Sammeln - erschließen - vernetzen: Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv 9783737003407, 9783847103400, 9783847003403


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Sammeln - erschließen - vernetzen: Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv
 9783737003407, 9783847103400, 9783847003403

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Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch

herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Rolf Koerber, Dirk Schumann, Detlef Siegfried, Barbara Stambolis für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«

Jahrbuch 10 / 2014

»Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch« ist die Fortsetzung der Reihe »Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung«. Die Bandzählung wird fortgeführt.

Gudrun Fiedler / Susanne Rappe-Weber / Detlef Siegfried (Hg.)

Sammeln – erschließen – vernetzen Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv

Mit 30 Abbildungen

V& R unipress

Finanziert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0340-0 ISBN 978-3-8470-0340-3 (E-Book) Redaktion: Susanne Rappe-Weber Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Unter Verwendung einer Grafik von Andreas Bohn Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Gudrun Fiedler und Susanne Rappe-Weber Sammeln, erschließen, vernetzen: Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Detlef Siegfried Kulturgeschichte und soziale Bewegungen im Archiv. Bestandsaufnahme und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

David Templin Wie die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung erforschen? Quellenbestände, Überlieferungslage und Materialrecherche . . . . . . .

27

Alexander Simmeth »Krautrock« – Wie erforschen?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Michael Koltan Jugendkultur – Jugendbewegung – Soziale Bewegungen . . . . . . . . . .

59

Klaus Farin Dolmetscher zwischen den Szenen und der Mehrheitsgesellschaft. Das Archiv der Jugendkulturen in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Reinhart Schwarz Jenseits staatlicher Institutionen und universitärer Forschung, doch nicht im Abseits. Die Sondersammlung »Protest, Widerstand und Utopie in der Bundesrepublik Deutschland« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Rolf Kohlstedt Das Stadtarchiv Göttingen – Jugendkultur und Soziale Bewegungen im Archiv einer Universitätsstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

6

Inhalt

Christian Heppner und Cornelia Regin Grau und bunt. Jugendkultur und soziale Bewegungen in einem großstädtischen Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Jürgen Bacia und Cornelia Wenzel Bewegung bewahren in Freien Archiven – Chancen und Probleme der Überlieferungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Weitere Beiträge Claudia Wagner Die Diefenbach-Renaissance – Fall und Aufstieg eines Künstlers anlässlich einer Veranstaltung zu Diefenbachs 100. Todestag in seinem Heimatort Hadamar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Peter Dudek »Vorweggelebtes Leben«. Die Erinnerungen des kommunistischen Reichstagsabgeordneten Ernst Putz an seine Wickersdorfer Schulzeit Simon Leisterer Jugendalltag in Dauerausstellungen zur DDR-Geschichte

. . 161

. . . . . . . . .

183

Rezensionen Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013 (Gudrun Fiedler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013 (Arno Klönne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Jens Wietschorke: Arbeiterfreunde. Soziale Mission im dunklen Berlin (1911 – 1933), Frankfurt a. M. 2013 (Barbara Stambolis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Eva Kraus: Das Deutsche Jugendherbergswerk 1909 – 1933. Programm – Personen – Gleichschaltung, Berlin 2013 (Arno Klönne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Inhalt

7

Peter Dudek: »Vom Schulmeister zum Menschen«. Max Tepp – ein jugendbewegter Reformpädagoge, Schriftsteller und Verleger, Bad Heilbrunn 2014 (Hartmut Alphei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Ulrich Prehn: Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik, Göttingen 2013 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Markus Zöchmeister : Vom Leben danach. Eine transgenerationelle Studie über die Shoah, Gießen 2013 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Till Kössler, Alexander J. Schwitanski (Hg.): Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert, Essen 2014 (Paul Ciupke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Aus der Arbeit des Archivs Susanne Rappe-Weber Tätigkeitsbericht für das Jahr 2013

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2013 und Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Wissenschaftliche Archivnutzung 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Gudrun Fiedler und Susanne Rappe-Weber

Sammeln, erschließen, vernetzen: Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv

Die seit den 1960er-Jahren entstandenen neuen sozialen Bewegungen sind Ausdruck tief greifender gesellschaftlicher Veränderungen, nicht nur in Deutschland. Sie sind deshalb nicht nur Gegenstand anhaltenden Medieninteresses, sondern gelangen zunehmend in den Fokus der historischen Forschung, die den Wertewandel der bundesrepublikanischen Gesellschaft in den 1960er- und 1970er-Jahren nach dem Auslaufen der langen, noch von der Nachkriegszeit geprägten 1950er-Jahre untersucht. Neue Fragestellungen erfordern neue Quellen. Deshalb verstärkt sich die Nachfrage nach Unterlagen sozialer Bewegungen, die allerdings vielfach in diffusen und unübersichtlichen Zusammenhängen aufbewahrt werden und nicht zum Kern der Überlieferungsbildung ausgewiesener etablierter Archive gehören. Was es aber schon immer gab, waren einzelne Akteure innerhalb der Bewegungen, die mit großem Engagement freie Archive oder Archive sozialer Bewegungen gegründet haben, um zu verhindern, dass die Bewegungen in der Erinnerung nur als »Objekte der Verwaltung anderer« gelten würden. Sie wollen »aufheben, was nicht vergessen werden darf«, die eigenen Aktivitäten also dokumentieren und damit die traditionelle Überlieferungsbildung um ihre gesellschafts- oder staatskritische Sicht ergänzen.1 Selbst organisiert und nicht von Institutionen getragen, haben diese Initiativen »von unten« durch ihre Dynamik die vorherrschende Auffassung von »Archiv« erweitert.2 Sie verstehen sich auch als »Dolmetscher zwischen den Szenen und der Mehrheitsgesellschaft«, so Klaus

1 Dietmar Schenk: »Aufheben, was nicht vergessen werden darf«. Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt, Stuttgart 2013, S. 169 f., hier S. 169. Vgl. auch allgemein zur Funktion von Archiven Rainer Hering, Dietmar Schenk (Hg.): Wie mächtig sind Archive? Perspektiven der Archivwissenschaft, Hamburg 2013 sowie Dietmar Schenk: Kleine Theorie des Archivs, 2. Aufl. Stuttgart 2014. 2 Seit einigen Jahren sind sie als eigener Arbeitskreis im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare präsent; vgl. die Homepage des Verbandes unter URL: http://vda.archiv.net./ar beitskreise [26. 06. 2014].

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Gudrun Fiedler und Susanne Rappe-Weber

Farin in seinem Beitrag, und verhalten sich dabei nicht immer wie die der Neutralität verpflichteten »klassischen« Archive. Heute nur noch wenig bekannt ist die Tatsache, dass die um 1900 in Deutschland entstandene bürgerliche Jugendbewegung aus ähnlichen Konstellationen hervorgegangen ist, nämlich als jugendlicher Impuls der (bildungs-) bürgerlichen Lebensreformbewegung. Entsprechend wurde das heutige Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) auf Burg Ludwigstein (Witzenhausen/ Werra) 1922 als Bewegungsarchiv gegründet.3 Heute ist das AdJb eine Außenstelle des hessischen Staatsarchivs Marburg. In einem 2003 geschlossenen »Depositalvertrag« haben die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung« und das Land Hessen vereinbart, das gesamte Archivgut, das der Stiftung weiterhin gehört, dem Staatsarchiv zur Verwahrung in einer dafür einzurichtenden Außenstelle zu überlassen. So abgesichert hat das AdJb gute Aussichten, 2022 sein 100-jähriges Jubiläum begehen zu können. Gravierender als die Änderung der institutionellen Anbindung sind die Veränderungen im Bereich der Jugendkulturen und -bewegungen selbst (vgl. dazu den Beitrag von D. Siegfried). Längst kann die klassische bürgerliche Jugendbewegung nicht mehr als Vorreiter auf diesem Gebiet angesehen werden. Entsprechend wurde zunächst die Bibliothek des AdJb um Sachgruppen u. a. zu Jugendpolitik und Jugendprotest erweitert; dann kamen Materialsammlungen hinzu. Seit den 1980er-Jahren bestehen Kontakte zu den neuen Archiven sozialer Bewegungen. Im jugendbündischen Umfeld des AdJb entstanden Sammlungen und professionelle Archive oder entwickelten sich weiter, wie das Archiv der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick, die Dokumentationsstelle des Bundes der deutschen katholischen Jugend (BDKJ) in Hardehausen, das Archiv des Verbandes der Christlichen Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) in Kassel, das Archiv der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW) auf Burg Waldeck oder das Bundesarchiv der Deutschen Freischar - Bund der Wandervögel und Pfadfinder (DF) auf dem Wandervogel-Hof Reinstorf bei Bodenteich in Niedersachsen. Andere Einrichtungen gaben ihre Registraturen bzw. eigenständigen Sammlungen an das AdJb ab, manche weil sie sich in ihrer Ausrichtung von den historischen Anfängen gelöst hatten. Das AdJb verwahrt inzwischen u. a. die Archive des Bundes Deutscher PfadfinderInnen (BDP) und des Bundes der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP), das Zentralarchiv der Pfadfinder (ZAP), das Archiv des Deutschen Jugendherbergswerkes (DJHW),

3 Vgl. dazu den Bericht: 90 Jahre Archiv der deutschen Jugendbewegung. Dokumentation der Festveranstaltung mit Beiträgen von Andreas Hedwig, Barbara Stambolis und Susanne Rappe-Weber, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2011, NF 8, S. 383-414.

Sammeln, erschließen und vernetzen

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das Archiv der djo-Deutsche Jugend des Ostens und nicht zuletzt das umfangreiche Archiv der Jugendmusikbewegung. Insbesondere die Entwicklungen in der historischen Forschung machen es erforderlich, die Koordinaten für die künftige Sammlungstätigkeit neu zu bestimmen. Der wissenschaftliche Beirat und die Leitung des AdJb haben deshalb zur Jahrestagung 2013 »historisch Interessierte aller Bünde, Verbünde und Freundeskreise im Umfeld der Jugendbewegung« sowie Kolleginnen und Kollegen aus Bewegungsarchiven eingeladen, um mit ihnen zusammen Rahmenbedingungen für die weitere Zusammenarbeit und Ausrichtung des Archivs der Jugendbewegung als Teil dieser in Veränderung begriffenen Archivszene zu diskutieren. Die Diskussionsbeiträge liegen mit diesem Jahrbuch in schriftlicher Form vor. Deutlich wurde im Verlauf der Tagung, dass die neuen sozialen Bewegungen vielfach aus Jugendinitiativen heraus gewachsen sind. Hier findet die traditionelle Jugendbewegung z. T. Anschluss, allerdings als Minderheit. Trotz einer völlig veränderten Gegenwart haben alte und neue Jugendbewegung manches gemeinsam, vor allem das Streben nach jugendlicher Selbstbestimmung. Die Geschichtswissenschaft hat seit dem Cultural Turn in den 1980er-Jahren die sozialen bzw. Jugend-Bewegungen als »Kulturerscheinungen« entdeckt und interpretiert: Soziale Bewegungen und Jugendkulturen sind keine Oberflächenerscheinungen sondern Phänomene, in denen sich gesellschaftlicher Wandel spiegelt und somit für historische Forschungen interessant (D. Siegfried, M. Koltan). Sie verfolgen nicht im eigentlichen Sinne soziale oder politische Ziele, die sie als Gruppe innerhalb der Gesellschaft erreichen wollen. Ihnen geht es auch und nicht zuletzt um die Veränderung der Werteordnung, um die Legitimität alternativer Lebensstile. Die Bewegungsarchive sehen sich den Wünschen der Forschung ausgesetzt, ein den Fragestellungen gemäßes, breites Spektrum an Quellen vorzuhalten. Im Kontext des »cultural turn« nachgefragte, aber kaum systematisch gesammelte Themenfelder sind u. a. der Jugendtourismus als Alternativtourismus (»die große Fahrt«, das Trampen etc.), die Jugendzentrumsbewegung als neuartige jugendliche Gesellungsform oder die Analyse von Musikstilen, wie Rock’n Roll, Pop oder Krautrock (M. Koltan, D. Siegfried). Wie aber sollen die Bewegungsarchive sammeln, um aus ihrer Binnensicht die Bewegung zu bewahren (J. Bacia/ C. Wenzel), und dabei wissen, »was künftig einmal unter den […] zahlreichen und vielfältigen Unterlagen, die sie übernehmen und sammeln können, [Außenstehenden – d. Verf.] interessant erscheint?«.4 Denn nur, was in der Zukunft nachgefragt wird, kann dann als aktives Wissen integriert werden. Zwar aufbewahrt, aber dennoch vergessen werden leicht Bewegungen mit zahlreicher, 4 Schenk: Theorie (Anm. 1), S. 83.

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Gudrun Fiedler und Susanne Rappe-Weber

aber stark zersplitterter Überlieferung. Alexander Simmeth schildert dies am Beispiel der mühsamen Quellensuche zum Thema »Krautrock«, David Templin für die Jugendzentrumsbewegung. Dass Sammeln und Erschließen wichtig und grundlegend ist für die Sicherung einer authentischen Überlieferung, bildete den selbstverständlichen Grundkonsens der Tagung. Doch auf welche Art und was? M. Koltan schlägt vor, die Unterlagen derjenigen sozialen Bewegungen aufzuheben, die als Seismographen des kulturellen Wertewandels gesellschaftliche Bedeutung haben. Allerdings: Nicht nur die örtliche bzw. organisatorische Zersplitterung der vorhandenen Quellen bereitet Probleme, sondern auch das breite Spektrum von Informationsträgern, auf denen die Überreste der ehemaligen Dynamik festgehalten sind. Wie im Archiv der Jugendkulturen handelt es sich hierbei zwar häufig um gedrucktes Material oder Zeitungsausschnitte. Allerdings waren die offen und informell organisierten sozialen Bewegungen auch hier kreativ und bedienten sich aller in ihrer Zeit modernen Wege der Informationsvermittlung: Neben Flugblättern, Plakaten und Broschüren auf Papier zählen dazu u. a. auch Tonbänder, Fotos, Filme, Videos oder Kleidungsstile. Für die Einordnung der entsprechenden Überlieferung sind Zeitzeugen sehr wichtig, um auch die über die Quellen kaum vermittelten »Gefühle, Hoffnungen und Ängste« zu dokumentieren, so M. Koltan. Reinhart Schwarz stellt in diesem Zusammenhang die Arbeitsweise des finanziell gut abgesicherten Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) vor, das mit seiner von Wolfgang Kraushaar initiierten Sondersammlung »Protest, Widerstand und Utopie in der Bundesrepublik Deutschland« einen Kristallisationspunkt für Unterlagen von politischen Gruppen und einzelnen Akteurinnen / Akteuren bildet. Trotz der soliden finanziellen Grundlage wird auch hier gezielt und keineswegs vollständig aufgehoben. Sammeln und Aufheben kommen in der Regel durch Impulse aus den Bewegungen selbst zustande. Doch das reicht nicht aus. Zur dauerhaften Sicherung gehört die Erhaltung und Erschließung von Nachlässen, Aktenbeständen, Zeitungen etc. Dies erfordert materielle und personelle Ressourcen, die jedes einzelne Freie Archiv auf Dauer überfordern können (J. Bacia/ C. Wenzel, R. Schwarz). Auch aus diesem Grund vernetzen sich die Freien Archive und tauschen sich fachlich untereinander aus.5 Ein besonderer Akzent der Tagung lag in der Perspektive der Stadtarchive Göttingen und Hannover (C. Regin und C. Heppner, Hannover; R. Kohlstedt, Göttingen). Herausgestellt wurde die Bedeutung von jugendkulturellen Szenen und sozialen Bewegungen in diesen Universitätsstädten und das Interesse an 5 Vgl. dazu die gemeinsame Homepage unter URL: http://www.bewegungsarchive.de [20. 06. 2014].

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deren Dokumentation seitens der Archive. Dazu gibt es eine Reihe von Sammlungsansätzen, denen allerdings in Zeiten knapper Ressourcen enge Grenzen gesetzt sind.6 Für die Forschung kann die Wahrnehmung dieser lokalen Quellenbestände aber sehr wohl lohnend sein. Während Fragen der Bestandserhaltung weniger diskutiert wurden, nahm das Thema der Bereitstellung von Zugangsinformationen breiten Raum ein. Für alle Archive ist es wichtig, in Datenbanken und Portalen Informationen über die eigenen Bestände bereit zu stellen und so mit der Öffentlichkeit vernetzt zu sein. Über das hierfür notwendige archivarische Know-How verfügen längst nicht alle Bewegungsarchive. Auf mittlere Sicht werden es offene Archivportale wie die Deutsche Digitale Bibliothek oder das Archivportal Deutschland auch kleineren Einrichtungen erleichtern, ihre Bestände im Netz zu präsentieren, auch wenn das immer noch eine grundsätzlich fachlich, technisch und finanziell anspruchsvolle Grundausstattung erfordert. Mehr denn je wird es also auf den Verbund verschiedener Archive untereinander ankommen, nicht nur bei der Präsentation der Erschließungsinformationen, sondern schon im Hinblick auf das Sammlungsprofil.7. Hier fügt sich auch das von D. Siegfried vorgeschlagene Konzept für künftige Sammelgebiete des Archivs der deutschen Jugendbewegung ein. Wohin die Öffnung für neueres Archivgut letztlich führt, hängt u. a. von künftigen Hinweisen auf wertvolle Unterlagen, die der Sicherung bedürfen, ab. In systematischer Hinsicht wird dem Archiv sowohl die Verankerung in der Forschung über den Wissenschaftlichen Beirat wie auch die Vernetzung mit jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Jugendbewegungsforschung zu Gute kommen, die sich in den vergangenen Jahren zweimal zu Workshops auf der Burg Ludwigstein getroffen und aktuelle Trends der historischen Forschung diskutiert haben.

6 Im Anschluss an die Tagung hat J. Bacia die Initiative ergriffen, Kommunalarchive systematisch nach den bei ihnen vorhandenen Überlieferungen neuer sozialer Bewegungen zu befragen. 7 Dazu gibt es dazu in jüngster Zeit neue Ansätze. Zuletzt haben sich im Frühjahr 2014 die Kulturarchive in Deutschland, darunter das AdJb, innerhalb des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare zu einer Arbeitsgemeinschaft konstituiert, um künftig einmal jährlich über gemeinsame Themen zu beraten. - Das Verbundthema ist im Übrigen nicht nur auf die Bewegungsarchive beschränkt: Zum Thema »Sammeln im Verbund. Archive und eine nationale Sammlungsstrategie« veranstaltete der Arbeitskreis Archive in der Leibniz-Gemeinschaft ebenfalls im Oktober 2013 eine Tagung mit Teilnehmern aus Archiven, Bibliotheken und aus der Wissenschaft; URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungs berichte/id=5359 [06. 07. 2014]. – Auch der Norddeutsche Archivtag 2015 in Hamburg wird sich dem Thema ›Archive und Verbünde‹ widmen.

Detlef Siegfried

Kulturgeschichte und soziale Bewegungen im Archiv. Bestandsaufnahme und Perspektiven

Ich möchte mit einigen Einschränkungen im Hinblick auf den Titel dieses Textes beginnen, der eine Menge verspricht. Es folgt keine komplette Bestandsaufnahme und auch zu möglichen Perspektiven will ich mich hier hauptsächlich im Hinblick auf einen speziellen Fokus äußern. Der Ausgangspunkt soll eine konzeptionelle Diskussion über Stand und Perspektiven des Archivs der deutschen Jugendbewegung sein, die den Anlass für die hier dokumentierte Tagung gegeben hat. Aber natürlich müssen dabei übergeordnete Überlegungen einbezogen werden, und das werde ich im Folgenden auch bei aller Einschränkung dort tun, wo es mir notwendig erscheint.

Neue Kulturgeschichte und neue Bewegungen Ich möchte zunächst versuchen, geschichtswissenschaftliche Perspektiven mit der Sammeltätigkeit der sozialen Akteure zu verbinden, die sich ja nicht aus einer abständigen Position, sondern aus sich wandelnden Aktivitätsfeldern ergibt. Schon die Begrifflichkeit, die im Mittelpunkt der Tagung stand, deutet auf historische Wandlungsprozesse hin. Während der Begriff der »Jugendbewegung« einem traditionell kulturgeschichtlichen Paradigma entstammt und die generationelle Spezifik einer breiteren Kulturerscheinung heraushebt, konzentrieren sich viele andere Archive auf die Hinterlassenschaft jener »neuen sozialen Bewegungen«, die sich seit den 1970er-Jahren als Initiativen »von unten« den verschiedensten politisch-gesellschaftlichen Konfliktfeldern gewidmet haben.1 In dem heute noch gebräuchlichen Begriff scheint noch die seinerzeit dominierende sozialwissenschaftliche Sicht auf, mit der derartige Bewegungen 1 Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Bonn 1991; dies.: Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. u. a. 2008.

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Detlef Siegfried

betrachtet wurden.2 Seither haben die Alltagsgeschichte der 1980er- und insbesondere die von verschiedenartigen »turns« vorangetriebene neue Kulturgeschichte seit den 1990er-Jahren einen Perspektivenwandel eingeleitet. Infolgedessen werden nicht nur die kulturellen Praktiken dieser Bewegungen stärker herausgearbeitet, sondern sie selbst als Kulturerscheinungen gedeutet, in denen die gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse sichtbar werden. Dazu zählen die gewachsene Bedeutung von Alternativ- und Gegenkulturen für die Selbstverständigung einer Gesellschaft im Wandel sowie neue, stärker individualisierte Formen der Subjektkonstruktion, wie sie auch in zahlreichen soziologischen Gegenwartsanalysen aufscheinen – von Ulrich Becks »reflexiver Moderne« bis hin zu Gerhard Schulzes »Erlebnisgesellschaft«, die nicht nur Analysekonzepte, sondern auch selbst Ausdruck eines bestimmten Zeitgeistes sind –3 bis hin zu ganz konkreten Formen des kulturgeschichtlichen Wandels im engeren Sinne, etwa im Hinblick auf die Medialisierung der Gesellschaft oder ihre künstlerischen Selbstdeutungen.4 Auch wenn man Zweifel an der Gegenüberstellung von Sozial- und Kulturgeschichte hat und dazu neigt, beides miteinander zu kombinieren: Die Verschiebung der Perspektive von einem sozial- und strukturgeschichtlichen hin zu einem kulturgeschichtlichen Ansatz hat eine Fülle neuer Forschungsfragen und Erkenntnisse hervorgebracht.5 Sie hat nicht nur das Erkenntnisinteresse an neuen sozialen Bewegungen verändert. Als Beispiele wären hier zu nennen die Abwendung von »reinen« Politik- und Organisationsgeschichten hin zu milieuhaften Hintergründen, Lebensstilen, Habitus etc. oder das neue Interesse für transnationale Praktiken der hier tätigen Akteure. Der Paradigmenwechsel von der Sozial- zur Kulturgeschichte hat aber auch das Spektrum der untersuchten Themen beträchtlich erweitert und damit auch die Erklärungskraft des uns interessierenden Feldes für den Wandel der Gesamtgesellschaft erhöht. Popkultur, die Bild- und Klanglandschaften jugendkultureller Strömungen und neuer sozialer Bewegungen sind ebenso ins Blickfeld gerückt wie konsumgeschichtliche Aspekte. All dies umfasst etwa die Initiative zur Etablierung einer »Pop History«, die 2011 mit einer großen Konferenz von sich reden machte. Mit Alexander Simmeths Text bietet auch dieser

2 Ferdinand Tönnies: Die Entwicklung der sozialen Frage bis zum Weltkrieg, 3. Aufl., Berlin 1919 [zuerst 1907]. – Rudolf Heberle: Social Movements. An Introduction to Political Sociology, New York 1951. 3 Ulrich Beck, Wolfgang Bonß (Hg.): Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. M. 2001. – Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1992. 4 Paradigmatisch für diesen umfassenderen Zugang: Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling u. a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a. M. 2001. 5 Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2006.

Kulturgeschichte und soziale Bewegungen im Archiv

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Band einen Einblick in die Forschungspraxis in diesem Feld.6 Vermehrt beschäftigen sich Tagungen seit wenigen Jahren mit dem Thema Jugendtourismus.7 Auslöser war hierbei insbesondere das Interesse an europäischer und transnationaler Geschichte, hierfür ein geradezu ideales Forschungsfeld. Groß ist inzwischen auch das Interesse am Jugendtourismus der 1960er- bis 1980erJahre, der häufig als Alternativtourismus in Erscheinung trat und damit viele relevante Fragestellungen anreißt: nicht nur grenzüberschreitende Wahrnehmungen und Praktiken, sondern auch die Kritik an der Massenkonsumgesellschaft und Individualisierungsprozesse.8 Hier würde sich ein idealer Ansatz für zeitliche Längsschnitte im Vergleich mit der traditionellen Jugendbewegung anbieten, zu deren zentralen Bindemittel und Sozialisationsfaktoren ja bekanntlich die »große Fahrt« gehörte. Nicht zufällig auch hat erst jetzt die Jugendzentrumsbewegung, von der in diesem Band ebenfalls berichtet wird, Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden – bei der es vielleicht gar nicht in erster Linie um ein neues politisches Thema, sondern um neue Formen des sozialen Miteinanders und um die Verständigung über und das Erproben von kulturellen Präferenzen ging. Dies gilt übrigens auch für diejenige der »alten sozialen Bewegungen«, der sich dieses Archiv widmet: für die Jugendbewegung. Schon früh, nämlich bereits um 1970, war sichtbar geworden, dass dieses Thema sehr viel mehr Potenzial enthält und nicht nur organisations- und politikgeschichtliche Fragestellungen zulässt. In seinem Buch über Fidus hat unser kürzlich verstorbenes langjähriges Beiratsmitglied Diethart Kerbs zusammen mit zwei Kollegen die Begrenzungen des rein ästhetischen Andersseins aufzeigen wollen. Schon der Untertitel »Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen« akzentuierte den Bezug zur entstehenden Alternativbewegung der frühen 1970er-Jahre.9 Hier wurde Geschichte für die Orientierung in der Gegenwart analysiert, als ein historischer Spiegel. Der Blick in die Vergangenheit sollte nonkonformistische Jugendliche der Gegenwart dazu bringen, ihre ästhetischen Präferenzen politisch zu reflektieren und zu kontrollieren. Fidus, der spätere Nationalsozialist, wurde gezeichnet als Typus der rein ästhetischen Verweigerung, die politisch versagt. Auf den kulturgeschichtlichen Perspekti6 Überblick bei Bodo Mrozek: Popgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 06. 05. 2010, URL: http://docupedia.de/zg/Popgeschichte?oldid=84650 [08. 05. 2014]. 7 Axel Schildt: Across the Border. West-German Youths Travel To Western Europe, in: ders., Detlef Siegfried (Hg.): Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies, 1960-1980, Oxford u. a. 2006, S. 149-160. 8 Anja Bertsch: Alternative (in) Bewegung. Distinktion und transnationale Vergemeinschaftung im alternativen Tourismus, in: Sven Reichardt, Detlef Siegfried (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968 – 1983, Göttingen 2010, S. 115 – 130. 9 Janos Frecot, Johann Friedrich Geist, Diethart Kerbs: Fidus 1868 – 1948. Zur Ästhetik bürgerlicher Fluchtbewegungen, erw. Neuaufl. Hamburg 1997 (erstmals München 1972).

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Detlef Siegfried

venwandel der neueren Zeit beziehen sich die Schwerpunkte des Jahrbuches des Archivs der deutschen Jugendbewegung in den vergangenen Jahren: Jugendbewegung und Kolonialismus, Jugendbewegung und Kulturrevolution um 1968, Jugendbewegte Geschlechterverhältnisse, Erlebnisgenerationen und Erinnerungsgemeinschaften etc. Natürlich leitet in erster Linie die Fragestellung den Forschenden bei der Analyse des vorliegenden Materials, und gibt so vor, was aus dem Material »herausgeholt werden kann«. Und dennoch, so meine These, bringt der Wandel der Forschungsinteressen auch neue Herausforderungen an die Archive mit sich. Denn mit ihnen entscheidet sich auch, was gesammelt, eingeworben, gesichert und aufbereitet wird und was nicht. Und mir scheint, dass gerade Unterlagen für kulturgeschichtlich interessante Themenfelder wie die eben genannten in der Vergangenheit nicht aufbewahrt wurden, weil sie unter mangelnder Aufmerksamkeit zu leiden hatten, da lange Zeit ihr Erklärungspotenzial nicht erkannt worden ist und sie zumeist als wenig aussagekräftige Oberflächenerscheinungen wahrgenommen wurden. So hat das Berliner Archiv der Jugendkulturen, das sich dezidiert den neueren Formen jugendlicher Massenkultur widmet, erst 1998 seine Arbeit aufgenommen. Mittlerweile hat man mit Hilfe der Analyse dieser Themenfelder nicht nur die Wandlungsprozesse in der politischen Kultur besser erklären können, sondern etwa auch Selbstbilder und Wahrnehmungen des Fremden durch große Massen von Akteuren.10 Zum Habitus der ausgeprägten Gegenwartsnähe von Jugendkulturen gehört die Tatsache, dass sie sich jeweils als etwas ganz Neues begreifen, was natürlich nur sehr eingeschränkt tatsächlich der Fall ist. Über eine besonders markante Zäsur dieser Art, die für die Frage nach möglichen neuen Sammlungsgebieten des Archivs der deutschen Jugendbewegung wichtig ist, herrscht nahezu ungeteilte Einigkeit: In der öffentlichen Wahrnehmung werden die langen 1960erJahre häufig als eine Art Wasserscheide bewertet. Erst in dieser Phase entwickelte sich eine neue Jugendkultur, wie wir sie in den Grundzügen heute noch kennen: als Ausdruck jugendlicher Autonomie, von unten kommend, aber immer im Spannungsfeld mit der Kulturindustrie, die sie für private Interessen zu instrumentalisieren sucht. Gleichzeitig entstanden die neuen sozialen Bewegungen, wie sie die politische Kultur der Bundesrepublik, aber auch der DDR dann stark mit geformt haben. Ein Bewusstsein von der Historizität dieser Erscheinungen ist hingegen nur sehr schwach ausgeprägt. Das hat mit dem Eigenbewusstsein in den zeitgenössischen Bewegungen zu tun, mit historiogra10 Einschlägig in der deutschen Forschung: Kaspar Maase: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992. – Uta G. Poiger : Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley u. a. 2000.

Kulturgeschichte und soziale Bewegungen im Archiv

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fischen Konjunkturen in Wissenschaft und öffentlicher Geschichtskultur, aber auch mit dem Selbstbild der historischen Vorläufer, die nicht selten den Bezug zu Nachfolgebewegungen verlieren, wenn diese sich in anderen Formen mit anderen Trägergruppen materialisieren und gelegentlich auch als Konkurrenz aufgefasst werden. Als Beispiel könnte man die Gewerkschaften nehmen, die erst in allerjüngster Zeit begonnen haben, die Einflüsse der Jugendkulturen und der neuen sozialen Bewegungen auf den Wandel ihrer eigenen Klientel, ihrer Organisationsformen und das Selbstverständnis junger Gewerkschaftsmitglieder hin zu untersuchen.11 Aber man kann es eben auch am Ludwigsteiner Archiv studieren, das sich mit der Geschichte der deutschen Jugendbewegung beschäftigt.

Zwei Jugendbewegungen Das Archiv der deutschen Jugendbewegung hat seit nunmehr fast 100 Jahren systematisch die Hinterlassenschaft der klassischen Jugendbewegung gesammelt – jenes heterogenen Konglomerats aus Bünden der verschiedensten religiösen und weltanschaulichen Richtungen also, das einen zentralen Sozialisationshintergrund insbesondere der bürgerlichen Jugend im 20. Jahrhundert abgegeben hat. Gerade 2013, zum 100-sten Jubiläum des Treffens auf dem Hohen Meißner, haben Publikationen wie der Sammelband »Jugendbewegt geprägt« und der Ausstellungskatalog »Aufbruch der Jugend« noch einmal deutlich gemacht, wie stark die deutsche Gesellschaft und insbesondere ihre Eliten durch die Jugendbewegung beeinflusst worden sind.12 Allerdings hat ihre Prägekraft nach 1945 erheblich nachgelassen. Ideell hat sie sich nur schwer vom Schock des Nationalsozialismus erholt, von der Teilhabe an der Diktatur oder der Unterdrückung durch Verbot und Verfolgung. Führer und Geführte, Uniformen, Fahnen, Lieder – viele Traditionselemente der Jugendbewegung waren und blieben diskreditiert. Gleichzeitig erfasste die Konsumkultur auch Jugendliche. Zusammen mit der ebenfalls um sich greifenden Politisierung von Jugendlichen erschien die »alte« Jugendbewegung hoffnungslos veraltet. »Tot sind unsere Lieder, unsere alten Lieder«, sang Franz Josef Degenhardt 1968, »Lehrer haben 11 Knud Andresen: »Gebremste Radikalisierung« – Zur Entwicklung der Gewerkschaftsjugend von 1968 bis Mitte der 1970er Jahre, in: Mitteilungsblatt des Instituts für Soziale Bewegungen, Forschungen und Forschungsberichte, 2010, 43. Jg., S. 141 – 158. 12 Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013; G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2013.

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sie zerbissen,/ Kurzbehoste sie verklampft,/ braune Horden totgeschrien,/ Stiefel in den Dreck gestampft.«13 Strukturell unterlaufen wurde der Einfluss der alten Jugendbewegung auch durch die gesellschaftliche Entwicklung: »Wirtschaftswunder«, Massenkonsum und Bildungsreform veränderten nicht nur das Freizeitverhalten Jugendlicher und ließen die »Postadoleszenz« entstehen, einen lebensgeschichtlichen Abschnitt, der bis Ende der Twen-Jahre andauern konnte und einen relativ großen Spielraum für lebensweltliche Experimente aller Art bot. Sie trugen auch dazu bei, die sozialen Unterschiede abzuschleifen, so dass Arbeiterjugend und bürgerliche Jugend in ihren Sozialisationsbedingungen weniger scharf voneinander zu unterscheiden waren. Gerade die Entwicklung der Jugendkultur seit den späten 1950er-Jahren verstärkte die sozialen Angleichungstendenzen. Ihre Kehrseite, die Individualisierung, untergrub auf längere Sicht ebenfalls das jugendbewegte Sozialisationsmuster.14 Alles in allem gingen Jugendkultur und Jugendbewegung spätestens seit den 1960er-Jahren unter anderen Vorzeichen und mit anderen Sozialisationsmustern vonstatten als sie aus der traditionellen Jugendbewegung überliefert waren, während gleichzeitig die Überreste der alten Jugendbewegung von ihnen beeinflusst wurden.15 Dabei ähnelten sich manche inhaltlichen Ansätze und Formen des Miteinanders. Es ging um eine Kritik der Gegenwartsgesellschaft und Aversionen gegen das, was als Entfremdung und Vermassung aufgefasst wurde: der politische Kampf gegen Umweltverschmutzung oder Zersiedelung etc., ein zum Teil radikaler Avantgardismus, die Sozialisation in der Gruppe, die gemeinsamen Reiseerfahrungen – nun allerdings oft per Anhalter oder im eigenen Auto –, legerer Kleidungsstil und Haartracht, dazu Freikörperkultur, Vegetarismus, Landkommunen usw. Zum Teil verstanden sich die Initiatoren der neuen Jugendbewegungen als Anti-Eliten, die aber sehr viel größere Massen als zuvor beeinflussten und von ihnen getragen wurden. Sie bezogen sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt – den einen Aufbruch der deutschen Jugend, wie er auf dem Hohen Meißner verkündet worden war –, sondern speisten sich aus vielerlei Wurzeln. Oftmals kamen die inhaltlich gar nicht so weit entfernten Impulse von außerhalb, etwa aus dem französischen Chanson oder von der US-amerikanischen Bürgerrechts- und Hippie-Bewegung. Häufig lagen Sehnsuchtsorte nicht mehr in der Natur, sondern in urbanen Räume, in 13 Die alten Lieder, in: Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen. Alle Lieder von Franz Josef Degenhardt, München 1979, S. 51. 14 Ulrich Beck: Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten (= Soziale Welt; Sonderbd. 2), Göttingen 1983, S. 35 – 74. 15 Diethart Kerbs (Hg.): Die hedonistische Linke. Beiträge zur Subkultur-Debatte, Neuwied u. a. 1971.

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denen alte Häuser oder Fabriken als autonome Zonen in Besitz genommen und zu eigenen Zwecken umgebaut wurden, etwa als Freizeit- oder Kommunikationszentren.16 Auch die kulturellen Präferenzen waren andere. Jugendliche akzeptierten sehr viel stärker die modernen Massenmedien, Film und Fernsehen, Popmusik als legitime kulturelle Ausdrucksformen. Gerade hier – undenkbar für die älteren Jugendbewegten – bildeten sich eigene jugendkulturelle Sektoren, die für nachfolgende Generationen wichtige Sozialisationswirkung bekommen sollten. Die gleichzeitig entstehenden zivilgesellschaftlichen Bewegungen, die heute als »neue soziale Bewegungen« bezeichnet werden, waren ebenfalls zu erheblichen Anteilen von Jugendlichen getragen. Viele der politischen Gruppierungen, die in den 1970er-Jahren entstanden, wie etwa die meisten KGruppen, anarchistische und anarcho-syndikalistische Zusammenhänge waren nahezu lupenreine Jugendbünde. Eine »Jugendbewegung« existierte also auch nach dem Ende der alten Jugendbewegung, allerdings in Abgrenzung von ihr, die vielen Jüngeren als verzopft, altbacken, diskreditiert durch den Nationalsozialismus und kulturell abgehängt durch die modernen Massenmedien erschien. Aber auch andersherum gab und gibt es Berührungsängste. Als legitime Erben wurden die Jungen von den Älteren nur begrenzt akzeptiert – wenn überhaupt. Will man es auf den Punkt bringen, so gibt es bei allen Unterschieden im Hinblick auf Sozialisationshintergründe, Organisationsformen, Felder und Praktiken des Andersseins eine konzeptionelle Klammer, die traditionelle und neue Jugendbewegungen miteinander verbindet: das Streben nach Selbstbestimmung – nicht nur unabhängig von den Erwachsenen, sondern auch von den Interessen mächtiger kommerzieller, politischer und staatlicher Akteure. Das ist aus meiner Sicht die zentrale inhaltliche Begründung dafür, als Archiv der Jugendbewegung nicht stehenzubleiben bei dem, was 1913 begann, sondern, um es plakativ zu sagen, auch nach 1968 weiter zu machen, als sich das, was man als permanente Jugendbewegung bezeichnen könnte, sehr viel weiter ausdifferenzierte als zuvor.

»Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« (Tocotronic, 1995) Betrachtet man die Situation nun aus der archivischen Perspektive, dann bewegen wir uns in dem einen wie in dem anderen Feld, in dem der »alten« Jugendbewegungen und ihren Nachfolgebünden sowie in dem der »neuen« Jugendbewegungen seit den 1960er-Jahren, außerhalb der Kernsammlungsgebiete 16 Diethart Kerbs: Über die Lust am Wiederbeleben verlassener Räume, in: Peter Ulrich Hein, Hartmut Reese (Hg.): Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Eine Festschrift zum 65. Geburtstag von Arno Klönne, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 87 – 100.

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staatlicher Archive. Ob und wie dieses gigantische Feld beackert wird, bleibt der Initiative Einzelner oder kleiner Gruppen überlassen. Seit den 1980er-Jahren haben sich hier insbesondere Archive sozialer Bewegungen um die Materialsicherung verdient gemacht – oft auf ehrenamtlicher Basis, ohne sichere Finanzierung. Ein erster Überblick aus dem Jahr 1990 verzeichnete – noch im Nachklang der großen Mobilisierung der 1980er-Jahre – 278 »freie« Archive, wie Jürgen Bacia und Cornelia Wenzel sie heute nennen. In ihrer aktuellen Bestandsaufnahme kommen sie auf die Zahl von 100 freien Archiven.17 Ausnahmen wie das Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung und das auch für Deutschland relevante Amsterdamer Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG) als dauerhaft abgesicherte und personell gut ausgestattete Institutionen bestätigen diese Regel. Ähnlich wie die meisten Archive sozialer Bewegungen hatte als eine Art Vorläufer schon im Jahre 1922 das Archiv der Jugendbewegung mit spontanem Sammeln szenenaher Aktivisten begonnen; allein das IISG hat eine vergleichbar lange Geschichte. Eine Institutionalisierung wurde erst seit den 1960er-Jahren betrieben und 1970 durch eine Stiftung langfristig gesichert. 1976 wurde das Archiv hauptamtlich besetzt und seit 2004 firmiert es im Rahmen eines Depositalvertrages als Außenstelle des Hessischen Staatsarchivs Marburg, mit allen Vorteilen der institutionellen Anbindung ausgestattet und doch selbständig und damit hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung unabhängig. Ein wissenschaftlicher Beirat gewährleistet eine Einbettung in fachliche Debatten, die Verbindung zur Wissenschaft und die Vermittlung hin zur öffentlichen Geschichtskultur. Insofern hat das Archiv der Jugendbewegung eine zwar längere, aber doch auch den Archiven sozialer Bewegungen vergleichbare Vorgeschichte als Initiative von unten, die aber dann jene materielle Sicherheit erlangte, die erst die langfristige Verwahrung und Aufbereitung des Materials ermöglicht. Gut möglich, dass bei diesem Etablierungsprozess bürgerliche Herkunft und gehobener Status der Aktivisten eine beträchtliche Rolle spielten. Sie nehmen ja bis heute wesentlichen Anteil an der Arbeit des Archivs. Gegenwärtig steht das Archiv der deutschen Jugendbewegung vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits ist sein primäres Sammelgebiet, die Überlieferung der historischen deutschen Jugendbewegung, relativ abgeschlossen. Dies schließt Zuwächse und Neuerwerbungen natürlich nicht aus, aber die Hochzeit dieser Bewegung ist Geschichte. Sicherlich werden Materialien aus Jugendgruppen, Bünden und Jugendverbänden, die nach 1945 noch in dieser Tradition standen, weiter gesammelt und archiviert. Neben gruppenbezogenen 17 ID-Archiv im IISG (Hg.): Reader der »anderen« Archive. Erarbeitet v. Axel Diederich u. Waldemar Schindowski, Berlin 1990. – Jürgen Bacia, Cornelia Wenzel: Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, Berlin 2013, S. 12.

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Materialien sollten weiterhin auch individuelle Nachlässe sowie weitere Sammlungen vom Archiv berücksichtigt werden, u. a. von Künstlern, Autoren, die dem Jugendbewegungskontext auf diese oder jene Weise zuzuordnen sind. Andererseits sind die Grenzen des bisherigen Sammlungsgebietes relativ eng definiert. Vor diesem Hintergrund und weil auch ein Archiv der Jugendbewegung sein Sammelspektrum nicht allein historisch definieren kann, muss es entwicklungsfähig bleiben, um und seine Bedeutung zu erhalten. Deshalb sollte es seine Sammelgebiete sinnvoll, systematisch, nach möglichst klaren Maßstäben und im Rahmen seiner Möglichkeiten im Hinblick auf Platz, Personal etc. erweitern. Es geht also zugleich um Erweiterung und (Selbst-) Beschränkung. Der wissenschaftliche Beirat des Archivs diskutiert zur Zeit darüber, ob nicht Sammlungsgebiete für das Archiv identifiziert werden sollten, die den bisherigen Zugriff weiterführen, indem sie ihn auf neue, aber verwandte Gegenstände im Sinne des eben Skizzierten ausdehnen. Meine folgenden Ausführungen verstehen sich als erste Überlegungen dazu. Sie sind nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern setzen bei dem bisherigen Sammlungsprofil an und sind von Gesprächen innerhalb des Beirats und seines Umfeldes inspiriert, zum Teil wurden sie in einem im Auftrag des Beirats angefertigten Papier, das ich gemeinsam mit Eckart Conze verfasst habe, niedergelegt.18 Welche Sammlungsgebiete kämen überhaupt grundsätzlich in Frage? Die Kriterien, die zur Beantwortung dieser Frage herangezogen werden, können, wenn wir Kohärenz bewahren wollen, nur aus dem bisherigen Gegenstand abgeleitet werden. Daher kommt besonders die Überlieferung von solchen Jugendgruppen in Betracht, die in die Gesellschaft hineinwirken wollen, in der einen oder anderen Weise Bewegungscharakter haben, »von unten« kommen, nicht Untergliederung einer Institution, Partei, Religionsgemeinschaft o. ä. sind, nicht ausschließlich politisch agieren, sondern auch irgendein kulturelles Interesse formulieren und auf spezifische Weise zum Ausdruck bringen – im Hinblick auf Lebensstil, Betätigungsfeld, Aktionsformen etc. Gleichzeitig würden sich lebensreformerische Aspekte in Programm und Praxis derartiger Gruppen besonders gut in das bisherige Profil des Archivs einfügen. Hier ist etwa an Wohngemeinschaften, Landkommunen, Alternativtourismus oder Bioläden zu denken – allesamt Gegenstände, die archivarisch nicht leicht zu erfassen sind. Abgrenzungen leiten sich aus derartigen Kriterien ab, aber eine Entscheidung über künftige Sammlungsgebiete sollte auch pragmatisch bestimmt sein, z. B. wenn bereits Archive existieren, die seit vielen Jahren und in seriöser Weise auf bestimmten Gebieten sammeln und für die Nutzung aufbereiten. Das kann etwa 18 Detlef Siegfried, Eckart Conze: Entwurf: Archivprofil und künftige Sammelgebiete vom 14. 10. 2012.

