1517/18 von Hans Sachs geschriebenen Berliner Handschrift Mgq 414 ein siebenstrophiges Meisterlied überliefert (Sieb., S. 227–231, RSM 1Tanh/1/500a), dessen erste beiden Strophen aus Tannhäusers Ton XII kompiliert sind. Neben dem im 16./17. Jahrhundert von den Meistersingern verwendeten Hofton, Tannhäusers Ton XII, begegnen im Meistergesang seit dem 15. Jahrhundert noch der unechte Hauptton oder Goldene Ton sowie vereinzelt ein ebenfalls unechter Langer Ton. Melodien sind zu Ton XII, zur in der ‚Kolmarer Handschrift‘ überlieferten Form des Tons IX (Ludeleich), zum ‚Bußlied‘ in J und zum Hauptton/Goldener Ton überliefert (Sps., S. 397–402). Die Sangsprüche (Ton XII, XIV und XVI) Zentrales Thema in Tannhäusers Spruchsang ist die Armut des Fahrenden, die in immer neuen Varianten beklagt wird. In Strophe Sieb. XII,1 beklagt der Ich-Sprecher sein armseliges Leben, indem er in topischer Dichotomie die trostlose Gegenwart mit der Vergangenheit kontrastiert: Wer früher gast wie er war, ist inzwischen wirt, hat also, anders als er, eine gesicherte Existenz. Sieb. XII,2 variiert das Thema der Zeitklage. Bemerkenswert ist nicht nur, dass als ehemalige Heimat Nürnberg genannt wird; das Ich führt seine Heimatlosigkeit auch auf eigenes Fehlverhalten zurück und empfindet darüber Reue: Ich tet vil manegez hie bevor, daz mich nu riuwet sere (v. 5). Das ist ein Novum in der Gattungsgeschichte, bleibt aber auch im Sangspruch des Tannhäusers eine Ausnahme, denn sowohl in Ton XIV als auch in Lied Sieb. XV werden allgemeine Umstände für die missliche Lage des Sprechers verantwortlich gemacht. Einen gänzlich anderen Ansatz zur Darstellung des beschwerlichen Fahrendendaseins wählt Tannhäuser in der Strophe Sieb. XII,3, die einen Hausbau mit personifizierten Mängeln als Helfern, z.  B. den Herren Unrat, Schaffenicht, Seltenreich und Schaden, imaginiert; der Bau mit solchen Helfern scheitert und verdammt den Ich-Sprecher zum weiteren Herumziehen. Vorbild war vielleicht Bruder Wernhers Spruch Zck. 60, der die Allegorie des Hausbaus allerdings für eine Kritik an zeitgenössischer Sitte und

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Moral instrumentalisiert; Personifikationen von Armut und Not lässt auch Süßkind von Trimberg in KLD 56,V,1 auftreten. Auch die sechs Strophen in Ton XIV bieten Fahrendenthematik. Doch nimmt die Parteinahme für die Staufer sowie die Klage über den Tod des Gönners Bezug auf Walther von der Vogelweide, insbesondere auf seine Klage über den Tod Herzog Friedrichs I. von Österreich (L. 19,29) und seine Werbung um die Gunst König Friedrichs II. (L. 28,1). Wie Walther sich hier als Mangel leidender Fahrender inszeniert, der in Aussicht stellt, Minnesang zu betreiben, wenn er nur besser begütert wäre, so imaginiert auch der Tannhäuser, eingeleitet mit Minnesangmotivik, das Besingen eines unbeschwerten Hoflebens. Strophe Sieb. XIV,1 verknüpft das sangspruchspezifische Thema der notorischen Armut der Fahrenden mit einem Treuebekenntnis zur Krone – gemeint ist mit einiger Sicherheit der Staufer Konrad IV. – und, an die Adresse seiner politischen Gegner, dem Vorwurf der Korruption; betont wird also die Prinzipienfestigkeit des Sängers, dem triuwe – Inbegriff der sozialen Ordnung – verpflichtend ist, selbst um den Preis materieller Not. Dies ist nicht nur ein indirekter Appell an den König, den Ich-Sprecher in seinen Dienst zu nehmen; indirekt übt dieser auch Kritik an den Sängerkollegen, die opportunistisch sich jedem andienen. Strophe Sieb. XIV,2 ist die Klage des Sängers über seine unbehauste Situation, die ihn daran hindert, schön zu singen (v. 2: guoter doene). Im Modus des Irrealis beschwört er ein ganz anderes Leben als wehmütige Erinnerung und Wunsch für die Zukunft: das Singen von Frauenpreis (v. 4), Natur-, Sommer- und Tanzliedern (v. 5  f.) bei Hofe, d.  h. auf einer festen Lebensgrundlage (v. 1). Entworfen wird hier die Utopie eines Sängerlebens mit Verweis auf die Gattung Minnesang, die in der Tradition Walthers als Privileg des sesshaften Sängers definiert ist. Kontrastierend dazu beschreibt Strophe Sieb. XIV,3 den Mangel des Fahrendendaseins: Ein gutes Leben konnte das Ich führen, solange es etwas zu verpfänden hatte, doch kennt er keinen Herrn, der ihm helfen würde, die Pfänder wieder auszulösen. In Strophe Sieb. XIV,4 beklagt das Ich den Tod des ehemaligen Gönners Herzog Friedrich II. von Österreich, genauer: die Auswirkungen auf die eigene Lebenssituation. Mit der gängigen wirt-gast-Dichotomie vergleicht es sein Leben vor und nach dem Gönnertod. Diese Klage wird in Strophe Sieb. XIV,5 durch die Klage über den Verlust der materiellen Existenzgrundlage erweitert, lokalisiert durch die geographischen Angaben Liupolzdorf (v. 2), Luchsê (v. 2) und Hinperg (v. 3), heute Leopoldsdorf, Lassee und Himberg in der Nähe von Wien, die alle zum Herrschaftsbereich der Babenberger gehörten (vgl. Sieb., S. 190). Damit ist zugleich der Preis benannt, der dem Gönner die Kunst des Tannhäusers wert war. Die Strophe kann so nicht nur als Klage über den Verlust der Pfründen gelesen werden, sondern auch als eine Werbeschrift, mit welcher der Künstler seinen hohen Rang behauptet. Die sechste und letzte Strophe des Tons beschreibt die eigene Armut in Form eines Mängelkatalogs. Von der leeren Tasche über ein Haus ohne Dach bis hin zum Stall ohne Heu sind zahlreiche Bilder aufgerufen, welche die beschwerliche Existenz des Unbehausten veranschaulichen.



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Gattungübergreifend kennzeichnen das Tannhäuser-Œuvre das Tanzmotiv und vor allem die Katalogtechnik. Diese wird nicht nur zur Entfaltung des Armutsthemas wiederholt eingesetzt, sondern auch in Strophe Sieb. XII,4, die aus einer Aufzählung von 18 Orts- und Flussnamen besteht. Während kurze topographische Aufzählungen als Einleitung durchaus bekannt sind, z.  B. aus einem Spruch Walthers von der Vogelweide (L. 31,13), wird diese Technik hier im Sinne einer aemulatio ausgereizt. Denn die Flüsse bilden den einzigen Inhalt dieser Strophe und zielen allein darauf ab, das Weltwissen des Sprechers in seiner Fahrendenrolle zu präsentieren – und die Hörererwartung durch eine banale Pointe zu unterlaufen. Das in der Berliner Handschrift Mgq 414 überlieferte siebenstrophige Meisterlied (RSM 1Tanh/1/500a) knüpft inhaltlich daran an: Die ersten beiden Strophen sind im Wortlaut eng an Sieb. XII,2 und 4 angelehnt, die folgenden fünf führen den Katalog von Sieb. XII,4 mit einer Aufzählung weiterer Flüsse und Berge fort. Strophe Sieb. XII,5, eine Hoflehre in nuce, die der Vater seinem Sohn erteilt, schließt an den thematischen Kernbestand der Sangspruchdichtung an, steht aber im kleinen Spruchcorpus des Tannhäusers ganz für sich. Die Rätselstrophe Sieb. XVI schließlich nimmt nicht nur in der Lyrik des Tannhäusers, sondern auch in Handschrift C eine Sonderstellung ein; kein anderes der 139 Autorœuvres schließt mit einem Rätseltext. Gereiht werden fünf Einzelrätsel, die sowohl grammatisch und semantisch als auch über die religiöse Thematik miteinander verknüpft sind. Tomasek vermutet einen „vom Autor intendierten Gesamtsinn“ (Rätsel, S. 285), der bisher aber noch nicht hinreichend entschlüsselt werden konnte. In der Tradition der lateinischen Fragebücher formuliert jedes Rätsel eine, oberflächlich betrachtet, widersinnige Behauptung. In den ersten beiden Fällen heißt die Lösung Adam und Eva, im dritten ist es die Arche Noah, während das vierte Rätsel auf die Erlösung von den Sünden durch Gottes Sohn und das fünfte auf die Ermordung Thomas Beckets, des Erzbischofs von Canterbury, im Jahr 1170 rekurrieren dürfte. Die übergeordnete Thematik der fünf Rätsel wäre demnach die Sünde, deren Entwicklung von der Entstehung der Menschheit bis hin zur jüngsten Kirchengeschichte nachgegangen wird. Die Strophe dient nicht nur der Profilierung des Rätselstellers; mit dem Transfer ursprünglich lateinischen Buchwissens in die Volkssprache und der spezifischen Form des Rätsels setzt sie auch neue Akzente im Sangspruch – und sie fördert ein Gesellschaftsspiel, das nach Ende der Strophe fortgesetzt werden kann. Ausg. L.; Sieb.; Sps.; Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters; Walther/Siebert (Hg.), Codex Manesse; Zck. – Lit. Brunner, Formgeschichte; Brunner/Schrenk, Tannhäuser; Bumke, Mäzene; Glier, Konkretisierung; Haustein, Tannhäuser; Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert; Kischkel, Trauer; Kuhn, Wende; Lang, Tannhäuser; Paule, Tanhûser; Roethe, Rätselspruch; RSM; Rüther, Mythos; Schiwek, Kommentar; Tebben, Tannhäuser; Thomas, J. W., Tannhäuser; Tomasek, Rätsel; Wachinger, Tannhäuser; Wachinger, Tannhäuser-Ballade.

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6 Friedrich von Sonnenburg

Elke Ukena-Best

In seinem Katalog von den zwölf Meistern, der in sein um 1350 entstandenes Lied ‚Von allen singern‘ eingelassen ist, bemerkt Lupold Hornburg von Rothenburg zu Friedrich von Sonnenburg: von Sunneburg der gotheit uns ein teil beschiet (Cramer II, I,3,12). Damit erfasst er ein wesentliches Merkmal von dessen Œuvre. Fast durchgehend sind Friedrichs Sprüche, auch diejenigen, in denen geistliche Thematik nicht im Zentrum steht, religiös fundiert. Da ein Großteil der Strophen sich mit den problematischen Implikationen des sozialen Status eines lohnabhängigen Fahrenden und seiner Kunst auseinandersetzt, erscheint Friedrichs von Sonnenburg Zugehörigkeit zur Gruppe der guot umbe êre-Nehmenden als sicher. Er adaptiert die Gattungstopoi des literarischen Rollenmusters, reflektiert offenbar aber auch persönliche Erfahrungen. Politische Sprüche bezeugen ebenso das Angewiesensein auf die Zuwendungen von Gönnern und Mäzenen wie Lob und Apologie der lebensnotwendigen Kunst, die Kombination einer milte-zentrierten Tugendlehre mit dem Lohnanspruch des Gehrenden (gernden) und die Absicherung und Legitimierung des Berufsstandes sowie seines poetisch-musikalischen Werkes über die göttliche Autorität. Sein Repertoire bewegt sich im gängigen Themenspektrum seiner Zeit, das er teils traditionelltypisch, teils originell mit eigener Akzentsetzung und neuartigen Zügen aufgreift. Mit einem Œuvre von 73 unter seinem Namen aufgezeichneten Kanzonenstrophen in vier Tönen (Mas., S. IXf., XXIX–XXXI) gehört Friedrich von Sonnenburg zu den gewichtigeren Gattungsvertretern der Sangspruchdichtung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Überlieferung und Töne Sein Werk überliefern hauptsächlich die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J (63 Strophen in Ton I, III, IV, mit den Melodien) und die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C (‚Codex Manesse‘, 26 Strophen in Ton I, II, III, IV); Streuüberlieferung enthalten die Liederhandschriften H (5 Strophen in Ton I), der Anhang a zur ‚Kleinen Heidelberger Liederhandschrift‘ (10 Strophen in Ton I), G (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 857: 5 Strophen in Ton I) und die ‚Würzburger Liederhandschrift‘ E (1 Strophe in Ton I). Der meistgebrauchte Ton ist mit 50 Strophen Ton I. Eine formale Besonderheit seiner Töne liegt darin, dass Friedrich von Sonnenburg das zu seiner Zeit aufgekommene Prinzip der Kanzone mit drittem Stollen modifiziert übernimmt. Während er in Ton  I den dritten Stollen am Abgesangsende verkürzt, lässt er in Ton III und IV auf den dritten Stollen eine Coda folgen (Brunner, Töne Sonnenburgs, S. 66  f.; Edition der Melodien in Sps., S. 118–120). Gruppierungen von zwei oder mehr Strophen, die sich im Wortlaut aufeinander beziehen oder inhaltlich korrespondieren und als thematische Einheiten vom Autor wohl für einen gemeinsamen Vortrag konzipiert waren, haben sich fall-



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weise in der Anordnung der handschriftlichen Überlieferung erhalten (wie etwa Mas. 35/36, 66–69, 1–5, 6–10). Der Dichter und seine Gönner Die Miniatur in C, überschrieben mit meister Friderich von Suonenburg (fol. 407r), bildet den Dichter in der Erzieherrolle mit zwei Knaben ab. Wappen und Helm über der Figur lassen keine historischen Rückschlüsse zu. Hermann Damens um 1280 entstandener Sängerkatalog (Schl. III,4) zählt ihn zu den bereits Verstorbenen, Konrad von Würzburg († 1287) dagegen zu den noch Lebenden (Kiepe-Willms, Damen, Sp. 36). Urkundlich bezeugt ist der Sonnenburger nicht. Nach etablierter Meinung war er wohl Ministeriale des Benediktinerinnenklosters Sonnenburg (Suonenburg) im Südtiroler Pustertal bei Brixen (Mas., S. XIV–XIX). In seinem Werk dokumentieren sich Kenntnisse des Lateinischen (Mas. 28/29) und eine laientheologische Bildung, die etwa dem entspricht, was zeitgenössische Mendikanten derselben Adressatenklientel in ihren Predigten vermittelten. Friedrichs von Sonnenburg Wanderleben spielte sich, soweit aus seinen Texten ersichtlich, in Bayern, Österreich und Böhmen an den Höfen und im Gefolge wechselnder Herren ab, doch ergibt sich kein nachvollziehbares Itinerar. Den datierbaren zeitaktuell-politischen Sprüchen (Müller, U., Untersuchungen, S. 127–133) nach ist eine Schaffenszeit von etwa 1250 bis etwa 1275 anzunehmen. Das früheste Zeugnis ist eine Scheltstrophe (Mas. 59), mit der Friedrich in propäpstlicher Position heftige Kritik an dem 1250 verstorbenen Kaiser Friedrich II. übt, dem zu Lebzeiten daz golt auf Kosten seines Seelenheils den sin betrogen habe. Als Gunstbelege des bayerischen Herzogshofes können die Preisstrophen für Herzog Otto II. († 1253) und dessen Sohn Heinrich XIII., der ab 1255 als Herzog Heinrich I. von Niederbayern regierte, angesehen werden (Mas. 51, 65, 45). Das Lob auf den von Rifenberc (Mas. 41) signalisiert die Gönnerschaft des Südtirolers Ulrich von Reifenberg († 1277). Einen späteren Aufenthalt am Prager Hof und die Teilnahme Friedrichs von Sonnenburg am Ungarnfeldzug des böhmischen Königs Ottokar II. (1253–1278) machen die Sprüche Mas. 53, 27 und 52 wahrscheinlich. Neben dem Lobspruch auf den König in Behein lant (Mas. 53) steht der Tadel eines unzuverlässigen, wortbrüchigen Königs (Mas. 27), der dem Gegner Ottokars, König Stephan V. von Ungarn, gelten dürfte, nachdem dieser einen mit Ottokar 1270 geschlossenen Waffenstillstand gebrochen hatte (Mas., S.  XXIV). Über den von Ottokar 1271 als Gegenschlag geführten Feldzug berichtet Friedrich von Sonnenburg aus der Position des Augenzeugen, der die Chronologie der militärischen Erfolge zum Lob der herrscherlichen bellipotentia stilisiert (Mas. 52). Dass der in Mas. 60 gepriesene Vriderich, der graf von Bichelingen, bei dem es sich wohl um Friedrich IV. von Beichlingen-Lohra handelt, den Sonnenburger an seinem thüringischen Hof empfangen hat, ist weniger wahrscheinlich als die Annahme eines Zusammentreffens von Dichter und Mäzen am Prager Hof, wo sich der Beichlinger 1261 aufgehalten hatte (Hahn, R., Spruchdichter, S.  134–136). Auf reichspolitischer Ebene spiegelt sich in der Klagestrophe Mas. 43 wahrscheinlich

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die Spanne der Sedisvakanz zwischen den Päpsten Clemens IV. († 1268) und Gregor X. (Wahl 1271) während des Interregnums (1256–1273). In ihr verbindet Friedrich von Sonnenburg die Ankündigung des Jüngsten Gerichts mit einer Schelte der habgierigen, das Recht verkehrenden Pfaffen und einer Bitte an Gott, der Christenheit wieder ein babes unde ein keiser zu geben. Der Herrscherlegitimation dienen die letzten zeitlich fixierbaren Sprüche (Mas. 28–30) über Wahl und Krönung Rudolfs von Habsburg zum deutschen König (1273). Mas. 30 rekurriert auf den Augenzeugenbericht eines Brunecker (wohl eines Herrn aus dem Südtiroler Bruneck nahe dem Kloster Sonnenburg), der während der Krönungszeremonie das als Zeichen göttlicher Erwählung des Herrschers wahrgenommene Wunder einer Kreuzeserscheinung über dem Münster zu Aachen miterlebt hatte. Die Sprüche Mas. 28 und 29 sind „frühe Beispiele einer dokumentarischen Poesie“ (Müller/Spechtler, Sonnenburg, S.  154), die den Inhalt zweier Schreiben Papst Gregors X. vom 26. 9. 1274 zur Anerkennung Rudolfs als König referieren. Zitate des lateinischen Originals in teils wörtlicher Übersetzung sprechen dafür, dass Friedrich das an Rudolf gerichtete, ihm auf dem Reichstag zu Würzburg 1275 übergebene Schreiben selbst gekannt hat, wie es die Einleitung mit Authentizitätsformel Ich horte des babes brieve lesen nahelegt (Mas. 28). Mas. 29 berichtet von der inhaltlich entsprechenden Botschaft, die den geistlichen und weltlichen Fürsten, den Gemeinden und den Städten des Reiches als Rundschreiben zugeleitet wurde. Ob es sich bei den in Mas. 55 vom Sprecher-Ich abgesteckten geographischen Eckpunkten (von Ovene [Ofen in Ungarn] / ze Kölne unde ouch Salerne, / Von Metze hin ze Bruneswic, / von Lübeke ze Berne [Verona]) um exemplarisch-fiktive oder historisch-reale Reisewege handelt, die andernorts jedoch nicht bestätigt werden, bleibt ungewiss. Themen und typische Redegesten H e r r s c h e r l o b u n d H e r r e n l e h r e . Friedrichs von Sonnenburg politische Sprüche, die als publizistische Auftragsdichtungen den Interessen und speziellen Erwartungen ihrer Auftraggeber unterworfen sind, gehören auch zum großen Komplex seiner Sprüche, die sich inhaltlich, argumentativ und sprachlich-stilistisch auf differenzierte Weise und aus wechselnder Perspektive mit der problematischen Situation der ohne Rechtsanspruch auf Lohn existierenden fahrenden Künstler auseinandersetzen. So ist in panegyrischen Sprüchen, die das argumentum a virtutibus einsetzen, die herrscherliche milte des Gepriesenen als Garantin für den Lebensunterhalt des Dichtersängers eine wichtige, teils mit eindrücklichen Bildern vergegenwärtigte Komponente. Der Panegyrikus auf Friedrich von Beichlingen (Mas. 60) lobt seine willegebenden hende[  ] und konkretisiert: er pfliget vil rehter milte. Zu dem getriuwen, reinen, milten vürsten guot, / […] Heinrich in Peierlant (Mas. 45) betont das Sprecher-Ich, es gebe keinen miltern vürsten, denn dessen Lob überstrahle jegliches Lob gleich dem vor den kleineren Sternen leuchtenden Morgenstern. Der böhmische Herrscher, der milte künic und der milte wunderaere wird Saladin, der prominenten Exempelfigur für Frei-



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gebigkeit, gleichgesetzt (Mas. 53). Ein kräftiger, riche vruht tragender Ehrenbaum verbildlicht die hohe tugent des Herrn von Rifenberc (Mas. 41), dessen milte die gernden als Gabe jederzeit von ihm empfangen. Mas. 65, eine für Friedrich von Sonnenburg ungewöhnliche Lobstrophe, die den hof in Peierlande als den würdigsten in al der kristenheit anhand einer hierarchisch geordneten Liste der hohen Damen (beginnend mit Elisabeth, der seit 1246 mit König Konrad IV. vermählten Tochter Ottos II.) preist, erwähnt als Schlusspointe die außerordentliche Freigebigkeit des Herrschers, denn jedermann dürfe ze des vürsten brote gan (Müller, U., Untersuchungen, S. 131). Als adelsethisches Postulat ist die Freigebigkeit auch Thema der nicht personengebundenen Herrenlehre, wenn von ihr einzeln oder im Verbund mit anderen Tugenden die Rede ist. Mas. 24, eine markante, an die vürsten und die herren gerichtete milte-Erörterung mit anaphorisch eingesetztem Leitbegriff, expliziert die milte, deren Wortbedeutung hier auch die christliche Tugend der Barmherzigkeit einschließt, theologisch als göttliche Eigenschaft. Ihre Ausübung ist insofern imitatio Christi, als der Gottessohn durch milte den Opfertod erlitt. Ihre sündentilgende Kraft lenkt auf den Weg zu Gott, so dass der finale Imperativ den Heilserwerb in Aussicht stellen kann: durch got sit milte, so ist iu dort sin himelrich bereit! Mas. 64 präsentiert dem Herrscher katalogartig eine Forderungsreihe interdependenter Herrentugenden, die vor superbia bewahren: Wis manlich, milte, minne zuht, / so muoz dir hochvart nigen, und beschwört die Folgen bei Nichterfüllung: bistu niht manlich unde vrech sost ere und guot verlorn. Als Warnung fungiert eine anaphorisch an das sündhafte guot der Geizigen gerichtete Scheltstrophe (Mas. 42), die dem guot vorwirft, seine ehrlosen Besitzer der Hölle auszuliefern. Ku n s t u n d F a h r e n d e n d a s e i n . Angesichts der Tatsache, dass die rechtlosen Fahrenden keinen einklagbaren Anspruch auf Entlohnung hatten, verfolgt Friedrich von Sonnenburg mit seinem objektiv-sentenzhaft formulierten kunst-Spruch (Mas. 19) auf religiöser Argumentationsbasis das Ziel, die Lohngabe als feste Verbindlichkeit innerhalb des gesellschaftlichen Pflichtenkanons der adligen Herren zu etablieren und gleichzeitig die Position des Künstlers über seine bisherige Reputation hinaus aufzuwerten (Ukena-Best, Strategien). Virtuos kombiniert Friedrich von Sonnenburg das der Standardformel guot umbe êre nemen inhärente Dienst-Lohn-Verhältnis zwischen dem Künstler und den adligen Gönnern mit der spruchsängerischen kunst, indem er vürsten und kunst sowie kunst und Gott in ein relationales Verhältnis setzt, das die kunst zur Mittlerin zwischen Gott und den Menschen erhebt. Würdige Fürsten (rehte fürsten) bringen der Kunst Hochachtung entgegen. Da die Kunst heilig und daher got undertan ist, kann die Gabe für sie als gottgefälliges Werk annonciert werden: diu kunst diu nimt durch got umbe ere guot von manigen werden man. Die Kunst wird zum göttlichen Gnadenerweis erklärt, denn Gott versagt sie dem schlechten Volk (undiet). Personifiziert fungiert die Kunst wie die in der himmlischen Hier­ archie Gott dienenden Engel als gotes bote. Wenn Gott also seinen Engel in Gestalt der Kunst zu den Menschen sendet, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die Inhalte der Sangsprüche als göttliche Botschaften zu verstehen sind. Die im Abgesang direkt

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an die Adressaten gerichtete Aufforderung, durch got und durch kunst reiche Gaben zu verteilen, stellen sich in Verbindung mit dem Kausalnexus von richer gabe und gotes barmicheit nun auch als religiöse Pflicht und wirksames Werk zum Heilserwerb dar. Mit der Sakralisierung seiner Kunst erhöht der Künstler sich selbst zum Medium göttlichen Willens und weist sich als solchermaßen Auserwähltem einen Status besonderer Gottnähe jenseits der ständischen Ordnung zu. Im Blick auf den hier programmatisch erhobenen Anspruch von Autorität und prinzipieller Gültigkeit ist es denkbar, dass der Sänger diesen Spruch bei Auftritten vor wechselnden Gönnern immer wieder an exponierter Stelle seines jeweiligen Programms vorgetragen hat. Andere Sprüche, die in Form von Kritik, Klage, Forderung, Rat oder Lehre um Kunst, Adressaten und Sängerexistenz kreisen, verwenden sowohl den gattungsüblichen subjektiven Darstellungsmodus der Ich-Aussage mit persönlich gehaltener Reflexion und frontaler Wendung an die Zuhörer als auch die sachlich konstatierende Aussageweise. In Mas. 31 wird dem unwürdigen, Gott verachtenden und sündiclichez guot erwerbenden geburen der edele man gegenübergestellt, dem zuht, wirdicheit, triuwe und milte eigen sind und der es im Sinne von Mas. 19 wagt, sin guot durch got der rehten künste zu geben. Als abhängiger Künstler (Mas. 18) klagt das Sprecher-Ich vor Gott über das Problem des Lügens umbe guot, wenn ihm rîchiu kunst und sanges kraft keine milte mehr eintragen. Den Herren, welche die kunst der nôt überlassen, werden existentielle Konsequenzen im Jenseits und Diesseits angedroht: der Verlust des Seelenheils und der Ehre. Von Lob und Lüge spricht der Sänger auch in Mas. 47, wenn er diejenigen, die ihm jetzt das guot versagen, weil er sie mit rîchen sprüchen angelogen habe, als verschamte[  ] schalke beschimpft, die er künftig lobes unde aller eren vri lassen und der schande ausliefern will. Intakt ist das Verhältnis zwischen dem gelobten Herrn und dem ihn mit meisterlichem sinne lobenden meister unter der Voraussetzung, dass der Herr lobelich lebt, indem er sich manlich, milte […], getriuwe und gar geminne verhält. Dann fällt das Lob auf die Kunst des Sängers zurück (Mas. 54). Dem biderben man, der von ihm mit sange gelobt wird, erteilt der Sänger den dringenden Rat, sich von dem ungelobeten, ihn deswegen hassenden boesen fernzuhalten (Mas. 17). Die demütigende Behandlung des fahrenden Künstlers kommt mit dem Gestus persönlicher Betroffenheit in den wirt-gast-Sprüchen Mas. 25 und 26 zur Sprache. Mas. 25 hinterfragt kritisch die Diskrepanz zwischen der verächtlichen Aufnahme mit minderwertiger Bewirtung und dem im Gegenzug vom Sänger erwarteten hohen Lob, während in Mas. 26 das überhebliche Gebaren des schlechten Wirtes am Vorbild des guten Wirtes, der seinem Gast mit Achtung und Freundlichkeit begegnet, gemessen wird. Die demonstrative Selbstaufwertung des Sängers ist ein wichtiger Faktor auch bei der Behauptung gegen die Konkurrenz, besonders die der gleichzeitig agierenden Wanderprediger, die ihrerseits materielle Gaben an die Fahrenden gemäß kirchlicher, auf Augustinus zurückgehender Tradition polemisch als Sünde deklarieren. Prominentes Beispiel sind die Predigten Bertholds von Regensburg, des seit Mitte des



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13.  Jahrhunderts tätigen franziskanischen Volkspredigers, der alle Fahrenden, die guot für êre nement, als Teufelsgenossen verleumdet (Kästner, Wettstreit, S. 229–231). Unter dem Druck dieser brisanten Umstände mag die Spruchfolge Mas. 66–69 entstanden sein, deren Zusammengehörigkeit durch J bestätigt wird (J 57–60). Mit argumentativem Scharfsinn dekuvriert der Sonnenburger die existenzbedrohenden Behauptungen als Lügen. Mas. 66 beginnt predigtartig mit einem scheinbar bibelbasierten Redewechsel zwischen Petrus und Christus. Auf Petri Frage nach den legitimen Empfängern von Almosen antwortet Christus, dass niemand (kristen, iuden, heiden) auszunehmen sei, der in seinem Namen darum bitte. Doch geht es im weiteren nicht um eine Belehrung über gute Werke und christliche Caritas, sondern speziell um den davon abgeleiteten Fall des Gehrenden, der ein geringez guot erbittet. Seine die Gabe als Sünde verdammenden Gegner kann das Sprecher-Ich nun zu Recht, legitimiert durch Christus selbst, der Lüge bezichtigen. Gemeinsames Anliegen der über die stropheneinleitende Formel swer giht […] der liuget verklammerten Spruchtrias Mas. 67–69 ist die Entlarvung der gegnerischen Anschuldigungen als Lüge, verbunden mit der Rehabilitation der Verleumdeten. Hier kombiniert Friedrich von Sonnenburg wirkungsvoll Predigtelemente mit formal-stilistischen Mitteln der Gerichtsrede. Das Sprecher-Ich hält als Anwalt der beklagten Fahrenden ein Plädoyer, das den Klagegegenstand benennt, ihn als Lüge zurückweist und unter Anrufung von Gottes Zeugenschaft mit theologischen Gegenargumenten entkräftet (Schwob, Plädoyer, S. 466–475; Krause, „milte“-Thematik, S. 92–99). In Mas. 67 wird der lügnerischen Behauptung, diejenigen, die guot den gernden geben, die Gabe dem Teufel ins Maul stoßen würden, die christlich-tugendhafte Lebensführung der Gehrenden in Form eines Komponentenkatalogs (si hazzent […] untriuwe, unvuore, unrehtes leben; […] si habent got vor ougen, / Si enpfahent gotes lichnamen / und hant ze Kriste pfliht; usw.) entgegengehalten. Schlüssig ergibt sich daraus die Feststellung, dass sich so kein Teufel verhält. Mas. 68 entkräftet den Vorwurf an den Gönner, sich mit seiner Gabe von guot umbe ere schwerer Sünde schuldig zu machen, durch einen verallgemeinernden Rekurs auf Gott, der das Leben und seine Glücksgüter allen, Christen, Juden, Heiden, auch Ketzern schenkt und am Ende den Auserwählten sogar sein Himmelreich. Als derjenige, der am meisten gibt, müsste absurderweise Gott der größte Sünder sein. Umgekehrt, so Mas. 69, werde behauptet, auch der Gehrende, der guot umbe ere annimmt, sei ein großer Sünder. Dem erwidert das Sprecher-Ich mit Bezug auf Mas. 68, dass alle Erdenbewohner von Gott umbe ere guot nehmen. Nur ein Habgieriger, der zu viel nimmt, sündige tatsächlich und versetze seiner Seele den Todesstoß. Wollten die Zuhörer, denen der Sonnenburger mit strategischer Raffinesse textintern die Rolle der Beklagten (Mas. 67 u. 68), in der realen Vortragssituation aber die Rolle der urteilenden Gerichtsinstanz zuweist, sich auf die Logik des Plädoyers einlassen, wären sie als die Gebenden ebenso vom Sündenvorwurf entlastet wie die Fahrenden als Lohnempfänger, während die Lügen der Feinde juristisch als Unrecht und moraltheologisch als Sündenschuld gebrandmarkt wären. Thematisch ergänzend und verstärkend tritt Mas. 70 mit dem vermutlich auf die Wanderprediger und

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Bettelmönche abzielenden Entwurf eines wahrhaft vorbildlichen ‚heiligen Mannes‘ hinzu (Kästner, Wettstreit, S.  233), der die als Katalog mit Anapherstruktur aufgezählten Kriterien des Feindbildes gerade nicht erfüllt: Ein heilic man enliuget niht, / ein heilic man niht nidet, / ein heilic man niht milte wert […] usw. Auch der Scheltspruch Mas. 57, eine in Friedrichs von Sonnenburg Œuvre nach Anlage und Impetus singuläre Invektive gegen den pars pro toto mit äußerster Drastik apostrophierten Lügenmund, korreliert mit der Anklage von Mas. 67–69: Verschamter munt, du lügevaz, / du hellestric, du triegel […]. Der lügenaere macht sich gote und der werlt unmaere, verkehrt das Recht und richtet saelde unde ere zugrunde. Hierzu stellt sich die Beschimpfung des lügenhaften Ohrenbläsers und seiner falschen Zunge, verbunden mit der Drohung, dass Gott ihm beim Jüngsten Gericht sein Ohr verweigern werde (Mas. 37). Aus den spezifisch r e l i g i ö s e n S p r ü c h e n ragt der Komplex der zwölf Sprüche heraus, die das im 13. Jahrhundert verbreitete ‚Welt‘-Thema besonders umfänglich, tiefgründig und aspektreich von drei verschiedenen theologischen Positionen anvisieren. Zwischen Weltlob, Welttadel und Weltverachtung konturiert sich ein scheinbar widersprüchliches Bild der Welt, das aber in der semantischen Komplexität und einem je anderen Begriffsgebrauch begründet ist. Die in den Handschriften J, C, a und G überlieferte Spruchgruppe Mas. 1–5 behandelt die Welt als göttliches Schöpfungswerk unter schöpfungstheologischem Aspekt, während die nur in den Handschriften J (ohne Mas. 5) und a vertretene Gruppe Mas. 6–10 – teils wörtlich, formal und inhaltlich mit Mas. 1–5 korrespondierend – die sündentheologische Position einnimmt und die vom Sündenfall betroffene Welt mit der sündigen Menschheit ineins setzt (Ukena-Best, ‚Welt‘-Sprüche). Die als inhaltlich-thematische Einheit konzipierten Lobsprüche Mas. 1–5 gelten der Verteidigung der Welt als Reaktion auf eine nicht näher konkretisierte, jedoch in der Literatur der Zeit vielfach übliche Weltschelte. Sie verbinden das mit doxologischen Zügen an Friedrichs von Sonnenburg Gottes- und Marienlobstrophen orientierte Lob der personalisierten Welt (z.  B. Mas. 3: So wol dir gotes wundertal, ich mein dich, tiure welt!) mit theologisch begründenden Erörterungs- und Verteidigungspassagen, die auf schöpfungs- und heilstheologische Sachverhalte und dogmatische Bezüge rekurrieren. Im Zentrum steht entsprechend dem ersten Schöpfungsbericht Gn 1,1–2,4a das im Modus der staete (Mas. 2) geschaffene, in Schönheit und Harmonie die göttliche Vollkommenheit materialisierende Wunderwerk Gottes (Mas. 5). Der Welt wird die verehrungswürdige Funktion der Mutter zuerkannt, die zusammen mit Gottvater die Menschen hervorgebracht hat. Weltschelte wäre als Mutterschelte ein Verstoß gegen das Vierte Gebot (Mas. 1). Jede Verunglimpfung des göttlichen Wunderwerkes, so der mehrfach variierte Hauptgedanke, ist Gottesschelte (Mas. 4: swer dich beschiltet werlt, der schiltet got, Mas. 5: Schülte ich gotes hohiu wunderwerc, […] so schülte ich gotes sa zehant). Als geschaffenes Wesen ist der Mensch mit seiner leiblichen Existenz selbst Bestandteil des Schöpfungswerkes, dem er sich nicht zu entziehen vermag, so dass der Weg zum Heil nur innerweltlich mit der Absage an die Sünde verlaufen kann (Mas. 2). Als Freuden, die Gott aus seiner Schöpfung bezieht, werden



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die eigene Menschwerdung, die Gottesmutter und alle Heiligen genannt. Aus der Welt als dem lieblichen Pflanzgarten Gottes werde einst das himmlische Jerusalem geziert (Mas. 3). Über den Himmel und die Engel hinaus erhöht Gott die Welt mit der Gabe der Eucharistie, wenn er selbst sich leiblich birget in ein brot in siner priester hant (Mas. 4). Demnach wird den Menschen diese hohe ere von beiden, Gott und der Welt, zuteil (ebd.). Das die Weltschelte anprangernde sentenzhafte Schlussdiktum von Mas. 5 hebt von der Unwandelbarkeit der Welt als Schöpfung jedoch die sündigen Menschen ab: Daz ist diu werlt, die scheltent sie! an der ist wandelbaeres niht / wan swa des menschen kinder hant mit argen sünden pfliht! Durch ihre Sünden sind die Menschen aus der Beständigkeit des geschaffenen Kosmos herausgefallen. Diese Aussage, wörtlich zitiert in Mas. 10, wird in den Sprüchen Mas. 6–10 als Hauptthema diskursiv entfaltet. Die Erörterungsperspektive verlagert sich von der Schöpfungs- auf die Sündentheologie. Als Überlegungen zu einer Berechtigung, die Welt zu schelten, sind die Sprüche keine zu Mas. 1–5 kontradiktorisch angelegten Scheltstrophen, da hier die werlt als Kollektivbegriff für die erbsündige Menschheit und die gegenwärtigen Sünder gebraucht wird (Mas. 6, 7, 10) oder die in ein enges relationales Verhältnis zum Sünder gesetzte, durch den Sündenfall defizient gewordene Natur meint (Mas. 8 u. 9). Diese zu schelten, ist moraltheologisch geboten, denn die durch ignorantia verblendeten Todsünder verweigern die Erkenntnis der Zeichen des göttlichen Heilswillens im Heilsmysterium (Mas. 6) und sind Gottes hantgetat (Mas. 7), die sich eigenmächtig wie Luzifer, der auch einst gotes wunderwerc war, mit willen swachet (Mas. 7). Nach diesem Weltverständnis werden Welt und Sünder gleichgesetzt: diu werlt ist anders niht wan menschen unde menschen kint; / Swa menschen kinder sündent, da beget diu werlt vil sünden arc (Mas. 10). Mas. 8 und 9 nehmen den Blickwinkel der unter den Sündenstrafen leidenden Welt ein. Vermittels der Pflanzenmetapher von der einzigen in den Himmel gelangenden heilkräftigen Muskatblüte gegenüber dem üppig wuchernden, zur Hölle gesandten giftigen Bilsenkraut (Mas. 8) wird das eklatante Missverhältnis zwischen tugent und missetat verdeutlicht. Diese von den Sündern verursachte Schwachheit der Welt präzisiert Mas. 9 in Orientierung am zweiten Schöpfungsbericht Gn 2,4b–3,24, dem Bericht von Sündenfall und Sündenstrafe, und lastet die immerwährende Defizienz, von der auch die gegenwärtig sündenfrei lebenden Menschen betroffen sind, als Scheltgrund der Welt an. Beide Spruchgruppen legen also ihrer Argumentation eine unterschiedliche Bedeutung des Begriffs ‚Welt‘ zugrunde: hier die sündige Menschheit und die von der Erbsünde depravierte Welt, dort die als göttliches Schöpfungswerk sakralisierte Welt. Dieser Befund und die Tatsache, dass es sich gerade nicht um sangspruchtypische Scheltstrophen handelt, lassen die frühere Einschätzung von Mas. 6–10 als unechte Gegenstrophen eines anonymen Kontrahenten (Wachinger, Sängerkrieg, S. 148–150) kaum plausibel erscheinen (Ukena-Best, ‚Welt‘-Sprüche, S. 110  f.). Eine nochmals differierende Sicht nimmt das Spruchpaar Mas. 21/22 (J 20/21) ein, das den Topos der allegorischen Frau Welt im thematischen Kontext von Zeitklage und literarisch adaptierter contemptus mundi- und vanitas-Thematik variiert.

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Als Rätselspruch stellt Mas. 21 die Ambivalenzen ihrer trügerischen Persönlichkeit (stark und schön, schwach und uralt, weise und töricht) vor und beschreibt – höchst unkonventionell – die abnorme äußere Erscheinung dieser dem Teufel vermählten Frau als dämonisches Mischwesen aus Metallen und Federn. Die zu erratende vrouwe, so die heilstheologische Schlusswendung, habe Gott den Menschen ze schaden oder ze vromen gegeben. In der Zeit- und Verfallsklage Mas. 22, die zugleich als Rätselauflösung gedacht sein könnte, ist diu werlt die Verkörperung der vanitas, die den unumkehrbaren Verfallsprozess verschuldet und gemäß dem essentiellen Motiv des Weltlohns am Ende ein jamerlichez leit bereithält. In Korrespondenz zu Mas. 21/22 fordert die Memento mori-Strophe Mas. 20 (J 19) mit der eindringlichen Befehls-Anapher gedenke / gedenke, mensche von den Zuhörern, sich die eigene Vergänglichkeit und das für die Menschen ertragene Leiden Christi zum Heil ihrer Seele bewusst zu halten. Die zahlreichen Anrufungs- und Gebetsstrophen mit Lobpreis und Beistandsbitte und die heilsgeschichtlich oder dogmatisch unterweisenden Sprüche, die sich auf Gott, besonders aber auf Maria konzentrieren, binden in die überwiegend konventionellen auch formal und inhaltlich unübliche Darstellungsweisen theologischen Gedankenguts ein. Die Anrufungen mit gleichem Strophenbeginn got herre an anegenge […] und an ende (Mas. 11, 12, 61) gelten Gottes Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart (Mas. 11), seiner wisheit wunderwerc, das er mit der Erwählung und Erhöhung Marias über Himmel und Erde vollbracht hat (Mas. 12), und seinen göttlichen Eigenschaften als heiliger alpha et o, verbunden mit der Bitte um göttlichen Frieden und ewige Gemeinschaft mit den gevröuten (Mas. 61). Der Gottesspruch Mas. 50 stellt nach dem Schöpfungsbericht Io 1,1–3 Gott als Logos (wort ob allen worten) voran und weist auf die seinem vürgedanc folgenden heilsgeschichtlichen Zentralereignisse Schöpfung, Sündenfall, Inkarnation und Erlösung hin. Auch Mas. 39 beginnt mit Gott, der uz einem worte wuohs, kommt über Evas Sünde zu ihrer Aufhebung durch Maria, zitiert den Gruß des Verkündigungsboten (ave genaden volle […]; nach Lc 1,28) und ruft mit der Erinnerung an Gideons Vlies (nach Idc 6,36–40) die Präfiguration des Wunders der jungfräulichen Geburt auf. Im Rahmen des Trinitätsdogmas erörtert Mas. 71 die koinzidente Wesenseinheit von Gott Vater und Gott Sohn, die sich mit der Inkarnation und Christi Wirken in der Heilsgeschichte als personale Zweiheit darstellt. Offenbar soll dieser Sachverhalt durch den extensiven Gebrauch der Bezeichnung got für beide göttlichen Hypostasen vergegenwärtigt werden (z.  B. erster Stollen, Mas. 71,1–4: Git got, mac got, ist got ein got – / hilf got mir got erkennen, / wie got von got sich got verstal / und got ein got doch was). Von der göttlichen Dreiheit ist in Mas. 71,5 (Got sante uns got durch got ze tal) die Rede: „(Gott) der Vater sandte uns (Gott) den Sohn durch (Gott) den Heiligen Geist herab“ (Kern, P., Trinität, S. 32  f.). Das Publikum sieht sich hier zu der anspruchsvollen, wohl auch anregenden Rezeptionsleistung des durchgehend konzentrierten Mitdenkens herausgefordert (Loleit, Sprache, S. 90  f.). Mas. 40 lobt mit antijüdischer Tendenz Gottes Weisheit, welche die Abstammung Christi von den vil argen juden ver-



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anlasst hat, und zieht den Vergleich zu dem übelriechenden Holunderbaum, der eine wohlduftende und edle Blüte hervorbringt. Der Weihnachtsspruch Mas. 32 propagiert die Freude über die Geburt des Erlösers, spricht einen Segen über Maria als Jungfrau und Mutter, lobt Gottes unendliche Güte und bittet um Hilfe bei der Erlangung des Seelenheils. Die Mariensprüche präsentieren zentrale Aspekte der mittelalterlichen Mariologie. Die Anrufungsstrophen beziehen das Marienlob auf Maria als Gottesgebärerin, die der Welt die Erlösungsfreude gebracht (Mas. 13) und den unfassbaren und unendlichen Gott in ihrem Leib geborgen hat (Mas. 15). Die dringlichen Bitten um Fürsprache appellieren an die Himmelskönigin als Mutter der Barmherzigkeit, bei Gott Gnade für die sündigen Menschen zu erwirken (Mas. 13, 15, 16). Auf eigenwillige Weise gibt Friedrich von Sonnenburg in Mas. 62 den Vorgang der Verkündigung und Empfängnis durch Ohr und Auge mit Motiven höfischer Minnevorstellungen wieder. Der Sänger droht gotes tohter und küniginne an, wenn sie ihn nicht beschenken würde, zu verraten, dass sie einen ihr in minniclicher minne dienenden hohen Herrn heimlich erhört habe. Nachdem dessen Bitte und seine Worte ihr durch oren und durch ougen gedrungen waren, kam siner vröuden hort zu ihr geschlichen und wohnte ihr minniclichen bi. Insgeheim habe sie ihre Gunst sogar an drei verschenkt, und Gabriel sei ihr Bote gewesen (nach Lc 1,26–38). Maria, Gott und die Trinität werden nicht benannt, so dass erst der Hinweis auf den Verkündigungsengel Gabriel das verrätselte Geschehen erschließt. In Mas. 14 wird das auch bei anderen Sangspruchdichtern verbreitete Motiv von Marias Präexistenz vor aller Schöpfung bei Gott, hergeleitet aus der mariologischen Deutung alttestamentlicher Weisheitstexte wie besonders Prv 8,22–31, als Glaubenstatsache dargestellt, welche die Erwählung Marias zur Gottesmutter begründet (Kern, P., Trinität, S. 81  f.). Inszeniert der Sänger sich in den religiösen Sprüchen als pastorale Instanz, so beruft er sich zwar punktuell, doch nicht stellengenau auf die Bibel, ohne sein theologisches Wissen generell durch Autoritätsberufung abzusichern. Darin scheint sich die in Mas. 19 propagierte Gottunmittelbarkeit der spruchsängerischen Kunst, deren Inhalte keiner weiteren Autorisierung bedürfen, zu dokumentieren. Das Œuvre des Sonnenburgers bietet ein umfangreiches Repertoire an Sprüchen zur M o r a l - u n d T u g e n d l e h r e für das adlige Publikum, dessen weithin reli­giöse Einfärbung daraus resultiert, dass er sozial- und individualethische Werte in den Horizont des Kanons christlicher Tugenden stellt. Direktiven, Instruktionen und faktische Erörterungen belässt er zumeist nicht im Innerweltlichen, sondern bezieht sie sub specie aeternitatis – oft pointiert als Darstellungsgipfel am Spruchende – auf Heil oder Verdammnis. Eingängig wird das Zusammenwirken guter oder schlechter Verhaltensweisen an Begriffspaaren von Tugenden oder Lastern gezeigt, so etwa Triuwe und warheit (Mas. 23), die dem Menschen gemeinsam der werlde werdicheit und auch daz ewicliche leben gewinnen, oder Zuht und maze (Mas. 33), die vrouwen unde mannen das Lob der Welt und die Gemeinschaft mit Gott erbringen werden, ohne einander aber verlorn sind. Andererseits stürzen Abgunste unde untriuwe (Mas. 44) Seele und

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Leib des Menschen ins Verderben, ziehen Todsünden und damit den Verlust des Seelenheils nach sich. Steht ein Gegensatzpaar im Zentrum, zeigt sich der Widerstreit von Laster und Tugend, so in der Konfrontation zwischen erge und schame (Mas. 34). Die Schlechtigkeiten der erge (bosheit, schanden; Verlust der ere) können von der schame als süenaerin überwunden werden. Im strengen Befehlston der Predigten Bertholds von Regensburg instruiert Mas. 48 den einzeln angesprochenen Zuhörer (Dich meine ich …) anhand der anaphorischen Antithesen von Verbot (du ensolt …) und Gebot (du solt …) über die zu unterlassenden boesen werke[  ] wie verraten, morden, steln und die ihn ze himelriche bringenden tugende wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Almosengeben. Als Tugendverhalten wird den Adressaten das Erfragen von Rat bei den werden wisen für die eigene Lebensführung nahegelegt, so, wie Christus seine Jünger gefragt habe (Mas. 35), während diejenigen, die sich, verblendet durch ihre houbetsünden, dem Rat verweigern, Gott und die Menschen gegen sich aufbringen (Mas. 36). Als Ratgeber soll sich der edele man nur jemandem anvertrauen, der seinerseits got vor ougen hat (Mas. 63). Frauenlehre und Minnesprüche gehören nicht zum Standardrepertoire des Sonnenburgers; in seinem einzigen minnethematischen Spruch Mas. 49 wird minne als ethischer Wert (reine, tugendhafte minne gegenüber gleisnerischer, tugendloser unminne) betrachtet. Resümee Überblickt man die Sangsprüche Friedrichs von Sonnenburg insgesamt, so ist als wesentliches Charakteristikum die starke Akzentuierung des didaktischen Grundanliegens zu konstatieren, das sich auch in weltlichen und geistlichen Lobsprüchen und Gebeten konturiert und die Darstellungsweise maßgeblich prägt. Offenbar geht es ihm vor allem um eine möglichst effektive, somit verständliche und nachvollziehbare Weitergabe von Wissen, Kenntnissen und Bildungsgut an sein Publikum und weit weniger als manchem seiner Dichterkollegen um Selbstdarstellung mit demon­ strativer Ausbreitung von Gelehrsamkeit. In Ausrichtung auf das prodesse will Friedrich, der sich selbst göttlich autorisiert sieht, seinen adligen Adressaten vermitteln, was ihnen nützlich ist, um in der Welt und vor Gott ein dem Seelenheil förderliches Leben zu führen. Sein Grundton ist, bedingt auch durch die religiöse Überformung seines Œuvres, im Ganzen ernsthaft; Scherz, Spott oder Ironie gehören nicht zu seinen bevorzugten Mitteln. Zumeist präsentiert sich der Sänger im Autoritätshabitus des Wissenden, des Ratgebers oder des geistlichen Lehrers. Äußert er sich in sachlichneutraler Aussagehaltung, so versucht er, mit stringenter Argumentation im Faktischen und klarer Gedankenfolge, gerade auch, wenn logische Zusammenhänge erst konstruiert werden müssen (wie etwa Mas. 66–69), zu überzeugen, um seine Zuhörer die intendierte Erkenntnis selbst gewinnen zu lassen. Tritt der Sänger als Sprecher-Ich auf, nutzt Friedrich die Wirksamkeit der kommunikativen Wendung an das Publikum, um es durch Handlungs- und Verhaltensdirektiven mit Geboten und Verboten in Form



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rationaler und emotionaler Appelle und adhortativer Anreden unmittelbar zu beeinflussen. Indem er auch für die rhetorisch-stilistische Textgestaltung besonders ausgeprägt das Mittel der Apostrophe verwendet, etwa an personifizierte Abstrakta wie Laster oder Tugenden, wird der performative Duktus mit Lob, Verherrlichung, Kritik, Tadel oder Verfluchung anschaulich, lebhaft und eindringlich. Auch seine vielfach der pflanzlichen Natur entnommenen Metaphern, Bilder und Vergleiche (Garten, Blüten, Sträucher, Kräuter, Bäume), die er öfter an kompliziertere theoretische Ausführungen anschließt, dienen durch Veranschaulichung und Verdeutlichung dem besseren Verständnis. Das besonders häufig und vielfältig eingesetzte Prinzip der Wiederholung von Leitwörtern, Leitwortpaaren oder strophenkonstituierenden Phrasen stützt mit seinem Verstärkungseffekt das pädagogische Ziel der intensiveren Rezeption und der nachhaltigen Internalisierung. Strophenübergreifend signalisiert die Wiederholung den thematisch-inhaltlichen Konnex und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Gesamtzusammenhang. Erscheint die Wortwiederholung in Form der bei Friedrich von Sonnenburg überaus beliebten strophenstrukturierenden Anapher, so wird die Eingängigkeit geradezu suggestiv gesteigert. Werden von einem semantisch komplexen Leitwort die unterschiedlichen Begriffsinhalte gebraucht (‚Gott‘ in Mas. 71, ‚Welt‘ in Mas. 1–10, 21/22), so ist das intellektuelle Engagement der Zuhörer gefordert. Sie sind zu Konzentration und Mitdenken angehalten, um die jeweils zutreffende Bedeutung zu erfassen und den Aussagesinn richtig zu verstehen. Mit der gesamthaft religiösen Ausrichtung seines fallweise auch den Predigtton adaptierenden Œuvres und der inhaltlich oft originellen und durch Bildung korrespondierender Spruchgruppen komplexeren und aspektreicheren Behandlung konventioneller Themen gewinnen die Sprüche Friedrichs von Sonnenburg an Aussagekraft, so dass sich ein durchaus eigenes spruchkünstlerisches Profil konturiert. Von den Meistersingern wurde Friedrich von Sonnenburg nicht rezipiert. Lediglich in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k wird ihm, ohne dass dem Schreiber die Tonautorschaft sicher gewesen wäre, ein Ton zugeschrieben (vgl. fol. 526r: Jn Cunrads von wirczburg nachtwyse. Alij dicunt esse jn frider. von suneburg sußē don). Sonst erscheint sein Name lediglich noch in den namenreichen Dichterkatalogen von Konrad Nachtigall (danach auch bei Valentin Voigt) und von Hans Folz (Ausgabe der Texte bei Brunner, Dichter ohne Werk, S. 14–31). Ausg. Cramer; Mas.; Schl.; Sps. – Lit. Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Töne Sonnenburgs; Hahn, R., Spruchdichter; Kästner, Wettstreit; Kern, P., Trinität; Kiepe-Willms, Damen; Krause, „milte“-Thematik; Loleit, Sprache; Müller, U., Untersuchungen; Müller/Spechtler, Sonnenburg; Schwob, Plädoyer; Ukena-Best, Strategien; Ukena-Best, ‚Welt‘-Sprüche; Wachinger, Sängerkrieg.

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7 Konrad von Würzburg

Gert Hübner †

Autor, Gönner, Werk Konrad von Würzburg ist wegen der Anzahl der von ihm aufgegriffenen Gattungen (Brandt, Konrad von Würzburg; Brunner, Konrad von Würzburg; Kokott, Autor; Brandt, Literatur) ein Sonderfall nicht nur unter den Sangspruchdichtern, sondern in der gesamten deutschen Dichtung des 13. Jahrhunderts. Datierungen und Lokalisierungen beruhen auf den Gönnernennungen in einigen der epischen Texte sowie auf chronikalischen und urkundlichen Belegen (Peters, Literatur, S. 114–137; Brandt, Konrad von Würzburg, S.  63–80; Bärmann, Göli, S.  126–156); Quellen für ein Verfasserprofil bieten in erster Linie die erhaltenen Werke selbst. Als Straßburger Domprobst ist im Märe ‚Heinrich von Kempten‘ Berthold von Tiersberg bezeichnet; er hatte das Amt von 1261 bis 1277 inne. Dietrich an dem Orte († um 1290), der aus der Basler Ritterfamilie de Fine stammte und im Antikenroman ‚Trojanerkrieg‘ als singer firmiert, ist ab 1281 als Basler Domkantor belegt und kann frühestens 1278 in dieses Amt gelangt sein. Peter Schaler († 1308), der im Text nicht genauer titulierte Auftraggeber des Liebesromans ‚Partonopier und Meliur‘, wird ab 1258 greifbar, gehörte einer Basler Ritterfamilie an und war mehrmals Bürgermeister; Heinrich Merschant, der bei der Übersetzung der französischen Vorlage geholfen haben soll, tritt als Basler burger – die ebenfalls ratsfähige soziale Gruppe unterhalb der Ritterfamilien – mehrmals zwischen 1273 und 1296 in Erscheinung. Lüthold von Röteln († 1316), der im Text als Pfründner des Hochstifts Basel gekennzeichnete Auftraggeber der Silvester-Legende, entstammte einer bei Lörrach ansässigen Landadeligenfamilie; ein Basler Domherr dieses Namens wird ab 1241 erwähnt. Die Auftraggeber der Alexius-Legende waren Angehörige zweier Basler burger-Familien, der nur 1273 nachweisbare Johannes von Bermeswil und der von 1265 bis 1294 belegte Heinrich Isenlin. Johannes von Arguel, der Auftraggeber der Pantaleon-Legende, ist von 1277 bis 1311 dokumentiert; er entstammte der Landadeligenfamilie Erguël aus dem Jura, figuriert im Text jedoch einheiratsbedingt als Angehöriger der Basler burger-Familie Winhart. Keine Gönnernennungen enthalten das ‚Turnier von Nantes‘, der ‚Schwanritter‘, das ‚Herzmäre‘, der ‚Engelhard‘, ‚Der Welt Lohn‘, ‚Die Klage der Kunst‘ und ‚Die Goldene Schmiede‘ sowie gattungsgemäß die beiden Leichs, die Minnelieder und die Sangsprüche. Von den beiden Fürstenlobstrophen rühmt eine den von 1273 bis 1299 amtierenden Straßburger Bischof Konrad  III. von Lichtenberg (Schr. 32,361), die andere König Rudolf von Habsburg (Schr. 32,316); letztere kann wegen der Anspielung auf eine Unterwerfung Ottokars von Böhmen nicht vor 1276 entstanden sein (Müller, U., Untersuchungen, S. 146; Kleinschmidt, Herrscherdarstellung, S. 142–144). Den Tod eines Cuonradus de Wirciburch in Theothonico multorum bonorum dictaminum compilator („Zusammenfüger vieler guter Gedichte auf deutsch“) vermelden



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die ‚Colmarer Annalen‘  – ihr unbekannter Verfasser war seiner eigenen Auskunft nach aus dem Basler ins Colmarer Dominikanerkloster gewechselt  – zum Oktober 1287. Einen Conradus de Wirciburc vagus loben im späten 13. Jahrhundert die ‚Straßburger Annalen‘ für seine rhitmos Theutonicos de beata virgine preciosos („kostbaren deutschen Verse auf die heilige Jungfrau“, gemeint ist wahrscheinlich die ‚Goldene Schmiede‘); vagus könnte trotz der Wortbedeutung (‚Fahrender‘) nicht als Bezeichnung für eine Lebensweise, sondern für den volkssprachigen Dichter gebraucht sein. Das Jahrzeitenbuch des Basler Münsters verzeichnet eine auf den 31. August gestiftete Seelenmesse für einen Cunradus de Wirtzburg, seine Frau Berchta und seine beiden Töchter Gerina und Agnesa, die alle in der Maria-Magdalena-Kapelle begraben seien. Nicht leicht damit vereinbar ist der Vermerk einer Messstiftung auf den 30. Januar für einen Bruͦ der Cuͦ nrat von Wurczburg im Jahrzeitenbuch des Dominikanerklosters zu Freiburg im Breisgau; zu diesem passt dagegen die im Anschluss an die ‚Goldene Schmiede‘ ins ‚Hausbuch‘ Michaels de Leone (München, UB, 2o Cod. ms. 731) eingetragene Nachricht, meister Cuͦ nrad geborn von Wirzeburg sei zvͦ friburg im prisgeuͤ begraben. Eine Basler Urkunde regelt 1295 den Verkauf eines Hauses in der Spiegelgasse (der heutigen Augustinergasse auf dem Münsterberg), das früher einem magister Cuonrad de Wirzeburg gehört habe. Sollte der Dichter mit dem Basler Hausbesitzer und dem im dortigen Münster begrabenen Familienvater identisch sein, wäre gegenüber der in der Germanistik verbreiteten Klassifikation ‚Berufsdichter‘ Vorsicht am Platz: Dass der soziale Status, der durch ein Haus in unmittelbarer Nachbarschaft von Domkapitel und Bischofshof sowie ein Grab in einer (nicht erhaltenen) Münsterkapelle angezeigt wird, allein mit dem Verfassen volkssprachiger Verstexte zu erreichen war, verdient zumindest Zweifel. Vermutet wird heute meist – in der Forschung nicht ganz unumstritten – vor der Ansiedlung in Basel eine frühe Schaffens- und Lebensphase in Würzburg (unter Verweis auf die Gönnerschaft der Grafen von Rieneck im ‚Schwanritter‘) und am Niederrhein im Umkreis der Grafen von Kleve (unter Verweis auf deren Auftraggeberschaft am ‚Turnier von Nantes‘ und möglicherweise am ‚Engelhard‘, vgl. De Boor, Chronologie; Brunner, Phantasien; Brunner, Porträt). Wegen der Nähe zu Basel wird die Annahme einer Straßburger Lebensphase durch das Märe für Berthold von Tiersberg ebenso wenig erzwungen wie durch das Fürstenlob auf Konrad von Lichtenberg. Die Strophe auf Rudolf von Habsburg kann dessen Anhängern – zu ihnen gehörten an führender Stelle die Schaler – in der Basler Ritterschaft gedient haben. Konrad von Lichtenberg, wie Hochstift und Stadt Basel ein Hauptakteur in den oberrheinischen Konflikten um die habsburgischen Territorialambitionen der 1270er Jahre, war übrigens ebenfalls ein Parteigänger Rudolfs. Nicht völlig aus dem Blick geraten sollte schließlich noch – auch wenn sich der Streit zwischen Denzinger (Geburtsort) und Wackernagel (Konrad) um den Geburtsort nicht für eine Wiederbelebung eignet  –, dass die Herkunftsbezeichnung kein hundertprozentig sicherer Beleg für eine Migration des Namensträgers (und nicht etwa schon eines Vorfahren) ist: Noch Johann Fischart etwa benutzte trotz der Geburt in Straßburg wegen der Herkunft

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des Vaters sein Leben lang den Namenszusatz Mainzer; die Behauptung im Codex ­Michaels de Leone kann ohne tatsächliche Kenntnisse einer Sachlage aus Konrads Namenszusatz abgeleitet sein. Als gesichert darf nur gelten, dass Konrad von Würzburg in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts für Angehörige der Führungsgruppen des Hochstifts und der Stadt Basel dichtete. Alle Werke Konrads sind in der Tradition der höfischen Dichtung auf die Thematisierung aristokratischer Vornehmheit konzentriert; auch die drei Heiligenlegenden haben, freilich ohne aus der gattungsspezifischen frommen Exemplarik auszuscheren, adelige Protagonisten. Mit der kulturellen Orientierung städtischer Führungsgruppen im späteren 13. Jahrhundert konvergiert das Œuvre-Profil problemlos (Peters, Literatur, S. 114–137 und passim): Basler Domkanoniker stammten aus städtischen Ritteroder aus Landadeligenfamilien; nicht nur die wahrscheinlich aus der bischöflichen Ministerialität hervorgegangenen Ritter-, sondern auch die ratsfähigen burger-Familien strebten, wie etwa Heiraten mit Landadeligen und Grunderwerb im Umland der Stadt zeigen, einen adelsäquivalenten Status an (Meyer, W., Basel). Ein als ‚stadtbürgerlich‘ apostrophierbares Interesse dokumentieren Konrads Texte an keiner Stelle; vielmehr ist selbst der Blick auf die Stadt, wie insbesondere die Darstellung Trojas im ‚Trojanerkrieg‘ eindrücklich vor Augen führt, ein genuin höfisch-aristokratischer. Grundlage für die Thematisierung adeliger Vornehmheit in der höfischen Dichtung war freilich seit den Anfängen im 12. Jahrhundert das gelehrte Bildungswissen der Dichter, auch wenn in den meisten Fällen nicht rekonstruierbar ist, wo es erworben wurde und welche Ausmaße es hatte. Dass Konrads Werke ihren Verfasser als geradezu prototypischen Fall dieser Konstellation ausweisen, liegt nicht nur an seiner Fähigkeit zur Bearbeitung lateinischer Textvorlagen, sondern ebenso zur von den einzelnen Bearbeitungsvorlagen unabhängigen Aktualisierung verschiedener Wissensbestände aus der lateinischen Gelehrtenkultur; ein konkretes Bildungsprofil lässt sich indes auch aus seinen Texten nicht ableiten (Brandt, Konrad von Würzburg, S.  66). Die Sangsprüche dokumentieren dieselbe Verfügbarkeit gelehrter Bildung wie das gesamte Œuvre: Ein Musterbeispiel dafür ist das bereits erwähnte, im Text selbst als geblüemet bezeichnete Fürstenlob auf Konrad von Lichtenberg, das zum einen mit der anaphorischen Reihe von Vergleichen in syntaktischen Parallelismen ein verbreitetes rhetorisch-poetisches Formulierungsmuster aufgreift, zum anderen den Großteil der Vergleiche aus dem Lobpreis des Hohenpriesters Simon Makkabäus bezieht, der im Ecclesiasticus (Sir 50,1–21) als Priesterfürst, Stadtherr und Erneuerer des Gotteshauses – der Straßburger Bischof trieb den Münsterbau voran – gerühmt wird (Hübner, Lobblumen, S. 1–4, 68  f.). Nur wer Formulierungsmuster und Prätext kannte, vermochte die Bedeutung von Konrads gelehrt-poetischer Blümung des fürstbischöflichen Ruhms genau zu verstehen.



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Überlieferung, Töne Die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C und die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J attribuieren Konrad zusammen 52 Sangspruchstrophen in sieben Tönen; eine C-Strophe stammt von Friedrich von Sonnenburg (Mas. 12). (Zur Überlieferung vgl. RSM, Bd. 4, S. 183–228; Mayer, Probleme; Miedema, Konrad, Bd. 1, S. 47–129; zu den Tönen Rettelbach, Aspis; Rettelbach, Variation, Register; Brunner, Formgeschichte, S. 73–82; Edition des Textbestands von C und J: Schr.; Edition aller Konrad in der Überlieferung attribuierten Töne: Sps., S. 178–189 und 194  f.; Edition aller überlieferten Texte in Konrad attribuierten Tönen: Miedema, Konrad, Bd. 2.) C enthält – nach den beiden Leichs und vermischt mit den Minneliedern, aber doch eher zum Ende des Korpus hin – sieben Spruchtöne (Schr. 18, in der späteren Überlieferung Frauenlobs Spiegelweise; Schr. 19; Schr. 22; Schr. 24; Schr. 25, in der späteren Überlieferung Aspiston; Schr. 31, in der späteren Überlieferung Morgenweise; Schr. 32, in der späteren Überlieferung Hofton). J bietet die Melodie zum Hofton sowie zehn Strophen, darunter zwei nicht in C überlieferte (Schr. 32,346 u. 361) und die zehnte wegen des anschließenden Blattverlusts fragmentarisch. Die ältesten erhaltenen Melodien zu Aspiston und Morgenweise und die Tonnamen notiert die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ zusammen mit weiteren Konrad zugeschriebenen Tönen (Reihen, Goldener Reihen, Nachtweise, Kurzer Ton, Hofton, Blauer Ton). Drei geistliche Strophen aus dem Hofton (Schr. 32,1.16.46; Nowak, Studien, S.  233–238; Miedema, Compilator) sind außer in C und J auch in der sog. Basler Rolle (Basel, UB, N I 6/50, Ende 13. Jh., Pergamentrotulus-Fragment) zusammen mit Strophen des Marners und des Kanzlers überliefert, Schr. 32,1 und 32,46 in einer geistlichen Sammelhandschrift mit lateinischen und deutschen Texten (Basel, UB, B XI 8, um 1300), Schr. 32,1 und das Initium von Schr. 32,46 in einer geistlichen lateinischen Sammelhandschrift (München, BSB, Clm 27329, Anfang 14. Jh.). Es handelt sich dabei um diejenigen drei Strophen – re­ spektive zwei von ihnen – aus dem älteren Überlieferungsbestand, die Themen der spekulativen Theologie (Trinitäts-, Eucharistie-, Inkarnationslehre; zum literarhistorischen Horizont Kern, P., Trinität) mit Formulierungsverfahren traktieren, die auf die forcierte Inszenierung begrifflicher Widersprüche zielen. Das themaspezifische Verfahren ergibt eine für spekulativ-theologische Sangsprüche im späteren 13. Jahrhundert charakteristische Konstellation, an deren Etablierung Konrad zumindest maßgeblich beteiligt gewesen zu sein scheint und die offenbar auch jenseits der gängigen Überlieferungskontexte der Sangspruchdichtung Interesse fand. Wie der Hofton sind die anderen in C überlieferten Sangspruch-Strophenformen – in Übereinstimmung mit dem gattungsgeschichtlichen Trend und ebenso wie die meisten von Konrads Minneliedern – Kanzonen mit Steg und drittem Stollen. Die Töne Schr. 19 und 23 stellen eine gattungsgeschichtliche Besonderheit dar, insofern sie in einem jeweils dreistrophigen Liedzusammenhang Minnesang und Sangspruchdichtung auf eine spezifische Weise kontaminieren (Cramer, Minnesang; Miedema, Dialog): Ein Wintereingang evoziert in beiden Fällen die Erwartung einer anschließenden Thematisierung der Liebe, an deren Stelle dann jedoch der Zusammenhang

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von milte und êre tritt, so dass die Relation Minnesänger–Frauen implizit durch die Relation Sangspruchdichter–Gönner ersetzt wird. Thematische Schwerpunkte Dass die Freigebigkeit in Konrads Sangsprüchen ein häufig behandeltes Thema ist, stellt kein Indiz für eine Fahrendenexistenz dar, weil es auch zu den städtischen Gönnerverhältnissen passt. Hier wie bei anderen Themen zeigen zwar nicht alle, aber doch verhältnismäßig viele von Konrads Sangsprüchen eine Neigung zur Präsentation von Analogien zwischen den Regularitäten der sozialen Praxis und der Ordnung der natürlichen Dinge. Das Verfahren, das menschliches Handeln nicht als Folge von Norm und Tradition, sondern als Bestandteil der gottgeschaffenen Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten ausweist, gehört zum Kernbestand der Gattungspoetik und ist deshalb kein Spezifikum der Sangsprüche Konrads. Insofern es – in Gestalt der Herstellung einer similitudo  – rhetorische inventio als ‚Findung‘ wahrer Topoi mit elucotio als Formulierungskunst verbindet und dabei zugleich wissensbasierte Deutungskompetenz demonstriert (vgl. dazu → Kapitel IV.8), war es besonders gut dazu geeignet, einen in der lateinischen Bildungstradition verankerten Dichtungsbegriff auf eine ostentative Weise zu aktualisieren. Die auffällig hohe Frequenz von Analogiebildungen in Konrads Sangsprüchen könnte deshalb indizieren, dass er dem Verfahren eine spezifische Leistungsfähigkeit zumaß, weil er eine reflektierte Vorstellung von seinem poetologischen Sinnpotential hatte. Was bei anderen Spruchdichtern als ein textuelles Verfahren neben weiteren erscheint, ist bei Konrad jedenfalls die erkennbar präferierte Option, wenngleich auch bei ihm nicht die einzige. Wie in der gesamten Gattungstradition kommt es dabei in seinen Sangsprüchen offenkundig nicht so sehr darauf an, aus welchen Traditionsbeständen  – wie beispielsweise Tierfabel (vgl. → Kapitel IV.3; zu Konrad Sparmberg, Fabel, S. 39–45; Teschner, bîspel, S. 195–200; Grubmüller, Esopus, S. 248–250) oder Naturallegorese (vgl. → Kapitel IV.8; zu Konrad Teschner, bîspel, S. 180–184) – das Gedeutete stammt und ob die Deutungen traditionsgeprägt oder neu ‚gefunden‘ sind, sondern auf die übereinstimmenden Implikationen der Begriffe, zwischen denen die Analogie hergestellt wird: Die Begriffsimplikation, nicht die Traditionalität der Deutung gewährleistet die Funktion der Analogie als Begründung für die Ordnung des Handelns mit derjenigen der Natur. So ist auf dem bevorzugt thematisierten Handlungsfeld von Freigebigkeit und Ehre der Geizige wie der Tierfabel-Fuchs, der dem Affen kein Stück von seinem Schwanz abgeben will (Schr. 18,21) oder wie die Fledermaus, die nicht zwischen wahrem Licht und faulem Glanz unterscheiden kann (Schr. 25,61). Wie die Fledermaus, die sich nachts an einem Schwert zerschneidet, ist der Tugendlose, der êre haben will (Schr. 24,18). Freigebigkeit bewahrt vor Schande, wie sich der Biber vor den Jägern rettet, indem er sich die Hoden abbeißt (Schr. 32,331). Der Freigebige leuchtet unter den Geizigen wie die Perle unter Kieselsteinen (Schr. 31,58). Der Schlechte und Geizige



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meidet das Lob des Tugendhaften und Freigebigen wie das Gewürm den Weinstock und der Drache den Panther (Schr. 32,241). Das aus milte Gegebene kehrt als êre zurück, wie alle Flüsse aus dem Meer fließen und ins Meer zurückkehren (Schr. 24,1). Auch über Freigebigkeit und Geiz hinaus machen Naturanalogien Richtigkeit und Falschheit des Handelns erkennbar: nît zerfrisst das Herz wie die Milbe Haare (Schr. 32,76); êre verdirbt durch die kleinste valschheit wie Rosenwasser durch einen Tropfen anderen Wassers (Schr. 32,61). Wie die Schlange Aspis sollen die herren ihre Ohren gegen die schlechte Rede des schalkes verschließen (Schr. 25,1); der schalc soll unfruchtbar sein wie der von Fuchs und Wolf gezeugte Luchs (Schr. 32,211); valscher muot sollte vom reichen adeligen schalc so leicht zu trennen sein wie Gold mittels Krötenasche von Kupfer (Schr. 32,226). Seltener dient dagegen  – auch dies ist für die Gattung Sangspruchdichtung charakteristisch (vgl. → Kapitel IV.8) – die exemplarische Darstellung menschlichen Handelns als Beleg für praktische Regularitäten: Ein Geiziger bietet einem Schächer Lohn für einen Mord an einem Freigebigen an; der Schächer bemerkt jedoch das Missverhältnis zwischen dem Reichtum des Geizigen und seinem niedrigen Lohnangebot und ermordet stattdessen diesen (Schr. 31,77); zwölf Räuber hätten gemeinsam einen Riesen besiegen können, während ihm einzeln jeder unterlag (Schr. 32,121; zu beiden Strophen Teschner, bîspel, S. 184–186). Neben der Einzeltugend Freigebigkeit treten Tugendadel, Minne, Vergänglichkeit und kunst als speziellere Themen in Konrads Sangsprüchen hervor. Tugendadel wird nicht gegen Geburtsadel ausgespielt, sondern vom Geburtsadel eingefordert (Schr. 18,11; Schr. 31,20); eine Kleiderallegorie stellt den Wert der Tugenden für den Ritter über denjenigen teurer Gewänder (Schr. 32,196). Minne wird im Lob der frouwe, die ihre Affekte beherrschen kann (Schr. 32,91; Egidi, Liebe, S. 102–106), eher mit moralphilosophischen Kategorien traktiert, im Lob des Geschlechtsverkehrs eher mit aristokratisch-höfischen (Schr. 31,96); auf ein positives Urteil über die körperliche Vereinigung zielt ebenso die Allegorisierung der Minne als Räuberin in der Räuberhöhle – nämlich dem weiblichen Herzen, wo der Mann sie fängt (Schr. 32,106; Egidi, Liebe, S. 154–158). Die in der Tradition des Memento mori stehenden Strophen über die Vergänglichkeit des Lebens identifizieren Erkenntnis verursachende Zeichen der Sterblichkeit (Schr. 32,256) und tadeln Langeweile als törichte Missachtung der Unwiederbringlichkeit verlorener Zeit (Schr. 32,271; zu beiden Miedema, Strophen); ein ambivalentes Deutungsangebot macht möglicherweise  – je nach denkbarem Bezug auf drohende Verdammnis oder verheißene Erlösung – der Vergleich zwischen den Tieren, die Angst vor dem Tod hätten, wenn sie von ihm wüssten, und dem Menschen, der in Zuversicht und Freude lebt, obwohl er vom Tod weiß (Schr. 32,346). Das von den Sangspruchdichtern gern behandelte Thema kunst bleibt  – nicht zuletzt angesichts seiner Prominenz insbesondere im ‚Partonopier‘- und im ‚Trojanerkrieg‘-Prolog – in Konrads Sangsprüchen eher randständig: Eine als Lob maskierte Schelte des Meißners (Schr. 32,286; Wachinger, Sängerkrieg, S.  162  f.; Burkard, Sangspruchdichter, S. 133–144) ist in ihrer Stoßrichtung schwer zu deuten. Die Tierfabel vom bellenden Hund und brüllenden Esel dient als Analogie für die von den

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Adeligen geforderte Unterscheidung zwischen guten und schlechten Sängern (Schr. 32,166, als Unterscheidung zwischen meistern und Dieben von rede und gedœne ohne eine Analogie nochmals Schr. 32,181; zu beiden Strophen Obermaier, Nachtigallen, S.  222–227). Literaturwissenschaftliche Prominenz erlangt hat die Promotion des Gesangs zur edelsten aller künste mit der Begründung, dass red und gedœne singen im Unterschied zu jeder anderen kunst nicht erlernbar sei und keine Werkzeuge brauche, sondern allein auf Gottes gunst und der natürlichen körperlichen Ausstattung beruhe (Schr. 32,301; Obermaier, Nachtigallen, S.  219–222; Scherbaum, Vokalmusik; Schnyder, Können). Eine ähnliche Argumentation entwickelt der ‚Trojanerkrieg‘-Prolog, wo zur Kontrastierung manuelle Künste – offensichtlich der Werkzeuge wegen – und nicht etwa die artes liberales angeführt sind. Die Exorbitanz des Gesangs haben andere Sangspruchdichter – und noch die Meistersinger – mit göttlicher Begnadung und adeliger Herkunft (König David) begründet und damit gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal unter den Wissensvermittlern konstruiert (Hübner, Hofhochschuldozenten); Konrads Argumentation dürfte dasselbe Ziel verfolgen, bleibt jedoch im diskursgeschichtlichen Feld wegen der bestrittenen Erlernbarkeit des Singens eigentümlich. Die Differenzierung zwischen Vokal- und Instrumentalmusik, die ein Bar der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ unter Verwendung von Konrads Strophe entfaltet (Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr.  120, RSM 1KonrW/7/510; Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 278–283, 772–775), kann allenfalls dem Kriterium unnötiger Werkzeuge, kaum jedoch dem der Unerlernbarkeit zugrundeliegen, so dass sie keinen historischen Horizont liefert, der den von Konrad konstruierten Begründungszusammenhang hinreichend erklärt. Wirkung Bereits von zeitgenössischen Sangspruchdichtern wurde Konrad von Würzburg als meister und für seine Gelehrtheit gerühmt (Boppe Alx. I,21; Rumelant von Sachsen Ruw./Krn. VIII,3), mit der größten Emphase und in der ihrerseits gelehrtesten Weise von Frauenlob (GA VIII,26), im Kontext eines Sängerkatalogs von Hermann Damen (Schl. III,4; Burkard, Sangspruchdichter, S. 38–62, 99–109, 237–246). In nach Anzahl und Namen der meister unterschiedlich besetzten Katalogen ziehen sich eher vereinzelte Erwähnungen durch das 14. und 15. Jahrhundert (Lupold Hornburg Cramer II, I; RSM 1Regb/4/510; Hans Folz: Brunner, Dichter ohne Werk, S.  89–94; Konrad Nach­tigall: ebd., S.  15–19), bevor Konrad zum Bestandteil des vermutlich um 1500 konstituierten Zwölferkatalogs der Meistersinger wurde (Miedema, Konrad, Bd.  1, S. 129–236; Henkel, Alte Meister; Brunner, Alte Meister, Register). Wie in anderen Fällen wird der Traditionsbildungsprozess ebenso in der Ton- und Textüberlieferung der meisterlichen Liedkunst und des städtischen Meistergesangs greifbar, die neben Neukompositionen und Neudichtungen auch ältere Strophenbestände in mehr oder weniger stark modifizierter Gestalt bewahrte; ein durch Verfasser- und Tonnamen konstituiertes Korpus belegen zuerst die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k und die



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älteste Meisterlied-Sammlung von Hans Sachs (Berlin, SBB-PK, Mgq 414). Hinter den Ausmaßen etwa der Frauenlob- und der Regenbogen-Überlieferung sowie der durch sie angezeigten Prominenz steht Konrad von Würzburg in der Geschichte der meisterlichen Liedkunst und des Meistergesangs allerdings deutlich zurück. Ausg. Alx.; Bartsch (Hg.), Meisterlieder; Cramer; GA; Krn.; Ruw.; Schl.; Schr.; Sps.; Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters. – Lit. Bärmann, Göli; de Boor, Chronologie; Brandt, Konrad von Würzburg; Brandt, Literatur; Brunner, Alte Meister; Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Konrad von Würzburg; Brunner, Phantasien; Brunner, Porträt; Burkard, Sangspruchdichter; Cramer, Minnesang; Denzinger, Geburtsort; Egidi, Liebe; Grubmüller, Esopus; Henkel, Alte Meister; Hübner, Hofhochschuldozenten; Hübner, Lobblumen; Kern, P., Trinität; Kleinschmidt, Herrscherdarstellung; Kokott, Autor; Mayer, Probleme; Meyer, W., Basel; Miedema, Compilator; Miedema, Dialog; Miedema, Konrad; Miedema, Strophen; Müller, U., Untersuchungen; Nowak, Studien; Obermaier, Nachtigallen; Peters, Literatur; Rettelbach, Aspis; Rettelbach, Variation; RSM; Scherbaum, Vokalmusik; Schnyder, Können; Sparmberg, Fabel; Teschner, bîspel; Wachinger, Sängerkrieg; Wackernagel, Konrad.

8 Rumelant von Sachsen

Holger Runow

Vorbemerkung: Die Sangsprüche Rumelants liegen in zwei modernen Ausgaben vor (Krn., Ruw.). Beide verwenden mit wenigen Ausnahmen dieselbe Strophenzählung, die zudem der Systematik des RSM entspricht (z.  B. Str. I,5 = RSM 1Rum/1/5 etc.). Nur bei voneinander abweichenden Zählungen erfolgt ein Nachweis der jeweils verwendeten Ausgabe. Zitate folgen in der Regel der normalisierten Schreibweise von Ruw.

Als einer der produktivsten Sangspruchdichter des späteren 13. Jahrhunderts steht Rumelant in einer Reihe mit dem älteren Marner und dem Zeitgenossen Meißner, die er beide erwähnt und wohl gekannt hat. Der nicht überlieferte Namenszusatz ‚von Sachsen‘ hat sich in der Forschung etabliert zur Unterscheidung vom Namensvetter Rvmelant von Swaben (J, fol. 62v), dessen knappes Œuvre in der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J unmittelbar an das Rumelant-Corpus anschließt. Die Herkunftsbezeichnung gründet sich neben dem nachweislichen Wirkungsraum (s.  u.) auf die niederdeutsch beeinflusste mitteldeutsche Sprache der Hauptüberlieferung in J, die sich auch im Reimgebrauch findet (Panzer, Leben, S. 25–33; Ruw., S. 18–35), sowie speziell auf eine Textstelle, in der Rumelant dem oberdeutschen Marner entgegenhält, dass Gott eime Saxsen alsô vil […] helfe unde rât schenke wie einem Schwaben (IV,6,7  f.). Sowohl in J als auch in der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C wird er als meister tituliert. Der Namensform Rvmelant (J) ist der Vorzug zu geben gegenüber Rumslant (C) wegen der sprachlichen Nähe und besseren Qualität der Überlieferung in J, gestützt durch die (metrisch stimmige) Apostrophe An Rûmelande durch einen Anonymus in Rumelants Ton (VI,12,1); andererseits könnte es sich gerade bei der in C überlieferten Form um

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einen sprechenden ‌Namen handeln: Rûmʼz-lant ‚verlass das Land‘ als Bezeichnung für einen Fahrenden, der immer ‚auf dem Sprung‘ ist. Darauf mag auch die Autorminiatur verweisen; die Interpretation des Bildes mit zwei Figuren, von denen eine den Fuß im Steigbügel eines Pferdes hat und die andere die Zügel hält, etwa als Szene der „Beschenkung eines Fahrenden mit einem Pferd“ (Walther/Siebert [Hg.], Codex Manesse, S. 273), bleibt aber letztlich ungewiss. Überlieferung Hauptüberlieferungszeuge ist die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J. Sie bewahrt auf fol. 47v bis fol. 62v insgesamt 105 Strophen in zehn Tönen. Durch Blattverlust nach fol. 57v sind sechs Strophen in Ton VI verloren. Zu neun der zehn Töne sind Melodien eingetragen, der Text von IX,1 steht unter leerem Notensystem. Als Besonderheit sind Rumelant per Randeintrag (rvmelant) drei Strophen in anderen Corpora zugeordnet: zwei Strophen in Singaufs Ton (fol. 44r; in den Ausgaben gezählt als XI,1  f.) sowie eine in Frauenlobs Langem Ton (fol. 104v = XII,1). Soweit erkennbar, hat er sich fremder Töne nur im Zusammenhang literarischer Fehden bedient. Dass die Auszeichnung der Textautorschaft bei Fremdtonverwendung in der nach dem Töneprinzip organisierten Handschrift J ein Sonder- und Glücksfall ist, zeigt die anonyme Strophe VI,12, wo eine solche Markierung ausgeblieben ist. Die ‚Manessische Liederhandschrift‘ C bietet Parallelüberlieferung zu 16 Sangspruchstrophen aus den Tönen I, II, IV und V. Das in J das Rumelantcorpus eröffnende Lied I,1–4 ist in C ohne jede Kennzeichnung im Walther-Corpus eingetragen (C 360– 363, zwischen zweitem Ottenton und dem Minnelied L.  109,1), an der Autorschaft Rumelants ist aber nicht zu zweifeln. Auf die Spruchstrophen folgen drei nur hier überlieferte dreistrophige Minnelieder (Ruw., Töne XIII–XV). Weitere Parallelüberlieferung bieten das in den Umkreis von J gehörende Wolfenbüttler Fragment (Teile von Strophen in Ton IV und V; Textbestand, -reihung und Wortlaut weitgehend, aber nicht völlig identisch mit J) sowie das Maastrichter Fragment (nur Ruw. II,5 = ‌Krn. II,6). Datierung, Gönner, Wirkungsraum Rumelant urkundet nicht, doch bezieht er sich in panegyrischem Gönnerlob und Totenpreisklagen, aber auch mahnend und scheltend auf Personen, Orte und Ereignisse der Zeitgeschichte. Zu Sprache und Reimgebrauch eines mitteldeutsch dichtenden Niederdeutschen sowie zum Selbstverständnis als Sachsen (IV,6,7) passt der in den referenzierbaren Strophen greifbare überwiegend nord- und mitteldeutsche Wirkungsraum. Eine mögliche Ausnahme bildet das zweifache Lob auf den bayerischen Herzog Ludwig II. (seit 1253 Pfalzgraf bei Rhein, † 1294) in II,13 und VI,7. Er wird gepriesen als des rœmeschen rîches erste kieser an dem kür (II,13,9), was sich wohl auf die Königswahl Rudolfs I. am 1. Oktober 1273 in Frankfurt bezieht, bei der Ludwig eine Sonderstellung unter den Kurfürsten zukam (vgl. Krn., S. 337). Der frisch gekrönte (bzw. zur Krönung am 24. 10. 1273 in Aachen bestimmte) Rudolf selbst wird ebenfalls



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gerühmt (V,7). Sind alle Strophen in diesem Umfeld entstanden, muss Rumelant nicht bei Ludwig in Bayern bzw. in der Pfalz gewesen sein (andererseits aber hatte er auch Kontakt zu oberdeutschen Dichtern wie dem Marner und Konrad von Würzburg). – VIII,10 ist eine Totenklage auf den Grafen Gunzelin III. von Schwerin († Herbst 1274). Zwei mecklenburgische Herren namens Zabel, die in den Jahren 1274–1277 mehrfach gemeinsam urkunden, werden in VIII,12 gelobt. Die Strophen II,14  f. beklagen den Tod Barnims I. von Pommern-Stettin († November 1278). Herzog Albrecht I. von Braunschweig († 15. August 1279) wird in II,12 und VI,5 als noch Lebender angesprochen, VIII,4 ist ein ihm gewidmeter Nachruf. 1286/87 hat Rumelant sich, vielleicht im Gefolge des Markgrafen Otto IV. von Brandenburg (Krn., S. 543), am dänischen Königshof aufgehalten (Layher, Rumelant; Schröder, R., Rumelant): VI,10 und X,3–5 prangern den Königsmord an Erik V. Klipping vom 22. November 1286 an, in V,8 wird sein Sohn Erik VI. Menved (seit 1286 König, † 1319) als würdiger Nachfolger gepriesen. Literarisches Umfeld, Polemik Vermutlich hat Rumelant auch einige Zeit vor und nach dem datierbaren Zeitraum von 1273–1286 gedichtet. Ansatzpunkte für relative Datierungen bieten Auseinandersetzungen mit anderen Sängern. Dem gealterten Marner (letzte datierbare Strophe 1266/67) gilt einige Polemik, aber auch ein anerkennender Nachruf. Gegen Singaufs Rätsel führt Rumelant als spæhe meister, die noch leben (VIII,3,5), den Meißner, Konrad von Würzburg († 1287), Höllefeuer und den Unverzagten ins Feld. Die Beteiligung am wîp-vrouwe-Streit impliziert Zeitgenossenschaft zu Frauenlob († 1318). An den alten Marner richtet sich mit IV,4–7 eine kleine Gruppe polemischer Strophen (Wachinger, Sängerkrieg, S.  164–170; Haustein, Marner-Studien, S.  43–46; Löser, Feind; Burkard, Sangspruchdichter, S.  217–227; Wms., S.  391–393; zuletzt Krn., S.  375–394). Anlass für das Mühlenrätsel in IV,4  f. ist womöglich ein  – beim Marner indes nicht verifizierbares – Zitat, wonach schon ein wenig Wasser eine Mühle ächzend in Gang setzen kann. Die Mühle als Handwerksmetapher für das Dichten (Krn., S. 376  f.) entschlüsselt den alten Müller als Dichterkollegen, gegen den polemisiert wird: Seine drei ‚Mühlräder‘ (Latein, Schwäbisch, hohes Alter) bringen trotz beträchtlichen ‚Ausflusses‘ nicht viel von Gehalt zustande. IV,6 schließt daran direkt an (ohne dass die Strophen zwingend als Einheit konzipiert sein mussten), nennt den Marner beim Namen und ermahnt ihn, mit seinem gelehrten musikalischen Wissen (Hinweis auf die ‚Guidonische Hand‘) nicht zu sehr die Laien (unter den Konkurrenten bzw. im Publikum?) zu verachten; andere seien schließlich auch mit Talent gesegnet. Das Rätsel IV,7 mit der Eröffnung ‚Ren-ram‘-rint … verhöhnt einen kindischen Greis. Zu lösen ist es durch Inversion der Eingangssilben: Mar-ner. Hinweise zur Entschlüsselung enthält die Strophe selbst (das gesuchte wunder hat sich zurückentwickelt, es geht „rückwärts“, sein Ruhm ist „verkehrt“). Von Spott und Konkurrenz (ob im Ernst oder als Teil literarischen Spiels, muss offen bleiben) ist im Nachruf auf den Dichterkollegen (I,9) nichts zu spüren, nur Mitleid und Bitte für das Seelenheil des Marners,

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der als erblindeter Greis hinterhältig ermordet worden sei, und Anerkennung für seine Kunst. Auf Singaufs allegorisches Rätsel (C.-W. I,3  f.) hat Rumelant zweimal reagiert, einmal in dessen Ton (XI,1  f.), einmal in einem eigenen (VIII,2  f.). Die Provokation Singaufs, der gefordert hatte, zur Lösung seines Rätsels bräuchte es gleich vier Meister, demontiert er, wiederum mit Lust am Wortspiel, indem er den Namen des Herausforderers vierfach zerlegt: Sing ûf, sing abe, sing hin, sing her! (Ruw. VIII,2,9). Der viel besprochene Rätselkomplex kann nicht als letztgültig gelöst gelten. Singauf fragt in zwei Strophen nach einem oder zwei verschiedenen Abstrakta, die Lösung ist umstritten, so auch schon die Chronologie der Rumelant-Antworten, ihr Zusammenhang und die überlieferte Strophenfolge (Ton XI). In den Antworten fallen die Begriffe ‚Schlaf‘, ‚Weisheit‘, ‚Seele‘, ‚Glaube‘ (XI‚1  f.) sowie ‚Hoffart‘ (VIII,2), doch keiner davon ist explizit als Lösung markiert. Dass ‚Schlaf‘ eine (Teil-)‌Lösung ist, wird allgemein angenommen; unklar bleibt, ob Rumelant auf beide Rätselstrophen antwortet, ob seine (zweite?) Entgegnung in Ton VIII überhaupt eine Lösung bietet oder sich lediglich polemisch gegen Singaufs Prahlerei wendet. Zur Diskussion Wachinger, Sängerkrieg, S. 170–179; Tomasek, Rätsel, S. 304–309; Löser, Rätsel; Löser, Feind; C.-W., S. 138–143, 198–201; Burkard, Sangspruchdichter, S. 249–255; Ruw., S. 264–266 u. 278  f.; zusammenfassend und zum Teil revidierend Krn., S. 586  f., 651–653. Am wîp-vrouwe-Streit um Frauenlob ist Rumelant nach Ausweis der Überlieferung in J mit einer Strophe beteiligt (Wachinger, Sängerkrieg, S. 213, schließt die Verfasserschaft Rumelants für eine weitere Strophe, GA V,109 G, nicht aus; zum Zusammenhang Wachinger, Sängerkrieg, S. 188–246; Wenzel, F., Meisterschaft, S. 137–141). Im Anschluss an Frauenlobs ‚Herausforderungsstrophe‘ (GA V,106) mit der Behauptung des Vorrangs von vrouwe vor wîp ist Rumelant um eine integrierende Gegenposition (kritisch Krn., S. 663  f.) bemüht. Ein namensspielerischer Seitenhieb auf den Provokateur eröffnet die Strophe (XII,1,1): Der wîbe name grœzer ist den vrouwen lob („Die Bezeichnung als wîp übertrifft das Lob der vrouwe“ bzw. „übertrifft Frauenlob“). Schwer zu verorten ist die Strophe  VI,12 eines Anonymus, der sich gegen den Vorwurf von dritter Seite verteidigt, er habe Rumelant sein singerlîn abspenstig gemacht. Vielleicht wäre mehr Aufschluss über den literarischen ‚Betrieb‘ der Sangspruchdichter zu gewinnen, wenn genauer zu fassen wäre, was mit dem singerlîn gemeint ist: etwa eine Art Singschüler (vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 181; Panzer, Leben, S. 22; Krn., S. 552)? – Neben der Interaktion mit konkreten Dichtern gibt es eine Reihe polemischer Sprüche, deren Zuordnung nicht rekonstruierbar ist oder die sich nicht an einzelne Personen, sondern an einen Typus richten (vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 116–120). In verschiedenen Bildern wird die falsche Überheblichkeit oder Unfähigkeit von Sängern angeprangert: III,1 richtet sich gegen wânprophêten, die mit ihrem Sang über die Schöpfungsgeheimnisse spekulieren; IV,18 gegen die Schwalbe, die zwar schön fliegt, aber schlecht singt (in C folgt die Strophe auf IV,7, weswegen auch ein Bezug auf den Marner erwogen wurde; zuletzt Haustein, MarnerStudien, S. 46 Anm. 81); VII,2 gegen kunstlose Fußgänger, die meinen, über die über-



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legene Sangeskunst des reitenden Sänger-Ichs schimpfen zu dürfen. – In den weiteren Zusammenhang solcher Polemik gehören neben der Warnung, sich nicht seiner eigenen Kunst zu rühmen (VIII,9), wohl auch die Invektive IV,22 gegen unfähige Maler und vielleicht I,8 gegen Verfertiger von wertlosem Schmuck für die Herren (bildlich für Preisdichtung? Vgl. Krn., S. 267  f.). – Sein eigenes kunst-Verständnis hat Rumelant in VI,6 prägnant zusammengefasst: Kunst kommt von Gott, sie ist von sich aus uneingeschränkt gut und hat selbst nicht Schuld daran, wenn sie zu bösen Zwecken missbraucht wird; der gute Künstler soll demütig sein, so adelt ihn die Kunst. Zum weiteren Profil des Sangspruchœuvres Knapp ein Drittel der Strophen kreist um geistliche Themen. Im Zentrum stehen das Lob Gottes als allmächtiger Schöpfer und barmherziger Erlöser sowie der Gottesmutter Maria, die Inkarnation und die Passion (eher konventionell z.  B. VI,1  f. Preis des gekreuzigten Erlösers und Unmöglichkeit des angemessenen Gotteslobes; V,6 Lob der Barmherzigkeit; IX,1–3 Schöpferpreis, Inkarnation, Weihnachtsgeschehen). Die Töne V sowie VII, VIII und IX werden in J jeweils mit einer Tonweihe-Strophe eröffnet. V,1 ist Maria gewidmet, die übrigen gelten dem meisterscheffer (VIII,1,1). Dabei klingt das Motiv vom Gottespreis als Zweck der Schöpfung an, das (außer in VII,1) auch explizit auf das Sänger-Ich bezogen wird. Auch die Töne I, III und IV werden, nicht als Tonweihe, mit Strophen geistlichen Inhalts eröffnet. Seltener ist ein persönlicher Gebets­ ton wie in der Bitte um den Morgensegen (II,11,9–11) im Anschluss an eine Reflexion über die Kreuzigung und Auferstehung Christi, geläufiger das Fürbittgebet an Maria und Jesus (z.  B. Krn. II,6,10), vor allem auch in den Totenpreisklagen (s.  u.). Etliche Texte zeigen beachtliches religiöses Wissen und kreativen Umgang mit tradierten Theologumena (zur Einordnung in die geistliche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts: Rosmer, Tradition, bes. S. 326  f. und 329). Das Corpus in J wird eröffnet von dem durchaus innovativen Lied über Gott und die vier Elemente (I,1–4). Bildgewaltig werden Eigenschaften von Erde, Luft, Feuer und Wasser allegorisch auf die Passion Christi und die darin sich offenbarende Liebe Gottes zu den Menschen bezogen, etwa (I,1): Ebenso wie der Pflug (gewaltsam) die Ackererde aufbricht, so dass diese vrucht hervorbringt, wurde Christi vleisch in der Passion durchstochen, die Erfahrung menschlichen Schmerzes entfachte Gottes Barmherzigkeit und bewirkte – gleichsam als ‚Ertrag‘ für die Menschheit – die Erlösungstat. Auf unmittelbare (volkssprachige) Vorbilder konnte Rumelant dabei nicht zurückgreifen, er zeigt sich aber versiert im Umgang mit gelehrten Auslegungs- und Bildtraditionen (Krn., S. 240–249; Kern, P., Got). Das gilt auch für die in J unmittelbar anschließende gelehrte astronomisch-theologische Spekulation I,5: Gott hat den Kosmos mit Zirkel und Winkeleisen geschaffen. Der geordneten Zusammenfügung der gedachten geometrischen Kreis­ ebenen und Linien entspricht die Bezeichnung des Gottessohns als winkelhaft. Das rekurriert auf die im Alten Testament fundierte Vorstellung von Christus als lapis angularis (Is 28,16) bzw. caput anguli (Ps 117,22) und die seit Augustinus geübte Exegese

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von Christus als ‚Eckstein‘, der die zuvor getrennten ‚Wände‘ von Juden und Heiden zum neuen Glauben vereint (Krn., S. 250–257; Kern, P., Überlegungen; Gade, Wissen, S. 13–25). Das alles bleibt allenfalls angedeutet und dürfte einen entsprechend versierten Rezipienten erfordert haben (Runow, Rezeptionsbedingungen). In die Reihe der eigenständigen Bearbeitungen traditioneller Motive und Exegesetechniken gehört auch die Auslegung von Nebukadnezars Traumgesicht (Dn 2,31– 35) auf die Lebensalter eines Christenmenschen, der nach der Taufe zunächst rein wie Gold ist, dessen sündiges Leben an Wert verliert und der, sofern er sich nicht bekehrt, im Tod nicht auf göttliche Gnade hoffen darf (vgl. Kern, P., Auslegung; Krn., S. 368–374). – Die allegorische Einhornjagd (V,2  f.) transzendiert das geläufige ‚Physiologus‘-Wissen, indem das Jägermotiv auf Gott übertragen wird, der den Sohn in den Leib der Jungfrau ‚jagt‘; ohne dass das im Text je explizit wird, ist damit der Motivhorizont des Erlösungsratschlusses sowie die Ikonographie der Einhornjagd im hortus conclusus angedeutet (Ruw., S. 243  f., Krn., S. 475–486). – Eine ungewöhnliche Tier­ al­legorese ohne erkennbares Vorbild bietet IV,21: An die Passion Christi gemahne der Hahn mit seinem Kikeriki-Ruf, in dem hier der lateinische Ausruf crucifixus! (IV,21,9) wiedererkannt wird (Runow, Vergessene Lyrik?, S. 277–279; Krn., S. 445–448). – In der lateinischen Naturkundetradition verhaftet, von Rumelant im Sinne einer spiritaliter-Deutung angepasst, ist das Exempel vom Ehebruch der Löwin (VI,11), das auf die Ermahnung des Sünders zu Reue und Beichte zielt (Krn., S. 546  f.). Eher traditionell sind der Marienpreis III,1  f. mit den geläufigen alttestamentlichen Präfigurationen: Gideons Vlies, Moses brennender Busch und Aarons blühende Gerte. Die Strophenreihe Krn. II,5–9 (nach Hs. C; Zählung abweichend gegenüber Ruw.; vgl. Krn., S. 307–310) entwickelt aus einer Teleologie des Sündenfalls als Voraussetzung für die Menschwerdung Gottes die Rolle Marias als Fürbitterin für die sündige Menschheit. Beschrieben wird sodann eine mehrstufige intercessio: Der Sünder ruft Maria an – Maria mahnt den Gottessohn zur Gnade gegenüber dem Sünder – beide zusammen treten vor Gott Vater. Die gnomischen Strophen sind ebenfalls überwiegend geprägt von christlicher Heilssorge. Weltliche Lehre erscheint in Form der biblischen Parabel (II,2: Jesu Rede über richtiges und falsches Verhalten des Gastes nach Lc 14,7–11) und wird an die Weisheit Salomos zurückgebunden (II,3), umgekehrt wird der Heide Cato zum Gewährsmann für christliche Sündenlehre (II,1; vgl. auch die Ermahnung eines jungen heidnischen Königs zur Gottesfurcht III,4). Um das geläufige Sprichwort ‚Hilf dir selbst, so hilft dir Gott‘ heilsgeschichtlich zu verankern, wird gar eine Art pseudoneutestamentlicher Bericht erfunden: Als Petrus einem Ertrinkenden helfen will, hält Jesus ihn zurück: swer sich helfen wil, dem wil ich helfe senden (IV,19,9). – Ähnlich verfahren rein weltliche gleichnishafte Erzählungen wie das Exempel vom Blinden mit der Fackel (IV,11) oder von dem Klugen, der dem Dummen folgt und den Tod findet (VI,4). – Herrenlehren sind oft verknüpft mit der Fahrendenexistenz des Sänger-Ichs (Lob der milte, Anprangern der kerge z.  B. in I,7 und IV,16  f.). Dieses leidet auch unter der wechselnden Geberlaune der Herren (IV,23), die ‚fragil‘ ist: Der herren hulde ist



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sam ein îs (VIII,6,1); dennoch soll man sie mit Gesang erfreuen und sie nicht durch Weinen zur Gabe erpressen: daz ist ein arme kunst (IV,24,5). Die Not, schlechte Herren zu loben, wird subversiv im Exempel des (fiktiven) Sängers Harald verhandelt, der sanc den bœsen herren lob unde schalt die guoten (IV,26,2): Schlechte Herren müssen mit einem ‚Harald-Lob‘ rechnen. Lob für vorbildliche Herren hat indes nichts Anrüchiges, denn auch Gott will gelobt werden (V,4). Als moralisch Überlegenem (vgl. auch VII,2) gelingt es dem Dichter im Bild des Seefahrers so auch, gegen alle Widrigkeiten einmal bei trûwen liuten in einen ‚sicheren Hafen‘ einzufahren (VI,3). Auch und gerade im motivlich Konventionellen eignet Rumelant besondere Sprachgewandtheit: Im Inkarnationspreis I,11 verwendet er exorbitante Paronomasien: Got, der aller wunder / wunder wundert, / der hât sunderlîch besunder / wunder ûz gesundert […] (I,11,1–4); mit listen her aller liste list verliste (v. 13). Des öfteren spielt er mit etymologischen Herleitungen, etwa des Karfreitags als vrîtac, den du [Christus] vrî uns hâs gegeben (Ruw. II,9,1/‌Krn. II,10), und der Weihnacht: Got hât die nacht gewîet hô wînachte (IX,3,1), oder in der Begründung, Christus sei ein Herzog gewesen, dô er dem her gezogete vür („als er der Volksmenge vorausging, nämlich auf seinem Weg nach Golgotha“, Krn., S. 491). – Zu den Namensspielen in den polemischen Strophen s.  o. Rhetorizität, Sprachspiel und Bildlichkeit prägen auch die panegyrischen Strophen. Per argumentum a nomine wird Erik VI. von Dänemark gepriesen: ia, her mac Êrîch heizen wol: / sîn lîb, sîn muot, sîn herze ist êren rîche (V,8,7  f ). Die beiden Mecklenburger Herren namens Zabel werden in VIII,12 – mit der niederdeutschen Lautgleichheit zu ‚Zobel‘  – als Zobelpelzbesatz am allegorischen Mantel der Frau Ehre gepriesen. Ein besonderes Sprachspiel, das im mündlichen Vortrag verborgen bleibt, bietet II,12: Im einleitenden Adynaton wird die Unmöglichkeit des Lobs für einen hôch gelobeten vürsten (II,12,7) betont. Dessen Name (Albrecht von Brûneswîch) ist dem Text in Form eines Kryptogramms eingeschrieben, eine Technik, für welche die ‚Braunschweigische Reimchronik‘ eine Parallele bietet (Runow, Rezeptionsbedingungen, S.  102–104; Krn., S.  333  f.). In VI,5 wird der Braunschweiger Hof mit dem Glücksstern Merkur verglichen. Die personifizierte Frau Schande soll Albrecht fernbleiben (II,12,11), ebenso wie Frau Ehre sich vor dem Bayern Ludwig II. verneigen soll (VI,9,13). Eine weitere Ludwig gewidmete Lobstrophe (II,13) wird durch einen Natureingang mit Tageliedmotivik eröffnet. Die Preisstrophe auf Rudolf I. (V,7) fokussiert auf die Reichs­ insignien, die durch göttliches Wunderwirken nun nach langem Interregnum dem auserwählten Habsburger zugekommen sind. – Die Totenpreisklagen auf Barnim I. von Pommern-Stettin (II,14  f.) und auf Günzelin III. von Schwerin (VIII,10) betonen besonders die Freigebigkeit der Verstorbenen und damit die Relevanz als Gönner für den Sangspruchdichter; im Nachruf auf Albrecht I. von Braunschweig (VIII,4) dominiert das Motiv der Memoria des zu Lebzeiten stets Vorbildlichen über den Tod hinaus. Allen dreien gemein ist die Anrufung der Gottesmutter mit Bitte um das Seelenheil der Verstorbenen.

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Sieht man von den panegyrischen Strophen ab, hat Rumelant nur weniges, was unter den engeren Begriff der ‚politischen‘ Lyrik zu fassen ist. Hierzu zählt die Anklage an die dänischen Königsmörder (X,3–5; mit X,1  f. eingeleitet durch zwei gnomische Strophen über Untreue), die in bitterer Ironie als die fähigsten Mörder gepriesen werden, sowie der Aufruf zur Rache (VI,10). Propagandistische Tendenzen mag man ggf. noch erkennen, wenn Ludwigs II. Sonderstellung bei der Königswahl von 1273 betont wird (II,13). Ob die Klage über fehlenden Landfrieden und pflichtvergessene Fürsten (IV,8–10) sich auf die Zustände des Interregnums bezieht (Panzer, Leben, S. 22), ist unsicher. Eher gehören die Strophen in den Bereich allgemeiner Zeitkritik, die sich auch sonst im Anprangern von Unrecht und Korruption äußert (etwa II,4: Machtmissbrauch der rîchen; VII,3: korrupte Richter). Form Rumelant ist „kein Melodiker von Rang“ (Brunner, Formgeschichte, S. 95, Überblick S. 87–96; Edition der Melodien: Sps., S. 370–377), doch zeigen seine Töne bemerkenswerten Einfallsreichtum in der Ausgestaltung der Kanzonenbauform. Die meisten Töne bestehen im Abgesang aus Steg (nichtrepetiert Ton II, III, X; repetiert I, IV, IX; teilrepetiert VI, VII, VIII) und drittem Stollen (I, II, III, IV, VI, X; VIII mit Coda), der einige Variation in der Reimgestaltung aufweist (Anreimen an die Aufgesangsstollen; an den Steg; Tiradenreim). Ton VII ist eine Rundkanzone mit teilrepetiertem Steg ohne dritten Stollen. Ton V lässt textmetrisch repetierten Steg und dritten Stollen vermuten, die Melodie zeigt hingegen eine Rundkanzone mit durchkomponiertem Abgesang. Mit 29 Strophen am häufigsten verwendet ist der vergleichsweise sehr einfach gebaute Ton IV. Deutlich mehr als andere Dichter neigt Rumelant zur Strophenbindung innerhalb der Töne (vgl. → Kapitel VI.2). Fast ein Drittel aller Strophen sind in festen Liedeinheiten oder thematischen Zusammenfügungen gebunden, etwa I,1–4 (Gott und die Elemente); IV,1–3 (Nebukadnezars Traum); X,3–5 (dänischer Königsmord). Öfter finden sich Strophenpaare (z.  B. V,2  f. Einhornallegorese; VIII,2  f. gegen Singauf; IV,16  f. milte vs. kerge etc.), manchmal auch lockere thematische Fügungen von an sich eigenständigen Einzelstrophen (so etwa II,1–3: lehrhafte Strophen mit biblischen bzw. antiken Autoritäten: Cato – Jesus – Salomo). Teilweise bietet J redaktionell sinnvolle Anordnungen innerhalb der Töne, die nicht autorseitig geplant sein mussten (z.  B. in Ton V, vgl. Ruw., S. 242; grundlegend Tervooren, Einzelstrophe, S. 223–248). Literaturgeschichtliche Bedeutung, Wirkung Die zeitgenössische Wertschätzung Rumelants ist schwer zu beurteilen, andere bekannte Dichter erwähnen ihn nicht (vgl. aber VI,12). Immerhin: Das literarische ‚Netzwerk‘ des niederdeutschen Sangspruchdichters reichte mit dem Marner und (zumindest Kenntnis von) Konrad von Würzburg bis in den oberdeutschen Raum. Ein Teil seiner Strophen hat Eingang gefunden in den alemannischen ‚Codex Manesse‘ C. Wie dabei die Strophen I,1–4 in C ins Walther-Corpus geraten konnten, ist unklar;



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dass weder Sammler noch spätere Benutzer erkennbar Anstoß an der Fehlzuordnung zum berühmtesten aller Lyriker nahmen, mag als Zeichen der Wertschätzung zu interpretieren sein. Um 1300 war Rumelant den lateinisch dichtenden Kreisen der ‚Augsburger Cantionessammlung‘ bekannt (vgl. dazu → Kapitel IV.5). Hier finden sich zwei Strophen des Dichters Estas in melodia Roumlant, die formal wie inhaltlich eine (erweiternde) Kontrafaktur zum Inkarnationspreis I,11 sind (Callsen [Hg.], Augsburger Cantiones-Sammlung, Nr. 46; Ruw., S. 183  f.). Weitere Nachwirkung war Rumelant nicht beschieden. Die Meistersinger haben nicht in seinen Tönen gedichtet, allein sein Name war nicht ganz vergessen: In der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k ist der im Meistergesang vielverwendete Geschwinde Ton (vgl. RSM, Bd. 2.1, S. 55) meinster Rumslant zugeschrieben, allerdings mit Zweifeln: etlich sprechen Wolframs; erst eine spätere Hand hat die Unsicherheit geklärt: hort dem Frawenlob zu, ist sein thon (fol. 776v; der Ton galt im 16. Jahrhundert allgemein als Ton Frauenlobs; vgl. Brunner, Alte Meister, S. 78  f.). Die drei Bare in k (Lob des Schöpfers; Schmerzen und Freuden Marias; Ruw., Ton XX) sind sicherlich unecht. In den ‚Katalogliedern‘ von Konrad Nachtigall und Hans Folz (15. Jh.) sowie im Prosa-Dichterkatalog von Valentin Voigt (1558) ist Rumßlant (Raumslont / Ramslant) unter den bekannten Dichternamen aus dem 13. Jahrhundert genannt (Texte ediert bei Brunner, Dichter ohne Werk, S. 15–29). Ausg. Callsen (Hg.), Augsburger Cantiones-Sammlung; C.-W.; GA; Krn.; L.; Ruw.; Sps.; Walther/ Siebert (Hg.), Codex Manesse; Wms. – Lit. Brunner, Alte Meister; Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Formgeschichte; Burkard, Sangspruchdichter; Gade, Wissen; Haustein, Marner-Studien; Kern, P., Auslegung; Kern, P., Got; Kern, P., Überlegungen; Layher, Rumelant; Löser, Feind; Löser, Rätsel; Panzer, Leben; Rosmer, Tradition; RSM; Runow, Rezeptionsbedingungen; Runow, Vergessene Lyrik?; Schröder, R., Rumelant; Tervooren, Einzelstrophe; Tomasek, Rätsel; Wachinger, Sängerkrieg; Wenzel, F., Meisterschaft.

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Holger Runow

Mit den in der Forschung abundant zitierten Versen ich bin ein lerer aller guͦ ten dinge / unde bin ein ratgebe aller tugent etc. (Obj. XV,4,2  f.) hat der Meißner die Rolle(n) des Sangspruchdichters in eine selten griffige Formel gefasst (vgl. Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 12  f., 283–285). Der Geltungsanspruch als moralisch-didaktische Instanz (lerer, tugent) tritt hier ebenso zu Tage wie im weiteren Verlauf der Strophe die soziale Abhängigkeit (vursten dienist, v. 5), das Wanderdasein (mit dem moralischen Anspruch verknüpft in der Kollokation der eren pilegrim, v. 6), die Rückbindung der eigenen kunst an Gott sowie schließlich auch der Konkurrenz- und Rechtfertigungsdruck, von dem die Strophe durchzogen und gerahmt ist (Ez vraget maniger, v. 1; we dem, der mir eren vergunne, v. 4; ein valscher nider, der min leben strafe, v. 11). So wenig die Verse als

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individuelles, ja biographisches Zeugnis ihres Verfassers gewertet werden dürfen, vielmehr ein Berufsstandesbewusstsein der fahrenden Literaten überhaupt zum Ausdruck bringen, bieten sie als verdichtete kollektive Erfahrung doch einen Reflex auch auf die Existenz- und Kunstbedingungen des Meißners. Historisches Umfeld, Überlieferung Über die historische Identität des Dichters ist bis auf eine ungefähre Datierung in die 1260er bis 1290er Jahre und seine mitteldeutsche Herkunft (aus der Stadt oder Mark Meißen), die sich auch im Reimgebrauch zeigt, wenig Gewissheit zu erlangen. Zwar sind für den in Betracht kommenden Wirkungszeitraum etliche historische Personen mit der Bezeichnung bzw. dem Zusatz misnerus, mitzner, de misna u.  ä. bezeugt (vgl. Obj., S. 22–24); und da der Meißner Preisstrophen auf die Markgrafen von Brandenburg verfasst hat (Obj. XVII,8  f. u. 11), scheint es besonders naheliegend, ihn in einem märkischen Ritter namens Heinrich Meißner wiederzuerkennen, der in markgräflichen Urkunden der Jahre 1279–1290 als treuer Vasall genannt wird. „Aus den biographischen Andeutungen der Dichtung selbst entsteht jedoch weniger das Bild eines begüterten Ritters und Kriegsmannes, sondern weit eher das eines mit der Armut kämpfenden wandernden Literaten“ (Obj., S. 23). – Zu bedenken bliebe dabei andererseits, ob und inwieweit das ‚Biographische‘ in der Dichtung auch gattungstypische literarische Inszenierung sein kann. Die Frage immerhin nach der Identität der verschiedenen Dichter, die in der Überlieferung unter dem Namen ‚Meißner‘ geführt werden (Alter Meißner, Junger Meißner, Markgraf Heinrich  III. von Meißen, Heinrich von Meißen = Frauenlob), wurde schon früh und seither einvernehmlich aus überlieferungsgeschichtlichen wie auch inhaltlichen und stilistisch-formalen Gründen dahingehend beantwortet, dass mit dem Meißner der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J ein geschlossenes Œuvre zu greifen ist (Frisch, Untersuchungen; Obj., S. 14–19; Pep., S. 3–7). J überliefert unter seinem Namen das mit 128 Strophen (davon einige wenige Strophen und Melodien wegen Ausfall dreier Blätter fragmentiert, 15 oder 16 weitere Strophen und eine Melodie verloren) umfangreichste Œuvre der Handschrift. Der Strophenzahl nach ist der Meißner damit der produktivste Sangspruchdichter zwischen Reinmar von Zweter und Frauen­ lob. Das spiegelt sich aber nicht auch in der Breite der Überlieferung wider. Sie ist unikal bis auf eine Strophe in Ton I, die in C innerhalb des Boppe-Corpus steht, dort gefolgt von einer weiteren im selben Ton, die nur hier überliefert ist (dazu s.  u.); als Sonderform der Streuüberlieferung findet sich zudem die Strophe Obj. IV,2 im heterogenen ‚Maastrichter Fragment‘ (RSM 1Mei/4/2b; vgl. Tervooren/Bein, Fragment; Holznagel, Wege, S. 387–395). Rätselhaft bleibt, warum der J-Meißner keinen Eingang in die Handschrift C gefunden hat, die ansonsten auf Vollständigkeit abzielt und auch etliche andere mitteldeutsche Dichter tradiert. Mit 20 Tönen bietet der Meißner die größte Tönevielfalt nach Walther und vor Rumelant von Sachsen mit zehn sowie Bruder Wernher und Frauenlob mit je neun



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Tönen. Zu 14 der Töne überliefert J die Melodien vollständig (ediert in Sps., S. 241– 252), zwei weitere (Töne III, XI) sind wegen der Blattverluste fragmentiert; viermal ist das vorgezeichnete Notensystem leer geblieben (Töne XII, XVIII–XX). Am meisten verwendet wurden die Töne II, VXII, I und IV mit 20 bzw. 15, 14 und 12 Strophen; die Töne IX sowie XVIII bis XX haben je zwei, die übrigen umfassen vier bis zwölf Strophen. Die Töne sind – soweit feststellbar – durchgehend Kanzonen mit repetiertem Steg und drittem Stollen, was den Meißner auch formal in die Nähe Rumelants stellt, den er gekannt haben dürfte (s.  u.). Die Variationsbreite etwa im Experimentieren mit teilrepetiertem Steg oder durchkomponiertem Abgesang, die dieser erreicht hat, fehlt aber beim Meißner. Auffallend ist hingegen das Spektrum an insgesamt 20 unterschiedlichen Versarten mit einer Länge von zwei bis zu neun Takten; dabei sind lange Zeilen und Langzeilen häufig (Brunner, Formgeschichte, S. 97–107). Das Prinzip der Einstrophigkeit ist weitgehend durchgehalten, auch wenn sich öfter, als es das RSM erkennen lässt, (die Möglichkeit zur) Strophenbindung zeigt (vgl. Tervooren, Einzelstrophe, S. 273–307). Nach Auskunft der eigenen Dichtungen sowie Nennungen durch andere Spruchdichter war der Meißner ein Zeitgenosse Konrads von Würzburg, des Marners, Rumelants von Sachsen und Frauenlobs. Zudem spricht er in panegyrischen Strophen mehrere historische Personen an (Übersicht bei Obj., S. 31–41; vgl. Müller, U., Untersuchungen). Obj. I,8 lobt einen mittelfränkischen Reichsministerialen Herdegen von Gründlach (bei Nürnberg) in Form einer Namensetymologie her – degen (v. 9); wahrscheinlich ist der Bezug auf den jüngeren Namensträger, der zwischen 1278 und 1303 urkundet.  – In Obj. I,13 wird der böhmische König als großzügiger Friedensfürst gepriesen und Rudolf von Habsburg ermahnt, ihn zum Freund zu behalten. Der Hinweis auf das Reichsschenkenamt macht wahrscheinlich, dass Ottokar II. († 1278) angesprochen ist.  – Die Strophen Obj. XVII,8  f. bieten je einen Lobpreis der brandenburgischen Markgrafen Otto V. (des Langen, † 1298) und Otto IV. (mit dem Pfeil, † 1308); es folgt mit Obj. XVII,10 eine allgemeiner gehaltene Rittertugendlehre, an die Obj. XVII,11 mit dem Lob Albrechts III. († 1300) gut anschließt. Ob die Strophen eine geplante Gruppe bilden oder auf redaktioneller Zusammenstellung beruhen, bleibt letztlich ungewiss. Zu datieren sind sie nur grob in die Zeit wohl zwischen 1284 und um 1300, zeigen sich aber in der katalogartigen Aufzählung fürstlicher Tugenden mit zum Teil blumigen Metaphern und Tiervergleichen auch stilistisch nahe verwandt. – Wegen seiner langen Wirkungszeit ist auch die Preisstrophe Obj. IV,4 auf den 1251 gewählten und 1254 geweihten Bischof Hermann von Kammin († 1289) in Pommern nur vage zu datieren. Dessen Name wird im Aufgesang in seine Bestandteile her und man zerlegt, die in erstem und zweitem Stollen jeweils in Paronomasien ausgespielt werden (her – herlich; man – menlich etc.). Im Abgesang wird die Semantik noch durch das Homonym her (‚Heer‘) erweitert und metaphorisch ausgereizt: Hermann führe die drei Heere rat, truwe und vride an usw. – Vermutlich in die Jahre 1274/75 gehört das Strophenpaar Obj. XIV,1  f. (zum Zusammenhang Tervooren, Einzelstrophe, S. 295  f.; im RSM als Einzelstrophen geführt). Beklagt wird der kaiserlose Zustand des Reiches

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nach der Hinrichtung Konradins (1268). Der Papst (wohl Gregor X.) solle seinen Eid einlösen und helfen, die deutschen Fürsten sollen dafür sorgen, dass der König (wohl Rudolf) zum neuen Kaiser geweiht wird. Es ist dies der einzige im engeren Sinne ‚politische‘ Text des Meißners. Literarische Beziehungen Zu diesem Datierungsrahmen passen die literarischen Beziehungen des Meißners. Mehrfach ist er (aktiv oder passiv) an Auseinandersetzungen mit Sängerkollegen beteiligt (grundlegend zum Folgenden Wachinger, Sängerkrieg, S. 151–163; ausführlich zuletzt Burkard, Sangspruchdichter, S. 133–144, 156–176, 237–246). Prominent ist Obj. II,1, eine Reaktion auf die Physiologusexempla des – nicht namentlich genannten, aber recht eindeutig zitierten  – Marners (Wms. 7,15): Dessen Darstellung des Straußes, der drei Tage lang seine Eier ansehe, des Phönix, der sich selbst verbrenne und wieder lebendig werde, sowie des Pelikans, der seine Kinder töte, sei falsch, ja Lüge, und zeuge von Blindheit in der Kunst. In drei weiteren Strophen schließt eine umfassende und gelehrte ‚Richtigstellung‘ an, die sich auf andere, entlegenere Quellen als diejenigen des Marners stützt (zum gelehrt-lateinischen Quellenhintergrund vgl. Obj., S. 292–294; Gerhardt, Kriegslist): Der Strauß verscharre seine Eier im Sand, sie würden von der Sonne ausgebrütet; der Phönix erstehe nicht selbst wieder aus der Asche, sondern ein anderer, neuer; die Kinder des Pelikan würden von der Schlange (dem Teufel) getötet. Das Wesen der christologischen Deutung der Tierexempla, auf die es beim Marner ankommt, bleibt dabei unberührt. Dass es dem Meißner weniger um eine sachliche Auseinandersetzung als um literarische Geltung geht (vgl. Egidi, Sängerpolemik), macht schon der gelehrte kunst-Anspruch in der ersten Strophe deutlich: mit ware[m] sange tritt das Dichter-Ich als meisterarzt auf, der den lügensanc des kunstlosen Gegners vor allem dadurch ‚heilt‘ (Obj. XII,12  f.), dass er seine eigene Buchgelehrsamkeit ausstellt: Wer sich mit ihm anlegen will, der lese baz die buͦ ch (v. 8). Diesen Aspekt hebt Rumelant positiv hervor, wenn er Singauf als Antwort auf dessen Provokation entgegenhält: nu lobe den Mîsner, der kan mê / wen du, her leset in buochen (Ruw. VIII,3; Rumelant nennt dort den Meißner als ersten unter vier ‚verbündeten‘ Sängerkollegen noch vor Konrad von Würzburg, dessen Schriftgelehrtheit ebenfalls betont wird). Die polemische Spannung – vielleicht auch der ironische Witz – liegt in diesem Wissensstreit darin, dass gerade der Marner, der ja auch lateinisch dichtete, als der gelehrte Sangspruchdichter schlechthin galt (Haustein, Marner-Studien, S. 38  f.). Ebenfalls gegen den Marner richtet sich die durch einen Nonsens-Abecedarius – den ersten in der deutschen Lyrik überhaupt – eingeleitete Rätselstrophe Obj. II,18. Der Angriff auf den ‚weisen‘ Mann, der gesucht wird, versteckt sich in der (auch sonst beim Meißner zu findenden) etymologischen ‚Zerlegung‘ des Namens in extremer Sperrstellung in v. 9: M a r n (‚mürbe, hinfällig‘) was sin vleisch, groz was sin e r e , worin sich neben der Verunglimpfung auch ein Hinweis auf das hohe Alter des



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Genannten findet (auf das auch Rumelant in seinem Marner-Rätsel sowie in seinem Nachruf abhebt). Bemerkenswert ist die vermittelnde Stellungnahme Fegfeuers (Whm. II,4). Er greift den Meißner an und nimmt den Marner gegen dessen Überheblichkeit und Missgunst in Schutz. Jener solle den pfaffen ir dœne wiedergeben; das könnte auf eine gelehrte Musikausbildung des Meißners deuten, aber auch auf seine Anmaßung abzielen (Wachinger, Sängerkrieg, S. 160; Whm., S. 230). Im letzten Vers nimmt Fegfeuer sich selbst die Schärfe und lässt alle Optionen offen: Sollte sich doch herausstellen, dass sich der Meißner nichts habe zuschulden kommen lassen, sô bin ich sîn guot geselle. Auf einen Cuͦ nrat zielt die nicht minder ironische Strophe Obj. XIII,3 mit spielerischen Kaskaden rührender Reime (‚Equivoca‘) ab. Wer gemeint ist, bleibt letztlich ungewiss. Vermutet wurde ebenfalls der Marner, doch wird ihm der Rufname Konrad nur sehr viel später und kaum verlässlich zugeschrieben (Wachinger, Sängerkrieg, S. 161). Der Ton würde freilich gut zum gewitzten ABC-Rätsel passen. Mehr scheint dafür zu sprechen, im Angegriffenen Konrad von Würzburg zu sehen, der ebenfalls eine Equivoca verfasst hat (Schr., Lied 13) und der seinerseits dem Meißner ein ironisches Lob gewidmet hat, das sich als herablassende Schelte erweist (Schr. 32,286): Konrad setzt den Meißner als einen, der von Ecken sanc, auf eine Stufe mit niederen Unterhaltungskünstlern und Jahrmarktsängern (Wachinger, Sängerkrieg, S. 162  f.). Schwer zu bestimmen ist die Verbindung zu dem Zeitgenossen Boppe, welche die Parallelüberlieferung der Strophe Obj. I,12 in C innerhalb des Boppecorpus erahnen lässt. Die Strophe reiht Eigenschaften verschiedener Tiere auf (Fledermaus, Esel, Fuchs, Wolf, Zeisel, Bilchmaus): So wie diese letztlich nicht gegen ihre Natur handeln können, so ist auch ein schalc immer als solcher zu erkennen, egal wie sehr er sich verstellen mag. Die Tierexempla greifen wie Meißners Physiologusstrophen zum Teil auf lateinisch-gelehrtes Wissen zurück (Obj., S. 29  f.). Vielleicht war der als herablassend empfundene Gelehrtengestus Anlass für die anschließende „Schimpfkanonade“ (Wachinger, Sängerkrieg, S. 157) Alx. III,2 (bei Obj. Ia,2), in der man eine „grobianische Polemik Boppes gegen den Meißner“ (RSM, Bd. 3, S. 243) sehen kann. Sie ist jedenfalls mit ihren nicht bis ins letzte geklärten, durch textkritische Cruces erschwerten Schimpfworttiraden (vgl. den Kommentar bei Alx., S. 149  f.) ein außergewöhnliches Zeugnis lebhafter und vielleicht auch humoriger sängerischer Streitkultur. Unsicher bleibt auch, in welchen Kontext die Strophe Obj. XVII,1 mit der Begriffsscheidung von wîp und vrouwe gehört. Sie folgt sowohl mit der Vorrangstellung von wîp vor vrouwe als auch mit der Argumentationsstruktur eng dem Vorbild Walthers (L. 48,38). Zudem zeigt sie große begriffliche Nähe zum zeitgenössischen wîp-vrouweStreit um Frauenlob, vor allem in der Wortzerlegung vro-we (v. 7: die vrouwen haben vrolich we; vgl. prägnant GA V,112,11  f.) sowie in Frauenlobs Definition von wip durch das Akrostichon wunne irdisch paradis (GA V,102,11), die beim Meißner deutlich anklingt (v. 9): wib [ist] der hoeste nam, wend er ist erdescher wunne ein summe.

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Thematische Schwerpunkte Der Meißner deckt die gesamte thematische Breite ab, die der Spruchsang im 13. Jahrhundert entfaltet hat. Als prägende Vorbilder sind Walther von der Vogelweide und besonders Reinmar von Zweter zu erkennen, deren Texte der Meißner zu guten Teilen gekannt haben muss (Obj., S. 58–60). Nur das politische Moment bleibt, wie auch sonst im Spruchsang nach Walther, bis auf die (eher persönlich-existentiell bedeutsame) Panegyrik und die ‚Reichsklage‘ Obj. XIV,1  f. (s.  o.) wenig ausgeprägt. Im Bereich der g e i s t l i c h e n S t r o p h e n , die etwa ein Drittel seines Œuvres ausmachen, bietet der Meißner durchaus konventionelle Themen wie Gottes-, Trinitäts- und Marienpreis (vgl. eine Reihe von Einzelinterpretationen unter Betonung der Lehrer-/Predigerrolle bei Lauer, C., Sänger-Rollen; zum Kontext des geistlichen Sangspruchs um 1300 vgl. Rosmer, Tradition). Gottvater und Christus werden in anaphorischen Reihen gelobt (Obj. I,1), der Schöpfer wird gepriesen in seiner Ewigkeit und Allmacht, Christus ist präexistent im Wort des Vaters (Obj. VII,2); Verweis auf die vier Evangelistensymbole (Obj. IV,9). Formulierungen wie v. 12  f.: du nichtes icht unde ichtes nicht zeigen geradezu Nähe zur Mystik. Der Heilige Geist möge den Sünder zur Reue entzünden (Obj. X,5). Marias Tugend wird in katalogartiger Reihe bekannter Attribuierungen und Metaphern aufgezählt (z.  B. Obj. II,1,3  f.: du gotes sedel, tempel der drivalticheit. / du tugende vaz bist wol ein himelporte), als Sündentilgerin wird sie unter Verweis auf ihre fünf Freuden angerufen (Obj. IX,2) etc. Manches ist eigenständig ausgestaltet, etwa mit dem für den Meißner typischen sprachspielerischen Element wie in der Apostrophe an Maria als Mediatrix und Reparatrix Obj. XVI,1,7  f.: suͤ ne, suͤ ne, suͤ nerinne, gotes zorn […]. / lesche, lesche, lescherinne (sc. die sündige Lust des Menschen). Daneben sind zwei besondere Schwerpunkte auszumachen: zum einen eine ­auffallende Betonung der „Wunderfülle Gottes“. Objartel bezeichnet das Sprechen über das dem Menschen unbegreifliche Wunder des von Gott geschaffenen Kosmos, der Trinität und der Inkarnation geradezu als „Spezialthema“ des Meißners, was sich bereits in einer Wortfrequenzanalyse seines Textcorpus anzukündigen scheint (Obj., S. 78  f., 96–100). Exemplarisch hierfür mag zunächst Obj. IV,2 (Wunderlicher got …) erscheinen, wo das Lexem wunder abundant verwendet wird (z.  B. v. 12  ff.: Dine wunder bunt / tunt wunder kunt, / sus haben dine wunder wunderliche velle usw.). Freilich ist das Bestaunen göttlicher wunder nichts Außergewöhnliches in der Sangspruchdichtung, und auch für paronomastische Sprachspiele wie das obige gibt es Parallelen (vgl. z.  B. Ähnliches schon in Walthers Leich L. 5,33, bei Rumelant Ruw./Krn. I,11 oder Hermann Damen Schl. V,2). Das Spezifische liegt in der (seit dem Marner vorgeprägten) Verbindung und Analogsetzung der „beiden wesentlichen Stränge der wunderThematik, Naturwunder und Glaubensmysterien“, die sonst meist getrennt verlaufen, beim Meißner aber mehrfach derart miteinander verknüpft erscheinen, „daß die unfaßliche Größe und Vielfalt der sichtbaren Naturerscheinungen zum latenten Beweis für die unsichtbaren Glaubenswahrheiten wird“ (Obj., S. 96; vgl. Lauer, C., Sänger-Rollen, S.  64–66). So ist göttliches Wirken zu erkennen in kosmologischen



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(z.  B. Obj. XIII,4) und meteorologischen (Obj. VI,1; VIII,1) Phänomenen. Die Trinität, verbildlicht als gotes vinger dri und weiter erklärt als die drei göttlichen Personen wisheit, gewalt, barmunge (Obj. VII,3,5  f.; in leichter Abwandlung der lateinischen Trinitätsformel potentia, sapientia, bonitas; vgl. Obj., S. 280), hält den Kosmos zusammen. Die sichtbaren gotes wunder wie blitzen, donre, tac unde nacht, regen (VIII,1,1  f.) sind für den Dichter geradezu Gottesbeweis (v. 7  f.: hie pruͤ b ich bi, / daz ein got si), der die Zweifler zum rechten Glauben anhält (mit Verweis auf die 24 Alten aus Apc 4,4), die Ungläubigen aber zum Gespött des Teufels machen. Ähnlich argumentiert die Strophe Obj. XV,2, in der sich einer der frühesten Belege für die nur in der Volkssprache verbreitete Trinitätsanalogie ‚Eis  – Wasser  – Schnee‘ findet (vgl. Kern, P., Trinität, S. 152  f.; Obj., S. 301; ergänzend hinzuweisen ist auf die Hoheliedauslegung Bruns von Schönebeck aus dem Jahr 1276 [hg. von Arwed Fischer, Tübingen 1893], hier v. 4427  ff.). Der sündige Mensch, wiederholt angesprochen als erden kloz, darf sich durch die Inkarnation (die ‚Einkleidung‘ Gottes in Menschengestalt, Obj. VIII,4) als vriunt und mâge Gottes sehen (Obj. VIII,5). Der zweite Schwerpunkt ist die allenthalben durchscheinende und bisweilen deutlich exponierte gründliche Bibelkenntnis sowie Vertrautheit mit den gelehrten Exegesetechniken (eher konventionell vorgeführt z.  B. beim typologischen Zusammenhang von Eva und Ave in Obj. XV,1, von Paradiesvertreibung [Gn 3,14] und Inkarnation in Obj. VIII,4 oder in der Ankündigung der Menschwerdung durch Jesaja und Jeremia mit Verweis auf die annuntiatio im Lukasevangelium in Obj. V,2). Mehr als andere Spruchdichter zitiert, paraphrasiert und interpretiert der Meißner Bibelstellen, in ungewöhnlichem Maße auch des Alten Testaments, wobei er bisweilen traditionelle Deutungen eigenständig transformiert. Ein echtes „Novum in der Geschichte der Spruchdichtung“ (Obj., S. 103) ist die (zum Teil erstaunlich getreue) Paraphrase alttestamentlicher Stellen mit anschließender Allegorese in Obj. X,2  f. Die erste Strophe gibt die Wunder bei der Berufung Mosis nach Ex 4,2–9 wieder, in der zweiten werden die einzelnen Elemente allegorisch gedeutet: Der Stab, der zur Schlange wird, verweist auf die Schlange im Paradies, der Aussatz bedeutet den Sündenfall und seine Heilung die Erlösungstat Christi, das in Blut verwandelte Wasser die Taufe. Nach diesem Muster verfahren auch Obj. VI,7  f.: Auf eine knappe Versifikation der Erzählung vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten (Ex 14–16) folgt die Allegorese: Daz israhelsche volc diutet die kristenheit (Obj. VI,8,1) usw., die Gefangenschaft bezeichnet den Sünder, das Manna den Leib Christi in der Hostie, der Pharao den Teufel. Bemerkenswert ist die Zusammenstellung mit der vorangehenden Strophe Obj. VI,6: Gott hat Adam und Eva und damit allen Menschen die Ehe geschenkt; Gott selbst war mit seiner Mutter auf der Hochzeit von Kana gegenwärtig und wandelte Wasser zu Wein. Wenn, wie anzunehmen ist, dieser Strophenzusammenhang ursprünglich ist, zeigt das ein tiefes Verständnis für die typologische Bibelexegese, denn der Wandel von Wasser zu Wein konnte selbst als Signum für die „Überhöhung des Buchstabensinns durch den spirituellen Sinn“ (Obj., S. 103) verstanden werden und so überhaupt für den Zusammenhang von Prophetie im Alten und Erfüllung im Neuen Testament. –

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Nicht ohne literarische Vorläufer, aber ziemlich frei gestaltet ist die Darstellung der 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts VI,9  f. sowie der sieben Zeichen bei der Kreuzigung nach Mt  27,51  f. (Obj. VI,2), ebenso auch die tief in der exegetischen Tradition verwurzelte Vorstellung von den vier allegorischen Hofämtern (torwart = gotes hulde; schenke = kiusche vreude; truhsezze = sterke vür truren unde vür swere; kamerere = wisliche hoffenunge), die das ‚Haus der Seele‘ von Sünde reinhalten sollen (Obj. I,11; vgl. den Kommentar Obj., S.  245–247). Für sich steht das allegorische Gartenrätsel Obj. XVIII,1, das mit dem Verweis auf das minnenbuͦ ch den Horizont der Cantica-Auslegungstradition eröffnet, aber damit allein noch nicht ohne weiteres zu lösen ist. Das Rosenmotiv und die Zahlensymbolik lassen einen Bezug zur Trinität, Eva und Maria erahnen (Obj., S. 316  f.). Der Meißner ist durch und durch Didaktiker, auch und vor allem in der enormen Breite seiner (eher) w e l t l i c h e n S t r o p h e n , wobei im christlichen Deutungshorizont ‚weltliche‘ zugleich auch immer ‚geistliche‘ Lehre ist, denn das Streben nach tugent und êre ist stets jenseitsgerichtet. Das gattungstypische Spektrum reicht von allgemeiner Tugend- und Morallehre über ritterliche Herrenlehre, die oft mit den Bedingungen des fahrenden Ichs und der Wertigkeit seiner Kunst verbunden sind, bis hin zu einer vielfältigen Reihe von Einzelthemen wie Ehelehre, Frauenpreis und Minnedidaxe (vgl. Egidi, Liebe), Recht und Unrecht, Tugendadel, Wucherer-Schelte, Hausehre, bîspel-Erzählung usw., wobei auch im Typischen immer wieder neue und eigene Formeln gefunden werden. Einige Stichworte mögen das nur andeuten: Lob der schame als magezoge aller tugent (Obj. IV,6); Warnung vor Unentschlossenheit (Obj. IV,10: ‚ja‘ und ‚nein‘), vor ‚halben Sachen‘ (Obj. II,15) und Extremen, Lob der mittelmâze (Obj. XVII,12; nur Gott steht außerhalb jedes Maßes: Obj. X,4) und der Selbstbeherrschung (Obj. XIII,2); Reflexionen über die Lüge mit moralischer Rechtfertigung der Notlüge (Obj. VIII,3), über das Sitzen, Stehen und Gehen (was spiritaliter im Hinblick auf den Menschen gedeutet wird und zur Wallfahrt aufruft, Obj. XVII,3); über guten und schlechten Schlaf (Wachen in Gott  – Sündenschlaf, II,13); Sprichwörter (etwa die griffige Formulierung der ‚goldenen Regel‘ in Obj. II,3,3: tuͦ so du wilt, daz man dir tuͦ , so tuͦ stu recht; ‚Ende gut, alles gut‘ Obj. I,14,8). – Öfter und in vielerlei gnomischen Zusammenhängen sind beim Meißner Tierexempel zu finden. In der einfachsten Form ist z.  B. in Obj. IV,8, einem Spruch über die Erziehung von Kindern (‚sol‘ unde ‚wil‘ – der Vater muss dem Kind möglichst früh unüberlegte tumpheit austreiben), der alte unbändige Hund als Exemplum angeführt. Auffällig ist aber vor allem eine Reihe von auf Physiologuswissen beruhenden, teils sehr eigenständig umgeformten und in verschiedenen Kontexten funktionalisierten Tiermetaphern und -allegoresen: Das seine Farbe wechselnde Chamäleon gibt Anlass zu einer Farbenund Tugendlehre (Obj. XVII,6), dient aber auch als Mahnbild für den Reichen, der sich entweder zu Gott hin- oder von ihm abwenden kann (Obj. V,4); die Hierarchie der Tiere (Löwe, Wolf, Hund, Fuchs) bezeichnet gute und schlechte Menschentypen (Obj. VI,5); sieben schlechte Eigenschaften des Hundes werden auf menschliche Tugenden hin gedeutet (Obj. XVII,7); selbst an der Spinne kann der Mensch seinen Schöpfer



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erkennen (Obj. XVII,15; vgl. Eckhardt, Plage); der Vogel Kaladrius heilt den Kranken wie Christus den Sünder (Obj. IV,5); wie die Schlange sich häutet, so streift der reuige Sünder seine Schuld ab (Obj. VIII,2). – Hinzu kommen weitere Naturallegoresen wie z.  B. eine Transformation der traditionellen Frau-Welt-Thematik anhand der Rose als Signum für Vergänglichkeit (Obj. II,2) oder die ganz eigene Auslegung des Dattelpal­ menkerns auf einen unehrenhaften Mann, dessen Sohn aber an tugenden unde an eren / sich breitet sam der palmenboum (Obj. XVII,3,9  f.). Die existenzielle Not des fahrenden Dichters scheint immer wieder durch; das Thema guot umbe êre ist sehr präsent besonders in der Ermahnung der Herren zu tugent, êre und milte (die Begriffe sind gleichsam synonym und göttlichen Ursprungs: Obj. XIV,3; Gott selbst ist milte, Obj. VI,3). Auch dies kann verbunden sein mit dem gelehrten Prediger-Gestus, wenn der Dichter dazu mahnt, denen reichlich zu geben, die es verdient haben, die ungetriuwen aber soll Balaams Fluch (Nm 22,5) ereilen (Obj. XVI,10). Überhaupt äußert sich die Existenznot des gernden auch in Schelte und Fluch: Tod und Teufel sollen die bosen herren holen, die milten aber verschonen: die sint der armen trost (Obj. II,4,3); verflucht seien die argen, sie sollten eine Schelle an der Nase tragen, damit man sie gleich erkenne (Obj. II,11); die tugendelosen wil ich schelten (Obj. XVI,5), wobei das Sänger-Ich sich selbstbewusst als Moralinstanz inszeniert: Wenn ein ereloser schalc merkt, dass nicht er, sondern nur die biderben gelobt werden, dann schämt er sich wie einer mit Nasenbluten. Noch häufiger ist der Klagegestus: Der Gesang wird nicht gehört, weltliches Lob nicht mit weltlicher Gabe belohnt (XVII,13), die anschließende Schelte auf das unangemessene Betteln von ‚Hofmönchen‘ und ‚Klosterrittern‘ – Wortneuschöpfungen Reinmars von Zweter (vgl. Roe. 120) – lässt auch den sozialen Konkurrenzdruck erahnen. Der Sänger klagt über mangelndes Glück (Obj. XVI,9, Glück ist schlüpfrig wie ein Aal), über Armut und Erfolglosigkeit (XVI,4, mit Anklang an Walthers Armutsklage L. 28,1), er muss Rachegedanken gegen knausrige Gönner unterdrücken (Obj. XVI,6, mit seltsamer Küchenund Erntemetaphorik). Auch hier kehrt der Meißner den Gelehrten heraus: Schuld an mangelnder Fortune sind kosmologische Konstellationen (Obj. X,7, mit der ersten Nennung der sieben Planeten innerhalb der deutschen Lyrik). Kunstauffassung und ‚Stil‘ Das Kunstverständnis des Meißners ist durch die eingangs zitierten Selbstdefinitionen umrissen. Er agiert aus der Rolle des gelehrten Didaktikers und Predigers heraus in versiertem wie auch selbstbewusstem Verfügen über seine kunst. Als Rechtfertigung dient die Gottgegebenheit der kunst, was als Geltungsanspruch an sich ausgestellt werden kann (die kunst, die mir got gab, zuͦ dem ich phlichte, Obj. XV,4,8), aber auch noch differenziert wird zur Abgrenzung gegen andere, minderwertige Künste: Der Gesang ist das Höchste im Himmel und auf Erden, denn er wurde von Gott den Engeln geschenkt, um den Schöpfer zu loben, was ihn über die Instrumentalmusik stellt – und damit über andere Formen höfischer Unterhaltung und andere Gruppen von gernden. Die

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so implizierte Exzeptionalität des Sängers nimmt auch den ‚Empfänger‘ seiner Kunst in die Pflicht, denn der (existenziell abhängige und sozial niedrig stehende) Sänger tritt seinem Gönner in der selbstbewussten Rolle der urteilenden moralischen Instanz gegenüber. zucht unde kunst bedingen sich (Obj. II,14), das heißt im Umkehrschluss eben auch: Wer die kunst nicht wertschätzt, ist zühtelôs. Der Sänger erfüllt Gottes Auftrag, indem er die guͦ ten uz den bosen […] sundert (Obj. II,11,7  f.). Die existenzielle Abhängigkeit des Künstlers ist so radikal umgekehrt in eine moralische Verpflichtung des Gönners. – Ohne dass die guot umbe êre-Formel je explizit bemüht würde, ist ihre Logik beim Meißner allenthalben präsent und ihre Geltungsstrategie präzise umrissen. Unmittelbarkeit erzeugen die Texte durch häufige direkte Du-Anreden, was sie auch formal in die „Nähe zur religiösen Gebrauchsliteratur, insbesondere zur Predigt“ (Obj., S.  12) bzw. deren Sprecherhaltung rückt (Lauer, C., Sänger-Rollen, S. 85–88 u. ö.); Anaphernreihen und katalogartige Aufzählungen sorgen für Eingängigkeit. Das Repertoire an rhetorischer Ausschmückung der Rede ist insgesamt nicht überreich; die panegyrischen ‚Lobblumen‘ (vgl. Hübner, Lobblumen) bilden eher die Ausnahme. Als rekurrentes Stilelement fallen die besonders ausgeprägten „Formen des Significatio-Denkens“ (Obj., S. 100–114, das Zitat S. 100) auf, sei es im theologischen Bereich der typologisch-allegorischen Bibelexegese und der spiritaliter-Deutungen von Naturerscheinungen, sei es im logisch geschulten Sprachdenken (grundlegend Huber, C., Wort, zum Meißner s. Register), wie es sich etwa in der Vorliebe zu sprachspielerischen etymologischen Namensherleitungen äußert (s.  o.). Hierzu passt im Besonderen das im Spruchsang einzigartige „Vexiergedicht“ (Worstbrock, Formtypen, S. 18) Obj. VII,4, ein sprachlogisches Experiment in Form einer doppeldeutigen Morallehre (im Meistergesang wird diese Gedichtart Loica genannt): Mit wechselndem syntaktischen Bezug sind die einzelnen Sätze entweder positiv oder negativ zu verstehen, z.  B. v. 5: wes („sei“) zuchtich nicht zuͦ tugenden laz – je nachdem, ob man vor oder nach nicht interpungiert, ändert der Satz seinen Sinn (der auch sonst sorgfältige Schreiber in J hat das Prinzip erkannt und die entsprechenden Negationen zwischen zwei Punkte gesetzt). In diesem Zusammenhang ist schließlich noch das (neben der Marner-Verballhornung Obj. II,18) einzige weltliche Rätsel des Meißners zu nennen (Obj. XVIII,2); gesucht wird (mit entsprechenden Signalwörtern) ein Abstraktum mit widersprüchlichen Eigenschaften: stark und doch schwach, nicht existent und hat noch die werlt hie in Ewigkeit, es spricht nicht und hat doch sage. Im Horizont des Meißnerschen Sprachdenkens spricht (entgegen älterer Vorschläge wie ‚Schatten‘, ‚Wind‘ oder ‚Atem‘) einiges dafür, die Lösung in dem Wort ‚nichts‘ zu sehen (Tomasek, Rätsel, S. 298  f.). Dies alles setzt neben einem scharfen Geist sicherlich auch lateinische Bildung (wohl in geistlichem Kontext) voraus und lässt den Meißner vielleicht noch vor dem Marner als den prototypischen (schrift-)gelehrten Sangspruchdichter im späteren 13. Jahrhundert erscheinen. Ein Nachleben war ihm gleichwohl nicht beschert. Die lateinischen Dichter der ‚Augsburger Cantionessammlung‘, die beinahe zu seinen Zeitgenossen zählen, kannten ihn noch; erhalten sind drei Strophen von Estas und

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Mersburg in seinem Ton  XVII (RSM 1ZYEstas/1–2; 1ZYMersb/9; vgl. Callsen [Hg.], Augsburger Cantiones-Sammlung, Nr.  42–44). Die Meistersinger haben ihn nicht rezipiert. Allein in den späten Meistersingerkatalogen von Konrad Nachtigall, Valentin Voigt und Hans Folz (ed. bei Brunner, Dichter ohne Werk) erscheint sein Name unter den weiteren Meistern des 13. Jahrhunderts – falls hier nicht der Junge Meißner gemeint ist. Ausg. Alx.; Callsen (Hg.), Augsburger Cantiones-Sammlung; GA; Krn.; L.; Obj.; Pep.; Roe.; Ruw.; Schl.; Schr.; Sps.; Whm.; Wms.  – Lit. Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Formgeschichte; Burkard, Sangspruchdichter; Eckhardt, Plage; Egidi, Liebe; Egidi, Sängerpolemik; Frisch, Untersuchungen; Gerhardt, Kriegslist; Haustein, Marner-Studien; Holznagel, Wege; Huber, C., Wort; Hübner, Lobblumen; Kern, P., Trinität; Lauer, C., Sänger-Rollen; Müller, U., Untersuchungen; Rosmer, Tradition; RSM; Tervooren, Einzelstrophe; Tervooren/Bein, Fragment; Tomasek, Rätsel; Wachinger, Sängerkrieg; Worstbrock, Formtypen.