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für die Studentenbewegung gelten, wo sich bereits zahlreiche Akteure tummeln. Es würde wenig Sinn machen, hier auf dem Ludwigstein ein neues Sammlungsgebiet zu etablieren. Derartige Bestände kämen aber sicherlich dann in Frage, wenn sie speziell aus einem jugendbewegten Kontext kommen oder sich mit ihm befassen – also Aufschluss über Übergangsprozesse geben könnten. Generell würde sich das Archiv der Jugendbewegung damit an einer Schnittstelle von Sammelgebieten auch anderer Archive bewegen, nicht zuletzt der Archive sozialer Bewegungen (z. B. Hamburger Institut für Sozialforschung, APO-Archiv an der FU, regionale »Bewegungsarchive«) und des Archivs der Jugendkulturen (Berlin), das sich insbesondere jüngeren Subkulturen seit den 1980er-Jahren widmet und hauptsächlich gedrucktes Material verwahrt. Gerade der Bezug zu einer Jugendbewegung ist dabei natürlich ein zentrales Auswahlund Interessenkriterium. Die Bewegung muss nicht notwendig ausschließlich traditionell bzw. auf Gruppen bezogen sein. Politische Initiativen Jugendlicher, wie sie sich in sozialen Bewegungen oder Kleinparteien niedergeschlagen haben, werden systematisch von Archiven sozialer Bewegungen gesammelt. Das Archiv der Jugendbewegung sucht die Zusammenarbeit mit anderen Archiven und strebt ein koordiniertes, zumindest abgestimmtes Vorgehen an. Sieht man einmal ab von gedruckten Quellen zur jüngeren Popkultur, die vom Archiv der Jugendkulturen aufbereitet werden, gibt es, soweit ich sehe, insbesondere für jugendkulturelle Bewegungen mit amorphen oder vorwiegend informellen, jedenfalls nicht durch zentrale Bürokratien aufrecht erhaltenen Strukturen kaum Organisationen oder Archive, die sich zuständig fühlen. Dabei gibt es eine Vielzahl von Initiativen, die die Jugendkultur geprägt und schriftliches – auch ungedrucktes – Material hinterlassen haben. Dabei denke ich etwa an die Jugendzentrumsbewegung und Kommunikationszentren (Fabrik, SO 36 etc.), besetzte Häuser, Musikfestivals (Waldeck, Essener Songtage, Open Ohr, Ingelheim, Umsonst & Draußen etc.), alternative Theater- und Musikgruppen, Chöre und Lesezirkel, aber auch Clubs und Kneipen als Orte der Vergemeinschaftung im Alltag – und schließlich an den großen, für die Jugendkulturen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts konstitutiven kommerziellen Sektor (Schallplattenlabel, Konzertveranstalter, Verlage, Redaktionsarchive von Zeitschriften wie Konkret, Pardon, Song, Sounds, Spex etc.). Quellen aus diesen Zusammenhängen werden zumeist von (ehemaligen) Aktivisten zu Hause gesammelt und sind damit gefährdet. So hat etwa auf überregionaler Ebene Uwe Hussleins Archiv zur Popkultur nun offenbar keine Finanzierung mehr, nachdem es einige Jahre als Archiv der Kölner Messe MusikKomm untergekommen war. Ähnlich problematisch ist der Status von Günter Zints Bestand zum Hamburger Star-Club. Eher zufällig gesichert wurde die umfangreiche Sammlung Reinhard Hippens zur westdeutschen Pop- und Undergroundkultur der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre; zufällig, weil Hippen der Gründer des

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von der Stadt Mainz unterhaltenen Deutschen Kabarettarchivs ist, wo dieser Bestand nun, eigentlich sachfremd, verwahrt wird. Sobald man sich dem Gegenstand konkret nähert, wird sichtbar, dass es auf einem mit den Stichworten Musik/Alternativkultur/Lebensreform umrissenen Gebiet viel Potenzial gibt, das sich deutlich in einer Kontinuitätslinie mit dem traditionellen Ludwigsteiner Sammlungsgebiet befindet und, soweit ich sehe, bislang weitgehend brachliegt oder doch zumindest keinen klaren archivischen Fokus hat. Eingebettet in einen wissenschaftlichen Kontext würde hier nicht nur eine systematischere Sammlung für Themenfelder, die bislang vernachlässigt wurden, angelegt werden, sondern es würden auch Gegenstände und historiografische Perspektiven stärker etabliert, die konzeptionell besonders fruchtbar erscheinen. Aus pragmatischen Gründen schiene mir eine zeitliche Begrenzung sinnvoll – vorerst vielleicht auf die 1960er- bis 1980er-Jahre als Induktionsphase einer neuen gesellschaftlichen Formation, die als »zweite Moderne« oder »Postmoderne« beschrieben worden ist. Es bliebe dann späteren Beiräten vorbehalten, über den Fortgang zu entscheiden. Jedenfalls wäre damit jener Schritt in Richtung auf mehr Gegenwartsnähe gegangen, der uns heute wichtig erscheint. Die vom Archiv und seinem wissenschaftlichen Beirat ausgehende Initiative zur Diskussion über Sammeln und Erschließen und zur künftigen Koordination von Sammelaktivitäten gleichartiger Archive durch Vernetzen liegt im Trend. Auf Einladung verschiedener Archive hat im Oktober 2013 eine Tagung in Berlin stattgefunden, auf der über eine mögliche Strategie des »Sammelns im Verbund« und über ein »nationalstaatlich abgestimmtes Konzept für Nachlässe, Verbandsschriftgut und archivisches Sammlungsgut« diskutiert wurde.19 Dabei sollten Möglichkeiten erörtert werden, wie »nationales Kulturgut« kooperativ gesammelt, erschlossen und der Forschung zur Verfügung gestellt werden könne. Von einem nationalen Sammlungskonzept auf dem Gebiet von Jugendkultur und Jugendbewegung sind wir weit entfernt. Das wäre m. E. auch nicht das, was wir zum jetzigen Zeitpunkt anstreben sollten. Viel gewonnen wurde allein schon dadurch, dass die hier dokumentierte Tagung einen weiteren Schritt in Richtung Diskussion, Kooperation und Arbeitsteilung gebracht hat. Tatsächlich haben wir damit begonnen, auf dem uns alle interessierenden Feld zwischen Jugendkultur und neuen sozialen Bewegungen, das keine großen Fürsprecher hat und daher im Hinblick auf systematische Sicherung und Finanzierung besonders fragil ist, über unsere Ansätze, Interessen und Sammlungsfelder zu sprechen. In welche Richtung das Archiv der deutschen Ju19 Vgl. den Tagungsbericht: Sammeln im Verbund. Archive und eine nationale Sammlungsstrategie, 24. 10. 2013, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 12. 05. 2014, URL: http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5359 [15. 05. 2014].

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gendbewegung sein Sammelgebiet öffnen wird, ist damit noch nicht ausgemacht. Aber dass es eine solche Öffnung hin zu mehr Gegenwartsnähe geben sollte, scheint mir wichtig zu sein.

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Wie die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung erforschen? Quellenbestände, Überlieferungslage und Materialrecherche

Die zeithistorische Erforschung der Jugendkulturen und sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre steht in vielen Aspekten erst am Anfang. Besonders deutlich wird dies an der Jugendzentrumsbewegung, die sich seit 1970/71 in hunderten westdeutscher Städte und Gemeinden ausbreitete und über die so gut wie keine neuere Literatur existiert.1 Im Folgenden soll ein Überblick über die Quellenbestände und Überlieferungslage dieser »neuen sozialen Bewegung« gegeben, aber auch die Probleme in der Erfassung von Materialien und Erforschung des Phänomens – die vom Autor im Rahmen eines Promotionsprojekts an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) geleistet wird – thematisiert worden ist. Eine Anekdote aus meiner Recherchearbeit wirft ein erstes Schlaglicht auf die Überlieferungslage. Ein Jahr nach dem Beginn meiner Arbeit – die Recherche in den Archiven hatte ich bereits weitgehend abgeschlossen – kontaktierte ich Tiedeke Heilmann, einen Jugendzentrums-Aktivisten, der sich zunächst auf lokaler Ebene für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum in Uelzen eingesetzt hatte, um in der zweiten Hälfte der 1970er- und bis weit in die 1980er-Jahre als bundesweite »Kontaktperson« der Jugendzentrumsinitiativen zu fungieren.2 Mein Ziel war es, mit ihm ein Interview zu führen und möglicherweise auf weitere Dokumente zu stoßen. Kurze Zeit später antwortete er mir per E-Mail: »Ich habe ein Bücherregal voll verstaubter Akten, Dokumentationen, Briefwechsel usw. usw. Das Ganze ist nicht durchsortiert […] Und, ich denke, das 1 Erste Überblicksdarstellungen finden sich in: Detlef Siegfried: Time Is On My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; 41), Göttingen 2006, S. 655 – 661; ders.: »Einstürzende Neubauten«. Wohngemeinschaften, Jugendzentren und private Präferenzen kommunistischer »Kader« als Formen jugendlicher Subkultur, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2004, 44. Jg., S. 39 – 66. 2 Vgl. die Hinweise in: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide v. 28./29. 09. 1974, S. 23, abgedruckt in: Der Gute Uelzer, Nr. 16, 20. 12. 1975, S. 4, in: FZH-Archiv, Sammlung Heilmann; Rundschreiben Tiedeke Heilmann (Jugendzentrumsprovinz Lüneburger Heide), 31. 03. 1977, in: FZH-Archiv, Sammlung Heilmann, JZ 1/1977.

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wird auch nicht mehr klappen.« Da er beruflich und ehrenamtlich voll ausgelastet sei, könne er sich nicht vorstellen, »wie wir zueinander kommen könnten. Rein zeitlich gesehen.«3 14 Tage später saß ich in einem Auto voll von Aktenordnern und unsortierten Papierstapeln, die ich aus der kleinen Gemeinde Suhlendorf in der Lüneburger Heide in mein Büro in der FZH transportierte. Der ehemalige Jugendzentrums-Aktivist hatte zwar keine Zeit, mit mir ein Interview zu führen, war jedoch einverstanden, dass ich etwa zwei Drittel seiner privaten Sammlung, die rund 60 Aktenordner und ungefähr die gleiche Menge an losen Publikationen, Broschüren und Flugblättern umfasste, einfach abtransportierte, um sie für meine Arbeit auszuwerten. Das folgende Jahr brachte ich weitgehend damit zu, diesen völlig unerwarteten Fund, der Dokumente jugendlicher Initiativen aus Klein-, Mittel- und Großstädten der gesamten »alten« Bundesrepublik umfasste, zu sortieren und auszuwerten. Diese Episode meiner Rechercheaktivitäten ist in gewisser Hinsicht charakteristisch für die Probleme beim Auffinden zeitgenössischer Dokumente zu jugendlichen Initiativgruppen und Bewegungen – beispielsweise was die Bedeutung privater Sammlungen und die Zufälligkeit solcher Funde, aber auch den Wert von bislang der Forschung unzugänglichen Materialien angeht. Doch bevor ein näherer Blick auf Quellen und Überlieferungslage geworfen wird, soll zunächst kurz der Gegenstand der Forschungsarbeit – die westdeutsche Jugendzentrumsbewegung der 1970erJahre – skizziert werden.

Jugendzentrumsbewegung – zwischen Jugendkultur und sozialer Bewegung Die »Jugendzentrumsbewegung« bildete sich zu Beginn der 1970er-Jahre heraus, genauer gesagt um das Jahr 1971. Der Begriff, der sich seit 1973 als Selbst- und Fremdcharakterisierung etabliert hat, bezeichnet eine Vielzahl jugendlicher Initiativgruppen, die sich gegenüber den Kommunen für die Einrichtung selbstverwalteter Jugendzentren einsetzten. Zusammengesetzt vor allem aus Gymnasiasten – aber auch Lehrlinge und Studierende waren beteiligt –, trug sie die Ideen von Selbstorganisation und Emanzipation, die politischen und kulturellen Aufbrüche der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre in die »Provinz«, die ländlichen und suburbanen Gebiete, die Klein- und Mittelstädte Westdeutschlands.4 In der Hochphase der Bewegung Mitte der 1970er-Jahre be-

3 E-Mail Tiedeke Heilmann an Verfasser, 29. 11. 2011. 4 Vgl. David Templin: Freiräume vom Provinzalltag. Jugendzentrumsinitiativen im ländlichkleinstädtischen Raum in den 1970er Jahren, in: Heike Kempe (Hg.): Die »andere« Provinz.

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standen über 1 000 solcher Jugendzentrumsinitiativen.5 Hunderte selbstverwalteter Jugendzentren wurden im Laufe des Jahrzehnts eingerichtet. Dabei kam es zu einem spannungsgeladenen Verhältnis zu den Stadtvertretungen und kommunalen Verwaltungen, die den Initiativen in vielen Fällen skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, in einigen Fällen jedoch auch »Experimente« wagten und selbstverwaltete Zentren als Modellprojekte förderten. Dieses Verhältnis zwischen jugendlichen Initiativgruppen und den Kommunen auszuloten und Konflikte wie Aushandlungsprozesse bei der Einrichtung von Jugendzentren zu analysieren, ist Gegenstand des Forschungsprojekts. Selbstverwaltete Jugendzentren stehen insofern an der Schnittstelle zwischen den »neuen sozialen Bewegungen«, zu denen die Jugendzentrumsbewegung gezählt werden kann, und den neuen Jugendkulturen, die sich in den 1960erJahren herausgebildet hatten und in den 1970er-Jahren zunehmend ausdifferenzierten.6 Das Bestreben nach autonomen, selbstbestimmten jugendlichen Räumen wurde in der Jugendzentrumsbewegung politisiert und von den aktiven Jugendlichen als Forderung an die Kommunen gerichtet. Die Jugendzentrumsinitiativen erhoben den Anspruch, die Interessen der sogenannten »nicht-organisierten« Jugendlichen zu vertreten – also derjenigen, die nicht in Vereinen und Verbänden organisiert waren. Die meisten der in den Initiativen aktiven Jugendlichen gehörten auch dieser Gruppe an. Dennoch bewegten sich die Initiativgruppen faktisch in einem Spannungsfeld zwischen informellen, spontanen Zusammenschlüssen auf der einen und organisierten politischen Gruppen und Akteuren auf der anderen Seite. So wurden laut einer Umfrage des Fernsehmagazins »DISKUSS« knapp 42 Prozent der Initiativgruppen auf Anstoß der Jungsozialisten hin gegründet.7 Im ländlichen Raum gingen selbstverwaltete Jugendclubs nicht selten aus der kirchlichen Jugendarbeit hervor. Während der Beginn der Jugendzentrumsbewegung zeitlich relativ klar auf die Jahre 1970/71 zu datieren ist, lässt sich ein Ende nicht eindeutig ausmachen. So bestehen einzelne selbstverwaltete Jugendzentren bis heute und immer wieder gründeten sich lokale Initiativen Jugendlicher.8 Die »Lebensdauer« vieler

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Kulturelle Auf- und Ausbrüche im Bodenseeraum seit den 1960er Jahren (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz; 13), Konstanz, München 2014, S. 299 – 326. Klaus-Peter Emrich: Selbstverwaltete Jugendzentren – Eine Alternative, in: Neue Praxis, 1974, 4. Jg., S. 323-329, hier S. 323; Egon Schewe: Selbstverwaltete Jugendzentren. Entwicklung, Konzeption und Bedeutung der Jugendzentrumsbewegung (Bielefelder Hochschulschriften. Abteilung: Freizeitpädagogik/Sozialpädagogik; 54), Bielefeld 1980, S. 27. Vgl. Cordia Baumann, Sebastian Gehrig, Nicolas Büchse (Hg.): Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren (Akademiekonferenzen; 5), Heidelberg 2011. Aus einer Befragung der Initiativgruppen für Jugendzentren, in: Deutsche Jugend. Zeitschrift für die Jugendarbeit, 1974, 22. Jg., Heft 11, S. 501 – 503, hier S. 502. Vgl. die umfangreiche Broschüre zum Jubiläum eines seit 1973 bestehenden selbstverwalteten

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Initiativen betrug nur einige wenige Jahre, während andere sich als finanziell geförderte Jugendfreizeiteinrichtungen erfolgreich etablieren konnten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sowohl die quantitative Dimension von Initiativen und Zentren in den 1980er-Jahren zurückgegangen ist, als auch das Selbstverständnis, Teil einer größeren Bewegung zu sein, sowie der Bezug vieler Einrichtungen zur Idee der Selbstverwaltung.9

Zeitgenössische Literatur und Quellenlage Die Jugendzentrumsbewegung ist bislang kein Gegenstand größer angelegter zeithistorischer Forschung geworden, und wurde auch von der sozial- und politikwissenschaftlichen Bewegungsforschung, die sich seit den frühen 1980erJahren in der Bundesrepublik etablierte, fast vollständig ausgeblendet.10 Die Literatur zu diesem Phänomen, die vor allem in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren entstand, ist in der Regel von Sozialpädagogen verfasst worden, die selbst einen engen Bezug zu Jugendzentrumsinitiativen vorweisen konnten. So setzte sich Leo Teuter, der als Sozialarbeiter in einem Frankfurter Jugendhaus gearbeitet hatte, in einer 1984 erschienenen Studie mit dem Verhältnis von »Selbstverwaltung und Professionalität« in den Zentren auseinander, Titus Simon und Peter Wieland – beide ehemalige Aktivisten und Mitarbeiter in Jugendzentren des Rems-Murr-Kreises – nahmen 1987 am Beispiel dieser Region den Wandel der offenen Jugendarbeit in den Blick.11 Bereits 1980 hatte der Pädagoge Egon Schewe einen Überblick über das Phänomen »Selbstverwaltete Jugendzentren« zu geben versucht und nach der Wirkmächtigkeit pädagogischpolitischer Konzepte in diesen gefragt.12 Solche Arbeiten entsprangen nicht nur

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Jugendzentrums: AutorInnenkollektiv (Hg.): 30 Jahre AJZ autonom und selbstverwaltet. Eine Dokumentation über das ArbeiterInnen-Jugend Zentrum Bielefeld, Bielefeld 2003. Vgl. die Schilderung der Entwicklung in Stetten, einer Gemeinde bei Stuttgart: Friederike Kamann, Eberhard Kögel: Ruhestörung. Rebellion in der Provinz. 25 Jahre Jugendzentrum Stetten in Selbstverwaltung 1969 – 1993, Teil 2: 1976 – 1993, Grafenau 1994. Vgl. die entsprechenden Leerstellen bei: Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M., New York 2008; dies.: Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland (Studien zur Geschichte und Politik; 252), 2. Aufl. Bonn 1991; Karl-Werner Brand u. a.: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, 2. Aufl. Frankfurt a. M. u. a. 1984. Leo Teuter: Selbstverwaltung und Professionalität. Möglichkeiten und Probleme professioneller Jugendarbeit in selbstverwalteten Jugendfreizeiteinrichtungen (Veröffentlichungen des Instituts für Jugendforschung und Jugendkultur e.V.; 3), Frankfurt a. M. 1984; Titus Simon, Peter Wieland: Offene Jugendarbeit im Wandel. Entwicklung und Wandel von Jugendzentren am Beispiel einer Region, Stuttgart 1987. Egon Schewe: Selbstverwaltete Jugendzentren. Entwicklung, Konzeption und Bedeutung der Jugendzentrumsbewegung (Bielefelder Hochschulschriften. Abteilung: Freizeitpädagogik/

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Tribunal von Jugendzentrumsinitiativen gegen den Bremer Senat, 1976. Quelle: Koordinationsausschuß der Bremer Jugendinitiativen (Hg.): Die Jugend klagt den Bremer Senat an: der Gängelung, der Schikane, der Unterdrückung. Protokoll Jugendtribunal, Bremen 1976, in: FZH-Archiv, Sammlung Dieter Maul.

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dem wissenschaftlichen Interesse, sondern waren selbst Produkte einer Bewegung, die seit ihrem Beginn aufs engste mit der Sozialpädagogik verknüpft gewesen war. So hatten bereits Mitte der 1970er-Jahre etliche Studierende für ihre Diplomarbeiten Fragen des Umgangs mit jugendlichen Initiativgruppen oder den Stellenwert »emanzipatorischer« und »antikapitalistischer Jugendarbeit« für selbstverwaltete Jugendzentren diskutiert. Insofern liefert die pädagogische und sozialwissenschaftliche Literatur der 1970er- und 1980er-Jahre zwar erste Forschungsergebnisse und Deutungsmuster, muss gleichzeitig jedoch selbst im zeitgenössischen Kontext ihrer Entstehung verortet und als eigenständige Gattung von historischen Quellen aufgefasst werden.13 Vor dem Hintergrund eines überschaubaren Forschungsstandes kommt den historischen Quellen, die von den und über die jugendlichen Initiativgruppen und selbstverwalteten Zentren produziert wurden, eine umso größere Bedeutung zu. Zentral für das Forschungsprojekt sind vier Quellengattungen, auf deren Eigenheiten und deren Erhebung ich im Folgenden näher eingehen möchte. Als erstes ist hier eine große Menge an grauer Literatur zu nennen, also in geringen Auflagen gedruckte oder hektographierte Publikationen, lokale Jugendzentrums-Zeitschriften, Broschüren und Dokumentationen, die meist zur Auswertung einer lokalen Auseinandersetzung um ein Jugendzentrum oder anlässlich von Jubiläen selbstverwalteter Zentren in diesen produziert wurden. Zweitens sind nichtöffentliche Dokumente aus der Bewegung von Bedeutung, also Protokolle von Versammlungen und Arbeitsgruppen, aber auch Briefwechsel bzw. Korrespondenzen – sowohl von Aktivistinnen und Aktivisten untereinander, als auch mit Kommunalverwaltungen und Medien. Einen größeren Adressatenkreis erreichten Rundbriefe, die von regionalen oder überregionalen Jugendzentrums-Zusammenschlüssen herausgegeben wurden. Für die Seite der Kommunen sind als dritte Quellengattung sowohl behördliche Akten, von Jugendämtern und Magistraten, als auch Protokolle von Gemeinderäten und deren Ausschüssen zu nennen. Eine vierte Quellengattung, auf die ich im Folgenden nicht näher eingehen werde, bilden Zeitungen und Zeitschriften. Für das Phänomen Jugendzentrumsbewegung relevant sind dabei – neben der Presseberichterstattung auf lokaler Ebene – vor allem sozialpädagogische Fachzeitschriften und die Magazine und Publikationen politischer Jugendorganisationen. Sozialpädagogik; 54), Bielefeld 1980. – Vgl. auch die Studie von Harry Friebel u. a.: Selbstorganisierte Jugendgruppen zwischen Partykultur und politischer Partizipation. Am Beispiel von Jugendzentren und Fußball-Fanclubs, Opladen 1979. 13 Siehe die Bemerkungen zum Umgang mit zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Literatur bei: Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 58 f.

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Welche Probleme ergeben sich für den Forschenden nun bei der Materialrecherche hinsichtlich dieser Quellengattungen? Das soll im Folgenden an den Beispielen grauer Jugendzentrums-Publikationen, von Korrespondenzen und kommunalen Archivalien beleuchtet werden.

Graue Literatur: Dokumentationen, Broschüren, Flugblätter Der stark von informellen Strukturen geprägte Charakter der Bewegung verweist bereits auf ein erstes gravierendes Problem der Materialrecherche und Suche nach Quellen. Zum einen handelte es sich überwiegend um eine Bewegung der sogenannten »nicht-organisierten« Jugendlichen, also derjenigen, die nicht in Vereinen und Verbänden Mitglied waren – auch wenn einzelne Jugendorganisationen durchaus Teil der Bewegung waren. Zum anderen stellte die Bewegung ein primär lokal verortetes Phänomen dar, setzte sich also in erster Linie auf Ebene der Stadt bzw. Gemeinde, in größeren Städten mitunter auch auf Stadtteilebene, für ein konkretes Ziel – ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung – ein. Im Unterschied zur Forschung über Organisationen mit formalisierten Strukturen ist es also nicht möglich, einfach das zentral an einem Ort gesammelte Organisations- oder Verbandsarchiv aufzusuchen. Vielmehr befinden sich die Hinterlassenschaften der Bewegung, insbesondere die zeitgenössischen Veröffentlichungen in Form von Publikationen wie Flugblättern, Zeitschriften, Broschüren und Dokumentationen, in verschiedenen Archiven in der ganzen »alten« Bundesrepublik verstreut. Als bedeutende Quelle sind dabei insbesondere die Dokumentationen hervorzuheben. Zahlreiche Initiativgruppen und selbstverwaltete Jugendzentren versuchten ihre Zielsetzungen und Aktivitäten, ihre Auseinandersetzungen mit den Behörden und eine Auswertung ihrer eigenen Arbeit in Broschüren zu dokumentieren. Diese entstanden vielfach bereits nach ein oder zwei Jahren, zum Teil aber auch zum fünf- oder zehnjährigen Jubiläum eines Zentrums. Von diesen lokalen (und regionalen) Dokumentationen existieren an die 100 verschiedene, die ein facettenreiches Bild der Bewegung zeichnen. Hinzu kommen Broschüren, die von größeren Organisationen wie den Jungsozialisten,14 dem 14 Jungsozialisten in der SPD Landesverband Baden-Württemberg: Jugendzentren in Selbstverwaltung. Natürlich!, Stuttgart [1981]; Bundesvorstand der Jungsozialisten in der SPD (Hg.): Arbeitsfeld JZ. Materialien zur Theorie und Praxis der Jugendzentrumsarbeit, Bonn [1977]; Bundesvorstand der Jungsozialisten in der SPD (Hg.): Jugendzentren und Arbeit im Freizeitbereich, Bonn (Juso-Argumente; 15), [Bonn 1976]; Landesvorstand der Jungsozialisten in der SPD Saar (Hg.): Für ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung. Eine Dokumentation für die Jugendzentrumsarbeit, Saarbrücken [1975]; Jungsozialisten in der SPD Landesverband Baden-Württemberg: Materialien für ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung,

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Bund Deutscher Pfadfinder15 oder überregionalen Koordinationsbüros und Dachverbänden von Initiativgruppen16 produziert wurden, um den lokalen Gruppen Tipps und Anregungen zu geben, beispielhafte Aktionen oder Vereinssatzungen vorzustellen und Literatur- und Adresshinweise zu liefern. Ein geringer Teil solcher Broschüren und Dokumentationen ist über die Bibliothekskataloge zugänglich. Der weitaus größere Teil lagert jedoch in diversen Archiven. Die zentralen Sammlungen dieser grauen Literatur befinden sich in Beständen institutionell angebundener Archive, in »Bewegungsarchiven«17 und in Privatarchiven. Dabei lassen sich diese Archivtypen nur schematisch trennen, da private Sammlungen grauer Literatur in der Regel die Basis aller dieser Überlieferungen darstellen. Gleichzeitig haben einzelne Archive, die aus sozialen Bewegungen heraus entstanden, im Laufe der Zeit eine materielle Absicherung durch eine institutionelle Förderung oder Überführung in bestehende Institute erhalten. Als eines dieser ehemaligen Bewegungsarchive ist das ID-Archiv im International Institute for Social History (IISG) in Amsterdam zu nennen – eine Sammlung, die auf dem Archiv des zwischen 1973 und 1981 erschienenen »Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten« (ID), einer Publikation aus der undogmatischen Linken, beruht.18 Der Bestand des ID-Archivs umfasst sowohl mehrere Broschüren zur Jugendzentrumsbewegung als auch diverse Periodika. Zu letzteren zählen sowohl lokale Veröffentlichungen wie »Die Zange«, eine zwischen 1974 und 1976 erschienene Zeitung des selbstverwalteten

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[Stuttgart 1973]; Jungsozialisten in der SPD – Unterbezirk Westschwaben (Hg.): Jugendhaus – aber wie? Tips und Anregungen, Ichenhausen o. J., in: Archiv Soziale Bewegung [im Folgenden: ASB] Freiburg, 6.0.2, 6-a5 – 16; Jungsozialisten in der SPD, Schleswig-Flensburg: Für Jugendzentren. Wie kommt man zu einem Jugendzentrum? Arbeit in Freizeitzentren mit antikapitalistischen Perspektiven, Kiel 1974, in: ID-Archiv im International Institute for Social History, Amsterdam [im Folgenden: IISG/ID], Bro 643/1 fol. Bund Deutscher Pfadfinder (Hg.): Praxis in Jugendzentren (Materialien zur Theorie und Praxis demokratischer Jugendarbeit; 16), Frankfurt a. M. 1976; ders. (Hg.): Politik in Jugendzentren (Materialien zur Theorie und Praxis demokratischer Jugendarbeit; 12), Frankfurt a. M. 1974; ders. (Hg.): Jugendzentren (Materialien zur Theorie und Praxis demokratischer Jugendarbeit; 2/3), Frankfurt a. M. 1973. Regionalzusammenschlüsse d. selbstverwalteten Jugendzentren u. Initiativen (Hg.): Rechtliches für Jugendzentren (SelbsthilfeMaterialien für JZ’s), München, Saarbrücken 1981; Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung (VSJS) e.V. (Hg.): Jugendzentrumsbewegung im Saarland 1979 (VSJS-Informationen; 2), Saarbrücken 1979. Vgl. Jürgen Bacia, Cornelia Wenzel: Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, Berlin 2013; Bernd Hüttner : Schätze, Schimmel und Sozialgeschichte. Aus dem Alltag eines Bewegungsarchivs, in: ders., Gottfried Oy, Norbert Schepers (Hg.): Vorwärts und viel vergessen. Beiträge zur Geschichte und Geschichtsschreibung neuer sozialer Bewegungen, Neu-Ulm 2005, S. 149 – 158. Zum ID vgl. Karl-Heinz Stamm: Alternative Öffentlichkeit. Die Erfahrungsproduktion neuer sozialer Bewegungen, Frankfurt a. M. u. a. 1988, S. 71-98.

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Jugendzentrums Reinbek bei Hamburg,19 als auch überregionale wie »Der Hessische Landbote«, der 1977/78 mit dem Untertitel »Provinzzeitung der Jugendzentren im Hessischen Lande und Umlande« vom BDP Hessen herausgegeben wurde.20 Ebenfalls eine zeitgenössische Überlieferung zur Jugendzentrumsbewegung umfasst das Verbandsarchiv des BDP im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein. Der Bund Deutscher Pfadfinder hatte seit 1968 eine linke Politisierung durchgemacht und sich – nach der 1970/71 erfolgten Abspaltung liberaler und konservativer Kräfte – als linker Jugendverband mit einer neomarxistischen Orientierung neben der Schülerbewegung auch der Jugendzentrumsbewegung zugewandt.21 In der Bewegung spielte der BDP eine z. T. koordinierende Rolle und sammelte entsprechend Publikationen von Initiativen. Darüber hinaus finden sich in der Sammlung zahlreiche Protokolle, Adresslisten und Korrespondenzen, insbesondere aus dem hessischen Raum.22 Weitere Dokumentationen und graue Periodika finden sich in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main sowie im Hamburger Institut für Sozialforschung. Von den heute noch bestehenden Bewegungsarchiven – also den Archiven, die aus sozialen Bewegungen selbst hervorgegangen sind – bietet insbesondere das Archiv Soziale Bewegungen in Freiburg eine Fülle an relevanter grauer Literatur hinsichtlich der Jugendzentrumsbewegung. Dort lagern über 30 Broschüren von Jugendzentrumsinitiativen, einzelne Diskussionspapiere und Korrespondenzen sowie eine umfangreiche Sammlung zum ersten »antiautoritären Jugendheim«, das im Zuge der Studentenrevolte 1969 in Karlsruhe eröffnet wurde und in mancher Hinsicht als Vorläufer der Jugendzentrumsbewegung gelten kann. Im Freiburger Archiv lagert zudem das historische Archiv des Landesverbandes Baden-Württemberg der Deutschen Jungdemokraten, der – ähnlich wie der BDP – auf Landesebene eine koordinierende und unterstützende Funktion in der Bewegung ausübte. Richtet man den Fokus auf die Verflechtungen politischer Jugendorganisationen mit den Jugendzentrumsinitiativen, müssen auch weitere Archive ge19 Die ersten beiden Ausgaben sind im ID-Archiv allerdings nicht vorhanden: Die Zange. Zeitung des Jugendzentrums Reinbek, Nr. 3 – 10, 1975 – 1976, in: IISG/ID, ZK 56233. 20 Der Hessische Landbote. Provinzzeitung der Jugendzentren im Hessischen Lande und Umlande, 1977 – 1978, Nr. 1 – 7, in: IISG/ID, ZK 46463. 21 Vgl. Eckart Conze: »Pädagogisierung« als Liberalisierung. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit (1945 – 1970), in: ders., Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012, S. 67 – 81; Johann P. Moyzes: Die »Neue Linie« – zum Wandel der »Pfadfinderpädagogik« im Bund Deutscher Pfadfinder, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2009, NF 6, S. 124 – 164; Klaus Körber : Der BDP als Vorläufer der »68er«?, in: ebd., S. 165 – 177. 22 Vgl. AdJb, Bestand A 202, Nrn. 879 – 915, Nr. 978, Nr. 1022.

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nannt werden. So lagern die Bestände von Jungsozialisten und Junger Union im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn bzw. im Archiv für christlich-demokratische Politik in Sankt Augustin. Publikationen des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) mit regionalem oder lokalem Bezug, in denen sich Berichte über Jugendzentrumsinitiativen und Jugendzentren finden, an denen der KBW beteiligt war, sind im Archiv »APO und soziale Bewegungen« (APOArchiv) an der Freien Universität Berlin zugänglich. Hinsichtlich der grauen Periodika der Jugendzentrumsbewegung sticht die Verteilung über diverse Archive und die damit einhergehende fehlende Vollständigkeit einzelner Publikationen an einem Ort hervor. Um ein Beispiel zu nennen: Von dem Verband der saarländischen Jugendzentren in Selbstverwaltung (VSJS) e.V., einem 1973 ins Leben gerufenen landesweiten Dachverband, wurde zwischen 1977 und 1984 unter dem Titel »Nachrichten« eine in monatlichem oder zweimonatlichem Rhythmus erscheinende Zeitschrift herausgegeben. Da es keinen Ort gibt, an dem die 55 Ausgaben der Publikation vollständig vorhanden sind, ist der oder die Forschende auf eine aufwendige Sichtung von Beständen, die Suche nach fehlenden Nummern und eine eigene Zusammenstellung der Ausgaben angewiesen, um einen vollständigen Überblick zu erhalten.23

Korrespondenzen und nicht-öffentliche Dokumente Auch wenn in den größeren Archiven bereits eine Vielzahl von Publikationen, Broschüren und Rundbriefen lagert, fehlen nicht wenige der entsprechenden Veröffentlichungen in den zugänglichen Sammlungen – ganz abgesehen von nicht-öffentlichen Dokumenten, also beispielsweise Protokollen von Treffen der Initiativgruppen, internen Papieren, Adresslisten oder Korrespondenzen. Hier zeigt sich – und damit komme ich zur eingangs referierten Anekdote aus meiner Recherchearbeit zurück – die enorme Bedeutung von Privatarchiven und persönlichen Materialsammlungen einzelner Aktivistinnen und Aktivisten. In der Regel handelt es sich bei diesen Sammlern um die Protagonisten einer einzelnen Initiativgruppe oder der regionalen bzw. überregionalen Vernetzung. In der Jugendzentrumsbewegung waren es vor allem sogenannte »Kontaktpersonen«, die Adresslisten erstellten, an einen Verteilerkreis von Interessierten per Post Materialien verschickten und ansprechbar für hilfesuchende lokale Initiativgruppen waren. Die Anfänge dieser Vernetzung gehen auf das Jahr 1973 zurück; erst in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre lässt sich allerdings eine 23 So lagern im ID-Archiv des IISG die Ausgaben 3 – 17, 19, 21 – 24, 26 – 27, 29 und 31 – 32 (IISG/ ID, ZK 45383).

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regelrechte Welle von Dachverbands-, Regionalzusammenschluss- und Koordinationsbüro-Gründungen ausmachen. Während 1975 schon 20 regionale und drei landesweite Zusammenschlüsse bzw. Koordinationsbüros bestanden, waren es 1977 doppelt so viele. 1980 existierten annähernd 50 Kreis- und Landestreffen bzw. -verbände.24 Die »Kontaktpersonen«, die diese Vernetzungsarbeit primär leisteten, tauschten sich untereinander aus und stritten sich beispielsweise über die richtige politische Linie im Umgang mit größeren Jugendorganisationen wie der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ). Eine ähnliche Funktion wie die Kontaktpersonen nahmen in Hessen einzelne Aktivisten des BDP ein, weshalb entsprechende Briefwechsel, Protokolle von Seminaren oder Flugblätter auch im Archiv der deutschen Jugendbewegung vorhanden sind. In einzelnen Ländern bzw. Regionen konstituierten sich Dachverbände wie im Saarland als Verein und bildeten stärker formalisierte und institutionalisierte Strukturen heraus. So besteht der VSJS e.V. bis heute. In diesem Fall wäre noch zu ermitteln, inwieweit der saarländische Verband in den letzten 40 Jahren interne Dokumente aufbewahrt und archiviert hat.25 Nicht selten, wie in der Begegnung des Autors mit Tiedeke Heilmann, sind es Glücksfälle, auf bedeutende private Sammlungen zu stoßen. Private Sammlungen zu selbstverwalteten Jugendzentren waren vor allem bei solchen Personen zu vermuten, die auf lokaler oder (über)regionaler Ebene als Initiatoren und »Macher« eine zentrale Rolle spielten. In der Regel waren dies – den Geschlechterverhältnissen in der Jugendzentrumsbewegung der 1970er-Jahre entsprechend – Männer, nur selten besetzten wie im SDAJ-nahen Koordinationsbüro für die Initiativgruppen der Jugendzentrumsbewegung e.V. Frauen zentrale Funktionen.26 Die Kontaktaufnahme des Autors zu diesen Akteurinnen und Akteuren erfolgte zunächst meist über Interviewanfragen, bei denen sich dann herausstellte, dass die Angefragten auch über größere eigene Privatarchive verfügten. In einzelnen Fällen konnten Materialien mitgenommen werden oder wurden per Post zur Einsicht bzw. Archivierung zugeschickt. Oftmals mussten Dokumente allerdings vor Ort eingesehen werden, da die ehemaligen Aktivisten ihre Materialien nicht aus der Hand geben wollten. Die entsprechenden Materialien und Dokumente sind in der Regel unver24 Die Zahlen für 1975 und 1980 beruhen auf einer Zusammenstellung des Verfassers, für 1977 vgl. Anschriftenliste Regionalzusammenschlüsse, Dezember 1977, in: Privatarchiv Eberhard Kögel (Kernen im Remstal), Ordner »KB Neustadt«. 25 Zum heutigen VSJS vgl. URL: http://www.juz-united.de [15. 01. 2014]. 26 Als Vorsitzende des Koordinationsbüros fungierten zwischen 1974 und 1982 Dagmar Kies und Silke Brockmann; vgl. Zeitschrift Elan, 1974, 8. Jg., S. 19 f. sowie E-Mail: Silke Brockmann an Verfasser, 27. 02. 2011. Der Anteil von Mädchen und jungen Frauen in den Initiativen und den Kerngruppen der selbstverwalteten Jugendzentren lag in vielen Fällen bei unter einem Drittel.

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zeichnet, teilweise noch unsortiert. In zwei Fällen ist es gelungen, entsprechende Sammlungen in institutionelle Archive zu überführen. Die Sammlungen von Tiedeke Heilmann (Suhlendorf bei Uelzen) und Dieter Koschek (Wasserburg am Bodensee) werden im Augenblick in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg verzeichnet, um sie dort dauerhaft zu lagern. In einem anderen Fall übernahm das Stadtarchiv Wedel die Sammlung des ehemaligen Stadtjugendpflegers Uwe Schiemann, der in den 1970er-Jahren gleichzeitig Aktivist und Sympathisant der Jugendzentrumsbewegung und in seiner offiziellen Funktion Kontaktperson der Stadt zum lokalen Jugendclub war.27 Da es in der Bundesrepublik kein Archiv gibt, das auf die Jugendzentrumsbewegung spezialisiert wäre, hat diese soziale Bewegung gewissermaßen noch keinen eigenen Ort in der (west)deutschen Archivlandschaft. Um einzelne Sammlungen der Allgemeinheit zugänglich zu machen, müssen also immer wieder aufs Neue mögliche Varianten der Archivierung überlegt und bestimmte Archive angefragt werden. Neben den privaten, vielfach sicherlich noch unentdeckten Sammlungen, lagert ein besonderer Fundus an aufschlussreicher Korrespondenz zur frühen Phase der Jugendzentrumsbewegung im Historischen Archiv des Südwestdeutschen Rundfunks (SWR).28 Der Hintergrund dieses Bestandes liegt darin begründet, dass zwischen 1971 und 1974 im Ersten Deutschen Fernsehen die beiden Jugendsendungen »Jour fix« und »DISKUSS« ausgestrahlt wurden. Deren Redakteure, die selbst bereits in der studentischen Club-Bewegung der 1960erJahre politisch-kulturell aktiv gewesen waren, hatten es sich zur Aufgabe gemacht, intensiv über die Freizeitsituation Jugendlicher und deren Bemühungen um eigene Räume zu berichten und diese in den Reportagen und Kurznachrichten zu Wort kommen zu lassen.29 Insgesamt über 15 Ordner im SWR-Archiv enthalten zahlreiche Briefe und Postkarten, die Jugendliche – Aktivistinnen und Aktivisten, aber auch Interessierte, Sozialpädagogik-Studierende oder Jugendpfleger – an die Redaktionen der ausgestrahlten Sendungen sandten. Gleichzeitig wandten sich die Redaktionsmitglieder um Werner Schretzmeier mit der Bitte an die zuschauenden Jugendlichen und Initiativgruppen, Informationen zu 27 Stadtarchiv Wedel, S04 – 13, Nr. 1 und Nr. 2. – Vgl. David Templin: Jugendzentrumsinitiativen und Konflikte um selbstverwaltete Freizeiträume im Kreis Pinneberg während der 1970er Jahre, in: Zeitgeschichte in Hamburg. Nachrichten aus der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, 2010, S. 71 – 87. 28 Historisches Archiv des Südwestrundfunk, Stuttgart (SWR/HA), FS Nachmittagsprogramm, 29/01089, und FS Familie, 29/01083 – 29/01085, 29/21198, 29/21208 – 29/21217. 29 Wolfgang Seidel, Martina Groß, im Gespräch mit Werner Schretzmeier : Der Kampf ums eigene Jugendzentrum, in: Wolfgang Seidel (Hg.): Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben, Mainz 2005, S. 125 – 133; Thea Koss: »Das Theaterhaus wäre ohne diese Vorgeschichte so nicht möglich…«. Im Gespräch mit Werner Schretzmeier, in: dies.: Erfahren für’ s Leben. Die Bedeutung der Jugendarbeit für bedeutende Menschen, hg. von der Akademie der Jugendarbeit Baden-Württemberg e.V., [Stuttgart 2004], S. 75 – 83.

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den Auseinandersetzungen um Jugendzentren aus ihren jeweiligen Städten und Gemeinden an den SWR zu schicken. Die von den Redakteuren gesammelten Adresslisten mit bis zu 700 verzeichneten Initiativen wurden von ihnen wiederum an Interessentinnen und Interessenten verschickt, die sich daraufhin untereinander vernetzten. In den zahlreichen, oftmals handschriftlich verfassten Briefen und Fragebögen, die die Jugendlichen für die Sendung ausfüllten, finden sich etliche Informationen über den Charakter der jugendlichen Initiativgruppen vor allem in den kleinen und mittelgroßen Städten der Bundesrepublik.