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Claudia Lauer

Boppe ist ein oberdeutscher Sangspruchdichter der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, der zu den „profilierten ‚kleineren‘ Autoren“ (Alx., S. 1) der zweiten Generation nach Walther von der Vogelweide gehört. Er gilt als meister und wird früh mit dem Attribut der Stärke in Verbindung gebracht. Entsprechend illustriert ihn die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C als langhaarigen Kraftmenschen, der vor Publikum ein Hufeisen verbiegt; ab dem 14.  Jahrhundert erscheint er auch namentlich als ‚starker Boppe‘. Seine Sprüche bzw. Sprüche unter seinem Namen sind in knapp 20 Handschriften überliefert und bezeugen insbesondere in der Rezeption eine große Anerkennung und Popularität: Boppe wurde von den Meistersingern als einer der Zwölf alten Meister verehrt, als Erfinder des Hoftons (Ton I) war er bis ins 17. Jahrhundert hinein bekannt. Historische Verortung Wie bei fast allen Sangspruchdichtern ist die konkrete historische Verortung auch bei Boppe schwierig. Mit Hilfe einiger historischer Bezüge in den überlieferten Sprüchen lassen sich jedoch Wirkungszeit und Wirkungsraum eingrenzen. Einen der sichersten Hinweise gibt Boppes Bitte um das Seelenheil Konrads von Würzburg, der 1287 starb (Alx. I,21). Als weitere Indizien gelten Boppes Sprüche auf die badischen Markgrafen Rudolf  I. († 1288) und Hermann  VII. († 1291) (Alx. I,20 u. IV,1) sowie mögliche Bezüge auf Rudolf von Habsburg († 1291) (Alx. I,8 u. II,1). Damit kann für Boppe eine Wirkungszeit in den 1280er und 1290er Jahren festgelegt werden. Zugleich lässt sich ein Wirkungsraum vor allem im südwestdeutschen Gebiet fassen. Konkretere

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Angaben, Boppe sei seit 1276 urkundlich bezeugt, stamme aus Bonndorf am Südostrand des Schwarzwaldes, sei Vogt des Grafen Mangold von Nellenburg gewesen und 1320 gestorben (vgl. z.  B. Walther/Siebert [Hg.], Codex Manesse, S. 276), sind aus Mangel an Belegen als „unwahrscheinlich“ (Alx., S. 1 Anm. 1) einzustufen. Vermutlich gehörte Boppe wie die meisten anderen Sangspruchdichter zur „Gruppe der Fahrenden“ (Alx., S. 1). Neben Boppes Autorbild in Handschrift C und der späteren Bekanntheit des Sängers als ‚starker Boppe‘ haben beim Versuch der historischen Identifikation des Autors auch zwei frühe außerliterarische Zeugnisse eine wichtige Rolle gespielt: ein Eintrag in den ‚Baseler Annalen‘, die für das Jahr 1270 einen Mann namens Boppe in Basel bezeugen, der trotz mittelmäßiger Statur die Kraft von 10 oder 20 oder noch mehr Männern gehabt soll (Jaffé [Hg.], Annales Basileenses, S. 194: In Basilea fuit quidam Boppo nomine, vir mediocris stature, qui dicebatur 10 vel 20 vel etiam multorum amplius vires hominum habuisse […]); daneben eine Kritik Bertholds von Regensburg an der Gruppe der Kraftmenschen, die durch einen Vergleich mit Boppe konkretisiert wird, dessen Körperkraft doppelt so groß wie die eines normalen Menschen sei und der nicht einen Tag, nicht einmal am Karfreitag, fasten konnte (Schönbach, Studien, S.  91: sunt ut Poppones qui videlicet duplicem habuit virorum fortitudinem et unum diem vel etiam parasceve jejunare non potuit). Die Frage, ob es sich bei dem in diesen Zeugnissen genannten Boppe um den Sangspruchdichter handelt, löste eine äußerst kontroverse Forschungsdiskussion zwischen Fürsprechern auf der einen (Grimm, W., Heldensage, S. 402; Wackernagel, Ritter- und Dichterleben, S. 299  f.; Schönbach, Studien, S. 91–94; Bartsch [Hg.], Liederdichter 12.–14. Jh., S. LVII) und Skeptikern auf der anderen Seite aus (HMS, Bd. 4, S. 693; Haupt, Boppe, S. 239; Tolle, Boppe, S. 9–22; Kornrumpf, Boppe, Sp. 954; Wachinger, Sängerkrieg, S. 116 Anm. 1). Eine biographische Identität kann letztendlich „nicht bewiesen werden“ (Alx., S. 3). Korpusüberlieferung Der altüberlieferte Bestand von Boppes Werk basiert auf Korpusüberlieferungen in zwei Handschriften (‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C mit Bild; ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J mit Melodie), einem Fragment (Basel, UB, Cod. N I 3/145) sowie Streuüberlieferung in: Berlin, SBB-PK, Mgq 795; ‚Niederrheinischer Liederhandschrift‘ (Leipzig, UB, Cod. Rep. II fol. 70a); Basel, UB, Cod. B XI 8; ‚Heidelberger Liederhandschrift‘ D (Heidelberg, UB, Cpg 350); Vorau, Stiftsbibl., Cod. 401 mit einer lateinischen Umdichtung einer im Mgq 795 überlieferten Strophe; in der ‚Augsburger Cantionessammlung‘ (Augsburg, UB, Cod. II.1.2° 10) wird diese lateinische Strophe einem Autor namens Mersburg zugeschrieben. Handschrift C überliefert insgesamt 40 Strophen in acht Tönen. Als literarisches Eigentum Boppes dürfen am ehesten die Strophen in Ton  I (Hofton, Langer Ton) gelten: 20 Strophen sind es in C, 18 in Handschrift J, davon 12 gemeinsam mit C; von den 6 Strophen des Basler Fragments liegen 3 auch in C und J vor. Nimmt man noch

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eine Strophe aus der Streuüberlieferung von Berlin, Mgq 795 hinzu, die sich nicht mit der übrigen Überlieferung deckt, sind insgesamt 30 ‚echte‘ Strophen überliefert. Darüber hinaus kennt C Strophen in sieben weiteren Tönen: Ton II (1 Strophe) ist eine Variante von Marners Langem Ton (Ton  VII), Ton  III (2 Strophen) ist identisch mit Meißners Ton I, Ton IV (1 Strophe) eine Variante von Stolles Alment, Ton V (6 Strophen) stimmt mit ‚Wartburgkrieg‘ Ton II (Klingsors Schwarzem Ton) überein, Ton VI (5 Strophen) entspricht Frauenlobs Grünem Ton (Ton III) und Ton VII (4 Strophen) Gasts Ton; nur Ton VIII (1 Strophe) präsentiert einen ansonsten nicht bekannten Ton. Unter den Strophen dieser Töne finden sich wiederholt Sangsprüche, die auch unter dem Namen anderer Sänger überliefert sind und deshalb mehrfach „zu Zweifeln an der ‚Echtheit‘ verschiedener Töne bzw. Sprüche“ (Alx., S. 8) Boppes geführt haben. Zur metrischen Form von Boppes Ton I in der älteren Überlieferung vgl. RSM, Bd. 2.1, S. 21; Brunner, Formgeschichte, S. 110  f.; die Melodie ist in Sps., S. 18–23 ediert. Boppes altüberliefertes Korpus befasst sich mit moralischen, religiösen, politischen und sängerischen Fragen und deckt das gesamte Themenrepertoire der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung seit Walther von der Vogelweide ab. Bis auf einen Preis der barmunge (Alx. VII) und eine an Tannhäusers Lied Sieb. X anknüpfende Verspottung des Minnedienstes (Alx. V,2–6) herrscht durchgehend das Prinzip der thematisch abgeschlossenen Einzelstrophe vor. Neben Herrscherpreis und -mahnung, Fahrendenklage, Marien-, Gottes- und Frauenpreis gelten als besonderes Markenzeichen des Autors vor allem die moralischen Natur- und Tierexempel sowie Tierallegoresen: Gegenstand sind die wunderlichen Eigenschaften eines Vogels Galadrius, die zum Erreichen moralischer Ziele erwünscht werden (Alx. I,5), ein Wundertier namens Taphart, das einer Tugendlehre an junge Männer dient (Alx. I,6), Herkunft und Schnelligkeit des Leoparden, die symbolisch auf Bösewichte ausgelegt wird (Alx. I,7), Beschreibung und ethisch-moralische Ausdeutung eines wunderbaren Steins Kamahu (Alx. I,24), die Erzählung von einem Wundertier namens Antilapus, das mit einem für die Fürstenhöfe schädlichen Mann verglichen wird (Alx. I,25), sowie die Beschreibung eines Kometen, die in einem Vergleich mit einem unredlichen Mann mündet (Alx. I,26). Inhaltlich nah stehen dem die Alexander-Legende von einem mit Gift aufgezogenen Mädchen aus Indien, die einer Fürstenlehre dient (Alx. I,29), sowie einige ausgefallene Rätsel (Alx. I,8: über einen wunderlichen Menschen; Alx. I,16: über ein Gebirge namens Kopfistan und einen seltsamen Drachen; Alx. V,1: über ein wundersames Tier, das in Normanîe lebt; vgl. auch VII,1–4: Preis der barmunge mit mehrfachen Anspielungen auf das Rätselgedicht von Tirol und Fridebrant und eventuell das ‚Rätselspiel‘ im ‚Wartburgkrieg‘). Boppes „mysteriöse[]“ (Yao, Exempelgebrauch, S. 45) Natur- und Tiervergleiche und seine Rätsel, die verhältnismäßig häufig gerade in Ton I sind, reihen sich im Sinne „änigmatischen Sprechens“ (Bulang, Geltungspotentiale, S. 44) in die sangspruchdichterliche Geltungsbehauptung und -sicherung ein. Sie unterstreichen immer wieder die „spezifische Kompetenz des Sängers“ (ebd., S. 52) und heben in ihrer diffizilen und zum Teil schwer verständlichen Darbietung nicht nur Boppes meisterliche Bildung und Gelehrsamkeit hervor, sondern lesen sich

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nachgerade auch als Ausweis seiner besonderen „sängerischen Geistes- und Verstandeskraft“ (Lauer, C., Boppe, S. 118). Ein zweites auffälliges Signet stellt Boppes „ausgesprochene Vorliebe für anaphorische Reihungen, Namenskataloge u.  ä.“ (Kornrumpf, Boppe, Sp. 956) dar. So finden sich unter anderem katalogartige Reihungen von mariologischen Topoi im Marienpreis (Alx. I,14), Strophen über höfische Tugenden und Laster wie milte, kerge, barmunge, zuht, unzuht, triuwe (Alx. I,3, 4, 17, 27 u. 28; VIII,1), welche die jeweiligen Leitwörter „entweder durchgängig oder in regelmäßigem Wechsel anaphorisch zu Versbeginn wiederholen“ (Spicker, Kataloge, S. 209), gebündelte Aufzählungen ritterlicher Tugenden und Pflichten (Alx. I,15), Namenshäufungen und -kataloge (Alx. I,9, 19  f.; II,1; III,2), priamelartige Verzeichnisse mannigfaltiger Heldenfähigkeiten (Alx. I,30) sowie Adynata-Reihungen z.  B. in Hinblick auf die Gnade Gottes (Alx. I,1), den Besitz des Geldes (Alx. I,30), die Armut des Sängers (Alx. IV,1) und die Zuneigung der Geliebten (Alx. I,18, V,2–6). Boppes Reihungen, Kataloge und Aufzählungen durchziehen themenübergreifend die gesamte Korpusüberlieferung und bieten im Vergleich zu anderen Sangspruchdichtern ein außergewöhnlich breites Spektrum rhetorischer amplificatio. Die variationsreichen Gestaltungen dienen dabei wiederholt „der affektischen Beeinflussung des Publikums“ (Spicker, Kataloge, S. 218) und der Demonstration sängerischer „Virtuosität“ (ebd., S. 220). Zugleich intensivieren sie die sprachliche Ausdrucks- und Wirkkraft und sorgen für eine „verbale ‚Schlagkraft‘“ (Lauer, C., Boppe, S. 118) des Autors, die sich in aggressiven „Schimpfkanonaden“ (Wachinger, Sängerkrieg, S. 157) auf andere Sänger, aber auch in außergewöhnlichen Ausweisen eigener Armut, Liebesstärke und Gottesergebenheit niederschlägt. Neben Boppes Spruchkorpus spielt für das Autor-Profil auch das Bild in der Handschrift C eine wichtige Rolle. Im Rahmen der Altüberlieferung nimmt es eine „zentrale Stellung“ (Alx., S. 6) ein. Die Darstellung eines Mannes, der vor den Augen von drei bewundernden Zuschauern in leicht gebeugter Haltung mit bloßen Händen ein Hufeisen verbiegt, gilt als „erste(r) Beleg“ (Alx., S. 2) für eine Verbindung ­zwischen dem Sangspruchdichter und dem außerliterarisch bezeugten Kraftmenschen Boppe (s.  o.). Auffällig sind zudem das gelbe Gewand und die langen lockigen Haare, die auf eine ikonographische Umsetzung der alttestamentarischen Figur Simsons verweisen (vgl. Siebert-Hotz, Bild, S. 305; Bumke, Ministerialität, S. 29 u. S. 87 Anm. 142). Das Bild kann dabei als „Vergegenwärtigung eines Redaktionsprinzips“ (Bulang, Geltungspotentiale, S.  60) gelesen werden, das mit namentlichen Anspielungen auf Simson und den Rätselstrophen in Boppes C-Korpus korrespondiert (vgl. ebd., S. 60  f.). Zugleich lässt sich gerade im Falle von Boppes änigmatischem und amplifikatorischem Sprechen auch ein literarästhetischer ‚Kraft- und Stärke-Diskurs‘ ausmachen, der mit sängerischer Geistes- und Verstandeskraft, „Ausdrucksstärke bis hin zu Wut- und Zornausbrüchen, Liebesschwäche sowie die Unterstellung der Stärke unter die Gnade Gottes“ (Lauer, C., Boppe, S. 124) gleichsam in Gänze die Identität des alttestamentarischen Helden widerspiegelt. Boppes inhaltliche und stilistische Besonderheiten profilieren damit nicht nur einen Autor, der sich markant im Span-

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nungsfeld zwischen der früh verbreiteten Wortbedeutung von poppe als ‚Schwelger‘ und ‚Großsprecher‘ (Lexer II, Sp. 285) und dem sangspruchdichterlichen Anspruch eines gebildeten, ästhetisch versierten und christlich-moralisch integren meisters verortet. Die Evokation der bzw. Anlehnung an die biblische Simson-Identität enthüllt hier auch ein Autor-Profil, das Ende des 13. Jahrhunderts im südwestdeutschen Raum als „außergewöhnlich geltungsgesättigt“ (Lauer, C., Boppe, S. 125) anzusehen und insgesamt für die mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung als durchaus originell einzustufen ist. Spätere Meisterliederhandschriften und Rezeption Von Boppes altüberliefertem Werk geht unter seinem Namen nur sein Ton  I in die spätere Überlieferung der Meisterliederhandschriften ein, der als sog. Hofton, später auch Langer Ton, bereits Heinrich von Mügeln bekannt war und dessen komplizierte Kanzonenform in Mügelns Langem Ton (Ton III) wiederverwendet wurde; außerdem stimmt mit dieser Form bei wenigen Abweichungen das Strophenschema der bei den Meistersingern beliebten Gesangweise des Römers von Zwickau überein (vgl. RSM, Bd. 2.1, S. 21; die Melodien sind sämtlich unterschiedlich). Im Vergleich zu Boppes schmalem ‚eigenen‘ Duvre in Ton I bezeugt die spätere Rezeption das Ansehen des Autors. Boppes Hofton avancierte neben den Langen Tönen Frauenlobs, Regenbogens und des Marners zu einem der beliebtesten Töne der Meisterlieddichter des 14. und 15. Jahrhunderts. Allerdings wurde er im Lauf des 16. Jahrhunderts durch den schemagleichen Langen Ton Mügelns weitgehend verdrängt; die offenbar in der zweiten Jahrhunderthälfte vergessene Melodie wurde um 1600 neu aus k entlehnt. Nach Hans Sachs, der den Ton immerhin noch zehnmal verwendete, benutzte ihn lediglich der Nürnberger Meistersinger Benedict von Watt 1609 und 1615 nochmals für zwei Texte (nun schon auf der Grundlage der Neuentlehnung aus k, vgl. Brunner, Alte Meister, S.  117  f.). Boppe wurde, wie schon erwähnt, als einer der Zwölf alten Meister, der Begründer des Meistergesangs, verehrt. Er erscheint um 1350 erstmals neben so ‚großen‘ Sängern wie Walther von der Vogelweide, Frauenlob und Konrad von Würzburg, aber auch anderen Sangspruchdichtern wie Reinmar von Zweter, dem Marner, Bruder Wernher oder Friedrich von Sonnenburg in Lupold Hornburgs von Rothenburg ‚Von allen singern‘ (Cramer II, I,2) und geht schließlich mit dem Beinamen ‚der Starke‘ in die jüngeren Meisterkataloge (bei Hans Folz, Konrad Nachtigall u.  a.) ein. Er ist unter dieser Bezeichnung auch außerhalb von Spruchdichtung und Meistergesang bekannt: So erwähnen ihn Meister Jordan in einer Predigtstelle und diesem nachfolgend Konrad von Megenberg im ‚Buch der Natur‘ (197,8–13: sô singt der ainen Frawenlop, der ainen Marner, der ainen starken Poppen. der poppen ist sô vil worden, daz si der gotshäuser guot und êr verpoppelnt) sowie Johannes von Tepl im ‚Ackermann von Böhmen‘ (XXX,11: Vmb keyser ’ marggraf Wilhelm’ Dietherich von Pern’ denn Starcken Poppen’ vnd vmb den Hürnyn Seyfrydt hab wir nit’ so vil müe gehapt).

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Boppes Überlieferung in den Meisterliederhandschriften bietet mit mehr als 200 Strophen einen beträchtlichen Umfang, darunter zentral Handschrift k mit 190 Strophen in 48 Einheiten, wobei 33 davon (oft in abweichender Strophenordnung) mehrfach bezeugt sind (vgl. Baldzuhn, Sangspruch, S. 344). Sicherheit in der Autorschaft kann insgesamt kaum gewonnen werden, da die „Gedichte der Meisterliederhss. […] grundsätzlich keinen Anspruch auf Echtheit“ (Kornrumpf, Boppe, Sp. 956) erheben. Sie stammen wohl überwiegend aus dem 14. und 15. Jahrhundert, wobei „bei einigen Strophen in B[oppe]s Art höheres Alter zu erwägen“ (ebd.) ist und insbesondere Handschrift k im Vergleich zu anderen Korpora hier einen hohen Anteil an Einzelstrophen enthält, deren Alter noch vor der Mitte des 14. Jahrhunderts anzusetzen ist: „Im Hofton sind Strophen dieser Art, zu denen man natürlich die vagierenden echten Strophen hinzuzählen muß, so häufig, dass nur ungefähr die Hälfte aller Bare in k frei von ihnen ist“ (Schanze, Liedkunst I, S. 75). Dabei bezeugen nicht nur Boppes sog. echte Strophen eine intensive Produktivität, indem es bei der Genese der meisterlichen Lieder zu „thematisch orientierten Zusammenstellung[en] älterer Einzelstrophen“ (Hau­ stein, Beiläufiges, S. 206) und Ergänzungen, aber auch häufig zu „Umformulierungen im rein sprachlichen Bereich“ (Alx., S. 16) kommt, die nicht selten die „Änderung der Gesamtaussage“ (ebd.) und eine veränderte Form der „konstituierenden Reime“ (ebd.) bewirken. Es lassen sich – maßgeblich geprägt durch die umfangreiche Überlieferung in Handschrift k – auch zwei wesentliche inhaltliche und stilistische Charakteristika für das Profil von Boppes Hofton in den späteren Meisterliederhandschriften ausmachen. Neben wenigen weltlich-moralischen Lehren, Zeit- und Armutsklagen, Explikationen von Tugenden und Lastern, Fabeln und Frauenpreisliedern, aber auch Liedern über den Meistergesang (Straflied, Fürwurf, Gekrönter Hort) zeigt sich erstens ein deutlicher inhaltlicher Schwerpunkt von religiös-biblischen bzw. geistlichen Strophen und Liedern. Überwiegend greifbar sind Marienpreis, -gruß und -anrufung, Anrufungen Gottes sowie Preisungen von Gottes Wunderwerk, Schöpfungsmacht und Heilswirken. Zudem finden sich Themenbereiche und ganze Erzählungen der Passion Christi, Gebetsbitten und ‚Paternoster‘-Paraphrasen, aber auch Ermahnungen zur richtigen Vorbereitung auf die Messe sowie Beschreibungen der Messordnung (z.  T. mit Zitaten des lateinischen Textes). Kennzeichnend sind zweitens gerade im Rahmen dieser Strophen und Lieder auch zahlreiche gelehrte Natur- und Tierexempla, die der geistlichen Auslegung dienen (u.  a. traditionell bekannte wie Adler, Strauß, Pelikan, Phönix, Löwe, Elefant, Einhorn und Schlange, aber auch ausgefallene wie Triliticus, Arpia und Illekan) sowie wiederholt Strophen- und Versanaphern (z.  B. Ave Maria, Ich glaub, got, mich wundert), anaphorische Titulierungen (v.  a. für Maria), Aufzählungen von Gottes Schöpfungswerken, biblische Namenskataloge und mehrfach auch Häufungen von Bitten und Ermahnungen in einer Strophe bzw. einem Lied. Im Sinne eines „bewusste[n], literarisch produktive[n] Ausdruck[s] des Bemühens, sich die Texte der alten Meister in variierender Aufnahme und unter thematischer Ausgestaltung anzueignen“ (Haustein, Walther in k, S. 226), verlagern Handschrift k und mit ihr auch die anderen Meisterliederhandschriften damit Boppes



Frauenlob (Heinrich von Meißen) 

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altbezeugte Markenzeichen verstärkt in den religiös-biblischen bzw. geistlichen Bereich. Boppes Hofton präsentiert so nicht nur ein Profil, das den Ansprüchen und Bedürfnissen des Meistergesangs gerecht wird und in dem gerade in der vorreformatorischen Phase geistliche Inhalte überwiegen. Mit der themenspezifischen Adaptation der stilistischen Qualitäten des Autors scheint Boppes Hofton im Meistergesang auch konsequent und erfolgreich die Allusionen an die biblische Simson-Identität fortzuschreiben. Er überträgt das originelle Profil des Sangspruchdichters in eine stark christlich-religiöse und geistlich-theologische Ton-Kontur, die nicht zuletzt dem Autor selbst eine langanhaltende Bekanntheit sichert, wie u.  a. ein noch Anfang des 17.  Jahrhunderts verbreiteter ‚Segen des starken Boppe‘ in Regenbogens Liedweise (RSM 1Regb/1/564) belegt. Ausg. Alx.; Bartsch (Hg.), Liederdichter 12.–14. Jh.; HMS; Jaffé (Hg.), Annales Basileenses; Johannes von Tepl, Ackermann; Konrad von Megenberg, Buch der Natur (a); Sps.; Walther/Siebert (Hg.), Codex Manesse; Walther [u.  a.] (Hg.), Miniaturen.  – Lit. Baldzuhn, Sangspruch; Brunner, Alte Meister; Brunner, Formgeschichte; Bumke, Ministerialität; Bulang, Geltungspotentiale; Frühmorgen-Voss, Bildtypen; Grimm, W., Heldensage; Haupt, Boppe; Haustein, Beiläufiges; Haustein, Walther in k; Kornrumpf, Boppe; Lauer, C., Boppe; RSM; Schanze, Liedkunst; Schönbach, Studien; Siebert-Hotz, Bild; Spicker, Kataloge; Tolle, Boppe; Wachinger, Sängerkrieg; Wackernagel, Ritter- und Dichterleben; Yao, Exempelgebrauch.

11 Frauenlob (Heinrich von Meißen)

Jens Haustein

Ab etwa 1290 hat Frauenlob, der nach seinem vermutlichen Geburtsort auch Heinrich von Meißen genannt wurde, sein umfängliches Werk zu dichten begonnen. Der schon seit dem 14. Jahrhundert bezeugte Beiname ‚Frauenlob‘ bezieht sich auf sein literarisches Eintreten für die Ehre der Frauen, die ihm auch bei seiner Beisetzung im Kreuzgang des Mainzer Doms, so wird in der Chronik des Matthias von Neuenburg berichtet, aus Dankbarkeit eine Totenklage gesungen und eine große Menge Weins in sein Grab geschüttet hätten. Der ursprüngliche Grabstein wurde 1774 zerstört. Durch zwei Abschriften ist das Todesdatum bekannt: Frauenlob war am 29. November 1318 gestorben. Urkundlich ist er für das Jahr 1299 bezeugt: Herzog Heinrich von Kärnten gab ihm eine größere Geldsumme für den Kauf eines Pferdes (s. → Kapitel  III.1). Über seine weiteren Lebensumstände sind wir auf Grund einer Reihe von Gönnernamen einigermaßen gut unterrichtet. So war er wohl bei der Schwertleite Wenzels II. von Böhmen im Jahr 1292 anwesend und auf einem Hoffest Rudolfs von Habsburg; der Strophenfolge GA V,13–17 nach, die Waldemar von Brandenburg huldigt (froun Eren diener Vivianz / ist Waldemar, der fürste stolz) und wohl 1311 entstanden ist, kannte er Heinrich IV. von Breslau und Otto III. von Bayern. Die Strophen GA XI,1  f. sind ver-

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mutlich an Erik Menved, den dänischen König, gerichtet. Weitere Lobsprüche gelten (nach Stackmann, Frauenlob; dort auch die Lebensdaten): Giselbert, Erzbischof von Bremen; Graf Otto (III.?) von Ravensberg; Graf Gerhard von Hoya; Fürst Wizlav (III.?) von Rügen; Herzog Heinrich (I. oder II.) von Mecklenburg; Graf Otto II. von Oldenburg u.  a. Eine besondere Förderung erfuhr Frauenlob durch Peter von Aspelt, den späteren Erzbischof von Mainz, den er vielleicht schon in Prag kennengelernt hatte und der für seine Beerdigung in Mainz gesorgt haben dürfte. Die bekannte Strophe GA V,1, die einer Beischrift nach Frauenlobs ‚Sterbegebet‘ gewesen sein soll, sollte man mit Fasbender wohl lieber als ‚Eucharistiegebet‘ mit unsicherer Zuschreibung an Frauenlob bezeichnen. – Frauenlob scheint also in der Umgebung der Hochadeligen und vieler (auch geistlicher) Fürsten seiner Zeit gewirkt zu haben, anfangs offenbar eher im Südosten, später verstärkt im Norden. Dass er schon früh „mit der Aura eines Wunderkindes die literar[ische] Bühne“ (Huber, C., Frauenlob, S. 550) betreten hat, ist dann durch eine Strophenfolge Hermann Damens bezeugt, wenn man die Wendung an das kint auf Frauenlob (und nicht einen Unbekannten) bezieht (Wachinger, Sängerkrieg, S. 182–187 mit Texten; Willms, Untersuchungen); die nicht wenigen Gegenstrophen belegen, dass sein Schaffen aufmerksam und kritisch verfolgt wurde. Das Œuvre umfasst vor dem Hintergrund von Helmuth Thomas’ Untersuchungen zur Echtheit des unter dem Namen Frauenlob überlieferten Œuvres und auf der Basis der GA drei Leichs, das Streitgespräch ‚Minne und Welt‘, rund 320 Sangsprüche in neun Tönen sowie sieben Minnelieder. Die von Thomas für unecht erklärten Strophen und Lieder (und zahlreiche weitere) sind im Supplement zur GA (GA-S) ediert. Der Herausgeber der GA, Karl Stackmann, hat stets betont, dass die Übergänge zwischen ‚echt‘ und ‚unecht‘ gerade im Fall Frauenlobs fließend seien (z.  B. GA, Bd. 1, S. 163  f.), was nicht nur dadurch bedingt ist, dass sich offenbar schon im ganz frühen 14. Jahrhundert eine Gruppe von Autoren bemüht hat, im Stile Frauenlobs zu dichten, sondern auch dadurch, dass die Überlieferung für zahlreiche Strophen mit der ‚Weimarer Liederhandschrift‘ F erst relativ spät einsetzt und die Texte offenbar zu diesem Zeitpunkt nur noch ansatzweise verstanden wurden. Überlieferung Die Überlieferung insgesamt ist ausgesprochen vielgestaltig und reicht bis ins 16. Jahrhundert, ja darüber hinaus (RSM, Bd. 3, S. 320  f.; GA, Bd. 1, S. 20–160). Unter den Corpushandschriften ragen von ihrer Bedeutung für die Überlieferung zum einen die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C und die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J, beide aus dem 14.  Jahrhundert, zum anderen die ‚Weimarer Liederhandschrift‘ F sowie die neben alten auch zahlreiche jüngere Strophen in Tönen Frauenlobs enthaltende ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k heraus; die beiden letzteren entstammen dem 15. Jahrhundert (s. oben → Kapitel III.3). Die Minnelieder sind – eigenartigerweise – insgesamt nur in F überliefert. Burghart Wachinger ist die Beobachtung zu verdanken, dass sich J und F in ihrem Sammlungsprofil deutlich unterscheiden: In J dominieren Stro-



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phen mit polemischer Tendenz, die wohl eher vom jungen Frauenlob stammen und vor 1300 gedichtet sein dürften; die Frauenlobsammlung F, in die auch Strophen von Schülern Frauenlobs eingegangen sind, kennt so gut wie keine literarische Polemik, wohl aber politische Strophen, auch mit deutlicher Kritik an Geistlichen (s. auch Kornrumpf, Konturen), die offenbar ein Sammler nach Frauenlobs Tod im Sinne der Politik Ludwigs des Bayern zusammengestellt haben wird. „Nicht allzu lange nach 1323 könnte man sich die Vorstufe von F entstanden denken“ (Wachinger, Corpusüberlieferung, S. 202). Wachingers auf die Überlieferung bezogene Ergebnisse sind jüngst von Franziska Wenzel aufgegriffen und mit Blick auf den Langen Ton ausgebaut worden: In C werden Fragen der Meisterschaft verhandelt, in J solche eines integren Verhaltens; in F ist ein Ich als Weisheitslehrer konturiert, in k wird die reli­ giöse Dimension herausgestellt, in der Marien- und Selbstlob zusammenfallen können (Wenzel, F., Meisterschaft, v.  a. S. 288–303). Als echt gelten zehn Töne, rechnet man denjenigen von ‚Minne und Welt‘ hinzu. Das Verhältnis von Stollen und Abgesängen ist einigermaßen ausgeglichen von der Verszahl her; alle drei Strophenteile sind durch Mehrfachreime untereinander verbunden. Eine gewisse formale Ausnahme bildet der ‚anspruchslose‘ Kurze Ton, der bezeichnenderweise neben dem Flugton von den Meistersingern nicht verwendet wurde. Der ‚Mode‘ des 13. und frühen 14.  Jahrhunderts, einen dritten Stollen zu dichten, hat sich Frauenlob konsequent verweigert. Eine ‚alte‘ Melodieaufzeichnung des 14. Jahrhunderts gibt es zum Grünen Ton, Flugton, Zarten Ton und zum Würgendrüssel; früheste Quelle für den Langen, Neuen, Vergessenen und Goldenen Ton ist k (s. Brunner, Formgeschichte, S. 149–164); Edition aller Frauenlob zugeschriebenen Melodien in Sps., S. 34–117. ‚Minne und Welt‘ Eine Sonderstellung im strophischen Œuvre Frauenlobs nimmt ‚Minne und Welt‘ ein, ein (nur in F überliefertes) Werk, das gelegentlich in seiner Echtheit bezweifelt wurde, sich aber in vielem mit dem übrigen Werk, auch den Leichs, verbindet. Die beiden Personifikationen Minne und Welt streiten über den Vorrang. Die Welt nimmt im Anschluss an zwei Einleitungsstrophen und eine provozierende Strophe der Minne für sich in Anspruch, dass sie in Gott ihren Ursprung hat, der Ort ist, an dem die Inkarnation geschah, und derjenige, auf dem die Minne allenfalls wirkt. Die Minne weist diese Einschränkungen zurück und betont ihre Verbindung zum göttlichen Wirkprinzip, stellt sich als Verbindungsglied zwischen Gott und seinem Sohn dar und nimmt für sich damit in Anspruch, ein Wirkprinzip zwischen den Menschen zu sein. Am Ende spricht sie selbst das – inzwischen vorhersehbare – Urteil: Din rede nicht scheit / got unde mich: wir bliben ein, die schrift daz seit. / din falscheit gar dar nider lit, / sust hast du, Werlt, verlorn den strit (GA IV,21,9–12; Köbele, Effekte).

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Sangspruchdichtung: Themen und Formen Frauenlobs Sangspruchdichtung insgesamt ist gerade auf dem Feld ihrer thematischen Schwerpunkte inhaltlich erstaunlich traditionell, sucht hingegen darstellerisch das Ausgefallene und Verdunkelte. Geistliche Thematik ist keineswegs dominant und auch nur auf wenige Töne beschränkt (v.  a. Flugton und Grüner Ton): In GA VI,1 wird das Thema der Inkarnation (und auch der Kreuzigung) mit Vorstellungen aus dem Marienleich verbunden: Got mit des geistes tjüste / den sun warf under ir [Marias] brüste, / ouwe, und sin gerüste / starb von der lüste lüste (v. 11–14) – gemeint ist, dass die Menschennatur Christi auf Grund des Sündenfalls am Kreuz starb. In GA VI,2 wird diese Thematik zunächst trinitarisch erweitert: Dri forme in einem wachse / gedruct, das wunder, daz ist bloz (v. 1  f.), um dann wiederum in das Motiv vom Tod des Gottessohnes auszulaufen: sus sluc ein kint in siner muter sin vater / zu tode hie (v. 16  f.) – gemeint ist in paradoxer Umkehr von Vater und Sohn, Gott tötete seinen Sohn in der Mutter, der Natur mithin, in der er Mensch geworden war. Noch einmal erweitert wird die trinitarische Drei zur Vier in GA VII,3, einer Strophe, die zunächst Gottes Allmacht behandelt, um dann erneut göttliches Wesen und Vergänglichkeit der Natur einander entgegenzusetzen: Wan got sie [natur] bestunt selbvierde, / er ein und ouch sin e­ wicheit / und sin majestas, wirde. / dar zu so half die reine, / Maria, vleisches bleiche vri: / sie spielt uz ein personen dri. / vier mochten me dan nature alterseine (v. 13–19). Aus dem Grünen Ton wären etwa die Strophen GA VII,1; VII,2 und VII,*7 zu nennen. Weiten Raum nimmt die Thematisierung der alten (Ritter-)Werte ein. Die maze und die milte sowie der aus der minne abgeleitete Wert der hübischeit werden in GA VII,14 miteinander verbunden und aufeinander bezogen, in GA XI,13 schame und triuwe, in GA V,25 triuwe und kiusche. Explizit werden die ritter in GA VIII,5 zur Tugend ermahnt. Fürstliche Adelige umgeben sich, wie ja auch Frauenlobs Vorgänger nicht müde wurden zu betonen, mit unwürdigen Beratern (GA V,35; V,45), bevorzugen die Schmeichler (GA V,37), wohingegen doch zum Adeligen die edle Tat und der weise Berater gehören sollte (GA V,44). In GA IX,4 wird ein Lob auf Alexander mit einem auf König Artus verschränkt: Künig Artus mit ritterschaft / vil hohen pris erwarb; / swie daz er doch erstorben si, / sin reinez lob doch nie verdarb / künig Alexander, der ouch hie / in hohen wirden starb (v. 13–18). Traditionellerweise sind die jungen Adligen mit ihrem Geldstreben am miserablen Zustand der Gegenwart schuld (GA IX,5), während sie doch eigentlich mannhaft sein sollten (GA V,46). Ein Leben nach dem alten rechte (GA IX,6,2) täte auch mit Blick auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander not. Kritisiert wird zudem, dass ‚Herr‘ und ‚Knecht‘ ihre Rolle nicht in einer dem Ordo gemäßen Weise ausfüllen (GA V,68–71; IX,10; X,4 u. ö.). Und auch dies durchaus traditionell: Zu rechter Herrentugend gehört die milte im Allgemeinen (GA V,24 gegen den gît) und die pekuniäre Anerkennung guter Kunst im Speziellen (GA XI,11). Ohnehin nehmen im Werk Frauenlobs das Verhältnis der Herren zum Künstler und das Verhältnis der Künstler untereinander breiten Raum ein. Dieses in der Sangspruchdichtung seit Walther von der Vogelweide, aber verstärkt in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, hervortretende Thema wird dabei auf eine herkömmliche



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Gedanken umformulierende Weise behandelt, indem gängige Begriffe umsemantisiert und der agonale Charakter der Darstellung stark betont werden. Hinzu tritt eine exponierte Bildlichkeit, die offenbar schon die Zeitgenossen einerseits fasziniert und zur Nachahmung angeregt, andererseits abgestoßen haben muss. Die in ihrer Authentizität wie chronologischen Stellung nicht unumstrittene, in ihrem Behauptungscharakter aber durchaus plausible Selbstrühmung Frauenlobs (Rettelbach, Abgefeimte Kunst) ‚argumentiert‘ zum einen mit einem Überbietungsanspruch gegenüber den großen Meistern (Swaz ie gesang Reimar und der von Eschenbach, / swaz ie gesprach / der von der Vogelweide […], GA V,115,1–3), zum andern setzt sie in bezeichnender Weise auf die bildhafte Einkleidung des Gedankens, dass sich im Werk Frauenlobs Kunst und Verstand auf singuläre Weise miteinander verbunden haben: der sinne trage ich ouch ein joch, / dar zu bin ich der künste ein koch. / min wort, min döne traten nie uz rechter sinne sazen (v. 17–19). Solcher Art künstlerische Selbstermächtigung hat gleich eine ganze Reihe von Gegenstrophen provoziert: In ihnen werden die alten Meister verteidigt (GA V,116G), wird Frauenlobs exquisite Sprache bespöttelt (wilt du uns tiutsch vertolken? GA V,117G,3) oder wird der Anspruch auf die exzeptionelle Verbindung von Sang und Verstand zurückgewiesen: Da von lat iuwer singen varn, / ir gugelgiegen, sinnes arn! (GA V,118G,13  f.). Auffällig ist, dass das Bemühen, Frauenlobs Selbstbild zu demontieren, auch bei den Gegnern, unter denen man sich u.  a. auch Regenbogen vorstellen muss, gelegentlich ein ausgefallenes metaphorisches Argumentieren oder nur Behaupten freisetzt, das demjenigen Frauenlobs durchaus vergleichbar ist. – Freilich kennt das Werk Frauenlobs auch ein entspannteres Verhältnis zu den Bedeutenderen unter seinen (toten) Vorgängern. Eine besondere Referenz erweist er dabei Konrad von Würzburg, indem er dessen blumenreiche und goldschmiedende Metaphern, besonders aus der ‚Goldenen Schmiede‘, aufgreift, untereinander verbindet und auf den toten Dichter bezieht: Durchsternet was sins sinnes himel, / glanz, als ein vimel / durchkernet. luter golt nach wunsches stimel / was al sin blut, geveimt uf lob, / gevult mit margariten nicht zu kleine und grob (GA VIII,26,8–12). Trotz Frauenlob ist mit Konrad die große Kunst gestorben: Ach, kunst ist tot! (v. 15). Eine hübsche, offenbar auch den Tonnamen spendende Referenz an einen anderen berühmten Vorgänger bildet der Eingang von Strophe 15 des Grünen Tons: Ich saz uf einer grüne / und dachte maniger hande dinc; / wie ich die werlt behielde / und ouch gein gote nicht wurde linc (GA VII,15,1–4). Der Schluss der Strophe bietet dann freilich eine von Walther abweichende Diskussion der Werte tugent und ere (Stackmann, Kleinigkeiten). Einen besonderen Selbstanspruch an die sprachlich-bildhafte Gestaltung zeigen auch die nicht wenigen Fürstenpreis-Strophen, die bezeichnenderweise so gut wie ganz von gerenden-Thematik frei sind. Die Verbindung von literarisch ambitioniertem Lob und Bettelei erschien Frauenlob offenbar wenig opportun. In der Pentade GA V,7–11 auf fünf norddeutsche geistliche und weltliche Adelige greift Frauenlob auf ganz unterschiedliche Bildspender zurück, die jeweils auf das (kunstvolle) Gemacht­ sein des Lobs verweisen. Giselbrecht von Bremen ist dem kristentume ein salbe (GA

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V,7,6  f.), Ottos von Ravensberg sunnenvarez lob (GA V,8,1) kleidet ihn besser, als es jedes Lob Hermann Damens könnte, Gerhards von Hoya Leben in tugenden gralet (GA V,9,19), Wizlav von Rügen wird das geschmiedete Lob vür ein gut getrenke nehmen (GA V,10,5), und das Lob auf Heinrich von Mecklenburg fasst gewissermaßen die vorangehenden Lobsprüche Bild neben Bild setzend zusammen und endet bezeichnenderweise mit einem Ausblick nicht auf den zu Lobenden, sondern auf denjenigen, dem das alles zu verdanken ist: Ein kranz, den ere geblümet hat, / ein krone tugentlicher tat / unde ouch ein wat, / der ieslich nat / zu prisene und zu lobene stat / […] / daz ist von Mekelenburc her Heinrich, dem ich schalle (GA V,11,13–19; vgl. auch → Kapitel V.5). Vergleichbar ist die zweite, offenbar mit Blick auf das Ritterfest von Rostock im Jahr 1311 gedichtete Pentade GA V,13–17 gestaltet, in der zum einen die alten Ritterwerte betont werden, in der aber zum anderen die Selbstbezüglichkeit des dichterischen Lobs besonders deutlich hervortritt (vgl. Klein, D., Poeta artifex, mit Hinweisen auf ältere Literatur von C. Huber, Haustein, Hübner, Obermaier): Der Dichter imitiert Gott, den deus artifex, wenn er die Rolle des biblisch gut bezeugten wercmans, also Gottes, einnimmt, um ein Lob(lied) zu gestalten, das seinerseits noch wunder wirket (GA V,13,19). Auffällig und offenbar in den Dichterfehden Frauenlobs vorgebildet ist die Diversifikation des Ichs in herze als dem Ursprungsort des Wortes und sin als dem Sitz des Verstandes (etwa GA V,10 und ausführlicher Klein, D., Poeta artifex). Agonale Züge trägt auch der sog. wip-vrouwe-Streit. Geht man von Wachingers Rekonstruktion des Geschehens aus (Sängerkrieg, S. 188–232), hat Frauenlob die Auseinandersetzung mit seiner Deutungshoheit beanspruchenden Definitionsstrophe GA V,102 begonnen und seine Argumente in GA V,106 weiter ausgeführt. Anders als Walther in L. 48,38/Bein 25,IV und auch im Gegensatz zu seinem eigenen ‚Minneleich‘ betont er die Überlegenheit der vrouwe nicht nur über die maget, sondern vor allem über das wip, dem er zwar die berühmte expositionsetymologische Definition Wunne Irdisch Paradis zubilligt, das er aber offenbar in reiner Kreatürlichkeit verhaftet sieht, wohingegen er dem Namen vrouwe zutraut, dass nuz uf al ir wirde stat. Die gewisse Austauschbarkeit, ja Willkürlichkeit der Definitionen von wip und vrouwe scheint Frauenlob in GA V,106 dadurch begegnen zu wollen, dass er vrouwe als denjenigen Begriff definiert, der auch den des wibes umfasst: vrouwe ist ein name, der al ir art mit einem nennen decket (v. 6). Nicht ganz ohne Bosheit und Raffinesse ist eine der Antwortstrophen (von Regenbogen?): Gesanges friunt […] du bist von einem wibe / geborn als ich. nu widersprich! (GA V,110G,1–5). Eine zweite (von Rumelant?) steht dem mit ihrem Namensspiel in nichts nach: Der wibe name grozer ist dan vrouwen lob (GA V,107G,1). Und ohnehin: Man glose ez hin, man glose ez her (v. 13). In einer dritten (ebenfalls womöglich von Rumelant stammenden) Strophe wird dann das Scheinproblem auf den Punkt gebracht: wil man ez rechte erkennen, / so mac man wol nennen / die vrouwen wib, wib vrouwen ouch (GA V,109G,9–11). Frauenlob hat seine Position in weiteren Strophen verteidigt (u.  a. GA V,111; V,112), auf seine Kenntnis der Bibel pochend und die Wahrheit in der Etymologie suchend, die ihn freilich in einen Gegensatz zu der sonst gängigen Auffassung von der schmerzensfreien Geburt des



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Gottessohnes bringt: Gott nannte seine Mutter ‚vrouwe‘ und nicht ‚wib‘: […] / vro von der lust, we durch die burt (GA V,112,7–12). Nachwirkung Frauenlobs stilistische Brillanz, seine Vorliebe für ein ausgefallenes Vokabular und gewagte grammatische Konstruktionen, für angespannte syntaktische Gebilde und aparte Genitive hat zahlreiche Autoren des 14. und 15. Jahrhunderte zu einer produktiven Rezeption inspiriert. Unter ihnen ragt Heinrich von Mügeln heraus. Ein Einfluss ist aber auch für Tilo von Kulm oder den Harder und noch für Johannes von Tepl u.  a. erwogen worden. Aber schon die späte, zumeist anonyme Sangspruchdichtung im Umfeld Frauenlobs und in seiner unmittelbaren zeitlichen Nachfolge hat sich im Stile des Meisters und in seinen Tönen so erfolgreich versucht, dass die Grenze zwischen ‚echt‘ und ‚unecht‘ schwer zu ziehen ist. Die Echtheitsuntersuchungen von Helmuth Thomas, welche die Grenzscheide bilden, heben deshalb auch weniger auf literarische Artistik hier und dilettantische Nachahmung dort als auf reimsprachliche Differenzen ab. Die Auffassung, dass alles, was in der GA ediert ist, ‚echt‘ ist und alles, was im ‚Supplement‘ zur GA steht, als ‚unecht‘ gelten muss, kann daher allenfalls eine relative Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen (ein Beispiel bei Haustein, Grenzgänger). Dass die Corpushandschriften C, J, F und k unterschiedliche zeitliche und thematische Ausschnitte aus dem Werk Frauenlobs bieten, haben, wie oben schon angedeutet, die Arbeiten von Wachinger, Corpusüberlieferung, Kornrumpf, Konturen, und Wenzel, F., Meisterschaft, gezeigt. Mit der ‚Weimarer Liederhandschrift‘ F besitzen wir eine Handschrift des 15.  Jahrhunderts, die eine späte Tradition des Frauenlobschen Werks jenseits des Meistergesangs belegt. Der oft traurige Zustand der nur in F überlieferten Strophen zeigt freilich, dass dem inhaltlichen Verständnis der Texte enge Grenzen gesetzt waren. Allerdings verdanken wir dem Sammler von F neben der Kenntnis der Minnelieder und ‚Minne und Welt‘ auch diejenige des Neuen und des Vergessenen Tons. – Das große Sammelbecken eines meistersingerischen Verständnisses Frauenlobscher Dichtungen bildet die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k. Sie tradiert freilich nur einen Bruchteil ‚echter‘ Texte (32 Strophen in sieben ‚echten‘ Tönen). Unter der Sigle ‚Frauenlob‘ überliefert sie hingegen über 1000 Strophen in 15 Tönen (Brunner, Alte Meister, S. 6), die so aparte Namen wie Froschweise, Ankelweise oder Überzarter Ton tragen. Andere Meistersingerhandschriften des 15. bis 17. Jahrhunderts weisen dem berühmtesten unter den alten Meistern weitere 15 Töne mit Hunderten von Strophen zu, um so die neuerfundenen Töne durch den berühmten Autornamen zu adeln (zu den Melodien s.  o.). Inhaltlich bieten die allermeisten Bare das für Meistersingerlieder übliche Themenrepertoire, das sich weit von dem der in C und J überlieferten Strophen entfernt hat: geistliche und gelegentlich auch moralische Ermahnung und vereinzelt historische oder eher noch biblische Exempla. Die Faszination muss für die Meistersinger

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also weniger vom Inhalt ausgegangen sein (anders als für den Sammler von F) als von der Komplexität der Töne. Bezeichnenderweise haben sie nur zwei der Töne Frauenlobs, den Kurzen Ton, wohl wegen seiner formalen Schlichtheit, sowie, aus unbekannten Gründen, den Flugton, nicht aufgegriffen. Eine besondere Strahlkraft besaß für sie offenbar Frauenlobs reimtechnisch komplexer und deshalb sogenannter Goldener Ton, den sie mit zusätzlichen An- und Abreimen noch ‚vergoldet‘ haben, was eine erhebliche Verwirrung in der Überlieferung des Tons verursacht hat (Rettelbach, Variation, S. 102–107). Ein besonderes Reimkunststück stellt ein fünfstrophiges Meisterlied dar, in dem des tones gemess, also seine formale Bauart, erläutert wird (GA-S XII,210 u. Bd. 2, S. 649–651). In einem anderen strâfliet im Goldenen Ton wird in geschickter Weise der agonale Charakter des meistersingerischen Wettsingens mit einer Referenz an den Tonerfinder verbunden: der nu in diser wîse / sô meisterlîchen mezze, / dô mite wirt im gegeben / her Frouwenlobes hulde (Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr. 32, v. 46–49). Ausg. Bartsch (Hg.), Meisterlieder; GA; GA-S; L./Bein. – Lit. Brunner, Alte Meister; Brunner, Formgeschichte; Fasbender, Sterbegebet; Haustein, Grenzgänger; Huber, C., Frauenlob; Klein, D., Poeta artifex; Köbele, Effekte; Kornrumpf, Konturen; Lauer, C./Störmer-Caysa (Hg.), Handbuch Frauenlob; Rettelbach, Variation; Rettelbach, Abgefeimte Kunst; RSM; Stackmann, Frauenlob; Stackmann, Kleinigkeiten; Thomas, H., Untersuchungen; Wachinger, Corpusüberlieferung; Wachinger, Sängerkrieg; Wenzel, F., Meisterschaft; Willms, Untersuchungen.

12 Heinrich von Mügeln

Beate Kellner

Heinrich von Mügeln gilt als d e r Vertreter der Spätzeit der Sangspruchdichtung nach Frauenlob. Seine Dichtung gehört bereits dem jüngeren Typus der Gattung Sangspruch zu, den Schanze als „meisterliche Lieddichtung“ beschrieben hat (vgl. Schanze, Liedkunst; dazu auch Rettelbach, Skizze). Kennzeichnend dafür ist in formaler Hinsicht vor allem der Verzicht auf Einstrophigkeit und die Anordnung der Strophen in Baren und Spruchketten (vgl. Stackmann, Vorstudien, S. 30; Schanze, Liedkunst I, S. 1–16; Baldzuhn, Sangspruch, S. 440). Die zeitliche Einordnung von Heinrichs Schaffen (drittes Viertel des 14. Jahrhunderts) ergibt sich annäherungsweise aus den Widmungen und Huldigungen in seinen Werken: Einen Fixpunkt bietet die an einen Hertneid von Pettau aus der Steiermark gerichtete Widmung der Valerius-Maximus-Bearbeitung, die, datiert auf 1369, folgende Selbstvorstellung des Autors enthält: ich Hainreich von Müglein, gesessen pey der Elbe in dem land zü Meissen. Die Widmungen an Herzog Rudolf IV. von Österreich (1358–1365) und König Ludwig I. von Ungarn (1342–1382) deuten ebenso wie ein Fürstenpreis auf Kaiser Karl  IV. im Langen Ton (Stmn. 18–20) und das Auftreten des Kaisers in ‚Der Meide Kranz‘ darauf hin, dass der Dichter im Umfeld der höchsten adligen Kreise tätig war (vgl. Stackmann, Mügeln;



Heinrich von Mügeln 

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Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 907). Die Benennung Karls IV. als Kaiser macht das Datum der Kaiserkrönung, den 5. April 1355, als terminus post quem für diese Texte deutlich (Stackmann, Mügeln, Sp. 817; Stolz, Fürstenpreis, S. 107  f.). Zu weiteren gesicherten Aussagen über die Biographie des Dichters und die Chronologie der Werke kann man anhand der Quellenlage nicht kommen. Weder Heinrichs Selbststilisierung als Laie noch seine Abgrenzung davon dürfen als Hinweise auf seine tatsächliche soziale Position missverstanden werden. Ob er Kleriker war, muss ebenso offenbleiben wie die Frage nach einer universitären Bildung. Der gelegentlich in der Überlieferung für ihn verwendete Begriff magister könnte einen akademischen Titel bezeichnen, mag aber auch als lateinische Version des deutschen meister-Begriffs gemeint sein (Stackmann, Mügeln, Sp. 816). Zu Mügelns umfangreichem, lateinisch und deutsch verfasstem Œuvre gehören eine deutsche und eine lateinische Ungarnchronik. Die Fragment gebliebene lateinische Version, die König Ludwig I. von Ungarn gewidmet ist, enthält neben Prosaabschnitten sowie gereimten Versen auch Strophen in Tönen der deutschen Sangspruchdichtung (vgl. im Einzelnen RSM, Bd. 4, S. 93, 1HeiMü/410). Die deutsche Bearbeitung der Exempelsammlung des Valerius Maximus zeigt bei aller Tendenz zur Mediävalisierung und der Benutzung mindestens eines mittelalterlichen Kommentars das Interesse des Autors für die Antike. Dass Mügeln der Autor der deutschen Version eines Psalmenkommentars nach Nikolaus von Lyra ist, gilt inzwischen aus chronologischen Gründen für ausgeschlossen (Gärtner, Herkunft; Bok/Gärtner, Fragmente; Löser, Psalmenkommentar). Die Reimpaardichtung ‚Der Meide Kranz‘, ein allegorisches Preisgedicht auf Karl IV., in dem ein Arteswettstreit und ein Tugendwettstreit miteinander verbunden sind, ist im größeren Kontext der volkssprachigen Rezeption der Werke des Alanus ab Insulis zu sehen (vgl. Huber, C., Aufnahme, S. 249–313). Die Reflexionen auf Schöpfer und Schöpfung, die Grenzziehungen zwischen Gott, Natur, Tugend und ars sind leitende Themen des Textes, die auch für das Spruchwerk Heinrichs maßgeblich sind. Die thematische und gedankliche Nähe zwischen ‚Der Meide Kranz‘ und den strophischen Dichtungen zeigt sich bis in die Ebene wörtlicher Anklänge hinein (Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 908; Volfing, Der meide kranz; Huber, C., Aufnahme, S. 247–313). Neben der in der Gattung Sangspruch geläufigen Moraldidaxe, Gnomik und Zeitkritik zeigen Heinrichs Spruchdichtung und ‚Der Meide Kranz‘ in einem vorher nicht gekannten Maße gelehrte Kenntnisse eines überwiegend in der Volkssprache dichtenden Autors. Einzugsbereich seiner Gelehrsamkeit ist Wissen aus den verschiedenen artes, vor allem aber aus Theologie, Naturphilosophie und Naturkunde. In den älteren, noch immer grundlegenden Arbeiten von Stackmann und Kibelka wurde bereits dargelegt, wie viel der Autor dabei einerseits volkssprachig-deutschen Traditionen (Stackmann, Vorstudien) und andererseits dem lateinischen scholastischen Schrifttum (Kibelka, Meister) verdankt. Da Heinrich auch auf bereits in der Volkssprache verbreitetes Wissen zurückgreifen konnte, lassen sich eher „Denkstile und Bauformen“ gelehrt lateinischer Traditionen als konkrete lateinische Quellen im

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Werk des poeta doctus ausmachen (Kibelka, Meister, bes. S. 11–19, 94–96). Die älteren Arbeiten wurden inzwischen durch weitere quellengeschichtliche Untersuchungen und Kommentare zur Alanusrezeption (Huber, C., Aufnahme, S. 247–313), zum Einfluss volkssprachiger Quellen (Hilgers, Kometen-Strophen; Gerhardt, Edelsteinstrophen; Gerhardt, Marienpreis; Burkard, Sangspruchdichter, S.  110–132) und lateinischer Denktraditionen ergänzt und präzisiert (Volfing, Der meide kranz; Stolz, ‚Tum‘-Studien; Horchler, Alchemie, S.  358–368). Die Einschätzung, dass Heinrich von Mügeln sein Wissen eher lateinischen Kompendien und Zusammenfassungen sowie volkssprachigen Abhandlungen verdankt als dem detaillierten Studium der lateinischen Primärquellen, hat sich inzwischen durchgesetzt (vgl. Volfing, Der meide kranz, S. 373  f. und Stolz, ‚Tum‘-Studien, S. 19  f.). Überlieferung Sprüche des Autors Mügeln sowie Sprüche, die in seinen Tönen verfasst wurden, sind sehr breit, in 26 Handschriften und neun Drucken überliefert (vgl. die Übersichten bei Stackmann, Untersuchungen, S. 15–21, und im RSM 4, S. 41). Die Handschrift Cod. philos. 21 der SUB Göttingen (datiert auf 1463; Sigle g), der Stackmann aufgrund ihrer hervorragenden Qualität in seiner kritischen Edition der strophischen Dichtungen Mügelns (Stmn.) gefolgt ist, enthält nahezu alle Strophen, die auf Heinrich von Mügeln zurückgehen (407 Str. gesamt, davon 383 Spruchstrophen). In seinem zweiten Teil bietet der Codex sechzehn nach Tönen geordnete Bücher (fol. 144r–223r), von denen die Bücher I bis XV Sprüche enthalten, während Buch XVI acht Minnelieder versammelt. An die strophische Dichtung Heinrichs schließt sich im selben Codex die Reimpaarrede ‚Der Meide Kranz‘ (fol. 223v–274v) an. Entlang der Einteilung in Bücher und der Tendenz zur Priorisierung der geistlichen vor den weltlichen Sprüchen (Stackmann, Vorstudien, S. 133–135) ist die Anordnung nach Tönen das wichtigste Ordnungsprinzip der Sammlung. Insgesamt werden für die Spruchdichtung vier Töne verwendet: Der Lange Ton, in dem die Bücher I–IV von Handschrift g abgefasst sind, ist metrisch mit Boppes Hofton identisch, melodisch nahe mit ihm verwandt und zudem der Gesangweise Römers von Zwickau sehr ähnlich. Vermutlich hat Mügeln ihn übernommen und musikalisch modifiziert. Die Bücher V bis XII stehen im Hofton, für Buch XIII wurde der Grüne Ton verwendet, für Buch XIV und XV die Traumweise, die in g trurenwise heißt. Alle Töne zeigen die Struktur der Rundkanzone (ABAB//CB). Die Melodien der Töne sind nicht in den dafür vorgesehenen Notenlinien des Göttinger Codex g aufgezeichnet. Sie sind jedoch in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k (München, BSB, Cgm 4997) und außer der Traumweise sämtlich auch in der ‚Mondsee-Wiener Liederhandschrift‘ D (Wien, ÖNB, Cod. 2856) überliefert (vgl. zur detaillierten Beschreibung der Töne und zur Melodieüberlieferung RSM, Bd. 1, S. 84  f.; Edition in Sps., S. 110–116; Brunner, Formgeschichte, S. 166–170; Rettelbach, Variation, S. 164–168). Die Göttinger Handschrift wurde in der Forschung als „Autor-Sammlung“ eingeschätzt, die  – etwa hundert Jahre nach dem dichterischen Schaffen Heinrichs



Heinrich von Mügeln 

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datiert – dennoch möglicherweise konzeptionell auf den Autor zurückgeht (Stackmann, Untersuchungen, S. 123–139; Schanze, Liedkunst I, S. 20). Die Echtheit der in der Göttinger Handschrift zu jedem Buch überlieferten Prosaüberschriften wird in der Forschung kontrovers beurteilt (vgl. zur Diskussion Stackmann, Untersuchungen, S. 128–130). Letzte Gewissheit wird man hier nicht erreichen können. Die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k überliefert ebenfalls eine große Zahl von als authentisch anzusehenden Sprüchen Mügelns (mindestens 320 Str.), daneben aber auch nicht wenige Sprüche anderer Verfasser in seinen Tönen. Recht umfangreiche Sammlungen bieten auch die ‚Wiltener Handschrift‘ w (München, Cgm 5198), die neben Sprüchen Heinrichs ebenfalls in größerer Zahl Strophen in seinen Tönen enthält, sowie die ‚Mondsee-Wiener-Liederhandschrift‘ D und die Heidelberger Handschriften c und h (Heidelberg, UB, Cpg 356 und Cpg 693). Die übrigen Handschriften enthalten nur Streuüberlieferung. Nur geringe Teile des als echt eingeschätzten Spruchwerkes finden sich nicht in Handschrift g. Dabei handelt es sich um sieben Strophen über die Freien Künste im Langen Ton, die in den Handschriften Basel, UB, Cod. O IV 28 (b), Heidelberg, UB, Cpg 693 (h), München, BSB, Cgm 4997 (k) und Cgm 5198 (w) überliefert sind, sowie eine lateinische Spruchkette über 15 artes, die im Münchner Clm 14574 (m) enthalten ist und die Künste in dreifacher Form vorstellt, nämlich in lateinischer Prosa, in lateinischen, dem Bernerton nachempfundenen Strophen mit rhythmischen Versen und in (zumeist leoninischen) Hexametern (vgl. zur Artes-Thematik: Stolz, Artes-Dichtungen; Stolz, Artes-liberales-Zyklen, S. 556–578; Stackmann, Theologia). Darüber hinaus ist noch ein Bar im Grünen Ton zu erwähnen, der unikal in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ überliefert ist (vgl. zur gesamten Frage nach der Echtheit der Strophen Stackmann, Untersuchungen, S. 21–69). Themen und Schwerpunkte des Spruchwerks Bei Mügeln ist das Prinzip der Mehrstrophigkeit, das bis in den späten Meistergesang Geltung hat, bereits voll entfaltet. Neben dem dreistrophigen und fünfstrophigen Bar existieren umfangreiche Kataloggedichte, Strophenzyklen und Strophenketten (vgl. dazu RSM, Bd. 4, S. 42–96). Die Bücher des Göttinger Codex weisen eine unterschiedlich starke thematische Kohärenz auf. Buch I, g fol. 144r–149r, zeigt mit seinen 17 Strophen eine außergewöhnliche Geschlossenheit und hat im Hinblick auf die gesamte Spruch- und Lieddichtung programmatischen Charakter. Nach den poetologischen Einlassungen (Stmn. 1 und 2) spannt der Dichter in jeweils sieben Strophen einen großen Bogen von der Kosmologie (Stmn. 3–10) zur Theologie und Heilsgeschichte (Stmn. 11–17) und führt dabei geradezu paradigmatisch vor, wie gelehrte Dichtung im Spätmittelalter aussehen soll (vgl. Mühlherr, Gelehrtheit, S. 214–219; Gade, Wissen, S.  183–315; Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S.  911–928). Im Verlauf der Argumentation werden die Spannungen zwischen dem Gedankengut, das aus der antiken Naturphilosophie kommt, und dem christlichen Schöpfungsglauben immer

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wieder deutlich. Dass sich Heinrich auch um Synthesen bemüht, zeigt sich zum Beispiel an den Versuchen, zwischen der aristotelischen Vorstellung von der Ewigkeit der Materie und dem christlichen Glauben an eine creatio ex nihilo zu vermitteln. Im heilsgeschichtlichen Teil, in dem der argumentative Duktus zugunsten von typologischen Denkfiguren und bildhafter Darstellung zurückgenommen ist, werden die Stationen der Heilsgeschichte von der Inkarnation bis zum Jüngsten Gericht entwickelt, gegen Ende wird das Thema der Eucharistie aufgegriffen. Buch II, g fol. 149v–157v, Stmn. 20–49 (Stmn. verändert die Reihenfolge der Strophen teilweise gegen die Handschrift) stellt sich demgegenüber deutlich weniger geschlossen dar: Das thematische Spek­ trum reicht vom Fürstenpreis auf Kaiser Karl IV. (Stmn. 18–20; vgl. Herkommer, Kritik, S. 80–102; Stolz, Fürstenpreis), Fürstenlehren (Stmn. 21–23, 24–26) und Lob auf fürstliche Tugenden wie milte (Stmn. 27–29) bis zu allgemeinen Tugend- und Minnelehren (Stmn. 41–43, 44–46, 47–49). Es führt aber auch zu heilsgeschichtlichen Konstellationen (Stmn. 30  f.) und theologischen Grundfragen wie jenen nach der Prädestination (Stmn. 35–37) und dem Verhältnis von Gott und Natur, zugespitzt vor allem auf das Vorkommen von Naturkatastrophen (Stmn. 32–34), sowie zu naturphilosophischen Überlegungen über den grundsätzlichen Wandel in der Natur (Stmn. 38–40). Das kurze dritte Buch, g fol. 157v–159v, beinhaltet lediglich zwei dreistrophige Spruchlieder, von denen es im ersten (Stmn. 50–52) um Träume, ihre natürlichen Ursachen und ihre diagnostische Bedeutung bei Krankheit geht (vgl. Palmer, Integration), während die Relation von Tugend und nature im zweiten (Stmn. 53–55) im Zentrum steht. Buch IV, g fol. 159v–163v, stellt mit seinen 15 Strophen (Stmn. 56–70) eine zyklische Sammlung von Fabeln der äsopischen Tradition dar, die in Einzelstrophen dargeboten werden. Das Thema der rechten Meisterschaft ist auch hier (am Beginn und Ende des Buches) präsent. Im Zentrum der meisten Fabeln steht das Verhältnis von Mächtigen und Schwachen, das unter verschiedenen sozialkritischen Aspekten beleuchtet wird (vgl. Grubmüller, Esopus; Dicke/Grubmüller [Hg.], Fabeln, u.  a. Nr. 96, 117, 127, 162, 187, 228, 294, 312, 372, 402, 558, 631  f.). Bei Buch V, g 170r–180v, handelt es sich um eine Aufzählung der Bücher des Alten Testaments in 39 Strophen, jedem biblischen Buch ist eine Strophe gewidmet (Stmn. 71–109). Das Marienpreisgedicht, ‚Der Tum‘ (‚Der Dom‘), g 170r–180v, nimmt mit seinen 72 Strophen das sechste Buch der Sammlung ein (Stmn. 110–181). Es ist ein Paradestück Mügelnscher Spruchdichtung, in dem sich die theologischen und gelehrten Interessen des Autors ganz besonders verdichten (vgl. Stolz, ‚Tum‘-Studien). Pround Epilog sind mit ihren dichtungstheoretischen Aussagen für das Selbstverständnis des Dichters zentral (Stmn. 110–118, 175–181). In den Strophen Stmn. 119–157, in denen man den ersten Hauptteil der Dichtung sehen kann, wird Marias Rolle in der Heilsgeschichte und ihre Funktion als Mittlerin vor allem in alttestamentlichen Präfigurationen wie Tier-, Edelstein- und Baumallegoresen (Gerhardt, Edelsteinstrophen; Gerhardt, Marienpreis) profiliert, wobei auch alttestamentliche Träume und Visionen wie der Traum Nebukadnezars (Dn 4,7  ff.) eine Rolle spielen. Nach einer kurzen Überleitung (Stmn. 155–157) werden im zweiten Hauptteil zentrale Stationen



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der Heilsgeschichte, vor allem Christi Erlösung und das Jüngste Gericht, ins Zentrum gestellt (Stmn. 158–166). Mit Beispielen für Gottes Barmherzigkeit klingt der zweite Hauptteil aus (Stmn. 167–171) und mündet über Preis und Gebet (Stmn. 172–174) in den Epilog (Stmn. 175–181). Wie Buch VI ist auch Buch VIII (Stmn. 182–193), g fol. 183v– 185v, mit allegorisch gleichnishaften Inszenierungen des Heilsgeschehens ganz dem Lobpreis Marias gewidmet. Der Schwerpunkt liegt hier besonders auf Inkarnation und Jungfräulichkeit. (Wegen der thematischen Übereinstimmungen lässt Stack­mann Buch VIII in seiner Ausgabe [Stmn.] gegen die Handschrift unmittelbar auf Buch VI folgen.) Buch VII (das von Stackmann in der Edition hinter Buch XI gestellt wird), g fol. 180v–183r, umfasst in 15 Strophen (Stmn. 281–295) eine Arteskette mit der Darstellung von fünfzehn Künsten, wobei in jeder Strophe der beste Meister der kunst genannt ist. Zu dieser Artesdarstellung im Hofton gibt es die ebenfalls von Mügeln verfasste lateinische Version im Clm 14574 (vgl. besonders Stolz, Artes-Dichtungen; Stolz, Artes-liberales-Zyklen, S. 556–578). Buch  IX (Stmn. 194–220), g fol. 185v–189v, wirkt locker gefügt. Es erläutert im ersten dreistrophigen Lied (Stmn. 194–196) zunächst die astronomischen Ursachen der großen Pest von 1348 (vgl. Pfeiffer, J., Macht, S. 110–118), bietet dann aber Tugendlehre und Herrenlehre (Stmn. 197–199, 200–214) ebenso wie Minnesprüche (Stmn. 215–220). Die Minnedidaxe geht hier, wie auch an anderen Stellen des Spruchwerks (z.  B. Stmn. 381–383), in eine „Minnebekundung“ (Stackmann, Minne, S. 329) über und nähert sich dem Sprechgestus der Betroffenheit des Ichs im Minnelied an. Buch X (Stmn. 221–262), g fol. 189v-195v, versammelt 14 dreistrophige Exempellieder (Stmn. ändert die Strophenreihenfolge gegen die Handschrift, wo die Strophen wie folgt geordnet sind: Str. 221–232, 251–259, 233–247, 260–262, 248–250; vgl. RSM, Bd. 4, S. 70). Die Bare von Buch X sind in aller Regel so aufgebaut, dass auf zwei Beispiele oder Beispielreihen jeweils eine moralisatio folgt (Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 930). Die Quellenbereiche für die Exempla sind antike Mythologie, Geschichte, Altes Testament und Naturkunde. Der Versuch, in der Metamorphose das verbindende Prinzip der Lieder des Buches zu sehen und ihm von daher eine „künstlerische Einheit“ zu unterstellen (Volfing, Metamorphosen), kann nicht recht überzeugen, zumal dieser Ansatz auch nicht von der Anordnung der Strophen nach der Handschrift ausgeht. Als Themen zeichnen sich Herrschaft (vgl. dazu Huber, C., Mythologie), Herrschaftswechsel und Untergang (Stmn. 221–223, 227–229, 230–232, 233–235, 242–244, 248–250), damit verbunden Herrenlehre (Stmn. 260–262) sowie auch Frauenlehre (Stmn. 254– 256, 260–262), Lehren für die Hausgemeinschaft und allgemeine Tugendlehre (Stmn. 236–238, 239–241) ab. Darüber hinaus sind auch Strophen über das fatum und die göttliche Vorbestimmung (Stmn. 224–226), die Möglichkeit, sich im Leben durch Glauben (Stmn. 245–247) zu schützen, sowie Minnesprüche (Stmn. 251–253, 257–259) integriert. Besonders in Stmn. 253 erfolgt wiederum eine Engführung der Sprechhaltung von Minnespruch und Minnelied. Auch Buch XI (Stmn. 263–280), g fol. 96rv–198v, weist nur eine lose Zusammenstellung von Liedern auf: Nach den Strophen, die sich mit dem Erscheinen von Kometen und ihrem Einfluss auf die Menschen beschäftigen

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(Stmn. 263–265; vgl. dazu Hilgers, Kometen-Strophen), wird Tugend- und Herrenlehre geboten (Stmn. 266–280). Thematisch geschlossener zeigt sich Buch XII (Stmn. 296–313), g fol. 199r–201v, in dem es neben Erläuterungen zu den Himmelssphären und Planeten, zu Sonne und Mond sowie dem Ursprung der Bewegung im Wesentlichen um die zwölf Tierkreiszeichen und ihren Einfluss auf die Menschen geht. Buch XIII (Stmn. 314–338), g fol. 201v–207r, verbindet das einleitende Lob auf den Gesang (Stmn. 314–316) mit Marienpreis (Stmn. 317–319), Ausführungen zum Priesteramt (Stmn. 320– 322, 334–338), Herren- und Tugendlehre (Stmn. 323–325, 326–328) sowie einer Temperamentenlehre (Stmn. 329–333). Buch XIV (Stmn. 339–350), g fol. 207r–211r, umfasst theologische Lieder, von denen das erste von Maria, der Trinität und der Inkarnation handelt (Stmn. 339–344), während das Kreuz im Zentrum des zweiten steht (Stmn. 345–350). Das XV. Buch (Stmn. 351–383), g fol. 211rv–218v, bietet mit seinen über 30 Strophen (Stmn. verändert die Reihenfolge wiederum gegen die Handschrift, die folgendermaßen ordnet: Str. 351–371, 375–377, 372–374, 381–383, 378–380) eine Exempelsammlung: Exempla für die Treue von Herren (Stmn. 351–353) und Dienern (Stmn. 354–356), für die Unbeständigkeit des Glücks (Stmn. 357–359), für Grausamkeit (Stmn. 360–362), für Selbstdisziplin und Widerstand gegen Habgier (Stmn. 363–365) und für Undankbarkeit (Stmn. 366–368) finden sich neben Reflexio­nen über Vorbildhaftigkeit (Stmn. 369–371), Ermahnungen zum Gehorsam (Stmn. 372–374), Warnungen vor Zorn (Stmn. 375–377) und Minnetorheit (Stmn. 381–383) sowie Ermahnungen zur Tugend (Stmn. 378–380), was wiederum mit Exempla unterlegt wird. Das XVI. Buch mit seinen Minneliedern ist hier nicht Gegenstand der Darstellung. Mit seiner wissenschaftlichen Ausrichtung zeigt das Spruchwerk die umfassende Gelehrtheit Heinrichs von Mügeln. Als Schwerpunkte zeichnen sich Kosmologie, Naturphilosophie und Astronomie, Theologie (vor allem Trinität und Schöpfung, Heilsgeschichte, Marienpreis, Erlösungsbedürftigkeit des Menschen), das Lehrsystem der artes liberales mit dem besonderen Interesse für die Rhetorik, aber auch Fabel- und Minnedichtung ab. Kennzeichnend ist hier die Nähe von Minnelied und Minnespruch (Stackmann, Minne). Als Schlüsselbegriffe von Mügelns Denken, in dem es immer wieder um Stufen und Hierarchien des Seins geht, erweisen sich Gott, nature, tugent und kunst sowie die damit benannten Reichweiten, Zuständigkeiten und Relationen. Mügeln geht es um eine argumentative Durchdringung dieser Zusammenhänge mit den Kräften der vernunst (dazu Stolz, Vernunst). Eine große Rolle spielt auch die Frage nach der Legitimität des Wissens und der Wissensgrenzen. Die Sprechhaltungen sind jene des Lobpreises, der Belehrung, Ermahnung, Warnung, des Rates, Trostes und Gebets. Dichterisches Selbstverständnis und Stil Die metapoetischen Strophen des Spruchwerks, die sich nicht nur, aber besonders am Anfang des ersten Buches der Göttinger Sammlung sowie in den Pro- und Epilogen des ‚Tum‘ im VI. Buch der Göttinger Handschrift finden, bringen das Selbstverständnis



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Heinrichs von Mügeln als Dichter programmatisch zum Ausdruck. In den beiden Eingangsstrophen, die man als eine Art Prolog zum I. Buch und möglicherweise sogar zum Gesamtvorhaben der Spruchdichtung auffassen kann, ist die Abgrenzung zwischen dem leien und dem meister zentral (vgl. Mühlherr, Gelehrtheit, S.  214–216; Gade, Wissen, S. 189–197, ferner S. 198–205; Wachinger [Hg.], Lyrik des späten Mittelalters, S. 914  f.; Kellner, Meisterschaft, S. 152–156). Wird dem leien schon in der Prosaüberschrift zum I. Buch die Fähigkeit abgesprochen, über kosmologische und theologische Fragen dichten zu können (Stmn., Bd. 1, S. 1), so disqualifiziert ihn die Eingangsstrophe vor allem im Bild des Ikarus, der gegen die ihm von der Natur gesetzten Grenzen wie ein Vogel fliegen wollte und deshalb abstürzen musste (Stmn. 1,5–8). Dem leien, dem über den Ikarusmythos Selbstüberschätzung und Maßlosigkeit zugesprochen werden, fehlt dieser Darstellung nach die Einsicht in das rechte Fundament der Wissenschaften (warer künste grunt, 1,1) und damit die Voraussetzung zur Dichtung. Das positive Gegenbild zum leien stellt der meister (1,15) dar, ein Titel, den der in der zweiten Strophe in der ersten Person sprechende Dichter für sich reklamiert. Im Unterschied zum Laien beansprucht er als warer meister (1,15) die Legitimierung und die Befähigung, über die göttlichen Geheimnisse dichten zu können (Stmn. 2). Ihn zeichnen in erster Linie seine gelehrten Kenntnisse aus (Stmn. 2,7–14), und damit sind nicht nur die Lehrinhalte der artes gemeint, sondern der souveräne Umgang mit gelehrt-lateinischen Inhalten der Scholastik sowie volkssprachigen Traditionen, mit divergierenden theologischen Positionen und naturphilosophischen Spekulationen. Der ware meister muss die Grenzen kennen zwischen dem, was mit dem Verstand erfasst und dementsprechend auch in rational-diskursiver Argumentation dargestellt werden kann, und den außerhalb der Grenzen der menschlichen Erkenntnis liegenden göttlichen Mysterien. Dementsprechend warnt der Dichter am Ende des I. Buches, noch einmal den Mythos von Ikarus anzitierend (Stmn. 17,11–14), davor, sich im Höhenflug des Verstandes zu weit vorzuwagen (schrot sinnes fitich, Stmn. 17,11), und ermuntert seine Adressaten zugleich, sich in den Grenzen seiner Lehre zu halten, um nicht zu ertrinken (du macht ertrinken in dem Rin, / flügstu zu wit uß miner lere maße, Stmn. 17,13  f.). In den dichtungstheoretischen Strophen des Prologs zur Mariendichtung ‚Tum‘, die in der Göttinger Handschrift Buch  VI einnimmt (vgl. Stolz, ‚Tum‘-Studien, S. 93–183; Kellner, Meisterschaft, S. 157–160), erläutert der Dichter komplementär dazu den Prozess seines Schaffens, indem er sich mit den Meistern, verstanden als seinen literarischen Vorgängern, auseinandersetzt. Anhand von Kleidermetaphern, die in den Poetiken des 12. und 13.  Jahrhunderts geläufig waren und von der Vorstellung vom Text als Gewebe ausgehen (vgl. Stolz, ‚Tum‘-Studien, S. 104–116, mit zahlreichen Belegen), wird das eigene Wirken als Bearbeitung bereits vorliegender Sprüche dargestellt. Dichten zielt demgemäß gerade nicht auf Originalität und Innovativität, sondern auf Erneuerung des bereits Bestehenden (Stmn. 110,1–8). Die Vorgänge der Verbesserung des Vorgängigen werden auch als Verjüngung, Reinigung und Heilung metaphorisiert (Stmn. 110,1–8; 111,1–4). Die Metaphern aus den Bereichen des Färbens, Spinnens und Schneiderns beziehen sich auf die elocutio, die damit als der

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eigentliche Kernbereich literarischer Meisterschaft erscheint. In der komplexen Verflechtung der Metaphoriken des Blühens, Färbens, Tönens und Webens führt Mügeln seine Form des Dichtens als rhetorische Meisterleistung vor. Wenn der Sprecher sich im Abgesang von Strophe 111 als ich wüster leie (v. 11) tituliert, so könnte man diese Stilisierung, die jener im I. Spruchbuch der Göttinger Handschrift genau entgegengesetzt ist, als Bescheidenheitsformel werten (so Stolz, ‚Tum‘-Studien, S. 119  f.). Dies mindert jedoch keineswegs den hohen Anspruch der gelehrten Meisterschaft, der in der folgenden Strophe Stmn. 112 im Rückgriff auf das im Mittelalter weit verbreitete und wirkmächtige Predigerwort nihil sub sole novum (Ecl 1,10) noch einmal erhoben wird (v. 1–11). Das ästhetische Programm des Wiederholens und Erneuerns der Tradition wird hier zudem in der Vorstellung von der Inkarnation als göttlicher Verjüngung gespiegelt (v. 9–12). Nicht nur in diesen programmatischen Strophen, sondern im gesamten Spruchwerk zeigt sich, dass Heinrich die von der Tradition vorgegebenen Formen, Motive und Themen (Stackmann, Vorstudien, S. 27–67) aufgreift, doch nicht nur wiederholt, sondern gerade in der Durchdringung mit gelehrtem Wissen auch verändert und verfremdet. Das Ideal der wîsheit des meisters beruht zugleich auch auf der Kunst des bezeichenlîchen sprechens, wie sie zum Beispiel in der Logikstrophe der artes-Reihe im Langen Ton (Stmn., ‚Artes Liberales‘ 2,5–10) zum Ausdruck kommt. Dahinter steht ein Sprachdenken, das im Horizont mittelalterlicher Sprachtheorie und spekulativer Grammatik der Relation von Wort und Ding nachzuspüren versucht (Stackmann, Vorstudien, S. 169–171; Kibelka, Meister, S. 308–314; Stolz, ‚Tum‘-Studien, S. 401–437). Über die Hommage an Konrad von Würzburg, zu dem sich Heinrich, die Metaphorik von Zwerg und Riese aufgreifend, im Gestus der Bescheidenheit als getichtes twerg (Stmn. 118,5) zum getichtes risen (Stmn. 118,12) ins Verhältnis setzt, bestimmt er ebenso seinen Platz in der spätmittelalterlichen Literatur und Sangspruchdichtung wie in der polemischen Abgrenzung von Regenbogen (Stmn. 3). Von besonderem Interesse ist, dass er Frauenlob kein einziges Mal nennt, obwohl klar ersichtlich ist, wieviel er ihm verdankt (Köbele, Frauenlobs Lieder, S. 42, 47–162). Stilistisch zeichnet sich seine strophische Dichtung durch eine starke Rhetorisierung aus, die sich deutlich an Ausdrucksformen der lateinischen Dichtung orientiert. In den Strophen der artes-Reihen über die Rhetorik (vgl. Stmn. 283) erscheint Cicero als Leitfigur dieser kunst. Das Stilideal ist das Färben mit den sechzig colores rhetorici (Wort- und Sinnfiguren), die auf die im Mittelalter Cicero zugeschriebene ‚Rhetorica ad Herennium‘ zurückgehen (vgl. Stackmann, Theorie; Stolz, Artes-Dichtungen, S. 188  f.). Diesem Ideal verpflichtet, schmückt und koloriert Heinrich seine Sprüche mit einer besonderen Fülle von rhetorischen Figuren. Kennzeichnend für seine Sprachartistik im ‚geblümten Stil‘, die in der ‚laudativen Rede‘ besonders ausgeprägt ist (Hübner, Lobblumen, S. 33–38), aber nicht nur hier beobachtet werden kann, sind vor allem metaphorische Genitivumschreibungen, bei denen zumeist ein abstrakter Begriff im Genitiv auf einen konkreten im Nominativ bezogen wird, ornamentale Techniken, Katachresen und freie Syntax (zahlreiche Beispiele bei Stackmann, Vor-



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studien; Stolz, ‚Tum‘-Studien). Der rhetorische Begriff der transsumptio (‚Der Meide Kranz‘, v. 301) wurde in der Forschung als Dachbegriff für die genannten Phänomene der Übertragung und Umstellung im semantischen und syntaktischen Bereich vorgeschlagen (Köbele, Frauenlobs Lieder, S. 158–161). Die starke Rhetorisierung und insbesondere Metaphorisierung der dichterischen Rede führt ebenso zu semantischen Verdichtungen, Überschüssen und Mehrdeutigkeiten wie die Polyvalenzen in der Syntax der Sprüche. Im Unterschied zur älteren Forschung wird man in Heinrich von Mügeln heute nicht mehr nur den „Nachahmer von Nachahmern“ (Stackmann, Vorstudien, S. 143) sehen, sondern ihm ein eigenes und eigenständiges Profil als Dichter zuerkennen. Die Legitimierung der Dichtung aus dem gelehrten Wissen und das hohe Maß an Rhetorisierung bis hin zu Hermetik und Verrätselung kennzeichnen dieses in besonderem Maße. Nachleben Heinrichs von Mügeln Sonderstellung in der Geschichte der Sangspruchdichtung wird auch in der breiten Rezeption deutlich, die jener eines alten Meisters entspricht. Die Meistersingerhandschriften überliefern in den Tönen Mügelns überwiegend alte Sprüche, für die Mügeln als Verfasser gilt. Im Unterschied zu anderen Meistern ist seine Spruchdichtung also eher rezipiert als weitergedichtet worden (siehe zu Sprüchen in Tönen Mügelns RSM, Bd. 4, S. 95–111). Dabei blieben auch seine Tonschemata im Wesentlichen erhalten. In der Spätzeit wird Heinrich von Mügeln mit dem Dichter Mülich vermischt, dessen Wirken wohl in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts fiel und der in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k den Zusatz Mülich von Prage erhält. Während Mülich und Heinrich Mügling in k noch separat gehalten werden, wird Mügelns Hofton, der in der späten Rezeption als Kurzer Ton bezeichnet wird, in den späten Handschriften h (Heidelberg, UB, Cpg 392) und q (Berlin, SBB-PK, Mgq 414) Mülich untergeschoben. Im Namen des doctor heinrich mügling von prag fallen beide Autoren in der Spätzeit zusammen und werden in dieser Form unter den Zwölf alten Meistern geführt (Rettelbach, Variation, S.  292; vgl. zum größeren Kontext auch Brunner, Alte Meister). Ausg. Konrad von Megenberg, Sel; Sps.; Stmn.; Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters. – Lit. Baldzuhn, Sangspruch; Bok/Gärtner, Fragmente; Brunner, Alte Meister; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Spruchtöne Mügelns; Burkard, Sangspruchdichter; Dicke/Grubmüller (Hg.), Fabeln; Gade, Wissen; Gärtner, Herkunft; Gerhardt, Edelsteinstrophen; Gerhardt, Marienpreis; Grubmüller, Esopus; Herkommer, Kritik; Hilgers, Kometen-Strophen; Horchler, Alchemie; Huber, C., Aufnahme; Huber, C., Mythologie; Hübner, Lobblumen; Kellner, Meisterschaft; Köbele, Frauenlobs Lieder; Kibelka, Meister; Löser, Psalmenkommentar; Mühlherr, Gelehrtheit; Palmer, Integration; Pfeiffer, J., Macht; Rettelbach, Skizze; Rettelbach, Variation; RSM; Schanze, Liedkunst; Stackmann, Minne; Stackmann, Mügeln; Stackmann, Theologia; Stackmann, Theorie; Stackmann, Untersuchungen; Stackmann, Vorstudien; Stolz, Artes-Dichtungen; Stolz, Artes-liberales-Zyklen; Stolz, Fürstenpreis; Stolz, ‚Tum‘-Studien; Stolz, Vernunst; Volfing, Der meide kranz; Volfing, Metamorphosen.