Kommunale Überlieferung Um nicht nur die Perspektive der jugendlichen Akteurinnen und Akteure aus den Zentren und Initiativgruppen in den Blick zu nehmen, sondern auch das Agieren der Kommunen, an die sich die Forderungen richteten und mit denen die Rahmenbedingungen selbstverwalteter Jugendzentren ausgehandelt werden mussten, gilt es, die Überlieferungen kommunaler Instanzen, von Gemeinderäten und Verwaltungen hinzuzuziehen. Zum einen umfassen diese Überlieferungen Verwaltungsakten, also interne Vermerke und Berichte (beispielsweise von Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der Jugendlichen oder von Besuchen in Jugendzentren), sowie Korrespondenzen mit anderen städtischen bzw. staatlichen Stellen, den Initiativgruppen oder Anwohnerinnen und Anwohnern. Zum anderen können die Protokolle von Gemeinderats- und Ausschusssitzungen als Quellen dienen, aus denen vor allem die jeweilige parteipolitische Behandlung der Thematik erschlossen werden kann. Im Rahmen meines Forschungsprojekts habe ich 190 Stadt- und Kreisarchive angeschrieben, um zu erfahren, ob dort archivarische Überlieferungen zur Jugendzentrumsbewegung vorhanden sind. Von den angeschriebenen Archiven, darunter jeweils rund ein Drittel Großstadt-, Mittelstadt- und Kleinstadt- bzw. Kreisarchive, antworteten 134. Unter diesen waren 70 Antworten positiv – allerdings mit Verweis auf sehr unterschiedliche Überlieferungen. In manchen Fällen gab es umfangreiche Aktenbestände, in anderen beschränkte sich das Archivgut auf ein bis zwei Ordner oder eine Presseausschnittsammlung. In einzelnen Fällen war die kommunale Überlieferung zum jeweiligen Jugendzentrum auch noch nicht an das Stadtarchiv abgegeben worden, sondern lagerte noch in der Verwaltung. Bei der Auswertung der Antworten zeigte sich, dass vor allem in Archiven größerer Städte Material vorhanden ist. Viele Kleinstädte verfügten entweder über gar kein Archiv oder hatten entsprechende Akten bereits vernichtet. Die Überlieferungslage zum Umgang mit Jugendzentrumsinitiativen war also in

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Erstes Bundestreffen der JZ-Regionalzusammenschlüsse im hessischen Roßdorf, November 1977. Quelle: Plakat zum JZ-Bundestreffen am 9.–11.11.[1977] in Roßdorf, in: FZH-Archiv, Sammlung Tiedeke Heilmann, Ordner »Materialien zu JZ-Bundestreffen und -Wandzeitung 1977 – 1982«.

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Groß- und Mittelstädten weitaus besser – beispielsweise im Stadtarchiv Hannover, in dem umfangreiche Aktenbestände des Jugendamts zum Unabhängigen Jugendzentrum Glocksee (und in geringerem Umfang auch zum UJZ Kornstraße) vorhanden sind.30 Da es sich bei der Jugendzentrumsbewegung jedoch primär um eine Bewegung in suburbanen und ländlich-kleinstädtischen Regionen handelte, kann gewissermaßen von einer verzerrten Überlieferungslage gesprochen werden. Während Zusammenschlüsse in Großstädten nur rund 15 Prozent aller bundesweit bestehenden Initiativgruppen ausmachten,31 liegt – den Antworten auf meine Anfrage nach zu urteilen – rund die Hälfte der kommunalen Überlieferung in den Archiven westdeutscher Großstädte. Ein zweites Problem hinsichtlich der Quellen, die Auskunft über das Agieren der kommunalen Instanzen geben können, liegt darin, dass – im Unterschied zu Sammlungen über die Bewegung selbst – keine übergreifenden Bestände existieren, die Materialien aus unterschiedlichen Orten umfassen. Während sich anhand der zahlreich vorhandenen Dokumentationen und Publikationen der Initiativgruppen und Zentren ein gutes Bild der jugendlichen Aktivitäten, ihrer Zielsetzungen und Wahrnehmungen gewinnen lässt, ist das für die Seite der Stadtvertreter vergleichsweise schwieriger und erfordert lokale Studien, die die Presseberichterstattung, Rats- und Ausschussprotokolle wie Verwaltungsakten mit einbeziehen. Bemerkbar macht sich in dieser Hinsicht auch das Fehlen von Quellen, die Aufschluss über die spezifischen Handlungsmotivationen und Interessen der Verwaltungsseite liefern. Diese lassen sich in vielen Fällen aus Handakten, Verwaltungskorrespondenzen und internen Notizen nur schwer oder zumindest nicht auf den ersten Blick erschließen.

Zum Umgang mit Überlieferung und Quellenlage Insgesamt lässt sich die Quellenlage zur Jugendzentrumsbewegung – mit Blick auf die drei besprochenen Formen – jedoch als ausgesprochen gut bezeichnen. Problematisch ist weniger eine mangelnde Überlieferung, als vielmehr die Ordnung und die Zugänglichkeit zu der Masse an vorhandenem Material. Das betrifft zum einen die bislang weitgehend unstrukturierte, ungeordnete Überlieferung, verbunden mit der weiten Streuung der Dokumente und vielfach noch unentdeckten, bislang nicht zugänglichen privaten Sammlungen. 30 Stadtarchiv Hannover, Bestand Jugendamt, Nr. 14, Nr. 105, Nr. 260 – 273. Weitere aufschlussreiche Informationen von kommunaler Seite finden sich in den Protokollen der Ratsversammlung, des Verwaltungsausschusses und des Jugendwohlfahrtsausschusses. 31 Die Zahl basiert auf einer vom Verfasser angelegten Datenbank, in der für die Jahre 1974 und 1977 insgesamt 762 bzw. 656 Initiativgruppen und selbstverwaltete Jugendzentren erfasst sind. Unter diesen waren jeweils 114 bzw. 98 Gruppen in Großstädten (rund 15 Prozent).

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Zum anderen ergab sich aus dem bundesweiten Untersuchungsrahmen meines Forschungsprojekts die Problematik, mit der Masse an Material, die ich im Laufe der Archivrecherchen gesammelt hatte, einen angemessenen Umgang zu finden. Vor dem Hintergrund des Bestehens von mehr als 1 000 Initiativgruppen wurde zum einen eine Auswahl und Fokussierung auf einzelne Fallbeispiele notwendig. Dafür wählte ich mit Hannover als niedersächsischer Landeshauptstadt, Wedel und Pinneberg im Hamburger Umland sowie Wertheim in Baden-Württemberg eine Großstadt, zwei Mittelstädte und eine Kleinstadt aus, zu denen sehr gute kommunale Überlieferungen existieren. Diese konnten dann um die Auswertung der lokalen Presseberichterstattung sowie einzelne private Sammlungen, die u. a. Flugblätter und Protokolle von Treffen enthielten, ergänzt werden. Darüber hinaus ist im Rahmen des Projekts eine Datenbank zu Jugendzentrumsinitiativen und selbstverwalteten Jugendzentren entstanden, in der anhand der verfügbaren Dokumente lokale Ereignisse aus über 1 300 Städten und Gemeinden erfasst sind. Diese Datenbank bildet die Grundlage dafür, die westdeutsche Jugendzentrumsbewegung nicht nur anhand der ausgewählten Fallbeispiele, sondern auch in ihrer Breite und ihren verschiedenen Ausprägungen darzustellen und sichtbare Trends und unterschiedliche Entwicklungslinien aufzuzeigen. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass es sich bei der Jugendzentrumsbewegung um eine wissenschaftlich weitgehend und historiographisch noch völlig unerforschte soziale Bewegung der jüngeren Zeitgeschichte handelt – mit vielfältigen thematischen Verknüpfungen zu neuen Jugendkulturen, zur Geschichte kommunaler Jugendpolitik, der Sozialpädagogik und politischer Jugendorganisationen. Vor dem Hintergrund, dass eine zeitgeschichtliche Erforschung dieser Bewegung erst jetzt begonnen hat, ist auch die archivarische Überlieferung zu sehen. Einerseits existiert bereits eine Fülle an Materialien, verstreut in mehreren Archiven, die Dokumente aus sozialen Bewegungen sammelten. Gleichzeitig gibt es kein Archiv, das explizit für die Jugendzentrumsbewegung »zuständig« wäre. Insbesondere in Anbetracht des stark lokalen Charakters der Jugendzentrumsbewegung ist zu vermuten, dass eine Vielzahl von ehemaligen Aktivistinnen und Aktivisten auf ihren Dachböden und Abseiten noch Dokumente, Flugblätter und Korrespondenzen aufbewahrt, die für zukünftige wissenschaftliche Forschung einen Gewinn darstellen könnten. Mit Blick auf die Zukunft wäre deshalb zu wünschen, dass die Archivierung von Dokumenten im Bereich »Jugendinitiativen und Jugendzentren« nicht wie bislang größtenteils dem Zufall überlassen bleibt, sondern eine gezieltere Erfassung und Akquirierung von privaten Sammlungen stattfinden würde, als ich diese im Rahmen meines Forschungsprojekts leisten konnte. Diese könnte beispielsweise auch im regionalen oder landesweiten Rahmen erfolgen, da ein Überblick über ehemals bestehende Strukturen und mögliche Zugänge zu

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Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie deren Materialien in dieser Form leichter möglich erscheint. Eine solche Sammlung von Dokumenten dürfte sich im besten Falle nicht auf schriftliche Dokumente beschränken, sondern sollte auch Foto-, Video- und Ton-Dokumente mit einbeziehen. So wurden beispielsweise an mehreren Orten von Jugendzentrumsinitiativen eigene Filme produziert, deren Erfassung und Digitalisierung noch zu leisten wäre.32 Insofern steht die Erforschung der Jugendzentrumsbewegung ebenso wie die vieler anderer jugendkultureller und bewegungspolitischer Phänomene der 1970er- und 1980er-Jahre erst am Anfang. Die Basis für zukünftige Forschungen liegt dabei in der Erfassung, Sicherung und Aufbereitung der zeitgenössischen Überlieferung.

32 Dem Verfasser wurden von Klaus Gerke und Herbert Weisbrod-Frey Filme aus Mainz (1973) und Wiesloch (1976), die von lokalen Jugendzentrumsinitiativen produziert worden waren, zur Verfügung gestellt.

Alexander Simmeth

»Krautrock« – Wie erforschen?

Pop ist in den letzten Jahren auch in der Bundesrepublik in den Geschichtswissenschaften angekommen.1 Das ist wenig überraschend angesichts der enormen Bedeutung, die Popkultur und insbesondere Popmusik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangt haben. Ab Mitte der 1950er-Jahre begann sich in den Jugendkulturen der westlichen Industriestaaten, eng verwoben mit den sich entwickelnden Konsumgesellschaften und Massenmedien, eine transnationale Popkultur als neuartige kulturelle Ausdrucksform zu etablieren. Besonders Popmusik wurde – auch in der Bundesrepublik – binnen weniger Jahre zum zentralen Bestandteil neuer Lebensstile und Konsummuster. Nach dem Rock ’n’ Roll der 1950er-Jahre und dem britischen, aber ebenfalls auf US-amerikanischen Einflüssen basierenden Beat entstanden ab Mitte der 1960er-Jahre in beiden Ländern eine Reihe von Gruppen, deren Musik als »Soundtrack« der transnationalen Protestkulturen der 1960er-und 1970er-Jahre wahrgenommen wurde. Dabei ging die Bedeutung von Popmusik weit über eine reine Begleitmusik oder eine implizit politische Randbedeutung als Teil neuer Konsummuster hinaus: Popmusik wurde politisch aufgeladen. Die oft höchst emotional geführten Auseinandersetzungen um die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Implikationen von Popmusik sowie ihre potentielle politische Instrumentalisierung waren elementarer Bestandteil der Jugend- und Gegenkulturen der »langen 1960er-Jahre«.2 1 Vgl. als Überblick Bodo Mrozek: Popgeschichte, 2010, URL: http://docupedia.de/zg/Popgeschichte [21. 01. 2014]. 2 Der eng verwobene Nexus von Pop und Politik hat auch in Titeln verschiedener Veröffentlichungen der letzten Jahre seinen Niederschlag gefunden. Beispielhaft seien erwähnt: Stuart P.: You Say You Want a Revolution? Popular Music and Revolt in France, the United States and Britain During the Late 1960s, in: Historia Actual Online, 2005, Nr. 8, S. 7 – 18; Beate Kutschke (Hg.): Musikkulturen in der Revolte. Studien zu Rock, Avantgarde und Klassik im Umfeld von »1968«, Stuttgart 2008; Detlef Siegfried: »…als explodierte gerade ein Elektrizitätswerk«. Klang und Revolte in der Bundesrepublik um 1968, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, 2011, 8. Jg., Heft 2, S. 239 – 259; zuletzt Christoph Wagner : Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground, Mainz 2013.

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Mit der zunehmenden Verflechtung von Pop und Politik im Laufe der 1960erJahre begannen sich auch Richtung und Intensität kultureller Transferbewegungen zu verändern. Bis zum Ende der 1960er-Jahre kamen die kreativen Impulse der Popmusik aus den Vereinigten Staaten und, mit Abstrichen, dem Vereinigten Königreich. In Kontinentaleuropa erschöpfte sich die popmusikalische Selbsttätigkeit bis zum Ende der 1960er-Jahre weitgehend in der Imitation angloamerikanischer Stile.3 Seitdem setzte ein langsamer Wandel ein, neue Zentren der Produktion und Distribution entstanden. Oft in direkter Abgrenzung zur bis dato als überwältigend wahrgenommenen kreativen und ökonomischen Dominanz der Vereinigten Staaten und Großbritanniens entwickelten sich regionale bzw. nationale Szenen und Schwerpunkte, die innerhalb der bereits transnational etablierten Semiotik des Pop neue Ausdrucksformen und Stile auszubilden begannen. Im Falle der Bundesrepublik war es der später so genannte »Krautrock«, der als frühes Beispiel dafür gelten kann, »dass im Zeitalter der globalen Medialisierung kulturelle Impulse nicht mehr allein von wenigen Zentren – insbesondere den USA – ausgingen, sondern in einem komplexen flow zwischen regionalen Szenen in allen Teilen der Welt entstanden.«4 Krautrock ist ein retrospektiv als besonders wirkungsmächtig wahrgenommenes Phänomen der Popmusik. Fast schon mythische Verehrung wird ihm seit etwa Mitte der 1990er-Jahre in den USA und besonders in Großbritannien entgegengebracht, weniger als Massenphänomen, sondern vielmehr unter Multiplikatoren wie Musikern, Journalisten oder DJs, aber auch von Musik- und Kulturwissenschaftlern.5 Dabei wird Krautrock heute überwiegend als stilunabhängiger Sammelbegriff für experimentelle, vornehmlich elektronische Popmusik aus der Bundesrepublik der späten 1960er- und der 1970er-Jahre verstanden. Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien erwachte das Interesse in der Bundesrepublik erst spät und offenbar in erster Linie als Reaktion 3 Bereits 1975 wurde allerdings darauf verwiesen und mittlerweile ist es Konsens, dass Kulturtransfer weit über das Schema eines simplen Sender-Empfänger-Modells hinausgeht: »Obwohl amerikanische Populärkultur notwendigerweise das Gepräge der Gesellschaft hat, der sie entstammt, verändert ihre Bewegung jenseits der Grenzen Amerikas sowohl ihre Bedeutung, als auch ihre Struktur. Sie wird plastisch […] und weithin verfügbar zur Adaptierung, Aufnahme und Vermittlung«, so C. E. W. Bigsby in seinem Vorwort in: C. E. W. Bigsby (Hg.): Superculture. American Popular Culture and Europe, London 1975, S. xii und xiii. 4 Axel Schildt, Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 361. 5 Vgl. als Überblick und als Beispiel für das gängige Narrativ den Dokumentarfilm »Krautrock – The Rebirth of Germany« (BBC 2009); es gibt eine Fülle von medialen Beispielen aus den USA und Großbritannien (und weit darüber hinaus), die in Variationen auf die Wirkungsmacht der frühen bundesdeutschen Popmusik verweisen; als frühes Beispiel etwa: »The German Invasion: The British One Got Better Press, But the Teutonic Influence Endures«, in: The Washington Post vom 21. 11. 1996.

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auf die Aufmerksamkeit »von außen«. Trotz des auch hierzulande nun steigenden Interesses stehen sich in Sachen Popmusik im Allgemeinen und Krautrock im Besonderen aber bis heute zwei Sicht- und Wahrnehmungsweisen gegenüber, die sich nicht nur in Bezug auf den Umgang mit dem historischen Objekt, sondern auch in der gegenwärtigen Handhabung und Wahrnehmung des Quellenmaterials in den Archiven widerspiegelt. Eine skizzenhafte Gegenüberstellung dieser verschiedenen Wahrnehmungen und Handhabungen soll im Folgenden Thema sein. Dabei geht es zuerst um die Frage, welche Quellenfür die Erforschung der frühen bundesdeutschen Popmusikszene überhaupt relevant sein können. Danach werden drei Archive in der Bundesrepublik kurz vorgestellt, die ebensolche Quellen in ihrem Bestand haben. Anschließend sollen mit einem Blick auf die Vereinigten Staaten nationale Unterschiede im Umgang mit popmusikalischen Quellen angedeutet werden. Konkrete Beispiele aus gut zwei Jahren historischer Popmusikforschung sollen abschließend die Situation in beiden Ländern illustrieren helfen. Welche Quellen kommen für eine historische Annäherung an bundesdeutsche Popmusik der späten 1960er- und der 1970er-Jahre in Betracht? Am offenkundigsten zunächst Printmedien als gedruckte Quellen, neben der Tagesund Wochenpresse in erster Linie Publikumszeitschriften wie Semi- und vollprofessionelle Musikmagazine, die sich Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre in der Frühphase ihrer Entwicklung befanden.6 Dazu gehören für die Bundesrepublik etwa das Magazin Sounds (ab 1966 als Jazz-Magazin, ab 1968 als Zeitschrift für Popmusik) oder der Musik Express (aus den Niederlanden, deutschsprachige Ausgabe ab 1969), Flash – Zeitschrift für Rockmusik (ab 1970), Musik-Boutique (ab 1968) oder Song. Zeitschrift für progressive Subkultur (ab 1966 als Liedermacher- und Folk-Magazin, ab 1968 als PopmusikMagazin). Daneben kommen Fachzeitschriften für die Musikerszene wie etwa Riebe’s Fachblatt (ab 1972) als Quellen in Betracht. Aber auch die allseits bekannten Teenager-Zeitschriften wie Bravo oder die aus der Schweiz stammende »Pop«, Publikationen mit etwas älterem Zielpublikum wie Twen oder nicht zuletzt auch politisch ausgerichtete Zeitschriften wie Pardon oder Konkret spielen für die Erforschung von Krautrock im Kontext der Jugend- und Protestkulturen der späten 1960er- und der 1970er-Jahre eine wichtige Rolle. Periodika der Musikindustrie wie Der Musikmarkt oder Musikinformation sowie Fachzeitschriften für Instrumenten- und Aufnahmetechnik können ebenfalls interessante Einblicke aus dem ökonomischen bzw. industriellen Blickwinkel bereithalten. Neben den bundesdeutschen sind die führenden angloamerikanischen 6 Diese und im weiteren Verlauf folgende Aufzählungen von Zeitschriften sind exemplarisch und keineswegs vollständig.

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Das auf Seite der Produzenten von Popmusik außerordentlich beliebte und angesehene Riebe’s Fachblatt aus Hamburg, Ausgabe November 1972: Große Teile der bundesdeutschen Popmusikszene wenden sich in einem offenen Brief an Bayerns Innenminister Bruno Merk (CSU), der ein pauschales Verbot von Popfestivals im Freistaat erlassen hatte.

Fachzeitschriften und Branchenblätter für eine Beschäftigung mit Popmusik unerlässlich, ihren transnationalen Implikationen ebenso wie nationalen Teilaspekten und Szenen. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien blieben auch mit den zunehmenden regionalen Ausdifferenzierungen ab Ende der 1960erJahre in vielerlei Hinsicht Referenzpunkte der zunehmend transnationalen Popmusikszene. Angloamerikanische Musikzeitschriften entfalteten eine nicht zu unterschätzende Wirkkraft auch auf ihre zahlreichen bundesdeutschen Leser, die sich überproportional aus Multiplikatoren der Popmusikszene wie Musikern, Produzenten, DJs, Journalisten etc. zusammensetzten.7 Vor allem Berichte über bundesdeutsche Bands wurden fleißig gesammelt, oft in Form von chronologisch oder thematisch angelegten und sauber sortierten Zeitungsausschnittsammlungen. Die Publikationen aus der angloamerikanischen Sphäre liefern heute unter anderem interessante Aufschlüsse über die Rezeption des 7 Dieter Baacke wies bereits 1968 detailliert auf die große Zahl an Lesern angloamerikanischer Musikzeitungen und -zeitschriften in der Bundesrepublik hin, vgl. Dieter Baacke: Being Involved. Internationale Pop-Zeitschriften in der Bundesrepublik, in: Deutsche Jugend. Zeitschrift für die Jugendarbeit, 1968, 16. Jg., Heft 12, S. 552 – 560.

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bundesdeutschen Pop in den Ursprungsländern der Popmusik, über Zuschreibungen und Stereotype, aber etwa auch über zunehmende Transfers und wechselseitige Adaptionen kultureller Versatzstücke, kurz: über den transnationalen Charakter der Jugend- und Protestbewegungen jener Zeit. Aus Großbritannien sind für die späten 1960er- und die 1970er-Jahre zunächst die vier großen Branchenzeitschriften Melody Maker, Record Mirror, Disc und besonders der New Musical Express interessant. Der Melody Maker bestand bereits seit den 1920er-Jahren, die anderen Titel erschienen in den 1950er-Jahren auf dem Markt. Daneben spielen auch hier die neuen Musikmagazine wie ab 1969 ZigZag oder ab 1970 Sounds eine wichtige Rolle. In den USA wiederum gab es neben den traditionsreichen Branchenzeitschriften Billboard (ab 1894), Variety (ab 1905), Cash Box (ab 1942) oder Record World (ab 1946) frühe auf das Publikum der »Neuen Popmusik« zugeschnittene Musikmagazine wie ab 1966 Crawdaddy!, ab 1967 Rolling Stone oder ab 1969 Creem, die mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen allesamt die Entfaltung der transnationalen Jugend- und Protestkulturen und ihre enge Verwobenheit mit den Sphären von Pop und Politik dokumentieren. Sie waren Blaupausen auch für die bereits genannten, wenig später in Europa erscheinenden Publikationen des neuen, engagierten und politisierten Pop-Journalismus. Neben den kommerziell ausgerichteten, regelmäßig erscheinenden Publikationen ist die graue Literatur der Jugend- und Protestkulturen auch für die Erforschung des Phänomens Krautrock von zentralem Interesse. Dabei sind die Grenzen fließend: Oft fand nach einer Anfangsphase mit Lichtpausen und Heftklammern später eine Professionalisierung des Layouts und des Inhalts und vor allem auch des Vertriebs statt. Der Bereich der grauen Literatur ist für eine Betrachtung des Nexus aus Jugendkulturen, Pop, Politik und Konsum deswegen besonders aufschlussreich, weil hier in oft scharfen Auseinandersetzungen Eckpunkte von Diskursen abgesteckt wurden, bevor sie in die Breite wanderten und zu wirken begannen. Ein Grund dafür war sicher, dass graue Literatur sehr oft von Multiplikatoren der Popmusikszene produziert und konsumiert wurde und ihre Wirkkraft dadurch höher war, als es ein Blick auf die bloßen Verbreitungszahlen vermuten lässt. Zur im vorliegenden Fall relevanten grauen Literatur gehören die ersten Musik-Fanzines, aber auch eine Vielzahl von Publikationen im Zusammenhang mit »1968« und den neuen sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre, die sich aus verschiedenen Gründen nicht selten eingehend mit Popmusik beschäftigten.8 Wiederum nur beispielhaft für die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre seien erwähnt aus der Bundesrepublik Erzeugnisse des Verlags »Kinder der Geburtstagspresse« um Rolf-Ulrich Kaiser und Henryk M. 8 Einen umfangreichen Überblick vor allem für die 1970er-Jahre liefert die Zeitschrift Ulcus Molle. Info des Literarischen Informationszentrum Wintjes, 1969, 1. Jg. – 1990, 21. Jg.

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Das Titelblatt der ersten Ausgabe des Rolling Stone aus San Francisco, 9. November 1967. Top Story : The high Cost of Music and Love: Where is the Money from Monterey? Gerade auch in der Auseinandersetzung darum, wer mit der politisch »links« konnotierten Popmusik wie viel Geld verdient, spiegelte sich das »Spannungsverhältnis von Konsum und Politik« (Detlef Siegfried) besonders prägnant. Foto: Alexander Simmeth.

Broder oder die verstärkt auf Popmusik ausgerichteten Germania und Zoom; aus dem Vereinigten Königreich etwa die (auch über nationale Grenzen hinaus weit verbreiteten) Oz oder International Times, sowie aus den Vereinigten Staaten die Los Angeles Free Press, Bomp! Who Put the Bomp, die Trans-Oceanic Trouser Press, Eurock oder Synapse.9 Bei der Beschäftigung mit Pop und Politik nehmen neben Printmedien jeglicher Art besonders auch ungedruckte Quellen eine wichtige Rolle ein. Dazu gehört eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Zeugnisse: etwa Nachlässe und Sammlungen verschiedener Protagonistinnen und Protagonisten der Popmusikszene, von Musikern und Tonmeistern, Produzenten und Managern, Veranstaltern und Musikjournalisten und vielen anderen mehr. Auch Dokumente aus der Musikindustrie verraten unter Umständen interessante Details: Werbetexte und Darstellungen zur Veröffentlichung neuer Tonträger etwa, oft versehen mit 9 Die Verbreitungsgebiete und die Auflagen der genannten Publikationen unterscheiden sich eklatant. Wiederum sind die Nennungen nur beispielhaft.

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Das relativ kurzlebige, sich ausgiebig mit Popmusik beschäftigende Periodikum Germania, 2. Heft, Oktober 1971. Besetzt Häuser! Und: Universum wahnsinnig? Im Heft finden sich unter anderem Berichte über Rockmusik und Hausbesetzungen, neue Lebensstile und neue Drogenkulturen. Foto: Alexander Simmeth.

einer kleinen Zeitungsausschnittsammlung und Fotos, können aufschlussreiche Informationen beinhalten. Korrespondenzen bieten Einblicke in Sozialisation, Motivation oder den künstlerischen Werdegang der Akteure jenseits konstruierter, später oft über Jahre gepflegter Narrative. Den besonderen Wert ungedruckter Quellen soll ein kurzes Beispiel aus dem vorliegenden Zusammenhang illustrieren: Krautrock entstand Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre direkt aus jugendlichen Sub- und Gegenkulturen und war, sei es durch die Musik oder auch durch die oft offensiv zur Schau gestellten Lebensstile, manchmal expliziter politischer Beitrag »auf dem Weg in die sozialistische Gesellschaft«10, manchmal auch eher vage ein Beitrag für eine bessere Zukunft oder gegen das Establishment. In der Rückschau wurden politische Beiträge dieser Art von den ehemaligen Protagonisten oft verwässert oder ganz verschwiegen. In den 1970er-Jahren war in Selbstbeschreibungen noch von »68er-Bands« die Rede, in den 1980er-Jahren hingegen bestand man tendenziell eher darauf, mit Politik nie 10 So Irmin Schmidt von der Gruppe Can in der WDR-Sendung »Galerie der Entertainer«, April 1971.

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etwas im Sinn gehabt, sondern immer nur Musik gemacht zu haben. Später kehrte sich diese Sichtweise dann teilweise wieder um. Ungedruckte Quellen halten über diese Verflechtungen von Pop und Politik und über die sich im Laufe der Zeit verändernden Einstellungen und Sichtweisen der Protagonisten mitunter interessante Details bereit. Darüber hinaus, das sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, existiert für das Thema Popmusik bereits ab Ende der 1960er-Jahre eine große Vielfalt audiovisueller Quellen: Neben privaten Aufnahmen Fragmente aus Fernsehen und Radio, in der Bundesrepublik für den vorliegenden Zeitraum in erster Linie aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Sie sind der Forschung nur schwer zugänglich, da die Archive des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einer wissenschaftlichen Recherche in aller Regel verschlossen sind bzw. nur gegen exorbitante Gebühren Kopien etwa von TV-Sendungen angefordert werden können, deren vorherige Sichtung und Prüfung auf Relevanz gar nicht erst stattfinden kann. Zwar findet man heute ehemals Gesendetes und auch private Aufnahmen oft als Stream oder Download im Internet; viele Aufzeichnungen sind allerdings verschollen, andere wurden von den Produzenten im Laufe der Zeit vernichtet, und nicht zuletzt könnte sich innerhalb des bisher nicht gesendeten Rohmaterials aus den Archiven der Rundfunkanstalten besonders Relevantes finden. Audiovisuelle Quellen sind von kaum zu überschätzender Wichtigkeit für die Popgeschichte; welch fundamentale Rolle sie für die Konstruktionen von historischen Narrativen spielen, illustriert besonders prominent die mittlerweile über Jahrzehnte perpetuierte Höhepunkt- bzw. Verfallsgeschichte, wie sie mit dem Mythos »Woodstock« und dem Fanal »Altamont« verbunden wird – Konstruktionen, die vor allem auf den audiovisuellen Präsentationen beruht, die zumindest in dieser Pauschalität mit den tatsächlichen Begebenheiten auf den Festivals aber kaum in Übereinstimmung zu bringen sind. Dieser schlaglichtartige Überblick sollte die Vielfalt des für den Untersuchungsgegenstand und Untersuchungszeitraum potentiell interessanten Quellenmaterials umreißen. Wo aber sind Quellen dieser Art nun in der Bundesrepublik zu finden? Klar ist zunächst, dass aufgrund der zeitlichen Nähe zum Untersuchungszeitraum die Grenzen zwischen Bibliothek und Archiv verschwimmen.11 Die ersten Anlaufstellen bei Beginn der Recherchen im vorliegenden Fall, etwa bei der Suche nach Branchen- oder Fachzeitschriften der späten 1960er- und der 1970er-Jahre, waren daher die elektronischen Kataloge der verschiedenen Bibliotheks- und Verbundsysteme. Dabei stellte sich heraus, 11 Das gilt übrigens auch im Falle der Sekundärliteratur aus dem Untersuchungszeitraum, die dadurch selbst zur Quelle wird, etwa soziologische oder pädagogische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Popmusik aus den 1960er- und 1970er-Jahren.

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dass Zeitschriften dieser Art ab etwa der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre relativ häufig etwa in Staats- und Universitätsbibliotheken vorhanden sind. Zudem sind einzelne (meist englischsprachige) Zeitschriften mit einem entsprechenden Zugang über verschiedene Datenbanken als Volltext recherchierbar.12 Was in Bibliotheken und Datenbanken jedoch nahezu vollkommen fehlt, ist eine Vielzahl von relevanten Zeitschriften aus den späten 1960er- und frühen 1970erJahren, also aus der Formationsphase des Krautrock und der bundesdeutschen Popmedien und damit dem Kern des Untersuchungszeitraums. Die Suche nach diesen frühen Zeitschriften, sowie besonders auch nach grauer Literatur und ungedruckten Quellen, führte in die Archive. Das in vorliegendem Zusammenhang mit Abstand relevanteste Archiv in der Bundesrepublik ist das Klaus Kuhnke Archiv für Populäre Musik in Bremen.13 Trotz beengter räumlicher Gegebenheiten lagern dort neben einem kleinen Video-Archiv etwa 100 000 Tonträger und rund 8000 Bücher zum Thema Populärmusik, daneben eine breite Auswahl bundesdeutscher und angloamerikanischer Fachzeitschriften, oft auch sehr frühe Exemplare. Prominentes Beispiel ist die wegweisende bundesdeutsche Musikzeitschrift Sounds, die nur hier von der ersten bis zur letzten Ausgabe (1966 – 1983) komplett einzusehen ist. Die Zeitschriftenbestände sind systematisch erfasst und über die Zeitschriften-Datenbank ZDB sowie über die hauseigene Webseite online recherchierbar. Neben dem genannten Material befindet sich im Kuhnke-Archiv eine außerordentlich interessante, mehrere Regalmeter umfassende Sammlung des Journalisten Günther Ehnert, der in den frühen 1970er-Jahren das erste Lexikon über deutsche Popmusik verfasst hat und in persönlichem Kontakt zu einer Vielzahl bundesdeutscher Popgruppen stand. In diversen Ordnern findet man etwa Korrespondenzen mit Musikern, Bands und der Musikindustrie sowie Werbetexte oder Manuskripte – ein Eldorado für die Erforschung früher bundesdeutscher Popmusik, leider in dieser Form aber ein Einzelfall. Abgesehen vom Kuhnke-Archiv tauchen die für die Erforschung der frühen bundesdeutschen Popmusikszene relevanten Bestände oft nur als mehr oder weniger zufällig mitgesammelter Nebenbestand auf. Ein Beispiel hierfür ist der westdeutsche Standort der Stiftung Deutsches Kabarettarchiv in Mainz.14 Hier ist Krautrock-Relevantes aus zwei Gründen zu finden: zum einen, weil der Gründer des Archivs Reinhard Hippen teilweise eng in der frühen bundesdeutschen Popmusikszene involviert war, und zum anderen, weil der Nachlass

12 Beispiel im vorliegenden Zusammenhang sind der Melody Maker, der komplett und in Volltext über die Datenbank ProQuest recherchiert werden kann, sowie auch der New Musical Express, allerdings erst ab dem Jahrgang 1980. 13 Weitere Informationen unter URL: http://www.kkarchiv.de/ [15. 05. 2014]. 14 Weitere Informationen unter URL: http://www.kabarettarchiv.de/ [15. 05. 2014].

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Impressionen aus dem Klaus Kuhnke Archiv für Populäre Musik in Bremen. Foto: Friedel Muders, mit freundlicher Genehmigung des Klaus-Kuhnke-Archivs, Bremen.

der Gruppe Floh de Cologne seinen Weg in das Archiv gefunden hat.15 Infolgedessen finden sich in Mainz einige interessante, von einer ganzen Reihe von Akteuren stammende Korrespondenzen, persönliche Aufzeichnungen, Zeitungsausschnittsammlungen, Fotos, Pressetexte und anderes mehr. Das dritte relevante Archiv ist das Lippmann + Rau Musikarchiv in Eisenach.16 Auch hier ist die frühe bundesdeutsche Popmusik allerdings ein Nebenaspekt der Sammlung; der Fokus des nach dem Benjaminschen Ideal sehr breit angelegten Archivs liegt auf Populärkultur in ihrer gesamten Breite, und in Sachen Populärmusik steht – auch aufgrund der Gründungsgeschichte des Archivs – der Jazz im Mittelpunkt. Neben einzelnen Exemplaren von Musikzeitschriften war es dort ein Teil der von dem Journalisten Siegfried Schmidt-Joos überlassenen Sammlung, die sich als interessant herausstellte. Außerdem fanden 15 Die Gruppe Floh de Cologne hat wenig bis nichts mit der heute überwiegend gebräuchlichen Definition von Krautrock zu tun. Allerdings gab es eine Reihe von Berührungspunkten vor allem mit der frühen Krautrock-Szene, weswegen sie immer wieder in diesem Zusammenhang genannt werden: sei es in der Person von Rolf-Ulrich Kaiser und seinem Label OHR, oder in Form der Teilnahme an den Internationalen Essener Songtagen von 1968, die mit gutem Grund als (ein) Ausgangspunkt des Phänomens Krautrock gelten. 16 Weitere Informationen unter URL: http://www.lr-musikarchiv.de/ [15. 05. 2014].

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sich einzelne relevante Objekte in den Sammlungen der Namensgeber Fritz Rau und Horst Lippmann aus ihrer Zeit als Konzertveranstalter in den 1960er- und 1970er-Jahren. Diese drei Archive – das Klaus Kuhnke Archiv in Bremen, das Deutsche Kabarettarchiv in Mainz, und das Lippmann + Rau Archiv in Eisenach – waren im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt Krautrock innerhalb der Bundesrepublik die wichtigsten Anlaufpunkte. Bei einem Vergleich mit den USA fällt nun zunächst die grundsätzlich verschiedene Herangehens- und Sichtweise im Umgang mit Populärkultur im Allgemeinen und Popmusik im Besonderen ins Auge. Popmusik gilt in den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten als fester Bestandteil des kulturellen Kanons. Vor allem aber fand Popmusik im Vergleich zu Kontinentaleuropa dort auch sehr früh in der akademischen Welt ihren Niederschlag, zunächst vornehmlich in den Sozial- und Medienwissenschaften. Und dieses frühe wissenschaftliche Interesse schlug sich in der Sammlungspolitik von Bibliotheken und Archiven nieder.17 So wurden bereits in den 1960erJahren aufgrund des wissenschaftlichen Interesses an der popkulturellen Gegenwart nicht nur die etablierten, professionellen Fachzeitschriften und PopMagazine gesammelt, sondern von Beginn an auch die Organe der jugendlichen Protestkulturen (Subkulturen, Underground etc.) mit ihrer spezifischen Mischung aus Pop und Politik, auch wenn diese zu Beginn oft noch den Charakter eines Fanzines hatten und meist nur regional erschienen. Dementsprechend sind auch heute nahezu alle relevanten Zeitschriften und Magazine aus den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich in einer Vielzahl von USamerikanischen Bibliotheken und Archiven entweder gebunden oder auf Mikrofilm einzusehen. Besonderes Beispiel einer in Bezug auf Populärkultur und Popmusik außerordentlich gut ausgestatteten Bibliothek ist die der Bowling Green State University in Ohio, vor allem die Browne Popular Culture Library und die Music Library & Sound Recordings Archives.18 Üppig ausgestattet für die Erforschung von Popmusik ist auch die Archivlandschaft in den Vereinigten Staaten, von Stadt- oder Regionalarchiven wie etwa im San Francisco History Center als Teil der San Francisco Public Library, bis hin zum Archiv der Rock ‹n‹ Roll Hall of Fame in Cleveland.19 Schenkungen, 17 Bereits 1971 wurde in den USA die interdisziplinäre Popular Culture Association / American Culture Association (PCA/ACA) gegründet, mittlerweile eine Institution mit Tausenden von Mitgliedern und mehreren regionalen »Filialen«. Für weitere Informationen siehe URL: http://pcaaca.org/ [15. 05. 2014]. 18 Weitere Informationen unter URL: http://www2.bgsu.edu/colleges/library/ [15. 05. 2014]. 19 In Kalifornien als einem der Zentren der transnationalen Gegenkultur der 1960er-Jahre findet sich eine Fülle von Archiven zum Thema, besonders interessant sind The Digger Archives unter URL: http://www.diggers.org/ [15. 05. 2014]. Einen Überblick bieten unter anderem die Bibliothek der University of California at Berkeley unter URL: http://www.lib. berkeley.edu/find/types/archives.html [15. 05. 2014] oder auch das Online Archive of Cali-

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Die Music Library & Sound Recordings Archives der Bowling Green State University, Ohio. Hier nicht zu erkennen: sehr bunt. Foto: Alexander Simmeth.

Nachlässe oder Privatsammlungen aus dem Bereich der Populärkultur werden aktiv gesammelt, sind oft über das Internet recherchierbar und in der Regel der Forschung frei zugänglich, zunehmend auch in digitalisierter Form online verfügbar. Gesammelt werden Dokumente aus allen Bereichen, von Musikern und Tonmeistern, Produzenten und Managern, Veranstaltern und Musikjournalisten und vielen anderen Protagonistinnen und Protagonisten der Popmusikszene im weiteren Sinne. Dabei rückt für den Zeitraum der 1960er- und 1970er-Jahre immer wieder auch die enge Verwobenheit von Jugend- und Gegenkulturen mit Pop und Politik in den Blick. Sichtbar ist das auch in den beiden oben beispielhaft genannten, in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung vollkommen unterschiedlichen Archiven. Das regional ausgerichtete San Francisco History Center dokumentiert Popmusik als wesentlichen Faktor in der zentralen Rolle der Stadt bei der Ausbildung der transnationalen Gegenkultur während der 1960er-Jahre, das thematisch ausgerichtete Archiv der Rock ‹n‹ Roll Hall of Fame dokumentiert die Popmusik als revolutionär neuartige kulturelle Ausdrucksform in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Egal aus welchem Blickwinkel, Popmusik wird in der Forschung genauso wie in der Archivlandschaft der Vereinigten Staaten als integraler Bestandteil der jugendlichen Protestkulturen der 1960er- und 1970er-Jahre betrachtet. Abschließend soll nun von einigen symptomatischen Beispielen berichtet werden. Das erste Beispiel betrifft einen Fall in der Bundesrepublik: den Nachlass der Journalistin Ingeborg Schober aus München, die im Jahr 2010 verstorben ist. Schober war Zeitzeugin der späten 1960er- und 1970er-Jahre und vor allem eine bundesdeutsche Popjournalistin und Popautorin der ersten fornia unter URL: http://www.oac.cdlib.org/ [15. 05. 2014]. Einen USA-weiten Gesamtüberblick gibt URL: http://www2.archivists.org/ [05. 05. 2014].

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Stunde. Sie kannte eine Reihe der Protagonisten der frühen deutschen Popszene persönlich und hatte deren Werdegang über viele Jahre aus nächster Nähe publizistisch und oft auch persönlich mit verfolgt. Neben einer Reihe von Monographien hat sie in allen namhaften frühen Pop-Magazinen der Bundesrepublik und in diversen Tages- und Wochenzeitungen eine unüberschaubare Anzahl von Artikeln zum Thema verfasst, oft auch über den transnationalen Charakter des Phänomens.20 Viele Jahre arbeitete sie zudem als Popjournalistin für den Bayerischen Rundfunk in München. Ingeborg Schobers Nachlass, einzigartiges Dokument der frühen bundesdeutschen Popkultur und Popmusik, insbesondere auch der Münchner Szene, wurde nach ihrem Tod verschiedenen Archiven in München als Schenkung angeboten. Es bestand kein Interesse. Kurz danach fiel der größte Teil des Bestandes während der Zwischenlagerung einem Wasserschaden zum Opfer und ist verloren. Das zweite Beispiel ist etwas erfreulicher. Der Zeitzeuge, Sammler und Autor Uwe Husslein aus Köln ist Eigentümer einer Popkultursammlung, die in Deutschland sowohl in Bezug auf ihre thematische Breite, als auch in Bezug auf ihren Umfang wohl ihresgleichen sucht. Sie umfasst aus den 1960er- und 1970erJahren (und darüber hinaus) Plakate und Poster, Unmengen an grauer Literatur und Zeitschriften aus den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik, die in großen Teilen in keinem bundesdeutschen Archiv und keiner Bibliothek zu finden sind, darüber hinaus Filmaufnahmen, Fotos, Bücher und vieles andere mehr.21 Der gesamte Bestand ist systematisch erfasst und lagert über mehrere Orte verteilt in Köln.22 Husslein versucht seit Jahren, den Bestand zu verkaufen – bisher ohne Erfolg. Einzig das Stadtarchiv Köln war – wie sich wenig später herausstellte, zum Glück – nur an einem kleinen Teil der Sammlung mit besonderem Lokalbezug interessiert. Dieser Teil ist mit dem Einsturz des Archivs im Jahr 2009 verloren gegangen. Der große Rest harrt weiterhin der Abgabe an ein oder mehrere Archive oder Museen. Die wertvollen und gepflegten Bestände sind der Öffentlichkeit und der Forschung also nicht zugänglich, scheinen aber wenigstens in ihrem Bestand vorerst gesichert. 20 Schober berichtete ausführlich über die damaligen Zentren der europäischen Popkultur, Amsterdam und London, sowie nach ausgedehnten Reisen auch über US-amerikanische Popmusik-Szenen. Ihre meistzitierte Monographie ist Ingeborg Schober: Tanz der Lemminge. Amon Düül, eine Musikkommune in der Protestbewegung der 60er Jahre, Reinbek bei Hamburg 1979. 21 Teile des Bestandes wurden auf diversen Ausstellungen gezeigt, zum Beispiel »Außerordentlich und obszön. Rolf Dieter Brinkmann und die Popliteratur«, Kunsthaus Rhenania Köln, 29.09.–19. 11. 2006; oder im Rahmen der Reihe »Pop am Rhein« (2007 und 2008); oder auch »Politik, Pop und Afri-Cola: 68er Plakate«, eine Ausstellung des Deutschen Plakat Museums im Museum Folkwang, 12.01. –16. 03. 2008. 22 Der Bestand erscheint in verschiedenen Zusammenhängen mitunter als »Popkomm-Archiv« oder unter anderen Bezeichnungen.

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Zuletzt ein vergleichendes Beispiel aus den USA: Archie Patterson aus Portland, Oregon agierte in den 1970er-Jahren in Kalifornien und Oregon als Autor, Journalist und Radiomoderator. Zudem war er bei einem kleinen Unternehmen beschäftigt, das auf den Import von europäischen Schallplatten aus dem Bereich Popmusik spezialisiert war. Bereits früh, noch bevor sich die großen Importfirmen und die großen Musikkonzerne ab etwa 1974 für Krautrock zu interessieren begannen, importierte Patterson die experimentelle bundesdeutsche Popmusik in die Vereinigten Staaten. Zudem sorgte er mit einer Radiosendung ab 1971 sowie vor allem mit einem zunächst in sehr kleinem, aber stetig wachsendem Rahmen produzierten und vertriebenen Fanzine Eurock ab 1973 als einer der ersten Multiplikatoren für die Verbreitung von Krautrock an der Westküste der USA.23 Nach einem Hinweis bemühte sich das Archiv der Rock’n’ Roll Hall of Fame in Cleveland, Ohio umgehend um die Akquirierung des Bestandes, der nun dort archiviert und der Forschung frei zugänglich ist. Es handelt sich in erster Linie um die originalen Exemplare des Fanzines, sowie Fotos, Korrespondenzen und Anderes mehr. Das Fazit nach knapp zwei Jahren Popmusikforschung fällt mit Blick auf die Bundesrepublik letztendlich gemischt aus. Zwar gibt es auch hierzulande vor allem mit den drei oben genannten Archiven außerordentlich kompetente und in Anbetracht der oft spärlichen finanziellen und räumlichen Mittel sehr gut ausgestattete und sortierte Anlaufstellen. Allerdings führen Geld-, Platz- und / oder Personalmangel dazu, dass die vorhandenen Bestände kaum erweitert werden können und Angebote potentieller Spender oft ausgeschlagen werden müssen. Vor allem – aber nicht nur – trifft das auf die aus historischer Perspektive besonders interessanten ungedruckten Quellen zu, etwa auf die beschriebenen Nachlässe und Privatsammlungen aus der Popmusikszene. Vermittlungsversuche scheitern noch heute viel zu oft nicht nur an fehlendem Platz oder fehlendem Geld, sondern oft auch schlicht an fehlendem Interesse – wobei meist ein Bündel verschiedener Faktoren ineinander greift. Popkultur gilt vielen Verantwortlichen in der Bundesrepublik nach wie vor höchstens als Beiwerk oder Begleiterscheinung, ihrer entscheidenden Rolle als integraler Bestandteil der Jugend- und Protestkulturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und besonders der kulturellen, aber auch sozialen und politischen Umbrüche in den »langen 1960er-Jahren« wird, so scheint es, oft nach wie vor zu geringe Bedeutung beigemessen. Es bleibt zu hoffen, dass sich ein Sammlungsinteresse entwickelt, das auch hierzulande der zentralen Bedeutung von Popkultur und Popmusik gerecht wird. 23 Für weitere Informationen siehe URL: http://www.eurock.com [15. 05. 2014], einen Überblick des Fanzines gibt es unter URL: http://www.eurock.com/Display.aspx?Content=Eu rockCVRS.aspx [05. 05. 2014] zu sehen.

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Jugendkultur – Jugendbewegung – Soziale Bewegungen

»Das Private ist politisch!« – das war einer der zentralen Slogans der neuen sozialen Bewegungen, die sich in der Folge der antiautoritären Revolte in den 1960er-Jahren entwickelten.1 Dahinter steht ein neuer Politikbegriff, in dem Politik nicht mehr ausschließlich auf die öffentliche Sphäre beschränkt ist. Was zunächst nur wie eine Erweiterung des traditionellen Politikbegriffs erscheint, ist aber viel mehr : Die Ausdehnung des Politischen auf das Private ist ein eklatanter Widerspruch zum ursprünglichen Begriff des Politischen. In der antiken Polis, von der er herstammt, definierte sich das Politische geradezu dadurch, dass es strikt von der privaten Sphäre getrennt war. Der polites, der im öffentlichen Raum agierende Bürger, war der direkte Gegenentwurf zum idiotes, dem reinen Privatmenschen. Was man häufig als Definition des Menschen bei Aristoteles missversteht, dass nämlich der Mensch ein zoon politikon sei, ist in Wahrheit eine normative Setzung: Das Individuum ist für Aristoteles erst dann Mensch, wenn es in den öffentlichen Raum tritt, sich am gesellschaftlichen Diskurs beteiligt und Verantwortung für das Gemeinwesen übernimmt. Wer von diesem öffentlichen Raum ausgeschlossen ist – Frauen, Sklaven, je nach Verfassung auch Handwerker –, ist im Sinne dieser Definition kein Mensch. Dem Wortsinn nach ist es also ein Paradoxon, wenn in der angeführten Parole behauptet wird, dass das Private politisch sei. Zumindest aus der Perspektive eines traditionellen Politikbegriffs ist das Private ein vorpolitischer Raum, der anderen Gesetzen gehorcht als die politische Sphäre. In der gesellschaftlichen Sphäre der Politik werden die Verhältnisse durch bewusste Entscheidung geregelt, wobei die Modi der Regelung selbst wieder Teil der Verhandlungen sind. Die vorpolitische Sphäre des Privaten hingegen ist durch kulturelle Traditionen und überkommene Werte geprägt, die zunächst einmal nicht verhandelbar sind. 1 Der Slogan geht auf eine Rede Helke Sanders 1968 zurück. – Helke Sander : Rede des »Aktionsrates zur Befreiung der Frauen« bei der 23. Delegiertenkonferenz des »Sozialistischen Deutschen Studentenbundes« (SDS) im September 1968 in Frankfurt, in: Rudolf Sievers (Hg.): 1968 – Eine Enzyklopädie, Frankfurt a. M. 2004, S. 372 – 378.

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Zwar unterliegen beide Sphären zwangsläufig einem historischen Wandel, doch vollzieht sich dieser Wandel auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Und um diese Differenzen soll es im Folgenden gehen. Denn auch für die Sammlungstätigkeit unserer Archive ist es nicht unerheblich, wie wir die Bewegungen einschätzen, deren Geschichte wir mit unseren Sammlungen für die nachfolgenden Generationen bewahren wollen. Sehen wir sie primär als kulturelle Bewegungen, wird unser Sammlungsschwerpunkt anders aussehen, als wenn wir sie in erster Linie als politische Bewegungen ansehen. Doch diese Unterscheidung ist gar nicht so einfach, denn wir stehen vor dem Paradoxon, dass die gesellschaftlichen Phänomene, um die es uns geht, gar nicht so eindeutig trennscharf als entweder kulturelle oder aber politische zu identifizieren sind. Und deshalb soll hier zunächst einmal versucht werden, die Begriffe etwas präziser zu fassen.

»Das Private ist politisch« Kehren wir zu diesem Zweck noch einmal zurück zu der Parole »Das Private ist politisch!«. Tatsächlich steckt auch hinter diesem Slogan eine normative Setzung, ganz analog zu Aristoteles’ Definition des Menschen als zoon politikon. Diese Parole wurde nicht umsonst zunächst von der Frauenbewegung formuliert: Es ging dabei darum, denjenigen, die aus der öffentlichen Sphäre verbannt worden waren, den Frauen, den Zugang zur Öffentlichkeit zu ermöglichen. Der zweiten Frauenbewegung, die in den 1960er-Jahren entstand, ging es, anders als ihrer Vorläuferbewegung Ende des 19. Jahrhunderts, nicht mehr darum, dass Frauen dieselben politischen Rechte haben sollten wie die Männer.2 Auch wenn es durchaus noch juristische Restriktionen gab, waren Frauen zumindest formal gleichberechtigt. Es hinderte sie nichts und niemand daran, politisch aktiv zu werden. Zumindest theoretisch. Doch eben auch nur theoretisch. Denn in der Praxis war es für Frauen ungleich schwerer als für Männer, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen: Spätestens in dem Augenblick, in dem sie Mütter wurden, griffen dann doch wieder Ausschlussmechanismen, die der formellen Gleichheit hohnlachten. Abstrakter formuliert: Die rein formale politische Gleichberechtigung stieß an kulturelle Grenzen. Denn das Familienbild der Zeit schloss, wie bereits zu Aristoteles’ Zeiten, Frauen faktisch von der Öffentlichkeit aus. Der Anspruch, 2 Vgl. zuletzt Kristina Schulz: Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968 – 1976, Frankfurt a. M. 2002. – Ilse Lenz (Hg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Ausgewählte Quellen, Wiesbaden 2009.

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dass Frauen politische Individuen sein können, hat also Voraussetzungen, die außerhalb der eigentlichen Sphäre der Politik liegen. Die Parole ist eine Parole, die nicht nach politischen Veränderungen ruft, sondern eine Parole, die einen kulturellen Wandel einfordert. Konkret sollte die geschlechtsspezifische Rollenaufteilung aufgebrochen werden, die die Frauen in den privaten Bereich einsperrte, während den Männern die Öffentlichkeit vorbehalten blieb. Wenn die Frauen den öffentlichen Raum erobern wollten, dann, so begriff die neue Frauenbewegung in den 1960er- und 1970er-Jahren, konnten die Sphären des Privaten und des Öffentlichen nicht mehr in der traditionellen Art und Weise geschieden bleiben. Die formale politische Emanzipation musste zwangsläufig durch eine andere, tiefer reichende Art der Emanzipation ergänzt werden. Es hatte nicht gereicht, die Gesetze so zu ändern, dass Frauen prinzipiell am öffentlichen Leben teilnehmen konnten. Es mussten auch die eingeschliffenen kulturellen Traditionen verändert werden, die Frauen auf nichtöffentliche Bereiche einengte. Die Frauenbewegung ist hier natürlich nur ein Beispiel, aber eines, an dem man sehr klar sieht, dass Bewegungen, gerade auch solche, die in ihrem Handeln auf eine Veränderung der Gesellschaft zielen, anders funktionieren als politische Organisationen. Primärer Adressat einer politischen Partei oder auch einer politischen Kampagne ist das Gefüge der Institutionen. Ziel politischen Handelns ist es, im Rahmen dieser Institutionen und ihrer Regeln Veränderungen durchzusetzen. Faktisch heißt das normalerweise, eine bestimmte Gesetzeslage zu ändern. In der Frauenbewegung gab es dies durchaus auch: Die Kampagne für die Abschaffung des § 218 lässt sich in einem ganz klassischen Sinn als politische Kampagne begreifen. Sie wurde in der Öffentlichkeit geführt und zielte, über die Beeinflussung des Parlaments, auf die bestehende Gesetzeslage. Das ist aber eine völlig andere Art gesellschaftsverändernden Verhaltens als die, die in der Parole »Das Private ist politisch« zum Ausdruck kommt. Wir haben es also mit zwei Modi der Gesellschaftsveränderung zu tun, die, wenn sie sich auch nicht unbedingt widersprechen, doch zumindest parallel zueinander verlaufen. Und um hier einmal terminologische Pflöcke einzuschlagen, will ich das eine im Folgenden als »politisches Handeln« bezeichnen, das andere als »kulturrevolutionäres Handeln«. Es erscheint mir, wenn wir Jugendbewegungen oder neue soziale Bewegungen begreifen wollen, eminent wichtig, diesen Unterschied klar herauszuarbeiten. Politisches Handeln unterscheidet sich grundlegend von kulturrevolutionärem Handeln, weil es sich auf völlig unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche bezieht. Politisches Handeln richtet sich, wenn es sich nicht als revolutionär versteht und die gesamte politische Verfassung umstürzen will, ganz prinzipiell an die

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bestehenden Institutionen, die gesellschaftlich relevante Entscheidungen treffen können. Doch der gesellschaftliche Bereich, in den diese Institutionen eingreifen können, ist beschränkt. Es ist der Bereich, der überhaupt durch Gesetze geregelt werden kann. Es gibt aber ganz bestimmte gesellschaftliche Bereiche, aus denen sich die Politik klar heraushalten sollte. So absurd die künstlich hochgekochte Empörung über den grünen Veggie-Day war, so traf sie dennoch etwas Richtiges: Die Essgewohnheiten der Menschen gehören definitiv nicht in den Bereich dessen, was Politik zu regeln hat.

Der Bereich der Kultur Diesen anderen Bereich der gesellschaftlichen Regeln und Verhaltensweisen, der eben nicht politisch zu regulieren ist, nennen wir den Bereich der Kultur. Der Begriff leitet sich bekanntlich vom lateinischen cultura ab, ein Begriff, der in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes den Ackerbau meinte. Kultur bezeichnet somit zunächst einmal ein menschliches Handeln, durch das sich die Menschen zwar von der ursprünglichen, rohen Natur absetzen, das aber weiter an die Natur und deren Zyklen gebunden ist. Es handelt sich um überlieferte Handlungsweisen, Traditionen, Formen des Verhaltens, die für den Einzelnen nicht weiter hinterfragbar sind. In eine bestimmte Kultur wird man hineingeboren und -sozialisiert; sie ist ein Tatbestand, über den der Einzelne nur sehr bedingt eine Verfügungsgewalt hat. Kultur ist also etwas, das zwar durch das Handeln der Menschen hervorgebracht wird, aber eben nur begrenzt bewusst, sondern vor allem in einem evolutionären Prozess, der das ganze Kollektiv, die Gesellschaft umgreift. Und als ein solches Gesellschaftliches entzieht es sich dem willkürlichen Zugriff des Einzelnen. Kultur ist also, um einen Begriff von Marx etwas zu überdehnen, eine Form zweiter Natur. Und ich will hier eine These wagen, die den Bereich des Politischen von dem des Kulturellen nicht nur scheidet, sondern eine Hierarchie einzieht: Die kulturelle Sphäre ist der politischen Sphäre vorgeordnet. Sie bildet den Rahmen, innerhalb dessen bestimmte Dinge überhaupt politisch zu entscheiden sind. Kultur ist nicht einfach ein Sammelsurium von Traditionen und Bräuchen, von Essensgewohnheiten und Kleidungsvorschriften, sondern auch und vor allem ein Kanon von Werten. Und diese Werte bestimmen den politischen Entscheidungsspielraum. Werte sind nicht politisch verhandelbar, sondern setzen die Rahmenbedingungen für politische Entscheidungen. Damit sind eine bestimmte Kultur und der in sie eingeschriebene Wertekanon vorpolitisch. Politik lotet dann die Verhandlungsspielräume aus, die innerhalb der Grenzen, die durch den kulturellen Wertekanon gezogen werden, möglich sind. Auch das lässt sich wieder an der Frauenbewegung gut verdeutlichen. Bei

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ihrem wesentlichen politischen Anliegen, der Abschaffung des § 218, scheiterte sie letztendlich daran, dass sie sich gegen den Wertekanon, der durch den christlichen kulturellen Hintergrund gesteckt wird, politisch nicht durchsetzen konnte. Doch auf der kulturellen Ebene erreichte die Frauenbewegung ohne jeden Zweifel wichtige Veränderungen. Heute wird es beispielsweise nicht mehr als Norm angesehen, dass Frauen keine Berufsausbildung brauchen, weil sie später sowieso ihre Erfüllung in einer Tätigkeit als Hausfrau finden. Die Politik hingegen reagiert auf derartige kulturrevolutionäre Veränderungen mit deutlicher Verspätung. Um im Beispiel zu bleiben: Erst im Jahr 1977 wurde folgender Passus aus dem bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen: »Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist«. Allerdings ist diese Vorstellung, dass es so etwas wie einen kulturellen Wandel überhaupt gibt, historisch ein recht junges Phänomen. Über lange Zeiten der Menschheitsgeschichte wurden die kulturelle Prägung und der damit einhergehende Wertekanon überhaupt nicht in Frage gestellt. Und zwar aus dem ganz einfachen Grund, weil sie gar nicht als etwas historisch Gewordenes begriffen wurden. Die jeweilige Kultur mit ihren Gebräuchen, Sitten und Werten war einfach da, so wie die Natur da war. Mit anderen Worten: Eine bewusste Distanzierung von der eigenen Kultur lag nicht einmal innerhalb des Denkmöglichen. Und so ist die Infragestellung der eigenen Kultur, ihre historische Relativierung eine sehr junge Erscheinung, die man wohl ins 18. Jahrhundert datieren muss. Erst damals verbreitete sich die Ansicht, dass die ungeschriebenen gesellschaftlichen Regeln und Werte ein bestimmtes Maß an Willkür aufweisen und dass auch ganz andere Regeln gelten könnten. Denn damit ein solches reflektiertes Verhältnis zur eigenen Kultur überhaupt möglich ist, bedarf es einiger Voraussetzungen, die keineswegs trivial sind. Eine dieser Voraussetzungen ist, dass die Existenz fremder Kulturen zur Kenntnis genommen wird, in denen ganz andere Regeln gelten als in der eigenen. Im Gegensatz zu dem, was man vielleicht meinen könnte, reicht dies aber keineswegs aus. Bereits der griechischen Antike war es wohl bekannt, dass es andere Kulturen mit anderen Sitten, Ritualen und Werten gab. Doch diese fremden Kulturen wurden unter dem Sammelbegriff der barbaroi, der Barbaren, subsumiert. Während die eigene Kultur und die damit einhergehenden Werte als unvermittelt richtige angesehen wurden, waren die Kulturen der anderen einfach rückständig, primitiv, eben noch nicht auf dem eigentlich menschlichen Stand. Fremde Kulturen wurden erst zu dem historischen Zeitpunkt als Exempel alternativer Verhaltensweisen herangezogen, als die eigene Kultur anfing, innere Widersprüche aufzuweisen, als sich im Inneren der eigenen Gesellschaft zwei verschiedene Kulturen mit unterschiedlichen Traditionen und Verhaltensweisen

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gegenüberstanden und jeweils die Hegemonie beanspruchten. Und so wurde im 18. Jahrhundert, im Vorfeld der Französischen Revolution, ein innerer Kulturkampf ausgetragen. Nach einem langen Anlauf, der im 15. Jahrhundert begann, stand dreihundert Jahre später der aristokratisch-klerikalen Kultur des Absolutismus die bürgerliche Kultur der Aufklärung gegenüber.3 Ich will das hier gar nicht weiter vertiefen. Wichtig ist mir vor allem, dass dieser Widerspruch zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen es überhaupt ermöglichte, gesellschaftliche Traditionen und Regelwerke in Frage zu stellen, weil letztlich ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen gefunden werden musste. Der eigentliche Clou der Aufklärung war es, einige wenige, unveräußerliche Werte zu definieren – die Menschenrechte. Auf Basis dieser sehr abstrakten Werte sollte es dann möglich sein, innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche Kulturen mit voneinander abweichenden Wertvorstellungen zu integrieren, so lange diese Grundwerte anerkannt wurden. Und dies ist die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt so etwas wie Jugendkulturen gibt. Denn Jugendkulturen verstehen sich primär nicht so sehr als politische, sondern als kulturelle Opposition. Sie stellen die Werte der Mehrheitskultur als universell gültige in Frage und setzen ihr andere Werte entgegen. Und diesen Charakter einer kulturellen Opposition haben die Jugendkulturen unabhängig davon, ob sie sich nun auch noch zusätzlich als politische Opposition verstehen oder nicht.

Jugendkulturen Es ist deshalb auch nicht weiter verwunderlich, dass die ersten Vorläufer dessen, was man als Jugendkultur bezeichnen kann, ebenfalls in diese Zeit zurückreichen. Ich denke, dass es durchaus legitim ist, die Bewegung des Sturm und Drang in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dann deren Fortsetzung in der Bewegung der Romantik als Frühformen von Jugendbewegung zu interpretieren. Es ist – dies nur nebenbei bemerkt – dann auch kein Zufall, dass sich diese frühen Jugendkulturen nicht primär in Bezug zur politischen Sphäre setzten, sondern sich vielmehr an der sich herausbildenden künstlerischen BohÀme orientieren, die ihre erste Organisationsform darstellte. Natürlich unterschieden sich diese Bewegungen in einem wesentlichen Punkt von dem, was wir heute landläufig unter Jugendkultur verstehen: Sie waren auf einen winzigen Teil der Gesellschaft beschränkt. Für den Großteil der Bevölkerung gab es im 18. und 19. Jahrhundert so etwas wie »Jugend« überhaupt nicht, für sie ging die Kindheit sofort in das Erwachsenenalter über. Nur dort, wo 3 Vgl. hierzu Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962.

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Broschüre des Frauenzentrums Nürnberg. Quelle: Bestand des Archivs Soziale Bewegungen e.V. (Bro 7.0.1.92)

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es einen sozial nicht klar definierten Bereich des Übergangs, einen biographischen Zeitabschnitt gibt, in dem die eigene gesellschaftliche Rolle noch undefiniert ist, kann sich so etwas wie eine Jugendkultur herausbilden. Die Brutstätte solcher frühen Jugendbewegungen war dementsprechend das Studentenmilieu; zum Teil rekrutierten sie sich auch aus der Schicht der jungen Aristokratie, die für eine gewisse Zeit von ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen freigestellt war. Was diese frühen Jugendbewegungen allerdings mit den meisten späteren gemeinsam hatten, ist der Gestus der Rebellion. Er richtete sich gegen den gesellschaftlichen Konsens, gegen die etablierte Kultur, die provokativ in Frage gestellt wurde. Das erhellt noch einmal, warum der bereits beschriebene Kulturrelativismus der Aufklärung eine notwendige Voraussetzung von Jugendkulturen ist. Es muss bereits denkmöglich sein, die Kultur, in die man hineingeboren wurde, zu hinterfragen. Jeder Jugendkultur liegt die mehr oder minder explizite Annahme zu Grunde, dass Kulturen historisch geworden sind und damit auch aktiv verändert werden können, indem man ihnen andere Werte und Rituale entgegensetzt. Und dieser Gestus der Rebellion gibt den Jugendkulturen oft genug auch den Anschein des Politischen, indem sie von ganz grundlegenden Umwälzungen der Gesellschaft träumen und sich damit in Bezug zu revolutionärer Bewegungen setzen – doch dazu gleich mehr. Zunächst einmal muss darauf hingewiesen werden, dass Jugendkulturen nicht die Eigenständigkeit haben, wie sie etwa die Aufklärung im Kulturkampf gegen die klerikal-aristokratische Kultur des Ancien R¦gime vorzuweisen hatte. Jugendkultur ist ganz wörtlich Subkultur, der Mainstreamkultur untergeordnet, gegen die sie opponiert. In ihrer Opposition ist sie ex negativo an die Kultur gefesselt, aus deren Ablehnung sie sich speist. Das ist kein Wunder. Wenn, wie Marx meinte, die jeweilige Kultur einer Gesellschaft davon abhängig ist, wie der Produktionsprozess dieser Gesellschaft strukturiert ist, dann kann die Jugendkultur auch keinen eigenständigen Gegenentwurf hervorbringen, sondern bleibt zwangsläufig innerhalb der Grenzen, die vom jeweils historisch etablierten Produktionsprozess gesteckt werden. Doch innerhalb dieses Rahmens ist eine ziemliche Bandbreite jugendkulturellen Protestes möglich. Ja, die Jugendbewegungen dienen als Seismograph für tektonische Verschiebungen im kulturellen Wertegefüge, die sich in der Folge tieferliegender gesellschaftlicher Veränderungen ergeben. Deshalb ist ein typisches Charakteristikum von Jugendkulturen der Gestus der Rebellion. Jugendkulturen stellen die Werte in Frage, die in der jeweiligen Mehrheitskultur herrschen. Die Mittel allerdings, diese Werte in Frage zu stellen, sind zunächst einmal keine unmittelbar politischen. Nach dem, was ich bislang ausgeführt habe, ist das auch nicht weiter verwunderlich: Werte stecken den Rahmen für politische Auseinandersetzung ab; sie können eigentlich nicht

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selbst Gegenstand politischer Auseinandersetzung sein. Die Rebellion gegen Werte nimmt deshalb andere, vorpolitische Formen der Auseinandersetzung an. Und die unmittelbare und ursprüngliche Art und Weise, die Werte der Mehrheitsgesellschaft in Frage zu stellen, ist ganz einfach, die anderen Werte, die man vertritt, zu leben. Oder besser noch: vorzuleben. Durch das eigene Verhalten wird bezeugt, dass man für die eigenen Werte einsteht. Authentizität durch Zeugenschaft ist das, was Jugendkulturen zunächst auszeichnet.4 Dieses Beharren auf Authentizität liegt vor allem daran, dass die Werte, für die Jugendkulturen einstehen, keineswegs eigenständig sind. Die bürgerliche Kultur, die im 18. Jahrhundert die klerikal-aristokratische Kultur des Absolutismus herausforderte, hatte sich, zusammen mit einer neuen Produktionsweise, über mehrere Jahrhunderte hinweg entwickelt. In der bürgerlichen Revolution standen sich deshalb zwei wirklich unterschiedliche Wertesysteme gegenüber. Jugendkulturen hingegen können überhaupt keine eigenen Wertesysteme entwickeln, sondern bleiben weitgehend an die herrschenden Wertesysteme gefesselt. Deshalb vertreten sie eigentlich auch keine wirklich neuen Werte, sondern nehmen bestehende Werte auf, um sie auf charakteristische Weise zu transformieren. Dabei lassen sich zwei Modi unterscheiden, die meist auch chronologisch aufeinander folgen. Der erste Modus ist der der Zuspitzung. Man konfrontiert die Mehrheitsgesellschaft mit ihrem eigenen Wertekanon, indem man ihr vorwirft, dass sie diesen permanent verwässert und verrät. Man klagt sie an, sie sei unauthentisch, spießig und verlogen, vertrete ihre eigenen Werte nur in Sonntagsreden, verstoße ansonsten aber permanent gegen sie. Diesen Modus der Zuspitzung finden wir beispielhaft in der Mitte der 1960er-Jahre. Die anfänglichen Proteste gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze oder die alten Nazis in den gesellschaftlichen Institutionen mobilisierten die im Gemeinschaftskundeunterricht vermittelten Werte gegen die Realität des kalten Krieges in der westlichen Nachkriegsgesellschaft. Bekanntlich blieb es nicht bei dieser Konfrontation der Nachkriegsgesellschaft mit ihren eigenen Werten. Die Mehrheitsgesellschaft empfand diese Konfrontation als Provokation, auf die sie mit heute kaum nachvollziehbarer Aggressivität antwortete. Die Bewegungen reagierten darauf, indem sie die unabsichtliche Provokation der Zuspitzung durch bewusste Provokation ersetzten. Die Werte wurden nun nicht mehr nur zugespitzt, sondern umgekehrt: Statt dass man die tatsächliche Umsetzung der westlichen parlamentarisch-

4 Beispielhaft kann hier die Punk-Bewegung genannt werden; vgl. etwa Martin Büsser : »…if the kids are united…«. Von Punk zu Hardcore und zurück, 2. Aufl. Mainz 1995 oder Thomas Lau: Die heiligen Narren. Punk 1976 – 1986, Berlin, New York 1992.

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demokratischen Werte forderte, konfrontierte man die Gesellschaft mit der Forderung nach einer kommunistischen oder anarchistischen Revolution. Tatsächlich war bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein die einzige Verbindung der subkulturellen Rebellion zur Sphäre der Politik über die Revolution gegeben. Das Streben nach Authentizität drängte Jugendkulturen immer wieder in den Dunstkreis revolutionärer politischer Bewegungen. Beispielhaft finden wir das schon in der Romantik, die sich zumindest in Teilen stark mit nationalrevolutionären Bestrebungen identifizierte: Man denke nur an Byrons Begeisterung für den griechische Befreiungskampf gegen die Türken, die ihn das Leben kosten sollte. Der jugendkulturelle Gestus der Rebellion eignete sich nicht dazu, sich mit dem politischen Tagesgeschäft zu verbinden. Wo aber der Umsturz der ganzen Gesellschaft propagiert wurde, konnte auch die jugendliche subkulturelle Protestbewegung andocken. Diese Begeisterung für den kompletten Umsturz der Gesellschaft ist eine mögliche Ausprägung für den zweiten Modus der Jugendbewegungen, den der Blasphemie. In diesem Modus werden die herrschenden Werte dadurch herausgefordert, dass ihr genaues Gegenteil propagiert wird. Alles das, wovor einen die ältere Generation gewarnt hatte, wird nun freudig umarmt. Das reicht dann von tatsächlicher Blasphemie, mit der religiöse Werte angegriffen werden, bis eben zur Propagierung des kompletten gesellschaftlichen Umsturzes. Sehr viel von dem, was sich ab Ende der 1960er-Jahre den Anschein politischen Handelns gab, lässt sich in Wahrheit dem vorpolitischen Raum kulturrevolutionären Aufbegehrens zuordnen. Genuin politische Kampagnen wie die gegen die Notstandsgesetze bildeten die Ausnahme und waren zudem wenig erfolgreich. Effizienter und auf lange Sicht bedeutsamer waren kulturrevolutionäre Anstrengungen, wie etwa die Gründung von Kommunen oder Kinderläden.

Neue Soziale Bewegungen Was uns nun zu den sogenannten »Neuen Sozialen Bewegungen« bringt, die in den 1970er-Jahren das Erbe der 68er-Bewegung antraten.5 Diese führten ja, wie ich anhand der Frauenbewegung angedeutet habe, konkrete Auseinandersetzungen mit den etablierten politischen Institutionen. Im Gegensatz zu reinen Jugendkulturen, die sich, wenn überhaupt, politischer Symbolik nur im Sinn kultureller Zeichen bedienen, haben wir es hier mit Bewegungen zu tun, die zumindest teilweise genuin politisch agieren. 5 Zu den Bewegungen der 1970er-Jahre vgl. etwa Wolfgang Kraushaar, Daniel Cohn-Bendit und Peter Brückner : Autonomie oder Getto? Kontroversen über die linke Alternativbewegung, Frankfurt a. M. 1978.

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Punkrockfanzine ZAP. Quelle: Bestand des Archivs Soziale Bewegungen (Zeitschriften).

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Trotzdem verschleiert der Name »Neue Soziale Bewegungen« mehr, als er erhellt. Der Terminus wurde in den 1980er-Jahren von interessierten Sozialwissenschaftlern in die Welt gesetzt und suggeriert schon durch das angeblich »Neue« dieser sozialen Bewegungen, dass sie in einer wie auch immer gearteten Tradition zu irgendwelchen »Alten Sozialen Bewegungen« stünden. Tatsächlich gibt es eine »Alte Soziale Bewegung«, nämlich die Arbeiterbewegung; und die Namensgebung sollte den Anschein erwecken, die »Neuen Sozialen Bewegungen« hätten das Erbe der Arbeiterbewegung angetreten. Tatsächlich stimmt daran so gut wie gar nichts. Die Arbeiterbewegung war eine Bewegung, in der sich eine gesellschaftlich klar abgegrenzte Klasse bestimmte politische und soziale Rechte erkämpfte. Für die »Neuen Sozialen Bewegungen« gilt das nur in einem sehr eingeschränkten und von den Bewegungen selbst eher unter den Teppich gekehrten Sinn: Es waren, cum grano salis, eher Bewegungen des akademischen Mittelstandes. Und es ging ihnen – zumindest explizit – selbstverständlich nicht um die Rechte dieses akademischen Mittelstandes. Ilse Bindseil hat deshalb schon Mitte der 1980er-Jahre zurecht bemerkt: »Die angesprochenen zeitgenössischen Bewegungen […] haben zwar unendliche soziale Implikationen und Folgen […] aber ihr Bestimmungsgrund ist doch eher anthropologisch als sozial, und eher anthropologisch als sozial zu sein, heißt im Grunde ja nichts anderes, als genau das Gegenteil von sozial, nämlich anthropologisch sein!«6

Diese Bewegungen beriefen sich gerade nicht auf ihre eigene, je spezifische Rolle innerhalb der Gesellschaft. Die Interessen, die sie politisch artikulierten, sollten nicht ihre eigenen historisch-gesellschaftlich geformten Interessen sein. Vielmehr behaupteten sie, allgemein menschliche Interessen, ja, das Interesse der Menschheit per se zu repräsentieren. Damit aber stellten sie nicht nur genuin politische Forderungen, die im Rahmen der gegebenen kulturellen Werte zu verhandeln gewesen wären. Sondern sie übernahmen von den jugendkulturellen Bewegungen, aus denen sie erwuchsen, auch den Anspruch, die kulturelle Werteordnung selbst in Frage zu stellen. Tatsächlich drangen vermittels der neuen sozialen Bewegungen ebenso kulturrevolutionäre Techniken der Auseinandersetzung wie auch kulturrevolutionäre Ziele in die unmittelbar politische Sphäre ein. Das gilt insbesondere für die Teile der Bewegungen, die sich dann in der Partei Die Grünen organisierten.7 Diese Partei trat nicht nur mit dem Anspruch an, bestimmte, im politischen Prozess bislang nicht berücksichtigte Partikularinteressen zu vertreten – wie das 6 Ilse Bindseil: Narzißmus, Warenform und soziale Bewegungen, Vortrag auf dem Kongreß »Aktualität des Kommunismus« am 7. 12. 1985 in Freiburg i.Br., vervielfältigtes Typoskript, S. 2. 7 Zur Geschichte der Grünen vgl. Hubert Kleinert: Aufstieg und Fall der Grünen. Analyse einer alternativen Partei, Bonn 1992.

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etwa die alte Arbeiterbewegung getan hatte. Ihr ging es nicht nur darum, innerhalb des bestehenden kulturellen Rahmens bestimmte Interessen zu artikulieren, sondern um mehr : Den kulturellen Rahmen selbst zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung zu machen. Ein typisches Beispiel hierfür ist der bereits angeführte Veggie-Day aus dem jüngsten Wahlprogramm der Grünen. Ich denke, dass die völlig überzogene Diskussion, die im Wahlkampf über diesen absolut nebensächlichen Punkt hochkochte, als ein Symptom zu werten ist : Sie dokumentiert ein weit verbreitetes Unbehagen. Viele Menschen stoßen sich offensichtlich daran, dass kultureller Wandel und damit verbunden ein Wertewandel von den Grünen als Gegenstand politisch-administrativer Regulierung begriffen wird. Hinter diesem Unbehagen steckt natürlich auf der einen Seite der konservative Drang, die kulturelle Werteordnung unangetastet zu lassen. Doch das ist selbstverständlich nur ein frommer Wunsch. In dem Maße, in dem sich die Reproduktionsbedingungen einer Gesellschaft verändern, in dem Maße muss und wird sich auch der kulturelle Überbau umwälzen. Auf der anderen Seite stellt sich aber auch die Frage, ob dieses Unbehagen jenseits konservativer Beharrungskräfte nicht doch gerechtfertigt ist. Kann es wirklich wünschenswert sein, dass kultureller Wandel und damit auch gesellschaftlicher Wertewandel autoritär von oben, von Seiten politischer Institutionen »gestaltet« wird? Jugendliche Protestkultur hat, bis in die 1970er- und 1980er-Jahre hinein, den kulturellen Wandel der Gesellschaften außerparlamentarisch mitbestimmt. Dass es sich dabei um Jugendbewegungen handelte, ist kein Wunder : Diejenigen, die die gesellschaftlichen Normen noch nicht so verinnerlicht haben wie die Erwachsenen, sind eher in der Lage, die dem gesellschaftlichen Wandel geschuldete Unangemessenheit bestimmter kultureller Werte zu artikulieren. Damit waren die Jugendbewegungen für rund 200 Jahre Seismographen und Katalysatoren des kulturellen Wandels – im Guten wie im Schlechten. Inzwischen versucht die Politik selbst, den kulturellen Wandel zu gestalten. Dabei waren die Grünen nur der Vorläufer. Die parteiübergreifende Front zur Durchsetzung eines öffentlichen Rauchverbotes zeigt, dass dieser Anspruch längst auch in anderen Parteien angekommen ist. Ich bin mir, ehrlich gesagt, ziemlich unschlüssig darüber, wie ich die Tatsache bewerten soll, dass sich die politische Klasse inzwischen anmaßt, derartige Aufgaben in eigener Regie zu übernehmen. Ist es einfach der historische Lauf der Dinge, dass die politischen Institutionen in immer weitere gesellschaftliche Bereiche regelnd vorstoßen? Dann wäre es ein Kampf gegen Windmühlen, diese Tendenz aufhalten zu wollen, indem man dies als politischen Übergriff denunziert. Oder ist dieser Versuch, gesellschaftlichen

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Wertewandel mit politischen Mitteln zu steuern, vielmehr eine aussichtslose historische Verirrung, ähnlich den hilflosen Versuchen in den sogenannten realsozialistischen Systemen, einer renitenten Bevölkerung sozialistische Werte aufzuoktroyieren ? Schwer zu sagen.

Und die Archive? Was aber heißt dies für uns Archivare, die wir die Geschichte von Jugendbewegungen oder sogenannten »Neuen Sozialen Bewegungen« für die Nachwelt zu überliefern haben? In letzter Instanz sind wir immer gezwungen, Entscheidungen darüber zu treffen, was wir sammeln und was wir kassieren. Und das setzt Entscheidungen darüber voraus, wie wir die gesellschaftliche Bedeutung bestimmter Bewegungen einzuschätzen haben. Und wenn wir als Archivare unseren öffentlichen Auftrag ernstnehmen, kann diese Entscheidung eigentlich nur davon abhängen, welchen Einfluss die jeweilige Bewegung auf die Gesamtgesellschaft hat oder hatte und wie wir diesen Einfluss dokumentieren können. In dieser Entscheidungsfindung können wir auf zweierlei Weise irren. Im einen Fall extrem, wenn wir dazu neigen, die Bewegungen kulturalistisch zu verkürzen. Wenn wir die kulturellen Äußerungen einer Bewegung nur als interessante Folklore betrachten, dann werden wir uns eher auf Skurriles und Absonderlichkeiten konzentrieren. Wenn wir aber derartige Bewegungen als Seismographen kulturellen Wertewandels ansehen, dann müssen wir unser Augenmerk auf scheinbar unspektakuläre Äußerungen richten, die gerade die Schnittstellen zur Mehrheitsgesellschaft bilden. Dort dokumentiert sich oft Relevanteres als in irgendwelchen spektakulären Fundstücken. Um es beispielhaft zuzuspitzen: Die Protokolle von Elternabenden in einem Kinderladen sind für das Verständnis der gesellschaftlichen Veränderungen in den 1970er-Jahren wahrscheinlich bedeutsamer als eine Sammlung von Kassibern der RAF-Häftlinge in Stammheim.8 Der andere – und wahrscheinlich häufiger gemachte – Fehler ist die politizistische Verkürzung. Wenn man nur das als relevant ansieht, was einen messbaren Einfluss auf die politischen Institutionen hatte und die kulturellen Äußerungen als nettes, aber prinzipiell vernachlässigbares Beiwerk ansieht, geht man ebenso in die Irre. Wir machen das ganz gerne als Archivare, denn der 8 Vgl. dazu den Forschungsansatz von Meike S. Baader : dies.: »An den großen Schaufensterscheiben sollen sich die Kinder von innen und die Passanten von außen die Nase platt drücken«. Kinderläden, Kinderkulturen und Kinder als Akteure im öffentlich-städtischen Raum seit 1968, in: Meike Sophia Baader, Ulrich Herrmann (Hg.): 68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik. Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik, Weinheim 2010, S. 232 – 251.

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politische Bereich ist der, mit dem wir uns gut auskennen, weil er sich auf Papier niederschlägt. Die kulturelle Seite hingegen ist viel diffuser, flüchtiger. Hier müssen wir mit anderen Medien arbeiten: Fotos, Filmdokumente, Tonträger, Kleidung, Abzeichen und was es mehr in dieser Richtung gibt. Und es gibt ein weitere Quelle, die in Archiven fast immer vernachlässigt wird: Erinnerungen. Wie viele Zeitzeugeninterviews haben wir in unseren Beständen? Nicht, um Daten und Fakten zu dokumentieren. In dieser Hinsicht ist, nach einem benannten Bonmot, der Zeitzeuge der größte Feind des Historikers. Sondern um genau das zu dokumentieren, was papierene Quellen oft nur indirekt liefern: Gefühle, Stimmungen, Hoffnungen, Ängste. Mit anderen Worten: Wir müssen uns immer beides fragen. Welchen Anteil hat eine Bewegung am politischen Wandel? Und welchen am kulturellen Wertewandel? Nur so werden wir als Archivare die richtigen Entscheidungen treffen, um künftigen Generationen ein hoffentlich annähernd vollständiges Bild der Bewegungen zu überliefern, als deren Nachlassverwalter wir agieren.

Klaus Farin

Dolmetscher zwischen den Szenen und der Mehrheitsgesellschaft. Das Archiv der Jugendkulturen in Berlin

Entstanden ist das Archiv der Jugendkulturen e. V. schlicht aus dem Bedürfnis heraus, eine Einrichtung dieser Art zu haben, die es bisher nicht gab. Wer sich in Deutschland oder sonst in der Welt mit Jugendkulturen beschäftigen wollte – ob als SchülerIn oder Studierende, als Theaterautor oder Lehrerin, Journalist oder Mitarbeiterin der politischen Bildung, als DJane oder Wissenschaftler –, fand nirgendwo eine Einrichtung, die sich kontinuierlich mit Punk, Techno, HipHop, Skinheads, Grufties, Fußball- oder Science-Fiction-Fans beschäftigte und Material darüber zur Verfügung stellen konnte. Noch heute gibt es beispielsweise keinen einzigen Lehrstuhl für Jugendkulturen in Deutschland. Weder Sinus noch das Deutsche Jugendinstitut in München noch die AutorInnen der Shell-Jugendstudien noch irgendeine andere wissenschaftliche Einrichtung verfügen über umfassende Primärquellen der seit den 1950er- Jahren entstandenen Jugendszenen. Und die Medien? Sieht man einmal von kommerziellen Blättern für Jugendliche (Bravo etc.) ab, kommt »die Jugend« in mindestens 80 Prozent der Berichterstattung schlecht weg: Rechtsextremismus, Gewalt, Drogen-/Alkoholexzesse und Ähnliches sind die Schlagworte, unter denen Jugend in den Medien verhandelt wird. Das mag bei anderen Themen auch so sein – nur das Extreme, Negative ist eine Meldung wert –, doch bei Jugendlichen spitzt sich dieser übliche Medienmechanismus noch einmal radikal zu. Denn Jugendliche haben keine Lobby, können sich gegen diskriminierende und stigmatisierende Mediendarstellungen kaum wehren. So fällt, wenn über Techno berichtet wird, automatisch das Stichwort Ecstasy, als könne man die Musik nicht auch ohne Drogen ertragen; Grufties/Gothics, eine der friedlichsten Jugendkulturen überhaupt, finden in den Medien als »Satanisten« oder »Friedhofsschänder« ihren Niederschlag; Skinheads sind ausschließlich als Neonazis eine – bzw. dann: sehr viele – Meldung(en) wert, als gäbe es nicht auch antifaschistische Redskins, »unpolitische« Oi!-Skins oder jüdische Skinheads in Deutschland; Graffiti-Kunst findet ihr öffentliches Echo

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Klaus Farin

vor allem als »Vandalismus«, Emos sind alle selbstmordgefährdet und Black Metaller wahlweise Satanisten oder Neonazis oder beides zugleich. Wenn man bedenkt, dass die Medien für alle Altersgruppen in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger geworden sind und sogar Alltagserfahrungen dominieren, dennoch glaubenviele LehrerInnen und Eltern den regelmäßig neu aufgelegten Reports in Spiegel oder Focus über »steigende, brutalere, immer mehr Jugendgewalt« eher als allen wissenschaftlichen Studien, die genau das Gegenteil aussagen. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass sich das Jugendbild seit den 1960er-Jahren deutlich verschlechtert hat: Jugend ist nicht mehr Hoffnungsträger, »unsere Zukunft«, sondern Sicherheitsrisiko. Das sollte man ändern, dachte sich eine kleine Gruppe – zwei Pädagogen, ein Journalist, ein Kriminologe, ein Sozialwissenschaftler – bei Kaffee und Kuchen am Rande einer Tagung. Die Idee stand schnell: Es müsste eine Bibliothek geben, in der sich interessierte Menschen mit Informationen versorgen könnten, nicht nur mit wissenschaftlichen Arbeiten, sondern vor allem auch mit Primärquellen, mit authentischen Medien aus den Szenen selbst: Fanzines, Flyer, Tonträger, Videoproduktionen, T-Shirts … Aber es müsste auch Angebote für Menschen geben, die sich nicht extra auf den Weg an den Bibliotheksstandort machen wollen/können, also Bücher, Broschüren und Fortbildungsangebote. Ein Pool von sachkundigen ReferentInnen, möglichst sogar mit eigenem Szene-Background, wäre wichtig. Und natürlich müsste diese Einrichtung auch selber forschen, in die Szenen hineingehen, ihre gewonnenen Erkenntnisse aufbereiten, weitertragen, vielleicht sogar als Mittler bzw. Dolmetscher zwischen den Szenen und der Mehrheitsgesellschaft fungieren … Der Autor dieser Zeilen kehrte hochgradig motiviert in seine Stadt zurück, schrieb ein Protokoll, entwarf ein erstes Grundsatzpapier, sprach mit weiteren Menschen darüber und kündigte dem Vermieter seines bisherigen Büros an, dass er demnächst wohl größere Räume benötigen würde. Auch die anderen Mitstreiter waren in ihre Heimatstädte und an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt, empfingen die Post des Autors und stellten verdutzt fest, dass dieser es offenbar ernst meinte. Und reagierten erst einmal gar nicht mehr. Nur der Autor, seinerzeit ein durchaus nicht unterbezahlter Literaturkritiker, verpasste diese letzte Chance, aus seinem Traum aufzuwachen, spätestens an jenem Morgen, an dem er trotzig bei seiner Bank auflief und einen Kredit beantragte. Und das Wunder geschah – heute undenkbar : Die freundliche Sachbearbeiterin gewährte ihm nach Hinterlegung seiner Lebensversicherung 80 000 DM. Das Geld sollte gerade mal gut ein Jahr reichen. Aber immerhin: In diesem Zeitraum wurde ein Verein gegründet und bald als gemeinnützig anerkannt, eine Mitarbeiterin bezahlt und vor allem Räume angemietet. Die Eröffnungsparty am 18. Mai 1998 fand noch im kleinen Rahmen statt, doch immerhin ließen sich

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dabei bereits die ersten Szene-Angehörigen blicken und bekundeten ihr Interesse, ehrenamtlich oder in Form eines Praktikums mitzuarbeiten. Und dieses Engagement ist bis heute eine tragende Säule des Vereins. Denn dem Archiv der Jugendkulturen ist es bis heute nicht gelungen, eine Strukturförderung auf Dauer zu bekommen. Die Bundesregierung verweist an das Land Berlin, das Land Berlin an den Bund, dieser an die Kulturstiftung der Länder. Letzterer sind aber Jugendkulturen »nicht relevant genug für die Belange der Bundesrepublik Deutschland« und deshalb auch nicht förderungswürdig. Der Vorschlag, wir sollten es doch einmal bei der Bundeszentrale für politische Bildung versuchen, lief auch ins Leere, weil diese wiederum nur Projekte fördern darf, was sie auch gerne im Fall des Archiv der Jugendkulturen tut, aber eben keine Struktur. Heute hat der Verein rund 280 Mitglieder überwiegend aus dem universitären Bereich (ProfessorInnen wie Studierende) und der praktischen Jugendarbeit (Streetworker, Fan-Projekte, Jugendhäuser und -ämter etc.), aber auch DJs, Ärzte, christliche und andere Jugendverbände, Bibliotheken und LehrerInnen.