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Karina Kellermann

Muskatblut ist neben seinem jüngeren Dichterkollegen Michel Beheim (s. → Kapitel VII.14) der wichtigste Liedautor der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der die Sangspruchtradition des 13. und 14. Jahrhunderts fortführt und produktiv weiterentwickelt. In vier eigenen Tönen verfasste er an die 100 Lieder, die er mit seinem Namen signierte. Diese in die letzte Strophe gesetzte Autorsignatur ist eine seit Suchensinn aufgekommene Neuerung, die „offenbar nicht nur die Funktion hatte, das Urhebereigentum zu reklamieren, sondern auch den Schluß des Liedes zu markieren“ (Brunner, Formgeschichte, S. 165). Vierzehn urkundliche Zeugnisse weisen einen „Muskatblut“ für die Jahre 1424 bis 1444 explizit oder implizit als Sprecher oder Fahrenden aus, zeitweise in Diensten der Erzbischöfe von Mainz, Konrad III. von Daun (1419–1434) und Dietrich von Erbach (1434–1459), sowie des Reichserbkämmerers Konrad von Weinsberg (um 1370–1448). Zudem verzeichnen drei archivalische Quellen der Jahre 1453, 1457 und 1458 in Mainz Lohnzahlungen an einen „Conrad Muskatblut“ (Kiepe-Willms, Spruchdichtungen, S. 14–17). Zum dort erwähnten Vornamen passt die Namensinitiale „C“, mit der der Dichter sich in drei Liebesliedern bezeichnet (Grte. 38, 46, 51). Ob sich alle urkundlichen Belege auf dieselbe Person beziehen, lässt sich aus den Quellen nicht zweifelsfrei erweisen, und die Befunde werden in der Forschung kontrovers diskutiert (Junge, Studien, S. 15; Kiepe-Willms, Spruchdichtungen, S. 17; Petzsch, Muskatblüt, S. 309–311; Petzsch, Lebenserwartung, S. 433–436; Schanze, Liedkunst I, S. 147–152; Brunner, Muskatblut; Schanze, Muskatblüt). Wenn sich alle Zeugnisse, die in Name, Beruf und Wirkungskreis weitgehend kongruie­ren, auf den Spruchdichter beziehen, hat dieser von mindestens 1415 – frühestes datierbares Lied – bis mindestens 1438 – jüngstes datierbares Lied – gedichtet, danach aber noch zwanzig Jahre gelebt, ohne dass wir aus dieser Zeit datierbare poetische Zeugnisse hätten. Diesen Umstand könnte man mit dem Verstummen des Dichters im Alter von 60/65 Jahren erklären oder aber mit der spezifischen Überlieferungssituation, die geprägt wird durch die autornahe, bereits 1434 abgeschlossene Sammlung Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7020 (W*) 8. Auch wenn sich bei der Zuschreibung der urkundlichen Bezeugungen an die Person des Dichters keine letzte Gewissheit erzielen lässt, ist gleichwohl festzuhalten: Muskatblut stand den Sangspruchdichtern aufgrund seiner soziologischen Verortung als Berufsdichter in Diensten adliger Herrn nahe und übernahm auch deren thematische Vielfalt: Er dichtete Geistliches, besonders Marienlieder, und Weltliches, darunter einige Liebeslieder, vornehmlich aber Moraldidaxe, manches mit politischaktueller Thematik.

Muskatblut 

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Die Autorhandschrift Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7020 (W*) 8 Die Überlieferung ist markant, weil sie zum ganz überwiegenden Teil auf einer abgeschlossenen Autorsammlung beruht, die offenbar selbst oder in ihrer Vorstufe auf den vermutlich ostfränkischen (Puls, Untersuchungen, S.  50; Junge, Studien, S. 132  f.; Brunner, Muskatblut) Autor zurückgeht. Die heute im Kölner Stadtarchiv aufbewahrte Handschrift Köln, Hist. Archiv, Best. 7020 (W*) 8 (früher: Cod. W. 4° 8*; Sigle a; ein Mikrofilm-Digitalisat der Handschrift ist über die Suchfunktion auf der Website http://historischesarchivkoeln.de abzurufen) wurde bereits zu Lebzeiten des Autors von Hermann von Ludesdorf, Himmeroder Zisterzienser und Kaplan der Grafen von Manderscheid, geschrieben und laut Handschrifteneintrag am 26. 1. 1434 fertiggestellt; sie enthält noch 95 von ursprünglich 97 Liedern Muskatbluts, die ersten zwei Doppelblätter sind verloren (Kiepe-Willms, Spruchdichtungen, S. 31–52; Schanze, Liedkunst I, S. 145  f., 152–156, II, S. 14–20; Kiepe-Willms, Muskatblut; Kiepe-Willms [Hg.], Muskatblut. Abbildungen; RSM, Bd.  4, S.  378–436). Es handelt sich um eine reine Œuvre-Handschrift, und sie birgt noch eine weitere Besonderheit: Alle hier versammelten Lieder, und das sind fast alle heute bekannten, weisen eine Autorsignatur auf. Die Anlage ist planvoll: Sie ordnet die vier von Muskatblut verwendeten Töne nacheinander; dem Hofton (RSM 1Musk/1) folgen Langer Ton (RSM 1Musk/2), Fröhlicher Ton (RSM 1Musk/3) und ein sog. Unbenannter Ton (RSM 1Musk/4). Eine inhaltliche Binnengliederung innerhalb der Töne konnte der Herausgeber Eberhard von Groote nicht erkennen und weicht in seiner Edition 1852 von der handschriftlichen Reihung ab. Er bietet seine eigene, durch keine Überlieferung gestützte Ordnung: „I. Marienlieder, II. Minnelieder, III. Lieder verschiedenen Inhalts“. Spätere Forschung hat sehr wohl Ordnungsprinzipien ausmachen können, vornehmlich im umfänglichsten Ton, dem Hofton, und dabei „das ungewöhnliche Gliederungsprinzip weltlich-geistlich, das das übliche Aufbauschema thematisch geordneter Liedersammlungen umkehrt“ (Schanze, Liedkunst I, S. 155), entdeckt. Dieser Befund und die Anlage der Handschrift zu Lebzeiten des Autors lassen vermuten, dass sie auf Muskatblut selbst zurückgeht. Da die autornahe Anordnung leicht über das RSM (Bd. 4, S. 378–436, mit Literaturhinweisen zu jedem einzelnen Lied) zu verfolgen ist, erfolgt die Darstellung des Œuvres hier entsprechend der Muskatblut-Handschrift a, was schon deshalb geboten ist, weil für 57 Lieder die Handschrift Köln Best. 7020 (W*) 8 die alleinige Quelle ist. Dies trägt auch einem weiteren überlieferungsgeschichtlichen Befund Rechnung: Das „ungewöhnlich hohe Maß an Textidentität“ (Kiepe-Willms, Spruchdichtungen, S. 257) ist kennzeichnend für die Muskatblutüberlieferung. Textveränderungen aller Art wie Fassungen oder Redaktionen gibt es kaum. Der Hofton ist der umfangreichste Ton; er enthält als Grundstock 45 Lieder (RSM 1 Musk/1/1–45), die sich thematisch folgendermaßen ordnen: 1. Moral, 2. Ehe und Liebe, 3. Politik, 4. Geistliches. Die nachgetragenen 20 Lieder (RSM 1Musk/1/46–65) durchbrechen zwar die thematische Gliederung, bringen aber keine neuen Themen. Die Forschung hat vermutet, dass „einer wohlgeordneten Sammlung, die abgeschlossen vorlag, Nachträge hinzugefügt wurden“ (Schanze, Liedkunst I, S. 154). Der Lange

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Ton enthält 20 Lieder (RSM 1Musk/2/1–20); zwölf sind als moralisierende anzusprechen, fünf greifen die geistliche Thematik auf, eines warnt vor Trunkenheit, eines ist ein Frauenpreis und eines thematisiert Politisches. Eine Binnenordnung ist in diesem Ton kaum zu erkennen (Schanze, Liedkunst I, S. 154 sieht „Ansätze“ zur Ordnungsstiftung). Der nur aus neun Liedern bestehende Fröhliche Ton (RSM 1Musk/3/1–9) erscheint auch bei näherer Betrachtung ungeordnet (anders Schanze, Liedkunst I, S. 154, der eine „doppelte Reihe“ erkennt). Er bietet neben geistlichen Liedern und Liebesliedern zwei Frühlingslieder und ein Lied über die septem artes liberales. Der Unbenannte Ton scheint erst als Nachtrag oder nach dem Abschluss der Sammlung in die Handschrift gekommen zu sein, was auch durch das Fehlen eines Tonnamens indiziert wird. Er enthält in Handschrift a ein einziges Lied, ein Liebeslied (RSM 1 Musk/4/1). Die Themenkreise Zwei Drittel von Muskatbluts Œuvre sind aus weltlichen Liedern gebildet; unter ihnen sind die m o r a l d i d a k t i s c h e n in der Überzahl (Schanze, Liedkunst I, S. 171–174). Hier finden sich allgemeine Ermahnungen, gepaart mit Reflexionen über Tugenden und Laster. Ganz oben steht die Warnung vor avaritia. Diese Todsünde der Reichen wird in den Liedern scharf als wucher (Grte. 54, 55, 60, 63, 69, 73, 74, 76, 95) gegeißelt und die Schelte zuweilen mit religiöser Inbrunst in ein Memento mori überführt (Grte. 57, 58, 82, 84, 85, 86, 89, 94). Weitere Lasterschelten betreffen Lüge und Verleumdung (Grte. 56, 79), Ungerechtigkeit vor Gericht (Grte. 83) und die schlimmste der Todsünden, superbia (Grte. 88). Grte. 90 sagt superbia, avaritia und Unrecht den Kampf an. Demgegenüber scheint die Warnung vor Trunkenheit, auch wenn sie als Einfallstor für andere Laster wie ira und adulterium angeprangert wird, eher harmlos (Grte. 91). Eine katalogartige Auflistung bieten Grte. 59, 86 und 87; während Grte. 59 den Dekalog rezitiert, warnt 86 vor zwölf und 87 vor sieben Sünden. In fürstenspiegelartigen Mahnungen, Klagen oder Schelten breitet Muskatblut auf generalisierende Weise die adligen Verhaltenslehren aus, adressiert dann aber eine singuläre Person oder apostrophiert mehrere Adlige, jedoch ohne Namensnennung (Grte. 55, 61, 64, 65, 66, 67, 68, 75, 76, 80, 93). Eine Ständeschelte, die jeden Stand einzeln aufruft, wächst sich zu einem gesellschaftskritischen Rundumschlag aus (Grte. 73). Fürsten und Herren, zuweilen speziell die Kurfürsten, sind die Adressaten von Muskatbluts Didaxe. Diese gesellschaftlichen Gruppen werden in die Pflicht genommen, auf ihnen ruht aber auch des Dichters Hoffnung. Städte und ihre Bürger dagegen, die im 14. Jahrhundert in den großen Auseinandersetzungen in Gegnerschaft zum Adel treten, erhalten bei Muskatblut weder Profil noch Stimme. E h e u n d L i e b e : Die Gruppe der Liebeslieder ist klein und steht wie das Meiste bei Muskatblut unter mehr oder weniger didaktischem Anspruch (Schimmelpfennig, Muskatblut, S. 53–56; Schanze, Liedkunst I, S. 175; Goheen, Liebeslyrik, s. Register). Stark ausgeprägt ist dieser in der Ehelehre (Grte. 77), didaktisch grundiert sind aber

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auch die Minnekasus, in denen der Dichter als Dialogpartner von klagenden Frauen um Rat angegangen wird und die den Familienständen Jungfrau (Grte. 33, 34, 78), Ehefrau (Grte. 35, 36, 44) und Witwe (Grte. 41) gelten. Preisstrophen sind bereits in diese Lieder inseriert; selbständige Frauenpreislieder kreiert Muskatblut in großer Varianz: mit Naturvergleichen (Grte. 43, 45, 47, 52), mit Apostrophen (Grte. 42), mit einer Traumsequenz (Grte. 49), mit Appellation an Männer und Frauen (Grte. 53). Einige Werbelieder umspielen die Themen Frauenschönheit, Trennung, Dienst, Wille und Begehren sowie Sehnsucht (Grte. 37, 38, 39, 40, 46, 51). Ohne explizite Minne-, aber mit Tanzthematik sind zwei F r ü h l i n g s l i e d e r im Fröhlichen Ton (Grte. 48; Goheen, Liebeslyrik, S. 82  f.; Grte. 50) gedichtet. Die Ku n s t , für manche Fahrende im Zentrum ihres Schaffens, ist bei Muskatblut mit zwei Liedern auffällig unterrepräsentiert (Schanze, Liedkunst I, S. 170  f.); eines widmet sich den Künsten überhaupt (Grte. 96; Veltman, Gedichte, S.  14–16), das andere der Sangeskunst (Grte. 54; Rosenthal, Untersuchungen, S. 106–109). P o l i t i k : Politische Fragen tangierten bereits einige der moraldidaktischen Lieder, und in der Umkehrung gilt: Jede politisch aktualisierte Zeitkritik verpackt Muskatblut immer auch moraldidaktisch. Einige wenige Lieder lassen sich aber isolieren, die im Kern politisch sind (Veltman, Gedichte, S. 32–74; Gudde, Muskatblüt; Müller, U., Untersuchungen, S. 208–219; Schanze, Liedkunst I, S. 174; Kellermann, Abschied, S. 90, 97  f., 241–243; Kellermann, Zeitkritik, S. 444–449). Über die Auswirkungen des Konstanzer Konzils, in Sonderheit die Hussiten, derer man aufgrund von Uneinigkeit auf Seiten des Reiches nicht Herr werde, dichtet Muskatblut historisch-politische Ereignislieder, die er mit Jahreszahlen versieht (Grte. 70, 72, 92; ­Robertshaw, Reimpublizistik; Beutin, Jan Hus, S. 65–69, Übersetzung von Grte. 92, S. 74  f.; Siller, Toleranz; Buschinger, Zwei-Schwerter-Lehre, S. 355–357; Herweg, Konzil), und politisch-didaktische Lieder (Grte. 71; Schnell, R., Vorstellungen, S. 133–141; Grte. 81). Von Missständen in der Gesellschaft mit einigen signifikanten Hinweisen auf die Zeitpolitik (Hussiten, Kaiser Sigmund) handeln das Lügenlied und sein Widerruf (Grte. 62, 63). Die einzige Königsmahnung (Grte. 100) steht nicht in Handschrift a, sondern in Karlsruhe, Bad. LB, Cod. St. Georgen 74; sie muss kurz nach der Wahl des Habsburgers Albrecht am 18. 3. 1438 zum deutschen König gedichtet sein und geht nach wenigen panegyrischen Versen in eine Mahnung über. Alle politischen Lieder sind appellativ und anlassbezogen und insofern intentional publizistisch. Muskatbluts g e i s t l i c h e L i e d e r sind ganz überwiegend Loblieder auf Maria (Grte. 1–32; Schimmelpfennig, Muskatblut, S. 3–27; Schanze, Liedkunst I, S. 176  f.). Viele von ihnen finden ihre Anbindung an zentrale Ereignisse des Kirchenjahrs. Wenn Weihnachten (Grte. 6, 7, 13, 14, 15, 22, 24, 26, 27), Mariae Himmelfahrt (Grte. 25), die Heiligen Drei Könige (Grte. 23), Passion (Grte. 4) evoziert werden, ist von einem zumindest primär situationsbezogenen Gebrauch der Lieder an spezifischen kirchlichen Festtagen auszugehen. Stilistisch bewegt Muskatblut sich zwischen gebetsartigen, preisend reflexiven oder eher narrativen Strophen und bildmächtiger Allegorie und Allegorese, ein von ihm bevorzugtes Verfahren. Die wenigen geistlichen Lieder,

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die keine Marienlieder sind, handeln von Erlösung, allegorisch gefasst mit Christus als Ackermann (Grte. 28), von der Barmherzigkeit, allegorisiert als Mühle (Grte. 29), von Christi Erlösungstat, allegorisiert als Blumenwiese im Mai (Grte. 3), von Schöpfung, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies (Grte. 30), sie haben eine paränetische Funktion, zuweilen mit Gebetscharakter (Grte. 31, 32), oder sie verbinden Natureingang, Altersklage und Marienanrufung miteinander (Grte. 18). Die weitere Überlieferung Neben der Kölner Autorhandschrift, die fast das gesamte Œuvre Muskatbluts versammelt, sind fünf weitere Typen von Überlieferungsträgern zu unterscheiden: 1. „die – gelegentlich mit Noten versehene – Textsammlung zu Tönen der Spruchdichter des 13., 14. und frühen 15. Jh.s“, darunter die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k mit 21 Muskatblutliedern, 2. „das Liederbuch“, u.  a. das ‚Liederbuch der Clara Hätzlerin‘, das neun Lieder Muskatbluts in drei Tönen verzeichnet, 3. „die Mischhandschrift mit wechselnder Thematik“, 4. „die Mischhandschrift mit einheitlicher Thematik“, 5. „die Handschrift mit nicht-integriertem Überlieferungsbestandteil“ (Kiepe-Willms, Spruchdichtungen, S.  28). Die Muskatblut-Überlieferung ist ausgesprochen breit gestreut, setzt bereits um 1430 ein und reißt bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht ab. Berücksichtigt man alle Lieder mit der Autorsignatur ohne Ansehen ihrer Echtheit, erstreckt sich die Überlieferung auf insgesamt 37 Handschriften und sieben Drucke (Schanze, Liedkunst II, S. 14–20; RSM, Bd. 4, S. 378). Charakteristisch für die Überlieferung dieses Dichters ist, dass viele Handschriften die Lieder, echte und unechte, in ganzen Clustern überliefern. Vier geistliche Lieder und ein weltliches Lied sind als „Überlieferungsschlager“ (Schanze, Liedkunst I, S. 179) anzusprechen, sie sind in sechs bis zehn Handschriften überliefert. Für die Streuüberlieferung ist signifikant, dass sie in der Regel Lieder aufweist, die noch in zwei bis drei und mehr Handschriften bezeugt sind. Unikale Überlieferung außerhalb der Autorhandschrift a ist nur für Grte. 100 und drei Lieder der Hätzlerin-Handschrift (Grte. 26, 27, 53) festzuhalten. Die frühen Meisterliederhandschriften Basel, UB, Cod. O IV 28 (um 1430) und München, BSB, Cgm 4997 (um 1460, ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k), enthalten nur echte Lieder Muskatbluts, was in diesem Fall ein bemerkenswertes Interesse an authentischem Liedgut dokumentiert. Die Diskussion um die Echtheit der Lieder hat die Muskatblut-Forschung nicht wenig beschäftigt. Von den 109 signierten Liedern der gesamten Überlieferung hält Junge (Studien, S. 21, 30  f.) 104, Kiepe-Willms (Spruchdichtungen, S. 232–256) 93 für echt. Schanze kommt „unter überlieferungsgeschichtlich-typologischen Gesichtspunkten“ (Liedkunst I, S. 156–168, das Zitat S. 157) zum Schluss, dass 99 Lieder – alle 95 Lieder der Autorsammlung Handschrift a sowie die neun Lieder der MuskatblutGruppe im ‚Liederbuch der Clara Hätzlerin‘ und das nur in der Karlsruher Handschrift überlieferte Lied Grte. 100 – für echt anzusehen seien. Die mutmaßliche Authentizität aller in Handschrift a verzeichneten Lieder scheint schon deshalb valide, weil diese

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Handschrift entweder vom Dichter selbst oder unter seiner Mitwirkung entstanden sein dürfte (s.  o.). Dieses Argument wiegt schwerer als die Autor­signatur, die allein kein Garant für Echtheit ist, denn es gibt fiktive Autorsignaturen in späten Liedern. Drei gnomische Sprüche mit der Muskatblut-Signatur und ein vierter unter Muskatbluts Namen sind seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in handschrift­ liche Spruchsammlungen inseriert bzw. einem gedruckten Traktat beigegeben. Zwei von ihnen sind Gedichte der 93 Texte umfassenden Epigrammsammlung Sebastian Brants. Ob diese Sprüche echt sind, ist umstritten, jedenfalls sind sie die einzigen Sprechsprüche unter Muskatbluts Namen, und die Autorsignatur entspricht nicht exakt der in Handschrift a verwendeten (Knape, Muskatblut-Sprüche). Die Töne Muskatblut ist ein ‚Neutöner‘, er dichtet in seinen eigenen vier neuen Tönen, die in der Überlieferung teilweise mit unterschiedlichen Namen bezeichnet werden: Hofton, auch Alter Ton genannt, Langer Ton, auch Goldener Ton genannt, Fröhlicher Ton, auch Neuer Ton genannt, und ein sog. Unbenannter Ton. Zum Hofton und zum Fröhlichen Ton, die später von den Meistersingern übernommen wurden, sind auch Melodien, und zwar mehrfach, überliefert (Brunner, Alte Meister, Register; Kiepe-Willms, Spruchdichtungen, S. 22–26; Petzsch, Muskatblüt, S. 312  f.; Schanze, Liedkunst I, S. 168–170; Kiepe-Willms [Hg.], Muskatblut, S. 25–29 u. S. I–XXI; Rettelbach, Varia­ tion, S. 296  f. u. Register; Brunner, Formgeschichte, S. 190–195; Edition der Melodien: Sps., S.  282–286). Nur seinen wichtigsten Ton, den Hofton, hat Muskatblut „weitgehend selbständig“ (Brunner, Formgeschichte, S. 193) geschaffen, während die anderen drei deutlich ihre Vorbilder Suchensinn und den Mönch von Salzburg zu erkennen geben. Mit seinen drei- bis 29strophigen, nahezu immer ungeradzahligen Strophenliedern steht Muskatblut in der Tradition der späten mehrstrophigen Spruchdichtung, die mit ihrer Barbildung den Meistergesang vorbereitet (ebd., S. 165). Die poetische Faktur der Lieder Die literarische Formung seiner weltlichen Lieder stellt Muskatblut fast ausschließlich in den Dienst der Lehre. Strukturell setzt er entweder auf den Bericht oder den dialogischen Szenenaufbau. Er arbeitet appellativ, indem er große Gruppen, die Christen, die ständische Gemeinschaft der Adligen, die Fürsten, seltener andere Standesvertreter adressiert. Eine Sondergruppe unter den adelsadressierenden Liedern sind die Fürstenspiegel (Grte. 61, 64, 65, 66, 67, 68, 95). In den politisch aktuellen Liedern apostrophiert er gezielt einzelne Personen oder Personengruppen (Grte. 71, 72, 81, 92, 100). Häufig kleidet er die Appelle in Imperative, bevorzugt vernemt, hort, merket, gedenket u.  a., manchmal gedoppelt hör und vernym (Grte. 19, 35, 36, 66), meist zielgerichtet aufs Publikum: daz mirke du man und ouch du wif (Grte. 57), manchmal aber auch als Selbstanrede: hör Muscaplut, myrk eben (Grte. 38, ähnlich 15 und 89).

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Naturmotivik durchzieht Muskatbluts Dichtung insgesamt, er setzt sie bei weltlichen Themen wie auch in der Marienlyrik ein. Für die Rahmung nutzt er gern den Natureingang, der Schluss ist nicht selten durch gebetsartige Formeln gekennzeichnet, ein Verfahren, das er nicht nur in der geistlichen Lyrik einsetzt, sondern auch in den moraldidaktischen und den politischen Liedern. Für die Binnenstruktur sind Reihen, manchmal Kataloge signifikant. Er verwendet Lasterreihen wie Habgier, Ungerechtigkeit, Bestechlichkeit, Lüge und Verleumdung (Grte. 83, 86) oder Sündenkataloge (Grte. 87) und lässt durch dieses additive Verfahren die Missstände sich auftürmen. In der Morallehre wie in den politisch-didaktischen Spruchliedern arbeitet Muskatblut gern mit Kontrasten, zuweilen antithetisch. Der Topos der laudatio temporis acti tut als Folie der verkommenen Gegenwart gute Dienste in seinen Zeitklagen (Grte. 60, 61, 63, 73, 74, 75, 83, 90, 94). Aber Antithesen lassen sich auch anders bilden: Tugend vs. Laster, Sünde vs. Strafe, gut vs. böse. Die Antithese wird auf die Spitze getrieben in der Lügendichtung, welche die realen Verhältnisse invertiert, worauf ein Widerruf folgt (Grte. 62, 63; Müller, U., Untersuchungen, S. 211–213; Petzsch, Sprechen, S. 279–288; Kellermann, Lügendichtung). Die kleine Zahl der politischen Lieder weist noch einige zusätzliche Merkmale auf: Jahreszahlen sichern die historische Faktizität der berichteten Ereignisse (Grte. 70, 72, 81, 92; Müller, U., Untersuchungen, S. 209–211 u. S. 215–218). Leicht zu durchschauende Personenrätsel baut Muskatblut in seine Mahnungen ein, wenn er die historischen Personen König Albrecht II. (Grte. 100) oder Hus, Hieronymus (von Prag), den Papst und Herzog Friedrich IV. von Österreich (Grte. 70; Müller, U., Untersuchungen, S. 209–211) allein mit den Initialen ihrer Namen bzw. Funktionen nennt. Dieses Spiel mit Initialen findet sich auch in seinen Liebesliedern (Grte. 38, 46, 51). Die Mariendichtung muss gesondert betrachtet werden: „Alle Aussagen über Maria, die je in Kirchenlehre, Hymnus und Legende vorkommen, finden sich bei ihm wieder“ (Schimmelpfennig, Muskatblut, S.  19–27, das Zitat S.  19), zuvorderst das Wunder der Jungfrauengeburt (Grte. 6, 9, 14, 26) und der Engelsgruß „Ave“, der die Eva-Schuld wendet (Grte. 14, 15, 16, 26, 27). Der Dichter schreitet mit Maria die Stationen der Heilsgeschichte ab, auf Christi Geburt folgt die Mater dolorosa (Grte. 4, 8, 28) und das Ende ihres Lebens mit der Himmelfahrt (Grte. 25). Das in den Apokryphen detailreich geschilderte Leben Mariens spielt ansonsten bei ihm keine Rolle, wohl aber ihre wichtige Funktion für den Sünder: Maria ist die Mutter der Gnade und somit Mittlerin und Fürsprecherin (Grte. 5, 6, 7, 17, 19, 22, 25, 26). Maria wird mit den bekannten Metaphern, Vergleichen und Bildern belegt (Licht: Grte. 17, Weisheit: Grte. 7, 22). Die Bilder des Alten Testaments, die als Präfigurationen Mariens bekannt sind, werden evoziert, zudem die erotischen Bilder einer Brautwerbung in amöner Landschaft mit Klee und Rosen sowie körperlichem Begehren des Bräutigams ausgemalt (Grte. 7, 12, 15, 22, 24). Im hymnischen Marienlob finden sich auch die gängigen Hyperbeln (Grte. 1, 5, 19, 20, 21, 22, 25, 26, 27). Bilinguales, das Versetzen des deutschsprachigen Textes mit lateinischen Formeln, setzt Muskatblut äußerst selten

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ein (Grte. 13; einzelne Phrasen in Grte. 22, 24, 25; außerhalb der Mariendichtung im Lob der artes liberales: Grte. 96). Die Allegorisierung Mariens als Braut, Tochter und Mutter Gottes sowie als Himmelskönigin ist prädominant in seiner Marienlyrik (Grte. 1, 2, 5, 6, 7, 11, 14, 16, 19, 20, 21, 22, 23, 24). Aber der Einsatz von Allegorien beschränkt sich bei Muskatblut keineswegs auf die Gattung Marienlyrik. Allegorien durchziehen auch andere geistliche Lieder (Grte. 3, 19, 28, 29, 87) und schmücken zudem einige der politisch-didaktischen Lieder. Der Dichter begegnet Frau Êre, Frau Staete und Frau Milte (Grte. 68, 95), zuweilen auch einer unbestimmten Schönen (Grte. 69, 80, 90), und in drei politischen Liedern setzt er die personifizierte Frau Reich als Allegorie ein (Grte. 71, 81, 100). Einige dieser weiblichen Allegorien begegnen dem Dichter auf einem Spazierritt, ein Topos, der vor allem aus der Minneallegorie bekannt ist. Grundsätzlich lässt sich über Muskatbluts Stil sagen, dass er Bilder in vergleichender Funktion, Metaphern und  – gewollt oder ungewollt  – Katachresen häufig nutzt; die meisten liegen im Bereich des Bekannten, Originelles ist rar. Die bildspendenden Bereiche sind die Stände, besonders der Adel, ohne dass sich spezifisch Ritterliches fände, das Gesellschaftsspiel, das Licht, der Weg und die Reise, die Krankheit, der Ackerbau, Handel und Verkehr, das Handwerk, besonders Textilherstellung und Schnitzkunst, und das Strafrecht, hier bevorzugt spiegelnde Strafen (Rosenthal, Untersuchungen, S. 99–108). Der Dichter bedient sich einer beschränkten Anzahl von Rollen, in die er immer wieder schlüpft. Er ist der Wahrheitskünder (Grte. 2, 21, 65, 73, 94, 100; Thum, Wahrheit, bes. zu Grte. 73), der Ratgeber und Lehrer (Grte. 35, 36, 44, 59, 60, 64, 66, 67, 76, 83, 86, 90), der Warner und Mahner (Grte. 56, 57, 58, 84, 85, 88, 89). In einigen Liedern weltlicher Thematik übernimmt Muskatblut die Rolle des Publizisten (Grte. 62, 63, 70, 71, 72, 81, 92, 100; Kellermann, Spiel, S. 367; Kellermann, Zeitkritik, S. 449– 451). Dazu trägt die Autorsignatur bei, da sie explizite Zeugenschaft markiert. Werden zudem Daten, Personen- oder Ortsnamen aufgerufen, ist die Konkretheit, manches Mal die Aktualität des Berichteten indiziert. Die Rezeption Muskatblut hat selbst am meisten für seinen Nachruhm getan, indem er die namentliche Selbstnennung „zur konsequent eingesetzten Autorsignatur“ gemacht hat (Löser, Bewertungskategorien, S. 394). Seine sicher datierbaren Spruchlieder reichen von 1415 bis 1438 (RSM, Bd. 4, S. 378). Die Rezeption setzt sehr früh ein (Handschrift Basel O IV 28, um 1430), ist breit und langanhaltend. Die Spruchdichter Lesch, Harder und Hülzing waren seine Zeitgenossen, ohne dass sie eine ähnliche Überlieferungsbreite erzielt hätten. Muskatbluts Erfolg und soziales Renommee als Sangspruchdichter erwähnt sein jüngerer Sängerkollege Michel Beheim, der ihn zu seinem Vorbild erklärt: Ich welt alz wert werden als Muschgatblut / gewesen ist mit singen (Gille/ Spr. 358, v. 56  f.; auch Gille/Spr. 425). Die Meistersinger zählen ihn unter die „Nach-

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dichter“ (Brunner, Muskatblut; Rettelbach, Variation, S. 292: „Nachmeister“). Hans Folz, Martin Mayr, Johannes Spreng, Adam Puschman, Georg Hager, Benedikt von Watt, Georg Braun und Philipp Hager übernehmen seinen Hofton, Konrad Dangkrotz­ heim und Lienhard Nunnenbeck seinen Fröhlichen Ton, Hans Sachs dichtet in beiden Tönen. Aus dem ‚Gemerkbüchlein‘ des Hans Sachs und aus den Nürnberger Meistersingerprotokollen kennt man weitere Sänger, die in Muskatbluts Tönen gesungen haben, und schließlich sind noch ca. 100 Strophen zu nennen, alle im Hofton, die von unbekannten Verfassern gesungen wurden. Darunter sind auch die zu zählen, die eine fiktive Autorsignatur aufweisen und nicht als authentisch gelten können (KiepeWillms, Spruchdichtungen, S. 22–26). Namentliche, lobende Erwähnung Muskatbluts findet sich beim Nürnberger Meistersinger Konrad Nachtigall († 1484/85; Brunner, Dichter ohne Werk, S. 9, der Nachtigalls Dichterkatalog im Anhang abdruckt, S. 14–20) und jüngeren Meistersingern; Cyriacus Spangenberg listet 21 Lieder Muskatbluts in seinem Katalog der deutschen Meistersinger von 1598 und bewertet sie als herausragend (Brunner, Alte Meister, S.  36  f.; Kiepe-Willms, Spruchdichtungen, S.  19  f.; Schanze, Liedkunst I, S. 178  f.). Ausg. Gille/Spr.; Grte.; Kiepe-Willms (Hg.), Muskatblut; Sps. – Lit. Beutin, Jan Hus; Brunner, Alte Meister; Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Muskatblut; Buschinger, Zwei-Schwerter-Lehre; Edelmann-Ginkel, Loblied; Goheen, Liebeslyrik; Gudde, Muskatblüt; Herweg, Konzil; Junge, Studien; Kellermann, Abschied; Kellermann, Lügendichtung; Kellermann, Spiel; Kellermann, Zeitkritik; Kiepe-Willms, Muskatblut; Kiepe-Willms, Spruchdichtungen; Knape, Muskatblut-Sprüche; Löser, Bewertungskategorien; Müller, U., Untersuchungen; Petzsch, Lebenserwartung; Petzsch, Muskatblüt; Petzsch, Sprechen; Puls, Untersuchungen; Rettelbach, Variation; Robertshaw, Reimpublizistik; Rosenthal, Untersuchungen; RSM; Schanze, Liedkunst; Schanze, Muskatblüt; Schimmelpfennig, Muskatblut; Schnell, R., Vorstellungen; Siller, Toleranz; Thum, Wahrheit; Veltman, Gedichte.

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Tobias Bulang

Biographisches Der Webersohn Michel Beheim (1420–1474/78) gilt als der letzte Sangspruchdichter, da er noch im 15. Jahrhundert jene Fahrendenexistenz und Aufführungsform an Adelshöfen praktizierte, die typisch für die Sangspruchdichter des 13. bis 15. Jahrhunderts waren. Im 15. Jahrhundert wurde diese Lebensform und literarische Praxis nach und nach durch den Meistergesang ortsfester Stadtbürger, meist (aber keineswegs ausschließlich) Handwerker, abgelöst, die sich in Gesellschaften zusammenschlossen. Beheim jedoch war weder über längere Zeit Stadtbürger noch Angehöriger einer Meistersingergesellschaft, fällt mithin nicht unter die Sozialisationsformen der Meistersinger. Tongebrauch und mehrstrophige Bare sind (später) Spruchdichtung und



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Meistergesang gemeinsam; von den Meistersingern unterscheidet sich Beheim aber dadurch, dass er, wie bei den Sangspruchdichtern üblich, ausschließlich eigene Töne verwendete. Besonderes Kennzeichen des Beheimschen Werkes ist eine doppelte Bewegung, die einerseits seinen mündlichen Gesangsvortrag vor höfischem Publikum nachträglich in eine selbstverantwortete schriftliche Kodifizierung des Werkes in drei große Liederhandschriften und einige kleinere Büchlein überführt. Andererseits macht Beheim wissenvermittelnde Leseliteratur seiner Zeit durch Versifikation für die Performanz des mündlichen Gesangsvortrags verfügbar. Beheims gattungsgeschichtlicher Sonderposition entspricht somit ein Operieren in einem medialen Zwischenraum durch Transferleistungen zwischen laikalen und gelehrten Rezipienten. In seinen literarischen Selbstbezeichnungen werden verschiedene Dimensionen seiner Autorschaft fassbar: Mit der nur bei ihm belegten Bezeichnung fuertreter (Gille/Spr. 61; vgl. Gille/Spr. 23, 35, 323) akzentuiert Beheim das Heraustreten aus der Menge vor höfischem Publikum einerseits, eine durch den Sänger erfolgende öffentliche Repräsentation des ihn patronisierenden Herrschers andererseits. In kaiserlichen Diensten bezeichnet er sich, der auch als Hofhistoriograph wirkte, später als teutscher poet und dichter (Gille/Spr. 453), wobei gleichermaßen Anlehnungen und kontrastive Abgrenzung zu humanistischen Autorschaftsinszenierungen kenntlich werden. Über Geburt, Herkunft und Lebensweg informiert Beheim ausführlich in seinen Liedern (bes. Gille/Spr. 24, 327, 328), aber auch in seinen Chroniken. Über die typische Ich-Ostentation der Sangspruchdichter hinaus fällt bei Beheim eine biographische Selbstthematisierung auf, welche in den Strophen artikuliert und bei der Redaktion des eigenen Werkes in den Handschriften weiter bearbeitet wird (vgl. die Rasuren, Streichungen und Ersetzungen in RSM 1Beh/24a: in Handschrift A wird die Darstellung des Lebenswegs von Beheim nachträglich korrigiert und ergänzt). Gegenüber solcher Ich-Rede fallen für die Rekonstruktion des Lebensweges kaum andere Quellen ins Gewicht (vgl. Salmen, Biographie). Der bemerkenswerte Aufstieg des armen Webers zum teutschen poet und dichter in kaiserlichen Diensten hat die Forschung veranlasst, von einer „Karriere“ zu sprechen, insbesondere mit Bezug auf jenes Lied, welches diesen Aufstieg autobiographisch thematisiert (Gille/Spr. 24). Geboren wurde Beheim am 29. 9. 1420 in Sülzbach bei Weinsberg als Sohn eines Webers. Er lernte das Weberhandwerk, bis er vom Reichserbkämmerer Konrad von Weinsberg zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt (1442?) in den Dienst genommen wurde. Über seine wechselnden Dienstverhältnisse nach dem Tod seines ersten Gönners (18.  1. 1448) gibt Beheim in seinem Werk detailliert Auskunft. Als Dienstherren erwähnt er den Markgrafen Albrecht I. Achilles von Brandenburg-Ansbach (1449–1453), Herzog Albrecht  III. von Bayern-München (1453–1454), Herzog Albrecht  VI. von Österreich (1454, wieder: 1458), König Ladislaus Postumus von Böhmen und Ungarn (1454–1457), Kaiser Friedrich III. (1459–1465), Graf Eberhard V. von Württemberg und den Wittelsbacher Pfalzgrafen und Kurfürsten Friedrich I. den Siegreichen (1468–1472). 1471 kehrt Beheim in seinen Geburtsort Sülzbach zurück.

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Dass er dort als Schultheiß wirkte und ermordet wurde (zwischen 1472 und 1479), geht aus einem Sühnekreuz hervor (vgl. Caspart, Lebensende). Im Rahmen seiner Hofdienste wurde Beheim Augenzeuge bedeutender historischer Ereignisse seiner Zeit, die er in seinem Werk dokumentierte. So reiste er 1450 zum Fürstentag nach Heidelberg, wurde im gleichen Jahr von den Rothenburgern gefangengenommen, nahm an der Krönung König Christians I. in Drontheim (29. 7. 1450) teil, beteiligte sich auch am Türkenzug von König Ladislaus (1456) und wurde Zeuge der Ermordung Ulrichs II. von Cilli und der Gefangennahme König Ladislaus’ (9.  11. 1456). Beheim erlebte die Belagerung Wiens durch Albrecht  VI. (1461) sowie durch die Wiener Bürger (1462) und die Belagerungen der Burgen Urschendorf und Scheuchenstein (1464) und berichtet darüber. Er hielt sich 1466 während des Reichstags in Nürnberg auf, nahm 1471 am Feldzug des Kurfürsten Friedrich des Siegreichen gegen Ludwig I. von Veldenz-Zweibrücken teil und berichtet über die Belagerung von Wachenheim (zur Rekonstruktion der Biographie Beheims aus seinen Liedern vgl. Karajan, in: Beheim, Buch von den Wienern [a]; Gille, Gedichte Beheims; Müller, U., Beheim [a, b]; Schanze, Liedkunst I, S. 182–190; Niemeyer, Kunst- und Rollenverständnis, S. 21–74). Trotz dieser mit anderen Sangspruchdichtern nicht vergleichbaren Dichte der Selbstbezeugungen und urkundlichen Quellen bleiben dennoch offene Fragen, beispielsweise über die konkreten Umstände, wie Beheim die Sangeskunst erworben hat (möglicherweise durch gastierende Sänger bei Konrad von Weinsberg, in einer Meistersingergesellschaft auf der Gesellenfahrt), über Art und Ausmaß seines militärischen Fürstendiensts und über den sozialen Status des Webersohns als eines fürstlichen Gefolgsmanns in unterschiedlichen Diensten. Weiterhin ist fraglich, inwieweit seine Stadtaufenthalte (er empfing Geldgeschenke der Städte Augsburg, Wien und Nördlingen) aufgrund der Selbstinszenierung als höfischer Dichter im eigenen Werk gezielt ausgespart und unterbestimmt bleiben (vgl. Niemeyer, Kunst- und Rollenverständnis, S.  23  f., 35–40). Die in der Forschung gebräuchliche Bezeichnung Beheims als Berufsdichter verstellt die komplizierte und intrikate sozialgeschichtliche Situation des patronisierten Fahrenden in wechselnden Diensten. Überlieferung, Töne Von Beheim ist nur singbare Strophendichtung überliefert. Neben den 453 Liedern in zwölf Tönen (mit teilweise großer Strophenzahl) sind auch seine drei Reimchroniken (‚Buch von den Wienern‘, ‚Buch von der Stadt Triest‘, ‚Pfälzische Reimchronik‘) in singbaren Strophen verfasst. Die Sangspruchdichtung prägt der Chronistik ihre formale Faktur auf. Mit Wachinger ist festzuhalten, dass mit Beheim die Kanzonenstrophe zur Hohlform einer umfassenden, auch gattungsfremden, Thematisierung von Welt- und Heilsgeschichte wird, zum Instrument der Selbstdarstellung und Welt­ erkundung (Beheim, S. 40).



Michel Beheim 

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Beheim hat seine Dichtung in drei großen Liederhandschriften kodifiziert (A = Heidelberg, UB, Cpg 312; B = München, BSB, Cgm 291; C = Heidelberg, UB, Cpg 334). Wie auch bei Beheims Chroniken handelt es sich um Autographen (die ersten deutscher Sprache seit den eigenhändigen Korrekturen Otfrids von Weißenburg in seinem ‚Evangelienbuch ‘) bzw. vom Autor korrigierte Manuskripte (Autorvarianten). Hinzu kommen kleinere Auswahlsammlungen und die Chroniken (D = Heidelberg, UB, Cpg 382; E = ebd., Cpg 351; G = ebd., Cpg 375; P = ebd., Cpg 225; o. S. = ebd., Cpg 386). Strophen Beheims befinden sich auch in zwei weiteren Sammelhandschriften (a = Dresden, SLUB, Mscr. M 180; b = Berlin, SBB-PK, Mgq 414). Die Chroniken in der Angstweise sind separat von der Sangspruchdichtung überliefert (‚Buch von der Stadt Triest‘: Handschrift des Schweinfurter Gymnasiums o. Sign., im Zweiten Weltkrieg zerstört; ‚Pfälzische Reimchronik‘: Heidelberg, UB, Cpg 335; ‚Buch von den Wienern‘: ebd., Cpg 386; Gotha, UB u. Forschungsbibl., Chart. B. 50; Dresden, SLUB, Mscr. M 84). Besonderer Stolz Beheims gilt seinem Vermögen, neue Töne zu erfinden. Die Originalität seiner Tonproduktion wird auch von musikhistorischen Untersuchungen und Analysen der Tonstrukturen gewürdigt (Brunner, Töne Beheims; Brunner, Formgeschichte, S. 200–212; Edition der Melodien: Sps., S. 6–17). Beheim hat über 9000 Strophen in zwölf Tönen verfasst: Kurze Weise, Slegweise, Verkehrte Weise, Lange Weise, Zugweise, Osterweise, Hofweise, Gekrönte Weise, Sleht guldin Weise, Hohe guldin Weise, Trummetenweise und Angstweise. Alle Melodien sind erhalten, sie sind in den Liederhandschriften zu Beginn jedes Tons notiert und mit einer Überschrift versehen. Die Gründe für einige der Tonbezeichnungen lassen sich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen. Die Verkehrte Weise ist nach formalen Merkmalen (Rücklauf im Abgesang) oder nach der Thematisierung des moralisch Verkehrten benannt. Die Zugweise thematisiert Beheims Umherziehen in wechselnden Diensten biographisch und allegorisch im heilsgeschichtlichen Rahmen (Krämerallegorie: Gille/Spr. 28). Die Osterweise ist wohl aufgrund der Entstehung der Lieder in Österreich so benannt. Die der chronikalischen Dichtung vorbehaltene Angstweise reflektiert die Kontingenz­ erfahrungen von Beheims geschichtlicher Existenz; zur Trummetenweise s.  o. den Hinweis in → Kapitel VI.1. Themen und Schwerpunkte des Werks Das Themenspektrum seiner Lieder ist enorm. Hierzu gehören Minnelieder (Gille/ Spr. 59, 68, 268, 296, 330, 332–344, 347–350) ebenso wie grobianischer Frauenpreis und andere Minneparodien (Gille/Spr. 27, 267, 345). Seine religiösen Lieder enthalten umfassende Paraphrasen von Erzählungen des Alten und Neuen Testaments (auch Perikopenlieder) sowie apokrypher Bücher, zum Teil aus deutschsprachigen Bibelübersetzungen (Gille/Spr. 3–9, 11, 12, 30–48, 70, 71, 82, 83, 111, 148, 149, 251–260, 291, 292, 305, 365–386, 424, 426, 433). Mehr als bei irgendeinem anderen Sangspruchmeister prägt das Erzählen Beheims Lieder. Ebenso versifiziert er Gebetsmeditatio-

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 Autorenprofile

nen, Erörterungen heilsgeschichtlicher Fragen, frommes Erbauungsschrifttum zu Eucharistie, Sakramenten, Heilsgeschichte und Apokalyptik aus der sog. Wiener Schule und anderen Quellen (s.  u.). Die Präsentation heilsgeschichtlicher Allegorien (Gille/Spr. 28, 249, 265, 275, 277–279, 283, 284, 286, 294, 300, 306, 309, 312, 353, 444, 448) findet sich bei ihm ebenso wie Marienpreis und -allegorie (Gille/Spr. 49–51, 77, 78, 84–87, 117, 162, 163, 262–264, 299, 304, 361–364, 435–437, 441, 442), ausgebreitet werden auch die Kreuzholzlegende (Gille/Spr. 10) und ähnliches. Hinzu kommt eine Reihe autobiographischer Lieder, welche ausführlich die Herkunft aus dem Weberhandwerk, die Sängerkarriere, den Dienst bei verschiedenen Fürsten und die ausgestandenen Todesgefahren rekapitulieren (Gille/Spr 24, 62, 93, 250, 329, 331, 346, 358). Das ‚Endelied‘ (Gille/Spr. 287) reflektiert in Gebetsform Buße und Reue über eigene Verfehlungen im heilsgeschichtlichen Rahmen. Andere Lieder dokumentieren die Teilnahme an bedeutenden politischen Ereignissen seiner Zeit (Gille/Spr. 104, 105, 106, 112, 327, 328). Damit im Zusammenhang exponieren seine Lieder – mitunter anlassbezogen  – ausführliche Kunstreflexionen: Beheim berichtet von gelungenen bzw. misslungenen eigenen Auftritten, wobei er auf die vorgeführten Lieder ebenso eingeht wie auf Publikumsreaktionen (Gille/Spr. 53, 245, 248, 274, 309, 323, 324). Hierzu gehören auch die Auseinandersetzung mit Sängerkonkurrenten, die Aufforderungen zum Sangeswettstreit, Lob des Gesangs und der Tadel von Kritikern und Ignoranten im Publikum (Gille/Spr. 23, 60, 63–67, 102, 115, 271, 315, 321, 322, 419, 420, 425, 438). Bedeutend ist Beheim auch als Tradent und Versifikator von Fabeln, welche er immer wieder im Sinne einer Hof- oder Kunstkritik auf alltagsweltliche Situationen und politisches Tagesgeschehen appliziert (Gille/Spr. 25, 26, 52, 54, 55–58, 91, 276, 311, 313, 314, 317–320, 351, 418). Vereinzelt begegnet Versifikation von Sagenüberlieferung (Gille/Spr. 107). In der Tradition der Sangspruchdichtung stehen seine Panegyrik, Fürstenrat und Herrenschelte ebenso wie Weltklagen über den Zustand der Regenten und des Klerus; insbesondere die Türkengefahr ist Anlass solcher Ausführungen (Gille/Spr. 89, 90, 101, 178, 237–239, 243, 244, 308, 356). Hierher gehören auch Wappenallegorese und allegorische Ausdeutung des Reichsadlers (Gille/Spr. 244, 266). Das Spektrum gnomischer Dichtung ist außerordentlich weit: Ständekritik, Lasterschelte und Lob der Tugenden spezifiziert auf die verschiedenen Lebensalter, Geschlechter und Berufe, Schelte der Städter wie auch der Bauern, Alterslehre und Ehelehre reagieren auf eine Differenzierung der Themen in der Sündenkasuistik der zeitgenössischen Erbauungsliteratur (Gille/Spr. 93–95, 100, 114, 164–177, 179–202, 235, 241, 242, 269, 270, 273, 280, 282, 295, 316, 325, 326, 354, 392–414, 443–445). Neben Versifikationen wissenvermittelnder Texte des 15. Jahrhunderts (s.  u.) bietet Beheim weitere Wissensbereiche aus eigener Auseinandersetzung (bzw. aus nur teilweise von der Forschung erschlossenen Quellen): Lob der Sieben freien Künste (Gille/ Spr. 417), Lob der Universität Wien (Gille/Spr. 96), Temperamentenlehre (Gille/ Spr. 246), Horoskop, Prognostik und Prophetien (u.  a. der Hildegards von Bingen, des Gamaleon, Prophezeiung von Fridericus Orientalis; Gille/Spr. 22, 98, 108–110, 116, 352), Stammbäume und Genealogien (Gille/Spr. 89, 357), naturkundliche Erörte-



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rungen der vier Elemente und der Himmelssphären (Gille/Spr. 246, 301), des Tierkreises und der Planetenkinder (Gille/Spr. 301). Historisches und Exempla stellen ebenfalls ein weites Feld dessen, was er in Sangspruchtönen aufgreift: Beheim bietet unter anderem – als erster überhaupt! – einen Bericht über die grausamen Verbrechen des Woiwoden Dracul Waida, der später als Dracula berühmt wurde (Gille/Spr. 99), Auseinandersetzungen mit der Türkengefahr (Kampfaufrufe, einzelne Schlachtberichte, Berichte über die Grausamkeit der Türken, Weltklagen: Gille/Spr. 101, 104, 237–240, 446), einen chronikalischen Bericht über die Eroberung Konstantinopels und den Kreuzzug von König Ladislaus (Gille/Spr. 328, 446). Die Stereotypen der adversus Iudaeorum-Literatur seiner Zeit sind in einem eigenen ‚Büchlein über die Juden‘ zusammengefasst (Gille/Spr. 203–234). Eine eigene Weise, die Angstweise, hat Beheim schließlich seinen Chroniken vorbehalten, dem ‚Buch von der Stadt Triest‘ (543 Strophen); dem ‚Buch von den Wienern‘ (2169 Strophen) und der ‚Pfälzischen Reimchronik‘ (735 Strophen), die teilweise Überschneidungen mit Themen seiner übrigen Töne aufweisen, in der Überlieferung aber deutlich von ihnen getrennt sind. Auch für diese vielstrophigen Texte sieht der Autor ausdrücklich Vorlesen und Vorsingen vor; ob dies im Sinne inszenierter Mündlichkeit eines Lesetextes oder aber als Hinweis auf tatsächliche Aufführungspraxis zu werten ist, kann nicht entschieden werden. Im Zuge der fortschreitenden quellenheuristischen Erschließung des Beheimschen Werkes wurde deutlich, dass es sich bei einer beträchtlichen Zahl von Liedern um Versifikationen handelt (Steer, Scholastikforschung; Hohmann, T., Texte; umfassende Zusammenstellung bei Wachinger, Beheim), die in vielen Fällen sehr nahe an den deutschen Prosavorlagen ausgeführt sind und Änderungen meistens nur des Reimes wegen und metri causa vornehmen. So sind die aus lateinischen Vorlagen entwickelten deutschen Texte der sog. Wiener Schule (Werke im Kontext von Universität, Hof und Klöstern in Wien und Umgebung; vgl. Hohmann, T., Texte; Wolf, K., Hof) in vielstrophigen Liedern umgesetzt worden. Hierzu zählen Heinrichs von Langenstein ‚Erchantnuzz der sund‘ (Gille/Spr. 164–202); Thomas Peuntners ‚Büchlein von der Liebhabung Gottes‘ (Gille/Spr. 125–147: 23 Lieder, insgesamt 51 Strophen), die deutschen Predigten des Nikolaus von Dinkelsbühl-Redaktors (Gille/Spr. 71–82, 96, 111, 117–124) und ein Ladislaus gewidmeter ‚Fürstenspiegel‘, der ursprünglich an Wilhelm von Österreich adressiert war und seinerseits auf des Ps.-Aristoteles ‚Secretum Secretorum‘ zurückgeht (Gille/Spr. 308; vgl. Wolf, K., Hof, S. 98  f.). Hinzu kommen weitere Quellen: Beheims weite Strecken des Werkes prägende Bibelparaphrasen greifen auf deutsche Bearbeitungen biblischer Erzählstoffe zurück (z.  B. die Historienbibel ‚Die neue Ee‘ oder Bibelversifikationen Heinrichs von Mügeln; Gille/Spr. 12). Weiterhin versifizierte Beheim Abschnitte aus Ottos von Passau Erbauungsschrift und Sentenzensammlung ‚Die vierundzwanzig Alten‘ (Gille/Spr. 13, 14, 263, 285, 293, 299, 303, 439, 440), aus dem ‚Buch der Liebkosung‘ und dem Dreifaltigkeitsgebet des böhmischen Humanisten Johann von Neumarkt (Gille/Spr. 15–21, 69, 151–159), das ‚Edelstein-Mariengebet‘ des Johannes von Indersdorf (Gille/Spr. 86); die Antiphon ‚Salve

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Regina‘ (Gille/Spr. 49) und das ‚Ave ancilla trinitatis‘ (Gille/Spr. 87) in deutschen Übersetzungen; ferner einzelne Prophezeiungen (Gille/Spr. 108–111). Versifiziert wurden ebenfalls in Auszügen Marquards von Lindau ‚Buch der zehn Gebote‘ (Gille/ Spr. 289, 391, 394), Seuses ‚Büchlein der ewigen Weisheit‘ (Gille/Spr. 160–162), die antijudaischen Schriften Irmhart Ösers (‚Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaak‘) und des Österreichischen Bibelübersetzers (‚Von der Juden Irrsal‘, Gille/Spr. 203– 234), Exempel und Allegorien aus den ‚Gesta Romanorum‘ (Gille/Spr. 275), eine Fabel aus Boners ‚Edelstein‘ (Gille/Spr. 320), der ‚Antichrist-Bildertext‘ (Gille/Spr. 355) und der ‚Tractatus de Purgatorio S. Patricii‘ (Gille/Spr. 449). Auch das Drakul-Lied geht auf einen Bericht zurück (Gille/Spr. 99). Für ein neunstrophiges Lied über die Komplexionen ist eine Ordnung der Gesundheit Vorlage, die auf Konrad von Eichstätt zurückgeht (Gille/Spr. 246). Festzuhalten ist, dass die Quellen Beheims wohl noch nicht vollumfänglich erschlossen sind. Für diverse Allegorien sowie für stände- und berufskritische Strophen etwa kommt auch der ‚Renner‘ Hugos von Trimberg in Frage (vgl. Einhorn, Sinnzeichen, S. 404 zu Gille/Spr. 278). Weitere intertextuelle Bezüge sind noch zu ermitteln. Die thematische Ausweitung der Gattungstradition kann den Eindruck von ­Heterogenität erzeugen. Dem entgegen steht die Mühe um planvolle Anordnung in den Liederhandschriften. Erkennbar ist dabei mehr als nur die sinnfällige Gruppierung von Liedern nach Themen. Lieder werden in den Tönen „so arrangiert, daß der Ton als ganzer als eine Art von literarischer Einheit mit eigenem planvollen Aufbau erscheint“ (Wachinger, Beheim, S. 45). Die Mühe um sinnfällige redaktionelle Anordnung ist buchspezifisch und kann nicht auf seine mündliche Vortragspraxis übertragen werden. Viele von Beheims Tönen beginnen mit einem Tonweihelied an Gott oder den Heiligen Geist, der um Inspiration und Einsicht gebeten wird (Zugweise, Kurze Weise, Osterweise, Hohe guldin Weise). Auch andere Töne setzen mit programmatischen Prologliedern ein (z.  B. Allegorie des Töchterstreits mit Selbstrechtfertigung zu Beginn der Gekrönten Weise; Erzgräberallegorie mit Bezug auf den Dichter, der in der Mine nach Tönen gräbt, zu Beginn der Trummetenweise). Auf diese Prologlieder folgen meist Darstellungen der Präexistenz Gottes, der Schöpfung und chronologisch angeordnete Ereignisse der Heilsgeschichte. Oft schließen die Töne mit einem Lied eschatologischer Thematik. Die so aufgespannte Heilsgeschichte dient als Rahmen für die geschichtlichen Ereignisse, für Selbstthematisierung und fromme Meditation, theologische Explikation, Fabeln, Schwank und vieles weitere. Die von Wachinger analysierte sorgfältige Liedfolge in Slegweise und Hofweise lässt sich auch für die Zugweise feststellen. Das Strophenarrangement im Liederbuch scheint auf eine holistische und integrale Abstimmung von Heils- und Weltgeschichte mit der Selbstthematisierung von Beheims Leben und Kunst zu zielen. Hier wirken gleichermaßen weltchronistische wie enzyklopädische Impulse prägend, die sich beim Strophenarrangement des Liedvortrags nicht in vergleichbarer Art entfalten konnten. So kann man in gewisser Hinsicht die Liederbücher als Weltbücher bezeichnen.



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Ausg. Beheim, Buch von der Stadt Triest; Beheim, Buch von den Wienern (a); Beheim, Buch von den Wienern (b); Beheim, Pfälzische Reimchronik; Gille/Spr. – Lit. Aigner, Fürstenkritik; Altpeter, Stilisierung; Backes, Literarisches Leben; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Töne Beheims; Caspart, Lebensende; Classen, Autobiographische Lyrik; Classen, Love; Conduratu, Drakul; Einhorn, Sinnzeichen; Fournier, Nachricht; Gille, Beheims ‚Stadt Triest‘; Gille, Gedichte Beheims; Gille, Überlieferung; Gudewill, Beheim; Hatheyer, Bezüge; Hohmann, T., Texte; Kellermann, Spiel; Kiepe-Willms, Beheim; Klein, A., Literaturbetrieb; Köbele, Aporie; Kratochwill, Autographe; Kühn, Rhythmik; Lauer, E., Beheim; McDonald, Assault; McDonald, Beheim; McDonald, Conflict; McDonald, Dracula; McDonald, Erzgräberbispel; McDonald, Falcon poems; McDonald, Frau Welt; McDonald, Image of sin; McDonald, Song-Poetry; Morré, Gedankenwelt; Morré, Türkengefahr; Müller, A., Stigma; Müller, J.-D., Panegyricus; Müller, U., Autobiographische Texte; Müller, U., Beheim (a); Müller, U., Beheim (b); Müller, U., Kontext-Informationen; Müller, U., Mehrfachfassungen; Müller, U., Untersuchungen; Niemeyer, Kunst- und Rollenverständnis; Niemeyer, Sirenen; Niesner, Contra-Judaeos-Lieder; Ogier, Hartlieb; Ozment, Beheim Boys; Petzsch, Gesangvortrag; Petzsch, Gülden weise; Petzsch, Poetologie (I); Petzsch, Poetologie (II); Petzsch, Sprechen; Petzsch, Text-Form-Korrespondenzen; Philipowski, Erzählen; RSM; Salmen, Biographie; Schanze, Liedkunst; Schares, Grausamkeit; Schares, Sprache; Scholz, Verhältnis; Schullerus, Drakul; Spriewald, Grundzüge; Spriewald, Literatur; Steer, Scholastikforschung; Thum, Publizistik; Vogt, Beheim; Voltmer, Prophetie; Wachinger, Beheim; Wertner, Glossen; Wolf, K., Hof; Wunderle, Beheim; Zimmermann, K., Beheim.

VIII Historische Entwicklung 1 Von den Anfängen bis Frauenlob

Horst Brunner

Vorbemerkung: Besprochen oder wenigstens erwähnt werden alle aus der Zeit zwischen dem ausgehenden 12. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts durch Texte und/oder Töne belegten Sangspruchdichter; die Ausführungen zu den in Kapitel VII monographisch behandelten Autoren sind dabei bewusst knapp gehalten. Wichtigste Grundlagen sind die Artikel im 2VL, in MGG, im Literaturlex., die Einträge im RSM und die Untersuchungen der Töne bei Brunner, Formgeschichte; darauf kann hier im Wesentlichen nur pauschal verwiesen werden. Die Fachliteratur ist unter summarischem Hinweis auf die Handbücher bzw. die Darstellungen im Kapitel VII nur sehr reduziert angegeben.

Die Anfänge. Spervogel I–III In drei Handschriften – den lateinischen Sammelbänden Zürich, Zentralbibl., Ms. C 58 (um 1200), und Wien, ÖNB, Cod. 160 (Ende 12. Jh.), sowie in dem Einzelblatt aus der lateinischen Handschrift München, BSB, Cgm 5249/42a (um 1200 oder frühes 13. Jh.) – sind fünf Spruchstrophen erhalten geblieben, in denen man glaubt – nicht zuletzt, weil eine davon (III) durch die durchgehende Neumierung eindeutig als singbar ausgewiesen ist –, Vertreter der Frühstufe der Sangspruchdichtung, der Anfänge der Gattung, fassen zu können (vgl. zu den Handschriften MF II, S. 62  f. und Abb. 15–17, Abdruck zuletzt Brunner [Hg.], Früheste deutsche Lieddichtung, S. 118–121; in das RSM sind die Texte nicht aufgenommen). Drei der Sprüche (I,1 u. 2; II) bestehen lediglich aus je vier paargereimten Drei- bzw. Vierhebern, zwei (I,3; III) sind aus sechs solchen Versen gebaut, wobei in III der Strophenschluss durch einen Fünfheber markiert wird (vgl. zu den Tönen oben → Kapitel VI.1). Die Strophen I,1–3 und II formulieren einfache Lebensweisheiten: die unangenehmen Folgen des blauen Montags für den Rest der Woche; eine Warnung vor unbedachtem Handeln; eine Warnung, ohne Reue über die Sünden in die Kirche zu gehen; die Ermahnung zu weltkonformem Handeln. III stellt in einem allegorischen Bild die schlimmen Folgen von Hoffart, Treulosigkeit und Habsucht dar. (Vgl. auch Grubmüller, Regel.) Das älteste unter einem Autornamen, Spervogel, überlieferte Korpus von Sang­ sprü­chen und Spruchtönen findet sich in den Handschriften A, C und J (zu den Handschriften und ihren Siglen s. oben → Kapitel III.3); einzelne Strophen begegnen auch in weiteren Handschriften. C enthält unter Spervogel 54 Strophen in sechs unterschiedlichen Tönen. In A finden sich 46 dieser Strophen und alle sechs Töne; allerdings stehen hier nur 26 Strophen in zwei der Töne unter Spervogel, weitere 20 Strophen in fünf Tönen sind unter der Überschrift Der ivnge Spervogel aufgezeichnet (irrtümlich sind hierher auch fünf Strophen von Neidharts Sommerlied 26 und zwei Strophen eines Minneliedes Liutholds von Seven KLD 35,I geraten). Die gemeinsamen 46 Strophen von A und C weisen nur belanglose textliche Unterschiede auf, sie stammen aus https://doi.org/10.1515/9783110351897-008

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 Historische Entwicklung

der erschließbaren Vorlage *AC. In J stehen unter Spervoghel 13 Strophen in einem der Töne samt der Melodie. Fünf dieser Strophen finden sich nur in J, zu acht gibt es textlich vielfach abweichende Parallelüberlieferungen in AC (vier Strophen) bzw. nur in C (ebenfalls vier Strophen); vgl. dazu Tervooren, Doppelfassungen; Ausgaben: MF 20,1–30,34; MF III.2, S. 364; zuletzt Brunner (Hg.), Früheste deutsche Lieddichtung, S. 124–181 (danach die Strophenzählung in diesem Artikel). Spervogel ist als Übername eines fahrenden Dichters zu verstehen. Der in Strophe 15 von Spervogel II genannte Name hat wohl die Bedeutung ‚Sperling‘. Vom Maler der Miniatur in C wurde er freilich anders verstanden: „Der Dichter hält in der Rechten einen Speer, an dessen oberem Ende, wie an der Leimrute eines Vogelfängers, fünf Vögel (Tauben) in verschiedenen Farben und mit ausgebreiteten Schwingen ‚sitzen‘“ (Walther/Siebert [Hg.], Codex Manesse, S. 275). Zu unterscheiden sind freilich mindestens drei verschiedene Autoren. S p e r v o g e l   I ( ‚ H e r g e r ‘ ) gilt als der älteste der drei Dichter (vgl. Honemann, Herger). Meist geht man davon aus, dass der Autor in Str. II,2 von sich selbst spricht und dabei seinen Namen – Herger – nennt; doch ist dies nicht unumstritten (vgl. Müller, U., ‚Herger‘). Man hält den Autor für einen fahrenden Berufsdichter, der aufgrund der öfter unreinen Reime und der Anspielungen auf historische Personen auf die Zeit um 1170 zu datieren ist. Zugeschrieben werden ihm 28 ausschließlich in AC überlieferte Strophen, die alle im gleichen kurzen Ton abgefasst sind (zu dessen Struktur vgl. oben → Kapitel VI.1). Eine Besonderheit ist deren Anordnung in sechs thematisch geordneten Gruppen (Zyklen). I bis V umfassen je fünf Strophen, sind also Pentaden, VI ist eine Triade. Pentade I zählt unter Verweis auf die Armut und Unbehaustheit des Sängers verstorbene großzügige Fürsten und Adlige auf, die Bedürftige um ihres Ansehens willen unterstützt haben; insbesondere werden die Grafen von Oettingen aufgefordert, hinter Wernhart von Steinhart, den sie beerbt haben, nicht zurückzustehen. Pentade II thematisiert lehrhaft die kluge Vorsorge für die Zukunft. In der III. Strophengruppe geht es unter Bezug auf geläufige Tierfabeln um die Tatsache, dass die wahre Natur eines Lebewesens sich immer wieder durchsetzt – ein Wolf bleibt eben ein Wolf. In IV findet sich religiöse Belehrung, V sammelt in lockerem Zusammenhang wichtige Lebensweisheiten. Die drei Strophen von VI rühmen die Passion Christi, seine Erlösungstat und seine Auferstehung, ferner wird Gottes Allmacht gepriesen. (Zur Forschungsgeschichte vgl. Lichtenhan, Strophengruppen.) S p e r v o g e l   I I sieht man  – vor allem auf Grund der erwähnten Namensnennung – als den ‚eigentlichen‘ Spervogel an (vgl. Tervooren, Spervogel). Er gilt ebenfalls als fahrender Berufsdichter. Politische Anspielungen fehlen, doch dürfte er aus stilistischen und literarhistorischen Gründen in das letzte Drittel des 12. Jahrhunderts gehören. Überliefert sind in A, C und J insgesamt 23 Einzelstrophen, alle im selben Ton (vgl. oben → Kapitel VI.1). A, C und J bieten, wie erwähnt, eine nur teilweise übereinstimmende Auswahl. J hat mit AC vier Strophen gemeinsam (6, 9, 10, 12), nur mit C weitere vier (3–5, 8); sieben finden sich nur in AC (14–20), drei ausschließlich in C (21–23), fünf weitere schließlich nur in J (1, 2, 7, 11, 13). Die Redaktoren der Hand-



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schriften waren um eine sinnvolle Anordnung bemüht, doch kamen J einerseits, AC andererseits zu unterschiedlichen Ergebnissen (vgl. dazu im einzelnen Tervooren, Einzelstrophe, S. 183–192). Die Melodie erweist den Ton als zweiteilig (Edition: Sps., S.  386). Teilweise anhand einfacher Analogien aus Tier-, Menschen- und Sachwelt werden in einfacher Sprache, manchmal unter Anwendung von Priamelstrukturen (vgl. Ludwig, Priameln), einem aristokratischen Publikum vorwiegend Ratschläge für richtiges oder angemessenes Verhalten erteilt, etwa: Folgen inkompetenten und unüberlegten Tuns; Dumme belehren zu wollen, ist vergebliche Liebesmüh; man soll dort bleiben, wo man Ansehen erworben hat; guter Rat verhilft zu Ansehen; man soll im Unglück nicht den Kopf hängen lassen; einen klugen Ratgeber soll man unbedingt halten usw. In drei Strophen (8–10) klagt der Sänger über seine misslichen Lebensumstände. (Vgl. auch Brem, ‚Herger‘/Spervogel.) Unter dem Namen S p e r v o g e l   I I I werden acht Strophen in vier verschiedenen Tönen zusammengefasst, die sich in AC unter ‚Spervogel‘ bzw. ‚Der junge Spervogel‘ finden (einige davon stehen in C, B, h, k auch unter anderen Namen, in k unter dem Namen ‚Junger Stolle‘, hier auch die Melodie zu Ton I, ediert Sps., S. 164; vgl. zur Überlieferung die Übersicht in RSM, Bd. 5, S. 285–288). Die Töne II, III, IV sind dabei jeweils nur durch eine Einzelstrophe vertreten (vgl. zu den Tönen oben → Kapitel VI.1). Ob alle Texte und Töne vom gleichen Autor stammen, ist zweifelhaft. Die Einzelstrophe des Tons III wirkt durch ihren unreinen Reim zu Beginn und durch die Form des Tons so altertümlich, dass sie von der Forschung auch Spervogel I zugeschrieben wurde (MF 30,34). Die übrigen Texte und Töne dürften wohl um 1200 oder wenig später entstanden sein. Die fünf Sprüche des Tons I enthalten Lebensregeln (Warnung vor falschen Freunden; Ermahnung zu aufbauender, nicht absprechender Kritik; Warnung vor einem ungetreuen Freund; Lob der Klugheit). Der Spruch des Tons II bietet eine eindrucksvolle Zeitklage, der des Tons III eine Warnung vor übertriebener Sparsamkeit, im Ton IV geht es um die Unbegreiflichkeit weiblichen Handelns angesichts männ­ licher Werbung. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf vereinzelte sangspruchartige Einzelstrophen im Korpus früher Minnesänger: Meinloh von Sevelingen MF 12,1; 12,14; 14,14 (alle drei Strophen belehren über Verhalten in Minneangelegenheiten); Dietmar von Eist MF 33,31 (bezieht sich ebenfalls auf die Minne); Friedrich von Hausen MF 53,31 (Warnung, das Kreuz zu nehmen und sich dann vor dem Kreuzzug zu drücken); Heinrich von Veldeke MF 61,1; 61,9; 61,18; 61,25; 65,5; MFMT XI.XXXV; XI.XXXVI (unterschiedliche Themen: Leichtfertigkeit, Neid, Niedergang der Tugenden, Gerüchte, böse Leute usw.). Zur Frage der Einordnung dieser (im RSM nicht berücksichtigten) Strophen in den Zusammenhang der Geschichte der Sangspruchdichtung vgl. zuletzt Brem, Gattungsdifferenzen; Lieb, Modulationen (zu Veldeke); Schnell, R., Minnesang; Huber, C., Liebesfiktion.

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Walther von der Vogelweide Walther von der Vogelweide machte seit 1198 den – nach unserer Kenntnis – bis dahin formal und thematisch begrenzten Spruchsang zu einer Gattung, die fortan gleichberechtigt neben dem damals längst etablierten höfischen Lied stand (vgl. die Monographien von Bein, Walther; Scholz, Walther; Ehrismann, O., Walther; Brunner/ Hahn [u.  a.], Walther; vgl. auch oben → Kapitel  VII.1; ausführlich kommentierte Ausgabe: Schw.). Er hat als der eigentliche Begründer der Gattung zu gelten. Überliefert sind, fast ausschließlich in den Handschriften A, B und C, 137 Spruchstrophen in 20 unterschiedlichen Tönen; zu den Tönen vgl. → Kapitel  VI.1. Angetrieben war Walther offenbar von der Notwendigkeit, sich mindestens zeitweise als Berufsdichter ohne einigermaßen feste Bindung an einen Hof durchzubringen. Walther erschloss dem Spruchsang ein ausgedehntes Panorama von Themen und Inhalten, nicht zuletzt machte er ihn zu einer Waffe im politischen Tageskampf und in seinem persönlichen Lebenskampf. Vor allem mit seinen politischen Sprüchen scheint er Furore gemacht zu haben. Er propagierte mit glänzender Rhetorik die Anliegen derer, in deren Dienst er sich stellte und die er rühmte, er entlarvte aber auch die Absichten ihrer Feinde, er kritisierte die Zeitumstände, außerdem Personen des politischen Lebens, teilweise im Auftrag, nicht selten, wenn er von potentiellen Gönnern enttäuscht war, auch aus persönlichen Gründen, bisweilen rief er zu religiöser Besinnung auf und belehrte die Jugend. Die Publizität der vor Bosheit funkelnden Sprüche gegen Papst Innozenz III., gesungen im Auftrag Kaiser Ottos IV., war offenbar so groß, dass der italienische Kleriker Thomasin von Zerklære 1215/16 in seinem Lehrgedicht ‚Der welsche Gast‘ darüber schrieb: er hât tûsent man betoeret, / daz si habent überhoeret / gotes und des bâbstes gebot (v. 11223–225). Von Anfang an gelang es Walther, in Verbindung mit den wichtigsten Protagonisten der politischen Bühne zu gelangen. Seit 1198 trat er für Philipp von Schwaben ein, den er propagierte, den er, wohl in fürstlichem Auftrag, in den folgenden Jahren in einigen Strophen allerdings auch scharf tadelte (Reichston, Erster und Zweiter Philippston); vermutlich 1212 begrüßte er Kaiser Otto IV. bei der Rückkehr nach Deutschland, wobei er die Erwartungen der Fürsten formulierte (Ottenton, Meißnerton, Unmutston), später rechnete er, da der Kaiser seine Erwartungen enttäuscht hatte, schonungslos mit ihm ab (König-Friedrichs-Ton); seit etwa 1214 stand er auf der Seite Friedrichs II. (König-Friedrichs-, Kaiser-Friedrichs-Ton). Dazu kommen Sprüche für bzw. gegen Reichsfürsten wie Hermann von Thüringen, Dietrich von Meißen, Leopold von Österreich, Erzbischof Engelbert von Köln und an den Grafen von Katzenellenbogen (Erster Philippston, Wiener Hofton, Leopoldston, Meißnerton, Unmutston, König-Friedrichs- und Kaiser-Friedrichs-Ton, Bognerton). Seine harschen Invektiven gegen Papst Innozenz III. brachten Walther seit seiner neuzeitlichen Wiederentdeckung um 1600 (Melchior Goldast) den Ruf ein, eine Art Vorläufer der Reformation gewesen zu sein. Ferner machte Walther, der den Spruchsang als zwar notwendig für seinen Lebensunterhalt, zugleich aber als Abhaltung von seiner eigentlichen Lebensaufgabe, nämlich Minnesang zu dichten, verstand (vgl. Spruch L. 28,1), Sprüche zu einem In­



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strument seines persönlichen Lebenskampfes. Er scheute sich nicht, seine Anliegen und Sorgen, seine Abneigungen und Feindschaften darin mit der ihm eigenen Klarheit und Unmissverständlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Hierher gehören etwa die Strophen, in denen er sich um die Gunst des Wiener Hofes bemühte (Wiener Hofton, Leopoldston, Unmutston), in denen er über seine Unbehaustheit klagte (Unmutston, König-Friedrichs-Ton), auch der Dank an Friedrich  II. für das Lehen (König-Friedrichs-Ton), die Angriffe gegen den persönlichen Feind Gerhard Atze (Erster Atzeton, Leopoldston), ferner die Totenklage auf den als Dichter, jedoch offenbar nicht als Menschen geschätzten Reinmar den Alten (Leopoldston). In zahlreichen religiösen und didaktischen Sprüchen erscheint er vor allem in der Rolle des Morallehrers. (Die üblichen Tonnamen stammen durchweg aus dem 19. Jahrhundert, die meisten gehen auf Karl Simrock zurück; mittelalterliche Namen zu Waltherschen Tönen sind nur vereinzelt überliefert, s.  u.) Neben diese inhaltlich-thematischen Neuerungen traten bei Walther bedeutende formale Veränderungen. Im Minnesang hatte sich das Prinzip, für jedes Lied einen eigenen Ton zu erfinden, längst durchgesetzt. Walther näherte den Spruchsang dem Minnesang dadurch an, dass er sich – anders als ‚Herger‘/Spervogel I und Spervogel II – in diesem Bereich nicht mehr mit einem einzigen Ton begnügte. Allerdings schuf er nicht für jede Spruchstrophe eine eigene Strophenform (es gibt nur einige wenige Einzelstrophen mit eigenem Ton: L. 37,34; 85,25; 104,23; 104,33), in der Regel ordnete er mehrere inhaltlich-thematisch verwandte Spruchstrophen einem gemeinsamen Ton zu, ferner benutzte er die meisten seiner Töne nur eine gewisse Zeit. So fallen etwa die drei Strophen im Reichston, die in engem Zusammenhang mit Philipp von Schwaben stehen, in die Jahre 1198 und 1201, die datierbaren Sprüche im Ersten Philippston – bis auf eine Strophe alle an Philipp gerichtet – wurden zwischen 1198 und etwa 1203/05 gedichtet usw. An der prinzipiellen Einstrophigkeit des Spruches, wie sie sich schon bei Spervogel  II findet, hielt Walther fest, doch konnten mehrere Strophen zu einem mehr oder weniger festen Verbund zusammentreten (vgl. oben → Kapitel VI.2). Eine weitere Innovation betrifft die Form. Walthers ältester Spruchton, der Reichston, folgt noch dem Bauprinzip der Strophenformen von ‚Herger‘/Spervogel I und Spervogel II (eine Folge paargereimter Zeilen wird mit einer Langzeile abgeschlossen). Die weiteren Töne Walthers zeigen die im Minnesang längst übliche Kanzonenform, die von nun an auch im Bereich der Spruchdichtung kanonische Geltung beanspruchte. Während die Musik zu Walthers Minneliedern vollständig verloren ist, haben sich wenige Reste seiner Spruchmelodien erhalten: Die vollständige Melodie zum Wiener Hofton (hier der alte Name Hofweise oder Wendelweise) findet sich in k, die zum Ottenton (hier: Feiner Ton) in der Überlieferung der Meistersinger des 16. und 17. Jahrhunderts, Fragmente des Zweiten Philippstons und des König-Friedrichs-Tons, außerdem – nicht ganz vollständig – die Melodie zu dem als unecht geltenden Ton L. XXXVIII,1 in Z (Münstersches Fragment). (Vollständige, kommentierte Ausgabe dieser und weiterer, mit Walther zu Unrecht in Verbindung gebrachter Melodien bei

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Brunner [u.  a.] [Hg.], Überlieferung Walthers, S. 79*–98*; Sps., S. 408–419; ferner L./ Bein, S. XLVI–LIX.) Die Spruchdichtung in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts Jüngere Zeitgenossen Walthers – in erster Linie die professionellen Autoren Bruder Wernher, Reinmar von Zweter, der Marner, der Tannhäuser, daneben ‚kleinere‘ Dichter, oft adlige Dilettanten – griffen den von ihm neu geschaffenen ‚Faszinationstyp‘ Sangspruch auf. Freilich erreichten sie, trotz beachtlichem Kunstvermögen, das Vorbild weder in formaler noch in inhaltlicher Hinsicht. Walthers Themen wurden aufgenommen, am wenigsten (mit Ausnahme des Tannhäusers, doch ist auch Ulrich von Singenberg zu erwähnen) die Aussagen zur persönlichen Dichterexistenz und ihren Problemen. Politik, verbunden mit Lob oder Schelte von Herrschern, Fürsten, Adligen, spielte eine bedeutende Rolle, freilich meist in ‚objektiver‘ Gestalt, nicht mehr in derart selbstreferentieller Weise, wie sie bei Walther häufig (wenn auch nicht durchweg) anzutreffen war. Weit über Walther hinaus war religiöse Belehrung jetzt von zentraler Bedeutung, auch ging es nun mehr als bei ihm um Herren-, Tugendund auch Minnelehre, gelegentlich finden sich auch ‚spielerische‘ Themen (Rätsel, Lügenstrophen). Nicht auf Walther berufen kann sich der Anspruch auf Gelehrsamkeit, der zuerst (etwa im Bereich der Naturkunde) mit dem Marner auftritt und der in der weiteren Geschichte der Spruchdichtung eine große Rolle spielte, für manche Autoren geradezu zum Markenzeichen wurde. In formaler Hinsicht war Walther allerdings für die meisten Autoren kein wirkliches Vorbild. Zwar blieb die Kanzonenform definitive Grundlage, mehr als Walthers Töne diente jedoch Stolles Alment als strukturelles Muster neugeschaffener Töne (soweit nicht überhaupt die Alment benutzt wurde). Einer der bedeutendsten Nachfolger Walthers, Reinmar von Zweter, verzichtete so gut wie ganz auf eine größere Zahl eigener Töne und fiel damit gleichsam in vorwalthersche Zeiten zurück. Erheblichen Kunstanspruch erhob der Marner mit dem bewussten Neben­ein­ander eines ganz einfachen kurzen (Ton I) und eines höchst anspruchsvollen, sehr umfangreichen Tones (Ton VI) – ein Strukturmoment, das in der späteren Spruchdichtung immer wieder bedeutsam hervortrat. Der dritte Stollen ist erstmals durch den ‚Wartburgkrieg‘ (Klingsors Schwarzer Ton) in den 1230er Jahren belegt, er brauchte aber einige Zeit, um sich ‚durchzusetzen‘. 1 .   P r o f e s s i o n e l l e S p r u c h d i c h t e r. S t o l l e , ein wohl etwas jüngerer Zeitgenosse Walthers von der Vogelweide, der ihn vermutlich – als Konkurrenten? – in einem Spruch im Unmutston, also wohl im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts, attackiert (L.  32,11), verdankt seinen Nachruhm bis in den späten Meistergesang hinein ausschließlich einem von ihm geschaffenen Ton. Die Wertschätzung für ihn noch in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts beweist eine von Robin (s.  u.) verfasste Strophe, in der er zusammen mit anderen Sängern, darunter Walther, als verstorben beklagt wird. Stolles Ton erhielt, wohl schon im 13. Jahrhundert, den Namen Alment, d.  h. „Gemeineigentum“ (Allmende), weil er  – im Gegensatz zur sonst beachteten



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Identität von Text- und Tonautorschaft – von zahlreichen, auch anonymen Autoren benutzt wurde. Namentlich bekannt (s.  u.) sind Bligger von Steinach, Hardegger (Ton I), Marner (Ton IV), Der von Wengen (Ton I), Tugendhafter Schreiber (Ton XII) und Boppe (Ton IV). Die Alment greift strukturell die von Walther in die Spruchdichtung eingeführte Kanzonenform auf, ihr einfaches, leicht zu merkendes Abgesangsschema war Grundlage einer Erfolgsgeschichte: Seit den Tönen Bruder Wernhers, die teilweise bereits vor 1217 entstanden sein dürften, folgten bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus zahlreiche weitere Töne ihrem Muster (vgl. Brunner, Formgeschichte, passim). In Handschrift C wird Stolles Name in einer Anmerkung zu einer Almentstrophe zwar genannt, doch findet sich in der Handschrift kein eigenes Textkorpus. Im Stollekorpus von Handschrift J, in dem auch die älteste Melodieaufzeichnung zu finden ist (Edition: Sps., S. 387–392), wurden ohne Autorangaben 40 Strophen gesammelt (Edition aller Almentstrophen: Zapf). Viele davon gehören nachweislich anderen bekannten Autoren (Hardegger, Boppe, Tugendhafter Schreiber), andere, anonym überlieferte Strophen können aufgrund ihrer Entstehungszeit nicht von Stolle selbst stammen (zwei Strophen über die Ermordung der bayerischen Herzogin Maria von Brabant durch ihren Ehemann Ludwig II. entstanden 1256, eine Klage über den Geiz Rudolfs von Habsburg kann frühestens 1273 verfasst worden sein). Bei den übrigen religiösen und weltlichen Strophen (darunter zeitlich nicht näher bestimmbare Strophen mit Kritik an Kirche und Papst und über den Zustand der Christenheit) gibt es keinerlei Gewähr für die Autorschaft von Walthers Zeitgenossen. Stolle bleibt allein der Erfinder der Alment, als Textautor ist er nicht zu greifen. B r u d e r We r n h e r , der den datierbaren Sprüchen nach zwischen etwa 1217 und etwa 1250/51 als Spruchdichter wirkte, war ebenfalls ein jüngerer Zeitgenosse Walthers. Erhalten sind, vorwiegend in C und J, daneben in A und in einem Prager Fragment, 76 Strophen in neun Tönen; zu sechs Tönen überliefert J die Melodien (ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.2; zu den Tönen → Kapitel VI.2; kommentierte Edition: Zck., Ausgabe der Melodien: Sps., S. 427–432). Den lokalisierbaren Sprüchen nach wirkte Bruder Wernher in Österreich, Kärnten, Bayern und Ostfranken (Henneberg, Castell). Das Œuvre umfasst politische Strophen, Sprüche über Tugenden und Laster sowie über geistliche Themen. Als politischer Dichter war Wernher der neben Reinmar von Zweter bedeutendste Nachfolger Walthers (vgl. Gerdes, Wernher, S. 73  ff.). Seine Texte umfassen Kreuzzugspropaganda, Lobsprüche (auf Leopold VI. von Österreich, König Heinrich [VII.], Poppo VII. von Henneberg u.  a.), Scheltsprüche (u.  a. wider den Geiz der jungen Herren), Totenklagen (auf Ludwig I. von Bayern, Friedrich II. von Österreich), Stellungnahmen zu Auseinandersetzungen auf der politischen Bühne (Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX., der Kaiser und Friedrich II. von Österreich). Zeitweise wirkte Wernher offenbar als Sprachrohr der österreichischen Landherren, die Auseinandersetzungen zwischen Staufern und Papst bzw. Fürsten sahen ihn auf staufischer Seite. Im Zentrum der Sprüche über Tugenden und Laster steht die Herrenlehre. Ihre Grundlage ist der Tugendadel mit milte, êre und triuwe;

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Geiz ist die schlimmste Todsünde. Vor falschen Ratgebern wird gewarnt, ebenso vor Acht und Bann, belehrt wird auch über das richtige und falsche Verhalten von Mann und Frau. Hingewiesen wurde in der Forschung auf die Verwandtschaft der Lehren mit denen des Strickers. In den sehr ernsten religiösen Sprüchen geht es vor allem um das Memento mori, um die Mahnung zu rechtzeitiger Reue, die Warnung vor dem Lohn der Welt, um das Seelenheil und die Darstellung des Jüngsten Gerichts. Bruder Wernhers Werk ist weniger vielseitig als das Reinmars von Zweter, bei dem zahlreiche weitere Aspekte behandelt werden. Wernher erscheint thematisch beschränkter und ernster. Beiden Autoren noch fremd ist die im 13. Jahrhundert allmählich in Mode kommende Gelehrsamkeit, als deren erster Vertreter der Marner gilt. Stilistisch erscheinen die Strophen relativ schlicht, „durch den Einsatz möglichst konkreter, alltagsnaher Bilder“ (Zck., S. 19) strebt der Dichter nach Anschaulichkeit. Häufiges Stilmittel ist die Anapher, um Übereinstimmung der inhaltlichen Gliederung mit den Strophenteilen zeigt Wernher sich vielfach bemüht (vgl. Roe., S. 339  f.). Bevorzugt wird die Einzelstrophe, nur selten erscheinen Strophen untereinander näher verbunden (vgl. Tervooren, Einzelstrophe, S. 138–161). Der einzige bekannte Ton des H e n n e b e r g e r s , in dem elf in Handschrift J überlieferte Strophen mit der Melodie erhalten sind, zeigt deutliche Verwandtschaft mit den Tönen Bruder Wernhers (Edition: HMS III,12; Melodie: Sps., S. 150). Da Bruder Wernher sich zeitweise in der fränkischen Grafschaft aufhielt, nach der der Henneberger sich nannte, ist eine nähere Beziehung beider Dichter mehr als wahrscheinlich. Hennebergers Str. 3, die über den Zustand der Christenheit klagt, wird (wohl ohne zureichenden Grund) in die Zeit des Interregnums (1254–1273) datiert. Die Strophen haben teils religiöse (Nr. 4, 6, 7, 8/9), teils lehrhafte und mahnende Inhalte (1–3, 5, 10, 11). Zeitgenosse Bruder Wernhers war auch R e i n m a r v o n Z w e t e r (ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.3; grundlegende Edition: Roe.). Soweit datierbar, entstanden seine Strophen, weit überwiegend Einzelstrophen, zwischen 1227/30 und 1248. Reinmars umfangreiches Œuvre umfasst neben einem religiösen Leich 234 (als sicher echt geltende) Strophen in seinem wichtigsten Ton, dem Frau-Ehren-Ton (weitere 22 Strophen gelten als zweifelhaft), daneben 24 in der Neuen Ehrenweise (bei Roe. Minnenton) und zwei im (von Roe. so genannten) Meister-Ernst-Ton; dazu kommen weitere zwölf Spruchstrophen in drei kurzen, liedähnlichen Tönen (von Roe. als Lieder bezeichnet); die Melodie des Frau-Ehren-Tons ist in k, ferner in Meistersingerhandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts überliefert (Ausgabe der Melodie: Sps., S. 360–362). Wichtigste Überlieferungsträger der Texte sind die Handschriften D und C. Reinmars Spruchwerk umfasst religiöse Strophen, Sprüche über Minne und Frauen, Herrenlehre, politische Strophen (im Dienst Kaiser Friedrichs II., König Wenzels I. von Böhmen und in dem wechselnder Fürsten), Lügenstrophen, Strophen mit Scherzfragen und Rätsel. Gelehrsamkeit und übertriebener Gebrauch rhetorischer Mittel sind Reinmar fremd, seine besondere Neigung gilt allerdings der Personifikation: Der Frau-Ehren-Ton hat seinen Namen von dem der Frau Ehre, die Reinmar in



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Anlehnung an Walther von der Vogelweide geschaffen und häufig gebraucht hat (vgl. Roe., S. 215–218). Reinmar, der das umfangreichste Spruchwerk zwischen Walther von der Vogelweide und Frauenlob hinterlassen hat, wirkt in einer Hinsicht altertümlicher als die meisten seiner zeitgenössischen Spruchdichterkollegen: Er ignoriert das mit Walther in der Spruchdichtung aufgekommene Prinzip der Tönevielfalt und beschränkt sich, wie ‚Herger‘/Spervogel I, Spervogel II und wie manche kleineren Autoren des 13. Jahrhunderts, weitestgehend auf einen einzigen Ton. Welchen Grund dieser Verzicht hatte, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Vermutlich kam es Reinmar mehr auf seine inhaltliche Kompetenz als auf Formkunst an. Die Schaffenszeit des M a r n e r s lässt sich aufgrund datierbarer Texte auf 1230/31 und 1266/67 eingrenzen (vgl. Haustein, Marner-Studien; ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.4; kommentierte Edition: Wms.). Überliefert sind fünf lateinische Lieder (deren Echtheit kontrovers beurteilt wird), zwei Tagelieder, sechs Minnelieder – wie Walther vor ihm und der Tannhäuser gleichzeitig betätigte der Marner sich auch als Minnesänger – und 59 in erster Linie in den Handschriften B und C überlieferte Sangsprüche in zehn Tönen (drei davon gehen allerdings nicht auf ihn zurück: Ton IV ist Stolles Alment, V Kelins Ton III, Ton XVIII – dem Marner nur zugeschrieben – ist Ton XVII des Meißners; die nur in Handschrift E überlieferten Töne XIV und XV gelten als ungesichert). Melodien sind zu den Tönen I (Goldener Ton; vier Strophen), VI (Hofton oder Kurzer Ton; 21 Strophen) und VII (Langer Ton; 19 Strophen) erhalten (vgl. zu den Tönen Marners oben → Kapitel VI.1; Ausgabe der Melodien: Sps., S.  211–227). Das thematische Spektrum der Spruchstrophen Marners ist ausgesprochen umfangreich: religiöse Strophen, politische Strophen, Dichterpolemik, Minnelehre, Naturkundliches. Unübersehbar ist die Neigung zur Gelehrsamkeit, die wohl maßstabsetzend für manche gleichzeitige und spätere Spruchdichter war, ebenso der Kunstanspruch des komplizierten und langen Tons VII, der für einige spätere Spruchsänger offenbar eine Herausforderung darstellte. Einer der originellsten Dichter des 13. Jahrhunderts ist der T a n n h ä u s e r, belegbar zwischen (vermutlich) 1228/29 oder wenig später und 1261/66 (ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.5, ferner Brunner/Schrenk, Tannhäuser; kommentierte Ausgabe: Sieb.). Ausschließlich Handschrift C überliefert von ihm sechs weltliche Leichs, sechs Minnelieder, ein Pilger- oder Kreuzzugslied und drei Spruchtöne mit insgesamt zwölf Strophen; die Melodie zu Ton XII findet sich in Meistersingerhandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts (Edition: Sps., S. 397  f.). Die Echtheit weiterer Texte, der in Reimpaaren abgefassten ‚Hofzucht‘ und des in J mit Melodie überlieferten ‚Bußliedes‘ (Edition der Melodie: Sps., S. 400), ist umstritten. Tannhäuser hielt sich längere Zeit, bis zu dessen Tod 1246, am Wiener Hof Herzog Friedrichs II. des Streitbaren von Österreich auf. Wichtigstes Vorbild seiner Spruchdichtung war Walther von der Vogelweide; seine Spruchtöne erscheinen allerdings strukturell wenig anspruchsvoll. Im Zentrum der Spruchstrophen, die auf Gelehrsamkeit keinen Wert legen, stehen Armutsklagen des unbehausten Sängers, nachdem er den Hof Fried-

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richs II. hatte verlassen müssen; in dieser Zeit, also in der zweiten Hälfte der 1240er Jahre, dürften alle oder die meisten Spruchstrophen gedichtet worden sein. Weitere Strophen bieten einen Katalog von Orts- und Flussnamen, eine Kinderbelehrung, eine offenbar an König Konrad IV. gerichtete Bittstrophe, die Klage um den verstorbenen Herzog Friedrich II., dazu kommt eine für sich stehende Rätselstrophe. 2 .   ‚W a r t b u r g k r i e g ‘ : K l i n g s o r s S c h w a r z e r T o n . Das umfangreiche Strophenkonglomerat des ‚Wartburgkrieges‘ ist ohne typologische Nähe zum Spruchsang kaum denkbar (Edition: Hal.). Als älteste Teile gelten das ‚Rätselspiel‘ (Rätselwettstreit zwischen Klingsor und Wolfram von Eschenbach) und ‚Aurons Pfennig‘ (Anklagen gegen die Geistlichkeit). Die beiden vielstrophigen Dichtungen sind im gleichen Ton abgefasst, der in späterer Überlieferung als Kling­sors Schwarzer Ton bezeichnet und von den Meistersingern rezipiert wurde. Klingsor ist kein ‚realer‘ Autor, die Figur wurde bekanntlich Wolframs ‚Parzival‘ entlehnt. Die genannten Texte und damit auch der Ton entstanden um 1239. Später wurde der kurze Ton noch für weitere Teile des ‚Wartburgkrieges‘ verwendet, im ausgehenden 13. Jahrhundert benutzte ihn der Spruchdichter Boppe (Ton V) für sechs Strophen (s.  u.); im Meistergesang war er fester Bestandteil des Tönerepertoires. Die literarhistorische Bedeutung des Schwarzen Tons besteht darin, dass hier erstmals der dritte Stollen begegnet, der im weiteren Verlauf der Geschichte des Spruchsangs dann eine erhebliche Rolle spielte. Die älteste Fassung der Melodie findet sich in Handschrift J (Edition aller Melodiefassungen: Sps., S. 425  f.) 3 .   G e l e g e n h e i t s a u t o r e n , a d l i g e D i l e t t a n t e n . Neben den Berufsautoren gab es in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts weitere ‚kleinere‘ Spruchsänger, Gelegenheitsautoren, viele davon adlige Dilettanten, die den Spruchsang neben dem Dichten von Minneliedern betrieben. Zum Teil erfanden sie ihre Spruchtöne nicht selbst, sondern benutzten vorhandene Schemata und Melodien. Als Gelegenheitsdichter ist an erster Stelle der große Romandichter G o t t f r i e d v o n S t r a ß b u r g zu nennen, dem nach dem Zeugnis Rudolfs von Ems zwei in Handschrift C unter Ulrich von Liechtenstein überlieferte Spruchstrophen gehören (Edition: MFMT XXIII.I). Die erste Strophe handelt von „Mein“ und „Dein“, die die Welt bewegen, und von der Habgier, die zweite von der Zerbrechlichkeit des Glücks (vgl. Stackmann, Gîte; Tomasek, Gottfried, S. 67–69). Der Ton zeigt nahe Verwandtschaft mit Walthers von der Vogelweide Erstem Philippston, die Melodie ist nicht überliefert. Von dem als Epiker um 1210 in Gottfrieds ‚Tristan‘ (v. 4691–4722) in den höchsten Tönen gerühmten, mit den Staufern verbundenen Edelfreien B l i g g e r v o n S t e i n a c h haben sich in den Handschriften B und C lediglich kärgliche Reste einer ursprünglich wohl umfangreicheren Liedproduktion erhalten, zwei Minnelieder, die in den Zusammenhang des rheinischen Minnesangs gehören, und, nur in C, ein in Stolles Alment abgefasster Spruch (MF 119,13): Ein Mann, der sein Gut ohne Freigebigkeit genießt und damit seine Ehre verspielt, wird mit zwar hartem, doch zerbrechlichem Glas verglichen. Sollte der Spruch wirklich von Bligger stammen – was öfter bezweifelt wurde –, wäre er vermutlich der älteste erhaltene Text in der Alment.



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Bligger ist der Leitname des Hauses Neckarsteinach, die Unterscheidung der in den Urkunden erscheinenden Namensträger ist schwierig, doch ist der Dichter mit größter Wahrscheinlichkeit (vgl. Meves, Bezeugungen) identisch mit Bligger III., urkundlich bezeugt 1174–1209. (Vgl. auch Meves, Regesten, S. 133–168.) Ebenfalls Zeitgenosse Walthers war der Truchsess von St. Gallen U l r i c h v o n S i n g e n b e r g , ein zwischen 1209 und 1228 urkundlich belegter adliger Sänger, von dem in den Handschriften A, B und C neben 31 Minneliedern auch fünf Spruchtöne mit zusammen 18 Strophen überliefert sind (Edition: SM 12; die Spruchtöne, deren Melodien sich nicht erhalten haben, sind hier Ton 16, 29, 30, 31 u. 35). Er wird hier als erster in einer kleinen Reihe von Autoren aufgeführt, die von der Forschung mit mehr oder weniger Berechtigung in der (späteren) Schweiz angesiedelt werden. Ulrich „war vielleicht der erste nichtprofessionelle Sänger, der nebeneinander Minnesang und Spruchdichtung pflegte. Hier wie anderswo zeigt sich der maßgebliche Einfluß Walthers von der Vogelweide, den er […] seinen meister nennt“ (Schiendorfer, Singenberg, Sp. 23). Bemerkenswert sind besonders Ulrichs Nachruf auf Walther von der Vogelweide (SM 12,20,V) und seine Parodie auf Walthers Strophe L. 28,1 (Von Rôme voget, von Pülle künec …), abgefasst im König-Friedrichs-Ton des Vorbildes (SM 12,29,III), mit dem Dank an Gott, ihm die Armut und Unbehaustheit seines meisters erspart zu haben (Der werlte voget, des himels künig …). Im übrigen finden sich Mahnstrophen (SM 12,16), politische Strophen, teilweise wohl an König Heinrich (VII.) gerichtet (SM 12,30), Polemik gegen Missgünstige, das Lob eines geistlichen Fürsten (SM 12,31). Die siebenstrophige Weltklage SM 12,35 ist eher ein geistliches Lied als eine Spruchfolge. Der H a r d e g g e r ist möglicherweise, doch keineswegs sicher identisch mit dem 1227 zusammen mit Ulrich von Singenberg bezeugten St. Galler Ministerialen Heinrich von Hardegge. Zwei seiner Strophen sind datierbar auf ca. 1237 und vor 1250. Überliefert sind 15 Spruchstrophen in vier Tönen (Edition: C.-W.). Mindestens zwei Töne sind übernommen: Ton I (zwölf Strophen) ist Stolles Alment (Edition: Zapf), Ton IV (eine Strophe) der Wiener Hofton Walthers; entlehnt sein könnte auch Ton III (eine Strophe), denn er ist (wahrscheinlich) identisch mit dem unvollständig überlieferten Ton III Des von Wengen – doch könnte die Übernahme auch in umgekehrter Richtung erfolgt sein, denn Der von Wengen bediente sich sonst fremder Töne (s.  u.). Vermutlich handelt es sich bei beiden Autoren, Hardegger und Dem von Wengen, um „Gelegenheits- und Auftragsdichter“ (Schiendorfer, Wengen, Sp. 850). In Hardeggers Ton I finden sich ein Katalog der Adelstugenden (Str. 1), zwei Marienlobstrophen (Str. 2 u. 5), eine Anrufung der Apostel (Str. 3), Warnung vor irdischem Besitz (Str. 4), anscheinend eine Polemik gegen den Ablass (Str. 6; vgl. dazu Wachinger, Sängerkrieg, S. 132–138), Klage über ungerechte Richter (Str. 7), Schelte der Frau Welt (Str. 8 u. 11), zwei politische Strophen um Kaiser Friedrich II. und seine Söhne Heinrich (VII.) und Konrad IV. (Str. 9 u. 10), ein Rätsel vom Leben als Reise (Str. 12); in Ton II wird den Menschen vorgeworfen, sich nicht um ihr Seelenheil zu sorgen, Ton III enthält eine Verteidigung der Welt, IV eine Klage über die Habgier in allen Ständen.

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D e r v o n We n g e n gehörte in den 1240er Jahren in den Umkreis der Thurgauer Grafen von Kiburg, für deren Interessen er eintritt. Er bediente sich vermutlich ausschließlich fremder Töne: der Alment (Ton I, vier Strophen), des Tons IV Reinmars von Brennenberg (Ton II, zwei Strophen) und – vermutlich – des Tons III des Hardeggers (Ton III, eine Strophe). Alle sieben Strophen finden sich in Handschrift C (Edition: SM 23). Ton  I: Ermahnung zum Gehorsam gegen den Papst (Str. 1), nach dem Versagen des Kaisers (Friedrich II.) wird der Gegenkönig (Heinrich Raspe oder Wilhelm von Holland) aufgefordert, für Recht und Ordnung zu sorgen (Str. 2), Marienlob (Str. 3; textidentisch mit Hardegger  I,2), Zeitklage über die Ehrung charakterloser Mächtiger (Str. 4); Ton II: Lob Walthers von Klingen (Str. 1), Lob der Kiburger und der Thurgauer für die den Kiburgern erwiesene Treue (Str. 2: entstanden vermutlich vor 1250); Ton III (Fragment): Lob eines neuen Königs oder Fürsten (wer gemeint ist, bleibt offen). Ebenfalls eines fremden Spruchtons, des Tons IX Bruder Wernhers, bediente sich der sonst als Verfasser zweier Sommerlieder, eines Winterliedes und eines Minnepreises bezeugte We r n h e r v o n T e u f e n in seiner einzigen erhaltenen Spruchstrophe (Edition: SM 9,5), einer Art Rätselstrophe über nicht von Herzen kommende Freundlichkeit; der Schluss ist rätselhaft. Ob Wernher Angehöriger einer mächtigen schweizerischen Freiherrenfamilie war und um 1220 gedichtet hat, lässt sich nicht mit Sicherheit klären. Mit Fragezeichen werden zwei weitere Kleinautoren unter die Schweizer Dichter gezählt. Von P f e f f e l sind in Handschrift C drei Spruchstrophen in einem kunstvollen, mit Walthers Meißnerton und mit Ulrichs von Singenberg Ton XXXIII verwandten Ton erhalten (Edition: SM 24; Melodie nicht überliefert). Inhaltlich handelt es sich um eine an Herzog Friedrich  II. von Österreich († 1246) gerichtete Heischestrophe (Str. 1), die Verwandtschaft mit Walthers Strophe L. 20,31 zeigt; um eine Belehrung der Jugend (Str. 2); um ein leidenschaftliches Liebesbekenntnis (Str. 3). Als Schaffenszeit des ebenfalls nur in C belegten Dichters G a s t wird die Mitte des 13. Jahrhunderts vermutet (vgl. Schiendorfer, Fremdling). Sein einziger Ton, dessen Melodie im Meistergesang (zuerst in k) als Goldener Ton Wolframs von Eschenbach überliefert wurde (Edition: Sps., S. 121  f.), zeigt nahe formale Verwandtschaft unter anderem mit Hardeggers Ton II und Tannhäusers Ton XVI. Die beiden Textstrophen in C (und anderwärts) bilden eine durchgehende Fragepriamel: Waz sol ein keiser âne reht, ein bâbest âne barmunge? … Am Schluss findet sich die Pointe: Ein König, der nicht gerechtes Gericht hält, ist nutzlos (Edition: SM 27). Der auch im ‚Wartburgkrieg‘ auftretende T u g e n d h a f t e S c h r e i b e r ist in Handschrift C als Autor von elf Minneliedern (Edition: KLD 53) und einer fünfstrophigen Spruchreihe in Stolles Alment bezeugt; die Sprüche finden sich ohne eigene Autor­ angabe auch im Stollekorpus der Handschrift J (Edition: Zapf). Die Identifikation mit dem zwischen 1208 und 1244 bezeugten scriptor oder notarius Heinrich der Thüringer Landgrafen ist zumindest naheliegend (vgl. Hahn, R., Spruchdichter, S. 128–130). Die Spruchreihe enthält einen Dialog zwischen Gawan und Keie, in dem satirisch die ver-



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dorbene Moral an den Höfen beleuchtet wird. Das erst 1988 publizierte ‚Maastrichter Fragment‘ einer Liederhandschrift aus der Zeit um 1300 schreibt dem Schreiber eine weitere Strophe zu (RSM 1Tugdh/2/1, gedruckt Tervooren/Bein, Fragment, S. 4  f.: Iz sol zu schalches munde …): Ob ein Schalk lobt oder schilt, ist für den biderben gleichermaßen belanglos. Auch hier hat der Schreiber sich eines nicht selbst erfundenen Tones, des Zweiten Philippstons Walthers von der Vogelweide, bedient. Erwogen wird (vgl. zuletzt Hahn, R., Spruchdichter), ob nicht auch die beiden vorausgehenden Strophen, die Walthers Ersten Philippston benutzen, vom Schreiber stammen könnten (gedruckt bei Tervooren/Bein, Fragment, S. 4). Die erste Strophe ist bis zur Unkenntlichkeit fragmentiert, die zweite handelt von einer Abart der minne, der Päderastie, als deren ‚Erfinder‘ Orpheus angegeben wird. Ein weiterer adliger Dilettant ist R e i n m a r v o n B r e n n e n b e r g , Angehöriger eines bei Regensburg ansässigen Ministerialengeschlechts. Vermutet wird neuerdings, dass es sich um den 1236 oder 1237 verstorbenen Reinmar I. handelt (vgl. Kornrumpf, Brennenberg, S. 203). Neben vier Minneliedern ist von ihm in Handschrift C ein einziger Spruchton überliefert, sein Ton IV, der – wohl aufgrund der schönen Melodie – ein langes Nachleben bis in das 16. Jahrhundert hatte (Edition: KLD 44; Edition der Melodie: Sps., S.  356–359). Strukturell gehört der Ton in den Umkreis von Stolles Alment. Die Besonderheit der zwölf in C (teilweise auch in anderen Handschriften) überlieferten Spruchstrophen besteht darin, dass hier Motive des Minnesangs – Lob der Geliebten, Klage über Nichterhörung, Hoffnung auf Erhörung – in die Form eines schwergewichtigen Spruchtons gegossen wird. Die Echtheit einiger weiterer Strophen in diesem Ton, darunter die Totenklage auf eine Reihe verstorbener Minnesänger (KLD 44,IV,13; anonym überliefert in Handschrift H), gilt als zweifelhaft (betrauert werden: der friunt von St. Gallen, Reinmar, Walther, Rugge, Johansdorf, Friedrich von Hausen, Walther von Metz, Rubin, Wahsmut, Ulrich von Gutenburg). Ob L e u t h o l d v o n S e v e n (in Handschrift B: Savene), unter dessen Namen insgesamt 59 Strophen überliefert sind, überhaupt unter die Autoren zu zählen ist, wäre fraglich, würde Reinmar der Fiedler (s.  u.) nicht gegen ihn als einen Sänger polemisieren (vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 128–131). In erster Linie war Leuthold wohl Besitzer einer Liedersammlung, denn die meisten ihm zugeschriebenen Texte sind anderwärts anderen Autoren zugeschrieben. Der ‚Rest‘, sechs Minnelieder und zwei Spruchtöne mit je zwei Strophen (wovon eine Strophe in Handschrift D anonym überliefert ist), gilt (da sonst nicht nachweisbar) als sein Werk (Edition: KLD 35). Ob er Berufsdichter oder als dominus aus Saven (heute Safenau) aus der Steiermark adliger Dilettant war, bleibt offen; immerhin bezeichnet ihn Reinmar der Fiedler (vielleicht spöttisch?) als „Herrn“. Datiert wird Leuthold auf die Mitte des 13.  Jahrhunderts. Die Struktur der beiden Spruchtöne zeigt Nähe zu Walther von der Vogelweide. In Ton  VII wird in Str. 1 den hochgestellten Jungen der Rat gegeben, Gut gegen Ehre nicht zu sparen – das sei gut für den Nachruhm; in Str. 2 wird festgestellt, was immer die Sänger vortragen, das gelte heute nichts. VIII,1 enthält ein Lob der Scham, die gerade von den Mächtigen geliebt werden soll; in Str. 2 (in Handschrift D) wird dem

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erwachsenen Mann geraten, nicht kindisch zu bleiben, angeredet wird am Ende ein (tatsächlicher oder exemplarischer) König von Griechenland. Der Name R e i n m a r s d e s F i e d l e r s spricht für eine Existenz als fahrender Sänger. Unter diesem Namen sind, fast ausschließlich in den Handschriften A und C, drei Spruchtöne mit zusammen acht Strophen überliefert (Edition: KLD 45); umstritten ist, ob er der Autor aller dieser Texte ist. Die Einordnung in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts gilt als gesichert. Die Töne I und III zeigen strukturelle Parallelen zu anderen Spruchtönen dieser Zeit, Ton II ist ein leichtgewichtiger kurzer Ton, der sich von Liedtönen nicht unterscheidet. Auffällig ist der Refrain zu den vier Strophen von Ton I – es handelt sich um die einzige bekannte Spruchreihe, die außer durch den Inhalt (Aufforderung an die Herren, nach Ehre zu streben) und den Ton auch noch durch einen Refrain (mit Tageliedmotivik) verbunden ist. In Ton II wendet der Sänger sich gegen Geizhälse (Str. 1) sowie gegen jene, die sich fälschlich als Kreuzritter ausgeben (Str. 2). Ton  III enthält die Spottstrophe auf Leuthold von Seven (Str. 1; vgl. Schubert, M. J., Hügeliet, S. 102–104), ferner eine Bittstrophe an Maria (Str. 2) und (überliefert nur in Handschrift q unter dem Namen Walthers von der Vogelweide) eine Zeitklage (Str. 3). Vermutlich ebenfalls in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datieren, seinem Stand nach nicht näher bestimmbar, ist D i e t m a r d e r S e t z e r , dessen einziger in Handschrift C mit vier Strophen überlieferter Spruchton Verwandtschaft mit Stolles Alment und den Tönen Bruder Wernhers zeigt (Edition: KLD 7). Themen sind: Warnung vor valschen zungen (Str. 1/2); eine Erinnerung, stets daran zu denken, dass Leib und Seele gottgegeben sind (Str. 3); das Schicksal der Geizigen und der Freigebigen im Jenseits (Str. 4). Spruchdichtung von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis gegen 1290 Diese Phase des Spruchsangs wird dominiert von Autoren, deren Anspruch auf Artifizialität und Gelehrsamkeit nicht zu übersehen ist: Friedrich von Sonnenburg, Konrad von Würzburg, der Kanzler, Rumelant von Sachsen, der Meißner. Thematisch besteht weitgehend Kontinuität. Auch hier stehen religiöse Unterweisung, Herrenund Tugendlehre, Lob und Schelte von Herrschern, Fürsten und Adligen im Zentrum. Politische Strophen beschäftigen sich mit dem Interregnum und öfter – positiv wie negativ – mit König Rudolf von Habsburg, ferner, im Zeichen der Territorialisierung und der langen „kaiserlosen“ Zeit, in größerem Umfang als zuvor mit Territorialfürsten. Hinzu kommt nun, inauguriert vom Marner, ein ausgeprägter Zug zur Gelehrsamkeit: Der Sangspruch erschließt sich Themen aus dem Bereich des naturkundlichgelehrten (u.  a. kosmologischen und astronomischen) Wissens und des Arteswissens, in theologisch-philosophischen Spekulationen, Allegorien und Allegoresen wird laientheologische Kennerschaft sichtbar. Hervor tritt ferner einerseits ein ausgeprägtes Traditions- und Kunstbewusstsein, andererseits ein aus Konkurrenzdenken erwachsenes Ringen um den Vorrang einzelner Autoren vor anderen, das seinen Ausdruck in



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nicht wenigen polemischen Strophen findet. Selbstreferentielle Aussagen finden sich wieder häufiger (vgl. die Debatte über die Sangeskunst, Kunstpolemik, Armutsklagen u.  a.). Was die Strophenformen angeht, dominiert – in erster Linie in Gang gebracht durch Konrad von Würzburg – der dritte Stollen, der (nach dem Vorgang Marners) bei Friedrich von Sonnenburg, vor allem aber durch den Meißner und mehr noch Rumelant von Sachsen in unterschiedlichen ‚Spielformen‘ erscheinen kann; Formexperimente finden sich in erster Linie bei Konrad von Würzburg und dem Kanzler. 1 .   D i e g r ö ß e r e n A u t o r e n . Die bedeutendsten Spruchdichter dieses Zeitraums sind Friedrich von Sonnenburg, Konrad von Würzburg, der Kanzler, Rumelant von Sachsen und der Meißner. Sie werden den übrigen, zeitlich meist kaum genauer fassbaren Autoren vorangestellt. F r i e d r i c h s v o n S o n n e n b u r g datierbare Sprüche fallen in die Zeitspanne von 1251 und 1275; gestorben ist der mit einiger Sicherheit als Fahrender tätige Dichter vor Konrad von Würzburg, also vor 1287 (ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.6). Er nennt sich nach Sonnenburg im Pustertal/Südtirol. Überliefert sind, hauptsächlich in den Handschriften C und J, vier Töne mit insgesamt 73 Strophen (Edition: Mas.); die Melodien zu den Tönen I, II, IV finden sich in J, die zu Ton II ist nicht erhalten (Edition der Melodien: Sps., S.  118–120). (Bei der Zählung der Töne bestehen Unterschiede zwischen Mas. und RSM; hier: Ton I = Mas. 1–50; Ton II = Mas. 51, 52; Ton III = Mas. 53–60; Ton IV = Mas. 61–73.) Anhand der zeitaktuellen Strophen Friedrichs lässt sich erkennen, mit welchen Höfen und Adligen er zeitweise in Verbindung stand: zu verschiedenen Zeiten mit dem bayerischen Herzogshof (Otto II., † 1253, Mas. 51, 62; Heinrich von Niederbayern nach 1255, Mas. 45); König Ottokar II. von Böhmen im Zusammenhang mit dessen Ungarnfeldzug 1271 (Mas. 52, wohl auch 27); 1273/74 mit Rudolf von Habsburg (Mas. 28–30); mit dem Tiroler Herrn (Ulrich) von Reifenberg (vor 1277; Mas. 41) und dem sächsischen Grafen Friedrich von Beichlingen (vor 1275; Mas. 66); Strophe Mas. 59 wurde wohl bald nach dem Tod Kaiser Friedrichs II. im Dezember 1250 verfasst. Das Œuvre Friedrichs von Sonnenburg umfasst zahlreiche religiöse Strophen (Lob Gottes, Marienlob, eine Weihnachtsstrophe), ferner – sein bekanntester Text – das Lob der Frau Welt (Mas. 1–5) samt der darauffolgenden Weltschelte (Mas. 6–10), die durchaus, entgegen verbreiteter (doch nicht einheitlicher) Forschungsmeinung, von Friedrich selbst stammen kann (vgl. Ukena-Best, ‚Welt‘-Sprüche); mit Frau Welt beschäftigen sich auch die Strophen Mas. 21 und 22. Mehrfach geht es um Kunst- und Fahrendenthematik (Lob der Kunst, Tadel der Herren, die die Kunst nicht belohnen, Anspruch des Sängers auf gute Behandlung, die Welterfahrung des Sängers). Zahlreiche Strophen beschäftigen sich mit Moral-, Tugend- und Herrenlehre sowie der Schelte unrechten Verhaltens (der Tüchtige soll den Bösen meiden, Lob von Treue und Wahrheit, Lob der Freigebigkeit; wer Ehre erwerben will, der soll gastfreundlich sein; nur jene Herren sollen gelobt werden, die sich entsprechend verhalten usw.). Kornrumpf (Sonnenburg, Sp. 964) weist darauf hin, dass Wortwiederholungen und Anaphern für den Stil des Sonnenburgers charakteristisch sind, ferner auf die stark

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geistliche Färbung der politischen und didaktischen Strophen. Von den Meistersingern wurde Friedrich von Sonnenburg nicht rezipiert. Auch in der Sicht seiner Zeitgenossen galt der um 1235 in Würzburg geborene, 1287 in Basel, seinem Wohnort seit den 1260er Jahren, verstorbene K o n r a d v o n W ü r z b u r g als der bedeutendste Autor seiner Zeit (vgl. zu ihm Brunner, Porträt; ausführliche Darstellung oben → Kapitel  VII.7). Die Spruchdichtung nimmt im Zusammenhang seines umfangreichen, vielgestaltigen Schaffens nur einen kleinen, dennoch bedeutenden Rang ein (Edition: Schr.). Überliefert sind, ausschließlich in den Handschriften C und J, 51 Strophen in sieben Tönen, von denen vier seit dem 15. Jahrhundert im Meistergesang rezipiert wurden (Ton XVIII [18] wurde unter dem Namen Spiegelweise Frauenlob zugeschrieben, Ton XXV [25] Aspiston, Ton XXXI [31] Morgenweise, Ton XXXII [32] Hofton; Edition der Melodien: Sps., S. 178–185; römische Zählung der Töne nach Sps., arabische nach Schr.); sämtliche übrigen Strophen in Konrads Tönen gelten als unecht. Alle Töne Konrads weisen den dritten Stollen auf, dessen „Durchsetzung“ wohl maßgeblich ihm zu verdanken war. Auffallend sind das starke Hervortreten klanglich-rhythmischer Elemente, der hochrhetorische Stil und die anspruchsvolle Bildlichkeit. Die stilistische Annäherung der Töne 19 (vier Strophen) und 23 (drei Strophen) an Konrads Minnelyrik stellt ein in der Spruchdichtung des 13.  Jahrhunderts nahezu singuläres Experiment dar  – aufgenommen wurde es nur vom Kanzler (s.  u.) –, mit dem Konrad die Grenze zwischen Spruchdichtung und Minnesang spielerisch verwischt. Geistliche Themen (Trinität, Christus, Eucharistie, Maria, Memento mori, z.  T. mit Anspruch auf spekulativ-theologische Kompetenz; vgl. dazu Miedema, Compilator) finden sich in sieben Strophen. Unter den weltlichen Sprüchen spielt die politische Thematik nur eine geringe Rolle, hierher rechnen kann man lediglich die beiden Strophen auf Rudolf von Habsburg (Schr. 32,316), gedichtet 1273 oder bald danach, sowie auf den Straßburger Bischof Konrad von Lichtenberg (Schr. 32,361). Mit dem Bereich Kunst befassen sich vier Strophen (Schr. 32,166 u. 181 gegen nicht namentlich genannte hochstaplerische Dichterkonkurrenten; Schr. 32,286 gegen den Meißner; Schr. 32,301 Lob des Dichtens und Singens). Frauen, die in rechter Weise zu lieben verstehen, werden in drei Strophen gerühmt (Schr. 31,96; 32,91 u. 106). Die übrigen 35 Sprüche richten sich mit Herrenlehre und mit dem Lob der Freigebigkeit an ein adliges Publikum, vielleicht an die Angehörigen der Basler Oberschicht. Insgesamt ist Konrads Spruchwerk in weitem Umfang relativ allgemein gehalten. Aussagen über seine Lebenswirklichkeit lassen sich so gut wie nirgends erkennen. – Unter dem zweifelhaften Namen A l t e r M e i ß n e r findet sich in Handschrift C eine Strophe in Konrads Ton XXXII (32) (Maria und ihr Kind als Spiegel, der uns im Alter das Lesen der edelen schrift erleichtert; Edition: HMS II,115); unter dem gleichen Autornamen stehen auch zwei Strophen im Frau-Ehren-Ton Reinmars von Zweter (Wahre und falsche Freundschaft; Edition: Roe. 249  f.). Ohne das Vorbild Konrads ist der etwas spätere K a n z l e r nicht zu denken. Ihn genauer zu datieren, ist angesichts des völligen Mangels biographischer Spuren in



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seinen Texten unmöglich. Überliefert sind, in erster Linie in Handschrift C, 14 Minnelieder und 44 Spruchstrophen in fünf Tönen (Edition: KLD 28) – in der Zeit nach Walther von der Vogelweide war der Kanzler der neben Konrad einzige professionelle Autor, in dessen Werk beide Haupttypen der Lyrik breit und in annähernd gleichem Umfang vertreten sind. Die Minnelieder suchen mit ihren beiden Typen der Sommerund Winterlieder den engen Anschluss an Konrads Vorbild. Die Spruchtöne I, II und XIII setzen sich deutlich und überbietend mit Konrads Tönen XIX (19), XXIV (24) und XXIII (23) auseinander; lediglich die Töne  III und XVI (Form: AA/BB) stehen dem Vorbild fern; die einzige erhaltene Melodie ist die zu Ton II, der bei den Meistersingern, die den Kanzler unter die Zwölf alten Meister zählten, Goldener Ton genannt wurde (Edition: Sps., S.  163–167). Die Sprüche bieten vereinzelt religiöse Themen, vorwiegend behandeln sie Herren-, Tugend- und Morallehre, in einigen Strophen geht es – ohne direkte politische Stellungnahmen – um Zeitkritik, einige Male um die Situation des auf Gönner angewiesenen Fahrenden, gelegentlich zeigt der Kanzler as­ tronomische Kenntnisse. Ton XIII kleidet nach dem Vorbild Konrads spruchtypischen Inhalt in die Form eines dreistrophigen reimreichen Winterliedes. Von dem niederdeutsch-mitteldeutschen Fahrenden R u m e l a n t v o n S a c h s e n (ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.8) überliefert Handschrift J 105 Strophen in zehn eigenen Tönen (die Melodie zu Ton IX wurde nicht aufgezeichnet), ferner sind ihm durch Randnotizen zwei Strophen in Singaufs Ton und eine im Langen Ton (Ton I) Frauenlobs zugewiesen; neben Parallelüberlieferung zu Spruchstrophen enthält Handschrift C auch drei Minnelieder Rumelants, der damit einer der wenigen professionellen Spruchdichter war, der sich schöpferisch auch mit diesem Liedtyp befasst hat (Edition: Krn., Ruw.; Melodien: Sps., S. 370–377). Aus den zahlreichen Strophen, die sich panegyrisch auf zeitgeschichtliche Ereignisse und Persönlichkeiten beziehen (Herzog Ludwig II. von Bayern, Rudolf von Habsburg, Graf Gunzelin III. von Schwerin, zwei mecklenburgische Herren Zabel, Barnim I. von Pommern, Albrecht I. von Braunschweig, den ermordeten Erik V. Klipping von Dänemark, Erik VI. Menved von Dänemark), lassen sich als äußerste Daten für Rumelants Schaffen die Jahre 1273 und 1286, ferner Hinweise auf Aufenthaltsorte gewinnen, doch war er sicherlich auch vorher und danach literarisch aktiv. Rumelants Töne zeichnen sich durch einen ausgesprochen einfallsreichen Umgang mit der Formidee des dritten Stollens aus, die Umfänge sind auf ein mittleres Maß beschränkt, übertriebene Kürze oder Länge werden gemieden. Die Meistersinger haben seine Töne – sowenig wie die Friedrichs von Sonnenburg und des Meißners – nicht rezipiert. Rumelants Dichtungen sind anspruchsvoll und vielfach originell. Er war verwickelt in Polemiken gegen Singauf, den Marner, dem er jedoch einen schönen Nachruf widmete, und gegen weitere, nicht namentlich genannte Kollegen; auch am wîpvrouwe-Streit um Frauenlob war er beteiligt (vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 164–181, 188–246, hier bes. S. 207–210). Zahlreiche Strophen behandeln religiöse Themen (Lob Gottes, Maria, Inkarnation, Passion), ferner geht es (wie üblich) um Weisheits- und Herrenlehre. Häufig finden sich Strophenverbindungen (vgl. Tervooren, Einzelstro-

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phe, S. 223–248; auch oben → Kapitel VI.2). – An dieser Stelle ist Rumelants Gegner S i n g a u f zu erwähnen. Von ihm stammen vier in Handschrift J überlieferte Strophen in einem eigenen kurzen Ton (Edition: C.-W; Melodie: Sps., S. 385). Str. 1 rühmt schame, zuht, milte, diemuotikeit usw. als Ausrüstung des Ritters; in Str. 2 klagt der Sänger über den Verlust seines Gönners und den der milte überhaupt; Str. 3 und 4 enthalten Rätsel. Str. 3 beginnt mit der Feststellung, um das Rätsel lösen zu können, brauche auch ein erfahrener Meister drei weitere kluge Helfer. In zwei Strophen in Singaufs Ton löst Rumelant das Rätsel von Str. 3 (Ruw. XI,1 u. 2), in zwei weiteren Strophen (Ruw. VIII,2 u. 3) rügt er Singaufs Überheblichkeit: Als überlegene Sänger werden ihm der Meißner, Konrad von Würzburg, Höllefeuer und der Unverzagte vor Augen gestellt (vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S.  170–179; ferner den ausführlichen Kommentar bei Krn.). Der Namensgleichheit wegen sei hier R u m e l a n t v o n S c h w a b e n angeschlossen, von dem Handschrift J nach Rumelant von Sachsen vier Strophen in einem eigenen Ton tradiert (Edition: HMS III,21; Melodie: Sps., S.  378). Rumelants Str. 3 rühmt zwei 1275 und 1277 verstorbene Tiroler Adlige; in der Lobstrophe 4 ist der Name des gerühmten Herrn in der Handschrift getilgt; Str. 1 und 2 befassen sich mit der Problematik des Lobens. – Der am Almentschema orientierte Ton wurde von dem politisch bedeutenden Grafen A l b r e c h t ( I I . ) v o n H a i g e r l o c h (urkundlich seit 1258, in einer Schlacht gefallen 1298; vgl. Meves, Regesten, S. 1–108), also einem adligen Dilettanten, für zwei in Handschrift C überlieferte Spruchstrophen mit Minnethematik verwendet (Edition: HMS I,18). Weitere Texte Albrechts sind nicht erhalten; er gilt als einer der Gönner Johanns von Würzburg, des Verfassers des ‚Wilhelm von Österreich‘. Einer der produktivsten Spruchdichter des 13. Jahrhunderts war der so gut wie ausschließlich aus Handschrift J bekannte M e i ß n e r , als dessen Schaffenszeit die Jahre zwischen etwa 1260 und 1290, vielleicht auch darüber hinaus, anzusetzen sind (ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.9). Überliefert sind in Handschrift J 128 ganz oder teilweise erhaltene Strophen in zwanzig Tönen – neben dem Walthers von der Vogelweide ist dies das größte Tönekorpus im Spruchsang überhaupt. Vollstän­ dige Melodien überliefert Handschrift J allerdings nur zu vierzehn Tönen, zwei Melodien sind durch Blattverlust fragmentiert, vier nicht in das Liniensystem eingetragen (kommentierte Textedition: Obj.; Edition der Melodien: Sps., S.  241–252). Wie bei Rumelant von Sachsen fällt auch beim Meißner der variable Umgang mit der Formidee des dritten Stollens auf, mit der freilich nicht ganz so einfallsreich umgegangen wird wie bei Rumelant – die Töne weisen repetierten oder nichtrepetierten Steg auf, der dritte Stollen kann auch variiert oder verkürzt sein. In der Anzahl der verwendeten unterschiedlichen Versarten übertrifft der Meißner alle anderen Tonerfinder des 13.  Jahrhunderts: Die 19 verschiedenen Verslängen reichen von Kürzestversen aus einem Takt bis zu überlangen Versen mit neun Takten. Im umfangreichen Strophenkorpus des Meißners finden sich Lobstrophen auf zeitgenössische Persönlichkeiten (den Reichsministerialen Herdegen von Gründlach [bei Nürnberg], König Ottokar II. von Böhmen – Rudolf von Habsburg wird ermahnt,



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sich gut mit ihm zu stellen, Bischof Hermann von Kammin [in Pommern], die Markgrafen Otto IV., Otto V. und Albrecht III. von Brandenburg, erwähnt wird auch Markgraf Johann, der Vater Ottos IV., gest. 1266, wohl schon als Verstorbener). Wie andere Spruchdichter beklagt auch der Meißner den Zustand des Reiches im Interregnum. Religiöse Strophen finden sich häufig: Lob Gottes und Christi, Wunder Gottes, Gottes Gnade, Heiliger Geist, Trinität, Marienlob, Eva-Ave, die fünf Freuden Marias, allegorische Deutung des Auszugs aus Ägypten, die 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts usw.; die Themenvielfalt der weltlichen Strophen ist außerordentlich: Böse und gute Zungen, Hausehre, Wirt und Gast, Geburts- und Tugendadel, Schelte der Welt, Lob des Rechts, Ritter-, Adels-, Jugend-, Ehelehre, Geiz, Wucher, Lob des guten Ratgebers, „Ja“/„Nein“, Lob der Selbstbeherrschung, Morallehre (in Form einer Loica, Obj. VII,4), Lüge/Notlüge, Lob der mittelmâze, Warnung vor Extremen, wîb/vrouwe, Dichterklage über Erfolglosigkeit und Betrug durch angebliche Gönner, Glücklosigkeit, Armutsklage usw. Der Meißner war in Polemiken gegen die Spruchdichterkollegen Marner und Konrad von Würzburg verwickelt (vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S.  151–163); er wurde von Fegfeuer und Konrad von Würzburg angegriffen, von Rumelant von Sachsen und Hermann Damen als bedeutendster lebender Spruchdichter neben Konrad gerühmt. Wie seine Kollegen hatte er einen hohen Begriff von seiner Kunst, er betont seine Gelehrsamkeit und erhebt laientheologischen Anspruch. 2 .   ‚W a r t b u r g k r i e g ‘ : H e i n r i c h s v o n O f t e r d i n g e n G e k a u f t e r o d e r F ü r s t e n t o n . Um 1260 wurde dem ‚Rätselspiel‘ des ‚Wartburgkrieges‘ das ‚Fürstenlob‘ vorangestellt, dessen Thema der Sängerkrieg am Thüringer Hof ist (Edition: Hal.). Der Text ist in einem eigenen Ton abgefasst, der unter dem Namen Gekaufter oder Fürstenton im 15. Jahrhundert (Handschrift k) Heinrich von Ofterdingen zugeschrieben wurde, durch dessen Auftritt das ‚Fürstenlob‘ eröffnet wird, bei den Meistersingern seit dem 16. Jahrhundert galt jedoch der Ehrenbote (s.  u.) als Tonerfinder. Die älteste Melodieüberlieferung findet sich in Handschrift J (Edition der Melodie: Sps., S. 420–424). Der Ton, der außerhalb des ‚Wartburgkrieges‘, erstmals für einen in Handschrift H (Anhang zu Handschrift D) im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts überlieferten anonymen Fün­ferbar benutzt wurde (RSM 1Wartb/1/100; Edition: HMS III, S. 384  f. u. ö.), wurde im späteren Meistergesang mehrfach verwendet. Strukturell gehört der Ton, der im Abgesang nach einem repetierten Steg einen verkürzten dritten Stollen mit darauffolgender Coda aufweist, in die Gruppe der um 1250 entstandenen Töne, deren Autoren den regelrechten dritten Stollen zu vermeiden suchen (Marner, Friedrich von Sonnenburg u.  a.). Ob hinter dem Heinrich von Ofterdingen der Dichtung eine gleichnamige Autorenpersönlichkeit steht, ist umstritten (vgl. Wachinger, Ofterdingen). 3 .   K l e i n e r e A u t o r e n ( i n a l p h a b e t i s c h e r R e i h e n f o l g e ). Keineswegs ein ‚kleiner‘ Autor ist der W i l d e A l e x a n d e r (in C, in J Meister Alexander), vielmehr, trotz eines nur schmalen Werkes, das fast vollständig in Handschrift J, teilweise in Handschrift C (und einigen weiteren Quellen) überliefert ist, einer der bedeutendsten und originellsten Lieddichter seiner Epoche; an dieser Stelle ist er eingereiht, weil

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sein erhaltenes Spruchwerk mit einem Ton und 24 Strophen verhältnismäßig wenig umfangreich ist (Edition: KLD 1). Man sieht in ihm einen oberdeutschen Fahrenden; die Datierung hängt von der Deutung des Spruchs KLD 1,II,4 ab: entweder um 1250 oder um 1285. Außer den Sprüchen haben sich zwei Minnelieder, ein Weihnachtslied, das berühmte, religiös zu verstehende Erdbeerlied und ein Minneleich erhalten; für sich stehen die beiden Strophen IV, die in einer komplizierten, reimreichen Strophenform eine Klage über die Zerrüttung der Christenheit und eine Minneklage enthalten. Im relativ kurzen Spruchton II, der die seltene Form AA//BB aufweist (Melodie: Sps., S. 3), begegnen eine Klage über Frau Welt (Str. 7–9), eine allegorische Beschreibung der Christenheit (Str. 5  f.), eine Allegorie der Herrschaft des Antichrist (Str. 17–21), Hofkritik (Str. 12  f.), eine Klage über die Unbehaustheit des Fahrenden (Str. 16), eine Warnung vor übertriebener huote (Str. 10, 22–23) usw. In II,24 beklagt der Dichter sich, bei den Markgrafen von Burgau (östlich Günzburg an der Donau) keine Aufnahme gefunden zu haben. Auffällig ist die Tendenz zur Verbindung mehrerer Strophen (vgl. Tervooren, Einzelstrophe, S. 175–182, und oben → Kapitel VI.2), ferner die Verwendung von Allegorie und Allegorese; Str. 11 enthält ein Wortspiel, 16 eine Equivoca. D e r v o n B u c h e i n begegnet in Handschrift C als Autor von vier, teils auch unter anderen Namen überlieferten Minneliedern und eines Spruchtons mit drei Strophen (Edition: KLD 5). Man glaubt ihn mit dem zwischen 1251 und 1282 urkundenden Albrecht Pilgrim von Buchein, Ministerialen der Grafen von Calw, identifizieren zu können, der sich offenbar als Gelegenheitsdichter betätigte. Die Sprüche enthalten eine Kritik an Frau Minne, der Besitz heutzutage wichtiger ist als Tugend (KLD 5,V,1), eine Klage über den Tod des Grafen von Calw im Jahr 1262 (KLD 5,V,2) und eine Mahnung an die Damen: Sie sollen ihr Trachten nicht auf nidere, sondern auf hôhe minne richten. – Den E h r e n b o t e n identifizierte Roe., S. 166–175, mit Reinmar von Zweter. Seit Wachingers Artikel ‚Ehrenbote‘ hält man den von den Meistersingern rezipierten Tonerfinder für eine eigenständige Persönlichkeit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts; echte Texte scheinen nicht erhalten zu sein, wohl aber zwei Töne, beide strukturell verwandt mit Ton  II des Kanzlers (s.  o.). (Edition der Melodien: Ton I, Schallweise, unter dem Namen Kupferton auch unter Frauenlobs Namen, Sps., S. 90–92; Ton II, Spiegelton, Sps., S. 29–31). – Fegfeuer s.  u. bei Höllenfeuer. Unter G e l t a r überliefert Handschrift C drei Minnelieder und zwei Spruchtöne mit je einer Strophe, in Handschrift A stehen sie unter dem Frauennamen Gedrut, der meist für den einer Sammlerin gehalten wird (Edition: KLD 13). Ein Ortsname in der ersten Spruchstrophe könnte auf Niederösterreich verweisen. Strukturell sind beide Töne nahe verwandt; inhaltlich geht es um Kritik an Minnesängern. – Ein fahrender Sänger scheint G e r v e l i n gewesen zu sein. Von ihm überliefert Handschrift J einen Spruchton mit vier Strophen (die letzte infolge Blattverlust unvollständig) und die Melodie (Edition: HMS III,10; kommentierte Textedition: Yao [Hg.], Gervelin, Guter und Reinolt von der Lippe; Melodie: Sps., S. 123), inhaltlich: Lob Christi (Str. 1), Lob Marias (Str. 2), Bitte des Sängers für die Freigebigen (Str. 3), wahrer und falscher Hochmut (Str. 4). – Zwei Spruchtöne mit acht bzw. drei Strophen finden sich in Hand-



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schrift J unter G u t e r, die Melodie ist nur zu Ton I aufgezeichnet (Edition: HMS III,13; kommentierte Textedition: Yao [Hg.], Gervelin, Guter und Reinolt von der Lippe; Melodie: Sps., S. 124). Das Schema von Ton I ist nahezu identisch mit dem Ton II des Unverzagten, das von Ton II mit dem von Gervelins Ton. Im Ton I ist ein fünfstrophiges Lied über Frau Welt abgefasst, ferner finden sich drei Strophen mit Tugendlehren; die Strophen des Tons II handeln von Tugenden und Untugenden (vgl. Yao, Tradition). Von H a w a r t überliefern die Handschriften A und C ein dreistrophiges, spruchartiges Lied (Ton  I), einen Kreuzzugsaufruf (II) und zwei originelle Minnelieder (Edition: KLD 19). Sollte die Identifikation mit dem Straßburger Stadtadligen Johann Hawart d. Ä. zutreffen, starb der Autor, der wohl als Gelegenheitsdichter zu gelten hat, im Jahr 1302. Das Spruchlied bezieht sich auf das Interregnum (1254–1273).  – H ö l l e f e u e r und F e g f e u e r, überliefert in Handschrift J bzw. in J und T (= Basel, UB, Cod. N I 3, Nr. 145), erscheinen nicht nur durch ihre Künstlernamen verwandt, vielmehr stellt Fegfeuers Ton  I strukturell lediglich eine Variante von Höllefeuers Ton dar. Ob man an ein Lehrer-Schüler-Verhältnis denken darf, ist freilich unsicher. Höllefeuers schmales Œuvre umfasst sieben Strophen (Edition: C.-W.; Melodie: Sps., S. 155): Tonweihe (Str. 1), Gastfreundschaft (Str. 2), Klage über den üblen Zustand des Reichs (im Interregnum 1254–1273) mit Anklage gegen die daran schuldigen Fürsten (Str. 3 u. 4), Warnung vor Hass und Neid (Str. 5), Armutsklage (Str. 6), Klage über böse und geizige Herren (Str. 7).  – Fegfeuers Ton  I umfasst 16, Ton  II, eine vereinfachte und verkürzte Fassung von Ton I, vier Strophen. Religiöse Themen sind Gott, Christus und Maria, weltliche Strophen handeln über die Aufgaben der Fahrenden, enthalten eine Dichter- und eine Armutsklage, stellen freigebige und geizige Herren einander gegenüber, loben das Turnier, schelten schlechtes Hofgesinde usw. (Edition: Whm.; Melodie: Sps., S. 32  f.). Von dem fahrenden Dichter K e l i n überliefert Handschrift J drei Töne mit den Melodien. Erhalten sind insgesamt 23 Sprüche (Ton I neun Strophen, Ton II vier Strophen, Ton III zehn Strophen). Die Töne I und II sind Kanzonen mit nichtrepetiertem Steg und drittem Stollen, Ton III weist die seltene Form AA//BB auf (Edition: Whm.; Melodien: Sps., S. 173–176). Die ungefähre Datierung ergibt sich aus den Strophen III,6 und 10, die sich mit dem Interregnum befassen. Kelin behandelt, ohne den Anspruch auf Gelehrsamkeit, die üblichen religiösen, moraldidaktischen und berufsständi­ schen Themen. Unter dem Namen R o b i n tradiert Handschrift J zwei Strophen in einem eigenen, mit Kelins Ton III strukturell verwandten Ton mit Melodie (Edition: HMS III,6; Melodie: Sps., S.  364). Inhalt: Rechtes Herrenlob (Str. 1), Klage über den Tod von fünf Sängern: Reinmar (von Zweter?, der Alte?), Walther, Stolle, Neidhart, Bruder Wernher (Str. 2). – Ebenfalls in Handschrift J findet sich unter R u d i n g e r ein vierstrophiges Festtagslied wohl auf Mariae Verkündigung ohne Melodie (Edition: HMS III,7). Der Ton stellt eine Variante von Robins Ton dar. (Vgl. zum möglichen Zusammenhang der beiden Namen Robin und Rudinger Wachinger, Rubin und Rüdeger, Sp. 297  f.)

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Neben zwei Minneliedern werden in C dem S c h u l m e i s t e r v o n E s s l i n g e n zehn Spruchstrophen in fünf Tönen zugeordnet. Vermutlich handelt es sich um einen Gelegenheitsdichter aus dem Ort Esslingen unweit Zürich, der dort, in Zürich, als Schulmeister tätig war (vgl. Bertelsmeier-Kierst, Schulmeister). Die Datierung auf die Zeit um 1280 ergibt sich aus dem Inhalt der vorwiegend politischen Strophen (Edition: KLD 10; Numerierung im folgenden, abweichend vom RSM, nach KLD). Der Schulmeister benutzte für seine Sprüche fast ausschließlich Töne anderer Autoren: Ton  II (drei Strophen) ist Walthers von der Vogelweide Wiener Hofton, III (zwei Strophen) Reinmars von Brennenberg Ton IV, Ton IV (eine Strophe) Walthers KönigFriedrichs-Ton, Ton V (eine Strophe) Marners Ton VII. Einzig Ton I (drei Strophen) ist anderwärts nicht nachgewiesen, muss aber auch nicht unbedingt vom Schulmeister stammen. Die meisten Strophen polemisieren scharf gegen Rudolf von Habsburg, der jedoch auch vor hinterhältigen Unruhestiftern gewarnt wird (II,3); im übrigen klagt der Dichter über unbelohnten Herrendienst (IV) und über die Molesten seiner Impotenz (I,3). Dem Fahrenden S i g e h e r , dessen datierbare Sprüche in die Zeit zwischen 1252 und nach 1272 fallen, werden in Handschrift C ein Marienlied (Ton I) und sechs Töne mit zusammen 18 Strophen zugeschrieben; die Melodien sind nicht überliefert (Edition: Brt.). Ton III umfasst zwei Strophen, in den Tönen II und V sind je drei, in IV und VI je fünf Strophen abgefasst. Den politischen Strophen nach wirkte Sigeher im Umkreis des Stauferkönigs Konrad IV. und am böhmischen Hof (König Wenzel I., Ottokar II.), zum Unglück des Interregnums äußerte er sich dezidiert, teilweise mit antipäpstlicher Tendenz (angemahnt wird in II,2 und 3 die Entscheidung zwischen Konrad IV. und Wilhelm von Holland); religiöse Strophen treten zurück, von Interesse sind einige berufsständische Strophen des Sängers (III,1 u. 2; IV,5). Zwei Strophen (V,1; VI,1) enthalten eine Tonweihe. S ü ß k i n d v o n T r i m b e r g gilt, nicht unumstritten, als der früheste jüdische Dichter deutscher Sprache, vgl. dazu Wachinger, Süßkind; die Burg Trimberg liegt westlich von Bad Kissingen an der Fränkischen Saale; wieso der Dichter sich nach ihr benannte oder benannt wurde, ist unbekannt. Da politische Strophen fehlen, kann Süßkind nur ungefähr in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert werden. Überliefert sind in Handschrift C sechs Spruchtöne mit zusammen zwölf Strophen (Edition: KLD 56): Ton I mit drei Strophen, Ton III mit zwei, die übrigen je eine Strophe; die Töne  I und IV sind bis auf einen minimalen Unterschied metrisch identisch; vom dritten Stollen hat Süßkind sich, ebenso wie Sigeher, fern gehalten. In den Strophen geht es um Tugend- und Geburtsadel, Ehre, Vergänglichkeit, Armut und Reichtum, das Lob der keuschen Frau u.  a. Sehr direkt, ohne Gelehrsamkeit hervorzukehren, äußert sich der Fahrende mit dem Namen D e r U n v e r z a g t e in seinen drei kurzen Tönen mit insgesamt 22 Strophen (Ton I mit acht Strophen, Ton II mit fünf, Ton III mit neun), die mit den Melodien in Handschrift J erhalten sind (Edition: C.-W.; Melodien: Sps., S. 406  f.). Datiert werden kann er aufgrund des überaus ironischen Lobs für Rudolf von Habsburg in Str. III,1 auf



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die Zeit um 1280. Religiöse Strophen fehlen, es geht um Moraldidaxe für den Adel, um die (weitverbreitete) Warnung vor schlechten Ratgebern, um Ritterlehre, um Schelte der geistlichen Fürsten, um den Geiz der Reichen. Gesprochen wird immer wieder aus der kritischen Sicht des gernden; in I,4 wird ein überheblicher Nachwuchssänger kritisiert. Wohl unter die Gelegenheitsdichter einzureihen ist W a l t h e r v o n B r e i s a c h, der vermutlich identisch ist mit einem 1256–1300 urkundlich fassbaren, in Freiburg im Breisgau als Leiter der dortigen Lateinschule tätigen Kleriker (vgl. Meves, Regesten, S. 837–849). Handschrift C überliefert ein Tagelied (Ton II) und ein Marienlied (Ton III), ferner als Ton I einen Spruchton mit sieben Strophen (Edition: KLD 63). In den Sprüchen geht es um den Lobpreis Gottes, um das Lob der Eintracht zwischen Mann und Frau, um Freund und Feind, um das Lob der Treue und um die Bedeutung von „Ja“ und „Nein“. – Da Anhaltspunkte in den Sprüchen fehlen, kann Z i l i e s v o n S a y n (einem Ort in der Nähe von Koblenz), von dem Handschrift J zwei Spruchtöne mit den Melodien überliefert, nicht genauer eingeordnet werden als in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts. Bis auf einen kleinen Unterschied im Reimschema sind die beiden Töne gleichgebaut, die Melodien sind allerdings unterschiedlich (Edition: HMS III,4; Melodien: Sps., S. 450  f.); vgl. dazu oben Süßkind von Trimberg. Der Inhalt der sieben Strophen, in denen sich teilweise eine interessante Bildlichkeit findet, spricht dafür, im Dichter einen Fahrenden zu sehen: Lob des gastlichen Hofes (I,1 mit zeilenweisem Anaphernwechsel: So wol dem hove … / So we dem hove …), gegen falsche Ratgeber (I,2, ebenfalls mit Anaphern), Vergleich eines falschen Mannes mit vergoldetem Kupfer verbunden mit einer Zeitklage (II,1), Gesang soll nur den lobenswerten Mann rühmen (II,2), Schelte habgieriger Herren (II,3), steigen freigebige Herren ständisch auf, so nimmt die Freigebigkeit ab (II,4), Armutsklage (II,5). Spruchdichtung von etwa 1290 bis etwa 1340 Die Textüberlieferung dieses Zeitraums ist allem Anschein nach sehr lückenhaft, da zahlreiche Autoren offenbar nur teilweise oder gar nicht den „Sprung“ in die Sammelhandschriften des 14. Jahrhunderts, in erster Linie C und J, geschafft haben. Das gilt sogar für Frauenlob, dessen Œuvre zum großen Teil aus der wenig zuverlässigen, um 1460 entstandenen ‚Weimarer Liederhandschrift‘ F gewonnen werden muss. Von manchen Autoren sind aus der jüngeren Überlieferung nur Töne, keine Texte mehr bekannt. Zentrale Figur dieser Epoche ist Frauenlob, andere Autoren wie Boppe und Hermann Damen treten hinter ihm zurück. Thematisch bleiben die Texte dieser Phase im Rahmen des Üblichen. Der Anspruch Frauenlobs auf Gelehrsamkeit und artifizielle Sprachgestaltung übertrifft freilich alles, was es bis dahin (und auch danach) im Spruchsang gegeben hat (bzw. geben wird). In formaler Hinsicht ist auffällig, dass Frauenlob den dritten Stollen meidet (ebenso wie Boppe, aber anders als Hermann Damen und weitere Zeitgenossen wie etwa Wizlav). Am Ende des Zeitraums, bei

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Reinolt von der Lippe, werden erstmals Dreierbare sichtbar  – der Spruchsang hat nunmehr die Epoche der prinzipiellen Einstrophigkeit hinter sich gelassen. 1 .   D i e g r ö ß e r e n A u t o r e n . Die hier vorangestellten größeren Autoren sind Boppe, Hermann Damen und Frauenlob. Schaffenszeit B o p p e s waren die achtziger und neunziger Jahre des 13.  Jahrhunderts (ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.10). Gesichert für ihn sind 30 Strophen in seinem Ton I (später Hofton, Langer Ton). Handschrift C überliefert darüber hinaus 20 Sprüche in sieben weiteren Tönen, die mit einer Ausnahme (Ton VIII, eine Strophe) anderen Autoren (Marner, Meißner, Stolle, Wartburgkrieg, Ton  II, Frauenlob, Gast) gehören. Sechs dieser Strophen stammen, wie Parallelüberlieferungen beweisen, mit Sicherheit nicht von Boppe, die restlichen 14 gelten als nicht völlig gesichert (Edition: Alx.). Der bis in die Frühe Neuzeit viel benutzte kunstvolle Ton I, dessen älteste Melodieüberlieferung sich in Handschrift J findet, verhalf Boppe zu einem Platz unter den Zwölf Alten Meistern des Meistergesangs (Edition der Melodie: Sps., S. 18–23); der möglicherweise echte Ton  VIII, der Beziehungen zu den Tönen des Litschauers (s.  u.) aufweist, ist ohne Melodie überliefert. Religiöse Themen sind bei Boppe selten (nur I,1–4; VII,1–4), manche Strophen befassen sich, teilweise katalogartig, mit Tugenden und Untugenden (milte/kerge, zuht/unzuht, triuwe, Falschheit), es findet sich auch eine Ritterlehre (I,15). Grundlegend für die Datierung ist die schöne Totenklage auf den 1287 verstorbenen Konrad von Würzburg (I,21), sind ferner die Strophen, die vermutlich scharf polemisierend (I,8) bzw. lobend (II) an Rudolf von Habsburg († 1291) und an die Markgrafen von Baden (Rudolf I., † 1288, Hermann VII., † 1291) gerichtet sind (I,20); nicht zu datieren ist die Lobstrophe auf die Bewohner des norddeutschen Gaues Stormarn (I,9) und eine polemische Strophe gegen eine Strophe des Meißners (III,2; vgl. dazu Wachinger, Sängerkrieg, S. 157  f.). Auffällig sind stilistische Eigenheiten: Mehrfach finden sich Priameln (I,1, 9, 18 u. 30), anaphorische Reihungen (I,3–4, 17, 21, 27–28; VIII), Kataloge (I,9, 13, 15, 18–20; II; IV; V,2–6), einige Male auch Rätsel (I,8 u. 16; V,1; VII,2), es finden sich Tierbeispiele oder Ähnliches (I,5–7, 24–26), ferner Adynata, wie sie vergleichbar auch in Liedern des Tannhäusers begegnen (IV; V,2–6). Der nur aus Handschrift J bekannte, von den Meistersingern nicht rezipierte H e r m a n n D a m e n wirkte um 1300 in Norddeutschland. Seine Identität mit urkundlich nachweisbaren Personen, etwa einem Rostocker Bürger, ist umstritten, doch wird er nicht für einen Fahrenden gehalten, da die dafür typischen Themen in seinen Sprüchen fehlen. Überliefert sind ein Marienleich (gezählt als Ton I) und 39 Spruchstrophen in fünf Tönen: Ton II mit sechs Strophen, Ton III mit zehn, Ton IV mit elf, Ton V mit neun, Ton  VI mit fünf (Edition: Schl.; Edition der Spruchmelodien: Sps., S. 25–28). Das Umfeld Damens ergibt sich aus seinen sieben Lobsprüchen, gerichtet durchweg an norddeutsche Fürsten der Zeit um 1300: Adolf von Segeberg, Johann von Gristow (zwei Sprüche, der zweite zugleich an dessen Bruder), an drei namentlich nicht genannte Markgrafen von Brandenburg, Waldemar von Schleswig, Otto von Ravensberg, Heinrich von Holstein (vgl. Bumke, Mäzene, S. 630–635; Cölln,



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Fürstenlob). In einer Strophe (III,4) rühmt Damen die Kunst verstorbener Dichter: Reinmar (wohl: von Zweter), Walther, Neidhart, Friedrich von Sonnenburg, Marner, von Ofterdingen (!), Wolfram, Klingsor (!); als beste lebende Meister werden der Meißner und Konrad von Würzburg herausgehoben. Bemerkenswert ist die Strophe V,5, in der der junge Frauenlob, offenbar ein literarisches Wunderkind, vor Hochmut gewarnt wird (vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 182–187). Weitere Strophen befassen sich mit religiösen Themen (Gott, Christus, Maria, Inkarnation usw.) und mit Moraldidaxe (Neider und Verleumder, Ehre, Freundschaft, Reden und Schweigen, Treue usw.). Drei Strophen (IV,1; V,1; VI,1) bieten Tonweihen. Der Stil Damens ist schlicht, der Anspruch besonderer Gelehrsamkeit findet sich darin nicht. Wie Rumelant von Sachsen und der Meißner bemühte sich auch Damen – dessen Töne durchweg dritten Stollen aufweisen – um Originalität bei der Tönegestaltung. Sein Ton II ist (zusammen mit Reinmars des Fiedlers Ton II und Regenbogens Ton III) mit sieben Zeilen, 28 Takten und nur drei Reimklängen der kürzeste Spruchton des 13./14. Jahrhunderts; sein Ton VI hingegen mit 36 Zeilen, 134 Takten und 13 unterschiedlichen Reimklängen der bei weitem längste und umfangreichste. Auch seine übrigen Töne hat Damen auf interessante Weise gestaltet. H e i n r i c h v o n M e i ß e n , genannt F r a u e n l o b , gestorben und beigesetzt 1318 in Mainz, dessen Schaffenszeit wohl um 1290 begann (ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.11), ist mit über 300 für echt oder vermutlich echt gehaltenen Sangsprüchen in neun Tönen der nach Walther von der Vogelweide bedeutendste und produktivste Autor in der Geschichte der Sangspruchdichtung (Edition: GA; Melodien: Sps., S. 34–69). Außer den Sprüchen stammen von ihm drei große Leichs (Marienleich [GA I], Kreuzleich [GA II], Minneleich [GA III]), das strophische Streitgespräch ‚Minne und Welt‘ und sieben (melodielos überlieferte) Minnelieder. Er führte mindestens zeitweise das Leben eines Fahrenden. Urkundlich belegt ist er 1299 bei Innsbruck, 1311 war er (wie Regenbogen) auf dem Ritterfest von Rostock. Wie seine Preisstrophen zeigen, stand er in Verbindung zu Königen und Fürsten (Rudolf von Habsburg, den Königen von Dänemark und von Böhmen, den Herzögen von Bayern, Kärnten, Breslau, Mecklenburg u.  a.); ein wichtiger Gönner war offenbar Peter von Aspelt, den er am Prager Hof kennengelernt haben dürfte, seit 1306 Erzbischof von Mainz. Frauenlobs literarisches Vorbild war Konrad von Würzburg, dessen Tod er in einer höchst kunstvollen Strophe beklagt (GA VIII,26). Frauenlobs literarisches Werk ist nirgends geschlossen überliefert, wichtigste Quellen sind die Handschriften C, J, W, F und k. Die Spruchstrophen verteilen sich sehr unterschiedlich auf die neun Töne, deren Melodien mit Ausnahme der zu Ton II sämtlich überliefert sind (vgl. Brunner, Metrische Strukturen): 115 Strophen der GA stehen im Ton V (Langer Ton), zwölf im Ton VI (Flugton), 43 im Ton VII (Grüner Ton), 26 im Ton VIII (Zarter Ton), 22 im Ton IX (Würgendrüssel), elf im Ton X (Vergessener Ton), 15 im Ton XI (Neuer Ton), neun im Ton XII (Goldener Ton), 60 im Ton XIII (Kurzer Ton). (Zur Zählung: In der GA sind als Töne I– III die drei Leichs, als Ton IV das Gedicht ‚Minne und Welt‘ gezählt; die Zählungen der Töne im RSM und in Sps. weichen davon ab.) Die Töne sind, bis auf den bewusst

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schlichten Kurzen Ton (Ton  II), durchweg sehr artifiziell gestaltet; Ton  IX (in Sps. Ton VI) hat seinen ausgefallenen Namen Würgendrüssel, d.  h. „Kehlenwürger“, wegen des außerordentlichen Tonumfangs der Melodie, einer Undezime, erhalten. Auffällig ist, dass Frauenlob den dritten Stollen konsequent gemieden hat (vgl. oben). Mit Ausnahme des Kurzen Tones und des Flugtones (VI, in Sps. V) wurden alle Töne von den Meistersingern verwendet; ihnen galt Frauenlob, seit dem 16. Jahrhundert für einen doctor theologiae gehalten, als der vornehmste der Alten Meister. Vielfach wurden ihm auch neu erfundene oder von anderen älteren Spruchdichtern stammende Töne unterschoben, das ihm zugeschriebene Tönekorpus umfasste um 1600 nicht weniger als 40 Töne (vgl. die Melodien in Sps., S. 70–117). Inhaltlich bleiben Frauenlobs Sangsprüche – sieht man von esoterischer Gelehrsamkeit, aparten Namen und Fachtermini (vgl. etwa die hebräischen und griechischen Gottesnamen in GA XII,1–3) ab – durchaus im üblichen Rahmen: Geistliches, Moraldidaxe, Herrenlehre, Politik, Kunst und Kunstpolemik (darunter der berühmte wîp-vrouwe-Streit mit dem Kollegen Regenbogen unter Beteiligung Rumelants von Sachsen, vgl. Wachinger, Sängerkrieg, S. 188–246). Das Außerordentliche an seiner Kunst war die aufsehenerregende, von Zeitgenossen und in der Folgezeit viel nachgeahmte Sprachgestaltung: extremer und elaborierter Bilderreichtum, schwerer rhetorischer Schmuck, schwierige Syntax. Durch sie wurde Frauenlob zu einem, wenn nicht dem führenden Vertreter des sog. geblümten Stils. Für große Teile der gleichzeitigen, vor allem aber der nachfolgenden Sangspruchdichtung und des Meistergesangs des 15. Jahrhunderts war er in hohem Maße stilprägend (vgl. GA-S). – Deutlich in Frauenlobs Nachfolge stehen zwei zeitgenössische Kleinautoren: der Junge Meißner und der Urenheimer. Im J u n g e n M e i ß n e r vermutet man einen urkundlich 1303 in Tirol nachgewiesenen Fahrenden, Str. II,1, der Lobspruch auf Ludwig von Oettingen (die einzige zeitgeschichtliche Strophe), muss vor 1313, dem Sterbejahr des Grafen, gedichtet worden sein. Vom Jungen Meißner haben sich 29 als authentisch angesehene Spruchstrophen in drei Tönen, außerdem zwei Minnelieder erhalten (Edition: Pep.); Hauptquelle sind die Handschriften B und C. Ton I (25 Strophen) greift Frauenlobs Langen Ton mit einer minimalen Veränderung auf: Die vorletzte Zeile von Frauenlobs Ton ist ausgelassen, die Melodien sind bis auf diese Auslassung ebenfalls identisch (Edition: Sps., S. 162); auch Ton III (zwei Strophen) ist eine Tonübernahme, nämlich von Ton  II des ‚Wartburgkrieges‘ (Klingsor, Schwarzer Ton); lediglich Ton  II (zwei Strophen) kann anderswo nicht nachgewiesen werden. Inhaltlich geht es um Geistliches, Ritter-, Minne- und Tugendlehre. – Zurückhaltender ging der U r e n h e i m e r, von dem Handschrift J zwei Strophen ohne die Melodie überliefert, mit dem Tonvorbild, ebenfalls Frauenlobs Langem Ton, um; das Schema ist hier metrisch und in den Reimen etwas vereinfacht (vgl. Brunner, Formgeschichte, S.  151). Str. 1 behandelt das verbreitete Thema Geiz und Freigebigkeit, Str. 2 rühmt den 1304/05 verstorbenen Grafen Otto I. von Anhalt-Aschersleben als Lebenden (Edition: HMS III,11). 2 .   K l e i n e r e A u t o r e n . An erster Stelle ist hier R e g e n b o g e n zu nennen, der vermutlich eher ein ‚größerer‘ Autor war, dessen als authentisch angesehene



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Texte und Töne jedoch nur in sehr sparsamer Auswahl auf die Nachwelt gekommen sind. Bei den Meistersingern war er der neben Frauenlob, dem Marner und Heinrich von Mügeln angesehenste der Alten Meister. Ihm wurden insgesamt 17, vielfach sehr häufig benutzte Töne zugeschrieben (Melodien: Sps., S. 314–355). Als Fahrender ist er 1302 urkundlich in Tirol nachgewiesen. Erhaltene Lobstrophen und Totenklagen (alle im Ton I, der Briefweise, abgefasst) beziehen sich auf den Straßburger Bischof Konrad von Lichtenberg († 1299), Markgraf Otto von Brandenburg († 1308) und Herzog Waldemar von Schleswig († 1312); auch besuchte Regenbogen, ebenso wie Frauenlob, 1311 das Rostocker Ritterfest. Verbundenheit mit Frauenlob ist auch durch den wîp-vrouweStreit bezeugt (s.  o.). Der einzige durch echte Texte gesicherte Ton ist die Briefweise (Ton I), doch werden auch drei weitere Töne für authentisch gehalten (Ton II = Grauer Ton; Ton III = Grundweise, Kurzer Ton, auch: Paratweise; Ton IV = Langer Ton). In den fünf Strophen des Tones I in C geht es um Ständelehre, Frauenlehre, um das Lob der Sieben freien Künste (Edition: HMS II,126), die sechs Strophen im Berliner GrimmNachlass (deren Edition durch Gisela Kornrumpf noch aussteht) enthalten Lobreden, Totenklagen und Strophen auf das Ritterfest von 1311. Ebenfalls lückenhaft erhalten ist nach dem Verlust von drei Blättern in Handschrift J zu Beginn seines Korpus das Œuvre des norddeutschen Fahrenden oder Stadtbürgers W i z l a v , zu datieren in die Zeit um 1300 und in das frühe 14.  Jahrhundert. Wizlavs erhaltenes Werk umfasst 16 Minnelieder und 16 Spruchstrophen in sechs Tönen mit den Melodien. Ton Ia enthält eine fragmentierte Tonweihestrophe, Ton I umfasst zehn, Ton II drei Strophen, in allen anderen Tönen findet sich nur je eine Strophe (Edition: Werg [Hg.], Wizlav; Edition der Melodien: Sps., S. 434–437). Spruch  I,10 rühmt einen Grafen von Holstein, gemeint ist Erich  I. († 1348), in den übrigen Strophen geht es (wie üblich) um religiöse und weltliche Themen (Memento mori, Mariae Verkündigung, Gottes Weisheit, Anrufung Jesu, Nebukadnezars Traum, Bitte um Sündenvergebung; Belohnung eines jungen Mannes, Schelte des Fatalismus, ein Rätsel, Erzählung von einem römischen Ritter). – In Wizlavs Strophe IV wird der U n g e l e h r t e als Vorbild genannt. Es handelt sich um einen Dichter, der möglicherweise identisch ist mit einem im Jahr 1300 in Stralsund nachgewiesenen Hausbesitzer. Texte sind nicht erhalten, doch ist der Name in späterer Zeit (zuerst in der auf etwa 1359 zu datierenden lateinischen ‚Ungarnchronik‘ Heinrichs von Mügeln) mit dem im Meistergesang bis in das 17. Jahrhundert benutzten Schwarzen Ton verbunden; der Ton steht strukturell den Tönen Wizlavs nahe (Edition der Melodie: Sps., S. 403). Ein weiterer norddeutscher Spruchdichter ist der in Handschrift J mit einem Ton und fünf Strophen vertretene G o l d e n e r, der ebenfalls auf die Zeit um 1300 zu datieren ist (Edition: HMS III,19; die Melodie ist nicht erhalten). Hier finden sich Lobstrophen auf Markgraf Otto IV. von Brandenburg († 1298) und Fürst Wizlav III. von Rügen († 1325), ferner geht es um Herrenlehre. Der Ton ist strukturell verwandt mit Hermann Damens Ton V.  – Als jüngster der in Handschrift J aufgenommenen Spruchdichter hat R e i n o l t v o n d e r L i p p e zu gelten. Er wird identifiziert mit dem 1332 bis 1356 urkundlich bezeugten Sohn eines Paderborner Stadtgrafen. Seine in zwei unter-

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schiedlichen Tönen abgefassten geistlichen Texte sind dreistrophige Spruchlieder, sie stehen also bereits für den Übergang von der prinzipiellen Einstrophigkeit zur Barbildung. Das erste Lied klagt über die Verlockung durch die Welt und bittet Gott um Hilfe zur Reue, das zweite behandelt die Einladung zum Abendfest des Königs von Zion und schließt mit einer Schelte der Welt (Edition: HMS III,18; mit Kommentar: Yao [Hg.], Gervelin, Guter und Reinolt von der Lippe; Edition der Melodie zu Ton I: Sps., S. 363; die Melodie zu Ton II ist nicht überliefert). – Bis auf Kleinigkeiten strukturell identisch mit Reinolts Ton II ist der in der Überlieferung als Langer Ton oder Hofton (Müglings) bezeichnete Spruchton M ü l i c h s v o n P r a g (Edition: Cramer  IV; Edition der Melodie: Sps., S. 277–279). Die Datierung Mülichs auf das frühe 14. Jahrhundert ergibt sich ebenfalls aus der Benutzung des Tons in Mügelns ‚Ungarnchronik‘. Ob Reinolt von der Lippe diesen Ton entlehnt hat oder ob umgekehrt Mülich der Nehmende war, auch ob die Melodien identisch waren, lässt sich nicht ermitteln. Ein in diesem Ton verfasster Text Mülichs hat sich nicht erhalten; überliefert ist von ihm in Handschrift k ein als „Reihen“ bezeichneter dreistrophiger Frauenpreis (Edition: Cramer II, Mülich I; Edition der Melodie: Sps., S. 280  f.). – Anschließen lässt sich hier P f a l z v o n S t r a ß b u r g , dessen Name wiederum lediglich im Zusammenhang mit einem Ton, der Rohrweise, überliefert ist; der Ton entstand im frühen 14. Jahrhundert, er ist strukturell engstens verwandt mit Mülichs Spruchton und dem Ton II Reinolts von der Lippe (Edition: Cramer IV; Edition der Melodie: Sps., S. 312  f.). – Zu den Tonautoren ohne Textüberlieferung aus dieser Zeit gehört schließlich noch der Z w i n g e r , dessen in späterer Zeit vielbenutzter Roter Ton kurz vor oder nach 1300 entstanden ist (Edition: Cramer  III; Edition der Melodie: Sps., S.  454–456); strukturelles Vorbild war der melodielos überlieferte Ton IX Rumelants von Sachsen. Möglicherweise nach Litschau bei Zwettl (Niederösterreich) nannte sich der L i t s c h a u e r , Zeitgenosse Boppes, wohl ein Fahrender, von dem in den Handschriften C und J zwei Töne mit je sechs Strophen überliefert sind, vom zweiten Ton auch die Melodie (Edition: C.-W.; Edition der Melodie: Sps., S. 210). Religiöse und politische Strophen fehlen, es finden sich Themen wie Schönheit und Tugend bzw. Untugend, Unheil durch Lüge und Verleumdung, geizige Reiche  – freigebige Arme, Schande durch Geiz, Herrenlehre, der Dichter will die Bösen hassen, die Guten loben, Lob der Sachsen usw. – das typische Themenrepertoire eines gernden. Ein Sonderfall ist E b e r h a r d v o n S a x , ein 1309 in Zürich urkundlich nachweisbarer Dominikanermönch freiherrlicher Herkunft. Von ihm überliefert C ein zwanzigstrophiges Marienlob in einem eigenen Ton (RSM 1ZZEberhS/2/1), der strukturell eher aus lateinischen Strophenformen (Hymnen) abgeleitet zu sein scheint. In die Geschichte der Spruchdichtung gehört der Ton durch den Umstand, dass in ihm auch drei Spruchstrophen abgefasst sind (RSM 1ZZEberhS/2/2), die in Handschrift C am Ende des Korpus Ulrichs von Liechtenstein stehen, in der Regel aber Eberhard von Sax zugeschrieben werden; Themen sind: eine Zeitklage, Lob der Frau, Ermahnung der Ritterschaft. Schließlich findet sich in C unter Eberhard von Sax noch eine fragmentierte geistliche Spruchstrophe in Konrads von Würzburg Ton XXXII (Edition der



Der Sangspruch im 14. und 15. Jahrhundert 

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unter Eberhards Namen überlieferten Strophen: SM 4; der unter Ulrich von Liechtenstein überlieferten Strophen: KLD 58,LIX). Ein weiterer Zeitgenosse der bisher genannten Autoren ist Johann von Ringgen b erg, der mit einem 1291 bis 1350 urkundlich nachweisbaren adligen Vogt von Brienz (im heutigen Schweizer Kanton Bern), Gefolgsmann Kaiser Ludwigs des Bayern, identifiziert wird. Handschrift C überliefert 17 Spruchstrophen in seinem nach dem Vorbild des Frau-Ehren-Tons Reinmars von Zweter geformten einzigen Tones (Edition: SM 13). In den religiösen Strophen geht es um das Lob Gottes, Christi, Marias, um Bitte um Hilfe beim Jüngsten Gericht, um eine Klage über die Treulosigkeit der Welt, verbunden mit einem Memento mori; in den weltlichen um Treue und Untreue, mâze und unmâze, milte und kerge, um Klage über Gier nach weltlichem Gut, die Würde der Frauen, die Unbeständigkeit des Glückes, um guoten muot, um Warnung vor Falschheit. Verständlicherweise fehlen bei diesem adligen Dilettanten die für gernden typischen Themen. Ausg. Alx.; Brt.; Brunner (Hg.), Früheste deutsche Lieddichtung; Brunner [u.  a.] (Hg.), Überlieferung Walthers; Cramer; C.-W.; GA; GA-S; Hal.; HMS; KLD; Krn.; L./Bein; Mas.; MF; MFMT; Obj.; Pep.; Roe.; Ruw.; Schl.; Schr.; Schw.; Sieb.; SM; Sps.; Walther/Siebert (Hg.), Codex Manesse; Werg (Hg.), Wizlav; Whm.; Wms.; Yao (Hg.), Gervelin, Guter und Reinolt von der Lippe; Zapf; Zck. – Lit. Bein, Walther; Bertelsmeier-Kierst, Schulmeister; Brem, Gattungsdifferenzen; Brem, ‚Herger‘/ Spervogel; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Metrische Strukturen; Brunner, Porträt; Brunner/ Hahn [u.  a.], Walther; Brunner/Schrenk, Tannhäuser; Bumke, Mäzene; Cölln, Fürstenlob; Ehrismann, O., Walther; Gerdes, Wernher; Grubmüller, Regel; Hahn, R., Spruchdichter; Haustein, Marner-Studien; Honemann, Herger; Huber, C., Liebesfiktion; Kornrumpf, Brennenberg; Kornrumpf, Sonnenburg; Lichtenhan, Strophengruppen; Lieb, Modulationen; Ludwig, Priameln; Meves, Bezeugungen; Meves, Regesten; Miedema, Compilator; Müller, U., ‚Herger‘; RSM; Schiendorfer, Fremdling; Schiendorfer, Singenberg; Schiendorfer, Wengen; Schnell, R., Minnesang; Scholz, Walther; Schubert, M. J., Hügeliet; Stackmann, Gîte; Tervooren, Doppelfassungen; Tervooren, Einzelstrophe; Tervooren, Spervogel; Tervooren/Bein, Fragment; Tomasek, Gottfried; Ukena-Best, ‚Welt‘-Sprüche; Wachinger, Ehrenbote; Wachinger, Ofterdingen; Wachinger, Rubin und Rüdeger; Wachinger, Sängerkrieg; Wachinger, Süßkind; Yao, Tradition.