Publikationen Bis 2012 erschien mit dem Journal der Jugendkulturen eine eigene Fachzeitschrift, die im populärwissenschaftlich-journalistischen Stil die aktuelle Jugend (kultur)forschung, aber auch Entwicklungen in den Szenen kritisch begleitete und dokumentierte. Ein umfangreicher Serviceteil informierte in jeder Ausgabe über rund 80-100 Neuerscheinungen auf dem Fanzine-, Bücher- und audiovisuellen Medienmarkt. Doch schon die letzten Ausgaben des Journals konnten nur noch online zur Verfügung gestellt werden, da das Archiv sich den Luxus einer gedruckten Ausgabe nicht mehr leisten konnte.1 Anfang 2014 wurde schließlich entschieden, das Journal vorläufig ruhen zu lassen, da eine derart umfangreiche und anspruchsvolle Publikation nicht mehr ehrenamtlich realisiert werden konnte. Stattdessen werden nun zumindest die Rezensionen in einem neuen Blog publiziert.2 Doch vor allem veröffentlicht das Archiv der Jugendkulturen im hauseigenen Verlag pro Jahr etwa sechs Buchtitel – 78 sind es bis heute.3 Neben autobio1 Alle Ausgaben von Journal der Jugendkulturen sind verfügbar unter URL: http://shop.jugendkulturen.de/7-journal-der-jugendkulturen [08. 05. 2014]. 2 Siehe http://blogderjugendkulturen.wordpress.com/. 3 Hier erschien unter anderem der im Rahmen der Tagung und dieses Bandes viel zitierte Titel: Jürgen Bacia / Cornelia Wenzel: Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten; vgl. URL: http://shop.jugendkulturen.de/314-freie-archive-geschichte-von-unten. html [16. 05. 2014].

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graphischen Texten von Szene-Angehörigen, Romanen, Graphic Novels, Tagungs- und Ausstellungsbänden und den Ergebnissen der eigenen Forschung erscheint seit 2007 eine neue wissenschaftliche Reihe, in der ausschließlich Dissertationen, Diplomarbeiten und andere herausragende universitäre Arbeiten veröffentlicht werden. Ziel der wissenschaftlichen Reihe ist es, zum einen lohnenswerte Arbeiten junger WissenschaftlerInnen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, zum anderen, Studierende und junge ForscherInnen überhaupt zu motivieren, sich mit dem Thema Jugendkulturen wissenschaftlich zu befassen. – Deshalb zahlen die AutorInnen auch nicht, wie selbst in renommiertesten Verlagen üblich, für die Publikation ihrer Arbeit einen »Druckkostenzuschuss«, sondern sie erhalten schon für die Erstauflage ein garantiertes Honorar in Höhe von 1 000 Euro. Und immerhin errangen AutorInnen dieser Reihe mit ihren Veröffentlichungen schon mehrfach Wissenschaftspreise und Stipendien. Seit 2011 wird diese Reihe durch eine elektronische Schwester ergänzt. Denn immer wieder mussten wir hervorragende Manuskripte ablehnen, da ein kleiner Verlag wie der unsrige sich nicht mehr als zwei wissenschaftliche Titel pro Jahr mit den gesetzten Qualitätsstandards (großformatige Hardcover, alle Bände sind reichlich illustriert, oft in Farbe) leisten kann. Die E-Book-Reihe – mit bisher 10 Titeln – gleicht dieses Manko nun aus. Was für die Printreihe gilt, gilt auch für unsere E-Books: Sie werden unter der Fülle eingereichter Arbeiten – allein 2012/ 2013 waren es 56 – sorgfältig ausgewählt und lektoriert, die AutorInnen erhalten ein Garantiehonorar und werden am Umsatz beteiligt.4 Seit Juni 2012 sind auch die meisten anderen Verlagspublikationen als E-Books erhältlich – zu deutlich niedrigeren Preisen übrigens als die gedruckten Ausgaben. Denn wir wollen Wissen verbreiten – nicht verkaufen.

Die Themenauswahl Nach welchen Kriterien entscheidet ihr eigentlich, welche Themen ihr publiziert und was ihr archiviert? So lautet wohl eine der am häufigsten gestellten Fragen, oft gefolgt von: Welche Trends gibt es denn im Augenblick unter Jugendlichen? Um gleich die letzte Frage zu beantworten: gar keine. Oder : Hunderte. Beides befriedigt die Fragesteller in der Regel nicht wirklich. Doch so ist es nun einmal, »reality sucks«: Die Welt ist nicht mehr so schön geordnet, wie sie älteren Generationen zumindest im Rückblick auf ihre Jugend einmal schien. Tausende von Subkulturen, Szenen, Lebensstilen, Moden und Hypes bevölkern inzwischen diesen Planeten, alle gleichzeitig und durcheinander, ständig neue Mischungs4 Vgl. URL: http://shop.jugendkulturen.de/6-wissenschaftliche-reihe [08. 05. 2014].

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verhältnisse eingehend, Grenzen aufbauend und wieder einreißend, und schon den Schirm der Basecap nach hinten zu tragen, die Schnürsenkel in den Docs oder die Sneakers-Marke auszutauschen und die Hosen ein paar Grad tiefer zu legen, kann unter Umständen den Wechsel in ein neues jugendkulturelles Universum bedeuten. Das Alte verschwindet nicht mehr, sondern zieht sich lediglich wieder von der Agenda der Medien in subkulturelle Nischen zurück, um seinen pausenlos gezeugten Kindern – multikulturelle, hybride Bastarde zumeist – den Pophimmel zu überlassen, von Punk über New Wave und Grufties zu Hardcore, Grunge oder Emos, bis auch diese von den nächsten ten minutes heroes aus dem Scheinwerferlicht verdrängt werden. Keiner blickt mehr durch – und so soll es ja eigentlich auch sein. Mit anderen Worten: Es gibt keine »objektiven« Kriterien dafür, welche Jugendkulturen besonders relevant sind. Wir werden entweder dadurch auf ein Thema aufmerksam, dass sich Szene-Angehörige selbst bei uns melden (»Macht doch auch mal was über uns!«) und Materialien, Interviews und andere SzeneZugänge direkt anbieten, oder durch die öffentliche Diskussion über eine bestimmte Szene. Eine steigende öffentliche, und das heißt mediale Aufmerksamkeit geht gewöhnlich einher mit einer steigenden Stigmatisierung dieser Szene. Das hat mit der Realität dieser Szene meist wenig Übereinstimmung und soll oft gesamtgesellschaftlich brisante Entwicklungen kaschieren, d. h. Jugendliche werden zu Sündenböcken für die Erwachsenengesellschaft. So galten Skinheads und Rechtsrock plötzlich als Hauptverantwortliche für die rassistische Welle der 1990er-Jahre – als hätten nicht Politiker und etablierte Medien die Pogromstimmung in weiten Teilen der Bevölkerung gezielt durch Anti-AsylDebatten und Horrorstorys über »kriminelle Ausländer« erst entzündet. Wenn dann nicht nur Bild-Leser und Günter-Jauch-Gläubige, sondern auch ansonsten kritische Geister den größten Unsinn glauben und weitertragen, ist dies häufig Auslöser für eine eigene Studie oder Veröffentlichung. Vielleicht ist es ja ein wenig naiv, aber wir glauben immer noch, dass zumindest bei vielen Menschen Aufklärung durch differenzierte Information funktionieren kann – frei nach unserem Motto: »Wer sich für die Realität interessiert, muss die beruhigende Eindeutigkeit aufgeben«. Natürlich spiegeln unsere Veröffentlichungen nur einen kleinen Teil unserer Sammlungsschwerpunkte wider, denn sowohl bei den Publikationen als auch in der Sammlung grenzen wir nicht stark ab und aus, sondern versuchen das gesamte Spektrum jugendlicher Freizeit- und Lebenswelten abzudecken. Und schließlich ist ja das Objekt unserer Begierde – »Jugend«, »Kultur«, »Jugendkultur« – kaum klar zu definieren. Die »Jugend«, einst die Lebensphase zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr, wird inzwischen in einschlägigen Studien zwischen 13 und 27 angesiedelt. Der Kulturbegriff schließt nicht mehr nur Oper, Theater und Co. ein, sondern letztlich alles, was der Mensch selbst und nicht die Natur

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zur Gestaltung seiner Lebenswelt geschaffen hat. Und »Jugendkulturen« (immer im Plural!) ist für uns eher ein lockerer Arbeitsbegriff für »informelle Szenen von überwiegend jungen Menschen zwischen 13 und 27 zur Gestaltung der Freizeit, bei denen häufig Musik und Mode zentralen Rollen spielen«. Das trägt der Entwicklung Rechnung, dass Jugendkulturen kaum noch minoritär das ganze Leben dominierende Gegen- oder Subkulturen sind, sondern vor allem temporäre Freiräume innerhalb des Mainstreams. Aus finanziellen Gründen verfügt das Archiv bisher über keine Fotosammlung und nur über einen kleinen Bestand an Filmmaterial. Neben derzeit rund 12 000 Büchern und Broschüren, 620 Master-, Magister-, Diplom u. a. wissenschaftliche Arbeiten, 8 500 Tonträgern und einer ungezählten Menge an Flyern, Buttons, Aufklebern, Plakaten und Presseausschnitten beherbergt das Archiv mehr als 40 000 Fanzines, Schülerzeitungen und andere Zeitschriften, die meisten subkulturellen Ursprungs und nur in geringer Auflage verbreitet sind. Diesem einmaligen Fundus verdankt das Archiv rund 40 Prozent seiner BesucherInnen, die von weither anreisen und oft eine oder mehrere Wochen im Archiv forschen und schreiben. Denn das Archiv der Jugendkulturen ist eine reine Präsenzbibliothek. Vor Ort steht den BesucherInnen alles kostenlos zur Verfügung; Kopien müssen aber bezahlt werden. Ausleihen gibt es nicht; nur für Ausstellungen stellt das Archiv regelmäßig seine Objekte und Materialien bereit. Thematisch versuchen wir, nutzerInnenorientiert zu arbeiten. Wenn ein Thema gesellschaftlich stärker fokussiert wird, erhöhen sich auch bei uns die Anfragen danach und wir versuchen, mehr Material dazu zu sammeln. »Dauerbrenner« sind Themen wie (Rechts-) Extremismus, Rassismus, Gewalt, Migration, aber auch (DDR-)Punk, Gothics, Berliner Rock- und Subkulturgeschichte, Techno/Love Parade. Zu diesen Themen verfügt das Archiv über umfangreiche Sammlungen. Pädagogische Fachliteratur findet sich bei uns wenig, da sind die einschlägigen Institute und Fachbereiche der Universitäten besser ausgestattet.

Die Forschung Das Archiv der Jugendkulturen betreibt heute eine intensive eigene Forschung – soweit das eben ohne eigenes Budget, nur mit Projektmitteln, möglich ist. So besuchen Szene-ForscherInnen des Archivs pro Jahr etwa 50 – 80 Events und führen mit bis zu 100 Szene-Angehörigen biographische Interviews. Im Fokus unserer Studien stehen die Fragen: Welche Jugendkulturen haben heute welchen Stellenwert unter Jugendlichen? Für welche Inhalte stehen die Jugendkulturen? Welche Identitätsangebote machen sie? Wie ist das Geschlechterverhältnis in den Jugendkulturen? Welche Rolle spielen MigrantInnen? Auf welche Weise

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finden sie überhaupt ihren Weg in die Szenen? Was schreckt sie von einer aktiven Teilhabe ab? Welche Rolle spielen Gewalt, Drogen, rassistische, sexistische und andere menschenverachtende Haltungen unter Jugendlichen? Beeinflussen Jugendkulturen die Einstellungen und Verhaltensweisen? Lassen sich Jugendkulturen nutzen, um demokratische und tolerante Werte und Alltagspraktiken zu fördern? Darüber hinaus werden von uns auch jährlich zwischen 500 und 2.500 SchülerInnen aus dem Bundesgebiet mit einem standardisierten Fragebogen befragt. In derzeit 10 Kommunen in Baden-Württemberg führen wir, gefördert u. a. als Modellprojekt von »Aktion Mensch!«, sog. Freizeitpräferenzstudien durch und vermitteln parallel JugendarbeiterInnen vor Ort moderne Partizipationsmethoden.

Fair, aber nicht neutral Das führt zu der Frage: Was will das Archiv der Jugendkulturen überhaupt mit seiner Arbeit bewirken? Will es die Jugendkulturen verändern oder nur darstellen? Versteht es sich als »objektiv« oder »neutral« – eine der häufigsten Fragen, vor allem von Szene-Angehörigen. Eine nicht einfach und eindeutig zu beantwortende Frage. Im Umgang mit Szene-Angehörigen verwenden wir eher den Begriff »fair«. Das bedeutet, wir machen – unabhängig von unseren eigenen Positionen – keinen Unterschied in der Behandlung von Szene-Angehörigen. Ein Neonazi wird genauso fair und kritisch befragt wie ein links engagierter Jugendlicher. Absprachen z. B. zur Anonymisierung der Daten etc. werden eingehalten, bei Bedarf können sich InterviewpartnerInnen das transkribierte Interview vor der Veröffentlichung zur Autorisierung zusenden lassen. Eine Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz findet prinzipiell nicht statt, auch andere Institutionen – Polizei, Sozialbehörden, Medien – erhalten keine personenbezogenen Daten. Die Ergebnisse unserer Arbeit sind grundsätzlich öffentlich – was nicht veröffentlicht wird, erhält auch sonst niemand. Das Ziel der Publikationen ist es, die porträtierten Menschen und Szenen so hautnah, so authentisch wie möglich abzubilden, damit sich jede/r LeserIn eine eigene Meinung bilden kann – das schließt Zensur und Verfremdungen aus. Im Mittelpunkt der Veröffentlichungen stehen die Selbstaussagen der Szene-Angehörigen. Diese Fairplay-Arbeitsgrundlage genügt, um eigentlich in alle Szenen hineinzukommen, als zeitweiser Beobachter und Gesprächspartner zugelassen zu werden. Für viele Jugendliche, das hören die ForscherInnen des Archiv der Jugendkulturen immer wieder, ist die Erfahrung, dass »Erwachsene« zu ihnen kommen, um wirklich etwas Neues zu erfahren, von ihnen zu lernen, sie nicht zu belehren, um Fragen zu stellen und nicht Antworten zu geben, ein außergewöhnlich seltenes Erlebnis.

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Natürlich wollen wir dennoch etwas. Wir sind nicht »neutral«, sprich: meinungslos. Unser Ziel ist die Erhöhung der Toleranz der Erwachsenenwelt gegenüber Jugendlichen und ihren Kulturen, aber auch der Jugendlichen selbst gegenüber der übrigen Welt – vor allem gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden. So sehr wir ernsthaft bemüht sind, den Kontakt zum Beispiel auch zu Neonazis und Angehörigen anderer gewaltorientierter Jugendszenen zu knüpfen, so »verbrüdern« wir uns doch nicht opportunistisch mit ihnen. Unsere Gesprächspartner wissen stets, dass da welche zu ihnen kommen, die in bestimmten Punkten anders denken als sie, die Rassismus, Gewalt und Intoleranz prinzipiell ablehnen. Respekt, die Arbeitsgrundlage jeglicher Jugendforschung und -arbeit, bedeutet auch, dem Gegenüber klar zu zeigen, wo man selbst steht.

On the Road Natürlich sitzen wir nicht nur im beschaulichen Kreuzberg und harren der Dinge bzw. BesucherInnen, die da kommen. Sondern wir gehen dahin, wo Menschen sind, die sich für Jugendkulturen interessieren: in Knäste und Kirchen, Schulen und Hochschulen, Museen und Akademien, Betriebe und Rathäuser, Jugendklubs und Altentreffs. MitarbeiterInnen des Archiv der Jugendkulturen absolvieren pro Jahr 150 bis 180 Veranstaltungen, davon nur rund die Hälfte in Berlin, die übrigen in ganz Deutschland, aber auch in Österreich, der Schweiz, Luxemburg, Liechtenstein, Polen und Südtirol. Am bekanntesten ist wohl das Projekt »Culture on the Road«.5 »Culture on the Road« ist das Konzept für einen oder mehrere »mobile« Projekttage, die seit 2001 bundesweit in Schulen, Ausbildungsstätten und Jugendhäusern veranstaltet werden. Politische Bildung über Rechtsextremismus, Rassismus und andere menschenverachtende Einstellungen auch unter Jugendlichen und in Jugendkulturen wird mit Informationen über die Geschichte und Wurzeln der Jugendkulturen verbunden. Szene-Angehörige vermitteln lebensnah Ideen und Hintergründe, Stile und Ausdrucksformen ihrer Jugendkulturen. Die SchülerInnen haben in zahlreichen Workshops selbst die Gelegenheit, Ausdrucksformen der verschiedenen Jugendszenen auszuprobieren. Wir bringen DJ-Anlagen, Mikrofone, Sprühdosen, Musik und Skateboards mit. Das »Culture-on-the-Road«-Team setzt sich aus Fachleuten der politischen Bildung und VertreterInnen unterschiedlicher Jugendszenen zusammen: HipHop, Reggae/Dancehall, Skaten, Techno, Gothic, Punk, Hardcore, Emo, Manga, Streetdance, Skinheads u. v. m. Die fortlaufend qualifizierten Szene-Angehörigen verfügen über ein profundes Wissen zu ihrer eigenen und den anderen 5 Vgl. die zugehörige Homepage unter URL: http://www.culture-on-the-road.de [08. 05. 2014].

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relevanten Jugendkulturen sowie zum Themenkomplex Rechtsextremismus/ Rassismus. Als authentische Vorbilder stehen sie außerdem für Toleranz, Gewaltfreiheit und Gleichberechtigung. Jugendliche mit Migrationshintergrund bilden einen bedeutenden Teil des Teams. In einem Teilprojekt »New Faces« mit dem Fokus Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft gehören zum Team 15 junge Juden und Jüdinnen überwiegend israelischer Herkunft, die als Studierende oder KünstlerInnen nach Berlin kamen und nun mit SchülerInnen mit oft muslimischem Hintergrund Workshops und Projekte durchführen. Im November 2013 wurde das Archiv der Jugendkulturen dafür mit dem DieterBaacke-Medienpreis ausgezeichnet. Ziel von »Culture on the Road« ist es, jugendkulturelle Vielfalt fundiert zu vermitteln, das Bewusstsein für politische Themen zu schärfen, tolerante Haltungen zu unterstützen und einen Beitrag zur Gewalt- und Rechtsextremismusprävention zu leisten. Dabei geht es uns nicht darum, den SchülerInnen und erwachsenen MultiplikatorInnen fertige Antworten zu liefern, sondern mit ihnen Fragen zu entwickeln, Zweifel zu säen, Nachdenklichkeit zu provozieren. Denn wer selber denkt, statt sich auf Vordenker zu verlassen, nicht mehr kritiklos alles frisst, was ihm aufgetischt wird, wer nachhakt statt nachbetet, der ist für rechtsextreme und andere totalitäre Szenen und Organisationen schon halb verloren.

Respekt! Das Archiv der Jugendkulturen erhält bis heute keinen Cent Regelförderung. Es lebt vom Verkauf seiner Bücher, von Einnahmen aus seinen Projekten oder anderen befristeten Fördermaßnahmen und von Spenden (nicht nur Geld, sondern auch Bücher, Fanzines, Tonträger, Freiabonnements etc.). Deshalb hat das Archiv der Jugendkulturen bis heute keinerlei finanzielle Ressourcen bilden können. So verfügt der Verein über keine bezahlte Geschäftsführung, sondern nur zwei, über Projektmittel finanzierte, ausgebildete Bibliothekare bzw. Archivarinnen. Die monatliche Miete, Erwerbungsmittel und Sachkosten müssen mühselig zusammengetragen und immer noch aus den privaten Taschen der ehren- und hauptamtlichen MitarbeiterInnen bezuschusst werden. Zudem braucht das Archiv der Jugendkulturen dringend größere Räume, denn die Sammlung expandiert fortlaufend. Seitdem das Archiv Anfang 2013 seine früheren Räume aufgeben musste, weil die Miete nicht mehr aufzubringen war und nun statt der bis dahin 350 m2 für Büros und Sammlung nur noch über 180 m2 verfügt, mussten ein größerer Teil der Sammlung und fast alle größeren Neuzugänge ausgelagert oder in den Büros der MitarbeiterInnen untergebracht werden. Rund 80 große Kartons füllen inzwischen allein unser Außenlager – für

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die Zukunft »gerettet«, aber unausgepackt, kaum erschlossen und für BesucherInnen nicht zugänglich. Das ist jedoch auf Dauer nicht tragbar. Eine Einrichtung in dieser Größenordnung kann nicht Monat für Monat von den Spenden selbst ihrer MitarbeiterInnen, die oft selbst in prekären Verhältnissen leben, abhängig sein. Damit ist die Existenz dieser in Europa einmaligen Einrichtung in regelmäßigen Abständen akut gefährdet. Deshalb starteten die MitarbeiterInnen des Archiv der Jugendkulturen am 1. Juli 2010 eine bislang einmalige Spendenkampagne: 100 000 Euro sollten bis zum 31. Dezember 2010 gesammelt werden, um eine Stiftung gründen zu können. Und es hat geklappt! 1 317 Menschen spendeten insgesamt rund 103 000 Euro – ein beachtliches Ergebnis! Die Stiftung mit dem Namen Respekt ist gegründet.6 Doch dies kann nur der Anfang sein! Eine Stiftung lebt ja im Wesentlichen von den Zinsen ihres Stammkapitals. Da ist mit 100 000 Euro noch nicht wirklich viel zu machen, vor allem bei den gegenwärtigen Zinssätzen. Deshalb benötigt die Stiftung weitere Spenden und SponsorInnen. Und für den geplanten Umzug auch staatliche Unterstützung. Auf Dauer braucht eine derartige Einrichtung wenigstens zwei langfristig und projektunabhängig gesicherte hauptamtliche Stellen und die Sicherung der Grundkosten. Deshalb gehen die Verhandlungen nun weiter : mit dem Berliner Senat, mit der Bundesregierung, mit privaten Stiftungen, Immobiliengesellschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Trägern und Einrichtungen. Und sicher wird es demnächst wieder eine neue Spendenkampagne geben. Noch sind die meisten MitarbeiterInnen hier nicht bereit aufzugeben. Immerhin existiert das Archiv der Jugendkulturen nun schon seit 17 Jahren – allein das ist schon ein Erfolg!

6 Vgl. die Homepage URL: http://www.respekt-stiftung.de [08. 05. 2014].

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Jenseits staatlicher Institutionen und universitärer Forschung, doch nicht im Abseits. Die Sondersammlung »Protest, Widerstand und Utopie in der Bundesrepublik Deutschland«

Einen kurzen sprechenden Titel hätte ich für diesen Beitrag, wie zuvor auch schon für den Vortrag auf der Tagung, gern gefunden. Allein die Bezeichnung unserer Sondersammlung trägt einen recht langen Namen. Genau genommen müsste ich sogar einen weiteren Aspekt hinzufügen. In der langen Fassung würde der Titel dann in etwa so lauten: »Jenseits staatlicher Institutionen, öffentlicher Förderung und universitärer Forschung, doch nicht im Abseits – die Sondersammlung ›Protest, Widerstand und Utopie in der Bundesrepublik Deutschland‹ im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung«. Damit umreiße ich den Handlungsrahmen, in dem ich die Arbeit des Archivs unter den drei Aspekten vorstellen möchte, die Gegenstand dieser Tagung sind: Sammeln, erschließen und vernetzen. Die hier Vortragenden, die Gastgeber und die Gäste eint das Interesse an Menschen, deren Leben und Wirken sie in Auseinandersetzung oder Widerspruch zur Mehrheitsgesellschaft gebracht hat, weil sie anders leben, arbeiten und miteinander verkehren wollen. Mit ihren Ideen, ihrer Praxis und ihren Kämpfen setzen sie sich für eine andere, bessere und gerechtere Gesellschaft ein. Ihre Hoffnungen richten sich auf ein friedliches, menschenwürdiges, freiheitliches und solidarisches Zusammenleben im Einklang mit den natürlichen Ressourcen unseres Planeten – um es an dieser Stelle bewusst etwas pathetisch zusammenzufassen. Das soziale, kulturelle und politische Engagement der Akteure findet seinen Niederschlag bestenfalls in gesellschaftlichen Veränderungen in die angestrebte Richtung, zumeist leider nicht oder doch nicht sofort. Gleichwohl dokumentiert die textliche und bildliche Hinterlassenschaft der Ereignisabfolge, was, wann, wie, wo, durch wen und mit welchem Ergebnis geschehen ist. Für die Überlieferungssicherung dieser Quellen gibt es keine originäre Zuständigkeit. Bisher bestimmen allein inhaltliche Interessen und innerer Antrieb die archivische Entwicklung in diesem Segment. Das ist meines Erachtens das Sub-Thema dieser Tagung.

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Handlungsrahmen Was ist und macht das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) in diesem Kontext? Das Institut, das 1984 gegründet worden ist, ist eine privat finanzierte, operative Stiftung bürgerlichen Rechts. Die Forschungsarbeit konzentriert sich auf den Dialog vor allem geisteswissenschaftlicher Disziplinen im Bereich empirischer Sozialforschung, historischer Analyse und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Das Archiv ist Teil der Forschungsinfrastruktur des Instituts, wie die Bibliothek, Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungsorganisation, Verwaltung, Haustechnik, EDV-Administration und nicht zuletzt wie der Verlag Hamburger Edition und die Zeitschrift Mittelweg 36.1 Mit dem Einzug in das Gebäude am Mittelweg 36, gelegen zwischen Alster und Hamburger Universität, begann im Herbst 1986 der Aufbau des Instituts, wie es sich heute präsentiert. Aktuell beschäftigt das Institut etwa 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon etwas mehr als die Hälfte in der Forschung. Im Archiv arbeiten drei Festangestellte auf 2 12 Stellen. Das Archiv agiert bezogen auf die Sondersammlung zum Thema Protestbewegungen selbsttätig und selbstständig. Darüber hinaus nimmt es weitere Aufgaben wahr, wie die Funktion als Hausarchiv und als archivischer Dienstleister für andere quellenbasierte Forschungsprojekte mit zeitgeschichtlicher oder sozialwissenschaftlicher Ausrichtung. Ich komme zu den drei »Jenseits«-Kategorien, die das Hamburger Institut für Sozialforschung und damit auch das Archiv kennzeichnen.

Jenseits staatlicher Institutionen Die Rechtsform des Instituts als private Stiftung bedeutet größtmögliche Unabhängigkeit von staatlicher Aufsicht und Einflussnahme. Allein die Stiftungsaufsicht ist zuständig. In Hamburg ist die Stiftungsaufsicht bei der Justizbehörde angesiedelt. Bei der Errichtung einer Stiftung prüft sie deren Rechtmäßigkeit und Gemeinnützigkeit und wacht nach der Anerkennung der Stiftung über die Erfüllung des Satzungszwecks. Weniger staatlicher Einfluss – bei größtmöglichem steuerlichem Nutzen – ist nicht denkbar. Das schafft die Voraussetzungen für eine unabhängige Themenwahl, für ambitionierte und partiell unkonventionelle Forschungs-, Publikations-, Ausstellungs- und Dokumentationsprojekte sowie für eine dazu passende Personalauswahl. Die Kooperation mit staatlichen Institutionen findet unter diesen Bedingungen, ergänzt um den im folgenden Absatz beschriebenen Aspekt, auf Augenhöhe statt. 1 Hamburger Institut für Sozialforschung 1984, Nördlingen 1985 [1984]. – Die »Hamburger Edition« wurde 1994 gegründet. – Die Zeitschrift »Mittelweg 36« wurde 1992 gegründet.

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Jenseits öffentlicher Förderung Ein weiteres Kriterium für die Unabhängigkeit ist die Art und Weise der Finanzierung dieser Stiftung. Sie erfolgt in der Hauptsache durch einen Geldgeber, der zugleich Initiator und geschäftsführender Vorstand der Stiftung ist. Der Vorstand der Stiftung besteht aus der gesetzlich erforderlichen Mindestanzahl von drei Personen; weitere Stiftungsgremien gibt es derzeit nicht. Die langfristige, respektive dauerhafte Absicherung der Arbeit liegt so gesehen im unmittelbaren Eigeninteresse des Stifters. Mit dieser finanziellen Vollabsicherung der Institutsarbeit entfällt die in vielen anderen Fällen not- und aufwendige Einwerbung von öffentlichen oder privaten Mitteln. Drittmittel von anderen Auftraggebern sind für den laufenden Betrieb der Stiftung nicht existentiell vorgesehen – für zusätzliche Forschungsprojekte aber durchaus möglich und gewollt. Diese Konstellation erlaubt die volle Konzentration auf die jeweils eigene Arbeit. Das sind Bedingungen, die eher selten in der bundesrepublikanischen Forschungslandschaft anzutreffen sind.

Jenseits universitärer Forschung Das Hamburger Institut für Sozialforschung steht personell und institutionell in vielfältigem Austausch mit Universitäten, wissenschaftlichen Institutionen (staatlicher wie nichtstaatlicher) sowie Kolleginnen und Kollegen aus Wissenschaft, Presse, Publizistik, Verlagen, Zeitschriften, Museen, Bibliotheken und Archiven. Forschungs- und Dokumentationsprojekte zu Themen der Protestbewegungen, Jugendbewegungen und -kulturen haben sich trotz zahlreicher Anläufe bisher nicht an Universitäten und Hochschulen dauerhaft etablieren können. Gleiches gilt auch für universitätsnahe bzw. mit öffentlichen Mitteln geförderte Einrichtungen. Wohin der neueste Versuch mit dem Institut für Protest- und Bewegungsforschung führt, das als Verein gegründet worden ist und von der TU Berlin und dem WZB Berlin ideell unterstützt wird, wird man abwarten müssen.2 Bisher ist es bei temporären Aktivitäten einzelner Professoren geblieben. Die Masse der Forschung wird von Individuen getragen, die nur lose oder befristet an Institutionen angebunden sind. Der wissenschaftliche Austausch findet, wie kürzlich in Hamburg am Beispiel der Tagung des Arbeitskreises der Historischen Friedensforschung zu sehen war, allenfalls in universitätsnahen Einrichtungen, hier der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, statt.3 Die Rahmensetzungen in Großorganisationen wie Universitäten, Hoch2 Institut für Protest- und Bewegungsforschung, URL: http://protestinstitut.eu/ [31. 01. 2014]. 3 Gespannte Verhältnisse. Frieden und Protest in Europa in den 1970er und 80er Jahren.

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schulen und anderen wissenschaftlichen Institutionen lassen offensichtlich wenig Spielraum für Forschungsprojekte mit explizit gesellschafts- und bzw. oder staatskritischer Ausrichtung zu. Anders sieht es – bekanntermaßen – für das Hamburger Institut für Sozialforschung aus, das seit seinem Bestehen viele Ressourcen zur Dokumentation und Erforschung der Geschichte der Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt hat und weiter einsetzt.

Entstehungsgeschichte des Archivs Die große Unabhängigkeit des HIS von inhaltlichen und materiellen Zwängen, Vorgaben oder Bindungen erlaubt die Umsetzung von zum Teil sehr ambitionierten Projekten mit gesellschaftskritischer Stoßrichtung. Zu denen zählt ohne Frage die Initiative von Wolfgang Kraushaar zu Beginn des Jahres 1988, dieses Archiv einzurichten und mit allem ausstatten zu lassen, was zum Aufbau und Betrieb eines arbeitsfähigen Archivs nötig ist: Personal, Räume und Sachmittel. Bereits seit 1986 setzte Kraushaar seine zuvor freiberuflich betriebene Forschungs- und Dokumentationsarbeit in dem neu geschaffenen institutionellen Rahmen, den das Hamburger Institut für Sozialforschung am Mittelweg bereitstellte, fort und baute sie weiter aus. Das Sammlungsprofil des Archivs orientiert sich dabei an den Arbeiten Kraushaars zur umfassenden Dokumentation der Geschichte der Protestbewegungen in der Bundesrepublik in Form einer reich mit Dokumenten, Fotos und Karten ausgestatteten Chronik (von 1949 bis heute).4 »In die Protest-Chronik werden sehr unterschiedliche Ereignisse, Vorkommnisse und Sachverhalte aufgenommen. Es wird keine Rücksicht darauf genommen, in welchem Bereich die jeweiligen Protestphänomene lokalisiert sind. Ob sich der Protest in Politik oder Wirtschaft, Justiz oder Bankwesen, den Kirchen, der Kultur oder anderswo ereignet, ist sekundär. Keinerlei Beschränkung gibt es in Auswahl und Darstellung durch die Fixierung auf eine einzige politische Richtung. Linke und Liberale, Konservative und Rechte kommen darin ebenso vor wie die Repräsentanten von Positionen, die sich nicht fest zuordnen lassen. Entscheidend ist allein, ob sie als Träger oder Adressaten von Protestaktivitäten auftauchten«, so die Darstellung auf der Homepage des HIS.5 Für das Archiv heißt das, ein sehr breites Spektrum von Akteurinnen und Wissenschaftliche Jahrestagung des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, 17.–19. 10. 2013, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. 4 Wolfgang Kraushaar : Die Protest-Chronik 1949 – 1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie, Hamburg 1996. 5 Wolfgang Kraushaar : Die Protest-Chronik. Teil II 1960 – 1969, URL: http://www.his-online.de/forschung/protest-chronik-teil-2/ [31. 01. 2014].

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Akteuren – im Ergebnis natürlich deren Überlieferung – in den Blick zu nehmen und das nicht nur inhaltlich, sondern auch geografisch und zeitlich. In den Blick zu nehmen, bedeutet noch nicht, »in den Griff« oder gar »in Besitz« nehmen zu wollen. Daran auch nur zu denken, wäre nicht nur zu Beginn der Arbeit vermessen gewesen. Mit dem Sammeln haben wir, wie andere vor, mit und nach uns, klein angefangen. Vom Start an war klar, dass wir ein offensichtlich entgrenztes, wenn nicht grenzenloses Feld von Quellen vor uns haben, dem wir aber auch nicht allein gegenüber stehen würden.6 Und das war – und ist – ermutigend und gut so.

Mitglieder einer Hamburger Kommune treffen sich in ihrer Küche (1968). ,Wenig später wird sie als APO-Press-Kommune bekannt, weil einige Kommunarden für die Zeitschrift »APOPress. Informationsblatt der Studenten, Schüler und Arbeiter in Hamburg« (1969 – 1970) arbeiten. Quelle: APO-Press Kommune, Hamburg 1968, HIS-Archiv/Günter Zint.

6 ID-Archiv im IISG (Hg.): Reader der »anderen« Archive, Amsterdam 1990.

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Sammeln Seit der Gründung des Archivs haben wir so gut wie keine aktive Akquise betrieben. Die Angebote und Zugänge haben sich nahezu ausschließlich durch persönliche Kontakte und Vermittlungen ergeben. Die erste Phase war noch von den politisch-kulturellen oder vormaligen politischen Beziehungen von Kolleginnen und Kollegen aus dem Haus und deren Umfeld sowie von den archiveigenen Beziehungen geprägt. Dieser Kreis erweiterte sich in einer zweiten Phase rasch durch die Unterstützung der neu gewonnenen Geberinnen und Geber, die sich daraufhin nicht allein in ihren Kreisen für die Bewahrung der eigenen Geschichte einsetzten. Heute bewegen wir uns in der dritten Phase des Sammelns, in der der erreichte Bekanntheitsgrad zu kontinuierlichen Angeboten führt. Das erfordert von uns, noch stärker auszuwählen als das bisher der Fall war. Denn wir können und wollen nicht alles nehmen, was uns angeboten wird. Vordergründig liegt es aktuell am Können, denn wir haben einen Umfang an Sammlungsgut angehäuft, mit dem die derzeitigen räumlichen Kapazitäten (ca. 2000 laufende Meter) nahezu ausgeschöpft sind. Unabhängig von diesen restriktiven Bedingungen gibt es gute Gründe, das gewonnene Profil weiter zu schärfen, statt es durch »zufällige« Angebote quasi naturwüchsig wachsen zu lassen. Unser Sammlungsschwerpunkt ist auf Aktenbestände von politischen Gruppen und einzelnen Akteurinnen / Akteuren gerichtet. Darüber hinaus sammeln wir selbstverständlich auch die Medien der politischen Kommunikation, wie Zeitschriften, Broschüren, Flugblätter und Plakate. Bild- und Tonquellen ergänzen den Sammlungsaufbau.7 Dennoch sind es die internen, unveröffentlichten und zum Teil einzigartigen Quellen, die für uns eine hohe Überlieferungsqualität haben und unseres Erachtens eine besondere Relevanz für die Forschung darstellen. Bestände aus den 1950er- und frühen 1960er-Jahren aus der Friedensbewegung (z. B. Ostermarsch / Regionalausschuss Nord, Konrad Tempel, Klaus Marwitz, Wilhelm Ude) und der Bewegung gegen die Westbindung, die Remilitarisierung und gegen die Teilung Deutschlands (z. B. Bund der Deutschen Partei für Einheit, Frieden und Freiheit) erlauben vertiefte Einblicke nicht nur in zeitgenössische außenpolitische Debatten, sondern auch in das Engagement weiter Teile der Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland für eine friedliche Völkerverständigung. Bestände aus den späteren 1960er- und 1970er- Jahren, etwa zur Bewegung gegen die Notstandsgesetze oder die Außerparlamentarische Opposition / APO, geben unter anderem darüber Auskunft, was es hieß, »mehr Demokratie [zu] 7 Siehe hierzu die Bestandsübersicht der Sondersammlung des Archivs, URL: http://www.hisonline.de/archiv/bestaende/sondersammlung-protestbewegung [31. 01. 2014].

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wagen« (Willy Brandt).8 Weitere Bestände dokumentieren die Studentenbewegung (SDS, Nachlass Rudi Dutschke), die Neue Linke, die ML-Bewegung, die Kommune Bewegung, die Subkulturbewegung, die Komitees gegen Berufsverbote, die Alternativbewegung, die frühe Hausbesetzerbewegung, den militanten Widerstand von RAF, Bewegung 2. Juni und Revolutionären Zellen. In diesem Kontext bildet der Bestand des Sozialistischen Anwaltskollektivs Berlin (Rechtsanwälte Ströbele, Eschen und Mahler) einen außergewöhnlich dichten Quellenkorpus zur Erforschung des Verhältnisses von Protest, Öffentlichkeit und Justiz. Ähnliches gilt auch für die in weiten Teilen aus Ermittlung-, Prozessund Anwaltsakten bestehende RAF-Sammlung. Bestände aus den 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahren zeugen neben den Aktivitäten der Anti-AKW-Bewegung, der Friedensbewegung, der »Wiedervereinigungs«-Gegner und -Befürworter, der Anti-Globalisierungsbewegung sowie der Unterstützergruppen für Flüchtlinge und Asylsuchende, auch von der zunehmenden Radikalisierung in den rechtsextremen Szenen. Letztere spiegeln sich in dem Bestand der autonomen Antifa-M (Göttingen), wie auch in Beständen zweier Journalisten, die lange und intensiv die rechte Szene beobachtet haben, wider.

Erschließen Schon früh haben wir uns dafür entschieden, die Aktenverzeichnung zum Schwerpunkt unserer Arbeit zu machen. Die Erschließung von Organisationsakten, Personenbeständen und Nachlässen ist arbeitsintensiv und anspruchsvoll. Bei den Bestandsbildnern bzw. Urhebern haben wir es selten mit Menschen zu tun, die in der Aktenführung oder der Ablage von Sammlungsgut geschult sind. Die politische Arbeit lässt oft wenig Zeit, sich um eine gute Ordnung zu kümmern. Ein personeller Wechsel in der Zusammensetzung der politischen Gruppe bedeutet zumeist auch eine andere Arbeitsweise und eine neue Ordnung. Ohnehin sind die Bestände, für die wir uns interessieren, nicht nach Geschäftsordnungsplänen strukturiert. Im Gegenteil, jeder Bestand ist individuell und bedarf einer ebensolchen Herangehensweise an die (Neu-)Ordnung und Erschließung im Archiv und mit Blick auf die künftige Nutzung durch die Forschung und andere Nutzergruppen. Wir hatten in der Vergangenheit und haben auch aktuell die Möglichkeit, Sondermittel für die Erschließung von Beständen im Haus zu beantragen. 8 Regierungserklärung des Bundeskanzlers Willy Brandt vom 28. Oktober 1969, URL: http:// www.hdg.de/lemo/html/dokumente/KontinuitaetUndWandel_erklaerungBrandtRegierungserklaerung1969/ [31. 01. 2014].

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Konkret werden die Mittel für ein Erschließungsprojekt beim geschäftsführenden Vorstand beantragt, mit Angaben zum personellen und sachlichen Bedarf. Für die meisten dieser Projekte haben wir keine Bearbeiterin bzw. keinen Bearbeiter suchen müssen; stattdessen haben wir die Geberin oder den Geber mit der Übernahme ihres bzw. seines Bestandes auch für die Erschließung gewinnen können. Das wird dem einen oder anderen – an den bekannten Ausbildungsstätten geschulten – Archivar gewagt erscheinen, aber die Erfahrungen sind zufriedenstellend bis mustergültig. Den höheren Einarbeitungs- und Begleitungsaufwand wiegt das Ergebnis allemal auf, weil es mit deutlich besserem Wissen und Metawissen zustande kommt. Auf diese besondere »Qualifikation« setzen wir übrigens, zusätzlich zur fachlichen Qualifikation, auch bei den Festangestellten. Alle sind politisch und zeitgeschichtlich sehr interessiert, bringen Erfahrungen aus unterschiedlichen politischen Zusammenhängen mit und sprechen – so ist es bisher jedenfalls noch – die gleiche Sprache, wie die, für deren Überlieferung wir uns interessieren. Ich will an dieser Stelle nur einige Beispiele nennen. Den Bestand Kommune 1 und Teile des Bestandes Sozialistisches Anwaltskollektiv Berlin hat Dieter Kunzelmann bearbeitet.9 Den Nachlass von Rudi Dutschke hat Gretchen KlotzDutschke zu ordnen begonnen (fortgeführt und abgeschlossen von W. Hertle). Hermann Prigann hat die Bestände Ablassgesellschaft (Kommune, Hamburg) und Release (Drogentherapie Projekt, Hamburg) geordnet und zusätzlich Interviews mit Ehemaligen geführt. Christiane Ensslin brachte eine große Sammlung mit Quellen zur Rote[n] Armee Fraktion / RAF ein und verdreifachte diese Sammlung während ihrer Zeit am Institut durch weitere Zugänge auf heute 100 laufende Meter. Die sehr detaillierte formale und inhaltliche Erschließung dieses Bestandes in einer – aus Datenschutzgründen separierten – Datenbank hat elf Jahre in Vollzeit in Anspruch genommen und stellt eine herausragende archivarische Leistung zum nachhaltigen Nutzen der Forschung dar. Selbstverständlich orientiert sich unser Hausregelwerk zur formalen und inhaltlichen Erschließung von Beständen an den archivischen Standards des deutschen und internationalen Archivwesens. Für die Zeitschriften und Gedrucktes wenden wir die bibliothekarischen Regeln zur Erfassung an. Das sichert einerseits die annähernd gleichbleibende Qualität bei der eigenen Erschließungsarbeit und gewährleistet andererseits die Vergleichbarkeit mit Bestandsbeschreibungen anderer Archive. Letzteres wird umso wichtiger, je stärker wir vernetzt handeln. Das ist auch schon die Überleitung zum letzten der drei Aspekte.

9 Geschichten aus 1001 Revolution. Vor 25 Jahren wurde das sozialistische Anwaltskollektiv gegründet. in: Der Tagesspiegel v. 24. Mai 1994, Horizonte S. III.

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Vietnam-Demo, Hamburg,1968. Am 9. Februar 1968 findet auf der Moorweide eine vom SDS angemeldete Kundgebung gegen den Vietnam-Krieg statt. Hauptredner ist Rudi Dutschke. Der anschließende Umzug zum Verlagshaus Axel Springer ist nicht angemeldet. Demonstranten versuchen durch Sitzstreiks und andere Mittel die Auslieferung von Zeitungen zu verhindern. Quelle: Vietnam-Demo, Zint HH_1968_005, HIS-Archiv/Günter Zint.