2 Der Sangspruch im 14. und 15. Jahrhundert

Michael Baldzuhn

Abgrenzungen Die Forschung hat das 14. und 15.  Jahrhundert innerhalb der Sangspruchtradition lange nicht als Abschnitt eigenen Rechts wahrgenommen. Ihre die mehrhundertjährige Sangspruchtradition binnendifferenzierenden Begriffe sind daher bis heute nicht aufeinander abgestimmt. So spricht das dem Sangspruch nach Frauenlob geltende Kapitel eines Einführungsbändchens (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 124–126) vom „Ende des Sangspruchs“. Hingegen lebt er im vorliegenden Handbuch als „Sangspruch im 14. und 15. Jahrhundert“ fort. Die Einleitung des RSM wiederum spricht von

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 Historische Entwicklung

„eine[r] zweite[n], […] spätmittelalterliche[n] Periode der m e i s t e r l i c h e n L i e d k u n s t “ (Bd. 1, S. 2; Hervorhebung M. B.). Übereinstimmung besteht aber darin, dass die Gattung im 14. wie im 15. Jahrhundert nachhaltigem Wandel unterliegt: „Über den Kanon der Sangspruchdichter und damit über das Ende der Sangspruchdichtung gibt es in der Forschung einen unausgesprochenen Konsens. Praktisch enden die meisten Untersuchungen mit Frauenlob und Regenbogen“ (Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 124). Die Reihe namentlich bekannter, an Höfen auftretender Autoren dünnt nach Frauenlob und Regenbogen ersichtlich aus und bricht im 15. Jahrhundert ganz ab. Das zeigt ein abnehmendes Interesse an der Gattung bei ihrer alten Zielgruppe an. Auch die Überlieferung, worauf das RSM an erster Stelle verweist (vgl. auch Tervooren, Sangspruchdichtung, S.  124), vermittelt dieses Bild. Nach der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J entstehen für circa ein Dreivierteljahrhundert keine vergleichbar kostspielig und vergleichbar gattungszentriert angelegten Sammlungen mehr. Die späteren sind dann von bedeutsam verändertem Zuschnitt. Weiterhin benennt das RSM einen folgenreichen Formenwandel: „das prinzipielle Aufgeben [der] Eigenständigkeit der Einzelstrophen“ (Bd. 1, S. 2), mithin die Durchsetzung des mehrstrophigen Liedes. Sie ist bei Heinrich von Mügeln (3. V. 14. Jh.) vollständig vollzogen (vgl. auch Tervooren, ebd., S. 125). Nicht zuletzt betritt ein neuer Typus von Autoren die Bühne: der extensive Verwender nicht mehr vorrangig eigener, sondern fremder Sangspruchtöne angesehener älterer Spruchdichter (vgl. RSM, Bd. 1, S. 3 und Tervooren, ebd., S. 125). Die Indizienreihe für einen Wandel ließe sich verlängern. Manche weisen in die ältere Gattungsgeschichte zurück (s. zur Fremdtonverwendung z.  B. Kornrumpf/ Wachinger, Alment). Die Veränderungen treten nicht von heute auf morgen ein, sondern vollziehen sich über Dezennien hinweg. Sie müssen folglich als Prozess beschrieben werden. Das gilt gleichermaßen für die andere Seite des Zeitabschnitts, der vom Meistergesang markiert wird. Dessen Entstehung datiert das RSM noch in die ‚meisterliche Liedkunst‘ hinein: „In dieser Periode entstand, für uns im einzelnen nicht genau greifbar, der institutionalisierte städtische Meistergesang“ (RSM, Bd. 1, S. 3). Man sollte sich bewusst halten, dass das RSM „von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zu der durch die Reformation veranlaßten Neuorientierung des Meistergesangs durch Hans Sachs eine zweite, die spätmittelalterliche Periode der meisterlichen Liedkunst ansetz[t]“ (ebd., S. 2), demnach nicht der Meistergesang als solcher, sondern erst seine nachreforma­ torische Ausprägung einen letzten Gattungsabschnitt markiert. Zwar liegt das zeitlich nicht weit auseinander (4. V. 15. Jh. statt 1. V. 16. Jh.). Aber für die Bewertung einzelner Phänomene in dieser Phase kann es ebenso wie für Deutungen größerer Reichweite einen erheblichen Unterschied machen, ob man in dezidiert produktionsästhetischer Wahrnehmung die reformatorische Neuausrichtung des Meistergesangs durch Hans Sachs als Einzelleistung – auf der Basis eines in Gesellschaften organisierten Meistergesangs – durch eine Zäsur in der Binnenperiodisierung hervorhebt oder ob man die nachhaltige Neuerung eher in der vorangehenden Organisation des Meistergesangs in Gesellschaften verortet, also in einem möglicherweise überindividuell sich vollzie-



Der Sangspruch im 14. und 15. Jahrhundert 

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henden Phänomen. Im letzten Fall werden zudem weitergehende Unterscheidungen erforderlich, denn Phänomene der Institutionalisierung lassen sich in der Geschichte des Sangspruchs bereits von Beginn an und später gerade auch in der meisterlichen Liedkunst des 14.  Jahrhunderts aufweisen (s.  u. zur Mehrstrophigkeit), so dass die Gründung von Meistersinger-Gesellschaften, um als neuartig abgehoben werden zu können, einer noch weitergehend präzisierenden begrifflichen Erfassung bedarf. Trotz dieser Unschärfen hat sich der Ansatz einer eigenen Phase der Gattungsgeschichte zwischen Sangspruch und Meistergesang als ‚meisterlicher Liedkunst‘ im Übergang vom höfischen Sangspruch zum städtischen Meistergesang als klärend erwiesen. Man vergegenwärtige sich nur, dass bereits späte Sangspruchdichter wie Frauenlob, die sich den Erwartungen des 19. Jahrhunderts nicht fügten, gelegentlich als Meistersinger rubriziert wurden. Wesentliche Fortschritte der Forschung markierten im 20. Jahrhundert insbesondere Stackmanns ‚Vorstudien‘ zu Heinrich von Mügeln (1958, vgl. bes. S. 8–10), Brunners ‚Alte Meister‘ (1975, vgl. bes. S. 1–65), die Dissertation Schanzes zur ‚Meisterlichen Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs‘ (1983/84, vgl. bes. Bd.  I, S.  2–11), schließlich die konzeptionellen Überlegungen zur Anlage des RSM (vgl. RSM, Bd.  1, S.  1–14, Bd.  2.1, S.  XXVII–XLI; Wachinger, Tönekatalog). Nachhaltig ins Licht gerückt ist damit eine Periode, die zwar bisher kaum systematisch bearbeitet wurde (letzte Überblicke/Forschungsberichte: Rettelbach, Bilanz; Rettelbach, Skizze; Volfing, Meisterlieder), die aber unabhängig von Standpunkten des ‚Nicht mehr‘ (Sangspruch) oder des ‚Noch nicht‘ (Meistergesang) als Erscheinung eigenen Rechts besondere Aufmerksamkeit verdient. Literatursoziologisch greift man einen Abschnitt der Gattungsgeschichte, in der sich der Übergang von der höfischen in die städtische Sphäre zwar nicht bruchlos (s.  u. zur Überlieferung), aber doch recht dicht belegt vollzieht und der daher für die paradigmatische Modellbildung vergleichbarer Übergänge spätmittelalterlicher Literaturen besonders geeignet ist. Gattungshistorisch führt er an den spätmittelalterlichen Umbau des gesamten Systems lyrischer Gattungen heran (vgl. Brunner, Liebeslied), an die sich umformende Leichdichtung, an das Verschwinden des Minnesangs, an die sich herausbildenden Anschlussformen des Singens von Minne und Liebe (‚Liebeslied‘). Medienhistorisch vollzieht sich der Wandel der älteren höfischen Aufführungspraxis in eine wesentlich urbane im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wobei letztere zur Frühen Neuzeit hin deutlich sichtbar an Terrain gewinnt. Komparatistisch betrachtet, lässt sich für alle diese Aspekte auf mehr oder minder vergleichbare Vorgänge in anderen Literaturen Europas, vor allem in Frankreich, verweisen (vgl. den Hinweis bei Tervooren, Sangspruchdichtung, S. 125). Im engeren Gattungszusammenhang schließlich kann einerseits die Erforschung des Meistergesangs von weiterreichenden Einblicken in seine Vorgeschichte nur profitieren. Andererseits kann weitergehende Einsicht in den Wandel der Gattung im 14. und 15. Jahrhundert auch für die ältere Sangspruchdichtung von Aufschluss sein.

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 Historische Entwicklung

Quellen: Handschriften, Texte, Melodien Die mangelhafte Erforschung des fraglichen Zeitraums empfiehlt, sich zunächst des einschlägigen Quellenbestands zu versichern. Hier ist, wie für den älteren Sangspruch und jüngeren Meistergesang, die Erschließung der Handschriften-, Druck- und Textüberlieferung durch das RSM grundlegend. Die in Bd. 1 (S. 59–318) erfassten Handschriften werden zwar nicht chronologisch präsentiert, doch kann man sich über den Umweg der Strophen- und Liednummern, die zum Bestand jeder Handschrift angegeben werden, einen Überblick über die für unseren Zeitraum wichtigen Zeugen verschaffen. Das sind zunächst alle, deren Nummern in die Bände 3, 4 und 5, also den ‚älteren‘ Teil des RSM führen (z.  B. 1Frau/…, nicht 2HagG/…), und hier nun die Handschriften, die Töne und Lieder von Berufsmeistern des 14. und 15. Jahrhunderts enthalten (zu diesen s.  u.; die Zählung der Töne und in diesen der Lieder setzt dann in der Regel mit „1“ ein), ferner die Handschriften, die von älteren Sangspruchdichtern erfundene oder ihnen zugeschriebene Töne überliefern; deren Strophen und Lieder sind mit Nummern erst ab 100 und 500 erfasst, denn diese vergibt das RSM erst an die – hier nun einschlägige – ‚Spätüberlieferung‘ eines Sangspruchdichters. Nützlich ist nach wie vor das Handschriftenverzeichnis in Schanze, Liedkunst  II (S.  138–257). Eine  – zu anderen Zwecken angelegte  – grobe Chronologie der Manuskripte findet sich bei Baldzuhn (Sangspruch, S. 69–126: dort 115 Manuskripte für den Ausschnitt „nach 1350“ bis „3. V. 15. Jh.“). Katalogisate zu den Handschriften sind bis 1994 im Überlieferungsband des RSM erfasst. Die Zahl der über Digitalisate im Internet einsehbaren Handschriften steigt stetig (besonders wichtig: Heidelberg, UB, Cpg 350; München, BSB, Cgm 4997). Prominentere sind in Abbildungen oder Faksimiles u.  a. der Göppinger ‚Litterae‘-Reihe (vgl. dort Nr. 35, 61, 98, 100) zugänglich. Die wichtigste für unseren Zeitraum (und umfangreichste) ist die um 1460 vielleicht in Speyer geschriebene ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ (München, BSB, Cgm 4997, Sigle k, gelegentlich noch t); über weitere von größerer Bedeutung informiert bündig Schanze, Meisterlhss.; vgl. ferner → Kapitel III.3). Der Textbestand ist in den einschlägigen Liedartikeln des RSM erschlossen. Systematisch ausgezählt ist er nicht, und seine editorische Erschließung ist unzureichend. Bisher sind, in nach Alter, Anspruch und Anlage sehr verschiedenen Editionen, vor allem Lieder namentlich bekannter Autoren (s.  u. zu den Autorentypen) zugänglich, d.  h. entweder von Berufsmeistern, die in der Tradition der höfischen Sangspruchdichter als Fahrende dichten (Heinrich von Mügeln: Stmn.; Suchensinn: Pflug; Muskatblut: Grte.; Michel Beheim: Gille/Spr.), oder von Stadtbürgern, die wie die späteren Mitglieder der Meistersinger-Gesellschaften einem anderen Brotberuf nachgehen (Harder: Brandis [teilw.]; Albrecht Lesch: Koester; Hans Folz: Mayer; Lienhard Nunnenbeck: Klesatschke; der ‚vorreformatorische‘ Hans Sachs: Ellis, Early Meisterlieder); vom Mönch von Salzburg, einem Hofdichter am Rande der Meisterkunst (Spechtler s. Mönch von Salzburg, Geistliche Lieder; März s. Mönch von Salzburg, Weltliche Lieder). Einzelne weitere Autoren finden sich in Anthologien berücksichtigt, etwa der Stadtbürger wie vermutlich zumindest zeitweise Fahrende



Der Sangspruch im 14. und 15. Jahrhundert 

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Jörg Schiller (Cramer  III, I–XII) oder Konrad Dangkrotzheim (Cramer  I, I u. II). Ganz unbefriedigend ist der Editionsstand anonymer Lieder. So geraten am ehesten Ausgaben, die sich an Handschriftenkorpora ausrichten, in den Blick (Dresden M 13: Frauchiger; Heidelberg Cpg 680: Wunderle, Sammlung; München Cgm 4997: Bartsch [Hg.], Meisterlieder; Karlsruhe, Cod. 120 Donaueschingen: Runge [Hg.], Sangesweisen), zudem einige thematisch ausgerichtete (Liebe, Ehe, Sexualität: Schulz; „poetics“: Poynter). Einen eigenen Weg beschreiten Ausgaben älterer Sangspruchdichter, die auch deren Fortleben oder das ihrer Töne in der meisterlichen Liedkunst und im Meistergesang berücksichtigen (Junger Meißner: Pep.; Marner: Wms.; Frauenlob: GA-S; Stolle: Zapf) statt es auszublenden (Alx.). Dabei werden editionstechnisch sehr unterschiedliche Wege beschritten und ist ein Königsweg nicht abzusehen, ja nicht einmal diskutiert. Die Sangspruch-Melodien des 14. und 15.  Jahrhunderts sind inzwischen über die von Brunner/Hartmann vorgelegte Ausgabe Sps. zugänglich. Das dort erfasste Korpus reicht bis an den städtischen Meistergesang heran. Binnendifferenzierung: Autorentypen Zu allen im vorliegenden Abschnitt namentlich genannten Autoren sind die  – nachstehend nicht mehr angegebenen – Artikel im 2VL, im Literaturlex. sowie die entsprechenden Abschnitte des RSM hinzuzuziehen. Ferner ist, neben Rettelbach, Variation, für die grundlegende Beschreibung von Formenbau und Melodie der Töne jeweils Brunner, Formgeschichte, ergänzend heranzuziehen.

Ein konsistenter Zugriff auf die nachhöfische Sangspruchtradition wurde lange von einem doppelten literatursoziologischen Befund erschwert: dass sich noch lange, nämlich bis weit ins 15.  Jahrhundert hinein, Berufsmeister nachweisen lassen, die Lieder professionell gegen Alimentierung zum Vortrag bringen, aber schon seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert auch Handwerker gattungtragend sind, die das Dichten in Spruchtönen als Nebenstundenwerk betreiben. Dieser Befund weist einerseits in zwei verschiedene Richtungen, zurück in den Sangspruch und voraus auf den Meistergesang, wird andererseits aber von der Formgeschichte wieder nivelliert, da keine der beiden Gruppen noch Einzelstrophen, sondern beide mehrstrophig dichten. Mit der terminologischen Unterscheidung der (meisterlichen) ‚Lieddichtung‘ von der (Sang-) ‚Spruchdichtung‘ haben sich die Verhältnisse inzwischen zumindest bis hin zum institutionalisierten Meistergesang geklärt. Es hat sich als praktisch erwiesen, unter diesem begrifflichen Dach zunächst verschiedene Autorentypen zu unterscheiden. 1 .   B e r u f s m e i s t e r . Die Reihe der namhafteren, profilierteren Berufsmeister setzt, einige Jahrzehnte nach Frauenlob, der Ostmitteldeutsche H e i n r i c h v o n M ü g e l n fort (3. V. 14.  Jh.). Wie Frauenlob war er ebenfalls in höchsten Kreisen unterwegs (Adressaten und Förderer: Kaiser Karl IV., König Wenzel IV., Herzog Rudolf von Österreich, König Ludwig von Ungarn, ferner: Hertneid von Pettau/Steiermark), wie dieser war er rhetorisch-stilistisch ambitioniert und thematisch anspruchsvoll,

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 Historische Entwicklung

öfter mit wissenschaftlich-enzyklopädischem Anspruch auftretend (ausführliche Darstellung oben → Kapitel  VII.12). Die kritische Ausgabe Stmn. verzeichnet 393 durchweg ‚liedähnlich‘ in größere ‚Verbände‘ eingebundene Strophen/Sprüche. Mit diesem Hauptwerk steht seine weitere Produktion in teils enger Verbindung: zwei lateinische Übersichten, einmal über die ‚Artes liberales‘, einmal über die Bücher des Alten Testaments (‚Libri tocius biblie‘; Prosa) finden inhaltlich genaue Entsprechungen in seinen Sangsprüchen; im prosaisch-rhythmisch-hexametrischen ArtesÜberblick wurde Wolframs Flammweise (d.  h. der Bernerton) benutzt; die seiner deutschen Prosachronik Ungarns nachgängige, prosimetrisch angelegte lateinische Ungarnchronik benutzt drei eigene und neun fremde Sangspruchtöne. (Ferner sind acht Minnelieder, ein allegorisches Preisgedicht auf Karl IV. – ‚Der Meide Kranz‘ in fast 2600 Paarreimen – und ein deutscher Prosakommentar zu den ‚Facta et dicta‘ des Valerius Maximus zu nennen.) Töne hat Mügeln nur vier, bedeutend weniger mithin als Frauenlob, verfasst: Töneerfinden verliert als Ausweis von meisterschaft an Gewicht (Mügelns Hofton z.  B. variiert den gleichnamigen Ton Boppes metrisch nur marginal; ferner verwendet Mügeln fremde Töne, allerdings nicht für seine Spruchlieder) zugunsten ambitionierter Textautorschaft, die sich bei ihm vor allem als Versuch ausprägt, in der Volkssprache Inhalte der gelehrt-lateinischen meister anzubieten. Mit der deutschen Sangspruchtradition ist er, wie schon die zehn verwendeten fremden Töne zeigen, bestens vertraut; inhaltlich ist neben Frauenlob besonders Konrad von Würzburg wichtig. Die Meistersinger achten ihn als einen ‚gekrönten‘ Meister, doch werden ihm vorreformatorisch keine weiteren Töne untergeschoben; im Vergleich zu Frauenlob und Regenbogen ist die Verwendung seiner Töne durch namenlose Textdichter überschaubar (39 Lieder, davon lediglich zwei, die ‚echte‘ und ‚unechte‘ Strophen verbinden [dazu s.  u.]). Wie Mügeln ist S u c h e n s i n n (Ende 14.  Jh.) bei Hof (Bayern-Straubing), aber auch im Dienst einer Stadt (Nürnberg) unterwegs. Das erhaltene Liedkorpus, für das er einen einzigen Ton benutzt, ist überschaubar (RSM: 23/24 Nummern) und auch thematisch wenig aufgefächert: Weltliches, vor allem Frauenpreis und -lehre, dominiert. Oft werden Dialoge und ein intrikates Spiel mit Sprecher- und Sängerrollen inszeniert. Vor diesem Hintergrund wie als Werkstatt-Stempel ist auch sein regelmäßiger Einsatz einer abschließenden Autorsignatur zu deuten. Formal markant ist seine Bevorzugung der Vierstrophigkeit gegenüber der verbreiteten Praxis, ungerade Strophenzahlen zu bilden. Selten nur scheint sein Ton vorreformatorisch von anonymen Nachdichtern verwendet worden zu sein (RSM: fünf Nummern). Ebenfalls noch ins 14. Jahrhundert gehört der (allein dort? dauerhaft? als Geistlicher?) im Umkreis des Salzburger Erzbischofs Pilgrim II. wirkende M ö n c h v o n S a l z b u r g . Eine genaue Abgrenzung des ‚echten‘ Liedguts ist angesichts breit gestreuter Überlieferung zwar schwierig, seine über 50 weltlichen Lieder (Hauptthema ist die Liebe) und seine an die 50 geistlichen Lieder weisen ihn aber als einen Autor aus, der sich in unterschiedlichen Gattungstraditionen, unter denen die des Sangspruchs nur eine ist, souverän zu bewegen weiß. Einige seiner Lieder gelten als erste Zeug-



Der Sangspruch im 14. und 15. Jahrhundert 

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nisse weltlicher Mehrstimmigkeit im Deutschen. Einiges ist Übertragung lateinischer Hymnen und Sequenzen. Ein dreistimmiger Kanon ist nach französischem Vorbild angelegt. Ferner begegnen unstollige Strophenformen und unstrophige Lieder. In die Reihe der meisterlichen Lieddichter setzt ihn eine kleinere Gruppe stolliger Formen, die Aufnahme in die Meisterliedersammlungen fanden; auch nennen vorreformatorische Sängerkataloge ihn, und der Berufsmeister Folz benutzt einige seiner Töne. Trotz dieser Überschneidungen bleibt der Mönch jedoch als „bedeutendster Vertreter der n i c h t m e i s t e r l [ i c h e n ] Lieddichtung im 14. Jh.“ (Kornrumpf, Mönch; Hervorhebung M. B.) anzusprechen. Ebenfalls in Diensten geistlicher Herren, hier zweier Erzbischöfe von Mainz, steht der Fahrende und Berufsdichter M u s k a t b l u t (datierte Lieder 1415–1427), der freilich mehrfach auch von süd- und mitteldeutschen Städten (Belege 1424–1458) entlohnt worden zu sein scheint (ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.13). Wie Suchensinn benutzt er eine Autorsignatur als ‚Markenzeichen‘, das sich freilich auch von Nachahmern kopieren ließ, sodass nicht alle mit seinem Namen überlieferten über 100 Lieder echt sein müssen. Seine Töneproduktion ist mit vieren überschaubar. Adressat der Texte ist häufig der Adel; unspezifisch allgemeine Moraldidaxe ist oft nicht näher festgelegt; Weltliches dominiert. Das häufig dialogisch und szenisch angelegte Minnethema lässt Einfluss Suchensinns erkennen. Viele geistliche Lieder gelten der Gottesmutter. Weder formal so anspruchsvoll wie stellenweise der Mönch noch stilistisch so ambitioniert wie Mügeln ist Schlichtheit und Verständlichkeit durchgängige Signatur des Œuvres. Als letzter Vertreter des Typus gilt M i c h e l B e h e i m (1420?–1472/79; ausführliche Darstellung oben → Kapitel VII.14) aus Sülzbach bei Weinsberg, gelernter Weber, um 1440 vom Reichserbkämmerer Konrad von Weinsberg als Sänger und Dichter engagiert und seither an Fürsten-, Herzogs-, Königshöfen und am Kaiserhof in Diensten, doch auch von Städten entlohnt (Augsburg, Wien, Nördlingen). Biografische Zeugnisse, historische Bezüge der Lieder und die teils eigenhändig gestaltete Überlieferung geben über sein Leben reichen Aufschluss. Das Œuvre (ed. Gille/Spr.) ist umfangreich, es umfasst 452 Lieder und wird von hohem Selbstbewusstsein getragen, das sich in der Selbstbezeichnung als keiserlich teutscher poet und tichter verdichtet sowie in der expliziten Anbindung an die Tradition der meister greifbar wird, auf die sich Beheim mit Mügeln und Muskatblut (s.  o.), mit Harder und Lesch (s.  u.) und mit (dem nur unzureichend überlieferten Dichter) Hülzing in RSM 1Beh/425 namentlich bezieht. Formal findet es in der stattlichen Anzahl elf eigener Töne Ausdruck; Fremdtonverwendung ist nur bei der Verkehrten Weise belegt. Inhaltlich decken die Lieder ein breites Feld ab (Religion, Moraldidaxe, Politik, Biografisches, Kunstauffassung) bis hin zum Liebeslied (dazu zuletzt Niemeyer, Kunst- und Rollenverständnis, S. 75–152), wobei stets Anschaulichkeit und leichte Erfassbarkeit die Gestaltung bestimmen. Beheims Praxis der Versifizierung von Prosabuchquellen  – aus dem Umkreis der ‚Wiener Schule‘ etwa Thomas Peuntners ‚Büchlein von der Liebhabung Gottes‘ – führt indes die Gattung an ihre Grenzen und nur noch als Hohlform vor: Ihr

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Gesangsvortrag tritt hinter (vor-)lesende Rezeption zurück (vgl. Wachinger, Beheim). Das wird an zweien der drei versifizierten Chroniken in einem einfachen zwölften Ton, der sechsversigen Angstweise, einem Epenton, von Beheim selbst reflektiert: Dem ‚Buch von den Wienern‘ (1462/65; 2169 Str., mit Rubriken inhaltlich untergliedert; ed. Karajan) ist der Hinweis vorangestellt, das man es lesen mag als ainen spruch oder singen als ain liet, ebenso dem ‚Buch von der Stadt Triest‘ (1464/65; 543 Str.; Gille/ Spr. 453) daz man es lesen mag als ain gereimptes puch oder singen als ain liet. (Die 2220 auf drei ‚Bücher‘ verteilten Strophen der auf zwei Prosachroniken aufruhenden ‚Pfälzischen Chronik‘ von 1469/71 sind noch nicht zureichend ediert.) Vielleicht nur noch zeitweise trat der Augsburger Stadtbürger J ö r g S c h i l l e r (2. H. 15. Jh.) mit seinen Liedern als Fahrender auf, was Beheims Rolle als ‚Spätling‘ unter den höfischen Berufsdichtern nur unterstreicht. Worin die Gründe für den Attraktivitätsverlust der Gattung bei Hofe liegen, ist noch nicht ernsthaft untersucht. Sie liegen jedenfalls bereits im 14. Jahrhundert. Eine bedeutende Rolle spielte hier wohl das starke Aufkommen der Reimsprecherkunst seit dem 14. Jahrhundert (Teichner, Suchenwirt, Rosenplüt und andere). Im paargereimten, formal simplen, nicht gesungenen Reimspruch ließen sich alle Themen (Moraldidaxe, religiöse Belehrungen, Wappenschilderungen, Städtelob, Totenklagen, Berichte über zeithistorische Ereignisse und vieles andere) mühelos unterbringen; Reimsprecher amtierten vielfach auch als Herolde und als städtische Spruchsprecher (vgl. Brunner, Liedtypen um 1400). 2 .   S t a d t b ü r g e r l i c h e D i l e t t a n t e n . Ein ganzes Jahrhundert vor den ersten Zeugnissen der Institutionalisierung des meistersingerischen Aufführungswesens in eigenen ‚Gesellschaften‘ (und in räumlicher Nähe zu Suchensinn, der um 1390 in der Umgebung Herzog Albrechts II. von Bayern-Straubing auftritt) lassen sich in München erste Vertreter jenes Autorentyps nachweisen, der später den Meistergesang tragen wird: der in der Stadt sesshafte, einen Brotberuf ausübende, nur in seiner ‚Freizeit‘ dichtende Handwerker. A l b r e c h t L e s c h (um 1340/45–1393/94) entstammt der oberen Mittelschicht des Bürgertums, übte aber wohl ein Handwerk aus und war 1381 Mitglied des Großen Rates; sein Verwandter Konrad Harder, von Beruf Bäcker, ist seit den 1370er Jahren bezeugt. Lesch hat neun oder zehn Töne hinterlassen, war also ein auffallend produktiver (und origineller: Rettelbach, Variation, S. 295  f.) Erfinder neuer Melodien. Fünf der überlieferten Lieder hat Lesch sicherlich selbst verfasst, fünf weitere mögen ebenfalls aus seiner Feder stammen, weitere 28 stammen teils sicher von fremden Verwendern seiner Töne. Das ihm zweifelsfrei Zuzuweisende zeigt ausgeprägte Neigung zu geistlichen, insbesondere mariologischen oder zur Weihnachtsund Neujahrszeit passenden Themen. Auch (K o n r a d ?) H a r d e r s Œuvre lässt sich nicht präzise umreißen. Neben zwei Reimpaargedichten, eines Maria, eines der Minne gewidmet, gehören Harder zwei Töne sowie zwei Lieder sicher, dazu vielleicht eine dritte Melodie und sechs weitere Lieder; insbesondere der dritte Ton wurde später sehr häufig von anonymen Autoren für eigene Texte benutzt. Mit zwei Warnungen vor dem Tode, zu Mariae Empfängnis und Himmelfahrt, Marienpreis, -anrufung und



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-krönung steht erneut Geistliches und besonders die Gottesmutter im Vordergrund. Mariologisches ist in spätmittelalterlicher Literatur ubiquitär, doch scheinen Marienund Weihnachtslieder Spezialität der Münchener zu sein. Dort ist dann für Dezennien zwar nur noch Hieronymus Drabolt namentlich zu greifen, aber dass 1513 der junge Hans Sachs in München weilte, eine Singschule abhielt und sein erstes Meisterlied verfasste, macht eine lokal zwar nicht fest als ‚Gesellschaft‘ organisierte, jedoch mehr oder minder kontinuierlich geübte Vortragspraxis wahrscheinlich (Baldzuhn, Münchener Meistersinger). Eine solche Praxis wird in manchen anderen Städten ebenso existiert haben, ist indes dort noch weniger als in München nachzuweisen. Allein in der freien Reichsstadt Nürnberg stellen sich die Verhältnisse anders dar. Vom ausgehenden 14. Jahrhundert – der städtische Bedienstete (?) F r i t z K e t t n e r  – bis zum beginnenden 16. Jahrhundert – der junge Hans Sachs – sind dort nicht weniger als neunzehn Handwerker-Dichter zu finden (Übersicht: Schanze, Liedkunst I, S. 379). Kettner ist wie die ersten Münchener mit fünf bis sieben Tönen auffallend produktiv, und auch die geistlich-mariologische Ausrichtung verbindet sie: eine Rückbindung, die – und zwar besonders dann, wenn die genannten Handwerker-Dichter nicht lediglich die ersten uns namentlich bekannten sind, die bereits ihnen den Weg bereitende, uns aber unbekannte Vorläufer hatten – eine den eigenen Auftritt legitimierende Funktion gehabt haben wird. Profiliertester vorreformatorischer Nürnberger ist der aus Worms gebürtige Barbier H a n s F o l z (um 1435/40–1513), der zeitweise eine eigene Druckerpresse betrieb und neben Meisterliedern u.  a. auch Fastnachtspiele, Mären und Prosa verfasste und über eine für seinen Stand beachtliche Bildung verfügte. In seinen – erneut das Werk dominierenden – geistlichen Meisterliedern wird sie ersichtlich etwa in Stellungnahmen zu theologischen Fragen u.  a. in Form von Quaestionen. Weltliches reicht immerhin bis zum Liebeslied. Eine stets konservative Grundhaltung prägt auch seine sog. Reformlieder Mayer Nr. 89–94, obwohl ihr entschiedenes Votum für die Erlaubnis, in selbstgeschaffenen Tönen gegen wohl umlaufende dogmatischere Positionen, die nur Töne alter Meister gelten lassen wollen, zunächst fortschrittlich anmutet (Petzsch, Meistergesangsreform; Baldzuhn, Streitgedicht). Ein zentrales Argument ist dabei die unüberschaubare Vielfalt der Tradition, die strenger Regulierung eines Kanons im Wege stünde. Dass Folz, der immerhin 15 eigene Töne schuf, auch über einen breiten Überblick über das ältere Tonangebot verfügte, wird an gleich 13 Tönen ersichtlich, die er von anderen Autoren übernahm, darunter auffallend häufig den Unbekannten Ton Nestlers von Speyer. (So etwas kann Ausdruck dankbarer Schülerschaft sein: Nestler, Hauptschreiber der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k, war wie Folz medizinisch gebildet [Kornrumpf, Provenienz; Schnell, B., Medizin] und hatte k in zeitlicher wie räumlicher Nähe zum jüngeren Folz angelegt.) Wieweit über Nürnberg hinaus das Dichten in fremden Sangspruchtönen in einem bedeutsamen Umfang verbreitet war, ist nicht ersichtlich. In Anlehnung an Folz Mayer Nr. 89, v. 127–132 ([…] meistersinger / Zu vor aus unden an dem reim [d.  h.

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Rhein]) und aufgrund der südwestdeutschen Lokalisierung mehrerer Liedersammlungen, die diese Praxis breit bezeugen, rechnet die Forschung mit entsprechenden Sängerkreisen besonders im rheinisch-schwäbischen Raum. Ungebrochen indes dokumentieren diese Handschriften die Praxis nicht, da sie auch viele bedeutend ältere Texte enthalten. Jedoch sind die Proportionen, in denen Altes und Zeitgenössisches zueinander stehen, ganz unklar. Dass mit der Praxis im 15. Jahrhundert auch außerhalb Nürnbergs zu rechnen ist, zeigen namentlich die Beispiele des – nicht näher zu verortenden – Hugo von Meiningen (2. H. 14. Jh.?; mindestens ein Lied im Langen Ton Regenbogens: RSM 1HugoM/1  f.) und des Hagenauer Schöffen Konrad Dangkrotzheim († 1444; 13 Strophen in Muskatbluts Fröhlichem/Neuem Ton und 15 in Boppes Langem Ton: RSM 1Dangk/1  f.). Neben Berufsmeistern und städtischen Dichtern verfügen wir für das spätere 14. und 15. Jahrhundert über eine Reihe weiterer Autornamen. Teils handelt es sich um Dichter, die eigentlich andere Gattungen pflegen, die zeitgenössische Sangspruchtradition aber punktuell einarbeiten, z.  B. Oswald von Wolkenstein, der Regenbogens Grauen und Frauenlobs Vergessenen Ton benutzt. Teils entstammen sie Namenkatalogen ohne Möglichkeit, die Genannten historisch näher zu verorten oder ihnen Texte und Töne zuzuweisen (vgl. die Auswertung der Kataloge des Konrad Nachtigall und des Hans Folz sowie des Meistersingers Valentin Voigt bei Brunner, Dichter ohne Werk). Teils bezeichnen sie in den Handschriften Ton- und Textbestände fraglicher Echtheit und sind historisch nicht näher zu verorten, so dass undeutlich bleibt, welchen Autorentyp sie vertreten (z.  B. Liebe von Giengen [RSM 1Lieb/1/1–8 und 2/1] und Meffrid [RSM 1Meffr/1–6]). 3 .   A n o n y m e N a c h s ä n g e r . Eine sehr große, dritte Gruppe von Autoren ist derzeit über einen weiten Zeitraum hinweg nur ganz undeutlich zu fassen: die der Fremdton-Verwender und der Fremdtext-Wiederverwerter. Die Verwendung fremder Töne ist bereits dem 13. Jahrhundert prinzipiell vertraut (Kornrumpf/Wachinger, Alment), nimmt aber im 14. Jahrhundert mächtig zu. Extreme Werte erreicht das Verhältnis zwischen dem Tonerfinder zuzuweisenden und fremden Strophen in den vier als echt geltenden Regenbogen-Tönen. (Hinzu kommen noch zehn weitere ihm in den Handschriften unterschobene ‚unechte‘ Töne, wo also auch der eigentliche Tonerfinder unbekannt bleibt.) In der Briefweise etwa stehen elf Strophen des Tonerfinders weiteren ca. 450 in ca. 80 ‚Liedern‘ von unbekannten Verfassern gegenüber, im Grauen Ton keine einzige erhaltene Regenbogens über 200 Strophen in ca. 80 ‚Liedern‘. Da die Überlieferung von Verfassernamen in den Handschriften sich noch das ganze 15.  Jahrhundert hindurch an der Tonautorschaft ausrichtet, Textautorschaft regelmäßig unbenannt bleibt  – diese Auskunftspraxis ändert sich erst im Umfeld des Meistergesangs, vor allem seit dem Auftreten von Hans Sachs  –, bleiben die Fremdtonverwender, die eine Rubrik in k als nachsenger bezeichnet, anonym. Das Problem der Einordnung dieser noch nirgends ausgezählten anonymen Strophen und Lieder wird verschärft durch eine ungünstige Überlieferungskonstellation.



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Nach der Mitte des 14. Jahrhunderts entstehen zunächst keine größeren, gattungsorientierten Sammlungen mehr. Diese setzen erst Ende des zweiten Viertels des 15. Jahrhunderts mit den Meisterliederhandschriften wieder ein, zeigen dann aber bereits die anonyme Lieddichtung en masse. Da man über das Umfeld dieser Sammlungen einerseits kaum etwas weiß, andererseits institutionalisierte Gesellschaften im Hintergrund noch nicht erkennbar sind, fehlt jeder Ansatz zur historischen Kontextualisierung der nachsenger. Pointiert lassen sich daher zwei Extrempositionen vertreten: Entweder entstammt das anonyme Gut der Meisterliederhandschriften überwiegend deren rezentem Umfeld (s.  o. bei Folz zum Ansatz rheinisch-schwäbischer Kreise), in denen allein das Dichten in alten Tönen zugelassen war. Oder die Meisterliederhandschriften dokumentieren überwiegend bedeutend ältere Entwicklungen der Gattungsgeschichte des 14. Jahrhunderts mit Verzögerung, sind also zunächst wesentlich vor allem schriftliche Sammelunternehmungen des 15. Jahrhunderts, auf denen dann eine neu einsetzende, aktivere Praxis eigener Produktion aufruht. Statt Folz als Gewährsmann wäre dafür dann eher jemand wie Lupold Hornburg von Rothenburg anzuführen, der um 1350 drei eigene Strophen in einem ‚Lied‘ im Langen Ton des Marners verfasste (überliefert in der ‚Würzburger Liederhandschrift‘ E), mithin als Fremdtonverwender hervortritt. Ähnliche Extrempositionen lassen sich für das Phänomen der in den Meisterliederhandschriften vielfach bezeugten untergeschobenen Töne formulieren: Sie laufen unter anderen, prominenteren Namen, weil man entweder zum Zeitpunkt der Unterschiebung in der Umgebung der Sammler nur alte Töne gelten lassen wollte – oder, weniger wahrscheinlich, weil man es aufgrund der bereits beträchtlicheren zeitlichen Distanz der Sammler zu ihrem Gegenstand nicht besser wusste, die Töne aber aus Systemzwang irgendwie zu benennen hatte. Eine dritte Ausprägung anonymen Anschlusses an und Neuverwertung der Leistung älterer, angesehenerer Meister steht noch zu wenig im Blick der Forschung (vgl. allenfalls Wenzel, F., Meisterschaft): die wechselnde Verwendung einzelner Strophen zur Bildung mehrstrophiger Lieder. Mehrstrophigkeit setzt sich im 14.  Jahrhundert unter allen drei Autorentypen durch. Jedoch nur im Bereich des dritten Typus findet man ‚Lieder‘, in denen Strophen des Tonerfinders (‚echt‘) mit denen des anonymen Fremdtonverwenders (‚unecht‘) verbunden wurden. Die Verwendung eigener Strophen oder Strophengruppen zum Aufbau wechselnder Lieder durch den Tonerfinder selbst ist vielleicht noch für den Harder anzunehmen – aber nicht darüber hinaus. Von dieser effizienten Art, mit wenigen Strophen durch ihre Wiederverwendung auf ökonomische Art mehrere verschiedene Lieder zu bilden, scheinen Tonerfinder grundsätzlich aber bedeutend weniger Gebrauch gemacht zu haben als anonyme Nachahmer. Wie für Fremdtonverwendung und Fremdtonzuschreibung stellt sich jedoch auch hier ganz grundsätzlich zunächst immer die Frage, ob und wieweit das Bild, das die handschriftliche Überlieferung vermittelt, überhaupt eine Entsprechung in der Produktion und Aufführungswirklichkeit hatte – oder ob eben nicht manches nur auf dem Papier zum ‚Lied‘ geworden ist.

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An der Frage der zeitlichen Schichtung des anonymen Text- und Tonmaterials hängt entschieden die Bewertung dieses dritten Autorentypus: seit wann und in welcher Breite und Ausprägung es ihn gibt, ob und wie eng er bereits mit dem später gut bezeugten Typus der Handwerker-Dichter zusammengesehen werden muss oder ob er nicht vielleicht eine sehr produktive Spätphase des Sangspruchs im Umkreis eher von Frauenlob, Regenbogen und Mügeln statt von Hans Folz repräsentiert. Aspekte des Gattungswandels Eine Geschichte der Gattung seit dem 14. Jahrhundert im strengen Sinne lässt sich beim derzeitigen Forschungsstand nicht, und anhand von Namen schon gar nicht, schreiben. Nachstehend werden daher nur einige übergreifend bedeutsame Aspekte hervorgehoben. 1 .   R ü c k b i n d u n g a n d i e m e i s t e r. Die Wiederverwendung eines Sangspruchtons nicht mehr ausschließlich durch den Tonerfinder begegnet bereits in der unmittelbaren Umgebung des späten Frauenlob (Wachinger, Corpusüberlieferung). In Teil R des Heidelberger Cpg 350 nimmt im zweiten Viertel des 14.  Jahrhunderts die Verteilung der Strophen- und Liedrubriken Rücksicht auf die Auflösung der bis dato geltenden Regel, dass der Name des Tonerfinders den Texterfinder mitmeint – wogegen Handschrift J, konservativer, diese Gleichung noch voraussetzt. Um 1350 tritt Lupold Hornburg von Rothenburg mit seinem Preis verstorbener Sangspruchmeister durchaus selbstbewusst als Fremdtonverwender auf (Henkel, Alte Meister, S.  377–380; Röll, Lupold Hornburg; Baldzuhn, Feld, S.  172–176). Ob diese frühen anonymen Fremdtonverwender eher anonym oder in der ‚Rolle‘ des Tonerfinders auftreten bzw. als seine ‚Schüler‘ oder eine eigene Text-Leistung wahrgenommen sehen wollen, dabei aber vom Renommee des Tonerfinders mitzehren: das sind alles unbeantwortete Fragen. Auf jeden Fall setzt die Anbindung, sofern sie registriert werden sollte, ein besonders kundiges Publikum voraus und stellt damit eine weitergehende Literarisierung der Gattung dar. Und sie kann nicht ohne Einfluss auf den Status der Tonautorschaft geblieben sein, da Textautorschaft an Gewicht gewinnt (was bei Hornburg implizit bis in seine homonymen und seine Schüttelreime hinein reflektiert erscheint: Ihr ‚Gleichklang‘ erzwingt genaueres Augenmerk auf den Text und seine Bedeutung). Die intensivere Spruchpolemik insbesondere um Frauenlob könnte für Aufkommen, Verbreitung und Funktion der Fremdtonverwendung eine gewisse Rolle gespielt haben, da in der älteren Sänger-Polemik Fremdtonverwendung üblich war (Wachinger, Sängerkrieg). Alle diese Fragen lassen sich jedoch nicht ohne systematische Bestandserhebung zu den von den frühen Nachsängern insgesamt berücksichtigten Meistern und Tönen beantworten. Frauenlob und Regenbogen waren zweifellos frühe Kristallisationspunkte, und sie bleiben auch später beliebt unter den meisterlichen Fremdtonverwendern und bis weit in den Meistergesang hinein. Auf der Grundlage von Strophen mit Namenkatalogen geachteter Meister (2. H. 13. Jh.: Hermann Damen;



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Mitte 14. Jh.: Lupold Hornburg; um 1400?: Liebe von Giengen; vor 1460: RegenbogenAnonymus; zahlreiche Namen ferner in den Reformliedern von Folz, s.  o.; generell zu den Katalogen Henkel, Alte Meister), besonders jedoch auf der Basis des Bestands der Meisterliederhandschriften sind ihnen vor allem der Marner, Konrad von Würzburg und Boppe an die Seite zu stellen. Eine kanonische Zwölfzahl wird vorreformatorisch jedoch nirgends erreicht – und liegt auch keiner Sammlung als Kernvorstellung zugrunde (gegen ältere Annahmen Husmanns [Aufbau] zur ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ Schanze, Liedkunst I, S. 35–59). Wonach die Auswahl einzelner Töne erfolgt, ist systematisch nicht untersucht. Verwendungspräferenzen des Tonerfinders spielen aber eine Rolle: Die ‚Langen Töne‘, die im 16. Jahrhundert zu den besonders geschätzten ‚gekrönten‘ avancierten, sind schon von ihren Erfindern viel genutzte Haupttöne. Aber auch der formale Zuschnitt ist von Gewicht. Frauenlobs Goldener Ton wird als anspruchsvolles Formkunststück vielfach aufgenommen, sein Kurzer Ton hingegen als zu schlicht gemieden. Ferner spielt die thematische Besetzung eines Tons bei der Wiederaufnahme eine Rolle, wie sich an der Ausbildung inhaltlicher Profile innerhalb einzelner Töne erkennen lässt (vgl. Schanze, Liedkunst I, S. 59–76). Die Berufsmeister verzichten in der Regel auf Verwendung fremder Töne. Demgegenüber benutzen von den vielen Handwerker-Dichtern Nürnbergs, die eigene Töne erfinden, viele zusätzlich auch fremde. 2 .   M e h r s t r o p h i g k e i t . Nach der Annäherung des Sangspruchs ans Minnelied qua Mehrtonigkeit und Kanzonenstrophe durch Walther (s. dazu auch oben → Kapitel IV.1) stellt die Durchsetzung des mehrstrophigen Liedes im 14. Jahrhundert die bedeutendste formale Innovation der Gattungsgeschichte dar. Produktionsseitig gelten für das ‚vollständig realisierte‘ neue Lied zwei Regeln: Es müssen, erstens, mehrere Strophen beisammen stehen, und sie dürfen, zweitens, in einem anderen Lied nicht noch einmal verwendet werden. Die Durchsetzung des neuen Liedes (‚Barbildung‘) vollzieht sich auf mehreren – unterschiedlich zugänglichen  – Ebenen: 1. auf der Aufführungsseite (theoretisch kann hier schon zu Zeiten des Einzelspruchs Mehrstrophiges ad hoc gebildet werden), 2. auf der Produktionsseite (dort muss die zweite Regel dem Text nicht zwangsläufig durch feste Verkettung der Strophen eingeschrieben sein, sondern kann auch schlicht durch auktorialen Verzicht auf Wiedergebrauch zur Geltung kommen), 3. in der handschriftlichen Verbreitung (welche die Aufführungs- und Produktionsgegebenheiten nicht schlicht ohne zeitliche Verzögerung und unmittelbar abbildet) und 4. sprachlich in den Bezeichnung für das neue Gebilde (das nicht sogleich liet, sondern zunächst bar/par genannt wird: liet bezeichnet, anders als im späten Minnesang, in der Sang­ spruchtradition noch das ganze 15. Jahrhundert hindurch die Einzelstrophe). Heinrich von Mügeln dichtete nur noch mehrstrophig, wählte in der handschriftlichen Präsentation jedoch das zwischen Ton einerseits und Strophe/Lied andererseits angesiedelte buch als Darbietungseinheit. Den anonymen Fremdtext-Wiederverwendern des 14. Jahrhunderts war Mehrstrophigkeit per se Grundlage. Als einer der letzten Berufsmeister könnte der Harder eigene Strophengruppen flexibel verschoben

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haben. Sichere Nachweise dafür, dass unfeste Mehrstrophigkeit auch im 15.  Jahrhundert Anwendung in der rezenten Produktion und Aufführung fand, fehlen. In der schriftlichen Darbietung der Handschriften wird das Lied jedoch – zumeist mithilfe von Zwischenüberschriften – erst im 15. Jahrhundert zur festen Größe. Die Bezeichnung als ‚Lied‘ setzt sich, in Angleichung an den außerhalb des Meistergesangs schon länger üblichen Sprachgebrauch, erst im 16. Jahrhundert durch. Die ältere Forschung hat das neue Lied lange mit meistersingerischem Verfall, mit Verlust an Prägnanz in Verbindung gebracht und den Übergang zur Mehrstrophigkeit allein produktionsästhetisch modelliert, den impliziten Anspruch des produk­ tionsseitigen Mehraufwandes (Verzicht auf Wiederverwendung) ebenso ignoriert wie den größeren Voraussetzungsreichtum im gesamten kommunikativen und media­ len Zusammenhang von Produktion, Distribution und Rezeption. Als Phänomen der komplexeren Gestaltung, Institutionalisierung und Stabilisierung literarischer Kommunikation wird es dagegen bei Baldzuhn (Sangspruch, S. 55–68) konzeptualisiert (vgl. zum ‚Zwischenschritt‘ unfester Mehrstrophigkeit Baldzuhn, ‚Hort‘). ­Tendenziell erfährt die Gattung mit dem Lied eine Aufwertung, was quantitativ bereits an der vom Publikum geforderten längeren Aufmerksamkeit zu ersehen ist, und damit eine erneute Annäherung an das immer schon mehrstrophige Minnelied. Das ist dann auch bei den – noch nicht ernsthaft diskutierten – Gründen für das Aufkommen des Liedes zu bedenken: Bisher ist allein ins Spiel gebracht worden eine mögliche Konkurrenzsituation zu den Verfassern der im 14. Jahrhundert an Popularität gewinnenden reden-Dichtung. Das neue Lied weist in der Regel eine ungerade Strophenzahl (3, 5, 7 usw.) auf; Suchensinn setzt sich pointiert mit Vierergruppen ab. Statistische Untersuchungen zu Umfang, Verbreitung und thematischer Festlegung fehlen, jedoch scheint man in der Frühzeit Dreier- und Fünfergruppen und längere Strophengruppen vorzugsweise anspruchvollen geistlichen Inhalts bevorzugt zu haben und für das Thema Liebe/ Minne prinzipiell den Dreierbar. Dass der neue Bar mehr Raum als die Einzelstrophe bietet, ist wichtige Voraussetzung für längere weltliche Erzähllieder (etwa mit allegorischem Natureingang wie in der reden-Dichtung und einem Text-Ich als auktorialem Erzähler, wie mehrfach bei Muskatblut belegt; vgl. jetzt auch Viehhauser, Treueproben, zu drei anonymen Erzählliedern mit dem Motiv der Treueprobe), die nun häufiger werden, für die Versifikation von Legende (s. die über 70 Strophen der ‚Veronika‘ in Regenbogens Briefweise [RSM 1Regb/1/535]) und der – den Meistersingern dann so wichtigen – Bibel (s. die 38 Strophen in fünf Liedern der ‚Bibel‘ in Regenbogens Langem Ton [RSM 1Regb/4/581–585]), überhaupt für die insbesondere bei Beheim (s.  o.) und Folz zu beobachtende Verarbeitung längerer schriftlicher Quellen. Die neue Mehrstrophigkeit ist zudem in über das ‚einfache‘ Meisterlied hinausreichende formgeschichtliche Kontexte zu stellen. Denn sowenig – dies zum einen – das Zurücktreten des Minneliedes im 14.  Jahrhundert bedeutungslos für die neue Mehrstrophigkeit gewesen sein kann, sowenig wird für die längere Strophenkette in Spruchtönen, wenngleich es sie schon im 13. Jahrhundert gab (‚Winsbecke‘/‚Winsbe-



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ckin‘, ‚Wartburgkrieg‘, ‚Lohengrin‘, 40 Strophen ‚Ave Maria‘ in Konrads von Würzburg Morgenweise [RSM 1KonrW/6/100]), das nach Frauenlob zu beobachtende Zurücktreten der Prunkform des Leichs ohne Bedeutung gewesen sein (vgl. den umfangreichen Marienpreis in den 72 Spruchstrophen des ‚Tum‘ Mügelns [Stmn. 110–181], zudem Stmn., S. 28–32). Zum zweiten sind – an den Rändern gewissermaßen – Sonderformen mitzusehen wie Reihen und Parat, die um 1460 der Anfang von k auffallend dicht versammelt. Hier konnten Lieder in Tönen, die in Bauform und Melodie vom üblichen oft sich abheben (Brunner, Formgeschichte, S. 180  f.), von ihren Autoren durch Besetzung mit einem herausgehobenen Gegenstand und dem Verzicht auf spätere Verwendung noch weitergehend dem Minnelied (und Leich) angenähert, später aber durch Weiterverwendung durch andere Autoren gegen die Autorintention wieder zu einem Spruchton ‚degradiert‘ werden. Nicht zuletzt verschiebt Mehrstrophigkeit als Normalfall den Spielraum für Besonderes hin zum Komplexeren. Hier haben Zyklen von Liedern ihren systematischen Ausgangspunkt (s.  o. Regenbogens ‚Bibel‘, die ‚Reformlieder‘ von Folz) sowie die – beides dann im späteren institutionalisierten Meistergesang gut belegt – Verwendung von mehreren verschiedenen Tönen innerhalb eines Zyklus von Liedern (z.  B. RSM 2Bau/1–150) oder gar in nur einem einzigen Lied (z.  B. alle vier ‚gekrönten‘ Töne der Alten Meister). 3 . T h e m e n f e l d e r . Wie die formal qua Mehrstrophigkeit erweiterten Spielräume inhaltlich und in den Darstellungsformen neu genutzt wurden, ist kaum untersucht. Überhaupt sind generelle Aussagen zu inhaltlich-thematischen Verschiebungen gegenwärtig kaum zu treffen. Schon immer aufgefallen ist indes, dass Politisches wie Fürstenpreis, Totenklage, Bezüge auf einzelne historisch-politische Ereignisse völlig zurücktreten, ebenso Heischesprüche und das milte-Thema. Andererseits findet vieles aus der älteren Spruchdichtung seine Fortsetzung, z.  B. Fabel und Rätsel. Geistliches und insbesondere der Marienpreis (Schroeder, M. J., Mary-Verse; EdelmannGinkel, Loblied) treten stärker in den Vordergrund. Über den Eigenwert auf Themen ausgerichteter Untersuchungen hinaus (vgl. zu Kosmologie und Astronomie Gade [Wissen], zu Liebe, Ehe und Sexualität Schulz [Liebe]) können querschnittartig angelegte Studien prinzipiell auch zur weiteren Binnendifferenzierung des entsprechenden Zeitraums beitragen (vgl. Baldzuhn, Minne, sowie jetzt Rosmer, Geistliche Meisterlieder). Dabei verdient insbesondere poetologisches Sprechen Aufmerksamkeit: einmal, weil es generell an Gewicht gewinnt – es wird nämlich „insgesamt mehr an poetischem Regelwerk in der Dichtung thematisiert als je zuvor“ (Kornrumpf/ Wachinger, Alment, S. 376; vgl. auch Volfing, Autopoetische Aussagen) –, zudem speziell im Hinblick auf den späteren Meistergesang, dessen – Vorgänge literarischer Kommunikation und textuelle Gegebenheiten versprachlichende, teils noch heute benutzten – Begriffe, etwa in den Tabulaturen und Protokollen, mehrfach nachweislich nicht erst im Zuge seiner Institutionalisierung in Gesellschaften, sondern bereits zuvor, vielleicht gar schon in einer Spätphase der Sangspruchdichtung, gebildet wurden (vgl. Taylor, B., Prolegomena, und Taylor, B., Meisterlied, der von „metapoe­

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tic andecedents“ und „Vortabulatur“ spricht, sowie Baldzuhn, Feld). Solche Selbstbezüglichkeit kann Geltungsverluste anzeigen. Andererseits führen befremdlich viele poetologische Lieder zu den anonymen Fremdtonverwendern, denen Profilierung auf der Textseite ohnedies wichtiger sein musste als auf der Tonseite (s.  o.), und hier dann insbesondere zum Typus des Wettstreitgedichtes, in dem das Sänger-Ich einen fingierten Gegner zum Kräftemessen im literarischen Turnier auffordert, was dann regelmäßig von breiter, tendenziell terminologisierender Herausstellung eigener dichterischer Leistung begleitet wird (reichlich Material bei Bartsch [Hg.], Meisterlieder, und Poynter, Poetics). Zumal gemeinsam mit den Strophen aus dem ‚Wartburg­ krieg‘-Komplex gelesen, kann den späteren Meistersingern gerade solches Material den Eindruck einer prinzipiell agonalen Prägung der kunst ihrer alten meister vermittelt und sie dazu angeregt haben, ihre eigene Interaktion in der Singschule dementsprechend auszurichten (vgl. Baldzuhn, Sangspruch, S. 486–491). So oder so korrespondiert diese ausgeprägte Selbstbezüglichkeit meisterlicher Liedkunst mit Weiterem: mit dem Aufkommen, der Verbreitung und Ausdifferenzierung der Tonnamen, deren Geschichte, obschon man in ihnen nicht weniger als eine historische Wahrnehmung von Formen und Melodien greifen kann, noch zu schreiben ist, dann mit der Zunahme von bisweilen bis in die Entstehungs- und Aufführungssituation der Texte hinein auskunftsfreudigen Liedrubriken, ferner mit in Rubriken wie Liedern sich ausbildender Terminologie zur Erfassung verschiedener Typen von Liedern (z.  B. im Eingangsbereich der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘, in dem Leich, Reihen und Barant, d.  h. Parat, als Liedtypen genannt werden; dazu kommen in Liedüberschriften noch ‚Hort‘ und ‚Tanz‘, vgl. Marners ‚Prophetentanz‘). Das alles ist Ausdruck einer seit dem 14. Jahrhundert mächtig voranschreitenden konzeptionellen Verschriftlichung der Gattung. Ihr Wandel im 14. und 15. Jahrhundert erscheint damit nicht allein als der einer (soziologischen) Entprofessionalisierung, sondern ebenso als einer der (sprachlichen und literarischen) Professionalisierung. Ausg. Alx.; Bartsch (Hg.), Meisterlieder; Beheim, Buch von den Wienern (a); Brandis, Harder; Cramer; Ellis, Early Meisterlieder; Frauchiger, Dresden M 13; GA-S; Gille/Spr.; Grte.; Klesatschke, Nunnenbeck; Koester, Lesch; Mayer; Mönch von Salzburg, Geistliche Lieder; Mönch von Salzburg, Weltliche Lieder; Pep.; Pflug (Hg.), Suchensinn; Poynter, Poetics; Runge (Hg.), Sangesweisen; Schulz, Liebe; Sps.; Stmn.; Wms.; Wunderle, Sammlung; Zapf. – Lit. Baldzuhn, Feld; Baldzuhn, ‚Hort‘; Baldzuhn, Minne; Baldzuhn, Münchener Meistersinger; Baldzuhn, Sangspruch; Baldzuhn, Streitgedicht; Brunner, Alte Meister; Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Liebeslied; Brunner, Liedtypen um 1400; Brunner, Repertorium; Edelmann-Ginkel, Loblied; Gade, Wissen; Henkel, Alte Meister; Husmann, Aufbau; Kornrumpf, Mönch; Kornrumpf, Provenienz; Kornrumpf/Wachinger, Alment; Niemeyer, Kunst- und Rollenverständnis; Petzsch, Meistergesangsreform; Rettelbach, Bilanz; Rettelbach, Skizze; Rettelbach, Variation; Röll, Lupold Hornburg; Rosmer, Geistliche Meisterlieder; RSM; Schanze, Liedkunst; Schanze, Meisterlhss.; Schnell, B., Medizin; Schroeder, M. J., Mary-Verse; Stackmann, Vorstudien; Taylor, B., Meisterlied; Taylor, B., Prolegomena; Tervooren, Sangspruchdichtung; Viehhauser, Treueproben; Volfing, Autopoetische Aussagen; Volfing, Meisterlieder; Wachinger, Beheim; Wachinger, Corpusüberlieferung; Wachinger, Sängerkrieg; Wachinger, Tönekatalog; Wenzel, F., Meisterschaft.



Die Rezeption der Sangspruchdichtung im Meistergesang 

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3 Die Rezeption der Sangspruchdichtung im Meistergesang

Johannes Rettelbach

Meistergesang im Sinn einer modernen Definition des Phänomens bezeichnet das in Gesellschaften organisierte Wettsingen in einer durch traditionelle Regeln bestimmten Art von kanzonenförmigen Tönen, d.  h. Strophenformen und den dazugehörigen Melodien, welche die Gesangspraxis der Sangspruchdichtung fortführt (s. → Kapitel I.2 und VIII.4). Die Meistersinger, dilettierende Stadtbürger, sind damit bereits qua Definition als Erben der Sangspruchdichter ausgewiesen. Da dieses Erbe geschichtlichem Wandel unterlag, war der Übergang nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt fixiert, sondern professioneller Spruchsang und Singschulen, d.  h. Konzertveranstaltungen dilettierender Sänger existierten längere Zeit, bis in die zweite Hälfte des 15.  Jahrhunderts, nebeneinander. Die ältesten positiven Nachweise von Meistersingergesellschaften durch eigene Dokumente, Zulassungsbescheide durch die städtische Obrigkeit oder Hinweise in zeitgenössischen Texten stammen erst aus der Zeit um 1490. Zahlreiche Liedtexte, die mögliches Brauchtum spiegeln, sind älter, indes nur selten eindeutig in ihrer Aussage. Es lassen sich also Elemente der Traditionsbildung fassen, zeitlich jedoch nur zum Teil fixieren. Im Folgenden werden die Elemente dieser Tradition entfaltet: der Tongebrauch, die Übernahme alter Strophen samt dem Übergang zur Barbildung, die Verehrung der alten Meister und der Ausbau des Wettbewerbs. Tongebrauch Sangspruchtöne wurden schon im 13. Jahrhundert gelegentlich nicht nur von den Tonerfindern, sondern auch von anderen Meistern verwendet. Im 14. und 15. Jahrhundert nahm die Verwendung fremder Töne zu. Vor allem in einigen Tönen Frauenlobs und Regenbogens, auch im Hofton Boppes und in Marners Langem Ton, ferner in Konrads Morgenweise hat man gern gedichtet. Immer häufiger wurden im 15. Jahrhundert auch die Töne anderer Meister des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts gebraucht, und beinahe ausschließlich von anonymen Autoren. Viele möglicherweise ältere Texte werden erst in den Meisterliederhandschriften des 15. Jahrhunderts überliefert. Die Töne erhielten im Zuge dieses Fortschreibens durchweg Namen, um dem neuen Text die richtige Melodie zuordnen zu können, und sie wurden teils systematisch, teils vereinfachend und gelegentlich fehlerhaft verändert. Zu den systematischen Veränderungen gehört der Übergang zur reinen Silbenzählung, so dass Wörter unabhängig von ihrem Akzent die Verse füllen konnten. Der Auftakt der Spruchtöne, der ursprünglich frei war, wurde mit dem Übergang zur Silbenzählung verbindlich, auch bei Tönen, welche die Tonerfinder an bestimmten Stellen mit regelmäßig auftaktlosen Versen ausgestattet hatten (z.  B. Regenbogen, Langer Ton; Frauenlob, Langer Ton; Konrad von Würzburg, Aspis- und Hofton; Marner, Kurzer und Langer Ton). Langzeilen, auch wenn sie vom Tonerfinder nicht mit festen Zäsuren ausgestattet waren,

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wurden fast immer geteilt und oft mit zusätzlichen Reimen versehen. Man hielt die elaborierte Form für das Original. Darum ergriffen diese Veränderungen häufig auch die Überlieferung echter Strophen. Vereinfachende Änderungen betrafen die Melodiestruktur, indem ähnliche Melodiezeilen völlig vereinheitlicht wurden; ferner wurden Zeilen gleichen Reimes oder gleicher Melodieführung öfter in der Länge angeglichen, und vereinzelt wurden dritte Stollen hergestellt (z.  B. Marner, Kurzer Ton). Weitere Änderungen verallgemeinerten spontane Varianten in der Überlieferung echter Strophen. In manchen Städten (unden an dem rein [d.  h. Rhein]; RSM 1Folz/77; Mayer Nr. 89) war es verpönt, andere Töne als die der Alten Meister zu verwenden (singt er uns uz zwelf meister guot, so mag im wol gelingen; 1Konr/8/9; HMS III,126: III,3,13). Doch erhielten deren Tonœuvres Zuzug durch Übernahme von Tönen anonymer Autoren, die bekannten Tonautoren unterschoben wurden. Als Beispiel seien die Töne Frauenlobs genannt: Als echt gelten Flugton, Goldener, Grüner, Kurzer, Neuer, Langer, Vergessener und Zarter Ton sowie der Würgendrüssel; alle diese Töne wurden, mit Ausnahme des Kurzen Tons, von den Meistersingern rezipiert. Der echte Flugton wurde allerdings dem Marner zugeschrieben. Frauenlob fälschlich zugeschrieben wurden alle im Folgenden genannten Töne: Ein Abgekürzter Ton erscheint einmal im späten Meistergesang; er entspricht metrisch beinahe der Wolfram von Eschenbach zugesprochenen Hön-, eigentlich Heunenweise, einem Ton der anonymen Heldenepik. Die Ankelweise vertritt ein sehr einfaches Schema aus einer Gruppe nah verwandter Töne, die überwiegend Geistliches enthalten. Ein Blauer Ton wird unter gleichem Namen fast ohne Varianz auch Regenbogen und Konrad von Würzburg unterschoben. Ebenso wenig kennt man die Herkunft des Blühenden Tons, der vielleicht für die darin erzählte Legende erfunden wurde (RSM 1Frau/13/1; Schroeder, M. J., Mary-Vers, S. 262), das einzige vorreformatorische Bar in diesem Ton. Was als Froschweise läuft, setzt wahrscheinlich Wizlavs Ton I fort. Frauenlobs Geiler Ton erzählt von Jesu Passion und Auferstehung (RSM 1Frau/15/1; Schroeder, M. J., Mary-Vers, S. 142), steht also ursprünglich vielleicht außerhalb des Meistergesangs. Auch der Gekrönte Reihen existiert in vorreformatorischer Überlieferung nur unikal für ein vielstrophiges Lied (RSM 1Frau/16/1; Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr. 5). Der Gekrönte Ton, ein Ton ursprünglich für geistliche Lieder, kam wohl wegen seines komplexen Schemas mit vielen An- und Binnenreimen, welche die Stollen ähnlich wie im echten Goldenen Ton differenzieren, zu seiner Zuschreibung. Ein (Ge-)Schwinder Ton wurde auch Wolfram oder Rumsland zugeschrieben; die Tonfaktur lässt es als möglich erscheinen, dass er Rumelant von Schwaben gehört; doch ohne echte Texte in diesem Ton muss das Spekulation bleiben. Die (Goldene) Radweise gehört ursprünglich zu einer einheitlich wirkenden Gruppe geistlicher Lieder (RSM 1Frau/22/1–4) des 15.  Jahrhunderts. Die Grundweise erfand der Meister Steinhem; sie wurde außer Frauenlob auch noch einem fiktiven Meister Anker zugewiesen. Zu einem – freilich nicht überlieferten – Pseudo-Neidhart könnte ursprünglich nach Namen und vor allem Tonschema die Hagenblühweise gehört haben. Als Hundweise wird Kelins Ton III Frauenlob zugesprochen; k überliefert sogar Kelins Fabelstrophe von Hund und Fleischbrocken (RSM 1Kel/1/3; Whm. I,3) unter dem neuen Tonautornamen. Auf die Jahrweise des Liebe von Giengen geht der gleichnamige Ton Frauenlobs zurück. Der Kupferton gehört noch in k dem Ehrenboten, von dem wir nichts Genaues wissen, später ebenfalls dem am höchsten verehrten Meister Frauenlob. Aus dem in k ebenfalls überlieferten Ma­ rien­leich schnitt ein Meistersinger des 16. Jahrhunders einen Leichton heraus (Brunner, Alte Meister, S. 98  f.). Marienpreis bildet den Inhalt der drei in k überlieferten Bare des Leidtons (RSM 1Frau/21/1–3), vielleicht Grund genug, den anonymen Ton unter Frauenlob zu inserieren. Die Ritterweise teilt ihr Schema mit dem Goldenen Ton, der Wolfram zugeschrieben wurde. Der Späte Ton lief ursprünglich



Die Rezeption der Sangspruchdichtung im Meistergesang 

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ohne Autornamen vor allem in Drucken um (gelegentlich in des Späten ton) und wurde ebenfalls Frauenlob zugesprochen. Die Spiegelweise gehört im Bestand der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C zu Recht Konrad von Würzburg (Ton XVIII [18]), nur in C (RSM KonrW/1/1 u. 4; Schr. 18,1 und 18,31) sind die auf Spiegel bezogenen Strophen belegt. Der Süße Ton, mit Baren religiösen Inhalts, ist nur in k überliefert; drei nachreformatorische Bare entnahmen diese Form dann direkt aus k. Die Tagweise kennt einzig der späte Meistergesang, eine tatsächliche Tagweise als Vorbild wurde noch nicht gefunden. Der Tannton ist in vier verschiedenen Handschriften mit drei Liedern vertreten. Nürnberger Meister kannten ihn indirekt aus k und dichteten zwei neue Lieder. Lienhard Nunnenbeck verwendete zweimal einen umfangreichen Überkrönten Ton (RSM 1Nun/18 u. 32; Klesatschke, Nunnenbeck, Nr. 19 u. 46), den Sachs einmal aufnahm (RSM 2S/3330). Ein einziges Mal ist anonym im 16. Jahrhundert auch ein Übersüßer Ton bezeugt (RSM 2A/316). Der lange und kunstvolle Überzarte Ton dagegen wurde vier Jahre nach Frauenlobs Tod komponiert, vielleicht von einem Schüler, und wurde nur zögerlich rezipiert. Bewusst firmiert vielleicht die Osterweise Kettners auch unter dem Namen Verhohlener Ton Frauenlobs. Die verbreitete Zugweise ist der Ton von Pseudo-Regenbogens Sterbelied, wird jedoch selbst dort Frauenlob zugeschrieben. Gelegentlich wurden Frauenlob auch der Kaufton, d.  i. Ehrenbotes Fürstenton bzw. ‚Wartburgkrieg‘, Ton I, der Rohrton des Pfalz von Straßburg und das Silbrin Reis zugeschrieben (zu allen unechten Tönen vgl. Rettelbach, Variation, S. 282–287 und Register, ferner RSM, Bd. 1).