Vernetzen Wenn wir heute über Vernetzung sprechen, denken wir zuerst an das Internet. Präsentieren wir uns darin, öffnen wir unsere Türen für Nutzerinnen und Nutzer, die wir ohne dieses Medium nicht erreichen würden. Die Reichweite der Verbreitung unseres Informationsangebotes wird dadurch nahezu grenzenlos. Mit dem Eintritt ins Internet beginnt aber auch schon der Kampf um die vorderen Plätze bei der »Google-Suche« (als Synonym für alle Suchmaschinen). Dabei könnte man, in Anspielung auf den bekannten Song der Polit-Rockband Ton, Steine, Scherben warnend sagen: »Allein machen sie dich ein«. Das Internet ist für Anbieter qualitativ hochwertiger Informationen Segen und Fluch zugleich. Ich will es bei diesem kurzen, wichtigen Schlaglicht auf eine Dimension der Vernetzung mit unseren zunehmend online orientierten Nutzerinnen und Nutzern belassen. Vernetzung findet darüber hinaus auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Bereichen statt. Eine erste Vernetzung beginnt in den Archiven selbst. Sie setzt auf die Technik der datenbankbasierten Erschließung und Präsentation der eigenen Bestände mit öffentlichem Zugang im Lesesaal. Damit schafft das Archiv die Voraussetzung, um auf allen Ebenen der Vernetzung mit Blick auf den öffentlichen Zugang

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zu Quellen oder deren Nachweisen, mitzuspielen. Die Spielstätten sind die eigene Website, inhaltliche Portale, regionale, nationale und europäische Portale oder schließlich ein – noch nicht existierendes – Portal des Weltwissens. Das Archiv verbreitet seine Angebote ausführlich über die Website des Instituts und insbesondere über die darin implementierte Archivdatenbank.10 Im Regionalportal HamburgWissen Digital findet man die Hamburgensien aus unseren Beständen. An die Zentrale Datenbank Nachlässe haben wir bisher erst wenige unserer Nachlässe gemeldet. Der Zeitschriftenbestand der Sondersammlung mit derzeit über 2050 Titeln ist vollständig und stets aktuell in der Zeitschriftendatenbank nachgewiesen. Weitere Beteiligungen an Portalen sind beabsichtigt. Eine andere Vernetzung führt die Archive zusammen, deren Sammlungsgebiete verwandt sind. Der seit 2003 alle ein bis zwei Jahre stattfindende Workshop der Archive von unten, bei dem sich ca. 30 bis 40 Archive im Archiv Grünes Gedächtnis in Berlin treffen, dient einerseits dem fachlichen und persönlichen Austausch, anderseits dem Netzwerken nach innen und nach außen. Daraus ist als sichtbarer Ausdruck die gemeinsame Website der Bewegungsarchive hervorgegangen, auf der regelmäßig über die Ergebnisse der Treffen berichtet wird und nützliche Informationen und Kontaktmöglichkeiten bereitgestellt werden.11 Eine beeindruckende Entwicklung hat die im Jahr 2006 begonnene Kooperation der Freien Archiven mit dem Berufsverband der Archivarinnen und Archivare (VdA) genommen12. Das soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, dazu empfehle ich vielmehr und wärmstens die kürzlich erschienene Publikation von Cornelia Wenzel und Jürgen Bacia.13 Neben dieser inhaltlich ausgerichteten Vernetzung mit zumeist Freien Archiven verfolgen wir auch die lokale bzw. regionale Zusammenarbeit von Archiven aus verschiedenen Sparten. Wir arbeiten im Arbeitskreis Hamburger Archive mit, aus dem unter anderem gemeinsame Veranstaltungen zum Tag der Archive hervorgehen. Außerdem betreut der Arbeitskreis den datenbankgestützten Hamburger Archivführer auf HamburgWissen Digital. Wir sind Mitglied im Hamburger Überlieferungsverbund Nachlässe, in dem sich neben dem Staatsarchiv ca. 35 weitere Archive aus der Stadt zusammen gefunden haben, um eine kooperative und koordinierte Überlieferungssicherung von Nachlässen mit Hamburg-Bezug zu gewährleisten.

10 Informationen zum Archiv des HIS unter URL: http://www.his-online.de/archiv/ [05. 07. 2014]. 11 Netzwerk »Archive von unten«, unter URL: http://www.bewegungsarchive.de/ [31. 01. 2014]. 12 Ein wichtiges Ergebnis der Kooperation ist der 2009 gegründete Arbeitskreis Überlieferung der neuen sozialen Bewegungen, unter URL: http://www.vda.archiv.net/arbeitskreise.html?contrast=0 [31. 01. 2014]. 13 Jürgen Bacia, Cornelia Wenzel (Hg.): Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, Berlin 2013.

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In der Summe hört sich das nach einem hohen Grad der Vernetzung an, verbunden mit guten oder besten Aussichten auf einen entsprechenden Ertrag.

Doch nicht im Abseits Hiermit komme ich zu der letzten noch zu erläuternden Formulierung aus dem Titel meines Beitrages. Die aktive Beschäftigung mit der Überlieferungssicherung dieser Quellen, für die es keine zugeschriebene Zuständigkeit gibt, findet im Wesentlichen jenseits staatlicher Institutionen, öffentlicher Förderung und universitärer Forschung statt. Das ist jedoch keineswegs Ausdruck eines mangelnden öffentlichen Interesses an diesen Quellen – das spezifische Interesse des Verfassungsschutzes sei an dieser Stelle davon ausgenommen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Nachfrage aus Wissenschaft und Forschung national wie international ist kontinuierlich vorhanden und nimmt eher zu. Ausstellungs- und Filmemacher, Publizisten und Journalisten sind wiederkehrende Nutzer. Geschichtsinitiativen und Veranstaltungsorganisatoren recherchieren in den Beständen, um ihre gesellschafts- oder sozialkritischen Themen zu vertiefen, die sie öffentlich präsentieren und diskutieren wollen. Seminare an den Universitäten und Projektgruppen an den Schulen nutzen den Zugang, wenn es um gesellschaftspolitisch strittige Themen geht, über die staatliche Quellen allein nur sehr unzureichend informieren. Die staatlichen Archive sehen sich seit den 1990er-Jahren andauernden Anforderungen zur Umstrukturierung und Modernisierung gegenüber, wie auch vor Umverteilung von knappen Ressourcen. Das hat zur Folge, dass die verfügbaren Mittel zuerst denjenigen Beständen zufließen, die zur Kernaufgabe der Einrichtung gehören. Das nichtstaatliche bzw. nichtinstitutionelle Schrift- und Sammlungsgut, zu dem auch Bestände gehören, die den neuen sozialen Bewegungen zuzurechnen sind, wird dort nur zurückhaltend oder gar nicht übernommen; die Bearbeitung ruht oder man gibt Quellen unter Umständen sogar an nichtstaatliche Träger ab.14 Das dramatisiert in mehrfacher Hinsicht die ohnehin prekäre Situation der Archive, die sich der Überlieferung von Quellen aus den Protestbewegungen und Jugendkulturen verschrieben haben. Da ist es letztlich doch nur eine ideelle Unterstützung, wenn die Archivarinnen und Archive der Bewegungsarchive immer mehr öffentliche Anerkennung gewinnen, als unbestritten zuständig gelten und in eine professionelle Verantwortung genommen werden.

14 Im Jahr 2008 hat das Bundesarchiv den Teilnachlass von Rudi Dutschke an das Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung abgegeben, das den anderen Teil des Nachlasses bereits erschlossen und zugänglich gemacht hatte.

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Schlussbemerkung Vor bald 25 Jahren war ich schon einmal auf der Burg Ludwigstein. Damals wollte ich zu Beginn meiner Arbeit Archive kennenlernen, die verwandte Überlieferungen aufbewahren und zugänglich machen. Auf mehreren Reisen durch die Republik informierte ich mich, wie die Aufgabe, vor der wir standen, von ganz unterschiedlichen Menschen und Archiven angegangen wurde. Sie führte mich u. a. nach Berlin ins APO-Archiv zu Siegward Lönnendonker im damaligen Zentralinstitut 6 für Parteienforschung der Freien Universität Berlin, nach Duisburg in das von Jürgen Bacia gegründete Archiv für alternatives Schrifttum in NRW, nach Freiburg ins Archiv soziale Bewegungen in Baden zu Volkmar Vogt und nach Neustadt ins Anarchiv – Anarchistisches Dokumentationszentrum zu Horst Stowasser. Bevor ich den damaligen Leiter des Archivs der deutschen Jugendbewegung in seinem Archiv besuchte, lernte ich ihn als Vorsitzenden der Fachgruppe 8 (Hochschularchive und Archive an anderen wissenschaftlichen Institutionen) im VdA kennen.15 Diese Fachgruppe war 1989 die mit Abstand kleinste und heterogenste der Fachgruppen. Aktuell ist sie die drittgrößte und nach wie vor die heterogenste aller Fachgruppen. Darin eingeschlossen sind heute Vertreter wichtiger Freier Archive, die damit im Verband aller Archivarinnen und Archivare in der Bundesrepublik angekommen sind, wie umgekehrt der Verband bei der Vertretung der Akteure der Überlieferung der Geschichte von unten angekommen ist. Im Rückblick hat sich meine frühere Annahme und Haltung vollkommen bestätigt: die »Bewahrung der Bewegung« ist eine Aufgabe, die durch keines der Archive auch nur annähernd allein bewältigt werden kann. Für den potentiell unermesslichen Umfang der Überlieferung sowie deren Facettenreichtum sehe ich derzeit keine Alternative zur arbeitsteilig-kooperativen Bearbeitung dieses Feldes. Aus dieser Erkenntnis heraus betrieben und betreiben wir unseren Bestandsaufbau, suchen den steten Austausch und nutzten die Stärken, die unser Handlungsrahmen uns dafür bietet. Ganz im Sinne des Titels dieses Beitrages: Jenseits … doch nicht im Abseits.

15 60. Deutscher Archivtag in Lübeck, 25.–28. 09. 1989, Die Aufgaben der Archive im Wandel: Neues Archivrecht – Neuartiges Archivgut. – Fachgruppe 8: Archivare an Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Institutionen, Vorsitz: Dr. Winfried Mogge, Leiter des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein, Thema der Fachgruppensitzung: Neue Archive, neue Sammlungen, untergegangene Archive im Fachgruppenbereich (Kurzberichte).

Rolf Kohlstedt

Das Stadtarchiv Göttingen – Jugendkultur und Soziale Bewegungen im Archiv einer Universitätsstadt

Unabdingbare Kernaufgaben kommunaler Archive sind und bleiben die Übernahme, die Verwahrung und die Erschließung des Archivguts der jeweiligen lokalen Verwaltung. Diese Tätigkeitsbereiche besitzen eindeutige Priorität, das Stadtarchiv Göttingen bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass Gemeinde, Stadt- und Kreisarchive überwiegend das für ihren Zuständigkeitsbereich charakteristische Behördenschriftgut verwahren. Dies wiederum bedeutet, dass diese Überlieferung vornehmlich die Perspektive der kommunalen Verwaltung widerspiegelt, also gleichsam eine administrative Sichtweise »von oben« einnimmt, um einmal diesen überstrapazierten Begriff zu bemühen. Obschon natürlich auch Jugendkulturen und soziale Bewegungen in diversen Beständen des Stadtarchivs Göttingen thematisiert werden, finden sich diese Betreffe zumeist im Entstehungszusammenhang typischer kommunaler Verwaltungsunterlagen, die in erster Linie Informationen über diese Themenbereiche enthalten und nur selten einmal von den Beteiligten. Auch wenn Schriftgut der Bau- oder Steuerverwaltung durchaus spannende und mitunter unerwartete Informationen beinhalten kann, steht Archivgut städtischer Provenienz gemeinhin nicht gerade in dem Ruf, Substanzielles und Originäres zu den hier interessierenden Themen beitragen zu können. Materialien und Darstellungen aus der subjektiven Sicht der vielfältigen Jugendkulturen, der sozialen Bewegungen und Initiativen außerhalb der Kommunalverwaltungen sowie persönliche Unterlagen bilden eher die Ausnahme in den Regalen der Magazine. »… vielfältig, streitbar und nicht immer einfach«1 – dieses Zitat von der Website des Jugendzentrums Innenstadt (JuzI) in Göttingen veranschaulicht in seiner Prägnanz, dass Jugendkulturen und soziale Bewegungen zumeist in den Zusammenhang gesellschaftlicher Verwerfungen, Krisen und Bruchstellen einzuordnen sind, an denen sie partizipieren und die sie kritisch begleiten, vor1 Website des Jugendzentrums Innenstadt (JuzI); URL: http://www.juzi.de/juzi.php?link=3 [05. 05. 2014].

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antreiben oder auf die sie zumindest Bezug nehmen. Insofern bilden sie sowohl für die Archive als auch für die historische oder die soziologische Forschung ebenso interessante wie lohnenswerte Betätigungsfelder, denn diese Diskurse, Kontroversen oder Konflikte fokussieren – zumeist kritisch – die zeittypischen Verhältnisse, weisen auf Fehlentwicklungen hin und kündigen mögliche Veränderungen an, setzen sie gar in Bewegung. Da es sich jedoch häufig um Gegenbewegungen und Alternativkulturen handelt, die sich in ihrem Selbstverständnis eben gerade nicht als Teil der sogenannten Hochkultur oder des offiziellen Politikbetriebes verstehen und sich daher in der Regel kategorisch davon distanzieren, gelangen deren Unterlagen nur selten in kommunale Archive. Wenn unabhängige jugendkulturelle Einrichtungen wegen finanzieller Aspekte mit den sie tragenden Kommunen über Kreuz liegen – wie dies in Göttingen beim JuzI der Fall ist –, dann werden Kommunalarchive gleichsam als Teil des kritisierten Systems angesehen und dem entsprechend argwöhnisch betrachtet. Vielleicht ließe sich noch über das eine oder andere Sammlungsgut, über Abgaben aus Privatbesitz oder von Bürgerinitiativen sowie ähnliche Quellen spekulieren, aber ansonsten verspricht das Stadtarchiv Göttingen mit seiner kommunalen Überlieferungsbildung zu den hier interessierenden Inhalten auf den ersten Blick nicht allzu viel oder lediglich relativ Belangloses beitragen zu können. Daher gelten Kommunalarchive häufig nicht als erste Anlaufstelle für Nachforschungen zu diesen Themenkreisen, obschon dort möglicherweise diverses Material zu finden wäre, wie dies im Stadtarchiv Göttingen ja der Fall ist. Wenn auch nicht »streitbar«, zumindest jedoch »vielfältig« und »nicht immer einfach« – diese Selbsteinschätzungen des JuzI könnten ebenso gut als Beschreibungen der Überlieferungssituation zu den hier relevanten Themen im Stadtarchiv Göttingen dienen. Dass das Stadtarchiv Göttingen nicht organisationsgebundene Materialien zu »Jugendkultur« und »Soziale Bewegungen« aktuell tatsächlich weder systematisch noch aktiv sammelt, bestätigt die oben formulierte Feststellung. Was nicht gesammelt wird, kann auch nicht erschlossen werden, und eine Vernetzung, die über gelegentliche Kooperationen mit lokalen, regionalen und überregionalen Institutionen und Archiven, der Georg-August-Universität und anderen Einrichtungen mit historischen Forschungsschwerpunkten und Erkenntnisinteressen hinausginge, ist ebenfalls nicht erkennbar. Obwohl das Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein und das Stadtarchiv Göttingen zwar in verschiedenen Bundesländern, jedoch nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen, kann eine Vernetzung nicht konstatiert werden. Mit Blick auf das Tagungsmotto »Sammeln – erschließen – vernetzen« ließe sich zweifellos argumentieren: alle drei Tätigkeiten werden in Hinsicht auf nicht organisationsgebundene Materialien im Stadtarchiv Göttingen zu den Themenbereichen »Jugendkultur« und »Soziale Bewegungen« de facto nicht ausgeübt.

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Eine Recherche nach relevanten Unterlagen stützt diese Hypothese. Wer über das Archivportal Niedersachsen in den dort hinterlegten Beständen des Stadtarchivs Göttingen nach dem Begriff »Jugendkultur« sucht2, erzielt lediglich einen einzigen Treffer : eine Akte aus dem Bestand C 46 Kulturamt, die einige wenige Presseausschnitte und Zeitschriftenartikel zur jugendkulturellen Arbeit und Kommunikation aus dem Zeitraum von 1979 bis 1982 beinhaltet.3 Freilich thematisieren die darin enthaltenen Presseausschnitte ausschließlich Aspekte der seitens der Stadt Göttingen angebotenen kommunalen Jugendkultur, etwa der Musik- und Kunstschulen oder des Jungen Theaters in Göttingen.

Unruhe und Protest in der Universitätsstadt Göttingen Göttingen indes ist eine ausgesprochen studentisch und universitär geprägte Großstadt in Südniedersachsen; von den circa 120 000 Einwohnern entfallen rund 25 000 auf Studierende sowie weitere knapp 10 000 auf Beschäftigte der Universität. Diese Tatsache spiegelt sich im Stadtbild erkennbar wider – die allgegenwärtige Präsenz der Studierenden ist schwerlich zu übersehen, denn schließlich studiert jeder fünfte Passant. Seit ihrer Eröffnung im Jahre 1737 besaß und besitzt die Georg-August-Universität – bisweilen differierende – Funktionen für die Stadt und bewahrte bis heute ihren einflussreichen Charakter in und für Göttingen. In einer annähernd über drei Jahrhunderte durch ihre Universität geprägten Stadt wie Göttingen blieben Protest und Aufbegehren der Studierenden in unterschiedlicher Form und Ausprägung nicht aus. Die studentischen Protestbewegungen von 1737 bis ins Jahr 2000 wurden im Rahmen einer 2012 erschienene Dissertation untersucht; die Autorin Sonja Girod gelangt darin zu dem Fazit, dass die Studierenden in Göttingen an den lokalen Protestaktivitäten und den sozialen und politischen Bewegungen, sofern sie sie nicht sogar initiierten, zumindest partizipierten.4 Aufbegehren, Unruhe und bisweilen sogar Krawall blieben in der sonst eher beschaulichen Universitätsstadt Göttingen nicht aus, im Gegenteil: Göttingen gilt bis heute bundesweit als eines der Zentren des linksalternativen Protestes und der autonomen Szene. Stichworte wie der »Buback-Nachruf«, der »Fall Conny« oder das »JuzI« verweisen auf Begebenheiten der jüngeren Zeit, die nicht nur in der Stadt zum Teil heftige Kontroversen, sondern auch bundesweit teils erbittert geführte Auseinandersetzungen aus2 Die Bestände des Stadtarchivs sind im niedersächsischen Archivportal zu recherchieren, URL: http://archivportal.niedersachsen.de/DefaultArchiv.aspx?PortalArchiv=stadta_goe [05. 05.2014]. 3 Stadtarchiv Göttingen (StadtAG), Best. C 46 Nr. 916. 4 Sonja Girod: Protest und Revolte – Drei Jahrhunderte studentisches Aufbegehren in der Universitätsstadt Göttingen (1737 bis 2000), Diss. Göttingen 2012.

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Besetzung der ehemaligen Prager-Schule in der Jüdenstraße 35 (1980). Quelle: Städtisches Museum Göttingen, Fotograf: Karlheinz Otto

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lösten und für eine mediale Präsenz und eine öffentliche Wahrnehmung der Universitätsstadt sorgten. Es wäre also mehr als ungewöhnlich, wenn Jugendkulturen und soziale Bewegungen in den Beständen des Stadtarchivs nicht ihren Niederschlag gefunden hätten. Wer häufiger in Archiven nach Informationen sucht, weiß indes, dass zur erfolgreichen Recherche durchaus eine gehörige Portion Beharrlichkeit gehört und bisweilen abseits gewohnter Wege und ausgetretener Pfade recherchiert werden muss, um zu akzeptablen Ergebnissen zu gelangen. Wer etwa käme schon auf die Idee, im Stadtarchiv Göttingen in dem Bestand mit dem nur wenig verheißungsvollen Titel »Dezernat I/Büro des Oberstadtdirektors« Dokumente zu den Häuserbesetzungen der frühen 1980er-Jahre vermuten? Tatsächlich finden sich dort in vier Materialsammlungen zahlreiche Presseberichte sowie Briefe, Flugblätter und Plakate von Hausbesetzungen in Göttingen und anderen Städten der damaligen Bundesrepublik aus den Jahren 1980 bis 1982.5 Auch der Hungerstreik von RAF-Mitgliedern und eine Änderung des Demonstrationsrechts werden in diesen Archivalien thematisiert. Wie dieses Beispiel verdeutlicht, sammelt das Stadtarchiv Göttingen Material zu den Themenbereichen »Jugendkultur« und »Soziale Bewegungen« zwar weder systematisch noch aktiv, besitzt jedoch verschiedene relevante Unterlagen hierzu, die nicht unbedingt von der Stadtverwaltung, sondern von den Beteiligten stammen und daher auf anderen Wegen ihren Platz im Stadtarchiv fanden. Im Folgenden wird exemplarisch zu zeigen sein, ob und welche Unterlagen im Stadtarchiv Göttingen zu finden sind.

Das Stadtarchiv Göttingen und sein städtisches Umfeld Vorab einige Informationen zu den institutionellen Rahmenbedingungen in Göttingen: Das Stadtarchiv Göttingen verwaltet das Archivgut der Stadtverwaltung Göttingen und der Verwaltungen der eingemeindeten Ortschaften sowie Unterlagen von Privatpersonen, Familien, Vereinen, Firmen, Innungen etc. Diese bis in das 13. Jahrhundert zurückreichenden Bestände umfassen insgesamt etwa 4 500 lfd. Meter Urkunden, Amtsbücher und Akten sowie rund 20 000 Karten und Pläne. Neben diesem Archivgut verwahrt das Stadtarchiv Göttingen das sogenannte Sammlungsgut; dazu gehören ein nahezu vollständiger Bestand der Zeitungen Göttingens, circa 12 500 Plakate, etwa 20 000 Flugblätter und Flugschriften sowie eine bedeutende Sammlung von Stammbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts und Autographen, unter anderem von Gottfried Wilhelm Leibniz und Georg Christoph Lichtenberg. 5 StadtAG, Bestand C 5, Nr. 52 – 55.

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Das für mehrere Jahre von umfangreichen Sanierungsmaßnahmen betroffene Städtische Museum Göttingen ist mit seiner 1889 angelegten Sammlung eines der ältesten kultur- und stadtgeschichtlichen Museen Niedersachsens. Hier (und nicht im Stadtarchiv) befinden sich die historischen Fotografien Göttingens; das Fotoarchiv des Städtischen Museums umfasst circa 60 000 Fotos von frühen Daguerreotypien aus der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu aktuellen Aufnahmen. Wie sich für eine Universitätsstadt vermuten lässt, existieren in Göttingen neben dem Stadtarchiv weitere Archive sowie diverse Institutionen und Organisationen, die sich mit der lokalen und regionalen Historie beschäftigen. Das hiesige ev.-luth. Kirchenkreisarchiv/Kirchenbuchamt Göttingen verwahrt die Kirchenbücher, die insbesondere für die genealogischen Anfragen interessant sind, da die Standesämter ihre Tätigkeit erst 1874 aufnahmen.6 Auch der Landkreis Göttingen besitzt ein eigenes Archiv.7 Die Georg-August-Universität, an der mehrere Institute zu historischen Themen lehren und forschen, unterhält ein eigenes Universitätsarchiv, dessen Bestände bis zu den Anfängen der 1734 gegründeten und drei Jahre später eröffneten Universität zurückreichen.8 Das Universitätsarchiv Göttingen verwahrt hauptsächlich die Unterlagen des Kuratoriums, des Rektorats und der Fakultäten; diese Bestände sind nahezu vollständig überliefert, umfassen circa 2 000 lfd. Meter und beinhalten umfangreiches Material zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in Göttingen. Die ebenfalls 1734 gegründete und zur Georgia Augusta gehörende Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB) zählt mit ihren 7,7 Millionen Medieneinheiten zu den bedeutendsten Forschungsbibliotheken Deutschlands.9 Die Bandbreite reicht von einer Gutenberg-Bibel über historischen Drucke und Karten, Autographen, Manuskripte und Nachlässe (etwa von Georg Christoph Lichtenberg, Carl Friedrich Gauß oder Jacob und Wilhelm Grimm) bis zum Kompetenzzentrum für die Digitale Bibliothek und dem Göttinger Digitalisierungszentrum (GDZ). Das GDZ hat jüngst Digitalisate der Adressbücher Göttingens von 1857 bis 1898 im Internet publiziert.10 Hinzu kommen die zahlreichen Sammlungen und Ausstellungen der Uni6 URL: http://www-alt.goettingen.de/kfa/cultadress/index.php?id=15& par=& par2= & & iid=6968 [05. 05. 2014]. 7 URL: http://www.landkreisgoettingen.de [05. 05. 2014]. 8 Homepage des Universitätsarchivs Göttingen, URL: http://www.sub.uni-goettingen.de/ sammlungen/universitaetsarchiv-goettingen [05. 05. 2014]. 9 Homepage der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, URL: http://www.sub.unigoettingen.de [05. 05. 2014]. 10 Göttinger Adressbücher, URL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN722273703 [05. 05. 2014].

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versität (Ethnologische Sammlung, Alter Botanischer Garten, Lehrsammlung für Ur- und Frühgeschichte, Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen, Archäologische Originalsammlung, Diplomatischer Apparat, Sammlung zur Geschichte der Geburtsmedizin und Moulagensammlung, Sammlung historischer Kinder- und Jugendbücher etc.) sowie verschiedene in Göttingen ansässige Institutionen: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, fünf MaxPlanck-Institute, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (nebst eigenem Archiv), Institut für Regionalforschung – um nur einige zu nennen.11 Neben den eng mit der Universität verbundenen Einrichtungen erforschen unter anderem die Geschichtswerkstatt Göttingen e. V. und der Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e. V. die historischen Ereignisse in und um Göttingen.12 Zudem veröffentlichen verschiedene in Göttingen ansässige Verlage Fachbücher der Geschichtsforschung, etwa der Wallstein-Verlag oder Vandenhoeck & Ruprecht. Kurzum: In Göttingen widmen sich neben dem Stadtarchiv etliche weitere Archive, Forschungseinrichtungen und andere Institutionen auf ihre jeweilige spezielle Art und Weise der Historie im Allgemeinen und der Geschichte der Stadt im Besonderen.

Das Jugendzentrum Innenstadt: JuzI Ursprung und Entwicklung des 1982 als Jugendtreffpunkt in der Innenstadt gegründeten JuzI hängen eng mit den Leitgedanken der Hausbesetzungen der frühen 1980er-Jahre zusammen. Das Gebäude in der Bürgerstraße 41 war jedoch nie besetzt, wird allerdings selbst verwaltet und von der Stadt Göttingen finanziell unterstützt. »Selbstverwaltet heißt für uns, dass Menschen ihr Leben und die Verwirklichung ihrer Bedürfnisse selbst in die Hand nehmen wollen und können.«13 Das JuzI bietet Raum für verschiedenste Aktivitäten, etwa Jugendcaf¦s, politische Gruppen, Bands, Konzerte, Partys, eine Tischlerei, ein Fotolabor oder Übungsräume. »Das Verbindende«, so das Leitbild des JuzI, »ist eine Verweigerung gegenüber dem auf Geld und Verwertbarkeit ausgerichteten Einheitsbrei – die Palette der Meinungen und Stile ist vielfältig, streitbar und nicht immer einfach. Das Juzi versteht sich als antifaschistisch. Es hat den Anspruch, in politische Belange einzugreifen – was mal besser und mal weniger 11 Sammlungen der Universität Göttingen, URL: http://www.uni-goettingen.de/de/2510.html [05. 05. 2014]. 12 Homepages des Geschichtsvereins und der Geschichtswerkstatt Göttingen, URL: http:// www.geschichtsverein.uni-goettingen.de/ und http://www.geschichtswerkstatt-goettingen. de/ [05. 05. 2014]. 13 Homepage des Jugendzentrums Innenstadt, URL: http://www.juzi.de/juzi.php?link=3 [05. 05. 2014].

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klappt. Das Juzi stand und steht in einem streitbaren Verhältnis zur herrschenden Politik.«14 Diese Selbsteinschätzung trifft zu, denn das JuzI war im Laufe seines über dreißigjährigen Bestehens als Treffpunkt vor allem der autonomen Jugendszene und linker Gruppierungen immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Das JuzI unterhält einen eigenen Infoladen, der Materialien und Publikationen zur Geschichte der linken Szene und ausgewählter Ereignisse in Göttingen aufbewahrt. Laut Eigendarstellung des JuzI bemüht sich der Infoladen, kritische Informationen bereitzustellen und dadurch zum Aufbau einer Gegenöffentlichkeit beizutragen. Für ihre oben genannte Dissertation wertete Sonja Girod Unterlagen des JuzI aus und fand sich im Rahmen ihrer dortigen wissenschaftlichen Tätigkeit bisweilen vor – vermutlich charakteristische – Hindernisse gestellt: »Diese beginnen schon mit der Kontaktaufnahme, die z. B. beim JuzI nur über verschlüsselte E-Mails möglich ist. Allein der Infoladen ist zu bestimmten Zeiten telefonisch erreichbar, so dass ein Treffen vereinbart werden konnte. Das Entgegenkommen der Kontaktperson dort war höflich und hilfsbereit, jedoch gleichzeitig deutlich distanziert und zurückhaltend.«15 Da dieses Jugendzentrum eine zwar selbstverwaltete, aber von der Stadt Göttingen finanziell getragene Einrichtung ist, finden sich im Stadtarchiv Göttingen verschiedene Unterlagen zum JuzI, zum Beispiel im Bestand C 57 (Jugendamt: Verwaltung, vornehmlich aus den 1980er-Jahren). Dies sind zum einen die eingangs erwähnten charakteristischen Verwaltungsunterlagen, etwa zu Betriebs- und Personalkosten oder zur Prüfung des Kassenbuches und der Belege.16 Aber auch die Kontroversen und die Auseinandersetzungen schlagen sich in der Überlieferung nieder : Unterlagen zu Ausschreitungen, Lärmbelästigungen und Sachbeschädigungen, eine Anfrage des damaligen Abgeordneten Jürgen Trittin im niedersächsischen Landtag zu einer Razzia, eine Kontroverse mit dem Sozialdezernenten, die Sperrung von Haushaltsmitteln durch die Stadtverwaltung oder Flugblätter sind in diesem Bestand enthalten.17 Auch in der Flugschriften-Sammlung des Stadtarchivs Göttingen finden sich Unterlagen des JuzI sowie des erwähnten Infoladens.18

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Ebenda. Girod: Protest (Anm. 4), S. 259 f. StadtAG, Best. C 57 Nr. 90. StadtAG, Best. C 57 Nr. 408 und Nr. 409. StadtAG, Best. G 6, FS 11 B 311: JuzI (Jugendzentrum Innenstadt); FS 11 B 312: »Info-LadenCaf¦« im JuzI.

Das Stadtarchiv Göttingen

Flugblatt des JuzI zur Sperrung des städtischen Zuschusses (1988). Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Flugschriften-Sammlung, Signatur : FS 11 B 312 – 6

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Der Fall Kornelia Wessmann (»Conny«) Am Abend des 17. November 1989 kam es in der Innenstadt Göttingens zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Rechtsradikalen und Autonomen. Nachdem die Neonazis von der Polizei aus der Stadt geleitet worden waren, wurden nun die linken Gruppierungen verfolgt, zu denen die 24-jährige Studentin Kornelia Wessmann, genannt »Conny«, gehörte. Wessmann floh vor der Polizei auf die viel befahrene Weender Landstraße, wurde von einem Auto erfasst und tödlich verletzt. Der dramatische »Fall Conny« bezog zusätzliche Brisanz aus dem später veröffentlichten Funkverkehr der Polizei, in dem wörtlich davon die Rede war, die Gruppe, der Wessmann angehörte, »plattzumachen«. Dies wurde seitens der Polizei als interner Jargon für die Aufnahme von Personalien von Personen, die auf dem Boden liegen, erklärt; die Autonomen hingegen machten für Wessmanns Tod die Polizei verantwortlich, die durch ihre Verfolgung die Studentin in den Tod getrieben habe. Offizielle Untersuchungen stellten weder ein Verschulden der Polizei noch des Autofahrers fest, die autonome Szene bestritt diese Ergebnisse. »Der Tod von Kornelia (Conny) Wessmann hat Ende der achtziger Jahre nicht nur die linke Szene in Göttingen erschüttert. Ob es sich dabei um einen tragischen Unfall im Laufe eines Polizeieinsatzes gehandelt hat oder die Polizei die Studentin grundlos in den Tod gehetzt hat, wird bis heute kontrovers diskutiert.«19 Zu diesem brisanten Thema finden sich im Stadtarchiv Göttingen im Bestand »Kleine Erwerbungen« Materialien, die 2005 von privater Seite an das Stadtarchiv Göttingen abgegeben wurden.20 Darin enthalten sind Zeitungsartikel, Zeitschriften, Flugblätter, handschriftliche Notizen und andere Unterlagen zum »Fall Conny«. Darüber hinaus enthält die Flugschriften-Sammlung auch Material zum Fall Kornelia Wessmann (»Conny«).21 Apropos Flugschriften-Sammlung: Dieser Bestand enthält Dokumente zu zahlreichen Aspekten sozialer Bewegungen und politischen Themen, etwa zum Kampf um das Göttinger Frauenzentrum, zu Hausbesetzungen, zum Rechtsextremismus oder zur Bildungs- und Schulpolitik in Göttingen.22 Auch zu überregionalen politischen Themen sind darin Unterlagen enthalten, etwa Frieden 19 20 21 22

Girod: Protest (Anm. 4), S. 259 – 279; Zitat S. 259. StadtAG, Best. Kl. E. Nr. 219. StadtAG, Best. G 6, FS 11 B 404: Der Fall »Conny« (17. 11. 1989). StadtAG, Best. G 6, FS 11 B 413: Kampf um das Göttinger Frauenzentrum. – FS 11 B 402 und FS 10 B 403: Hausbesetzungen. – FS 11 B 403: Göttinger Polizeiaktionen/Prozesse gegen Hausbesetzer, Demonstrationsteilnehmer. – FS 10 B 405: Rechtsextremismus/antifaschistische Aktionen in Göttingen. – FS 10 B 411 und FS 11 B 408: Bildungs- und Schulpolitik in Göttingen. – FS 10 B 413: Polizeiaktionen und politische Prozesse in Göttingen.

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und Abrüstung, Anti-Atomkraft-Bewegung, Radikalenerlass/Berufsverbote, Ostermärsche, Sozialabbau und Sparpolitik/Massenarbeitslosigkeit etc.23 Allen diesen Beständen ist gemeinsam, dass sie nur rudimentär offizielle Quellen enthalten, sondern vielmehr Material der unmittelbar Beteiligten, also nicht organisationsgebundene Unterlagen im Sinne dieser Tagung.

Der Buback-Nachruf Am 25. April 1977 erschien in den »Göttinger Nachrichten«, der Zeitung des Allgemeinen Sudentenausschusses (AStA) der Universität Göttingen, der Text »Buback – ein Nachruf«, der die Ermordung des damaligen Generalbundesanwalts Siegfried Buback durch die RAF kommentierte. Der unter dem Pseudonym »Göttinger Mescalero« schreibende Autor äußerte darin trotz aller Kritik am Attentat Verständnis und Sympathie für den Mord am Generalbundesanwalt; in der Öffentlichkeit wurde insbesondere die Formulierung »klammheimliche Freude« diskutiert. Der Autor gehörte der Bewegung »Undogmatischer Frühling« an, die damals mit der »Sozialistischen Bündnisliste« den Göttinger AStA stellte. Dieser sogenannte Buback-Nachruf, entstanden kurz vor dem »Deutschen Herbst« 1977, blieb nicht ohne politische und juristische Folgen. So beschlossen mehrere Tausend Studierende am 11. Mai 1977 einen Boykott des Lehrbetriebes; am 27. Mai 1977 durchsuchten Staatsanwaltschaft und Polizei das Büro des AStA sowie weitere Einrichtungen und Privatwohnungen, was wiederum Proteste und Kundgebungen nach sich zog. Und am 6. März 1978 begannen vor dem Landgericht Göttingen die sogenannten Buback-Prozesse gegen Studierende, die für die Veröffentlichung des Buback-Nachrufs verantwortlich gemacht wurden. Material zum Buback-Nachruf und den unmittelbaren Reaktionen findet sich im Stadtarchiv Göttingen einmal mehr in der Flugschriften-Sammlung.24 Aber auch die Folgen des Buback-Nachrufes schlagen sich in diesem Bestand nieder, etwa in Unterlagen zum politischen Mandat der verfassten Studentenschaft, zum Studentenstreik im Mai 1977, zur Verteidigung des politischen Mandates, zum Vorgehen gegen die Sympathisanten-Szene, zur AStA-Suspendierung im September 1977 sowie zu den Buback-Prozessen.25 Die Inhalte der öffentlichen 23 StadtAG, Best. G 6, FS 10 B 500: Frieden und Abrüstung. – FS 10 B 501: Anti-AtomkraftBewegung. – FS 11 B 510 Radikalenerlass / Berufsverbote. – FS 11 B 516: Ostermärsche. – FS 11 B 519: Sozialabbau und Sparpolitik/Massenarbeitslosigkeit. 24 StadtAG, Best. G 6, FS 10 H 713: Der »Buback-Nachruf« in den Göttinger Nachrichten (GN) des AStA vom 25. 04. 1977 und unmittelbare Reaktionen. 25 StadtAG, Best. G 6, FS 10 H 714: Verstärkte Angriffe des Staates auf die verfasste Studentenschaft (VS) und das politische Mandat nach dem »Buback-Nachruf«. – FS 10 H 715: Der

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Diskussionen und Debatten können anhand der Zeitschriftensammlung nachvollzogen werden. Auch für den Buback-Nachruf und seine Folgen gilt: zu diesem Thema finden sich im Stadtarchiv Göttingen neben der Verwaltungsüberlieferung Materialien von Beteiligten, allerdings in überschaubarem Umfang. Nichtsdestoweniger : ein jüngst zu diesem Thema erschienener Aufsatz wertet vorwiegend Unterlagen aus Privatbesitz und des Universitätsarchivs aus; das Stadtarchiv Göttingen wird in den Quellenhinweisen nicht erwähnt.26 Neben den Unterlagen der drei geschilderten Beispiele besitzt das Stadtarchiv Göttingen insbesondere in den Beständen des Jugendamtes sowie in den »Kleine Erwerbungen« diverse Archivalien, die sich mit den Themenfeldern der Jugendkultur und der sozialen Bewegungen beschäftigen. In den Beständen »Kleine Erwerbungen« finden beispielsweise Unterlagen des Göttinger Jugendrings, des Jazz-Clubs Göttingen, der Jubu-Crew (Arbeitsgemeinschaft Jugendbuch Göttingen) oder des Göttinger Vereins für Jugendfragen.27 Unterlagen zahlreicher Jugendgruppen, -vereine und -verbände enthält der Bestand C 62 Jugendpflege, etwa zu den »Sturmvaganten«, zum Göttinger Jugendbund, zur Jungschar »Sturmgreif« des »Deutschen Guttempler-Orderns«, zur Naturfreundejugend, zur Deutschen Jugend des Ostens sowie zahlreichen weiteren lokalen Gruppen von Verbänden der Jugendkultur.28 Vorhanden sind des Weiteren Zeitungen und Broschüren aus dem studentischen Milieu, etwa der verschiedenen politischen Studentenorganisationen.

Studentenstreik vom 09.-13. 05. 1977 zur Verteidigung des VS mit politischen Mandat. – FS 10 H 716: Kampf des Staates und der Presse gegen die »Sympathisanten-Szene des Terrorismus« (= linke und fortschrittliche Kräfte in der BRD). – FS 10 H 717: Die AStA-Suspendierung vom 15. 09. 1977. – FS 10 H 718: Die »Buback-Prozesse«. 26 Ulrike Wollenhaupt-Schmidt: »aus einer Göttinger Mücke ein bundesweiter Elefant …«. Der Buback-Nachruf und seine Folgen an der Universität Göttingen im Jahr 1977, in: Göttinger Jahrbuch, 2012, 60. Jg., S. 273 – 294. 27 StadtAG, Best. Kl. E. Nr. 174: Göttinger Jugendring. – Kl. E. Nr. 221: Jazz-Club Göttingen. – Kl. E. Nr. 253 Jubu-Crew, Arbeitsgemeinschaft Jugendbuch Göttingen. – Kl. E. Nr. 265: Göttinger Verein für Jugendfragen. 28 StadtAG, Best. C 62 Nr. 196: Die Arbeit der »Sturmvaganten« (1952 – 1959). – C 62 Nr. 197: Vermietung/ Verpachtung von Räumlichkeiten […] an den »Göttinger Jugendbund« (1952 – 1970). – C 62 Nr. 198: Antrag auf Registrierung und Zulassung der Jungschar »Sturmgreif« des »Deutschen Guttempler-Ordens« in Göttingen (1952, 1957 – 1959). – C 62 Nr. 227: Die Tätigkeit der Naturfreundejugend […] (1980 – 1983). – C 62 Nr. 230: Deutsche Jugendgruppen, Kreisgruppen Göttingen, enthält Arbeitsberichte und Informationen von: »Deutsches Jugendrotkreuz«, Deutsche Guttempler-Jugend IOGT«, Deutsche Jugend des Ostens, Adventjugend der Adventgemeinde, Jugendgruppen des Landesjugendheims (1958 – 1978).