Insgesamt 40 Töne wurden Frauenlob im Rahmen der Tradition zugesprochen. Sie sind teilweise echt, teilweise stammen sie von Nachfolgern oder sogar Vorgängern. Mehrere Töne stammen wohl aus dem Bereich der Tagweisen, nicht nur der so genannte Ton, sondern auch Überkrönter und Übersüßer Ton, oder es sind Töne aus oder neben der meisterlichen Tradition, religiös-marianisch oder aus dem Umkreis der Neidharte. Was bei Frauenlob anzumerken ist, kann man auch bei anderen alten Meistern beobachten, doch selbst Regenbogens Pseudotöne bleiben an Zahl weit hinter denen Frauenlobs zurück. Betroffen sind z.  B. auch der Marner und Walther von der Vogelweide. Wolframs von Eschenbach einziger Ton neben den Tönen zu seinen Liedern, der Titurelton, erreichte die Sangspruch- und Meisterliedtradition nicht, dafür wurden ihm die Epentöne Flammweise und Hönweise zugeschrieben. Vieles in dieser Tradition ist eher zufällig durch Verwechslungen, Gleichsetzungen (Heinrich von Mügeln mit Mülich von Prag) und Ungenauigkeiten bedingt, doch manche Töne wurden auch bewusst unterschoben, um den Ruhm eines Tones zu festigen oder um ihm dort, wo man nur in Tönen der Zwölf alten Meister vortragen durfte, überhaupt Gehör zu verschaffen. Zweifel an der Echtheit von Tönen äußerte bereits Hans Folz in allgemeiner Form (RSM 1Folz/78; Mayer Nr. 90). Als Beispiel nennt er die Erfindung eines fiktiven, Glutweis genannten Tons, den man dem Kanzler andichten könnte, sogleich würden alle Anwesenden ihn kopfnickend für autortypisch erklären. Adam Puschman erklärte zu Recht den Überkurzen Ton Heinrichs von Eferding/Ofterdingen für eine Fälschung. Strophenübernahme und Barbildung Während die Sangspruchdichter bis nach 1300 vor allem selbständige Einzelstrophen dichteten, wurde ab der Mitte des 14. Jahrhunderts Mehrstrophigkeit faktisch Gesetz.

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Die Meistersinger übernahmen dieses Prinzip der Mehrstrophigkeit; sie bildeten (meist) ungeradzahlige, selten mehr als sieben Strophen zählende ‚Bare‘, d.  h. Lieder. Von der Wertschätzung der alten Meister zeugen in den Handschriften des 15. Jahrhunderts vor allem Übernahmen altüberlieferter Strophen. Zu diesem Zweck wurden mehrere Strophen desselben Tons meist nach inhaltlichen Kriterien zu Baren zusammengestellt, oder es wurden einzelne alte Strophen durch neu hinzugedichtete ergänzt. Diese Traditionspflege widerfuhr insbesondere, aber nicht ausschließlich, den Meistern, die man in die Zwölferliste aufgenommen hatte (s.  u.). Es ist im Einzelnen nur gelegentlich zu erkennen, wie alt die Bare sind, ob sie im Vorfeld oder im Zusammenhang mit der Entstehung der jeweiligen Handschrift oder bereits in älterer Zeit konzipiert wurden. Mit einiger Sicherheit finden sich auch einzelne echte Strophen, denen nur die alte Bezeugung fehlt, in scheinbar gänzlich neu gedichteten Baren. Fehlt heute ein verlässlicher Bestand an altbezeugten Strophen wie bei dem höchst beliebten Meister Regenbogen, dessen Töne gerne weiterverwendet wurden, lassen sich auch keine entsprechenden Nachweise führen. Das Zusammenstellen und Zudichten ist eine Kunst, in der man die hohe Verehrung der Alten zeigen konnte, zugleich in der Zudichtung den eigenen Kunstverstand. Das RSM lässt die sicheren Fälle gut erkennen, da in der Parallelüberlieferung zu den echten Strophen die Nummern der Bare erscheinen, in welche die jeweilige Strophe eingebaut ist. Bei der Barbildung ergeben sich vielfältige Unterschiede in der Faktur. Die in k besonders zahlreichen Beispiele sind wahrscheinlich weitgehend bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden (Baldzuhn, Sangspruch, S. 463  f.). Beispiele: Unter Konrads von Würzburg Hofton überliefert die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k ein Dreierbar mit Lobstrophen auf die wîp (RSM 1KonrW/7/500; Text auch in München, BSB, Cgm 5198; Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr. 114). Strophe 2 ist in der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘ C bezeugt (RSM 1KonrW/7/7; Schr. 32,91), die beiden anderen sind selbstständig und nach Bartsch ([Hg.], Meisterlieder, S. 165) trotz fehlender alter Bezeugung echt. Baldzuhn (Sangspruch, S. 240– 242) stimmt ihm vorsichtig zu. Ein Bar in Heinrichs von Mügeln Langem Ton (RSM 1Bop/1/557) kombiniert drei als echt geltende Strophen Boppes (Alx., S. 125) im schemagleichen Hofton Boppes (RSM 1 Bop/1/29, 5 u. 25), die in Basel, UB, Cod. N I 3/145, in der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ J bzw. in J und C zu finden sind, also keineswegs eine bekannte alte Überlieferungsfolge fortsetzen. Neu ist außer der Zusammenstellung der Übergang in den schemagleichen Ton Mügelns. Die mittlere Strophe RSM 1 Bop/1/5 (Alx. I,5) ist zugleich die dritte Strophe eines Bars mit zwei mutmaßlich jüngeren Strophen (RSM 1Bop/1/531), die ihrerseits einzeln auch in weiteren Baren verwendet sind (RSM 1Bop/1/502 u. 514); alle genannten Bare sind in k überliefert und man könnte die Verflechtung noch weiter verfolgen. Gerade im Hofton des alten Meisters Boppe ergibt sich trotz nur 28 bis 31 alt bezeugten Strophen mehrfach ein Geflecht aus echten und jüngeren Strophen, die in unterschiedliche Bare eingebaut wurden (vgl. RSM und Baldzuhn, Sangspruch, S. 364–370). Was Frauenlob betrifft, so lassen sich bis heute seine echten Strophen nicht exakt von den Zudichtungen scheiden. Auch in der ‚Weimarer Liederhandschrift‘ F weist die Vermischung von echten und nachgedichteten Strophen Frauenlobs und die Barbildung ins 14. Jahrhundert zurück. In den Handschriften aus der Zeit um und kurz nach 1500 verschwinden solche Gebilde weitgehend. Im nachreformatorischen Meistergesang wird dieser Brauch überhaupt nicht mehr geübt, vorreformatorische Strophen sind nicht mehr in der Überlieferung zu finden.



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Die Tradition der alten Meister Eine Zwölfzahl von alten Meistern scheint erstmals bei Hermann Damen angedacht zu sein (Schl. III,4), wenn man mit Henkel (Alte Meister) vermutet, dass er, der nur elf Meister nennt, sich selbst heimlich als den zwölften sah. Fünf Jahrzehnte später präsentiert Lupold Hornburg von Rothenburg (Cramer  II, I) eine abgeschlossene Zahl, zu der er sich als Nachmeister nicht mehr zählt. Das Lied führt teils andere Dichter als Damen an, nur acht spielen auch später eine Rolle: Reinmar von Zweter, Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Konrad von Würzburg, Boppe, Marner, Regenbogen und Frauenlob. Die anderen von Lupold Genannten, Neidhart, der Ehrenbote und Friedrich von Sonnenburg, spielen in der Tradition der Meistersinger nur noch eine Nebenrolle, Bruder Wernher hatte man im 15. Jahrhundert beinahe ganz vergessen: Er erscheint nur noch in den großen Dichterlisten von Konrad Nachtigall (Brunner, Dichter ohne Werk, S. 15–19) und Hans Folz (ebd., S. 25–29). Mehr als 150 Jahre lang wurde nach Lupold Hornburg zwar von alten Meistern gesprochen, immer wieder auch von der Zwölfzahl, doch nirgends mehr findet man eine verbindliche Liste. Diese erscheint erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts in zwei Handschriften (RSM 1Liebe/1/4; Cramer IV, Liebe von Giengen IV in zwei Fassungen). Sie setzt die Meister in den Rosengarten des Gesangs, voran nun Frauenlob und Regenbogen. Es folgen: Klingsor, Marner, Walther von der Vogelweide, Konrad von Würzburg, Kanzler, Boppe, Stolle, Römer von Zwickau – womit von nun an Reinmar von Zweter gemeint ist, unter Verlust seines Frau-Ehren-Tons, der hinfort unter dem Nachmeister Ehrenbote läuft – und Heinrich von Afterding. Allen werden in diesem Lied Berufe beigelegt. Danach werden fünf zu spät Gekommene genannt (nachtichter), die den Garten pflegten: der Ungelehrte, der Tannhäuser, der Meißner, Neidhart, Ehrenbote. Das Lied begründet ausdrücklich keine Einschränkung in Bezug auf den Gebrauch der Töne der Zwölf, ist es doch in der Radweise des Liebe von Giengen abgefasst, der nicht einmal bei den Nachmeistern erwähnt wird. Dieselben zwölf Meister, ohne die Verspäteten und mit einer kleinen Umstellung am Schluss (Römer, Boppe, Stolle, Aferding), nennt ein anonymes Lied im Langen Ton Frauenlobs (RSM 2A/277; Brunner/Rettelbach, Schulkunst, S. 223–227), dies zusammen mit der frühesten Fassung der Ursprungssage. Da es vielleicht auch zur Bestätigung des Verbots jüngerer Töne diente, fehlen die fünf Nachmeister. Das Lied dürfte bald nach 1500 in Augsburg entstanden sein. Wir haben zwar keinen Beleg für einen älteren Bestand der Liste, doch müssen die Stimmen, die schon in den Anfangszeiten des Dichters Folz die Beschränkung auf eine Zwölfzahl forderten, in erster Linie diese zwölf Meister gemeint haben. Die Ursprungssage behauptet den Beginn des Meistergesangs unter einem Kaiser Otto, zu dessen Zeiten die Meister gelebt hätten. Sie behauptet auch die Bestätigung durch einen Papst Leo und ein Verhör in Paris – womit wohl die Mächte Imperium, Sacerdotium und Studium angesprochen werden sollten. Auch die Bestätigung durch die Kirche kritisierte Folz, auch sie wird also im Kern älteren Datums sein (Brunner/ Rettelbach, Schulkunst). Die Geschichtsklitterung, wie sie sich in dem anonymen Augsburger Lied zeigt, muss aus einer besonders bildungsfernen Schicht von Singern

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stammen und entstand wohl erst um 1500 oder wenig später, wobei sie unterschiedliche Wissensfetzen verarbeiteten. Spätere Nacherzählungen versuchten an manchen Stellen nachzubessern, man ersetzte Paris durch Pavia oder das älteste überlieferte Datum (900) durch 962, 963 oder 964, und man identifizierte Otto mit Otto I. oder Otto III. Gleichzeitigkeit der Meister hatte die Zwölferliste nicht beansprucht. Eine Beschränkung auf die Töne der alten Meister gab es im 16. Jahrhundert nirgends mehr, da man nunmehr der Nürnberger Tradition folgte, die diese Beschränkung nie anerkannte. Überliefert sind außer den beiden genannten Liedern noch weitere elf mit einer Nacherzählung der Ursprungssage, die sich in Einzelheiten unterscheidet, auch in der Liste der zwölf Begründer. Diese Dichtungen gehören in unterschiedliche Singschulorte, nicht alle lassen sich sicher zuordnen (RSM 2 A/15, 753, 911, 1117, 1236 [Schröer, Meistersinger, S. 211–213], 1376 [Widmann, Geschichte, S. 22–25], 2 Dril/2, 2Gerst/2 [Puschman, Bericht (b), Bd. II, S. 66–73], 2Herol/34, 2Pus/13 [ebd., Bd. II, P 1, fol. 18v– 21r], 2Sigel/1). Zahlreiche weitere Lieder erzählen gerafft oder erwähnen die Sage ohne Listen, drei geben Listen, ohne die Sage zu erzählen (RSM 2A/54, 288 und 846). Gegenüber den ältesten Listen zählen die meisten Texte Heinrich Mügling zu den Alten. Dort müssen für den Neuzugang Klingsor oder Ofterdingen oder Konrad von Würzburg weichen. Zwei Lieder folgen RSM 1Liebe/1/4 in der Aufnahme von Nachdichtern; sie sind nur teilweise identisch (RSM 2A/288 mit fünf und 846 mit 19 Nachmeistern). Meisterlisten oder Sagenzeugnisse kann man auch in mehreren Einleitungen zu Meistersingerhandschriften finden, beispielsweise zu Augsburg, SB u. StB, 2o Cod. Aug. 370, Vorderspiegel (Prosaeintrag); 4o Cod. Aug. 218, *1r (Prosaeintrag ohne Meisterliste); 4o Cod. Aug. 219 (Spruchgedicht), Breslau, UB, Ms. 400588, *17r–*18v (Spruchgedicht Georg Langes); Jena, ThULb, Ms. El. Fol. 100, fol. 1r–2v (Prosavorrede; Brunner, Dichter ohne Werk, S.  21–23); Nürnberg, Landeskirchliches Archiv, Fen. 4o V 182, eingeklebter Zettel (Prosaeintrag ohne Meisterliste); Ulm, Stadtmuseum, L 5850; Wien, ÖNB, Cod. 13512, fol. 5r–11v (Spruchgedicht Georg Hagers).

Die Hierarchie der Meister wird auch in der Anlage der Register zu Meistersingerhandschriften spürbar. Sie folgen häufig der Abfolge: Zwölf Meister, Nachmeister, Gegenwärtige. Sachs allerdings hält sich nicht an das Übliche: Er beginnt (z.  B. im Generalregister) mit den vier Erfindern der gekrönten Töne, Regenbogen, Frauenlob, Marner und Mügling, gefolgt von Wolfram, Walther und Konrad. Dann aber reiht er zahlreiche Nachmeister, unterbrochen von weiteren der üblichen Zwölferliste, bevor er die Meister einzelner Schulen, am Ende der Nürnberger Gesellschaft, nennt. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, also erst sehr spät, wurde die Ursprungssage in Nürnberg in einer revidierten Form übernommen. In der sog. Freiung, der Aufnahmezeremonie für junge Singer, sang der Eleve auf die Fragen des Merkers von der Begründung des Meistergesangs durch die von Sachs vorangestellten vier gekrönten Meister unter Kaiser Otto (RSM 2VogM/11 von 1574, 2HaG/164 von 1594, 2Dei/206 von 1611, 2Met/569 von 1626). Wettbewerb Der ‚Wartburgkrieg‘ ist ein Konglomerat aus mehreren fiktiven Wettkämpfen im Singen. Im ersten, jüngeren Teil, dem anonym aufgezeichneten ‚Fürstenlob‘ (etwa 1260), fechten der Tugendhafte Schreiber, Walther von der Vogelweide und weitere gegen Heinrich von Ofterdingen einen Wettstreit im Lob ihrer Gönner aus. Dass solche



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Wettkämpfe in der Mitte des 13. Jahrhunderts oder schon zuvor wirklich stattfanden, ist nicht zu belegen, doch immerhin die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Sänger bei Festen. In der Folgezeit entstanden zahlreiche weitere fiktive Wettkämpfe (Wachinger, Sängerkrieg), doch sind auch ernsthaft gewertete wahrscheinlich zu machen. Die Meisterliederhandschriften des 15. Jahrhunderts belegen mehr als 40 Herausforderungen zum Gesang. Freilich dienen sie nicht zwingend zur Einleitung einer Singschule im Sinn einer gewerteten Konzertveranstaltung, insbesondere nicht die mit verletzend-aggressivem Charakter, die einen Einzelnen herausfordern. Eine frühe Aufforderung zum Wettstreit im Singen vor Publikum findet sich in ‚Liebhard Eghenvelders Liederbuch‘ (Wien, ÖNB, Cod. s.  n. 3344 von 1431/34) in der Rohrweise des Pfalz von Straßburg (1Pfalz/2; Cramer IV, Pfalz von Straßburg II). Diese oft ‚Fürwurf‘ genannten Lieder belegen jedenfalls die Kontinuität der Wettbewerbsidee, und sie wurden noch gedichtet oder jedenfalls überliefert zu einer Zeit, für die man aus anderen Quellen und Überlegungen heraus mit Sicherheit auf die Existenz von Singveranstaltungen mit Wettbewerbscharakter schließen kann. Ende des 14. Jahrhunderts nehmen religiöse Bruderschaften in den Städten zu, die Präsenz von Singern wird greifbar. Sangspruchdichter erhalten zu Beginn des 15. Jahrhunderts auch von Städten, nicht mehr nur von Fürsten Honorare. Direkte Zeugnisse für organisierten Meistergesang, wie schon erwähnt, fehlen. Um Wettbewerbe durchführen zu können, muss es Konsens über die erlaubten Bedingungen und die sanktionierten Fehler geben. Tabulaturbestimmungen sind zwar nötig für einen geordneten Singschulbetrieb, doch werden einzelne auch von späten Sangspruchdichtern erwähnt. Etwas häufiger erscheinen sie in Texten nach der Mitte des 15. Jahrhunderts, in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k zum Beispiel bei RSM 1Ehrb/2/7 (Bartsch [Hg.], Meisterlieder, Nr. 151) und RSM 1Ungl/1/1 (Cramer IV, Ungelarter I). Erst nach 1500 gibt es differenzierte Tabulaturlieder, die übrigens nicht einheitlich in den Regeln sind. Man kann sie München (RSM 1Drab/1/1; Cramer I, Hieronymus Drabalt III), Nürnberg (RSM 1Folz/46, 77 u. 81, Mayer Nr. 46, 89 u. 93; RSM 1Nun/32, Klesatschke, Nunnenbeck, Nr. 46) und Frankfurt (RSM 2S/35 u. 45, Ellis, Early Meisterlieder, Nr. 30 u. 35; RSM 1Singer/1, Cramer IV, Caspar Singer I) zuordnen (Taylor, B., Beitrag; Rettelbach, Salve Regina), und etwas unterschiedlich bleiben die Tabulaturen auch nach der Reformation in den nun genau ausgearbeiteten Prosaregelwerken. In vielen Liedern der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k und anderer Meisterliederhandschriften ist vom Singen in größerer Runde die Rede. Kommt noch ein Singermeister ins Spiel, so spricht das zumindest für Einzelveranstaltung mit festen Strukturen. In RSM 1Zwing/3/7 (Cramer III, Zwinger VII), tradiert in k, begrüßt ein Neuankömmling Singer und einen Meister, die offenbar dauerhaft zusammengehören, denn er ist ausdrücklich ihretwegen von auswärts hergekommen. Preise in Form von Rosenkränzen winken in RSM 1Regb/1/526 (Poynter, Poetics, S. 276  f.), 1 Frau/2/548 (ebd., S. 187–190), 1Frau/23/10 (ebd., S. 247  f.) und 1Ehrb/2/3 (ebd., S. 489– 491); in RSM 1Ehrb/2/11 (Wunderle, Sammlung, Nr. 28) besteht der Kranz aus sieben Rosen. Zur Zeit der Abfassung von k darf ein geregelter Singschulbetrieb als gesichert

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gelten, auch wenn sich manche dort überlieferten Lieder vielleicht auf den Wettstreit Mann gegen Mann in einer Wirtshausöffentlichkeit beziehen. In dieser Lage ist ein Lied Michel Beheims aufschlussreich, sein vermutlich frühestes Lied im Langen Ton (Gille/Spr. 425), wohl zwischen 1440 und 1442 geschrieben (Schanze, Liedkunst I, S. 217 u. 220). Es spricht davon, dass er seine Töne und Dichtungen vor allen singern und den merkern vortragen könne. Das aber sei nicht sein Ziel, er wolle zwar nicht zu den Zwölf Meistern, aber doch zu den Nachmeistern gehören, und er klagt, dass ihn Neider in gesang leczen ‚besiegen‘ wollen. Dennoch will er den Gesang (dieses Lied?) den gesellen geben; gesellen heißen die Mitsinger gelegentlich auch sonst und noch im Schulzettel des Hans Sachs. Das Lied, das von einem Gegensatz zwischen Berufsund Freizeitsängern ausgeht, legt die Existenz organisierter Gesellschaften fast zwingend nahe, auch wenn es fiktional zu verstehen ist. Auch in k werden in einem Lied in der Froschweise neben der meister meng die merker um Aufmerksamkeit gebeten (RSM 1Frau/14/2; Poynter, Poetics, S. 195–199). In späteren Liedern fällt der Begriff ‚Merker‘ regelmäßig: im Cpg 392 der UB Heidelberg in einem anonymen Lied (RSM 1 Musk/1/69, Grte. 99), dann bei Folz, Nunnenbeck und Sachs. Stärkstes Argument für die organisierte Macht fester Gruppen ist jedoch die Tatsache, dass einige die Einschränkung des Tönegebrauchs durchsetzen konnten, der sich Folz vor 1460 durch seine Niederlassung in Nürnberg entzog. Ausg. Alx.; Bartsch (Hg.), Meisterlieder; Cramer; Ellis, Early Meisterlieder; Gille/Spr.; HMS; Klesatschke, Nunnenbeck; Mayer; Poynter, Poetics; Puschman, Bericht (b); Schl.; Schr.; Schröer, Meistersinger; Whm.; Wunderle, Sammlung. – Lit. Baldzuhn, Sangspruch; Brunner, Alte Meister; Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Meistergesang (b); Brunner/Rettelbach, Schulkunst; Henkel, Alte Meister; Rettelbach, Salve Regina; Rettelbach, Variation; RSM; Schanze, Liedkunst; Schroeder, M. J., Mary-Vers; Stackmann, Meisterliches Lied; Taylor, B., Beitrag; Wachinger, Sängerkrieg; Widmann, Geschichte.

4 Ausblick: Der Meistergesang – Tradition und Neuansatz

Michael Baldzuhn

Die Herausforderung des Gemerks Jtem ain ider thon sol in zal vnd mas gesungen werden wie er von dem maister ausgegangen ist oder von alter her kumen ist Welcher mer oder minder reimen precht oder die reimen anderst püend oder pluemet sol als vil silben versungen haben als die verendrung silben hat. (Sachs, Generalregister, Bl. 118v) „Ferner: Jeder Ton soll nach Zahl und Maß so vorgetragen werden, wie er vom Meister [sc. dem Tonerfinder, M. B.] geschaffen wurde oder von alters her auf uns gekommen ist. Wer mehr oder weniger Reime vorbringt oder die Reime anders verbindet oder sie verziert, der soll für seinen Vortrag so viele Strafsilben erhalten, wie die Abweichung Silben umfasst.“



Ausblick: Der Meistergesang – Tradition und Neuansatz 

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Eine vom Nürnberger Meistersinger Hans Sachs (1494–1576) notierte Anweisung hebt drei markante Eigenheiten des Meistergesangs ins Bewusstsein. Man orientiert sich an Vorgängern (von dem maister  … oder von alter her), richtet sich dabei konservativ-bewahrend aus (wie er … ausgegangen … oder her kumen ist) und sanktioniert Abweichungen von dieser Ausrichtung (… versungen haben). Bezogen ist die gesamte Anweisung auf den Liedvortrag (gesungen … werden). In ihm ereignet sich Meistergesang wesentlich, mithin auf der Singschule, dem ‚idealen‘ (denn nicht alle Meisterlieder wurden auch vorgetragen) Ort des Vortrags von Meisterliedern, bei der sich das Gemerk befand. Vom Geschehen in der Singschule geben mehrere zeitgenössische Darstellungen einen Eindruck: etwa eine Kabinettscheibe des Nürnberger Meistersingers Philipp Hager (1599–1662) von 1637 (Hahn, R., Meistergesang, S. 29), ein Holztafelgemälde des 17. Jahrhunderts (ebd., S. 46) oder eine Illustration im Stammbuch der Memminger Meistersinger von 1615 (ebd., S. 89). (1) Vier Merker sind es meist, die dem Vortrag des Sängers folgen. Sie nur als Experten, Wächter, Schiedsrichter oder neutrale Prüfer zu bezeichnen, erfasste nicht zureichend ihre Bedeutsamkeit. Leibhaftig repräsentieren sie die andauernde Gegenwart der Vergangenheit. Das anonyme Holztafelgemälde kann daher, statt, wie es historisch richtig wäre, Zeitgenossen des Sängers abzubilden, vier längst verstorbene Sangspruchdichter des 13. und 14. Jahrhunderts als Merker auftreten lassen: den Marner, Frauenlob, Regenbogen und Heinrich von Mügeln  – Autoren besonders angesehener, der sog. gekrönten Töne. (2) Die konservative Ausrichtung der Meistersinger an der Vergangenheit zeigt sich auch an der Aufgabe der Merker während des Liedvortrags. Sie wachen über die richtige Wiederholung der Tradition, an einem eigenen Tisch hinter einem Vorhang dem Vortrag folgend und faktisch im Sinne von Anweisungen wie der eingangs aus der Feder von Hans Sachs zitierten zum Beispiel über die Bewahrung des ursprünglichen Reimgebändes eines Tons. (3) Die Sanktionierung der Traditionsbindung bringen schließlich einige Utensilien in den Blick. So werden die Merker bei der Ausübung ihres Amtes, neben ihrer Erfahrung, von schriftlichen Hilfsmitteln unterstützt. In Memmingen liegt ein geöffnetes Buch vor ihnen. Die Holztafel zeigt Frauenlob mit einem Codex auf den Knien. Die Kabinettscheibe gibt ihnen ein Tintenfass zur Hand. Zu den weiteren Hilfsmitteln zählen insbesondere Verzeichnisse von Fehlertypen und Fehlerpunkten, sog. Tabulaturen. Demgegenüber weisen Kranz und Zierkette, auf der Kabinettscheibe im Hintergrund an die Wand gehängt, auf positive Sanktionierung. Wer von den Vortragenden am wenigsten Fehler macht, erhält sie als Auszeichnung. Seiner Konzeption nach ist Meistergesang damit wie sein Vorbild, die Sang­ spruchdichtung, Aufführungskunst, die sich in Kommunikation unter Anwesenden vollzieht. Mögen viele Meisterlieder auch schriftlich ausgearbeitet und verbreitet, aber nie gesungen worden sein: Seiner Idee nach müssen sie vor einem Minimalpublikum von Experten, den Merkern, erklingen. Deren physische Präsenz erlaubt unmittelbare Urteilsfindung ohne zeitlichen Abstand vom Singschul-Geschehen. Das schließt die ganze Veranstaltung zusammen. Da zudem mehrere Sänger auftreten, hat sie Wett-

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kampf-Charakter. Der ausgezeichnete Sieger bekommt seine Tüchtigkeit unmittelbar vor allen Anwesenden durch die Preisvergabe bestätigt. Meistergesang ist eine kollektive und, obschon Zuhörer ausdrücklich eingeladen, ja durch Anschlagszettel eingeworben waren, im Kern eine geschlossene und sich damit quasi selbst tragende Veranstaltung. Die bis hierher idealtypisch und in Ausrichtung am konservativen Selbstverständnis der Meistersinger skizzierte Interaktion mit seiner Ausrichtung auf die Vergangenheit und seiner tendenziell selbsttragenden Struktur stellt eine nicht unwesentliche Voraussetzung dar für die über Jahrhunderte reichende Dauer dieser – dabei keineswegs uniform-gleichbleibenden  – Kunstpraxis. Noch 1875 nehmen die Memminger Meistersinger ein Mitglied auf, das letzte von ihnen verstirbt 1922 (Nagel, B., Meistersang, S. 25). Zumal im Vergleich zur älteren Sangspruchdichtung des 13. und 14. Jahrhunderts, und durchaus im Widerspruch zum Selbstverständnis der Meistersinger, ist andererseits aber auch die Modernität des ganzen Geschehens nicht zu übersehen: (1) Die schriftliche Kontrolle des Liedvortrags mit Hilfe von Tabulaturen bedient sich spezieller Terminologie, einer eigenen Fachsprache (Plate, Kunstausdrücke; Baldzuhn, Feld). Zudem werden schriftliche Protokolle der Wettbewerbe angefertigt (erhalten aus Nürnberg, Augsburg, Iglau). Die frühneuzeitliche Beschleunigung der allgemeinen „Verschriftlichung des Lebens“ in der Volkssprache (Giesecke, Volkssprache) vollzieht sich auch im Meistergesang. (2) Wettsingen der Meistersinger werden verschiedentlich auf Plakaten nach Zeit, Ort und Inhalt öffentlich angekündigt: Für ihren Besuch wird geworben. Das führt in der eigentlichen Aufführung zu einer Verdoppelung des Publikums, das nun aus dem primären der Merker und sekundären Zuschauern (darunter auch die Mit-Meistersinger) besteht. Die ganze Veranstaltung nähert sich somit einer Theatervorführung an. ‚Kunst‘ erscheint zunehmend institutionalisiert als eigenes System mit eigenen Regeln. (3) Der höhere Organisationsaufwand im Vorfeld der Vorträge wie für ihre Durchführung erfordert einen stabilisierten, nicht einfach mehr nur okkasionell sich versammelnden Kreis von Trägern mit gleichgerichtetem Interesse. Die Meistersinger regeln diesen Zusammenschluss in Form von Gesellschaften. Das erfordert zahlreiche besondere Maßnahmen: die Gründung (und die Auflösung) einer Gesellschaft, die Aufnahme und Ablehnung von Mitgliedern, die Finanzierung, die Aufbewahrung von Utensilien und Handschriften muss dauerhaft geregelt werden. Dafür reichen keine individuellen Absprachen von Fall zu Fall mehr. Das muss moderner, muss schriftlich geregelt werden. (4) Die Rückbindung an mittelalterliche Vorläufer beschränkt sich nicht auf ihre inszenierte Wiederholung in der Singschule, sondern findet auch außerhalb Ausdruck in mehreren diskursiven Texten, die von der alten Herkunft des Meistergesangs erzählen (Ellenbeck, Sage; Brunner, Alte Meister, S. 12–31; s. oben → Kapitel VIII.3). Die Meistersinger pflegen damit einen eigenen Mythos ihrer Gründung zurück bis in die Zeit Kaiser Ottos des Großen. Sie schreiben so in gewisser Weise bereits ‚Literaturgeschichte‘. (5) In größerem topographischen Kontext lässt sich der Meistergesang mit seiner städtischen Verortung, der Organisation seiner Zusammen-



Ausblick: Der Meistergesang – Tradition und Neuansatz 

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künfte, seiner ausgestellten Ableitung aus der Vergangenheit, seiner Bindung literarischer Produktion an die Sichtbarkeit der Aufführung und den Wettkampf einer Reihe ähnlich ausgerichteter, ebenfalls dezidiert volkssprachiger Gemeinschaften zur Seite stellen, die sich im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit europaweit mit Macht etablieren: insbesondere den niederländischen Rederijkers (vgl. den Beitrag Van Dixhoorns in Van Dixhoorn/Speakman Sutch [Hg.], Reach), den nordfranzösischen Puys (vgl. Taylor, A., Literary History, S. 13–15; Brunner/Tervooren, Einleitung, S. 6  f.), der toletanischen Companhia de gay saber (vgl. Peters, Literatur, S. 219–223; Kendrick in Van Dixhoorn/Speakman Sutch [Hg.], Reach). Die spätmittelalterliche „Literatur-Explosion“ (Kuhn, Versuch, S.  78) beschränkt sich nicht allein auf den deutschen Sprachraum. Wo sie medial sich nicht primär im modernen Medium des gedruckten Buches niederschlägt, da erscheinen Produktion, Distribution und Rezeption volkssprachiger Literatur in alternativen, stärker noch an die Präsenz der Anwesenden gebundenen Formen, die nun sehr viel differenzierter als zuvor organisiert werden. Zwischen überformendem Selbstverständnis, Verpflichtung auf die Vergangenheit und Verpflichtetheit auf die eigene Gegenwart: in diesem Beziehungsdreieck ist der Meistergesang von Fall zu Fall zu beschreiben, gewinnt er seine Eigenart. So weist etwa das Bemühen der Meistersinger, mit den Tabulaturen Spezifika von ‚Dichtung‘ mit eigenen volkssprachigen Begriffen zu erfassen, einerseits auf die späteren Barockpoetiken voraus. Andererseits aber dienen diese Begriffe – das wird noch in jüngsten Überblicksdarstellungen übersehen (Holznagel, Mittelalter, S. 68) – gerade nicht produktiv der Anleitung zum Verfertigen von Texten, sondern restriktiv der Vermeidung von Fehlern, bleibt die Weitergabe des ‚positiven Wissens‘ dem MeisterSchüler-Verhältnis vorbehalten. Ebenso verweisen das Festhalten der Meistersinger an der Präsenz der Sänger und ihre Zurückhaltung gegenüber dem Buchdruck mit seiner Produzent und Rezipient weit distanzierenden Kommunikation einerseits auf die Sangspruchdichtung zurück – und trennen den Meistergesang andererseits in der Organisiertheit seiner kommunikativen Abläufe doch entschieden von ihr. Grundlinien der Forschungsgeschichte Referate zur Forschungsgeschichte finden sich bei A. Taylor (Literary History, S. 1–7), B. Nagel (Meistersang, S. 5–13), R. Hahn (Geschichte), Brunner (Geschichte; Stand und Aufgaben) und Brunner/Tervooren (Einleitung); vgl. jetzt auch → Kapitel II in diesem Band. Prinzipiell sieht sich die Erforschung des Meistergesangs der anspruchsvollen Aufgabe gegenüber, zum einen Mittelalterliches wie Modernes in dieser letzten und längsten Phase der ausladenden Sangspruchtradition präzise auseinanderhalten zu müssen, zum anderen einen Rezeptionsprozess, der sich selbst als einen solchen unübersehbar ausstellt, auf eine Weise modellieren zu müssen, welche die moderne und damit auch aktuelle wissenschaftliche Rezeption des Meistergesangs inklusive ihrer Voraussetzungen mit einschließt.

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Dieser anspruchsvollen Aufgabe stand hinderlich zunächst das Vorliegen einer eigenen, in der Regel auf Kontinuität setzenden ‚Geschichtsschreibung‘ der Meistersinger oder ihnen noch nahestehender Personen entgegen, etwa Adam Puschmans (1532–1600) 1571 in Görlitz gedruckter ‚Gründlicher Bericht des deutschen Meistergesanges‘ (Puschman, Bericht [b], Bd. 2), der Bericht ‚Von der Edlen vnnd Hochberüembten Kunst der Musica, vnnd deren Ankunfft, Lob, Nutz, vnnd Wirckung, auch wie die Meistersenger auffkhommenn‘ (1598; Spangenberg, C., Musica) des Theologen Cyriacus Spangenberg (1528–1604), Vater des Straßburger Meistersingers Wolfhart Spangenberg (1567–1636), von dem ebenfalls Abhandlungen zur Geschichte des Meistergesangs vorliegen (s. Spangenberg, W., Musica), und Johann Christoph Wagenseils (1633–1705) als Anhang zu seiner Nürnberger Stadtgeschichte 1697 erschienenes ‚Buch von der Meister-Singer Holdseligen Kunst‘ (s. Wagenseil, Holdselige Kunst). Die Beschäftigung mit dem Meistergesang in der Aufklärung – Johann Christoph Gottsched (1700–1766) verweist 1757 in seinem ‚Nöthigen Vorrath zur Geschichte der dramatischen Dichtkunst‘ ausführlicher auf einen Bericht „vom Vhralten herkommen, fortpflanzung, nutz vnnd rechten Gebrauch des alten löblichen Teutschen Meister-Gesangs“ (Nöthiger Vorrath, S. 186–189) – bedarf demgegenüber ebenso noch der systematischen Aufarbeitung wie vor allem das beträchtliche Interesse der Literarhistoriker (z.  B. August Wilhelm Schlegel, ‚Geschichte der romantischen Literatur‘ [1802/03]) und Dichter (z.  B. Goethe, ‚Erklärung eines alten Holzschnittes vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung‘ [1776]; Novalis, ‚Heinrich von Ofterdingen‘ [1802]) des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Dies zumal, weil zeitnah nun die wissenschaftliche Beschäftigung einsetzt, monographisch 1811 mit Jacob Grimms (1785–1863) Arbeit ‚Ueber den altdeutschen Meistergesang‘ (Grimm, J., Meistergesang). Den damit gesetzten Beginn der Fachgeschichte kennzeichnet sogleich eine polemische Konfrontation zweier grundverschiedener Betrachtungsweisen, sich zuspitzend in der Auseinandersetzung Grimms mit dem Münchener Bibliothekar Bernhard Joseph Docen (1782–1828) und dessen Mitstreitern, wobei es zu einer rechten Verständigung der Parteien nie kommt. Grimm stellt die These von der Identität von „Minnesang“ und „Meistersang“ auf, letzteren indes bedeutend weiter als heute üblich fassend: In beiden walte dasselbe „Prinzip der Form“. Der zeitgenössischen Philosophie, dem historischen Denken Johann Gottfried Herders (1744–1803) und der Naturphilosophie Friedrich Schellings (1775–1854) verpflichtet, konzeptualisiert er seinen Gegenstand dabei als einen literarischen Prozess und vor dem Hintergrund einer universalhistorischen Entwicklung. Der zergliedernd-positivistische Empiriker Docen stellt dem einen reduzierten, undynamischen Formbegriff ohne jede theoretische Fundierung entgegen. Grimms Identitätsthese lehnt er ab, ja versteht sie nicht einmal. Docen und seinen Mitstreitern sprechen alle vorfindlichen Tatsachen bereits durch sich selbst; einer Theorie bedurfte solches Denken nicht. Die Identitätsthese wirkte dennoch, sicherlich auch von der Autorität Grimms getragen, über zahlreiche Stationen der späteren Forschung zum Meistergesang bis in die geistesgeschichtlich ausgerichteten Beiträge Bert Nagels und weit in das



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20.  Jahrhundert hinein, ohne doch je in ihrem konzeptionellen Kern verarbeitet worden zu sein. Das ist bezeichnenderweise, mit detaillierter Nachzeichnung der Position Grimms, außerhalb der Meistergesangsforschung von Otfrid Ehrismann (Vorwort) aufgezeigt worden (der selbst hingegen sich vielmehr gegen eine vereinfachende Philologisierung Grimms wendet: ebd., S. 8*). In der Folge ist über den Wert einer Modellierung des Meistergesangs als Prozess bis heute nicht befunden worden. Andererseits sieht man schon bei Grimm das romantisch-philosophische Basiskonzept die Tatsachen bisweilen „überwältigen“ (Ehrismann, O., Vorwort, S. 23*). Ludwig Uhlands (1787–1862) Vorlesung zur ‚Geschichte der deutschen Dichtkunst im 15. und 16. Jahrhundert‘ von 1831 richtet sich demgegenüber sehr viel positivistischer aus (Geschichte, S. 284–360); in der Folge erscheint nun der Meistergesang im Gattungskontinuum der Sangspruchtradition unter Verweis auf seinen Organisationsgrad deutlich als eigener Abschnitt. Indes sei er „früher entstanden“ und habe im 15. und 16. Jahrhundert nur seine „schärfste … gestalt“ (ebd., S. 284) gewonnen. Die Voraussetzungen des Meistergesangs in der Sangspruchdichtung nachzuzeichnen, sollte aber nicht nur wegen der Nachwirkung Grimms schwierig bleiben, sondern auch, weil letztere als eigene Gattung noch lange unzureichend konturiert erscheint. Bis zum grundlegenden Artikel Hermann Schneiders zur Sangspruchdichtung im ‚Reallexikon‘ vergeht noch fast ein Jahrhundert, und sogar noch Bell spricht 1947 hinsichtlich der „predecessors“ der Meistersinger statt von Sangspruchdichtern oder älteren meisterlichen Lieddichtern von „Minnesingern“ (Georg Hager, Bd. 1, S. 1). Die positivistische Quellenerschließung brachte viele, oft regionalgeschichtlich ausgerichtete Beiträge hervor. Nachhaltig wurde man dabei von Richard Wagners (1813–1883) 1868 uraufgeführter Oper ‚Die Meistersinger von Nürnberg‘ angeregt (vgl. zur Rezeptionsgeschichte: Meistersinger und Richard Wagner). Die Beiträge sind nicht selten noch heute von Wert. Wo allerdings das Sichten, Sammeln, Erschließen weitergehend begründet werden muss, da greift man regelmäßig auf Varianten ein- und desselben Rechtfertigungsschemas zurück, das Wagner zwar ebenfalls befördert hat, das aber bereits bei Uhland (Geschichte) und Jacob Grimm (Meistergesang) und zuvor schon anzutreffen ist. In ihm wird Ethik gegen Ästhetik ausgespielt: Obschon die Produkte der Meistersinger den eigenen ästhetischen Ansprüchen an ein gelungenes Kunstwerk nicht genügen, sei doch die Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Bodenständigkeit ihres Schaffens in Rechnung zu stellen – und dies sei, in zusätzlich dann nationalistischer Wendung und in Absetzung vom Romanisch-Überartifiziellen, eben auch typisch „deutsch“ (z.  B. Genée, Sachs, S. 279; Nagel, W., Studien, S. 12). Die amerikanische Vorkriegsgermanistik um Archer Taylor († 1973) in Berkeley, Initiator der bisher einzigen systematischen Bibliographie 1936 (Taylor, A./Ellis, Bibliography), und Clair Hayden Bell († 1967), der kurz nach dem zweiten Weltkrieg vier Bände zum Nürnberger Meistersinger Georg Hager (1552–1634) vorlegte, hebt sich durch den Willen zur Erschließung der Überlieferung davon signifikant ab. Wesentliches Manko der Meistergesangsforschung in Deutschland blieb zunächst, wie 1952 am Versuch der ahistorisch-stilgeschichtlich vorgehenden, vielfach unscharf-nivellierenden Gesamt-

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darstellung B. Nagels (Poetische Technik) zu ersehen, der differenzierte Überblick über das überhaupt relevante Material (vgl. Stackmann, Rezension [1954]). Demgegenüber profilieren Stackmanns ‚Vorstudien‘ (1958) und seine Ausgabe der Lieder Heinrichs von Mügeln von 1959 (Stmn.) erstmals einen wichtigen späten Sangspruchdichter und liefern damit zahlreiche Bezugspunkte auch für die spätere Gattungsgeschichte. Vorbildlich stellt sich Stackmann in der Erschließung einschlägiger Handschriften in der Einleitung seiner Mügeln-Ausgabe der erforderlichen Quellenarbeit. Vom allgemeinen Aufschwung der Forschung zur Literatur des Spätmittelalters (Fischer, Neue Forschungen; Fischer, Probleme; Janota, Neue Forschungen) und den begleitenden Überlegungen profitiert, im Rahmen der gesamten Sangspruchtradition, auch der Meistergesang. Monographien, die zwar am Sangspruch ansetzen, aber auch seine späteren Ausformungen im Blick halten, wie Wachingers ‚Sängerkrieg‘ von 1973, oder ihre Rezeption in den Mittelpunkt stellen, wie Brunners ‚Alte Meister‘ von 1975, schaffen gemeinsam mit Einzelstudien, die vorausweisenden Einzelaspekten nachgehen, etwa Kornrumpfs und Wachingers Studie zu ‚­ Formentlehnung und Tönegebrauch‘ von 1979 (Kornrumpf/Wachinger, Alment), Grundlagen für eine tragfähige Konzeption zur umfassenden Erschließung der gesamten Textüberlieferung der Sangspruchtradition einschließlich des Meistergesangs, die dann 1986–2009 mit dem RSM erfolgt. Bereits im Entstehungsumfeld des RSM machen sich einzelne Arbeiten die Grundlagen zunutze. Aus ihnen ragen Schanzes dezidiert das Vorfeld des späteren Meistergesangs anvisierenden Studien zur meisterlichen Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs von 1983/84 (Schanze, Liedkunst) und Rettelbachs Analysen der Töne der Sangspruchdichter und Meistersinger von 1993 heraus (Rettelbach, Variation). Die vielfach wechselnden literaturwissenschaftlichen Forschungstrends der letzten drei Dezennien hingegen haben den Meistergesang nicht nachhaltig einzubeziehen vermocht. Mit dem Abschluss des RSM können nun weiterführende Perspektiven diskutiert werden (Janota, Forschungsaufgaben; Wachinger, Sangspruchdichtung). Dabei bleibt es Herausforderung, den Meistergesang nicht nur von der älteren Sangspruchdichtung her anzugehen oder ihn nur ergänzend für Fragen auszuwerten, die anderen Forschungsinteressen entstammen. Spezifischen Aufschlusswert besitzt er für Fragen, die sich auf Vorgänge der Etablierung volkssprachiger Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit im europäischen Sprachraum richten, auf Prozesse der Literarisierung und Literalisierung vormoderner Kulturen. „Wo die Kunst im Leben schwer gemacht wird …“: Gründungen und Begründungen Die regelmäßige Durchführung von Wettkämpfen, aus denen ein Sieger hervorgehen soll, setzt umfangreichere Vorbereitungen voraus: Absprachen von Zeit, Ort, Ablaufdetails, eventuell Fragen der Zulassung der Veranstaltung durch die Obrigkeit, nicht zuletzt die Verständigung über Bewertungskriterien des Vortrags (März, Silbe, S. 84).



Ausblick: Der Meistergesang – Tradition und Neuansatz 

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Mit mündlichen ad hoc-Absprachen unter Gleichgesinnten ist so etwas nicht mehr zu leisten. Die Ausrichtung von Gesangs-Wettkämpfen und deren schriftliche Organisation, die Gründung von Meistersinger-‚Gesellschaften‘, sind engstens aneinander gekoppelt. Schon Uhlands Feststellung, der Meistergesang gewinne erst im 15. Jahrhundert seine „schärfste gestalt“, trifft also Wesentliches. Wenn „zunftmäßig verbundene[] bürgerliche[] Genossenschaften“ (Geschichte, S. 284) als Charakteristikum benannt werden, ist damit, mag die Aufmerksamkeit auch weniger dem Wettkampf als dem Zusammenschluss seiner Veranstalter gelten, eben dieser Aufwand ins Zentrum gerückt. Das hat man auch später immer gesehen, bei Mey etwa, der 1901 „Blütezeit“ des Meistergesangs und „feste bürgerliche Singschule“ verbindet (Meistergesang, S.  11), bei Willibald Nagel, der 1909 ein ganzes Bündel von Formen des Zusammenschlusses ins Spiel bringt (Zunft, genossenschaftliche Verbindung, Korporation, Verband, Bauhütte, Loge, Singschule; vgl. Nagel, W., Studien, S.  14–17) oder bei Archer Taylor, der 1937 den Meistergesang an die Entstehung der Handwerker- und Kaufmannsgilden koppelt (Literary History, S. 2  f.). Obschon dieser Aufwand nie dem Blick entschwunden ist – so spricht etwa Brunner mit gelegentlich stärkerer Akzentuierung der Aufführung von „städtischen, in Gesellschaften organisierten Meistersinger[n]“ (Alte Meister, S. 3; vgl. auch die Einleitung zum RSM, Bd. 1, S. 3–5) –, stehen doch die Gesellschaften nicht selbstverständlich im Zentrum der Begriffsbestimmung. A. Taylor sind sie 1937 nur eines von mehreren Merkmalen (Literary History, S. 7  f.). Brunner, Meistergesang (b), nennt sie keineswegs vorweg. Sein Artikel in 2MGG (Meistergesang [a]) ist demgegenüber prägnanter, datiert dafür aber bedeutend früher („Meistersinger […] die sich vom späten 14. oder frühen 15. Jh. … in Gesellschaften oder Bruderschaften zusammenschlossen“, Sp. 5). Die grundlegende Bedeutung des Wettkampfes für den Liedvortrag, den Ablauf der Zusammenkünfte, die Rückbindung des Singschul-Geschehens an die Tradition ist jedenfalls, wenn die Gesellschaftsgründungen nur Zutat sind, nicht recht erfasst. Vorträge als Wettkampf zu veranstalten und diese, mit allem zusätzlichen Aufwand, regelmäßig abzuhalten: Das kann sich nicht allmählich herausgebildet haben, sondern muss einmal regelrecht „erfunden“ worden sein (Walter Haug mündlich). Der zeitgenössische Terminus ‚Singschule‘ ist in diesem Zusammenhang lange überbewertet worden, denn das Wort entstammt, wie so vieles im Meistergesang, bereits älteren Liedern, und es bezeichnet auch keineswegs eine organisierte Gesellschaft (Brunner, Alte Meister, S. 16–21; Petzsch, Singschule; Schanze, Liedkunst I, S. 381), sondern bedeutet soviel wie ‚Konzert‘. Deren älteste hat man lange in Mainz noch zu Frauenlobs Zeiten vermutet, ist dabei aber der bereits zeitgenössischen Prominenz Frauenlobs, der Mythenbildung der Meistersinger selbst und mangelnder Unterscheidung zwischen später Sangspruchdichtung bzw. meisterlicher Liedkunst und Meistergesang aufgesessen: Eine Mainzer Meistersinger-Gesellschaft bereits des 13./14. Jahrhunderts gehört zu den literaturwissenschaftlichen Mythen (RSM, Bd. 1, S. 4). Erste durchgreifend institutionalisierte Gesellschaften werden erst gegen Ende

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des 15. Jahrhunderts urkundlich sichtbar, vor dem letzten Jahrhundertviertel waren Zusammenschlüsse von Singern möglicherweise weniger durchorganisiert (Schanze, Liedkunst I, S. 383–389), man kann daher nur vermittelt, nicht direkt aus Meta-Zeugnissen wie Protokollen und Tabulaturen auf sie schließen. Während die Forschung Gesellschaften seit Goedeke (Grundriß, S.  247–264) an inzwischen über 60 Orten aufgefunden zu haben meint, lassen sie sich doch nur für etwas über ein Dutzend (Augsburg, Breslau, Freiburg, Iglau, Kolmar, Mainz, Memmingen, Nördlingen, Nürnberg, Schwaz, Steyr, Straßburg, Ulm, Donauwörth) zweifelsfrei ansetzen (kritische Sichtung: Baldzuhn, Companies, S. 249–255). Für ein gutes Dutzend weiterer Orte finden sich zudem mehr oder minder zeitgenössische Hinweise, die hingegen auf ihre Substanz vor allem mithilfe abstützender Parallelbelege – hier ist vor allem regulatives Schrifttum, Eingaben an den städtischen Rat etwa und Genehmigungen seinerseits, wichtig – noch kritisch überprüft werden müssen (vgl. die Nachweise ebd. zu Brieg, Dinkelsbühl, Eferding, Esslingen, Frankfurt a. M., Kempten, Mährisch-Schönberg, Magdeburg, München, Regensburg, Rothenburg o. d. T., Weißenburg, Wels, Zwickau). Ein beträchtlicher Bestand fußt auf zweifelhafter Grundlage. Speziell rheinisch-schwäbische „Vereinigungen“ des früheren 15.  Jahrhunderts (Brunner, Alte Meister, S. 139), nach wie vor in Gesamtdarstellungen anzutreffen (Holznagel, Mittelalter, S. 67 Anm. 14), müssen, wenn/wo man sie wahrscheinlich machen kann, im Grad ihrer medial-kommunikativen Durchorganisation von den späteren Gesellschaften abgehoben werden (vgl. für München jetzt Baldzuhn, Münchener Meistersinger). Ob überhaupt spezielle und welche Modelle dann des Zusammenschlusses hinter den Gesellschaften stehen – es sind verschiedenste erwogen worden (s.  o. zu W. Nagel und A. Taylor, überdies RSM, Bd. 1, S. 4: „Bruderschaft[]“) –, bedarf noch der Untersuchung. Die Begrifflichkeit der Gesellschaftsordnungen ist uneinheitlich (Hinweise bei Baldzuhn, Companies, S. 220  f. Anm. 5). Wenngleich oft insbesondere die Handwerkszünfte als entscheidendes Vorbild herangezogen werden (vgl. etwa Hahn, R., Meistergesang, S.  48  f.) und gelegentlich auch Bruderschaften (Mertens, Meistergesang, S. 133  f.), ist nicht auszuschließen, dass die Regulierung der Singschule in den Schulordnungen selbst bereits den Kern der Korporationen ausmacht und sich detailliertere Modalitäten der Gründung nur an je lokal geltende Zulassungserfordernisse anpassen. Sehr oft jedenfalls, etwa in Augsburg, Freiburg und Iglau, ist sie bereits wesentlicher Bestandteil der Eingabe an den Rat und seiner Genehmigung. Mit dieser Frage verbunden ist zudem die ausstehende Erklärung für die auffallende topographische Verbreitung der Gesellschaften, die vorzugsweise in süddeutschen Reichsstädten anzutreffen sind, nicht hingegen im norddeutschen Raum. Hier sind auch die Geschichtswissenschaften gefordert, bedarf es doch der Einsicht in zeitgenössische Wege des Wissens, insbesondere der Mobilität städtischer Handwerker. Mehrfach fallen nämlich einzelne Personen als ‚Importeure‘ auf. In Breslau installiert Adam Puschman nach einer Reise durch Süddeutschland eine Gesellschaft, für die er sich zeitlebens engagiert, die aber nach seinem Ableben nicht lange Bestand hat. In Kolmar gründete Jörg Wickram (um 1505 – um 1555/60) nach Straßburger Vorbild eine



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Gesellschaft. Andernorts orientiert man sich an Nürnberg, etwa in den Anweisungen der Tabulatur (vgl. Puschman, Bericht [b], Bd. 1, S. 24 [Breslau], S. 46 [Memmingen]). Wo genau aber die namentlich bekannten Freiburger Gründer Michel Punt, Jacob Rumel, Rudolff Balduff, Ludwig Wurtzburger und Heinrich Wyßlandt (Baldzuhn, Companies, S. 220) soziologisch zu verorten sind, die als Verfasser von Texten jedenfalls nicht hervortreten, und woher sie ihr Wissen bezogen, ist unbekannt. Nicht zuletzt müssen für die oben angesprochenen Fragen die Gesellschaftsgründungen vergleichend im größeren Kontext des Aufkommens und der Organisation städtischer Performanzkulturen, allem voran des allgemeinen städtischen Spiel- und Theaterlebens, gesehen werden. Wenngleich nicht im Zusammenhang ihrer Gründung, schließen sich die Meistersinger gelegentlich mit eigenen Theateraufführungen an, etwa in Mainz (dazu zuletzt Petzsch, Kolmarer Lhs., S. 35–39), Nürnberg (dazu zuletzt Paul, Reichsstadt, S. 25–36) und Ulm (zusammenfassend zur Meistersingerbühne: Kooznetzoff, Theaterspielen; Kindermann, Theatergeschichte, Bd. 2, S. 271– 306). Kontakte zu spezifisch urban-volkssprachigen Performanz-Künsten außerhalb des deutschen Sprachraums sind hingegen nicht sichtbar. Sie fallen als unmittelbarer Anreger für die Gesellschaftsgründungen – auch wegen der relativ begrenzten Reichweite des wandernden Handwerkers – aus. An einigen Orten, vor allem in Nürnberg (vgl. Schanze, Liedkunst I, S. 378–381), vielleicht auch in München (ebd., S. 261–286), lassen sich bereits in den Jahrzehnten vor den belegten Gesellschaftsgründungen Gruppen von Meisterlieddichtern nachweisen, die im Milieu der Handwerker situiert sind und Lieder lediglich als ‚Nebenstundenwerk‘ verfassen. Hans Folz (um 1435/40–1513), seit 1459 in Nürnberg ansässig, spricht – vielleicht schon in den 1460er Jahren und sicherlich auch zu eigenen Profilierungszwecken – sogar mit einem umfangreichen Liedzyklus (Mayer Nr. 89–94) in ungeklärte Verhältnisse hinein, wie in der Frage der Verwendung von Liedtönen zu verfahren sei. Er wendet sich dezidiert dagegen, nur in alten Tönen zu dichten. Sein Plädoyer für die Zulassung auch eigener Töne ‚reformiert‘ aber keine bereits fest ­etablierte Praxis (Petzsch, Meistergesangsreform), sondern argumentiert  – durchaus konservativ – für ein umfassenderes Verständnis von kunst (Baldzuhn, Streitgedicht). Die Frage, wieso dann eigens noch Gesellschaften gegründet wurden und man sich dabei auf das kompetitive Interaktionsmuster festgelegt hat, lässt sich mithin nicht ohne Rücksicht auf die sozialen, kommunikativen und literarischen Bedürfnisse jener neuen Schicht ihrer städtischen Träger, die städtischen Handwerker, die später das Gesellschaftsleben bestimmen, aber die Gattungstradition bereits früher aufgenommen haben, beantworten – und nicht ohne Rücksicht auf die vorangehende Geschichte und Poetik der Gattung, die diesen Bedürfnissen mehr als andere entgegengekommen sein muss. Das spätere Gründungs- und Begründungsschrifttum der Meistersinger selbst (Gesellschaftsordnungen, ‚Literaturgeschichte‘ der Meistersinger) ist daraufhin noch nicht analysiert worden. Man kann ihm ohnedies nicht vorbehaltlos Glauben schenken. Ad maiorem dei gloriam findet nämlich viel statt in

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der Frühen Neuzeit – oder in der Formulierung der Freiburger Ordnung: gott der allmechtig [würde] dardurch gelopt (zit. nach Baldzuhn, Companies, S. 219). Weitere Argumente für eine Gesellschaftsgründung bleiben dort vergleichbar topisch. Es würden die selen getröst und die menschen zu zyten, so sy dem gesang zuhorten, von gotslesterung, ouch vom spyl vnd anderer weltlicher uppigkeyt gezogen (ebd.). Dennoch dürfen solche Begründungen nicht zu rasch abgetan werden. Immerhin untersagt der Nürnberger Rat das aus dem Ruder laufende Theaterspiel der Meistersinger gerade unter Verweis auf das Gemeinwohl, dem mehr Schaden als Nutzen zugefügt werde: weilen sie die leut nit sein, die bei der jugend grossen nutzen schaffen können (zit. nach Paul, Reichsstadt, S. 32). Die Reihe wissenschaftlicher Begründungen für die Entstehung von Gesellschaften eröffnet 1811 ein Diktum Jacob Grimms: „Wo die Kunst im Leben schwer gemacht wird, zieht sie sich in sich selbst zurück“ (Meistergesang, S. 31). Im Aspekt der Abgeschlossenheit und Selbstbezüglichkeit der Gesellschaften ist damit zwar Grundlegendes erfasst, die bildliche Rede wäre aber noch präzisierend aufzulösen. Brunners Statement wiederum, der Meistergesang lege „fortwährend Zeugnis ab von der (von der Obrigkeit) immer wieder erzwungenen Verinnerlichung der von Menschen gemachten Miserabilität der Verhältnisse zu angeblich von Gott gesetzten, daher für unabänderlich gehaltenen, Verhältnissen“ (Alte Meister, S. XIII), eröffnet sozialpsychologische Aspekte. Der Verweis des RSM (Bd. 1, S. 4) auf Gesellschaften als notwendigen Rahmen für „Brauchtumspflege“ übergeht andererseits jede soziale Funktion. Konsensfähig erscheint derzeit am ehesten der Bedarf einer urbanen Schicht von Handwerkern nach Ausbildung eigener Gruppenidentitäten in nicht von der Obrigkeit oktroyierten Formen. Indes bleiben, zumal im Austausch mit der Forschung zum vorindustriellen Handwerk und seiner Organisation (vgl. Reininghaus, Stadt; Schmidt, Traditio­nen), seiner Geselligkeits-, Wissens- und Erinnerungskulturen, die Spielräume und die Bedürfnislagen eben dieser Schicht sowie vergleichend das ‚symbolische Kapital‘ (Bourdieu, Soziologie) der ‚meisterlichen Liedpflege‘ im Meistergesang selbst wie in seinem Vorfeld noch präzise auszumessen. Vorgeschichten: Meisterliche Liedkunst im Meisterlied Historische Voraussetzung für die Übernahme des älteren höfisch geprägten Sangspruchs durch in der Freizeit dichtende städtische Handwerker ist möglicherweise der Attraktivitätsverlust der Gattung bei Hof. Zudem muss das Prinzip des Dichtens in wiederverwendbaren Tönen den Gattungstransfer befördert haben. Es reduziert prinzipiell Produktionsaufwand und erleichtert, wenn Töne anderer Autoren verwendet werden, überdies den ‚wieder-holenden‘ Anschluss an die Gattung. Historisch betrachtet, mag das besonders in prekären Zeiten ihres Übergangs vom Hof in die Stadt, in denen Tonerfinder-Kompetenz vielleicht weniger verbreitet war, von Bedeutung gewesen sein, systematisch betrachtet, erleichterte es den Ungeübteren unter den Meistersingern ihren Anschluss an die Tradition.



Ausblick: Der Meistergesang – Tradition und Neuansatz 

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Dem im 15. Jahrhundert vor sich gehenden Wechsel der Gattung in ein soziologisch neues Milieu haben freilich ältere Entwicklungen kräftig zugearbeitet. Einen ersten Schritt zurück führt hier die Handschriftenüberlieferung (vgl. dazu auch → Kapitel III.3). Schon um 1420/30 entstehen zahlreiche sog. Meisterliederhandschriften (vgl. den Überblick bei Schanze, Meisterlhss.), die in ihrer Anlage Tonautorschaft der Textautorschaft vorordnen: Regelmäßig werden in ihnen nur die Namen der Tonerfinder, nicht die der Textdichter mitgeteilt. In ihnen finden sich häufig Meisterlieder auch anonymer Autoren in fremden Tönen. Ein institutionell-meistersingerischer Hintergrund hinter diesen Sammlungen wird nicht ohne weiteres sichtbar. Mit diesen Handschriften setzt, nach der eher konservativ ausgerichteten Kodifizierung der älteren Sangspruchdichtung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und nach einer Überlieferungslücke, die den Einblick in den Transfer der Gattung vom Hof in die Stadt sehr erschwert, eine neue Sammlungsbewegung ein, die bereits eine intensive, auf die Orientierung der Meistersinger an den Alten Meistern und ihren Tönen vorausweisende Praxis der Hochschätzung fremder Töne bezeugt. Einen zweiten Schritt zurück führt die Überlegung, ob nicht die Meisterliederhandschriften des 15. Jahrhunderts, ähnlich den großen Sammlungen des späten 13. und des 14. Jahrhunderts (den Liederhandschriften A, B, C, J), wesentlich auf Älteres statt auf Zeitgenössisches ausgerichtet sein und also schon bedeutend ältere Gepflogenheiten dokumentieren könnten (vgl. Baldzuhn, Sangspruch, S. 499–501). An das Renommee älterer Autoren durch Wiederverwendung ihrer Töne anzuschließen, ist ja ohnedies schon für das 14. Jahrhundert breit belegt. Zahlreich überliefern die Meisterliederhandschriften nämlich Einzelsprüche, die der älteren, prinzipiell einstrophigen Sangspruchdichtung entstammen, die aber mit weiteren Strophen zu mehrstrophigen Meisterliedern ergänzt wurden (s. auch oben → Kapitel VIII.2 u. 3). Hier folgen die neuen Texte in ihrem Ton zwangsläufig der Vorgabe des älteren Einzelspruchs. Obschon die Praxis der Heranziehung alter Strophen für mehrstrophige Lieder erst in den Handschriften des 15. Jahrhunderts breit dokumentiert wird, wurde sie kaum über das 14. Jahrhundert hinaus ausgeübt (Baldzuhn, Sangspruch, S. 463  f.). Drittens führt ins 14. Jahrhundert die Mehrstrophigkeit des Meisterliedes zurück. Im Blick auf die prinzipiell selbständige Einzelstrophe des älteren Sangspruchs und vor dem Hintergrund einer normativ-klassizistischen Kunstauffassung wurde sie von der älteren Forschung vielfach als Verlust an Formwillen, an Gestaltungskraft, kurzum: als bereits ‚meistersingerisch‘ abgetan. Sie hat sich indes bereits im 14. Jahrhundert etabliert: in einem komplizierten Prozess, in dem zwischenzeitlich sogar mehrstrophige Gruppen, die noch gar keine Lieder bildeten, zu neuen Texten aufgebaut werden konnten, die dann mehr als nur ein einzelnes mehrstrophiges Lied, aber keinen Liedzyklus darstellten (Baldzuhn, ‚Hort ‘). Im Meistergesang ist diese komplizierte Vorgeschichte abgeschlossen, bleibt aber für gewisse Zeit noch am Festhalten der Meistersinger an den Bezeichnungen liet (für die Strophe) und par (für das mehrstrophige Gebilde, das Außenstehende schon längst als ‚Lied‘ bezeichnen) sichtbar (vgl. Baldzuhn, Sangspruch, S. 127–141).

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Im Umschalten auf Mehrstrophigkeit und in intensivierter Fremdtonverwendung weit vor dem erkennbar institutionalisierten Meistergesang findet formgeschichtlich ein- und derselbe Hintergrundvorgang seinen Ausdruck, der dann im GemerkGeschehen mit seiner Ausrichtung auf das Urteil der Merker extrem gesteigert erscheint. Mehrstrophigkeit setzt nämlich schon quantitativ-zeitlich eine intensivere Zuwendung des Publikums zum Vortrag voraus, Fremdtonverwendung ein Vorwissen des Publikums um Tonautoren: Hier wie dort wird also schon im Umfeld des späten Sangspruchs und frühen meisterlichen Liedes eine beträchtlich gestiegene Text- und Gattungskompetenz der Rezipienten sichtbar. Diese findet überdies in intensiviertem Sprechen über die Faktur von Texten und intensivierter Thematisierung der älteren Gattungsgeschichte ihren Ausdruck. Exemplarisch verdichten sich alle diese Vorgänge um die Mitte des 14. Jahrhunderts bei dem Fremdtonverwender Lupold Hornburg von Rothenburg (RSM 1Hornb/1–3 [s. auch → Kapitel VIII.2]) – bis hin zu einer expliziten Gattungsgeschichte in Form eines Katalogs von zwölf namentlich angeführten Sangspruchdichtern (Baldzuhn, Feld, S.  172–176; Röll, Lupold Hornburg [ohne Berücksichtigung der bedeutsamen Reimsemantik]), der sowohl in die ältere Sangspruchdichtung zurückweist  – ein elf- bzw. zwölfzahliger Katalog findet sich bereits bei Hermann Damen (Schl. III,4: 2. H. 13.  Jh.; vgl. Henkel, Alte Meister)  – als auch voraus: auf Namenreihen geschätzter Sangspruchdichter etwa bei Liebe von Giengen (RSM 1Liebe/1/7: 1. V. 15. Jh.), eines Anonymus im Langen Ton Regenbogens (RSM 1Regb/4/510: überliefert um 1460, dazu in zwei Abschriften von Meistersingern: Valentin Wildenauer 2. V. 16. Jh., Wolf Bauttner Ende 16./Anfang 17. Jh.), auf die vielen Namen in Folz’ Liedern zur Tongebrauchsdiskussion (s.  o.), schließlich auf das (auf Katalogen Konrad Nachtigalls und Hans Sachs’ beruhende) Verzeichnis der Alten Meister in der Vorrede des Magdeburger Meistersingers Valentin Voigt (um 1487  – nach 1558) zu seiner eigenen Liedersammlung (vgl. Brunner, Dichter ohne Werk) und überhaupt in den liedextern-diskursiven Gründungsgeschichten der Meistersinger, die das Dutzend alter Meister an ihren Anfang setzen (s. auch oben → Kapitel VIII.3). Dass die Rückschau auf die Gattungsgeschichte entlang ihrer namhaften Vertreter und poetologisches Sprechen schon weit im Vorfeld des Meistergesangs eng verbunden sind, belegt auch das erwähnte Lied des Regenbogen-Nachsängers: Seine Schlussstrophe legt nämlich ihren eigenen formalen Aufbau expressis verbis dar. Ähnlich verfuhr ein unbekannter Nachsänger für den von ihm für ein fünfstrophiges Lied benutzten, hochkomplexen Goldenen Ton Frauenlobs (RSM 1Frau/9/520; vgl. zu beiden Texten: von Kraus, Meisterlieder, und GA-S XII,210). Selbstreferentielles Sprechen als solches ist indes wiederum keine Novität erst des 14. Jahrhunderts, sondern lässt sich schon in Sprüchen beinahe von Anfang an, vorzugsweise im Herrscherpreis, beobachten (Huber, C., Herrscherlob; Hübner, Lobblumen, S. 391–444; Wachinger, Sangspruchdichtung, S.  23). Doch erhält es in der Spätphase der Sangspruchdichtung und im frühen meisterlichen Lied offenbar noch einmal einen mächtigen Schub. Lieder aus dieser Zeit warten bereits mit zahlreichen Termini auf, die dann später auch in den Tabulaturen auftauchen (Taylor, B., Meisterlied; Baldzuhn, Feld). Oft



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ist zudem bereits von Zuhörern als Merkern und von Kränzen als Auszeichnung die Rede, auffallend oft in anonymen Wettstreitliedern, in denen ein Ich die Rolle des Kämpfers einnimmt, um die eigene Exzellenz unter Herausforderung von Konkurrenten zum Wettsingen herauszustellen (Materialien: Rosenthal, Zeugnisse; weitere Beispiele vor allem in Bartsch [Hg.], Meisterlieder). Solche Lieder sind ganz offenkundig einschlägig für die Genese des Meistersinger-Gemerks, zumal sie ihrerseits in einer breiteren Tradition inszenierter Agonalität stehen, die sowohl zum ‚Sängerkrieg auf der Wartburg‘ (vgl. Kellner/Strohschneider, Poetik) und zu weiterer Polemik unter den Sangspruchdichtern (Wachinger, Sängerkrieg) zurückführt als sich auch um 1300 um Frauenlob herum auffällig verdichtet (ebd., S. 188–246 zum wîp-vrouweStreit, S.  247–279 zu weiterer Polemik; vgl. auch Rettelbach, Abgefeimte Kunst). Von dort, um Frauenlob und Regenbogen konzentriert (Materialien bei Wachinger, Sängerkrieg, S. 280–298; für Weiteres sind die RSM-Register heranzuziehen), strahlen diese Inszenierungen dann wiederum weit aus. Einen naheliegenden Schluss hat, obwohl andere Befunde auswertend, Schanze (Liedkunst I, S. 389  f.) gezogen: „Die Entstehung des Meistergesangs ist vielmehr als Teil einer Entwicklung zu verstehen, die insgesamt auf eine Entprofessionalisierung der Meisterkunst und auf ihre Öffnung für neue Trägerschichten und Publikumskreise hinauslief. […] Dass Handwerker-Dichter bei diesen Vorgängen von Anfang an eine bestimmende Funktion gehabt hätten, ist nicht sehr wahrscheinlich, man wird sich ihre Beteiligung an diesem Prozess wohl eher in einer relativ späten Phase vorzustellen haben. Die Bedeutung der Meistersinger erscheint größer, als sie wohl ursprünglich war, und zwar vor allem deswegen, weil sie an der späteren Entwicklung der Meisterkunst und an ihrer Überlieferung so wesentlichen Anteil hatten, während andere, ehemals vielleicht weit wichtigere Tendenzen dadurch fast vollkommen verdeckt worden sind.“ In welchem Umfang diese älteren Tendenzen ‚weit wichtiger‘ gewesen sein könnten, deutet sich an einem Hauptzeugen des einschlägigen Textbestands der älteren meisterlichen Liedkunst – wie im übrigen auch des ‚Wartburgkrieges‘ – an: der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k. Sie wurde um 1460 im Raum Speyer/Worms angelegt (Schanze, Liedkunst I, S. 35–59; Kornrumpf, Provenienz). Hauptschreiber war Nestler von Speyer, von dem wir wenig mehr wissen, als dass er den Unerkannten Ton erfunden und in ihm ein Marienlied gedichtet hat (Cramer  II, Nestler  I). Von Nestler aus lassen sich jedoch – mindestens über die auffällige Verwendung gerade dieses Tons für die ‚Reformlieder‘ Mayer Nr. 89–94 – Verbindungen zum gebürtigen Wormser Folz in Nürnberg ziehen. Zudem ging die Handschrift k schon nach wenigen Dezennien auf Wanderschaft: Ein Auszug aus ihr hat sich in der ‚Donaueschinger Liederhandschrift‘ von 1484–1490 erhalten (Steer, Donaueschinger Lhs.), und im 16. Jahrhundert kursierte sie gar unter den Meistersingern, wo sie hohe Prominenz besaß (Stmn., Bd. 1, S. LXV–LXXIV; Petzsch, Kolmarer Lhs.). Das alles verweist auf die Möglichkeit, dass die Meistersinger ihr Wissen um die verehrten Meister nicht hauptsächlich aus nie unterbrochenen mündlichen Traditionen, sondern wesentlich

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auch aus Handschriften wie etwa der ‚Kolmarer‘ bzw. deren nicht erhaltenen Vorlagen bezogen haben. Sollten nun die Wege der Gattung vom frühen 14. ins ausgehende 15. Jahrhundert nicht unwesentlich schriftlich verlaufen sein, dann legt die lesende Aufnahme insbesondere von Liedern, die in ihrem ehedem mündlichen Vortrag Wettstreite inszenieren, dem unbedarften Leser immer ein Missverständnis nahe: die Gleichsetzung von ‚Text-‘ und ‚Sänger-Ich‘. Wie nahe dieses Missverständnis liegt, zeigt die ältere Minnesangforschung, welche die Ich-Aussagen der Minnelieder lange biographisch gelesen hat, zeigt aber auch die ältere Forschung zum Meistergesang, die aus den Wettstreit-Gedichten der Meisterliederhandschriften des 15. Jahrhunderts oft ‚echte‘ Singschul-Interaktion herausgelesen hat. Für den Unterschied zwischen textinterner und textexterner Ich-Instanz und der spezifischen Medialität verschiedener Existenzweisen des Liedes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist man ja erst in jüngerer Zeit sensibler geworden (vgl. die Beiträge in Müller, J.-D. [Hg.], ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘). Die Meistersinger dagegen könnten, hinter die Verstehensvoraussetzungen der kompetenten, die Wettkampf-Rollen als solche durchschauenden Rezipienten des 14. Jahrhunderts zurückfallend, die inszenierten Sängerkriege für von den Sang­ spruchdichtern als so durchgeführte erachtet haben – und dann auf die Idee verfallen sein, ihre alten meister genau auf diese Weise wieder in die Singschule zu holen und in der Singschule zu wiederholen. Der Singschulvortrag stellte dann die Re-Inszenierung einer Inszenierung dar (Baldzuhn, Sangspruch, S. 486–494). Diese Herleitung des Singschul-Geschehens harrt einer Absicherung auf breiterer Materialbasis. Allein ihre Möglichkeit hebt jedoch ein zentrales gattungspoetisches Vorzeichen der Sangspruchtradition ins Bewusstsein. Der Spruchdichter erinnert mit seiner „konstatierenden Poesie“ ja immer nur an Altbekanntes (Stackmann, Vorstudien, S. 71–78, das Zitat S. 71): an die Regel, um die alle wissen oder wissen sollten, deren Gültigkeit aber in immer neuen Anwendungssituationen, gleichsam sie kommentierend, wieder auf die Gegenwart aller bezogen werden muss (vgl. Grubmüller, Regel). Wenn in diese Struktur einer Ästhetik der Identität (Lotman, Struktur) als zu erinnerndes Wissen, über das alle verfügen sollten, im Verlauf von Literarisierungsprozessen auf der Rezipientenseite zunehmend das Wissen um die Gattung selbst und ihre Geschichte einrückt, dann kann es, mit Jacob Grimm gesprochen, in der Tat der „Kunst im Leben schwer“ werden (s.  o.). Hellsichtigere Sangspruchdichter haben dieses Problem durchaus gesehen: Frauenlob fingiert in seinem Spruch GA XIII,5 eine Zuhörerschaft, die zur Abwehr von Ansprüchen auf Entlohnung den Einwand vorbringt, der vorgetragene funt stamme nicht vom Sänger, sondern von einem Meister Erwin. Dass sein Publikum mit der Gattungsgeschichte gegen die Gegenwart des Vortrags argumentiert, ist dem Spruchdichter natürlich inakzeptabel. Frauenlobs IchSprecher entzieht sich folglich seinem pseudo-informierten Publikum, indem es ihm die kunst entzieht, und zwar durch die Verwendung gerade des Kurzen Tons, seines schlichtesten Tons überhaupt. (Unnötig zu betonen, dass diese Publikumsbeschim­ pfung inszeniert ist und ihr ‚Risiko‘ nur von kunstverständigen Zuhörern goutiert



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werden konnte, die an die wechselseitige Abhängigkeit von Kunst und Entlohnung erinnert werden.) À la longue indes hat mit der Ausrichtung der Meistersinger auf die Merker das Publikum, nicht der Künstler diese spätmittelalterliche querelle des anciens et des modernes gewonnen. Aber er stellt lediglich eine von mehreren am Vorgang der Literarisierung der Gattung beteiligten Instanzen dar. Die Literaturwissenschaft hat sie alle im Blick zu halten, den ganzen Vorgang überschauend-distanziert wahrzunehmen und nach umfassenderen Kriterien zu bewerten. Entsprechend angemessen weiterreichende Bezüge stellt daher Stackmann (Meisterliches Lied, S. 199) her: „Die Lieder [gemeint ist das anonyme meisterliche Lied, M. B.] sind Zeugen eines sehr ungewöhnlichen Vorgangs. Auf der Grundlage einer von professionellen Dichtern geschaffenen und tradierten Gattung formiert sich ein literarisches Interesse in Schichten der städtischen Bevölkerung, die vermutlich gerade erst alphabetisiert und sogleich für die Teilnahme an anspruchsvoller Dichtung gewonnen waren. Die Rezeption und Umgestaltung der alten Gattung stellt einen wichtigen Schritt dar in Richtung auf die Bildung eines literarischen Publikums außerhalb der Höfe“. Die Träger des Meistergesangs: Förderer, Organisatoren, Sänger, Textautoren, Tonautoren Die Soziologie des Meistergesangs ist systematisch noch nicht aufgearbeitet. Ihre Erforschung setzt mit dem ‚Verzeichnis der bis jetzt bekannten Meistersinger des 16. Jahrhunderts‘ von Keinz (1894; vgl. Keinz, Zeitgenossen) ein, das freilich wenig mehr als Namen, davon indes etwa 600 auflistet. Monographisch ist dann 1932 Unold (Soziologie) die Aufgabe angegangen, jedoch ohne direkt aus den Quellen zu arbeiten. Die Brauchbarkeit seiner Arbeit ist daher „ziemlich gering“ (Stahl, Meistersinger, S. 13). Auch Kuglers Untersuchung ‚Handwerk und Meistergesang‘ von 1977 (Kugler, Handwerk) beruht nicht systematisch auf eigenen Quellenstudien und verfolgt überdies mit dem Versuch, Meisterliedstruktur und handwerkliche Arbeitsweise zu korrelieren, ein besonderes Ziel, dem die Erschließung der Träger-Soziologie untergeordnet bleibt. Methodisch vorbildlich geht 1982 die Dissertation von Stahl vor, die den Nürnberger Personenbestand (Meistersinger, S. 17: 332 Personen) vollständig erfasst und erschließt. Im Hinblick auf als Autoren und Tonerfinder auftretende Meistersinger liefert das RSM mittlerweile die verlässlichste und umfassendste Grundlage. Auf weitere Träger des Meistergesangs jenseits von Text- und Tonautorschaft ist nur vermittelt zuzugreifen. Alle Meistersinger, die die Singschule lediglich als Sänger betreten haben, bleiben im RSM konzeptionell bedingt unberücksichtigt. Soweit sich Singschulprotokolle erhalten haben, sind sie wenigstens darüber zu ermitteln, weitergehend dann nur noch über Archivalien, aber kaum mehr systematisch. Einzubeziehen sind schließlich verschiedene Typen von Unterstützern, die das Gesellschaftsleben mitgetragen haben: Organisatoren der Gesellschaft und von Gesangsveranstaltungen, Förderer, Mäzene. Um deren Erfassung ist es noch schlechter bestellt als um die der Sänger (für Nürnberg vgl. jedoch Stahl, Meistersinger).