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Fazit Die hier ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit an drei Beispielen skizzierten Hinweise auf relevante Archivalien mögen verdeutlichen, dass das Stadtarchiv Göttingen zur Jugendkultur und zu sozialen Bewegungen zwar keineswegs aktiv und systematisch sammelt, aber zu diesen Themen nicht nur das zu erwartende »typische« Verwaltungsschriftgut, sondern durchaus aussagekräftige Unterlagen unterschiedlicher Provenienz und heterogenen Charakters besitzt. Aber, wie eingangs angedeutet, gilt: Kernaufgabe des Stadtarchivs Göttingen indes ist und bleibt die Übernahme, Verwahrung und Erschließung des Archivguts der Stadtverwaltung. Das im Rahmen der Tagung interessierende nicht organisationsgebundene Schriftgut übernimmt das Stadtarchiv Göttingen lediglich sporadisch – leider! Nun stellt sich berechtigterweise die Frage: Warum ist das eigentlich so? Die Antwort ist eher trivial: Weil die Personalausstattung des Stadtarchivs Göttingen nicht ausreicht. Trotz einiger Stelleneinsparungen in den vergangenen Jahren ist das Stadtarchiv Göttingen im Vergleich zu anderen Kommunalarchiven personell zwar noch relativ gut aufgestellt, verfügt hingegen nicht über ausreichende freie Kapazitäten für über die Kerntätigkeiten hinausgehende Aufgaben. Die Einführung eines neuen Dokumentenmanagementsystems (DMS) und der elektronischen Akte, die vielfältigen Aspekte der digitalen Langzeitarchivierung sowie die Nutzungsbetreuung und die Beantwortung zahlreicher Anfragen binden darüber hinaus erhebliche Arbeitszeit. Den zweiten, wenn auch weniger gravierenden Hinderungsgrund einer systematischen Übernahme nicht organisationsgebundenen Materials bildet die hohe Fluktuation der jeweiligen Ansprechpartner (etwa beim AStA), weil die mangelnde Kontinuität die Kooperation und damit eine beständige Überlieferung behindert. Wie aber gelangten die durchaus vorhandenen Unterlagen nichtstädtischer Herkunft bislang in das Stadtarchiv Göttingen? Nun, Göttingen ist zwar eine Großstadt, aber nichtsdestoweniger bilden insbesondere persönliche Kontakte die Grundlage für derlei Erwerbungen. Der Leiter des Archivs – zugleich Leiter des Städtischen Museums – sowie mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bereits seit mehr als zehn Jahren im Stadtarchiv tätig, kennen mögliche Ansprechpartner persönlich und pflegen diese Kontakte, etwa zu einem Trödelladen oder zu privaten Sammlern, die das Stadtarchiv mit Flugschriften und grauer Literatur versorgen oder beispielsweise das Tonarchiv von Radio Pflasterstein, eines illegalen Radiosenders der Hausbesetzerszene, besitzen. Vor kurzem übernahm das Stadtarchiv Göttingen zum Beispiel eine Privatsammlung zum Thema »1968er« mit Flugschriften, Zeitungsausschnitten, Broschüren etc. aus den Jahren 1967 bis 1971. Was also wäre zukünftig zu verbessern? Zunächst erscheint es in diesem

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Zusammenhang als nebensächlich, wo die verschiedenen nicht organisationsgebundenen Unterlagen letztendlich untergebracht werden; wichtig ist vielmehr, dass sie überhaupt dauerhaft sicher aufbewahrt, erschlossen und Interessierten für eine Benutzung zur Verfügung gestellt werden. Es muss nicht fortwährend und ausschließlich das Stadtarchiv Göttingen sein, das diese Aufgabe in der Universitätsstadt übernimmt. Wünschenswert für die Zukunft wäre zur Sicherung der archivwürdigen nichtstädtischen Überlieferung eine wie auch immer gestaltete systematische und kooperative Herangehensweise; derartige Überlegungen existieren im Stadtarchiv Göttingen seit längerer Zeit, ließen sich aufgrund der geschilderten Personalsituation bislang jedoch kaum realisieren. Nichtsdestoweniger wird das Stadtarchiv Anstrengungen in diese Richtung unternehmen, indem beispielsweise demnächst Informationen zu alternativem Schriftgut beim AStA der Universität nachgefragt werden. Das JuzI indes wird vermutlich eher nicht die Initiative ergreifen und seine Unterlagen dem Stadtarchiv anbieten, das widerspräche sicherlich den originären Ambitionen von Autonomie und Selbstverwaltung. Falls doch, würde das Stadtarchiv Göttingen diese Unterlagen selbstverständlich jederzeit gerne übernehmen. Auch wäre eine intensive und grundlegende Vernetzung des Stadtarchivs mit dem Universitätsarchiv und anderen lokalen und überregionalen Institutionen sinnvoll, um etwa die Unterlagen des AStA und der Fachschaften fachgerecht zu erschließen, zu verzeichnen und zu archivieren; Kontakte und erste Kooperationen existieren ja bereits, zumindest ansatzweise. Wie gesagt, geht es nicht darum, dass das Stadtarchiv Göttingen alle diese Unterlagen sein Eigen nennt, sondern um die dauerhaft sichere Aufbewahrung, Erschließung und Verfügbarkeit von Archivgut nichtstädtischer Herkunft. Dass die sachgerechte Archivierung dieser Unterlagen im Sinne einer möglichst lückenlosen Überlieferung überhaupt realisiert wird, stellt das wichtigste Ziel dar. So gesehen, wäre es ja immerhin schon ein erster Schritt in die richtige Richtung, zukünftig neue, durchaus ungewöhnliche Kontakte zu knüpfen und auf diesem Wege gegenseitige Skepsis, Berührungsängste sowie hinderliche Voreingenommenheit abzubauen, um in der Folge das je nach Blickwinkel sicherlich sehr unterschiedliche, gleichwohl ubiquitäre Interesse an der Historie gemeinsam zu fördern und voranzubringen. Die Kontinuität einer möglichst lückenlosen Überlieferung relevanter Unterlagen sicherzustellen und durch eine dem gemäße kooperative Vorgehensweise – inklusive einer sinnvollen Nutzung der Chancen und der Möglichkeiten digitaler Netzwerke – der Erforschung der Stadtgeschichte frische Impulse, unorthodoxe Arbeitsansätze und innovative Ideen zu liefern, läge sicherlich nicht nur in der Universitätsstadt Göttingen im Interesse aller Beteiligten. Dadurch würde zugleich die eingangs gemachte Feststellung obsolet, das Tagungsmotto »Sammeln – erschließen – vernetzen«

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träfe auf das Stadtarchiv Göttingen für die Themen Jugendkulturen und soziale Bewegungen leider nicht zu. Für die Zukunft bleibt also Vieles zu tun…

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Grau und bunt. Jugendkultur und soziale Bewegungen in einem großstädtischen Archiv

In einem städtischen Archiv dokumentieren Quellen zur Geschichte von Jugendkulturen und sozialen Bewegungen in erster Linie die Sicht von städtischer Verwaltung und Politik auf und den Kontakt mit derartigen soziokulturellen Phänomenen – und das heißt: Akten füllen sich vornehmlich nur dann, wenn es um Geld geht (Kulturförderung) oder in Konfliktfällen. In vielen Fällen bleiben Bewegungen »unsichtbar«, wenn nämlich diese Faktoren fehlen. Und schon gar nicht erscheinen einzelne Protagonisten in dieser Überlieferung, wenn nicht durch archivisches Engagement einschlägige Personennachlässe ins Haus geholt werden oder Mitglieder einer Bewegung als exponierte Aktivisten, gewählte Vertreter oder gar städtische Mitarbeiter (etwa in einem Jugendzentrum) in unmittelbaren Kontakt mit der Verwaltung treten. Städtische Archive sind daher strukturell eher ungeeignet, Jugendkulturen und soziale Bewegungen quellenmäßig zu dokumentieren. Diese Feststellung steht allerdings im Gegensatz zu der Tatsache, dass viele dieser Bewegungen und Kulturen genuin städtische Phänomene sind und sich insbesondere im großstädtischen Terrain, teilweise sogar direkt in öffentlichen oder öffentlich geförderten Einrichtungen wie Jugend- und Kulturzentren entwickeln. Gerade städtische Archive, deren Aufgabe ja (auch) die Dokumentation der jeweils eigenen Stadtgeschichte ist, sollten also in der Lage sein, diese spannenden stadtkulturellen Entwicklungen in ihren Unterlagen abzubilden. Im Folgenden soll anhand dreier Beispiele aus dem Stadtarchiv Hannover gezeigt werden, in welchen Aktenbeständen sich Jugendkulturen und soziale Bewegungen der jüngeren Geschichte bislang niedergeschlagen haben. Ausgewählt wurden hierfür die neue deutsche Frauenbewegung, die Punk-Bewegung und die Anti-AKW-Bewegung.

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Das Stadtarchiv Hannover Das Archiv der Landeshauptstadt Hannover verfügt derzeit über ca. 10 km Unterlagen, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen und von etwa 15 MitarbeiterInnen betreut und zugänglich gemacht werden. Den Schwerpunkt der Überlieferung bildet das historische Schriftgut der Stadtverwaltung seit etwa 1850; diese Bestände, in der Mehrzahl Akten, machen knapp zwei Drittel der rund 250 000 verzeichneten Einheiten aus. Zur nicht-städtischen Provenienz gehören u. a. je etwa 30 Vereins- und Firmenüberlieferungen sowie mehr als 400 Personennachlässe – darunter übrigens auch Dokumente von Enno Narten, einem Mitbegründer der Jugendburg Ludwigstein. Ausdruck des gestiegenen Interesses an der Dokumentation privater Biografien im Stadtarchiv ist die wachsende Zahl der Zugänge in diesem Bereich: Allein in den 1990er- und 2000er-Jahren hat das Archiv gut 370 private Nachlässe akzessioniert, gegenüber nicht einmal 60 in den vier Jahrzehnten davor. Mehr als ein Drittel aller Archivalien des Stadtarchivs ist allerdings aufgrund organisatorischer Probleme noch nicht verzeichnet und damit nur eingeschränkt benutzbar ; dies betrifft insbesondere die private Überlieferung. Aus dem Bereich der jüngeren soziopolitischen Bewegungen liegen u. a. Bestände zur Arbeiter- und Studentenbewegung der 1960er-/1970er-Jahre (Bsp. »Aktion Roter Punkt«) vor. Alltagskulturelle Dokumente finden sich u. a. in zeitgeschichtlichen Sammlungen von Plakaten, Flyern, Veranstaltungsmagazinen und Werbemedien. Ein zumindest temporärer Sammlungsschwerpunkt besteht ferner im Bereich der Frauenbewegung – dazu unten mehr.

Beispiel 1: Der Punk in der Akte Ende der 1970er-Jahre schwappte die Punk-Kultur aus England nach Deutschland herüber. In Hannover, damals noch Standort zahlreicher junger Soldaten der englischen Streitkräfte, gab es bereits um 1980 eine recht lebendige Punkszene, die durch frische neue Bands (u. a. schon 1977 Rotzkotz, 1978 Hans-APlast, 1980 Klischee, 1981 Boskops, 1983 Abstürzende Brieftauben), Happenings wie Demonstrationszüge durch den alljährlichen Weihnachtsmarkt sowie öffentliches Herumlungern insbesondere vor dem Hauptbahnhof von sich reden machte.1 Auch die bis heute bestehende APPD – Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands entstand 1981 in Hannover. Neben der Musikszene sorgten jedoch v. a. die 1982 – 1985 und noch einmal 1994 als »Chaostage« ausgerufenen bun1 Vgl. zur Punkbewegung u. a. in Hannover : Ute Wieners: Zum Glück gab es Punk. Autobiographische Erzählungen, Hannover 2012; Hollow Skai: Punk, Berlin 2008.

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desweiten Punkertreffen sowie die in Reaktion darauf von der niedersächsischen Polizei eingerichtete »Punkerkartei« für eine überregionale Bekanntheit Hannovers als Punk-Hochburg. In der öffentlichen Wahrnehmung kristallisierten sich zwei weitere Kulminationspunkte der neuen Bewegung heraus: das Unabhängige Jugendzentrum Kornstraße als Treffpunkt und Konzert-Location sowie, nach 1987, das besetzte Gelände der Sprengel-Schokoladenfabrik als Wohnort eines Teils der Punker-Szene.

Chaostage Als unangemeldete und auch nicht im eigentlichen Sinne organisierte öffentliche Versammlungen stellten die regelmäßig von gewaltsamen Zusammenstößen und Sachbeschädigungen geprägten Chaostage für die Stadt zunächst einmal ein ordnungspolitisches Problem dar, für das die Polizei, nicht die Stadt zuständig war. Deren Überlieferung befindet sich im Niedersächsischen Landesarchiv. Allerdings wurden die Veranstaltungen in weiten Teilen von Öffentlichkeit und Politik als schwerer Image-Schaden für die Landeshauptstadt verstanden, so dass auch die städtischen Institutionen zunehmend unter Handlungsdruck gerieten. Das Presseamt dokumentierte die Vorkommnisse daher genau und fügte sie in seiner Zeitungsausschnittsammlung in die eigens für solche Vorfälle gebildete Rubrik »Protestaktionen, Demos, Bürgerinitiativen, Unruhen« ein.2 In der übrigen städtischen Aktenüberlieferung hingegen, soweit sie im Stadtarchiv ist, finden sich bislang nur dort Hinweise auf die Ereignisse, wo städtische Einrichtungen direkt betroffen wurden. So befasst sich eine Akte des Jugendamts mit den Chaostagen 1984, nachdem die von der Polizei über viele Stunden am Unabhängigen Jugendzentrum Glocksee eingekesselten Punks zusammen mit anderen Teilnehmern die Inneneinrichtung des von der Stadt maßgeblich unterstützten Zentrums zerlegt hatten.3 Im Fokus stehen dabei allerdings verständlicherweise die entstandenen Sachschäden und das Verhalten der Polizei, weniger hingegen die kulturellen Vorlieben der Täter. Auch in den Protokollen von Rat, Verwaltungs-, Jugend- und Kulturausschuss geht es zwar gelegentlich um Punks, doch auch hier bleibt ihr Bild blass. Dies wird z. B. in der Ratsdebatte über die »Punker-Kartei« deutlich, in der es v. a. um die gesetzlichen, datenschutzrechtlichen und historischen Aspekte bzw. Probleme von Randgruppenkarteien ging, während die darin Erfassten kaum weiter thematisiert wurden.4 Die Ereignisse während der »Chaostage« 1984 fanden in 2 Vgl. StadtA Hannover (StadtAH), Presseamt Nr. 890-904. 3 Vgl. StadtAH, Jugendamt Nr. 271. 4 Vgl. StadtAH, Rat Nr. 1084-1086, Sitzungen v. 25. 11. 1982, 16. 12. 1982 u. 13. 01. 1983.

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den unmittelbar danach abgehaltenen Versammlungen der städtischen Gremien nicht einmal Erwähnung.5 Erst als die 1994 und v. a. 1995 ausgerufenen »Chaostage« in neuerlichen polizeilichen Großeinsätzen endeten und ein von Punkern und Demonstranten, aber auch Zaungästen und Anwohnern geplünderter Supermarkt Hannover weltweit in die Schlagzeilen brachte, befasste sich die Ratsversammlung gleich in mehreren Dringlichkeitsanträgen mit dem Problem.6 Dominierendes Thema blieben jedoch auch hier Gewalt und Gegengewalt der Polizei.

Das UJZ Kornstraße Das 1972 von links-alternativen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen gegründete Unabhängige Jugendzentrum Kornstraße stand fast von Beginn an in Kontakt mit der Stadtverwaltung, da es umgehend städtische Fördergelder beantragte und ab 1974 auch erhielt. Um 1980 eskalierte die politische Auseinandersetzung um diese Förderung, nachdem Aktivisten der »Korn« als Initiatoren gewalttätiger Demonstrationen gegen eine öffentliche Rekrutenvereidigung in Hannover ausgemacht worden waren. Dessen ungeachtet konnten Mitglieder der Kornstraßen-Initiative ihr Domizil 1982 käuflich erwerben und die Arbeit – bis heute – fortsetzen. Zur finanziellen Förderung des Zentrums finden sich zahlreiche Akten im Bestand Jugendamt, die jedoch fast ausschließlich den Zeitraum 1972 – 1977 behandeln und damit knapp zu alt sind.7 Die jüngere Überlieferung befindet sich noch nicht im Archiv ; sofern sie überhaupt erhalten ist, schöpft das Jugendamt hier die nach dem Niedersächsischen Archivgesetz maximal zulässige Frist für eine Aktenabgabe von 30 Jahren restlos aus.8 Die wenigen zeitlich passenden Akten wiederum behandeln ausschließlich die um 1980 geführten Auseinandersetzungen um die Förderung des Zentrums; diese Debatten finden sich in kondensierter Form ebenfalls in den Beständen Handakten des Oberbürgermeisters und Büro des Oberbürgermeisters.9 Vereinzelt enthalten diese Akten auch Texte oder Flugblätter aus dem Korn-Umfeld, die dessen gewaltbereite bzw. staatsfeindliche politische Ausrichtung belegen sollten. Punks, das verraten Inhalt und Gestaltung der Blätter (es dominieren links-alternative Rhetorik und 5 6 7 8

Vgl. StadtAH, Rat Nr. 1102, 1310 u. 1329. Vgl. StadtAH, Rat Nr. 1993, Sitzung v. 17. 08. 1995. Vgl. StadtAH, Jugendamt Nr. 14, 64, 302-310, 401. Vgl. Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut in Niedersachsen v. 25. 05. 1993, § 3 (1). 9 Vgl. StadtAH, Jugendamt Nr. 300/301; Bestand Handakten Schmalstieg Nr. 540/541; Büro OB Nr. 147.

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die Gerhard Seyfried’schen Comicfiguren der Studentenbewegung), sind dort jedoch nicht dokumentiert, vermutlich, weil diese an den politischen Aktivitäten zwar vielleicht praktisch, aber nicht theoretisch beteiligt waren und auch erst nach 1980 größere Präsenz im Zentrum erlangten. Gleiches gilt für die bislang einzige im Stadtarchiv vorhandene Selbstdarstellung des Zentrums, die 1977 erstellt wurde.10 Konzertplakate, Flugblätter oder in Hannover entstandene Punk-Fanzines wie etwa »Hackfleisch«, »Pogogirl« oder »No Fun«, die nähere Auskunft über Punk-Veranstaltungen in der Korn sowie über die politische oder kulturelle Ausprägung der Szene geben könnten, fehlen im Archiv vollständig. Lediglich im hier archivierten, kommerziellen Veranstaltungsmagazin »Schädelspalter« lassen sich gelegentlich Termine und Bands von Punk-Konzerten in der Stadt nachvollziehen – sofern denn der Leser oder die Leserin in der Lage ist, die einschlägigen Bands zu identifizieren.11

Das Sprengelgelände 1987 wurde das nur wenige Hundert Meter von der Kornstraße entfernte, verlassene Fabrikgelände des Schokoladenherstellers Sprengel in der hannoverschen Nordstadt besetzt. Im Laufe der folgenden Jahre entstand in dem Gebäudekomplex u. a. ein Wohnprojekt, in dem sich linke AktivistInnen, jugendliche Wohnungssuchende, Studierende, aber auch Anhänger der Punkszene einquartierten. Nachdem die Besetzung zunächst durch eine Räumung beendet und schließlich 1992 durch einen Vertrag mit der inzwischen als Eigentümerin eingetretenen Stadt in legale Bahnen gelenkt worden war, eskalierte die Situation in und um das Gelände noch einmal 1994/95 anlässlich der bereits erwähnten, diesmal in die Nordstadt verlagerten Chaostage. Auch zum politisch hoch umstrittenen Sprengelgelände wurden vom Presseamt sowie vom Leiter einer benachbarten städtischen Jugendeinrichtung Zeitungsdokumentationen erstellt, die inzwischen im Archiv zugänglich sind.12 Das Stadtarchiv hat ferner in der jüngeren Vergangenheit mehrere Akten zum Sprengelgelände übernommen. Eine noch nicht erschlossene, umfangreiche Aktenüberlieferung des Rechtsamts zu dem von der Stadt gegen die Besetzer angestrengten Prozess macht diese zwar als Individuen kenntlich, hebt aber auf ihren jeweiligen jugendkulturellen Hintergrund nicht ab – vor Gericht sind eben 10 Vgl. StadtAH, Kps. 3604: 5 Jahre Unabhängiges Jugendzentrum Kornstraße Hannover, Dokumentation, Hannover 1977. 11 Vgl. z. B. Schädelspalter, 1991, Heft 11: Aufnahme eines Punk-Samplers in der Korn, Konzert der »Ramones« in der Rotation. 12 Vgl. StadtAH, Presseamt Nr. 1104-1107: Jugendamt Nr. 81, Jugendtreff »Feuerwache«.

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(im Idealfall) tatsächlich alle Bürger gleich. Ergiebiger ist auch hier die vom Rechtsamt begleitend erstellte Pressedokumentation über Besetzung, Demonstrationen und Polizeiaktionen, in der Punks z. B. auf Zeitungsfotos erscheinen.13 In ähnlicher Weise geht die Aktenüberlieferung aus dem Büro des Oberstadtdirektors zum Sprengelgelände nicht detailliert auf die unterschiedlichen Fraktionen der Besetzer ein, unter denen Punks nur eine von mehreren Gruppen darstellten.14 Und auch in einem weiteren Aktenkonvolut, das sich aus Sicht des Stadtsanierungsprogramms mit den baulichen und stadtplanerischen Perspektiven des Komplexes befasst, wird im erkennbaren Bemühen um eine deeskalierende Haltung lediglich von »alternativen Wohnformen« und »verschiedenen Nutzungsinteressen« der unterschiedlichen Bewohner gesprochen.15 Selbstzeugnisse aus dem Sprengelumfeld beschränken sich im Stadtarchiv bislang auf einige Plakate und Veranstaltungsprogramme der ebenfalls dort beheimateten Kino-Initiative sowie auf die biografisch angelegte Filmdokumentation eines langjährigen Sprengel-Bewohners.16 In der frei verkäuflichen, jedoch nur in geringer Auflage erstellten DVD kommt, immerhin, auch die Punk-Autorin Ute Wieners mehrfach zu Wort (vgl. Anm. 1), wenngleich das zentrale Thema hier nicht »Punk«, sondern »Sprengel« ist.

Fazit In den bislang im Stadtarchiv verfügbaren Unterlagen werden die kulturellen Eigenheiten der Punker-Szene kaum sichtbar. Als randständige subkulturelle Jugendbewegung, die sich wesentlich durch Musik, Kleidung und Verhalten definierte und praktisch keine organisierten Formen annahm, hat die Punkbewegung in einem v. a. auf Textquellen angewiesenen Stadtarchiv offenbar besonders schlechte Überlieferungschancen. Wo sie dennoch einmal sichtbar wird, wie etwa in Meldungen aus der Musikszene, bleibt es überdies der Fähigkeit der Archivs bzw. seiner BenutzerInnen überlassen, die kulturellen Codes richtig zu entziffern und den Punk in der Akte zu erkennen. Das ergiebigste Bild der hannoverschen Punkkultur ergibt sich im Stadtarchiv aus einer im Prinzip eher »unarchivischen«, öffentlichen Quellengattung: den verschiedenen Pressedokumentationen. Wer jedoch mehr erfahren und authentischere Quellen nutzen will, ist an anderen Stellen, etwa im Berliner Archiv der Jugendkulturen 13 14 15 16

Vgl. StadtAH, Akz 8/2009. Vgl. StadtAH, Büro Oberstadtdirektor Nr. 67-75. Vgl. StadtAH, Akz 59/2010. Vgl. StadtAH, Akz. 126/2011: Film-DVD »Sprengel – ein Stück Schlaraffenland« v. Ralf-Peter Post 2011.

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oder auf der Website »Punkfoto« erheblich besser bedient – oder er/sie hört einfach die Musik.17

Beispiel 2: AKW? – Nee! Wie in allen deutschen Großstädten entstand auch in Hannover im Verlauf der späten 1970er Jahre eine breit gefächerte lokale Anti-AKW-Bewegung, die sich aus dem Engagement von Einzelpersonen, neuen Initiativen und bereits bestehenden Organisationen speiste. Die Stadt war von dieser Bewegung dort betroffen, wo Gruppen städtische Räume und Einrichtungen für Treffen oder Veranstaltungen anmieteten oder wo sie durch Demonstrationen den öffentlichen Raum für sich beanspruchten. Der Niederschlag solcher Ereignisse im Archiv ist jedoch äußerst gering.18 Einschlägige Abgaben des Ordnungsamts z. B. fehlen bislang völlig. Besser ist die Überlieferung dort, wo die Bewegung in das politische Geschehen der Stadt eingriff. Dies war insbesondere ab 1981 der Fall, als die Wahlvereinigung GABL – Grün-Alternative Bürgerliste als Vorläuferin der heutigen Partei Bündnis 90/ DIE GRÜNEN in den hannoverschen Rat einzog.19 Ein Aktenbestand des GRÜNEN-Kreisverbands Hannover im Stadtarchiv enthält zahlreiche Bezüge zur Ani-AKW-Bewegung.20 Im Presseamt beobachtete man auch diese Initiativen genau und legte zahlreiche Ordner mit Zeitungsdokumentationen zum Bereich Umweltschutz/AntiAKW an.21 Ein größeres Forum fand die Bewegung ferner in zwei dem linken oder »alternativen« Spektrum zuzurechnenden, allerdings nur kurzlebigen Lokalzeitschriften, der »Stadtpost« (1978 – 1982) und der »Nana« (1982/83). Darüber hinaus ist die weit gefächerte graue Literatur aus der Anti-AKW-Bewegung, mit Ausnahme einiger Parteiblätter der GRÜNEN, in der Bibliothek des Archivs jedoch nur mit wenigen Titeln vertreten.22 17 Vgl. URL: http://www.punkfoto.de [06. 05. 2014]. 18 Eines der wenigen Beispiele: StadtAH, Bestand Kulturamt Nr. 1185: Freizeitheim Döhren, enthält u. a. Durchführung von Gerichtsprozessen im FZH wg. Räumung des Anti-AtomDorfes in Grohnde 1977-1982. 19 Vgl. StadtAH, Rat Nr. 1077 ff. 20 Vgl. StadtAH, Bestand DIE GRÜNEN. 21 Vgl. erneut StadtAH, Presseamt, Gruppe 1.65: Protestaktionen, Demos, Bürgerinitiativen, Unruhen, Nr. 890-904 u. 316. 22 Vgl. z. B. StadtAH, Kps 3482: Grohnde, Dokumentation [zur Demonstration am] 19.03.77, Hannover 1977. – Kps 4448: Umwelt-Depesche: Ein Atomkraftwerk für jede Stadt, Hannover 1988. – Kps 5736: Wolfgang Pahl, Gefahr für den Fortbestand des Sommerlagers HinrichWilhelm-Kopf, Hannover o. D., um 1974. – Im Bestand DIE GRÜNEN befinden sich u. a. Ausgaben der Zeitschriften Grüner Basis-Dienst und Grünes Bulletin (Bund), Grüne Informationen und Grüne Illustrierte (Niedersachsen) sowie Flex, Grübl und Gabelstabler (Hannover), in denen auch Anti-AKW-Themen behandelt werden.

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Das »Anti-Atom-Archiv« Masuch 2010 übergab die Anti-Atom-Aktivistin Anna Masuch ihre mehr als 30 laufende Aktenmeter umfassende private Materialsammlung dem Stadtarchiv als Depositum (Dauerleihgabe).23 Drei Gründe können als ausschlaggebend für diese Abgabe betrachtet werden: Die inzwischen weit über 70-jährige Leihgeberin musste wegen eines Umzugs ihren Hausstand verkleinern, sie hatte sich inzwischen anderen Aufgabenfeldern zugewandt und sie war sich, als frühere Professorin, der potentiellen stadthistorischen Bedeutung ihrer Sammlung bewusst. Als vierter Faktor kann angeführt werden, dass die überwiegend aus den 1980er-/ 1990er-Jahren stammenden Unterlagen inzwischen wohl kein Risiko mehr für sie oder die Bewegung darstellen, wenn sie im Stadtarchiv für Ermittlungsbehörden oder, nach Ablauf der 30-jährigen Aktensperrfrist, auch für politische Gegner oder Medienvertreter einsehbar werden. Der Bestand selbst weist für das Archiv, trotz seines Wertes, einen ambivalenten Charakter auf. Die in 33 Umzugskartons angelieferte Sammlung besteht zu einem Viertel aus Publikationen, die – im Prinzip – auch anderswo einsehbar und daher nicht als Archivgut im engeren Sinne zu betrachten sind. Ein weiteres Drittel, immerhin elf große Kisten, besteht aus persönlichen Dokumenten aus dem Familiennachlass der Leihgeberin.24 Und auch vom verbleibenden Rest entfallen noch mindestens drei Kisten auf Drucksachen und Manuskripte, die von auswärtigen Initiativen zu verschiedenen Problemkreisen, insbesondere zum Endlager Schacht Konrad erstellt wurden, sowie auf die Dokumentation eines Uni-Seminars zur Akzeptanzforschung am Beispiel von Bürgerinitiativen. Nur ein gutes Drittel der Abgabe enthält somit jenes Material, das innere Einblicke in die hannoversche Anti-AKW-Bewegung jener Zeit erlaubt und den wertvollen Kern dieser Überlieferung ausmacht: Protokolle von Versammlungen, Briefkorrespondenz, Dokumentationen von Kongressen, Veranstaltungen und Demonstrationen, chronologische Zusammenstellungen von Presseberichten, Flugblättern, Plakaten usw., daneben auch andere Medien wie Aufkleber, Videokassetten, Fotos und Wandzeitungen. Außerdem sind zahlreiche Redemanuskripte, Texte und Veröffentlichungen der Depositarin selbst enthalten. Unterm Strich rechtfertigten diese Bestandteile die Übernahme des »Gesamtpakets« durchaus, zumal die Depositarin durch die Anfertigung einer Inhaltsliste bereits erhebliche Vorarbeiten zur Ordnung und Verzeichnung des Bestands geleistet hat – bei den begrenzten Arbeitskapazitäten des Archivs ein durchaus wichtiger Aspekt. Positiven Einfluss auf die Bewertung des Angebots hatte ferner Frau Masuchs Position innerhalb der Bewegung: Als langjährige 23 Vgl. StadtAH, Dep. Nachlass Masuch – Anti-Atom-Archiv. 24 Jetzt: StadtAH, Dep. Nachlass Breyer.

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und engagierte Aktivistin war sie auch überregional sehr gut vernetzt, trat bei nationalen und internationalen Kongressen als Mitorganisatorin und Referentin auf, hielt Briefkontakte zu zahlreichen Mitgliedern der bundesweiten Bewegung und ihrer Organisationen. Zugleich bewegte sie sich sicher zwischen allen Verästelungen der lokalen hannoverschen Szene, besuchte das »Atomplenum« der Autonomen-Fraktion ebenso wie Zusammenkünfte der »TschernobylMütter« oder die breiten Bündnistreffen im zentralen Kulturzentrum »Pavillon«.

Fazit Mit dem »Anti-Atom-Archiv« von Anna Masuch hat das Stadtarchiv eine wertvolle und perspektivisch gut nutzbare Quelle erhalten, die die sehr schmale städtische Überlieferung zu dieser soziopolitischen Bewegung mehr als nur ergänzt.

Beispiel 3: Frauenbewegung Wie im Fall anderer sozialer Bewegungen auch geben die städtischen Unterlagen in Bezug auf die Alte und die Neue Frauenbewegung in erster Linie den Blick von Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung auf diese gesellschaftlichen Erscheinungen und ihre Protagonistinnen wieder. Auch die Quellengruppen, in denen über die Alte und die Neue Frauenbewegung in einem Kommunalarchiv geforscht werden kann, unterscheiden sich daher nicht wesentlich von den schon angeführten Typen amtlicher Unterlagen zu den anderen sozialen Bewegungen. Aktivistinnen und Frauenvereinigungen treten im amtlichen Schriftgut zumeist als Bitt- oder Antragstellerinnen, Beschwerdeführerinnen, institutionelle Partnerinnen oder auch als Politikerinnen und ggf. als städtische Bedienstete auf. Material findet sich in Rats- und Ausschussprotokollen, in städtischen Akten über Vereine und andere Institutionen des Milieus, mit denen die Stadtverwaltung in verschiedenen Zusammenhängen Berührung hatte, etwa als Ordnungsbehörde oder als fördernde Körperschaft. Für die Jahre ab 1986 liegt eine neuartige Quelle vor, nämlich die Überlieferung der städtischen Frauenbeauftragten, einer Einrichtung, die aus der Frauenbewegung hervorgegangen ist und einen Erfolg des Marsches der Generation der »68er« durch die Institutionen par excellence darstellt (und sich in Hannover übrigens verhältnismäßig früh etabliert hat). Begleitet wurde die Frauenbeauftragte ab 1990 von einer Kommission, ab 2002 von einem eigenen Gleichstellungsausschuss des Rates. In den Unterlagen des städtischen Frauenbüros und der zuständigen Ratsgremien finden sich immer wieder Bezüge zum nicht-staatlichen Bereich

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Quelle: StadtAH, Sammlung Plakate, Nr. 5097.

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mit Informationen und Quellen, die über die engere kommunale Überlieferung hinaus- und in die jüngste Frauenbewegung hineinreichen. Die langjährige Frauenbeauftragte hat 2006 auf der Grundlage ihrer dem Stadtarchiv übergebenen Unterlagen eine erste Bilanz der Arbeit ihrer Dienststelle vorlegen können.25 Im Jahr 1999 übernahm das Stadtarchiv Hannover Unterlagen des Vereins 750 Jahre Frauen und Hannover e.V. Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen des Stadtjubiläums hatte der von der Stadt Hannover geförderte Verein Materialien zur Frauengeschichte in Hannover zusammengestellt und teilweise in Ausstellungen und Publikationen ausgewertet.26 Der Bestand bietet v. a. Quellen- und Literaturnachweise für weitere Forschungen auf diesem Gebiet, enthält aber auch Originalquellen zur Neuen (Autonomen) Frauenbewegung. Nicht zuletzt gibt er Auskunft über den Verein selbst und damit über eine typische Erscheinung der späten Neuen Frauenbewegung im ausgehenden 20. Jahrhundert. Durch Verbreitung von Flyern und aktive Ansprache von Vereinen und Initiativen versuchte das Stadtarchiv weiteres nicht-amtliches Material zur Frauengeschichte in Hannover einzuwerben und ein »Frauenarchiv« im Stadtarchiv aufzubauen. Auch eine weitere attraktive historische Grundlage für ein solches Frauenarchiv ist im Stadtarchiv durchaus vorhanden: der umfangreiche Nachlass einer der profiliertesten Vorkämpferinnen für die höhere Mädchen- und Frauenbildung im Deutschen Kaiserreich, Hedwig Kettler.27 Die Ergänzung dieses Fundus’ durch weitere Bestände zur Alten Frauenbewegung und seine Erweiterung um Quellen aus dem Milieu der Neuen Frauenbewegung waren die ehrgeizigen Ziele des Stadtarchivs zu Beginn des neuen Jahrtausends. Und tatsächlich konnte es in den folgenden Jahren einige Unterlagen aus privater Hand zur hannoverschen Frauengeschichte übernehmen, darunter neben weiteren Vereinsbeständen (Gedok Hannover e.V. 1928 – 1999; Frauen und Expo e.V. 1997 – 2001) zahlreiche interessante Dokumente aus der nicht in Vereinsstrukturen agierenden Frauenbewegung der 1980er-Jahre mit teilweise großem anschaulichen Wert. Insgesamt gesehen ist diese Initiative des Stadtarchivs aber nur mäßig erfolgreich gewesen. Gerade auch die Einwerbung von weiteren Unterlagen zur 25 Karin Ehrich: 20 Jahre Frauenförderung in der Landeshauptstadt Hannover. Daten, Fakten, Impressionen, hg. v. Referat für Frauen und Gleichstellung, Hannover 2006. 26 Vgl. Martina Jung: »… den Kopf noch fest auf dem Hals«. Frauen in Hannover 1945 – 1948 (Ausstellung im KUBUS Hannover), Hannover 1991; Karin Ehrich (Hg.): Adlige, Arbeiterinnen und …. Frauenleben in Stadt und Region Hannover vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (Materialien zur Regionalgeschichte; 1), Bielefeld 1999. 27 Vgl. Marion Bock: Hedwig Kettler. Eine Wegbereiterin gymnasialer Mädchenbildung, in: Hannoversche Geschichtsblätter, 1990, N.F. 44, S. 53-70.

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Neuen Frauenbewegung ist nicht auf die erhoffte breite Resonanz gestoßen, obwohl es durchaus Unterstützung durch gut vernetzte Forscherinnen und die städtische Frauenbeauftragte gab. Wegen der Personalknappheit und der anderen, dringenderen Pflichtaufgaben des Stadtarchivs konnte das Vorhaben schon bald nicht mehr aktiv weiter verfolgt werden. Wesentlich erfolgreicher ist das kurze Zeit später in Braunschweig gestartete (und anfangs durch das Stadtarchiv Hannover beratene) Projekt zum Aufbau eines Frauenarchivs im dortigen Stadtarchiv verlaufen. Im Unterschied zu Hannover ging die Initiative in Braunschweig von inzwischen etablierten und in die Jahre gekommenen Vertreterinnen der lokalen Neuen Frauenbewegung aus, die schon in den Anfängen des Projektes die Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Braunschweig suchten.28 Sie gründeten 2003 den Verein FrauenArchiv Braunschweig e. V., um historische sowie aktuelle Dokumente zu sichern, die das Leben von Frauen in Braunschweig dokumentieren können. Eine Projektmitarbeiterin sammelte das Material, ein als Archivar ausgebildeter Mitarbeiter des Stadtarchivs erschloss die Unterlagen. Finanziell gefördert wurde das Projekt von der Stiftung Nord LB/Öffentliche. Anfang 2006 wurde der Verein aufgelöst, weil er seine Aufbauarbeit erfolgreich beendet hatte. Seitdem steht im Stadtarchiv Braunschweig eine im Vergleich zu Hannover sehr viel größere Anzahl von Quellen, aber auch eine qualitativ viel breitere Überlieferung zur lokalen Frauengeschichte zur Benutzung bereit, die weit über die amtlichen Dokumente hinausgeht und eine überzeugende Basis für die Einwerbung weiterer Unterlagen aus diesem Segment der sozialen Bewegungen darstellt. Zum großen Erfolg dieses Projektes trug neben der großzügigen finanziellen Förderung die aktive Begleitung durch die gut im Milieu der Braunschweiger Frauenbewegung vernetzten Initiatorinnen bei. Ihren Kontakten und ihrer Überzeugungskraft ist es sicher zum großen Teil zuzuschreiben, dass so viele Quellen aus privater Hand in ein öffentliches Archiv gelangten.

Resumee Auch das letzte Beispiel aus dem Stadtarchiv Hannover und der Vergleich mit einem ähnlichen Versuch in Braunschweig zeigen, dass eine nennenswerte Überlieferung zu jugend- und anderen soziokulturellen Bewegungen außerhalb der verwaltungsinternen Aktenabgaben nur durch eine aktive Sammlungspolitik geschaffen werden kann, wenn das Archiv über »Zufallsfunde« und die oftmals von persönlichen Vorlieben der MitarbeiterInnen abhängigen privaten 28 Vgl. URL: http://www.braunschweig.de/kultur/bibliotheken_archive/stadtarchiv/frauen archiv.html [18. 02. 2014].

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Akquisitionen hinaus gelangen will. Dies gilt umso mehr, als öffentliche Archive wie Kommunalarchive aufgrund ihrer »Bewegungsferne« meist nur eingeschränkten Zugang zu solchem Material haben – zumal, wenn dieses aus einem subkulturellen Milieu stammt, das mit staatlichen Institutionen auch polizeiliche oder politische Repression verknüpft. Da indes die Leistungsfähigkeit (und der Magazinraum) der Archive begrenzt und die Abbildung derartiger Bewegungen zwar wünschenswert, aber eben keine Pflichtaufgabe eines Stadtarchivs ist, hängt der Erfolg solcher Bemühungen in der Praxis nur zu oft vom besonderen, auch außerdienstlichen bzw. privaten Engagement der MitarbeiterInnen sowie deren Vernetzung im kulturellen Leben der Stadt ab. Gegenüber vielen, häufig leider schlecht ausgestatteten freien Archiven bietet ein Stadtarchiv jedoch immerhin die Vorteile einer institutionell abgesicherten, professionell geführten Einrichtung: dauerhafte Existenz, geregelter und gleichberechtigter Zugang, benutzbare und zitierfähige Erschließung sowie konservatorisch einwandfreie Lagerung des Archivgutes. Darüber hinaus besteht Hoffnung, dass zu den hier ausgewählten, jüngeren soziokulturellen Bewegungen (d. h. jenen der 1970er- bis 1990er-Jahre) in Zukunft doch noch vermehrt Materialien in kommunale Hände gelangen werden. Denn schließlich zeigt die Erfahrung, dass die Bereitschaft zur Abgabe von Unterlagen an Archive mit der wachsenden historischen wie biographischen Distanz zu den Ereignissen – sprich: mit dem Älterwerden der ProtagonistInnen – stetig steigt. Und auch an öffentliche Archive geben die Aktivisten von sozialen Bewegungen ab, wenn sie selbst mit ihren Zielen in der Mehrheitsgesellschaft angekommen sind.

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Bewegung bewahren in Freien Archiven – Chancen und Probleme der Überlieferungsbildung

Authentische Dokumente sammeln: Der Auftrag der Freien Archive Die Überzeugung, dass seriöse historische Forschung auf Quellenstudium fußt, ist heute gemeinhin unstrittig. Aber was genau sind historische Quellen und wie kommen sie in welche Archive? Der Historiker und Archivar Peter Dohms konstatierte 1997, dass die in staatlichen Archiven liegenden Quellen bei weitem kein ausreichendes Abbild gesellschaftlicher Prozesse für die kulturelle Überlieferung bilden. »Dass die Sicht der Bürokratie«, so Dohms, »vielfach die offiziöse Bekundung des Geschehens darstellt und insofern […] die Sachverhalte verzerrt, dass Hintergründe von Entscheidungen und die wahren Motive der Akteure heutzutage selten aus Verwaltungsakten zu gewinnen sind […] ist eine nicht nur unter Archivaren geläufige Erfahrungstatsache.«1 Das fanden, um ein erstes Beispiel zu bringen, auch einige Hamburger AktivistInnen, als sie sich um 1990 zum FotoArchivKollektiv zusammenschlossen, mit dem Ziel der »solidarische[n] bildliche[n] Dokumentation von Aktionen linker Gruppen […], auch, um diesen die Möglichkeit zu bieten, mit Publikationen ihre Arbeit aus eigener Sicht zu erklären. Häufig waren keine anderen Fotograf_innen vor Ort, manchmal auch nur die etablierten Medien (zum Beispiel der Springer-Presse), in denen, wenn überhaupt, meist verfälschende oder verkürzte Darstellungen der Ereignisse erschienen. […] Aus dem Material erwuchs ein Bildarchiv, das heute viele Momente vergangener Kämpfe und Auseinandersetzungen nachvollziehbar macht. […] auch in Zeiten allgegenwärtiger Handycams sind die FotoArchivKollektivist_innen immer noch selbst unterwegs, um zu dokumentieren und zu archivieren.«2 Nicht zufällig sind also in den sozialen und politi1 Peter Dohms: Die Bedeutung freier Archive als Sammelstellen für nichtstaatliches Archivgut, in: Archiv für alternatives Schrifttum (Hg.): Reden zur Ausstellungseröffnung in der Deutschen Bücherei Leipzig, Duisburg 1997, S. 33 f. 2 Archivgruppe des Archivs der sozialen Bewegungen Hamburg: Aneignung der eigenen Geschichte. Das Archiv der sozialen Bewegungen Hamburg, in: Jürgen Bacia, Cornelia Wenzel: Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, Berlin 2013, S. 103 f.

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schen Bewegungen unabhängige Archive entstanden, die sich um ihre eigene Überlieferung kümmern – und das keineswegs nur mit der Archivierung von Fotos. Wir haben diese Freien Archive seit einiger Zeit detailliert in den Blick genommen, ein elektronisches Verzeichnis dazu erstellt und schließlich auch ein Buch geschrieben. Das Buch entstand aus der Beobachtung, dass viele Freie Archive unter prekären Bedingungen arbeiten und in ihrer Existenz latent gefährdet sind. Unser Anliegen ist, damit einen Überblick über die Freie Archivszene zu geben, um deutlich zu machen, was verloren zu gehen droht. Diese Gefährdung ist hier aber nicht unser vorrangiges Thema, vielmehr soll mit vielen Beispielen die bunte Vielfalt und das pralle Leben dargestellt werden: Was sind das für Archive? Wir werden im Folgenden die drei Stichworte Sammeln, Erschließen, Vernetzen immer wieder streifen, möchten zuvor aber einige grundsätzliche Fragen klären. Was sind Freie Archive, welche Bewegungen repräsentieren sie und wie viele gibt es eigentlich? Zum Begriff: Die Archive, um die es hier geht, werden als Bewegungsarchive bezeichnet, als Archive von unten (analog zur Geschichte von unten) oder eben auch als unabhängige oder Freie Archive. Wir bevorzugen Freie Archive als prägnanten Arbeitsbegriff, wie er auch in anderen Zusammenhängen gebräuchlich ist, etwa wenn von Freier Kulturszene, Freelancern oder Freien JournalistInnen die Rede ist. Um welche Bewegungen handelt es sich? Natürlich zum einen um die, die als Neue Soziale Bewegungen bekannt sind: Frieden, Frauen, Umweltschutz, Jugend – wobei sie fast immer so neu gar nicht sind, sondern oft ihre Wurzeln schon im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert haben. Andere begannen in den 1950erJahren, aber alle erlebten mit und in Folge der Neuen Linken einen Aufschwung in den 1970er- und 1980er-Jahren. Und dann wäre da noch die DDR mit der Bürgerrechtsbewegung und all ihren Vorläufern. In der Bewegungsforschung kursieren unterschiedliche Systematisierungen, wir haben uns letztlich für eine recht pragmatische Darstellung der Bewegungen bzw. ihrer Archive entschieden und 10 Gruppen gebildet: – Linksalternative / Autonome Archive (Archive Sozialer Bewegungen) – Archive der Frauenbewegung – Archive der Schwulen- und Lesbenbewegung – Umwelt- bzw. Anti-AKW-Archive – Eine-Welt- / Dritte-Welt-Archive – Archive der DDR-Opposition – Archive der Friedensbewegung – Archive zu Jugendbewegung und Jugendkulturen – Archive von Geschichtswerkstätten – und schließlich das, was wir als Solitäre bezeichnen, also einzelne Archive zu

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bestimmten Themen. Dazu gehören zum Beispiel das Archiv zur Geschichte des individuellen Reisens (AGIR), das Dokumentationszentrum und Museum für die Migration in Deutschland (DOMiD), oder das Archiv- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Kultur der Roma Köln (ROM e.V.). Diese Systematisierung ist eine Hilfskonstruktion, die einen halbwegs strukturierten Zugang erleichtern soll. Aber bei weitem nicht alle Archive sind auf ein Thema beschränkt: das Frauenfriedensarchiv Fasia Jansen in Oberhausen etwa sammelt, wie schon aus dem Namen hervorgeht, zur Frauen- und zur Friedensbewegung, im Hamburger Archiv Aktiv wird alles zu gewaltlosem Widerstand gesammelt, egal ob sich der Widerstand gegen Pershings (= Friedensbewegung) oder Castortransporte (= Antiatomkraftbewegung) richtet. Und die Archive Sozialer Bewegungen in Berlin, Freiburg, Hamburg oder Bremen sammeln, mit jeweils vorwiegend regionalem Bezug, sowieso alle Themen der radikalen bzw. autonomen Linken. Das Archiv für alternatives Schrifttum in Duisburg, das »irgendwie« auch dieser Kategorie zuzuordnen ist, bildet insofern eine Ausnahme, als es zwar auch einen starken regionalen Bezug hat, aber von Anfang an systematisch und bundesweit die Materialien aller neuen sozialen Bewegungen sammelt, also weit über das linksradikale Spektrum hinaus tätig ist.