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Vor diesem Hintergrund lässt sich eine umfassende Soziologie des Meistergesangs am ehesten auf dem Weg über die einzelnen Gesellschaften erreichen. Zusammenstellungen einschlägiger Quellen und Forschung für mehrere Gesellschaften liefern Goedeke, Grundriß, Nagel, W., Studien, Taylor, A./Ellis, Bibliography, und Nagel, B., Meistersang. An jüngerer Literatur zu einzelnen Gesellschaften außer Nürnberg (s.  o. Stahl, Meistersinger; Brunner/Strassner, Volkskultur) sind anzuführen: für Augsburg: Brunner [u.  a.] (Hg.), Augsburger Schulordnung, für Breslau: Hahn, R., Studien, für Freiburg: Baldzuhn, Companies, für Kolmar: Petzsch, Kolmarer Lhs., für Straßburg: Blank, Meistersang, und Kleinschmidt, Meistersang, für Ulm: Dehnert/Herkle, Ulmer Meistersinger. Für den Großraum Schlesien (und Mähren) ist auf R. Hahn, Studien, S. 10 zu verweisen („In der Lausitz wie in Schlesien […] gab es [mit der Ausnahme Wrocław […]] keine fest organisierten Meistersingergesellschaften, wohl aber einzelne Meistersinger – so in Görlitz, Lubań, Żagań, Klodzko, Brzeg und Swidnica –, die sich zur Ausübung ihrer Kunst in bestimmten Abständen zusammenfanden. Auf Grund ihrer mangelnden Organisation jedoch sind keine Protokolle oder ähnliche Zeugnisse überliefert, wie sie für die süddeutschen Meistersingergesellschaften charakteristisch sind“) sowie auf Hahn, R., Meistersinger, und Rettelbach, Meistergesang (vgl. auch RSM, Bd. 1, S. 5 Anm. 7). Untersuchungen zur Soziologie der Träger des Meistergesangs können im Einzelfall ergänzende text- und tonkonstituierende Faktoren ermitteln. Überdies können sie, sofern sie das gesamte kommunikative Geschehen innerhalb einer Gesellschaft und zudem den gesamten ‚kommunikativen Haushalt‘ (Luckmann, Grundformen; Günthner/Knoblauch, Gattungen) der jeweiligen Stadt im Blick halten, Spielräume für die literarische Kommunikation Einzelner und von Gruppen angeben. Dazu ist freilich die gesamte Sozialstruktur einer Stadt und ihr gesamtes Angebot an Möglichkeiten zur Partizipation an ihrer Herrschaft und ihrer Öffentlichkeit einzubeziehen. Von ‚bürgerlicher Dichtung‘ spricht aufgrund des für die Frühe Neuzeit unangemessenen Bürgerbegriffs schon lange niemand mehr, allenfalls von ‚stadtbürgerlicher‘. Eingebürgert hat sich weithin ‚Handwerker-Dichtung‘. Das trifft im Hinblick auf die ständische Verortung grosso modo das Richtige, ohne für jeden Einzelfall gelten zu müssen. Schon die Berufe der namentlich bekannten Nürnberger Meisterlieddichter des 15. Jahrhunderts sind charakteristisch. So finden sich Briefmaler, Söldner, Bäcker-, Barbierer-, Heftelmacher-, Nagler-, Schlosser-, Schuhmacher-, Spengler- und Webermeister (vgl. Schanze, Liedkunst I, S. 379). Sie zeigen eine frühe Entfernung der alten Sangspruchdichtung vom Hof an, die im 15. Jahrhundert nur noch vereinzelt von Berufsmeistern bei Hof oder in Hofnähe gepflegt wird, ansonsten aber schon bedeutend vor Aufkommen der Gesellschaften zum Nebenstundenwerk stadtbürgerlicher Dilettanten geworden ist – und dies wohl auch außerhalb Nürnbergs (vgl. ebd., Bd. 1, S. 261–286 zu München: (Konrad?) Harder, letztes Viertel 14. Jh., Bäcker; Al­brecht Lesch, 2. H. 14. Jh., obere Mittelschicht des Bürgertums und sehr wahrscheinlich Handwerker). Im regulierten Meistergesang können, bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung, die vertretenen Gewerbe von Stadt zu Stadt variieren. In Augsburg und Ulm



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dominiert auffällig die Textilverarbeitung, in Nürnberg sind es lange die Schuhmacher (Hans Sachs, Georg Hager d. Ä., d. J.). Das erklärt sich teils aus unterschiedlichen allgemeineren Voraussetzungen (Stahl, Meistersinger, S. 24: „Leine- und Barchentweberei … wichtigste[s] Exportgut Oberschwabens“). Es hebt andererseits noch einmal das Gewicht der Kommunikation unter Anwesenden für den gesamten Meistergesang ins Bewusstsein. Zahlreich sind nämlich Zeugnisse für die innerfamiliäre Weitergabe ebenso des väterlichen Berufs wie des Interesses am Meistergesang. In diesen Kontext gehört zudem die für den Wissenstransfer wichtige Gesellenwanderung der Handwerker. In Nürnberg sind Vorträge von Besuchern aus anderen Städten gängig. Am Oberrhein erhalten die Freiburger Meister nach Ausweis ihres Rechenschaftsberichts von 1575/80 (vgl. Baldzuhn, Companies) mehrfach Besuch von den Kolmarern, die ihrerseits ihre Gesellschaft nach Straßburger Vorbild gegründet hatten. Diese Geselligkeitskultur ist konkreter Hintergrund für den Austausch einzelner Handschriften, etwa der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k, die von Kolmar nach Augsburg ausgeliehen und von dort über Ulm wieder zurückgebracht wurde, wie der Tabulaturen. Ihre wissenssoziologische Aufarbeitung steht noch aus. Die Nürnberger Handwerker leben nicht selten in angespannten finanziellen Verhältnissen und waren auf kleinere Nebentätigkeiten angewiesen. Im Einzelfall hat der Zugang zur Schriftlichkeit des Meistergesangs begünstigende zusätzliche Qualifikationen vermittelt. Daniel Holzmann, dem in Augsburg gar der Berufswechsel zum Notar gelingt, ist aber sicherlich eine Ausnahme. Beispielhaft aufgearbeitet (Merzbacher, Meistergesang) ist der Fall des Nürnbergers Benedict von Watt (1569–1616), in dessen Augen Meistergesang „den Platz einer möglichen Alternative zum ansonsten öffentlich bedeutungslosen Status“ einnahm (ebd., S. 61) und der als rühriger Merker, Dichter und Schreiber kleinere Beträge erwirtschaftete, um Schulden zu begleichen (vgl. ebd., S. 44, dort S. 44  f. aber auch zu emphatischeren Selbstaussagen anderer, etwa Puschmans, der eben die Musica von jugent auff geliebet habe). Andere als Handwerker-Berufe scheinen nahezu bedeutungslos. Die patrizische Oberschicht, Gelehrte und Geistliche standen dem Meistergesang meist distanziert gegenüber. Nur vereinzelt werden deren Vertreter in den oder für die Gesellschaften aktiv. Eines der prominentesten Beispiele ist der Nürnberger Ambrosius Metzger (1572–1632), Handwerkersohn zwar, aber studierter Magister, dessen Hoffnungen auf eine geistliche Laufbahn sich freilich nicht erfüllten und der, kaum begütert und nahezu blind, sein Leben schließlich als unterster Lehrer am Gymnasium bei St. Egidien fristen musste. Als Autor reflektiert er diese Vita unter anderem in der 155 Lieder umfassenden Versifikation der ‚Metamorphosen‘ Ovids, ohne dass er sich freilich an den Wettkämpfen beteiligte; vor seinem Engagement für den Meistergesang ließ er gattungsfremde mehrstimmige Gesellschaftslieder drucken (vgl. Stahl, Meistersinger, S. 230–232). Für Augsburg indes lässt sich ein etwas höherer Anteil an Schulmeistern nachweisen (ebd., S. 44; Schnell, F., Geschichte, S. 26  f.). Um 1600 häufen sich solche Fälle: Brunner spricht unter Verweis auf Metzger, den Augsburger Notar und Homerübersetzer Johannes Spreng (1524–1601), die Straßburger Theologen Wolf-

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hart Spangenberg, Johannes Zehenthoffer und Peter Pfort gar von einem „charakteristischen Kreis akademisch gebildeter Mitglieder“ (Brunner, Alte Meister, S. 33). Der Adel ist nirgends vertreten (vgl. jedoch RSM 2Helms: „Jörg von und zu Helms­ torff“, zwei Meisterlieder in Berlin, SBB-PK, Mgq 402, geschrieben 1569/75 von benanntem Jörg und einem Hans Friedrich von Helmstorf). Weibliche Meistersinger gab es fast gar nicht (vgl. jedoch Susanna Graner [1540/41–1614] in Straßburg [vgl. RSM 2GranS] und Katharina Holl [16. Jh.] in München [vgl. RSM 2HolKa]; lediglich weil sie Meistertöne für ihre gedruckten geistlichen Lieder benutzt, verzeichnet das RSM zudem die Regensburger Schulmeisterin Magdalena Heymairin [vgl. RSM 2Heymr]). Typologie der Quellen Der H a n d s c h r i f t e n b e s t a n d ist im RSM für die gesamte Sangspruchtradition vollständig verzeichnet und im Text-/Melodiebestand systematisch erschlossen (vgl. RSM, Bd. 1, S. 65–318; zur älteren Forschung: Nagel, B., Meistersang, S. 77–79). Der Jüngere Teil, in dem der Meistergesang seit der Reformation erfasst ist, beruht auf gut 150 Manuskripten; hinzu kommen gut zwanzig nur mittelbar nachzuweisende (ebd., Bd. 1, S. 61 Anm. 1). Zahlreiche Bestände bewahren vor allem Bibliotheken in Berlin, Dresden, München, Nürnberg und Zwickau. Nicht selten verbleiben die Handschriften in der Stadt, in der die Gesellschaft bestand (Augsburg, Breslau, Iglau, Nürnberg, Memmingen, Ulm). Vollständige Abbildungen im Druck (vgl. jedoch Brunner/Rettelbach [Hg.], Töne) oder im Internet zugängliche Digitalisate liegen bis jetzt noch kaum vor. Handschriften als Text- oder Melodiezeugen auszuwerten ist das eine, ihr Eigenwert ein anderes. Die Quellen, Handschriften und Drucke, auf denen der Ältere Teil des RSM (Spruchsang und Meistergesang bis zur Reformation) basiert, waren zu einem erheblichen Teil in gedruckten Handschriftenkatalogen und Texteditionen bereits erschlossen; deshalb konnte ihre ausführliche Beschreibung im Überlieferungsband (Bd. 1) des RSM unterbleiben. Für den Jüngeren Teil gilt dies nicht, weshalb die Überlieferungszeugnisse eingehend behandelt werden mussten. Im Vergleich zur älteren Überlieferung zeigt der jüngere Meistergesang charakteristische Tendenzen. So tritt die Streu- und Einzelüberlieferung insgesamt zurück. Und die Niederschriften versuchen vielfach, die Faktur der Sache auch in schriftlicher Form sichtbar zu machen, etwa, zuvor nicht selbstverständlich, den Strophen- und Versbau (RSM, Bd.  2.1, S. XXXV Anm. 10). Überhaupt ist eine Annäherung der Aufzeichnung an den Autor der Texte zu erkennen, die damit stärker in dessen Verfügungsgewalt rücken. Zudem herrscht ein Zug zur geordneten ‚Summe‘, zum Handbuch planmäßigen Gesamtaufbaus, gerne auch und besonders ausgeprägt bei Hans Sachs, hier mit nachgerade kaufmännisch-buchhalterischer Fixierung der eigenen Produktion, oft mit Vorreden u.  ä., umgeben nicht selten von weiteren Materialien zum Singschul- und Gesellschaftsbetrieb. Buchschmuck dagegen erscheint prinzipiell selten. Nahezu unerforscht ist das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit von den Handschriften her, also der



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Anteil an Niederschrift nach Gedächtnis und nach Vorlagen, die Variantenbildung, die ‚Güte‘ der Textaufzeichnung. Nähere Untersuchung verdient zudem noch der rege Austausch von Handschriften unter den Meistersingern und der Warencharakter der Handschrift. Nicht wenige Meistersinger sind ja als Auftragsschreiber für die Gesellschaft und einzelne Mitglieder tätig. Die D r u c k ü b e r l i e f e r u n g fällt, zumindest auf den ersten Blick, überraschend reich aus, trotz der Zurückhaltung der Meistersinger in diesem Punkt (vgl. Schanze, Liedkunst I, S. 32–34), denn gedruckte Lieder waren von Singschul-Veranstaltungen ausgeschlossen. Verzeichnet ist sie, wiederum erstmals vollständig, im RSM (Bd. 1, S. 325–508). Gedruckt wird freilich nur eine reduzierte Auswahl: besonders ‚populäre‘ Liedtypen und Töne. Ihre Drucke reichen von der Inkunabelzeit bis ins späte 17. Jahrhundert, doch stammt das meiste aus dem 16. Jahrhundert. Die Druckbibliographie umfasst über dreieinhalb Hundert Texte, die sehr oft mehrfach aufgelegt wurden. Von den ca. 800 Ausgaben entfallen allein etwa 700 auf das 16. Jahrhundert, 25 noch auf die Zeit der Wiegendrucke; dabei erscheinen etwa 30 Einblattdrucke. Zahlreiche Drucke sind inzwischen im Internet als Digitalisate einzusehen. S i n g s c h u l p r o t o k o l l e dokumentieren in unterschiedlicher Weise das Ge­ schehen während der Veranstaltungen, die vorgetragenen Lieder und Töne, die beteiligten Sänger, die Fehlerpunkte und die Sieger sowie weitere organisatorische Details. Sie stellen daher die zentrale Quelle für die Organisation und Geschichte der Meistersinger-Gesellschaften und ihrer Singschulveranstaltungen dar. Erhalten haben sich solche Protokolle nur aus Augsburg (Laufzeit: 1610–1701; Brunner [u.  a.] [Hg.], Augsburger Schulordnung), Iglau (Laufzeit 1613–1620; hg. in Streinz, Singschule) und Nürnberg (Laufzeit 1555–1561 und 1576–1689; Sachs, Gemerkbüchlein; Drescher [Hg.], Nürnberger Meistersinger-Protokolle). Neben Informationen etwa über Termine und Orte der Aufführungen und ihrer Organisatoren liefern insbesondere die Protokolle aus Augsburg Einsicht in die Anwendung des Regelwerks der Tabulatur. Über die T a b u l a t u r e n , die Anweisungen, wie von den Merkern ‚gemerkt‘ werden soll, informiert knapp und instruktiv Hahn, R., Studien, S.  74–85. Seither zu ergänzen sind vor allem Brian Taylors Einleitung zu Puschmans ‚Gründlichem Bericht‘ (Puschman, Bericht [b], Bd. 1), die auch den Abhängigkeiten der Tabulaturen untereinander nachgeht, seine Einleitung zur Edition der Augsburger Tabulatur in Brunner [u.  a.] (Hg.), Augsburger Schulordnung (S. 3–13) und zwei Beiträge zur Vorgeschichte der Tabulatur (Taylor, B., Meisterlied; vgl. auch Taylor, B., Prolegomena; Baldzuhn, Feld). Erhalten haben sich Tabulaturen für die Augsburger Gesellschaft (Brunner [u.  a.] [Hg.], Augsburger Schulordnung, S.  29–33: Straffen der vnkunst), für Breslau (A**, Entdeckung, S.  73–76, 81–83: Tabulatur oder SchulRegister), Iglau (Streinz, Singschule, S.  76  f.: gemerck), Kolmar (Plate, Gemerckbuch, S.  226–234: gemerck bůch), Memmingen (in Abbildungen: Bell, Meistersingerschule), Nürnberg 1540/60 und 1561 (Bell, Georg Hager, Bd. 4, S. 1401–1406) sowie 1635 (Mummenhoff, Singschulordnung, S.  312–319), Steyr (Streinz, Singschule, S.  86–97: tabulatur), Ulm 1599 und 1644 (unediert, vgl. Nagel, W., Studien, S. 138–167) und vielleicht für

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Straßburg 1494, dann in Abschrift von 1546 durch Wickram in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k (vgl. Taylor, B., Meistersinger-Tabulatur). Letztere wäre die älteste erhaltene, doch haben die jüngeren Tabulaturen oft eine längere, indes oft unklare Vorgeschichte. Die Augsburger wurde 1611 niedergeschrieben, es sind indes Vorstufen für die Zeit vor 1534, 1561 und 1575 zu erschließen (Brunner [u.  a.] [Hg.], Augsburger Schulordnung, S. 7). Die in seinem ‚Generalregister‘ von Sachs 1560 notierte nennt einen Vorgänger von 1540, wobei ein vermutlich Nürnberger ‚Urschulzettel‘ schon 1490/1510 existiert haben kann (Taylor, B., Beitrag). Tabulaturen kursierten nur innerhalb der Gesellschaft; sie wurden allenfalls zur Genehmigung der Schulordnung mit dieser der Stadtobrigkeit vorgelegt. Nur vereinzelt finden sie im Druck Verbreitung, so bei Puschman im Rahmen seines ‚Gründ­ lichen Berichts‘ über den Meistergesang (1571/1584/1596: diese Tabulatur dann für die Breslauer Gesellschaft verbindlich), auf den vielleicht die zuvor im Meistergesang nicht belegte, wohl aus der zeitgenössischen Musiklehre stammende (Puschman, Bericht [b], Bd. 1, S. 32  f.) Bezeichnung Tabulatur zurückgeht (ebd., Bd. 1, S. 31  f.), und in der Memminger ‚Kurtzen Entwerffung‘ von 1660. Entsprechend reichen im Druck dann auch ihre Ansprüche weiter, in Memmingen etwa bis zu barocker Sprachpflege. Von den Barockpoetiken unterscheidet sich die Tabulatur als Verzeichnis von Fehlertypen und, in Silben gemessen, Fehlerschwere durch ihre ‚negative‘ Ausrichtung: Man lernt aus ihr zunächst einmal, wie man es nicht machen soll, und nicht, wie man es machen soll. Letzteres geschieht eher über learning by doing bzw. im Verhältnis von Meister zu Schüler. In ihrer Knappheit und generellen Ausrichtung ist die in die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ k (Bl. 17r) nachgetragene Tabulatur sehr charakteristisch: Ordnung des gesangs z mercken 1 Ein falsche meinung wirt gar verworfen 2 Ein gantzen Stollen oder absang ausslossen ist gar versungenn 3 Jtem 3 anfeng ist versungenn 4 Ein angefangner stutz – 4 – Silben 5 Ein verzucter stutz – 2 – Silben […]

Der ‚positive‘ Unterweisungscharakter scheint aber mit den späteren Tabulaturen zuzunehmen. So informiert die Kolmarer Tabulatur von 1549 begleitend recht ausführlich u.  a. auch über verschiedene Reimtypen. Methodisch wird in der Forschung noch immer nicht scharf genug zwischen der diskursiven Tabulatur und dem verbreiteten Liedtyp der ‚ S c h u l k u n s t ‘ unterschieden. Letzterer kann vor dem Hintergrund bereits existierender Regeln der Tabulatur gedichtet worden sein und diese zum Gegenstand der Versifizierung machen. Dem Typ engstens verwandte Lieder begegnen indes schon, ohne Hintergrund des regulierten Meistergesangs, in der meisterlichen Liedkunst des 15. Jahrhunderts und sind vielleicht sogar bedeutend älter (vgl. Taylor, B., Meisterlied, und Baldzuhn, Feld). Untersuchungen zur noch nicht systematisch aufgearbeiteten Vorgeschichte



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der Tabulatur-Begriffe, von denen viele noch heute für die Beschreibung der Faktur von Texten benutzt werden, müssen daher neben einschlägigen zeitgenössischen Diskursen (Rhetorik, Musiklehre) stets eine literarische Prägung berücksichtigen. S c h u l o r d n u n g e n , in der Überlieferung oft mit den Tabulaturen verbunden, regeln das Procedere der Wettkämpfe in den Singschulen sowie die weitere interne Organisation der Meistersinger-Gesellschaften. Sie haben sich erhalten aus Augsburg (Brunner [u.  a.] [Hg.], Augsburger Schulordnung, S. 15–29), Breslau (A**, Entdeckung, S. 59  f., 83  f.), Freiburg (Harter-Böhm, Musikgeschichte, S. 96–102), Iglau (Streinz, Singschule, S. 75  f., 78–85), Kolmar (Mossmann, Singschulordnung; vgl. auch Plate, Gemerckbuch, S. 234–237), Ulm (unediert, vgl. Nagel, W., Studien, S. 180  f.). Reiches Material zur Geschichte der Nürnberger Gesellschaft und ihrer Ordnungen bietet Bell, Georg Hager. Zur 1870 verbrannten Handschrift mit Straßburger Ordnungen gibt Nagel, W., Studien, S. 99 Anm. 1 Hinweise. P o s t e n b r i e f e , A u s h ä n g e t a f e l n sowie sog. S c h u l z e t t e l dienten der Einladung zu einzelnen Singschulen, ihrer öffentlichen Ankündigung, der Werbung um Publikum, der feierlichen Markierung des Singschul-‚Raumes‘. Diese Quellentypen können also die Datierungen und Angaben der Singschul-Protokolle ergänzen. Sie sind zudem wichtige Quelle für das Selbstverständnis der Meistersinger und die von ihnen erstrebte Außenwahrnehmung. Die Überlieferungschancen vor allem der Schulzettel sind indes schlecht (vgl. aber deren Sammlung in Weimar, HAAB, Fol. 421a, einige auch in Nürnberg, StB). Bei den Tafeln sieht es materialbedingt etwas besser aus. Der erhaltene Bestand ist weder systematisch erhoben noch systematisch erforscht. Die verschiedenen Funktionen der Quellentypen wären überhaupt noch einmal genauer zu untersuchen und zu unterscheiden. Einiges aus der einschlägigen, insgesamt sehr verstreuten Forschungsliteratur hat zuletzt Baldzuhn (Companies, S. 235–237 Anm. 30 u. 32) zusammengestellt. Abbildungen, die einen ersten Eindruck von diesen Quellentypen vermitteln, bieten etwa für Nürnberg ein Ausstellungskatalog (Sachs und Meistersinger, S. 119, vgl. dazu ebd., S. 126 Nr. 94: „Schulzettel“) und Hahn, R., Meistergesang, S. 59 (Ende 16. Jh.: „Einladungszettel“), für Iglau ebd. (S. 72, 1612: „‚Postenbrief‘ [Anschlagtafel]“), für Freiburg Baldzuhn, Companies, S. 236 (zeitnah zum Stiftungsbrief von 1513 zu datieren: „Postenbrief“). Der Freiburger Postenbrief wird in einem Besitzverzeichnis der Gesellschaft als Ein Abriß von der daflen wie man sij vor Vnser lieben frauen Münster vor dem wohr Zaichen wan Man ain Singschuoll hat gehalten aldordten aufgehengeht worden aufgeführt. Das Besitzverzeichnis kennt daneben aber auch Ein schuollbrief wie man die Singer Vf die schuoll laden duodt. Mit den Aushängetafeln ist auf materiale Quellen verwiesen, die sich, im Anschluss an die Handwerksforschung, als Z u n f t a l t e r t ü m e r bezeichnen lassen (dazu von historischer Seite Reininghaus, Sachgut). Dabei handelt es sich um Preise, Auszeichnungen für den Wettkampf-Sieger, Pokale (Ulm: Abb. bei Hahn, R., Meistergesang, S. 67) und Ketten (Nördlingen: Abb. in: Sachs und Meistersinger, S. 128 zu Katalognr. 97) oder um fest installierte, aufwändigere Objekte der Selbst- und Außendarstellung

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einer Gesellschaft wie den vom Nürnberger Schreinermeister und Meistersinger Jacob Schneider 1620 angefertigten und von Franz Hein bemalten sog. Meistersingerschrein, ein dreiflügeliges Schränkchen, das in der Kirche St. Katharinen hing (Grieb [Hg.], Nürnberger Künstlerlexikon, Bd. 1, S. 1360; Abb. bei Bell, Georg Hager, Bd. 1, S. 47  f.). Kaum mehr sinnvoll zu typologisieren ist schließlich der beträchtliche Bestand an jeweils aus den regionalen Archiven oder Stadtmuseen zu beziehenden Quellen. Er kann interne Dokumente einer Gesellschaft umfassen (im Freiburger Stadtarchiv etwa Besitzstands- und Rechenschaftsberichte, vgl. Schreiber, Urkunden, und HarterBöhm, Musikgeschichte, im Ulmer Stadtmuseum das sog. Rote Buch der Gesellschaft; vgl. RSM, Bd. 1, S. 260  f.) als auch Externes (in Nürnberg zahlreiche Ratsverlässe zur Zulassung einzelner Singschulen). Monographische Aufarbeitungen der Geschichte einzelner Zusammenschlüsse müssen diesen Komplex systematisch miterschließen, sind aber bisher Ausnahme (für Iglau: Streinz, Singschule). Die gleiche Einschränkung gilt für den Bestand an sekundären Quellen verschiedensten Zuschnitts, die einzelne oder mehrere Gesellschaften aus der Perspektive Außenstehender darstellen. Beispielhaft seien hier nur die ‚Donauwörther Chronik‘ genannt, die 1528/29 von Gesellschaften in Augsburg, Donauwörth, Nürnberg, Nördlingen und Ulm weiß und detailliert aus der Donauwörther Gesellschaft berichtet (vgl. Schanze, Liedkunst I, S. 384–388), und das ‚Buch von der Meister-Singer Holdseligen Kunst‘ (1697) des Altdorfer Professors und Universalgelehrten Johann Christoph Wagenseil. Das Meisterlied: Die Texte Meisterlieder sind in Sangspruch- bzw. Meisterlied-Tönen verfasst. Da diese wiederverwendbar sind, muss der Textautor nicht zwingend der Tonautor sein. Der Liedsänger in der Singschule muss weder das eine noch das andere sein. Meisterlieder sind mehrstrophig und weisen stets eine ungerade Zahl von Strophen auf, meistens drei, oft fünf, seltener sieben oder mehr. Die Strophen haben die seit Walther von der Vogelweide im Sangspruch geläufige Kanzonenform aus Aufgesang und Abgesang. Sonderformen höheren Anspruchs stellen zum einen Lieder dar, die mehrere Töne verwenden, vorzugsweise die sog. gekrönten Töne  – besonders angesehene Töne älterer (‚gekrönter‘) Sangspruchdichter (vor allem die Langen Töne Frauenlobs, Regenbogens, Marners, Boppes/Heinrichs von Mügeln; vgl. Rettelbach, Variation, S. 313–318) –, zum anderen zu übergreifenden Einheiten zusammentretende Lieder, sog. Zyklen, die schon in Meisterliederhandschriften des 15. Jahrhunderts (‚Die Bibel‘ in Regenbogens Langem Ton in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘: RSM 1Regb/4/581– 585) und bei älteren Nürnberger Autoren (s.  o. zu den ‚Reformliedern‘ Mayer Nr. 89–94 von Hans Folz) anzutreffen sind. Der erhaltene Textbestand ist vollständig im RSM erfasst. Verlorene Texte sind in erster Linie über die Protokolle zu erschließen (die Nürnberger Singschulprotokolle sind in dieser Hinsicht noch nicht systematisch ausgewertet). Die Liedproduktion



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der Meistersinger ist beachtlich. Über 13.000 Lieder entstehen nach der Reformation, darunter allein von dem Nürnberger Hans Sachs 4286 und von dem Nürnberger Magister Ambrosius Metzger über 3000 (zum großen Teil nicht erhalten). Im Einzelfall vorliegende Werkausgaben werden im RSM im Kopf des jeweiligen Korpus benannt, in den Liedartikeln auch im Einzelfall vorliegende Abdrucke oder Editionen. Eine schmale Anthologie haben zuletzt Klesatschke/Brunner vorgelegt ([Hg.], Meisterlieder 16.–18.  Jh.; das Reclam-Bändchen Nagel, B. [Hg.], Meisterlieder von 1965 ist ganz ungenügend). Die editorische Erschließung insgesamt freilich ist noch sehr lückenhaft (s. die oben Abschnitt 2 genannten Forschungsberichte). Allerdings steht die Sinnhaftigkeit vollständiger Edition angesichts der Massenproduktion der Texte und ihrer oft fragwürdigen ästhetischen Qualität durchaus infrage (vgl. RSM, Bd. 1, S. 7). Umso mehr Gewicht kommt daher dem RSM und seinen Registern zu. Die thematische Vielfalt der Meisterlieder ist prinzipiell so breit wie die der älteren Sangspruchdichtung (vgl. dazu → Kapitel  V dieses Handbuchs; zusammenfassend Brunner, Meistergesang [a], Sp. 10). Freilich verschieben sich die Akzente in dreierlei Hinsicht auffällig: Im engeren Sinne politische Lieder fallen nun, sicherlich auch Resultat des soziologischen Wandels der Trägerschicht, der Handwerker in der Stadt mit ihrem limitierten politischen Aktionsraum, ganz aus. Geistliche Themen, schon im Vorfeld des Meistergesangs quantitativ dominant, treten auch deshalb noch stärker in den Vordergrund. Da die – allenthalben vorbildlichen – Nürnberger, namentlich Hans Sachs, schließlich den Meistergesang im 16.  Jahrhundert entschieden in den Dienst der Reformation stellen (vgl. Brunner, Meistergesang und Reformation; RSM, Bd. 1, S. 3  f.), treten dann, drittens, altkirchlich bevorzugte Themen, allem voran die Mariendichtung, völlig in den Hintergrund, die Versifikation von Bibelstellen in den Vordergrund. Daneben steht die ganze Vielfalt weltlicher und literarischer Stoffe, Fabeln, Schwänke, Historien usw. In diesem Rahmen bilden sich manche Untertypen aus, ‚Schulkünste‘ etwa, die das Gemerk, seine Regeln, die Tradition des Meistergesangs behandeln (Beispiele bei Klesatschke/Brunner [Hg.], Meisterlieder 16.–18.  Jh., Abschnitt  IV), oder ‚Loica‘, die mit oberflächlich betrachtet problematischen oder sinnlosen Aussagen aufwarten und besondere Ansprüche an ein weiterreichendes Textverständnis des Rezipienten stellen (Beispiele ebd., Abschnitt VI). Das Meisterlied: Die Töne Als ‚Ton‘ (zeitgenössisch auch ‚Weise‘) bezeichnet man den einem Meisterlied zugrundeliegenden Strophenbau und die mit diesem verbundene Melodie. Brunner nennt die Zahl von ca. 1400 (Meistergesang [a], Sp. 9) Tönen, wobei ein Großteil jedoch erst seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstand (allein von Ambrosius Metzger sind heute noch 343 Töne bekannt – sein überbordendes Schaffen führte das Töneprinzip ad absurdum); Hans Sachs verwendete für seine 4286 Meisterlieder 279 unterschiedliche Töne, nur 13 davon hatte er selbst geschaffen.

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Mit zunehmender Wiederverwendung von Tönen durch andere als den Tonerfinder steigt zwangsläufig der Bedarf an der ‚Etikettierung‘ des Produkts. Namen für Töne sind daher schon seit dem 14. Jahrhundert belegt und dann im Meistergesang die Regel (vgl. RSM, Bd. 1, S. 3). Dort sind nun, im Unterschied zur älteren meisterlichen Liedkunst, regelmäßig die Tonerfinder selbst auch als die Namengeber des Tons zu identifizieren. Die Bezeichnungen fallen ihnen zunehmend differenziert aus – bis hin zu Gebilden von barocker Anmutung wie der Überlangen Kürbisgartenweise oder Mercurii Wünschelrutenweise des Ambrosius Metzger. Sie werden zudem wie Werkstattstempel eingesetzt, etwa in Adam Puschmans ‚Geflügel‘-Tönen (Birkhahn-, Eisvogel-, Falkenweise usw.). Potentiell sind sie aufschlussreich für zeitgenössische ästhetische Vorstellungen und die Text- und Tonpragmatik (Kornrumpf/Wachinger, Alment, S.  358; Brunner, Meistergesang [a], Sp. 9  f.), aber noch nicht entsprechend untersucht. Neben den Singschulprotokollen bietet dazu das RSM alles Material, darunter auch gegebenenfalls über die Inhaltsangaben zu in den Liedtexten selbst aufgeführten Tonnamen (vgl. das Register der Tonnamen Bd. 2,1, S. 379–418; Auswertungsaspekte bei Merzbacher, Meistergesang, S. 33–41). Der Bestand überlieferter Melodien ist dank dem Überlieferungsbestand des RSM, der auch die erhaltene Melodieüberlieferung nennt, gut erschlossen; die zum Teil auch von den Meistersingern benutzten Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jahrhunderts sind, auch mit den späten Fassungen, ediert in Sps. Zahlenangaben zur Menge des Erhaltenen finden sich in RSM, Bd. 2.1, S. XXVIIf. Eine Übersicht über die etwa 30 Überlieferungszeugen aus der Zeit der Meistersinger, darunter auch Drucke, geben Brunner/Rettelbach (Hg.), Töne, S.  5–7. Herausragende Zeugen sind die Magdeburger ‚Handschrift des Valentin Voigt‘ (Jena, ThULb, Ms. El. Fol. 100) von 1558, das ‚Singebuch‘ des Adam Puschman (Breslau, Ms. 356 [Kriegsverlust]) von 1584/88 und die verschiedenen Sammlungen des Nürnbergers Benedict von Watt. Umfassendere Bemühung um Kodifizierung bzw. Konservierung verbindet sich regelmäßig mit Namen engagierter Träger (Voigt, Puschman, Watt, auch Georg Hager). Sie dient auch der Außendarstellung der Meisterkunst (bei Voigt: Widmung an den sächsischen Fürsten; bei Puschman: Widmung an die Stadt Straßburg), oft aber vor allem der – gelegentlich kollektiven – Sicherung der Grundlagen des eigenen Gesellschaftsbetriebs (das ‚Rote Buch‘ der Ulmer Gesellschaft: Ulm, StA, AV 257; das ‚Stammbuch der Memminger Meistersinger‘: Memmingen, StA, 4°,2,113; die Nürnberger Handschriften StB Will III.792–796 entstammen dem Archiv der Gesellschaft). Für den Individualgebrauch durch einzelne Sänger ist freilich mit anspruchsloser ephemerer Schriftlichkeit oder gar Speicherung der Melodien nur im Gedächtnis zu rechnen. Welche Spielräume zwischen Niederschrift, Gedächtnis und Vortrag bestanden, bleibt zu eruieren. Die Praxis meistersingerischen Tönegebrauchs ist zunächst nach dem Verhältnis aufzuschließen, in dem das Dichten von und Singen in eigenen Tönen zu dem in fremden sowohl älterer wie zeitgenössischer Meister steht. Im Blick auf die Tonerfinder sind in RSM, Bd. 2.1, S. XXVIII an älteren Autoren zuletzt 42 Sangspruchautoren



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angeführt, die freilich nicht mit allen ihren Tönen rezipiert wurden, dazu 14 zumeist Nürnberger Tonerfinder des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Genauere Zahlen für die Beliebtheit jüngerer Meistersinger-Töne unter Zeitgenossen und Nachfolgern blieben durch Auszählen der RSM-Angaben noch zu ermitteln. Beispielhafte Angaben für das von Fall zu Fall schwankende Verhältnis, in dem Eigenproduktion und Tonübernahme im Œuvre einzelner Meistersinger stehen können, liefert Rettelbach (Variation, S. 309–313): Sachs etwa benutzt, wie erwähnt, 279 Töne, darunter 13 eigene, Valentin Voigt benutzt 81 Töne, ohne überhaupt selbst zu komponieren, Benedict von Watt 402 Töne, darunter 25 eigene. Die Vorgaben und die Verarbeitung der Tradition im Bau der Strophen und Melodien sind dank der Untersuchungen von Schumann, Stilwandel, Brunner, Alte Meister, Rettelbach, Variation, und Brunner, Formgeschichte, breiter erforscht; hinzu kommen speziell für den Strophenbau die Register des RSM zu den Tonschemata in Bd.  2.2. Für die älteren Melodien liegt mit Sps. eine zuverlässige editorische Basis vor. Für die jüngeren aus meistersingerischer Produktion seit dem 16. Jahrhundert steht sie aus. Die von Brunner/Rettelbach ([Hg.], Töne) bereitgestellten Abbildungen aus den Nürnberger Sammlungen Will III. 792–796 mit ihren über 500 Tönen sind vorläufig nützlicher Behelf. Die Veränderung alter Sangspruchmelodien hat detailliert Brunner untersucht (Alte Meister, S.  240  f., 260  f., 276  f., 288  f., 294) und Typisches herausgearbeitet: Tendenz zur Regelmäßigkeit, zur Vereinfachung mit Blick auf gestiegene rationale Überschaubarkeit, bisweilen um den Preis der Monotonie. Mit Blick auf die Gesangspraxis ist leichtere Fasslichkeit als Motiv anzunehmen. Den Veränderungen im Strophenbau ist zuletzt ausführlich Rettelbach nachgegangen (Variation, S.  82–145, Zusammenfassung S.  136–145): Erneut lassen sich Vereinfachungen, Ausgleichsund Angleichungstendenzen beobachten, öfter auch neue Reime, insbesondere bei Teilung inzwischen offenbar als unmodern empfundener alter Langzeilen. Für den jüngeren Meistergesang ist namentlich Hans Sachs oft als Initiator der späteren Standardform eines alten Tons wahrscheinlich zu machen. Die Machart neuer Töne ist bisher vergleichend noch nicht systematisch untersucht worden. Einen knappen Überblick zum Strophenbau liefert Brunner, Meistergesang (a), Sp. 10: in der Regel mindestens sieben, oft zwölf und mehr Verse mit Endreim, Extremfälle mit über 100 pro Strophe, Silbenzahlen der Verse zwischen 1 und 13, an der Kanzonenstrophe und ihren Varianten wie dem dritten Stollen wird festgehalten. Die Melodien (ebd., Sp. 10–14) bleiben einstimmig und wurden solistisch, nur zu besonderen Anlässen im Chor, aber stets ohne Instrumentenbegleitung gesungen. Zeitgenössischen Neuerungen gegenüber schließt man sich ab, was musikgeschichtlich eine Randstellung zur Folge hat. Generell fällt die punktuelle Wiedereinführung auftaktloser Verse im 17. Jahrhundert auf (Rettelbach, Variation, S. 328  f.), nachdem diese bei der Übernahme alter Töne mit auftaktlosen Versen bereits im Spätmittelalter beseitigt worden waren, nicht zu übersehen sind ferner zunehmende „Reimspielereien“ (ebd., S. 329–334) und eine größere Experimentierfreude bei den Zeilenlängen (ebd., S. 334–340) bis hin zu Überkurzen Tönen von im Extrem nur acht Silben

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(ebd., S. 340–342). Nach wie vor ungeklärt ist die Frage, in welchem Verhältnis Töne mit nach älterer Tradition skandierend zu realisierenden Verse zu jüngereren Tönen stehen, deren Verse nurmehr nach ihren Silben gezählt wurden (vgl. Rettelbach in Bd. 2,1 des RSM, S. XXX). Lienhard Nunnenbeck († vor 1527/28), der Lehrer des Hans Sachs, scheint jedenfalls einer der ersten gewesen zu sein, für dessen Tonproduktion man annehmen kann, dass er nur noch Silbenzählung intendierte (ebd., S. XXXI). Das Gesellschaftsleben Über die Organisation der Gesellschaften und ihre Singschulen informieren insbesondere die erhaltenen Schulordnungen; hinzuziehen sind dazu vor allem die Singschulprotokolle und im Einzelfall einschlägiges Verwaltungsschrifttum der Städte. Die Nürnberger Verhältnisse umreißt knapp der 2MGG-Artikel von Brunner (Meistergesang [a], Sp. 14  f.; ausführlicher Brunner/Strassner, Volkskultur), die Verhältnisse im allgemeinen und anschaulicher, jedoch ohne Einzelnachweise Hahn, R., Meistergesang (S. 56–61). Die Nürnberger galten anderen Gesellschaften vielfach als vorbildlich. Der Größe (und damit dem Verwaltungsbedarf nach) kommen ihnen am ehesten die Augsburger nahe. Die Verhältnisse in den einzelnen Gesellschaften sind allerdings noch nicht zureichend erforscht. An Ämtern gab es den Vorstand, die Merker, Schriftführer, Kassierer („Büchsenmeister“). Es musste Rechenschaft über die Finanzen abgelegt werden, es wurden Mitgliedsbeiträge erhoben, Amtsinhaber gewählt, und es wurde über Neuaufnahmen befunden, die Mindestansprüche zu erfüllen hatten und in Nürnberg als ‚Schüler‘ zunächst einem ‚Meister‘ zugeordnet wurden. Die Freiburger kennen neben den ‚Meistern‘ noch ‚Gesellen‘. Konzerte (‚Singschulen‘) werden oft nach verschiedenen Anspruchsniveaus unterschieden. Das sog. Hauptsingen war der allgemeinen Öffentlichkeit und den anspruchsvollsten Themen, mithin den geistlichen, vorbehalten; entsprechende Plakate legen sich hier bis zur Angabe geforderter Verslängen fest. Daneben gab es das weniger durchformalisierte, auch thematisch offener angelegte Freisingen, bei dem auch materielle Preise gewonnen werden konnten. Die Preise des Hauptsingens hatten eher symbolischen Wert; wenn die entsprechenden Utensilien kostbar waren, verblieben sie im Besitz der Gesellschaft. Für ausgesprochen missratene Liedvorträge konnte der Sänger gar selbst zur Kasse gebeten werden (Hahn, R., Meistergesang, S.  56 [ohne Quellenangabe]). Konnte im ersten Durchgang kein Sieger ermittelt werden, kam es zum „Gleichen“, dann wurde „in die Schärfe“ gesungen. Ein Zechsingen schließlich fand in gesellschaftsinterner, ‚privater‘ Runde, etwa im Wirtshaus, statt. In Nürnberg war das Tragen von Waffen beim Zechsingen verboten; die Schulordnungen sind darauf bedacht, Schelt-, Reiz- und Spottlieder zu verbieten. Als Aufführungsstätten für das Hauptsingen wurden oft für Gottesdienste nicht mehr genutzte Kirchen oder aufgehobene Klöster gewählt. Als Nürnberger Aufführungsorte sind belegt (vgl. Sachs und Meistersinger, S. 128  f.) die Kirche des Heilig-



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Geist-Spitals, die Lateinschule St. Lorenz, das Dominikanerkloster, die Marthakirche, die Kirche des (aufgehobenen) Katharinenklosters und die Bartolomäuskirche der Vorstadt Wöhrd. Dort bringt man es im Durchschnitt auf 15 Aufführungen pro Jahr. Für Freiburg dagegen belegen Stichproben aus den Archivalien allenfalls zwei bis drei Singschulen jährlich, datiert auf die hohen Festtage wie Pfingsten, Weihnachten und Ostern. Von Konzertbesuchern konnten Eintrittsgelder erhoben werden (Hahn, R., Meistergesang, S. 56), Handwerker aus anderen Gesellschaften konnten indes Son­ derstatus zugesprochen bekommen. Bei aller Uniformität wartet gleichwohl jede Gesellschaft mit Besonderheiten auf. Wechselvoll fallen auch ihre Geschichten aus. So wird die Memminger Gesellschaft überhaupt erst um 1600 gegründet, während die Mehrzahl der älteren Gründungen im 17. Jahrhundert bereits an Attraktivität verlor. Die Forschung hat dafür verschiedene Gründe beigebracht: den Dreißigjährigen Krieg, für die zumeist protestantischen Gesellschaften in katholischem Umfeld auch die Gegenreformation, ferner ungünstige Umbrüche im zünftigen Handwerkswesen. Formell lösen sich die Gesellschaften oft aber erst deutlich später auf: 1772 die Augsburger, 1778 die Nürnberger, 1780 die Straßburger, 1839 die Ulmer, 1875 als letzte die Memminger (Übersicht: Hahn, R., Meistergesang, S. 95  f.). Monokausal wird sich das Ende des Meistergesangs kaum erklären lassen, doch steht die Forschung hier noch am Anfang. Ausg. Bartsch (Hg.), Meisterlieder; Bell, Georg Hager; Brunner [u.  a.] (Hg.), Augsburger Schulordnung; Brunner/Rettelbach (Hg.), Töne; Drescher (Hg.), Nürnberger Meistersinger-Protokolle; GA; GA-S; Gottsched, Nöthiger Vorrath; Klesatschke/Brunner (Hg.), Meisterlieder 16.–18. Jh.; Mayer; Nagel, B. (Hg.), Meisterlieder; Plate, Gemerckbuch; Puschman, Bericht (b); Sachs, Gemerkbüchlein; Sachs, Generalregister; Spangenberg, C., Musica; Spangenberg, W., Musica; Sps.; Stmn.; Wagenseil, Holdselige Kunst.  – Lit. A**, Entdeckung; Baldzuhn, Companies; Baldzuhn, Feld; Baldzuhn, ‚Hort‘; Baldzuhn, Münchener Meistersinger; Baldzuhn, Sangspruch; Baldzuhn, Streitgedicht; Bell, Meistersingerschule; Blank, Meistersang; Bourdieu, Soziologie; Brunner, Alte Meister; Brunner, Dichter ohne Werk; Brunner, Formgeschichte; Brunner, Geschichte; Brunner, Meistergesang (a); Brunner, Meistergesang (b); Brunner, Meistergesang und Reformation; Brunner, Meistersinger-Sammlung; Brunner, Sachs; Brunner, Stand und Aufgaben; Brunner, Überlieferung; Brunner/Rettelbach, Schulkunst; Brunner/Strassner, Volkskultur; Brunner/Tervooren, Einleitung; Dehnert/Herkle, Ulmer Meistersinger; Ehrismann, O., Vorwort; Ellenbeck, Sage; Fischer, Neue Forschungen; Fischer, Probleme; Genée, Sachs; Giesecke, Volkssprache; Goedeke, Grundriß; Grieb (Hg.), Nürnberger Künstlerlexikon; Grimm, J., Meistergesang; Grubmüller, Regel; Günthner/Knoblauch, Gattungen; Hahn, R., Geschichte; Hahn, R., Meistergesang; Hahn, R., Meistersinger; Hahn, R., Studien; Harter-Böhm, Musikgeschichte; Henkel, Alte Meister; Holznagel, Mittelalter; Huber, C., Herrscherlob; Hübner, Lobblumen; Janota, Forschungsaufgaben; Janota, Neue Forschungen; Keinz, Zeitgenossen; Kellner/Strohschneider, Poetik; Kindermann, Theatergeschichte; Kleinschmidt, Meistersang; Kooznetzoff, Theaterspielen; Kornrumpf, Provenienz; Kornrumpf/Wachinger, Alment; von Kraus, Meisterlieder; Kugler, Handwerk; Kuhn, Versuch; Lotman, Struktur; Luckmann, Grundformen; März, Silbe; Meistersinger und Richard Wagner; Mertens, Meistergesang; Merzbacher, Meistergesang; Mey, Meistergesang; Mossmann, Singschulordnung; Müller, J.-D. (Hg.), ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘; Mummenhoff, Singschulordnung; Nagel, B., Meistersang; Nagel, B., Poetische Technik; Nagel, W., Studien; Paul, Reichsstadt; Peters, Literatur; Petzsch, Kolmarer Lhs.; Petzsch, Meistergesangsreform; Petzsch, Singschule; Plate, Kunstaus-

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 Historische Entwicklung

drücke; Reininghaus, Sachgut; Reininghaus, Stadt; Rettelbach, Abgefeimte Kunst; Rettelbach, Meistergesang; Rettelbach, Variation; Röll, Lupold Hornburg; Rosenthal, Zeugnisse; RSM; Sachs und Meistersinger; Schanze, Liedkunst; Schanze, Meisterlhss.; Schmidt, Traditionen; Schnell, F., Geschichte; Schreiber, Urkunden; Schumann, Meistersingerhss.; Schumann, Stilwandel; Stackmann, Meisterliches Lied; Stackmann, Rezension; Stackmann, Vorstudien; Stahl, Meistersinger; Steer, Donaueschinger Lhs.; Streinz, Singschule; Taylor, A., Literary History; Taylor, A./Ellis, Bibliography; Taylor, B., Beitrag; Taylor, B., Meisterlied; Taylor, B., Meistersinger-Tabulatur; Taylor, B., Prolegomena; Uhland, Geschichte; Unold, Soziologie; Van Dixhoorn/Speakman sutch (Hg.), Reach; Wachinger, Sängerkrieg; Wachinger, Sangspruchdichtung.

Verzeichnis der Abkürzungen AfdA Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 1876–1989 alem. alemannisch Alx. Alex, Heidrun: Der Spruchdichter Boppe. Edition – Übersetzung – Kommentar. Tübingen 1998 (Hermaea N. F. 82). Anf. Anfang ATB Altdeutsche Textbibliothek, 1882  ff., 1959  ff. Aufl. Auflage Ausg. Ausgabe(n) bad. badisch bair. bairisch Bd., Bde. Band, Bände Bl., Bll. Blatt, Blätter BLV Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, 1842  ff. BMZ I–III Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854–1866, ND mit einem Vorwort und einem zusammengefaßten Quellen­ verzeichnis von Eberhard Nellmann. Stuttgart 1990. Brt. Brodt, Heinrich Peter: Meister Sigeher. Breslau 1913 (Germanistische Abhandlungen 42), ND Hildesheim 1977. BSB Bayerische Staatsbibliothek Cgm Codex germanicus monacensis [BSB] Clm Codex latinus monacensis [BSB] Cod., Codd. Codex, Codices Cpg Codex palatinus germanicus [UB Heidelberg] Cpl Codex palatinus latinus [UB Heidelberg] Cramer I–IV Cramer, Thomas: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts. 4 Bde. München 1977–1985. C.-W. Kleinere Spruchdichter des dreizehnten Jahrhunderts. Der Hardegger – Höllefeuer – Der Litschauer – Singauf – Der Unverzagte. Hg., übers. und komm. von Esther Collmann-Weiss. Stuttgart 2005 (ZfdA, Beihefte 5). DG Dicke, Gerd/Grubmüller, Klaus: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987 (Münstersche Mittelalter-Studien 60). DTM Deutsche Texte des Mittelalters, 1904  ff. DVjs Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1923  ff. DWB Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 33 Bde. Leipzig 1854–1960. Ettm. Heinrichs von Meissen des Frauenlobs Leiche, Sprüche und Streitlieder. Erläutert und hg. von Ludwig Ettmüller. Quedlinburg, Leipzig 1843 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 1/16). fol. folium, folio Frgm. Fragment frk. fränkisch Fs. Festschrift GA Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. Bd. 1: Einhttps://doi.org/10.1515/9783110351897-009

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 Verzeichnis der Abkürzungen

leitungen, Texte; Bd. 2: Apparate, Erläuterungen. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse. 3. Folge. Nr. 119–120). GAG Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 1968  ff. GA-S Sangsprüche in Tönen Frauenlobs. Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe. 2 Teile. Unter Mitarbeit von Thomas Riebe und Christoph Fasbender hg. von Jens Haustein und Karl Stackmann. Göttingen 2000 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse. 3. Folge. Nr. 232). Gille/Spr. Die Gedichte des Michel Beheim. Hg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald. 3 Bde. Berlin 1968–1972 (DTM 60, 64, 65). GRM Germanisch-Romanische Monatsschrift, 1909  ff. Grte. Lieder Muskatblut’s hg. von Eberhard von Groote. Köln 1852. H. Hälfte Hal. Jan Hallmann: Studien zum mittelhochdeutschen ‚Wartburgkrieg‘. Literaturgeschichtliche Stellung – Überlieferung – Rezeptionsgeschichte. Mit einer Edition der ‚Wartburgkrieg‘-Texte. Berlin, Boston 2015. hess. hessisch HMS I–IV Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt und berichtigt, mit den Lesarten derselben, Geschichten des Lebens der Dichter und ihrer Werke, Sangweisen der Lieder, Reimverzeichnis der Anfänge, und Abbildungen sämtlicher Handschriften. Hg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. 4 Bde. in 3. Leipzig 1838 [recte: 1839], ND Aalen 1962/63. Hs., Hss. Handschrift(en) IASL Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1976  ff. Jh. Jahrhundert JOWG Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, 1980/81  ff. KG Hans Sachs: Werke. Hg. von Adelbert von Keller und Edmund Goetze. 26 Bde. Stuttgart 1870–1908 (BLV 102–106, 110, 115, 121, 125, 131, 136, 140, 149, 159, 173, 179, 181, 191, 193, 195, 201, 207, 220, 225, 250), ND Hildesheim 1964. KLD I, II Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hg. von Carl von Kraus. Bd. I: Text. 2. Aufl. durchges. von Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978; Bd. II: Kommentar. Bes. von Hugo Kuhn. 2. Aufl. durchges. von Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978. Krn. Die Sangspruchdichtung Rumelants von Sachsen: Edition – Übersetzung – Kommentar von Peter Kern. Berlin, Boston 2014. L. Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. Berlin 1827. LB Landesbibliothek L./Bein Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränd. und um Fassungseditionen erw. Aufl. der Ausg. von Karl Lachmann. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearb. Ausg. neu hg. von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin, Boston 2013. L./Cor. Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. von Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996. Lexer I–III Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1872–1878. ND mit einer Einleitung von Kurt Gärtner. Stuttgart 1992. Lit. Literatur



Verzeichnis der Abkürzungen 

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Literaturlex. Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. überarb. Aufl. Hg. von Wilhelm Kühlmann [u.  a.]. 13 Bde. Berlin, New York 2008–2012. LMA Lexikon des Mittelalters. Hg. von Robert-Henri Bauthier [u.  a.]. 10 Bde. München, Zürich (Bd. 10: Stuttgart, Weimar) 1980–1999. Mas. Die Sprüche Friedrichs von Sonnenburg. Hg. von Achim Masser. Tübingen 1979 (ATB 86). Mayer Die Meisterlieder des Hans Folz. Aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q. 566 mit Ergänzungen aus anderen Quellen. Hg. von August L. Mayer. Berlin 1908 (DTM 12). md. mitteldeutsch Des Minnesangs Frühling. Hg. von Karl Lachmann und Moriz Haupt. Leipzig MF 1857. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und MF II Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. II. Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen. 36., neugest. und erw. Aufl. Stuttgart 1977. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und MF III.2 Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. III.2. Des Minnesangs Frühling. Anmerkungen. Nach Karl Lachmann, Moriz Haupt und Friedrich Vogt. Neu bearb. von Carl von Kraus. 30. Aufl., Zürich 1950. Durch Register erschlossen und um einen Literaturschlüssel ergänzt hg. von Helmut Tervooren und Hugo Moser. Stuttgart 1981. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und MFMT Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. 1: Texte. 38., erneut rev. Aufl. Stuttgart 1988. mfrk. mittelfränkisch Manuscriptum germanicum folio [SBB-PK] Mgf Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Hg. von MGG Friedrich Blume. 17 Bde. Kassel [u.  a.] 1949–1986. 2 MGG Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2., neubearb. Ausg. hg. von Ludwig Finscher. 29 Bde. Kassel [u.  a.] 1994–2008. MGH Monumenta Germaniae Historica. Hannover, Leipzig 1826  ff.   [dazu:] SS Scriptores rerum Germanicarum, Nova series Mgo Manuscriptum germanicum octavo [SBB-PK] Mgq Manuscriptum germanicum quarto [SBB-PK] Ms(s). Manuscript(e), manuscriptus, manuscrit, manuscript MTU Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1960  ff. MWB Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 1. Hg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann. Bd. 2. Hg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Jens Haustein. Stuttgart 2006  ff. ND Nachdruck, Neudruck nd. niederdeutsch N. F. Neue Folge Obj. Objartel, Georg: Der Meißner der Jenaer Liederhandschrift. Berlin 1977 (PhStQ 85). ÖNB Österreichische Nationalbibliothek österr. österreichisch

540 

 Verzeichnis der Abkürzungen

omd. ostmitteldeutsch o. Sign. ohne Signatur Pap. Papier PBB Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 1874  ff. bzw. 1955  ff. Pep. Der Junge Meißner: Sangsprüche, Minnelieder, Meisterlieder. Hg. von Günter Peperkorn. München 1982 (MTU 79). Perg. Pergament PhStQ Philologische Studien und Quellen, 1950  ff. QF Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, 1874–1918, N. F. 1958  ff. RLG Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 4 Bde. Berlin 1926–1931. RLW Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1 gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hg. von Klaus Weimar, Bd. 2 gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hg. von Harald Fricke, Bd. 3 gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 1997–2003. Roe. Die Gedichte Reinmars von Zweter. Hg. von Gustav Roethe. Leipzig 1887. RSM Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger unter Mitarbeit von Eva Klesatschke, Dieter Merzbacher, Johannes Rettelbach und Frieder Schanze. 16 Bde. Tübingen 1986–2009. RUB Reclams Universal-Bibliothek Ruw. Runow, Holger: Rumelant von Sachsen. Edition – Übersetzung – Kommentar. Berlin, New York 2011 (Hermaea N. F. 121). s. siehe SB, SBB Sitzungsbericht(e) SBB-PK Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Schl. Schlupkoten, Paul: Herman Dâmen. Untersuchung und Neuausgabe seiner Gedichte (Teildruck). Diss. Marburg. Breslau 1913. Schr. Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Bd. III: Die Klage der Kunst. Leiche, Lieder und Sprüche. Hg. von Edward Schröder. 4. Aufl. Dublin, Zürich 1970. Schw. Walther von der Vogelweide: Werke. Bd. 1: Spruchlyrik. Hg. von Günther Schweikle, 3. Aufl. bearb. von Ricarda Bauschke-Hartung. Stuttgart 2009 (RUB 819). schwäb. schwäbisch Sh. Sonderheft Sieb. Siebert, Johannes: Der Dichter Tannhäuser. Leben – Gedichte – Sage. Halle 1934. SLUB Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek SM Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearb. und hg. von Max Schiendorfer. Bd. I: Texte. Tübingen 1990. sog. sogenannt Sps. Spruchsang. Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jahrhunderts. Hg. von Horst Brunner und Karl-Günther Hartmann. Kassel [u.  a.] 2010 [recte 2011] (Monumenta monodica medii aevi 6). StB Stadtbibliothek Stmn. Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Hg. von Karl Stackmann. 2 Bde. (in 4 Teilbdn.). Berlin 1959–2003 (DTM 51–53, 84).



Verzeichnis der Abkürzungen 

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Str.

Der Marner. Hg. von Philipp Strauch. Straßburg 1876 (QF 14). Mit Nachwort, Register und Literaturverzeichnis von Helmut Brackert. Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters). Str. Strophe SUB Staats- und Universitätsbibliothek thür. thüringisch ThULb Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek UB Universitätsbibliothek V. Viertel v. Vers vgl. vergleiche 2 VL Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begr. von Wolfgang Stammler, fortgef. von Karl Langosch. 2., völlig neu bearb. Aufl. hg. von Kurt Ruh (federführend ab Bd. 9: Burghart Wachinger) [u.  a.]. 14 Bde. Berlin, New York 1978– 2008. WdF Wege der Forschung, 1956  ff. WFS Die Lieder Neidharts. Hg. von Edmund Wiessner. Fortgef. von Hanns Fischer. 5., verb. Aufl. hg. von Paul Sappler. Mit einem Melodieanhang von Helmut Lomnitzer. Tübingen 1999 (ATB 44). Whm. Wangenheim, Wolfgang von: Das Basler Fragment einer mitteldeutsch-niederdeutschen Liederhandschrift und sein Spruchdichter-Repertoire (Kelin, Fegfeuer). Bern, Frankfurt a. M. 1972 (Europäische Hochschulschriften I,55). WKL Wackernagel, Philipp: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius. 5 Bde. Leipzig 1864–1877. Wms. Der Marner. Lieder und Sangsprüche aus dem 13. Jahrhundert und ihr Weiterleben im Meistersang. Hg., eingel., erläutert und übers. von Eva Willms. Berlin, New York 2008. WSB Wiener Sitzungsberichte württ. württembergisch Zapf Zapf, Volker: Stolle und die Alment. Einführung – Edition – Kommentar. Göttingen 2010 (Nova Mediaevalia 7). Zck. Zuckschwerdt, Ulrike: Bruder Wernher: Sangsprüche. Transliteriert, normalisiert, übers. und komm. Berlin, Boston 2014 (Hermaea N. F. 134). ZfdA Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 1841  ff. ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie, 1869  ff. Die Siglen für Bücher des Alten und Neuen Testaments folgen dem ‚Index Siglorum‘ der Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, 3. Aufl. Stuttgart 1983: Gn Genesis Ex Exodus Nm Numeri Idc Richter Iob Job Ps Psalm(en) Prv Sprüche Ecl Prediger (Ecclesiastes) Sir Sirach (Ecclesiasticus)

542 

 Verzeichnis der Abkürzungen

Is Isaias Dn Daniel Mt Matthäus-Evangelium Mc Markus-Evangelium Lc Lukas-Evangelium Io Johannes-Evangelium Apc Geheime Offenbarung (Apokalypse)

Literaturverzeichnisse 1 Textausgaben und Faksimilia Augsburger Cantiones-Sammlung → Callsen (Hg.), Augsburger Cantiones-Sammlung Augustinus, Doctrina christiana = Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Übers., Anmerkungen und Nachwort von Karla Pollmann. Stuttgart 2002 (RUB 18165). Bartsch (Hg.), Liederdichter 12.–14. Jh. = Deutsche Liederdichter des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts. Eine Auswahl. Hg. von Karl Bartsch. Leipzig 1864, ND Berlin 1966. Bartsch (Hg.), Meisterlieder = Meisterlieder der Kolmarer Handschrift. Hg. von Karl Bartsch. Stuttgart 1862 (BLV 68), ND Hildesheim [u.  a.] 1998. Beheim, Buch von den Wienern (a) = Michel Beheim’s Buch von den Wienern 1462–1465. Zum ersten Mahle nach der Heidelberger und Wiener Handschrift hg. von Th[eodor] G[eorg] von Karajan. Wien 1843. Beheim, Buch von den Wienern (b) = Buch von den Wienern (Teilabdruck). In: Erzählende Dichtungen des späteren Mittelalters. Hg. von Felix Bobertag. Berlin, Stuttgart 1886, S. 277–368. Beheim, Buch von den Wienern (c) = Die Gedichte des Michel Beheim. Hg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald. 3 Bde. Berlin 1968–1972 (DTM 60, 64, 65). Beheim, Buch von der Stadt Triest = Michel Beham, von der Stadt Triest. Tl 1. Programm des K. humanistischen Gymnasiums für das Schuljahr 1915/16. Hg. von Heinrich Oertel. Schweinfurt 1916. Beheim, Pfälzische Reimchronik = Pfälzische Reimchronik (Buch II und III). In: Quellen zur Geschichte Friedrich’s des Siegreichen, Kurfürsten von der Pfalz. Hg. von Conrad Hofmann. Bd. 2. Michel Beheim und Eichart Artzt. München 1863, ND Aalen 1969 (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen und deutschen Geschichte A. F. III.1), S. 1–258. Beheim, Spruchdichtung → Abkürzungsverzeichnis: Gille/Spr. Bell, Georg Hager = Bell, Clair Hayden: Georg Hager. A Meistersinger of Nürnberg 1552–1634. 4 Bde. Berkeley, Los Angeles 1947 (University of California publications in modern philology 29–32). Bernhard von Clairvaux, Apologia = Bernhard von Clairvaux: Apologia ad Guillelmum abbatem. In: S. Bernardi Opera. Bd. 3. Tractatus et opuscula. Hg. von J[ean] Leclercq und H[enri] M[arie] Rochais. Rom 1963, S. 61–108. Berthold von Regensburg, Predigten = Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen von Franz Pfeiffer und Joseph Strobl. Mit einem Vorwort von Kurt Ruh. 2 Bde. Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters). Bisschop/Verwijs (Hg.), Willem van Hildegaerchsberch = Gedichten van Willem van Hildegaerchsberch. Hg. von W[illem] Bisschop und E[elco] Verwijs. ’s-Gravenhage 1870. Blank [u.  a.] (Hg.), Heidelberger Lhs. Cpg 350 = Mittelhochdeutsche Spruchdichtung, früher Meistersang. Der Codex Palatinus Germanicus 350 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Tl. 1: Faksimile; Tl. 2: Einführung und Kommentar von Walter Blank; Tl. 3: Beschreibung der Handschrift und Transkription von Günter und Gisela Kochendörfer. Wiesbaden 1974 (Facsimilia Heidelbergensia 3). Bodmer (Hg.), Proben = [Bodmer, Johann Jacob (Hg.)]: Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Maneßischen Sammlung. Zürich 1748. Bodmer (Hg.), Sammlung = [Bodmer, Johann Jacob (Hg.)]: Sammlung von Minnesingern aus dem schwæbischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend; durch Ruediger Manessen, weiland des Rathes der uralten Zyrich. Aus der Handschrift der koeniglichen-franzoesischen Bibliotheck herausgegeben. 2 Teile. Zürich 1758 u. 1759 [recte wohl: 1759]. https://doi.org/10.1515/9783110351897-010

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 Literaturverzeichnisse

Boppe → Abkürzungsverzeichnis: Alx. Brandis, Harder = Brandis, Tilo: Der Harder. Texte und Studien I. Berlin 1964 (QF N. F. 37 [137]). Brinkman/De Loos (Hg.), Gruuthuse-handschrift = Het Gruuthuse-handschrift. Hs. Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, 79 K 10. Ingeleid en kritisch uitgegeven door Herman Brinkman. Met een uitgave van de melodieën door Ike de Loos. 2 Bde. Hilversum 2013/2015. Brunner (Hg.), Früheste deutsche Lieddichtung = Früheste deutsche Lieddichtung. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übers. und komm. von Horst Brunner. Stuttgart 2005 (RUB 18399). Brunner [u.  a.] (Hg.), Augsburger Schulordnung = Die Schulordnung und das Gemerkbuch der Augsburger Meistersinger. Hg. von Horst Brunner [u.  a.]. Tübingen 1991 (Studia Augustana 1). Brunner [u.  a.] (Hg.), Überlieferung Walthers = Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Hg. von Horst Brunner, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler. Mit Beiträgen von Helmut Lomnitzer und Hans-Dieter Mück. Göppingen 1977 (Litterae 7). Brunner/Rettelbach (Hg.), Töne = Die Töne der Meistersinger. Die Handschriften der Stadt­ bibliothek Nürnberg Will III. 792, 793, 794, 795, 796. In Abbildungen und mit Materialien hg. von Horst Brunner und Johannes Rettelbach. Mit einem Anhang von Klaus Kramer. Göppingen 1980 (Litterae 47). Callsen (Hg.), Augsburger Cantiones-Sammlung = Die Augsburger Cantiones-Sammlung. Hg., übers. und komm. von Michael Callsen. Hildesheim 2015 (Spolia Berolinensia 34). Damen, Hermann → Abkürzungsverzeichnis: Schl.; → Onnes, Herman der Damen Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts → Abkürzungsverzeichnis: KLD I, II Deutsche Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts → Abkürzungsverzeichnis: Cramer I–IV Drescher (Hg.), Meistersinger-Protokolle = Nürnberger Meistersinger-Protokolle von 1575–1689. Hg. von Karl Drescher. 2 Bde. in einem Bd. Stuttgart 1897 (BLV 213), ND Hildesheim 1963. Ellis, Early Meisterlieder = Ellis, Frances H.: The early Meisterlieder of Hans Sachs. Bloomington 1974. Fegfeuer → Abkürzungsverzeichnis: Whm. Folz, Hans → Abkürzungsverzeichnis: Mayer Frauchiger, Dresden M 13 = Frauchiger, Fritz: Dresden M 13: A Fifteenth-century Collection of Religious Meisterlieder. Diss. Univ. of Chicago. Chicago 1938. Frauenlob (Heinrich von Meißen) → Abkürzungsverzeichnis: Ettm., GA, GA-S Freidank = Frîdankes Bescheidenheit. Hg. von Heinrich Ernst Bezzenberger. Halle/S. 1872, ND Aalen 1962. Friedrich von Sonnenburg → Abkürzungsverzeichnis: Mas. Geiler, Johannes, von Kaysersberg, Predigten = Johannes Geiler von Kaysersberg: Die Augsburger Predigten. Hg. von Kristina Freienhagen-Baumgardt und Werner Williams-Krapp unter Mitarbeit von Katrin Stegherr. Berlin [u.  a.] 2015 (DTM 92). Gervelin → Yao (Hg.), Gervelin, Guter und Reinolt von der Lippe Goethe, West-oestlicher Divan = Goethe, Johann Wolfgang von: West-oestlicher Divan. Stuttgart 1819. Goldast, Paraeneticorum veterum pars I = Goldast, Melchior: Paraeneticorum veterum pars I. Lindau 1604. Gottsched, Nöthiger Vorrath = Gottsched, Johann Christoph: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, oder Verzeichniß aller Deutschen Trauer- Lust und Sing-Spiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts, gesammlet und ans Licht gestellet, von J. Chr. G. Leipzig 1757.



Textausgaben und Faksimilia 

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Der Guter → Yao (Hg.), Gervelin, Guter und Reinolt von der Lippe Haager Liederhandschrift → Kossmann (Hg.), Haager Lhs. Bruder Hans, Marienlieder = Bruder Hansens Marienlieder. Hg. von Michael S. Batts. Tübingen 1963 (ATB 58). Hardegger → Abkürzungsverzeichnis: C.-W. Harder → Brandis, Harder Heidelberger Liederhandschrift Cpg 350 → Blank [u.  a.] (Hg.), Heidelberger Lhs. Cpg 350 Hegman (Hg.), Hein van Aken = Hein van Aken: Vierde Martijn. Hg., eingeleitet und erläutert von W. E. Hegman. Zwolle 1958 (Zwolse drukken en herdrukken voor de Maatschappij der Nederlandse Letterkunde te Leiden 31). Heinrich der Teichner, Gedichte = Heinrich der Teichner: Gedichte. Hg. von Heinrich Niewöhner. 3 Bde. Berlin 1953–1956 (DTM 44, 46, 48). Heinrich von Mügeln, Kleinere Dichtungen → Abkürzungsverzeichnis: Stmn. Höllefeuer → Abkürzungsverzeichnis: C.-W. Holz [u.  a.], Jenaer Lhs. = Die Jenaer Liederhandschrift. I. Bd.: Getreuer Abdruck des Textes bes. von Georg Holz, II. Bd.: Übertragung, Rhythmik und Melodik, von Eduard Bernoulli und Franz Saran. Leipzig 1901, ND Hildesheim 1966. Hugo von Trimberg, Renner = Hugo von Trimberg: Der Renner. Hg. von Gustav Ehrismann. 4 Bde. Tübingen 1908–1911 (BLV 247, 248, 252, 256). Mit Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle. Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters). Jacob van Maerlant → Verdam/Leendertz [Hg.], Jacob van Maerlant Jaffé (Hg.), Annales Basileenses = Annales Basileenses. Hg. von Philipp Jaffé. In: MGH SS 17, S. 193–202. Jan van Boendale, Leken spieghel = Der leken spieghel. Leerdicht van den jare 1330 door J. B., gezegd Jan de Clerc, schepenklerk te Antwerpen. Hg. von M[atthias] de Vries. Leiden 1844–1848. Johannes von Tepl, Ackermann = Johannes de Tepla, Civis Zacensis: Epistola cum Libello ackerman und Das büchlein ackerman. Nach der Freiburger Hs. 163 und nach der Stuttgarter Hs. HB X 23. Erster Band hg. und übers. von Karl Bertau. Berlin, New York 1994. Der Junge Meißner → Abkürzungsverzeichnis: Pep. Kaiserchronik = Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hg. von Edward Schröder. Hannover 1895 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters I/1), ND Dublin, Zürich 1972. Kelin → Abkürzungsverzeichnis: Whm. Kiepe-Willms (Hg.), Muskatblut = Muskatblut. Abbildungen zur Überlieferung: Die Kölner Handschrift und die Melodie-Überlieferung. Hg. von Eva Kiepe-Willms. Melodie-Teil bearb. von Horst Brunner. Göppingen 1987 (Litterae 98). Kleine Heidelberger Lhs. A = Die Kleine Heidelberger Liederhandschrift (A). Vollfaksimile des Cod. Pal. Germ. 357 der Universitätsbibl. Heidelberg. Einführung von Walter Blank. 2 Bde. Wiesbaden 1972 (Facsimilia Heidelbergensia 2). Klesatschke, Nunnenbeck = Klesatschke, Eva: Lienhard Nunnenbeck: Die Meisterlieder und der Spruch. Edition und Untersuchungen. Göppingen 1984 (GAG 363). Klesatschke/Brunner (Hg.), Meisterlieder 16.–18. Jh. = Meisterlieder des 16. bis 18. Jahrhunderts. Hg. von Eva Klesatschke und Horst Brunner. Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit 17). Koester, Lesch = Koester, Leonard: Albrecht Lesch. Ein Münchner Meistersinger des 15. Jahrhunderts. Diss. München 1933 [gedr.] Schloß Birkeneck o.  J. [1939]. Konrad von Haslau, Jüngling = Konrad von Haslau: Der Jüngling. Nach der Heidelberger Hs. Cpg. 341 mit den Lesarten der Leipziger Hs. 946 und der Kalocsaer Hs. (Cod. Bodmer 72). Hg. von Walter Tauber. Tübingen 1984 (ATB 97).

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 Literaturverzeichnisse

Konrad von Megenberg, Buch der Natur (a) = Konrad von Megenberg: Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861, ND Hildesheim 1994. Konrad von Megenberg, Buch der Natur (b) = Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Bd. 2: Kritischer Text nach den Handschriften. Hg. von Robert Luff und Georg Steer. Tübingen 2003 (Texte und Textgeschichte 53/54). Konrad von Megenberg, Sel = Konrad von Megenberg: Von der sel. Eine Übertragung aus dem Liber de proprietatibus rerum des Bartholomäus Anglicus. Hg. von Georg Steer. München 1966 ([Würzburger] Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 2). Konrad von Würzburg, Kleinere Dichtungen → Abkürzungsverzeichnis: Schr. Koschorrek/Werner (Hg.), Codex Manesse = Codex Manesse. Die Große Heidelberger Lieder­handschrift. Vollständiges Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Kassel 1974–1979, Kommentar zum Faksimile […] Hg. von Walter Koschorrek und Wilfried Werner. Kassel 1981. Kossmann (Hg.), Haager Lhs. = Die Haager Liederhandschrift. Faksimile des Originals mit Einleitung und Transskription. Hg. von E[rnst] F[erdinand] Kossmann. 2 Bde. Haag 1940. Lang/Müller-Blattau (Hg.), Lieder des Berliner Mgf 922 = Zwischen Minnesang und Volkslied. Die Lieder der Berliner Handschrift germ. fol. 922. Hg. von Margarete Lang. Die Weisen bearbeitet von [Joseph] Müller-Blattau. Berlin 1941 (Studien zur Volksliedforschung 1). LDM = Lyrik des deutschen Mittelalters. Hg. von Manuel Braun, Sonja Glauch und Florian Kragl. Unter: ldm-digital.de. Leendertz (Hg.), Rinclus = Het Middelnederlandsche leerdicht Rinclus. Hg. von P[ieter] Leendertz. Amsterdam 1893. Lieder des Berliner Mgf 922 → Lang/Müller-Blattau (Hg.), Lieder des Berliner Mgf 922 Der Litschauer → Abkürzungsverzeichnis: C.-W. Löffler (Hg.), Weingartner Lhs. = Die Weingartner Liederhandschrift in Nachbildung. Hg. von Karl Löffler. Stuttgart 1927. März (Hg.), Mönch = Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien. Hg. von Christoph März. München 1999 (MTU 114). Der Marner → Abkürzungsverzeichnis: Str., Wms. Maurer (Hg.), Lieder Walthers = Die Lieder Walthers von der Vogelweide. Bd. 1: Die religiösen und politischen Lieder. Hg. von Friedrich Maurer. 2. Aufl. Tübingen 1960 (ATB 43). Der Meißner → Abkürzungsverzeichnis: Obj. Meisterlieder der Kolmarer Handschrift → Bartsch (Hg.), Meisterlieder Minnesangs Frühling → Abkürzungsverzeichnis: MF, MFMT Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts → Abkürzungsverzeichnis: HMS I–IV Mondsee-Wiener Lhs. = Mondsee-Wiener Liederhandschrift aus Codex Vindobonensis 2856. Wissenschaftlicher Kommentar Hedwig Heger. Graz 1968 (Codices Selecti phototypice impressi 19). Mönch von Salzburg, Geistliche Lieder → Spechtler (Hg.), Mönch Mönch von Salzburg, Weltliche Lieder → März (Hg.), Mönch Morgenstern-Werner (Hg.), Weimarer Lhs. Q 564 = Die Weimarer Liederhandschrift Q 564 (LyrikHandschrift F). Hg. von Elisabeth Morgenstern-Werner. Göppingen 1990 (GAG 534). Müller, K. K. (Hg.), Jenaer Lhs. = Die Jenaer Liederhandschrift. Lichtdruck-Ausg. hg. von Karl Konrad Müller. Jena 1896. Müller, U. (Hg.), Große Heidelberger Lhs. = Die Große Heidelberger „Manessische“ Liederhandschrift. In Abbildung hg. von Ulrich Müller. Mit einem Geleitwort von Wilfried Werner. Göppingen 1971 (Litterae 1).



Textausgaben und Faksimilia 

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Müller, U. (Hg.), Politische Lyrik I, II = Politische Lyrik des deutschen Mittelalters. Texte I. Von Friedrich II. bis Ludwig dem Bayern. Texte II. Von Heinrich von Mügeln bis Michael Beheim. Von Karl IV. bis Friedrich III. Hg. von Ulrich Müller. Göppingen 1972/1974 (GAG 68/84). Münzer (Hg.), Singebuch = Das Singebuch des Adam Puschmann (!) nebst den Originalmelodien des M. Beheim und H. Sachs. Hg. von Georg Münzer. Leipzig 1906, ND Hildesheim [u.  a.] 1970. Muskatblut → Abkürzungsverzeichnis: Grte. Myller (Hg.), Gedichte 12.–14. Jh. = Samlung deutscher Gedichte aus dem XII. XIII. und XIV. Iahrhundert. Bd. 1–3 (von Bd. 3 nur 2 Lieferungen). Hg. von Christoph Heinrich Myller. Berlin 1784–1786 (oder 1787). Nagel, B. (Hg.), Meisterlieder = Meistersang. Meisterlieder und Singschulzeugnisse. Auswahl und Einführung von Bert Nagel. Stuttgart 1965 (RUB 8977/78). Nijland (Hg.), Gedichten = Nijland, Johanna Aleida: Gedichten uit het Haagsche liederhandschrift, uitgegeven en toegelicht uit de Middelhoogduitsche lyriek. Leiden 1896. Nolte/Schupp (Hg.), Sangspruchdichtung = Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übers. und komm. von Theodor Nolte und Volker Schupp. Stuttgart 2011 (RUB 18733). Onnes, Herman der Damen = Onnes, Helena: De Gedichten van Herman der Damen. Groningen 1913. Pfaff/Salowsky (Hg.), Große Heidelberger Lhs. = Die Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) in getreuem Textabdruck. Hg. von Fridrich Pfaff. 2., verb. und erg. Aufl. bearb. von Hellmut Salowsky. Heidelberg 1984. Pfeiffer (Hg.), Kleine Heidelberger Lhs. = Die alte Heidelberger Liederhandschrift. Hg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1844, ND Hildesheim 1962. Pfeiffer/Fellner (Hg.), Weingartner Lhs. = Die Weingartner Liederhandschrift. Hg. von Franz Pfeiffer und F[riedrich] Fellner. Stuttgart 1843, ND Hildesheim 1966; Textband zum Faksimile (s.  o.), S. >1–310