Die Freie Archivszene in Deutschland: eine Übersicht Die Freie Archivlandschaft ist also eine vielschichtige Angelegenheit – und nicht zufällig sind wir im Jahr 2009 auf die Idee gekommen, ein elektronisches Verzeichnis dieser Archive zu erstellen. Dieses (immer noch nicht ganz vollständige) Verzeichnis ist inzwischen auf der Homepage des afas zugänglich und bietet so einen ganz guten Überblick über diese Archivszene (www.afas-archiv. de/vda). Für dieses Verzeichnis haben wir recht langwierige Recherchen angestellt, sind rund 350 Spuren nachgegangen und haben allen möglichen Projekten, bei denen wir Archive vermuteten, einen Fragebogen zugeschickt. Schließlich sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es zurzeit rund 100 Freie Archive in Deutschland gibt, wobei der Begriff »Archiv« dabei durchaus weit gefasst ist. Es handelt sich fast ausnahmslos um Mischeinrichtungen, in denen Archiv, Bibliothek, Dokumentation und manchmal auch Museum ein fröhliches Miteinander eingegangen sind. Bemerkung am Rande: Über diese 100 Archive hinaus gibt es eine ganze Reihe von Infoläden, Umweltbibliotheken und Geschichtswerkstätten, die häufig in einschlägigen Verzeichnissen als »Archive« genannt werden. Unsere Recherchen haben jedoch ergeben, dass sie fast ausschließlich Bibliotheksgut, also Bücher und eventuell ein wenig graue Literatur, besitzen – folglich haben wir sie nicht in das Verzeichnis aufgenommen. Den

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größten Anteil der Freien Archive machen die Frauenarchive aus, gefolgt von den linksalternativen Archiven, den unabhängigen Umweltbibliotheken/-archiven und den Dritte-Welt- bzw. Eine-Welt-Archiven. Geschichtswerkstätten, bei denen wir auch Archivgut (Fotos, Interviews) vermutet hatten, stellten sich bis auf seltene Ausnahmen als völlig archivlos heraus (oder sie besaßen große Sammlungen von Kopien, die sie sich in Stadtarchiven gezogen hatten). Die Bestände in Freien Archiven reichen von wenigen Regalmetern bis zu anderthalb Regalkilometern, aber die meisten Freien Archive sind von überschaubarer Größe, d. h., ihre Bestände füllen weniger als 200 Regalmeter und dienen vorwiegend der lokalen Literaturversorgung einer bestimmten Szene. Sie haben also die Funktion von alternativen Stadtarchiven oder sogar eher Stadtbibliotheken. Man sollte sie aber dennoch nicht unterschätzen, weil sie neben den gängigen Zeitungen und Zeitschriften der Gegenöffentlichkeit, die in vielen Freien Archiven gesammelt werden, auch zeitgeschichtlich wertvolle Dokumente besitzen können. Das können Materialien aus ihrer Stadt oder Region, aber auch seltene oder singuläre Unterlagen aus der jeweiligen Szene sein. 37 Freie Archive verfügen über Bestände von mehr als 200 Regalmetern. Neun dieser Einrichtungen sind Frauenarchive, zehn linksalternativ. Etwa 15 dieser 37 Archive verfügen über mehr als 500 Regalmeter. Zu dieser 15er-Gruppe wiederum gehören vier Frauenarchive und vier linksalternative Archive; der Rest verteilt sich gleichmäßig auf die anderen Sparten. Die Bedingungen, unter denen viele dieser Archive ihre Arbeit verrichten, sind alles andere als gut. Eine Befragung, die wir 2012 durchgeführt haben, hat ergeben, dass in 90 Freien Archiven insgesamt 449 Personen gearbeitet haben, 169 davon bezahlt, die übrigen 280 unbezahlt. Die 169 bezahlten Stellen verteilten sich auf 52 Archive – was im Umkehrschluss bedeutet, dass in fast 40 Archiven ausschließlich ehrenamtliche Arbeit geleistet wird. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass es sich bei vielen der bezahlten Stellen um Teilzeitstellen mit weniger als 20 Std./Woche oder um 400 Euro-Jobs handelt. Ferner hat sich herausgestellt, dass von den 169 bezahlt arbeitenden Personen nur 89 mit Archivarbeit im engeren Sinn befasst waren; der Rest war mit Jugend-, Projektoder Bildungsarbeit, Umwelt- oder Gesundheitsberatung, antirassistischer Aufklärungsarbeit etc. beschäftigt – was durchaus verdienstvoll, aber eben keine Archivarbeit ist.

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Erklärung zur Besetzung der Roten Flora in Hamburg. Quelle: Archiv der sozialen Bewegungen, Hamburg.

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Sammeln – Wie kommen Freie Archive an ihre Bestände und was sammeln sie? Beginnen wir mit den »Sammelstrategien«, denn Freie Archive haben keine abgabepflichtigen Stellen, ihre Bestände entstehen ausschließlich als Sammlungsgut, das eingeworben werden muss. Wie geschieht das? Einen ersten Eindruck hat unser Eingangsbeispiel des FotoArchivKollektivs gegeben; auf die gleiche Weise arbeiten übrigens auch das Umbruchbildarchiv und die Autofocus-Videowerkstatt in Berlin. Ein paar weitere Beispiele folgen. Im Protokoll der Frauengruppe der Homosexuellen Aktion Westberlin vom 25. Mai 1973 ist nachzulesen: es »wurde beschlossen, dass Monne und Christel ein Archiv […] einrichten. Es ist jeweils ein zusätzliches Exemplar von Protokollen an sie zu schicken.«3 Ein bescheidener Anfang, aber die konsequente Protokollsammlung hat dazu geführt, dass 10 Jahre später, 1983, das Spinnboden Lesbenarchiv als gemeinnütziger Verein eingetragen wurde, heute eines der größten Lesbenarchive weltweit, das längst nicht mehr nur Protokolle, sondern auch Flugblätter, Plakate, Fotos und zunehmend Nachlässe beherbergt. In der Selbstdarstellung des Papiertigers in Berlin finden wir den Satz: »Wir sammeln alles, was uns in die Hände fällt – letztendlich ist der Bestand abhängig von dem, was uns, nicht zuletzt von den Bewegten selbst, zugetragen wird.«4 Hier wird ein Aspekt benannt, der wesentlich für alle Freien Archive ist: das Verortetsein in, zumindest aber der intensive Kontakt zu der Bewegung. Das Archiv Aktiv in Hamburg hat dafür den Begriff »Handelndes Sammeln« geprägt und meint damit die hier, aber auch in anderen Archiven gängige Praxis, bei Demos, Aktionen und Veranstaltungen aller Art als TeilnehmerIn oder auch MitorganisatorIn alles einzusammeln, was rundum auftaucht: Flugblätter, Handzettel, Broschüren, alternative Zeitschriften, Spuckis, manchmal auch Plakate oder sogar Transparente. Eine weitere Beschaffungsmethode besteht darin, regelmäßig Kontakt zu Initiativen und Projekten vor Ort zu halten, um deren graues Material ins Archiv zu schaffen. Manchmal gelingt es sogar, die Projekte zum Sammeln für das Archiv anzuhalten – und besonders glücklich kann man sich schätzen, wenn linksalternative Druckereien Belegexemplare fürs Archiv an die Seite legen. Die meisten Freien Archive verfügen über einen großen Anteil an grauer Literatur, also Flugblätter, Broschüren, Dokumentationen, Samisdat-Publikationen, Zeitungen und Zeitschriften aus Selbstverlagen beziehungsweise kleinen 3 Sabine Balke: Alles lesbisch – oder was? 40 Jahre Lesbengeschichte: Spinnboden – Lesbenarchiv und Bibliothek e.V, in: Bacia, Wenzel: Bewegung (Anm. 2), S. 153. 4 Papiertiger-Kollektiv: Das Objekt hält (nicht) still. Der Papiertiger im Prozess vom Bewegungsarchiv zum Dienstleister, in: Bacia, Wenzel: Bewegung (Anm. 2), S. 113.

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alternativen Verlagen. Manche besitzen große Mengen Fotos, Plakate, Tondokumente, Handakten, Protokolle, Filme und Sammlungen mit lebensgeschichtlichen Interviews, andere hüten Personen-, Gruppen- oder Redaktionsnachlässe. Gelegentlich werden Transparente von Demonstrationen gesammelt sowie Sticker, Aufkleber und allerlei »Devotionalien«. Einige Archive besitzen umfangreiche Sammlungen von Presseartikeln. Ziel beim Aufbau dieser Bestände war nicht, im klassischen Sinne ein Archiv zu gründen, sondern die Geschichte einer Gruppe, einer Bewegung, einer Region oder eines thematischen Zusammenhangs mit allen Dokumentarten zu überliefern, die dafür produziert oder gesammelt worden sind. Eine besondere Vorgehensweise hatten die Archive der DDR-Opposition: sie sammelten alles aus der illegalen Opposition in der DDR und nach der Wiedervereinigung der beiden Deutschländer, also ab 1989, zunächst auch in großem Umfang Kopien der Stasiakten: zum einen, weil anfangs das Vertrauen fehlte, dass diese tatsächlich schnell freigegeben würden, zum anderen, um sie auch vor Ort leicht zugänglich zu machen. Hier finden sich aber auch viele Tonbandmitschnitte von Veranstaltungen und Interviews mit Beteiligten. Um zu veranschaulichen, was durch das jahre- oder jahrzehntelange Sammeln zusammenkommt, seien hier einige Bestandszahlen von großen Archiven genannt. Das Schwule Museum/Archiv/Bibliothek in Berlin weist nach: Ca. 17 000 Bücher, Broschüren und wissenschaftliche Arbeiten, inkl. grauer Literatur, ca. 3 000 Zeitschriftentitel bei 240 Regalmetern Umfang, ca. 4 000 Videos und Filme, eine umfangreiche Audiosammlung, ca. 3 000 Plakate und 3 000 Postkarten, ca. 100 000 Fotografien, sowie ca. 900 Regalmeter vorsortiertes Archivgut, darin etwa 50 Personen- und 20 Gruppennachlässe. Archivisch aufgearbeitet sind lediglich sechs Regalmeter. Ferner verfügt das Museum über eine Kunstsammlung, bestehend aus ca. 20 000 Gemälden, Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien und Objekten, sowie über zwei komplett eingerichtete Wohnungen. Das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel verfügt über 45 Nachlässe, 27 Bestände von Frauengruppen oder -vereinen, insgesamt etwa 550 Regalmeter, 3 500 Bilder, eine Pressedokumentation (Fachzeitschriften) zu 160 Personen, 50 Körperschaften und 100 Themen, insgesamt 35 Regalmeter, eine Bibliothek mit 33 000 Buchtiteln und 1 500 Zeitschriftentiteln. Das Archiv für alternatives Schrifttum in Duisburg hat in den fast 30 Jahren seiner Existenz hunderte von Sammlungen von Gruppen, Redaktionen und Einzelpersonen übernommen. Auf über 1 500 Regalmetern versammeln sich folgende Materialien: rund 8 000 Zeitschriftentitel, 11 000 Broschüren, 50 000 Flugblätter, rund 14 500 Plakate, ca. 8 000 Bücher, rund 100 Transparente, hunderte von Audio-Cassetten, etliche Kisten mit Buttons, Flyern, Spuckis und Fotos, sowie einige große, nicht erschlossene Sammlungen, darunter das fast

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komplette Archiv des Umweltzentrums Münster im Umfang von rund 250 Regalmetern. Diese großen Archive sind aber nicht repräsentativ für die Freie Archivszene insgesamt, denn die meisten Einrichtungen sind deutlich kleiner. Ein Problem allerdings, das wir hier nicht verschweigen wollen, ist sowohl bei einigen großen wie auch bei den meisten kleinen Archiven anzutreffen: der Mangel an echtem Archivgut. Die Selbstbezeichnung als »Archiv« bedeutet häufig lediglich, dass es neben einer Bibliothek und der keinesfalls zu unterschätzenden grauen Literatur ein Pressearchiv gibt. Pressearchiv heißt, dass sich meist ehrenamtlich engagierte Menschen regelmäßig treffen, um eine Auswahl von Tages- und Wochenzeitungen nach bestimmten Themen auszuwerten. Hier wird mit Inbrunst »geschnippelt und geklebt« und dann thematisch zugeordnet. Das Bremer Frauenarchiv belladonna verfügt mit etwa 750 000 Zeitungsausschnitten über das größte Pressearchiv zu Frauen- und Genderthemen in Nordeuropa und auch einige Umwelt- und Dritte-Welt-Archive können erhebliche Pressearchivbestände vorweisen. Unserer Ansicht nach ist das aus verschiedenen Gründen diskussionswürdig. Zum einen werden häufig in mehreren Archiven die gleichen Zeitungen ausgewertet (von der taz und dem Arbeiterkampf bis hin zur Frankfurter Rundschau und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), also die wenigen Ressourcen verschleudert. Zum anderen eignen sich Zeitungsausschnitte wegen Säurefraß und Papierzerfall nicht zur Langzeitarchivierung; Prittstifte oder andere Kleber, mit denen die Ausschnitte aufgeklebt werden, tragen das ihre dazu bei, die Lebensdauer des fragilen Papiers weiter zu verkürzen. Und schließlich stellt sich die Frage, wer noch ein Pressearchiv nutzt, wenn in den einschlägigen Zeitungen inzwischen elektronisch recherchiert werden kann. Aber die Diskussion darüber ist schwierig, weil Presseausschnittsammlungen die ältesten und geliebtesten Kinder vieler Freier Archive sind. Was dagegen lange vernachlässigt wurde, aber in den letzten Jahren glücklicherweise doch zunehmend in den Blick gerät, sind Nachlässe von Aktivisten und Aktivistinnen und die internen Materialien von Initiativen, also Ordner mit Korrespondenzen und Protokollen, interne Rundbriefe, Plenumsbücher etc. Hier muss noch weitere Überzeugungsarbeit geleistet werden, damit Freie Archive sich dieser Materialien künftig verstärkt annehmen, auch wenn der Erschließungsaufwand höher ist und zum Beispiel Probleme des Persönlichkeitsschutzes bedacht werden müssen.

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Demonstration in Gießen, 1970er-Jahre. Quelle: Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel.

Erschließen – was und wie wird in Freien Archiven erschlossen? Damit sind wir schon beim Thema Erschließen – ein Luxus, den sich keineswegs jedes Freie Archiv leisten kann. Das Archiv der sozialen Bewegungen in Bremen z. B. beschränkt sich ganz offiziell auf das Sammeln und Sichern, weil mehr ohne jede Finanzierung und sehr wenig Personal einfach nicht zu schaffen ist. Es leistet damit immerhin das, was Dietmar Schenk in seinem neuen Buch, »Aufheben, was nicht vergessen werden darf«, als »elementare[n] Akt des Archivierens« bezeichnet: »das bloße Aufheben – nicht mehr, aber auch nicht weniger.«5 Andere Probleme gehen aus einem Text des nordhessischen eco-Archivs, das inzwischen Teil des Archivs der Friedrich-Ebert-Stiftung geworden ist, hervor: »… mit jedem neuen Bestand, der das eco-Archiv erreichte, [war] auch jeder Versuch einer Systematisierung über den Haufen geworfen worden, weil sich der neue Bestand einfach nicht widerspruchsfrei eingliedern lassen wollte. Viele Systematiken waren ausprobiert und wieder verworfen worden. Soll man lediglich nach Umweltmedien (Boden, Wasser, Luft) sortieren, wie das Bundesumweltamt? Nach lokalen Handlungsträgern wie ein staatliches Archiv, oder doch besser thematisch? Ist unser Schwerpunkt ein sozialer, politischer, historischer oder ein fachlicher? Oder ein gänzlich neuer? Die […] aus der historischen Entwicklung der Naturfreunde heraus entstandene Heterogenität des Sammlungsauftrages hatte es schwierig gemacht, sich in bereits bestehende Systematiken einzuklinken, dazu lag unser Schwerpunkt einfach viel zu quer zu bisherigen Sammlungen. Außerdem waren unsere Mitarbeiter keine Archivare, sondern entweder als ABMKollegen […] ins Haus gekommen und oftmals weder qualifiziert noch motiviert, oder sie waren ehemalige oder immer noch Bewegte, also an der Sache emotional beteiligt,

5 Dietmar Schenk: »Aufheben, was nicht vergessen werden darf«. Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt, Stuttgart 2013, S. 219.

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die sie katalogisieren sollten, hoch motiviert – und häufig noch weniger qualifiziert für diese Aufgabe.«6

Das klingt alles ein bisschen lustig und ziemlich unprofessionell, es werden aber zwei Dinge daran deutlich, die für Freie Archive symptomatisch sind: zum einen, dass sie in der Tat selten über archivarisch oder bibliothekarisch ausgebildetes Fachpersonal verfügen, da die in Freien Archiven arbeitenden Menschen meist aus den Bewegungen und nicht von der Archivschule kommen. Zum anderen gibt es eine weit verbreitete Überzeugung, dass die jeweilige Sammlung so speziell ist, dass sie mit herkömmlichen Klassifizierungen nicht zu fassen ist. Diese Einschätzung ist nicht nur falsch. Die Schlagwortnormdatei etwa, die in Bibliotheken und eben auch für graue Literatur angewandt wird, ist für die differenzierte Erschließung unkonventioneller Materialien oft nicht zu gebrauchen. Der professionelle Standard der Freien Archive bezüglich archiv- und bibliotheksfachlicher Herangehensweise ist äußerst unterschiedlich. Fast alle haben autodidaktisch begonnen und sich mehr oder weniger fachlich weitergebildet. Nicht zufällig sind es eher die größeren Archive, die ihre Bestände professioneller bearbeiten und sachgemäßer lagern als die kleinen. Wenn die sachgemäße Behandlung der Materialien ausbleibt, liegt das auch an fehlenden Ressourcen: Die teuren, säurefreien Archivkartons muss man sich genauso leisten können wie eine gute Archivsoftware und die Teilnahme an Fortbildungen. Mangelverwaltung hat nun einmal ihren Preis und der besteht oft darin, dass für die archivgerechte Bearbeitung der Dokumente keine oder zu wenig Zeit bleibt. Nichtsdestotrotz findet man inzwischen in vielen Freien Archiven nicht nur Bestandslisten und Karteien vor Ort, sondern auch elektronische Kataloge, die teilweise sogar im Netz einsehbar sind. Ganz allgemein ist zu beobachten, dass in größerem Umfang vor allem Zeitschriften und Broschüren, also graue Literatur, katalogisiert werden. Deutlich seltener kommt es vor, dass auch Plakate und Fotos oder gar einzelne Artikel verzeichnet werden; Findbücher zu Archivbeständen bilden immer noch die Ausnahme. Am besten organisiert sind die Frauenarchive, von denen gleich mehrere Recherchemöglichkeiten im Netz anbieten. Der ida-Dachverband der Frauenund Lesbenarchive hat bereits im Jahr 2000 einen gemeinsamen Internet-Auftritt eingerichtet (URL: http://www.ida-dachverband.de) und zurzeit wird mithilfe einer Förderung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend daran gearbeitet, eine Metadatenbank über die Bestände in den Frauenarchiven aufzubauen. Einen guten Zugriff auf einen großen Pool von Artikeln ermöglicht auch die gemeinsame Datenbank des Archiv3-Verbundes 6 Martin Becker : 45 m3 Umweltgeschichte netto. Bemerkungen über das eco-Archiv, in: Bacia, Wenzel: Bewegung (Anm. 2), S. 190.

Bewegung bewahren in Freien Archiven

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(URL: http://www.archiv3.org) der Eine-Welt-Archive. Interessant ist schließlich auch die Datenbank der Infoläden (URL: http://ildb.nadir.org), die 1999 eingerichtet wurde, aber etwas darunter leidet, dass sie nur noch von wenigen Einrichtungen aktualisiert wird. In die von der Staatsbibliothek zu Berlin betriebene Zentrale Zeitschriften-Datenbank (ZDB), in der bundesweit alle wichtigen Periodika nebst ihren Standorten verzeichnet sind, haben es nur wenige Freie Archive geschafft. Die dafür erforderliche Mehrarbeit kann kaum ein Freies Archiv leisten. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet wiederum das Netzwerk der Frauenarchive; seit 2002 wird dort die ZDB-Eingabe gemeinsam organisiert. Inzwischen sind auf diesem Wege etwa 1 300 vorher nicht vorhandene Titel vor allem kleinerer, regionaler Frauenzeitschriften mit geringer Auflage in die ZDB eingearbeitet worden.

Magazinraum. Quelle: Archiv für alternatives Schrifttum, Duisburg.

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Vernetzen – wie sind die Freien Archive vernetzt? Damit sind wir nolens volens beim Thema Vernetzen gelandet. Neben der soeben geschilderten elektronischen Vernetzung gibt es auch zwei regelmäßige Veranstaltungen, die dem direkten Erfahrungsaustausch der Freien Archive dienen. Da ist zum einen das seit Anfang der 1980er-Jahre jährlich stattfindende Treffen der deutschsprachigen Frauen- und Lesbenarchive sowie zum anderen der Workshop der Archive von unten, den es seit 2003 gibt; er tagte zunächst alle zwei Jahre, wurde aber vor kurzem aber auf jährliche Treffen umgestellt. Auf dem Workshop werden Belange aller Archivsparten thematisiert, allerdings sind diesen Bemühungen stärker als bei den Frauenarchiven Grenzen gesetzt – ein Teil der Freien Archive kann schlicht die Reisekosten für die Teilnahme nicht aufbringen. Am Rande sei erwähnt, dass aus dem Workshop eine Runde von Archiven hervorgegangen ist, die entweder in ihrer Existenz bedroht sind oder die an der langfristigen Überlieferungssicherung der Dokumente der neuen sozialen Bewegungen interessiert sind. Erfreulicherweise werden die Freien Archive seit einiger Zeit auch in der etablierten Archivlandschaft zunehmend wahr- und ernst genommen. Im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare gibt es seit 2009 einen Arbeitskreis für die Überlieferungen der neuen sozialen Bewegungen, in dem deren Anliegen diskutiert und auch ganz praktische Unterstützung organisiert wird. Es ist also gerade in den letzten Jahren vieles in Gang gekommen – auch diese Tagung auf Burg Ludwigstein ist ein Beispiel dafür. Ansätze sind da, doch es gibt noch mehr als genug zu tun!

Fazit Ein kurzes Fazit zum Schluss. Die Chancen und Probleme der Überlieferungsbildung und Überlieferungssicherung in Freien Archiven lassen sich letztlich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Freie Archive haben die einzigartige Chance, in einem Umfang, der etablierten Archiven nicht möglich ist, Bestände zu politischen, sozialen und kulturellen Alternativ- und Protestbewegungen zusammenzutragen. Dabei haben sie eigentlich nur ein einziges Problem: die fehlende finanzielle Absicherung. In dem Fragebogen, den wir an die Freien Archive verschickt haben, stand auch die Frage: »Könnt Ihr in bestimmten Bereichen Eurer Arbeit (z. B. Ordnung, Erschließung, Digitalisierung, Fachinformationen ….) Hilfe und Unterstützung gebrauchen?« Die Antwort war fast immer »ja«, aber oft auch mit dem Zusatz: wir brauchen eigentlich nur Geld, dann kriegen wir alles andere hin. Diesen Kraftakt allerdings werden, so wie es aussieht, die Freien Archive nicht allein schaffen. Dafür wird es Bündnisse brau-

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chen. Auf eine zusätzliche Schwierigkeit, was die langfristige Sicherung der Dokumente der Geschichte von unten angeht, soll allerdings an dieser Stelle auch hingewiesen werden: Freie Archive sind oft aus Bewegungen hervorgegangen – und Bewegungen bewegen sich nun mal, transformieren sich oder lösen sich gar auf. Dies hat oft unabsehbare Folgen für ihre Archive. Auch auf dieser Baustelle gibt es einiges zu diskutieren. »Wir wollen,« hat die Archivgruppe des Münsteraner Umweltzentrumarchivs vor einiger Zeit gesagt, »dass der Duft von Hausstaubmilben, Anarchie, Freiheit und Abenteuer auch noch in den nächsten 25 Jahren durch die (Archiv-) Ordner (ohne Herrschaft) weht und Menschen zu kreativem Widerstand und dem Leben von Utopien inspiriert.«7 Dem stimmen wir vorbehaltlos zu, denn dieser Satz sagt ja auch aus, dass in der Gegenüberlieferung eine subversive Kraft steckt, die es zu bewahren gilt. Allerdings würden wir den Zeitraum dafür nicht auf 25 Jahre begrenzen wollen!

7 Umweltzentrum-Archiv-Verein gegründet, in: Graswurzelrevolution, 2005, Nr. 299, verfügbar unter URL: http://www.graswurzel.net/299/uwz.shtml [06. 01. 2014].

Weitere Beiträge

Claudia Wagner

Die Diefenbach-Renaissance – Fall und Aufstieg eines Künstlers anlässlich einer Veranstaltung zu Diefenbachs 100. Todestag in seinem Heimatort Hadamar

Vorbemerkung von Susanne Rappe-Weber Ende 2011 konnte das Archiv der deutschen Jugendbewegung den Nachlass Karl Wilhelm Diefenbachs aus österreichischem Privatbesitz als dauerhaftes Depositum erwerben. Die Korrespondenzen, Geschäftspapiere, Fotografien, Tagebücher, Kopierbücher, Abschriften, Sammlungsgut, Leinwandrollen usw. im Umfang von etwa zwölf laufenden Metern sowie einiger weniger Gemälde sind nun durch die Übernahme in ein öffentliches Archiv gesichert und werden für die wissenschaftliche Nutzung erschlossen. Die umfangreiche Sammlung hatte der Enkel Friedrich Fridolin von Spaun (1901 – 2004) angelegt. Fridolin von Spaun hatte sich seit den 1960er-Jahren mit der Familiengeschichte befasst, Stammbäume zusammengestellt und Unterlagen zu einzelnen Familienmitgliedern gesammelt, die vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in österreichischen Militärdiensten, als Unternehmer oder Kunstmäzene in Erscheinung getreten waren. Besonderes Interesse weckte bei ihm schließlich der Großvater und Künstler Karl Wilhelm Diefenbach. Dessen Hinterlassenschaften, die im Wesentlichen an dessen letztem Lebensort auf Capri zurückgeblieben waren, trug er zusammen und ergänzte sie, sodass diese Sammlung den bedeutendsten Teil des Künstlernachlasses, abgesehen von einzelnen Unterlagen im Archiv seiner Heimatstadt Hadamar sowie in Privathand, umfasst. Die Bildwerke Diefenbachs befinden sich dagegen weiterhin vereinzelt in Privathand und Museen. In den letzten Lebensjahren Fridolins von Spaun hatte Dr. Claudia Wagner als einzige Nutzerin des Archivs unbeschränkten Zugang zu den Unterlagen und genoss das Vertrauen des Eigentümers. Sie promovierte über den Künstler, verfasste die erste umfassende Monographie über sein Leben und Werk und kuratierte die ersten großen Ausstellungen über sein Schaffen in München und Wien. In der Folge sah sich der Erbe und Enkel Harald Spaun mit einem wachsenden öffentlichen Interesse an dieser Sammlung konfrontiert, die nach mehreren Umzügen nur noch ansatzweise geordnet war und kaum Hilfsmittel zur Er-

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schließung enthielt. Dr. C. Wagner plädierte daher für die Abgabe des Nachlasses an ein öffentliches Archiv und brachte das Archiv der deutschen Jugendbewegung ins Gespräch, weil sie von der beispielhaften Bereitstellung des Nachlasses Hugo Höppener-Fidus in der Datenbank HADIS überzeugt war. Diese bietet durch die Verbindung von Aktenerschließung und digitalen Abbildungen der Gemälde, die sich hinter den »Details« verbergen, interessante, detailgenaue Informationen für die Forschung. Harald von Spaun schloss sich diesen Argumenten an und hat damit das seinem Großvater gegebene Versprechen, für den dauerhaften Zusammenhalt der Sammlung zu sorgen, erfüllt. Durch die Zusammenführung der Künstlernachlässe Hugo Höppener-Fidus und Karl Wilhelm Diefenbach im AdJb ergeben sich interessante Forschungsperspektiven, die sich auf das ganze Gebiet der Lebensreform beziehen. Beide haben mit ihrer künstlerischen Arbeit aber auch durch ihre beispielhafte alternative Lebensführung und programmatische Schriften reformorientierte Kreise des Bürgertums angesprochen. Biographische Verknüpfungen zum Wandervogel und zur Bündischen Jugend, dem Überlieferungsschwerpunkt des AdJb, lassen sich vielfältig nachweisen, insbesondere auch unter den Nachfahren beider Familien. Der Nachlass Diefenbachs ist inzwischen fachgerecht gelagert und gesichtet. Alle Erschließungsergebnisse von Archivarin Elke Hack sind in HADIS zugänglich; der Nachlass N 151 »Karl Wilhelm Diefenbach und Familie von Spaun« enthält bereits über 385 Verzeichnungseinheiten. Die Nutzung des Nachlasses ist auf wissenschaftliche Forschungsvorhaben beschränkt und muss den schutzwürdigen Belangen der in den Unterlagen genannten Personen und ihrer Angehörigen Rechnung tragen. In einer ersten Werkstatt-Ausstellung, die bis zum Herbst 2014 im Archiv zu sehen war, wurden Porträts von Diefenbachs Eltern, dem Kunstlehrer Leonhard Diefenbach und seiner Frau Therese, aus Hadamar gezeigt, Materialien zu seiner Maltechnik, für die er das Medium der Fotografie intensiv nutzte, Fotos und Lebenszeugnisse aus Hadamar, München, Wien und Capri, sowie ein großformatiges spätes Selbstporträt. Zu verzeichnen ist ein stetig wachsendes Interesse an der Sammlung.

Die Diefenbach-Renaissance

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Karl Wilhelm Diefenbach, um 1911. Quelle: Stadtmuseum Hadamar.

Am 15. Dezember 2013 jährte sich der Todestag des Künstlers und Lebensreformers Karl Wilhelm Diefenbach zum 100. Mal. Diefenbach, der Vorkämpfer der Lebensreform, der barfüßige Prophet in härener Kutte, der Spätsymbolist und Meister der mystischen Stimmungslandschaften und propagandistischen Kunst pro Vegetarismus und Nudismus war in seiner Zeit umstritten, belächelt, aber auch bewundert. Nach seinem Tod ruhte er in Vergessenheit und seine Wiederauferstehung aus der Gruft des verbannten skurrilen Sonderlings vollzog sich schleichend und dauerte nahezu ein ganzes Jahrhundert. Doch warum?

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Unter dem Motto »Die Diefenbach-Renaissance – Fall und Aufstieg eines Künstlers« soll dieser Frage nachgegangen werden und es gilt dabei genau dort anzusetzen, wo Diefenbachs Leben endete und sein Nachleben, also die Rezeption seines Werkes und Schaffens, begann, nämlich am 15. Dezember 1913. Nach einem letzten Spaziergang zur Marina piccola und einem letzten Tagebucheintrag starb der Maler am Abend jenes Dezembertages in seinem damals prominenten Wohnhaus, der »Casa Grande« auf Capri. Einer der Anwesenden notierte: »Ja, was haben wir verloren! Und wäre unser Freund wenigstens dahingegangen, wie ein schöner Sonnenuntergang; aber ach, sein Tod war, wie sein Leben, ein Sturm: unter plötzlich auftretenden, gewaltigen Schmerzen«.1 Der Leichnam wurde in der Leichenhalle des protestantischen Teils des Friedhofes von Capri aufgebahrt, ein Bildhauer aus Neapel nahm ihm die Totenmaske ab: »Sie ist gut gelungen«, schrieb ein Freund der letzten Tage, »aber ach, wie schmerzvoll. Wir wollen ihn nur sehen, wie wir ihn gewohnt waren: strahlend in Kraft und Lebenslust, ein Held.«2 Anschließend wurden Diefenbachs sterbliche Überreste nach Neapel und weiter nach Rom überführt, um dort eingeäschert zu werden. Die Urne ging laut Auskunft des Enkels Fridolin von Spaun in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verloren. Nach seinem Tod hinterließ Diefenbach in seinem Wohnhaus auf Capri eine Bildergalerie und ein Depot mit mehreren Hundert Gemälden ebenso wie einen umfassenden schriftlichen Nachlass in Form von Tagebüchern und Briefen. Der letzte Wohnort Diefenbachs musste allerdings infolge der finanziellen Umstände der Nachfahren aufgegeben werden. Kunstwerke und Schriftzeugnisse seines bewegten Lebens wurden in den Capreser Räumlichkeiten seines ältesten Sohnes Helios Diefenbach ¢ später von dessen Witwe ¢ bewahrt und gerieten zunächst zunehmend in Vergessenheit.3 Doch warum endete Diefenbachs Lebensweg so spurlos auf einer Mittelmeerinsel? Warum interessierte sich 1913 niemand mehr für ihn und vor allem für sein künstlerisches Werk? Um dies zu verstehen, muss man sich zunächst das besagte Jahr in kunsthistorischer Hinsicht vor Augen führen.

1 Archiv der deutschen Jugendbewegung, N 151 (AdJb N 151), Nachlass Karl Wilhelm Diefenbach und Familie von Spaun: Lebenszeugnisse, Brief von Schafheitlin an Maria Schede, 22. 12. 1913. 2 Ebenda. – Seine Totenmaske befindet sich ebenfalls im AdJb. 3 Allgemein zu Biographie und Werk Diefenbachs siehe Claudia Wagner : Karl Wilhelm Diefenbach (1851 – 1913). Lieber sterben, als meine Ideale verleugnen, in: Michael Buhrs, Claudia Wagner (Hg.), Karl Wilhelm Diefenbach, Ausstellungskatalog Villa Stuck, München 2009.

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Eine kleine Kunstgeschichte des Jahres 1913 Der verspätete Symbolismus von Diefenbachs Gemälden war damals eigentlich schon pass¦. Die Maler im Umkreis von Arnold Böcklin als Urvater dieser Kunstrichtung hatten es seit den ersten Jahren des Jahrhunderts schon nicht mehr leicht, sich gegen den deutschen Impressionismus und gegen die zeitgenössische kunsthistorische Meinung durchzusetzen. Der einflussreiche Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe kritisierte vor allem Arnold Böcklin, der mit seiner als unzeitgemäß empfundenen Kunst den Blick vom Impressionismus als dem »einzig segensreichen Strom der Kunst«4, so er, ablenke. In seiner »Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst« hatte er einen direkten Weg von den Meistern der Renaissance bis hin zu den Impressionisten seiner Jahre nachgezeichnet.5 In dieser Entwicklungslinie vom Linearen zum Malerischen gab es keinen Platz für die Gedankenmalerei Böcklins und generell aller Künstler mit symbolistischem Selbstverständnis. Er erklärte sie in seiner Schrift »Der Fall Böcklin« zum Inbegriff einer bedenklichen deutschen Fantasiekunst.6 Diese Kompromittierung, bis heute fast einzigartig in der Kunstgeschichte, wirkte sehr effektiv. Bis weit in das späte 20. Jahrhundert wurde die Kunst der Symbolisten von dieser Position aus beurteilt und als zweitrangig gegenüber parallelen Strömungen wie Realismus und Impressionismus eingestuft.7 In diesem künstlerisch schwierigen Umfeld agierte der Symbolist Diefenbach während seiner letzten Lebensjahre. Nun aber schreiben wir das Jahr 1913, dessen Nachhall eine ganze Epoche prägen sollte, in dem mit Blick auf die Moderne und das noch dämmernde Jahrhundert vieles möglich schien, aber auch kulturhistorisch fatale, zerstörerische Weichen gelegt wurden.8 Das dekadent ausgehende 19. Jahrhundert fand endgültig sein taumelndes Ende. Nicht umsonst schrieb Oswald Spengler bereits in jenen Jahren sein kulturphilosophisches Hauptwerk von großer Reichweite unter dem Titel »Der Untergang des Abendlandes«.9 Diesen wollte er allerdings kulturmorphologisch und nicht als einmalige Katastrophe verstanden wissen,

4 Zitiert nach Ingrid Ehrhardt u. a. (Hg.): SeelenReich. Die Entwicklung des deutschen Symbolismus 1870 – 1920, München 2000, S. 10. 5 Julius Meier-Graefe: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst, München 1904. 6 Julius Meier-Graefe: Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Stuttgart 1905. 7 Generell zu Meier-Graefe und dem Fall Böcklin vgl. Hans Henrik Brummer : Noch einmal: Der Fall Böcklin, in: Ehrhardt: SeelenReich (Anm. 4), S. 29 – 52. Zu Diefenbachs Weg zum konsequenten Symbolismus vgl. Wagner : Diefenbach (Anm. 3), S. 176 ff. 8 Der Kunsthistoriker Florian Illies hat ein beeindruckendes Panorama des besagten Jahres entworfen, dem viele Anregungen entnommen sind. – Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2012. 9 Oswald Spengler : Der Untergang des Abendlandes, Wien 1918.

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im Unterschied zum Untergang eines Ozeandampfers etwa – die »Titanic«, seit einem Jahr auf dem Meeresgrund, war noch im kollektiven Bewusstsein. Kunsthistorisch gesehen zeichnete sich nach den neuen, wechselhaften Perspektiven der Kubisten in Paris, aus heutiger Sicht eine der revolutionärsten Neuerungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, schon der Synthetische Kubismus ab, bei dem Bilder wie Collagen zusammengeklebt wurden. Zugleich strebte in allen Ländern Europas die Künstlerschaft inzwischen zur Abstraktion. In München, Diefenbachs alter Heimat, hatte sich bereits 1911 rund um Wassily Kandinsky, Franz Marc und Gabriele Münter der »Blaue Reiter« etabliert. Kandinsky schuf das Gemälde mit dem ahnungsvollen Titel »Improvisation Sintflut«, just im Jahr 1913, in dem die Gruppe schon wieder kurz vor der Auflösung stand. In Frankreich arbeitete neben Robert Delaunay der Tscheche Frantisˇek Kupka an seinen abstrakten »Fugen«. Kupka ist einer der prominentesten Schüler Diefenbachs, der bereits während der Vorbereitungen für die Ausstellung in Wien 1895 für den »Meister« tätig war und durch ihn den Weg vom Realismus seiner frühen, häufig grafischen Arbeiten zum fantastischen Symbolismus fand. Allerdings zogen nur die wenigsten Symbolisten auch noch jene letzte malerische Konsequenz und gingen einen Schritt weiter hin zur Abstraktion. Eine der wenigen Ausnahmen bildete eben der Diefenbach-Schüler Kupka, der sich im eigentlichen Sinne des Wortes, nämlich abstrahierend, vom Gegenständlichen abwandte und durch das Interesse an fantasieanregenden Formen das endgültig Neue schuf: Parallel zu Kandinsky begründete er die »Abstrakte Malerei«. 1913, ein Jahr nachdem die endgültige Fassung seiner »Fuge in zwei Farben« in Paris ausgestellt worden war, formulierte er : »Ich taste noch immer im Dunkeln, aber ich glaube, dass ich etwas finden werde, das zwischen Sichtbarem und Hörbarem liegt und eine Figur – oder Fuge – aus Farben hervorbringen kann.«10 Was also in Diefenbachs späten symbolistischen Landschaften nur vage zu erahnen ist, wird bei Kupka quasi zeitgleich mit dem Tod des Meisters Ziel und Stil: die Aufwertung des Geistes in der Kunst, daraus sich entwickelnd die künstlerische Avantgarde, die Abstraktion. Für ihn, Kupka, wurde sie »Fluchtmöglichkeit aus der Verworrenheit und Unklarheit« einer ganzen Epoche.11 1913 also befand sich die umworbene und populäre Klassische Moderne mit Ausprägungen wie dem Synthetischen Kubismus und den Meisterwerken der Abstraktion auf dem Höhepunkt – ein absoluter künstlerischer Neubeginn 10 Zitiert nach Meda Mladek: Zwei Wegbereiter der Moderne I. Frantisˇek Kupka. Aus der Sammlung Jan und Meda Mladek, München 1996, S. 36. 11 Hilke Peckmann: Abstraktion als Suche nach neuer Geistigkeit, in: Kai Buchholz u. a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (Ausstellungskatalog Mathildenhöhe Darmstadt), Darmstadt 2001.

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Frantisˇek Kupka, Amorpha, Fuge in zwei Farben, 1912 Quelle: Narodni Galerie, Prag

entgegen allen akademischen Traditionen. Für den Kunsthistoriker stehen ein kubistisch aufgelöster »Akt eine Treppe heruntersteigend« oder ein erstes Ready-made in Form eines Vorderrads auf einem Schemel, beide von Marcel Duchamps, sowie ein »Schwarzes Quadrat auf weißem Grund« von Kasimir Malewitsch scheinbar unvereinbar neben den symbolistischen Landschaften und überholten, jugendstilartigen Schwarz-Weiß-Silhouetten nackter Kinder eines Karl Wilhelm Diefenbach.12 12 Zwar wurde das »Schwarze Quadrat« erstmals 1915 im heutigen St. Petersburg ausgestellt, doch verweist Malewitsch selbst auf den Entstehungszeitraum von 1913, als er den »verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien«, und ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Grundfeld als »Empfindung der Gegenstandslosigkeit« gestaltete. – Vgl. dazu Hubertus Gaßner : Das schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch (Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle), Ostfildern 2007.

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Karl Wilhelm Diefenbach, Per aspera ad astra, 1892, Tafel 1. Quelle: Stadtmuseum Hadamar

Die frühe Jugendbewegung als Wirkungsfeld des Malers und Visionärs Diefenbach Kulturhistorisch gebührt dem Maler und Visionär der Menschheitsgeschichte in seinem Todesjahr allerdings in Zusammenhang mit dem Fest der Jugend- und Reformbewegungen auf dem »Hohen Meißner« und der damit einhergehenden breiten Rezeption des »Lichtgebetes« Erwähnung, das Diefenbachs treuer Jünger Fidus 1913 als Ikone der Lebensreform lithografiert hatte. Der »Freideutsche Jugendtag« im Oktober 1913, das große Jugendtreffen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurde zum Symbol einer enthusiastischen jungen Generation, die bergan auf ein »Jugendreich« zustürmte und gemäß der »Meißner-Formel« »nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten« wollte. Genügsamkeit und neue Bescheidenheit waren die Ideale, die in Kontrast zu prüdem etabliertem Bürgertum und patriotischer wilhelminischer Gesellschaft standen, die 1913 die Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals mit militärischen Ehren feierte. Der »Festgruß« für das Meißner-Treffen lautete: »Bringt Humpen und Säbel zur Rumpelkammer, / verjagt den Suff samt dem Katzenjammer / und alles, was Euch verfault und verplundert! / Auf, werdet Menschen von unserm Jahrhundert!«13 13 Zitiert nach: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung; 5), Köln 1988, S. 145. Zum »Fest der Jugend« auf dem Hohen Meißner sowie zur Geschichte der Jugendbewegung siehe: G. Ulrich Großmann, Claudia

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An dieser Stelle meint man einen Nachhall Diefenbachs zu hören. Und tatsächlich fand sich mitten unter den Jugendbewegten und Wandervögeln Gusto Gräser, ein weiterer prominenter Jünger Diefenbachs, der jenseits der volkserzieherischen oder rein künstlerischen Reform eine reale Utopie, eine ganz und gar unpolitische Erneuerung aus dem Geist naturgemäßer Lebensweise verfolgte. Aus Protest gegen den absoluten Gehorsamszwang und die Inkonsequenzen der Wiener Landkommune hatte er Diefenbach schon früh verlassen und eine andersartige Konzeption auf dem Monte Verit‚ bei Ascona verwirklicht.14 Er suchte dort seine Wahrheit, fand sie aber nicht, trotz Vegetarismus, Rohkost, alternativer Heilverfahren, Reformkleidung und Ausdruckstanz unter freiem Himmel. Die von ihm erstrebte herrschaftslose Gesellschaft mündiger Menschen ließ sich neben den vielen Zugeständnissen seiner Mitkommunarden nicht umsetzten. Er zog von Italien durch Europa, tauchte auch 1913 auf dem Hohen Meißner auf, seine Gedichte erschienen in den Blättern der Jugendbewegung, daneben die Illustrationen von Fidus, der unter dem Titel »Hohe Wacht« das Frontispiz der Festschrift zum Meißner-Tag gestaltete. Gleichzeitig wurde sein »Lichtgebet«, der blonde Jüngling beim enthusiastischen Sonnengruß, zur Identifikationsgestalt des Aufbruchs, zum Programmbild der Jugendbewegung vom Wandervogel bis zur Neuen Schar, zu einer Ikone der Lebensreform. Hier lebte Diefenbach nach, hier schwangen seine jugendlichen ephebenhaften Gestalten mit, die Fidus einstmals zu dieser populären Bildfindung inspiriert hatten.

Einbruch Erster Weltkrieg Doch jeder verzaubernde, enthusiastische Aufbruch birgt auch die Gefahr der Blendung und schon während des Ersten Weltkriegs verfiel auch Fidus einer naiven Deutschtümelei. Gleichzeitig waren sich viele Künstler und Literaten schon in jenen Jahren des bevorstehenden gravierenden Umbruchs bewusst. Der Erste Weltkrieg mit all seinen Schrecken war nur noch letzte Konsequenz, Beweis der Erkenntnis. Das weltoffene Pathos der frühen internationalen Klassischen Moderne wich der nationalen Realität. Selbst die vormals jugendbewegten Wandervögel marschierten nun in Uniform und die Meißner-Jugend begrüßte Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung (Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum), Nürnberg 2013. 14 Zu Gusto Gräser siehe Hermann Müller (Hg.): Gusto Gräser. Aus Leben und Werk. Bruchstücke einer Biographie, Knittlingen 1987 sowie Hermann Müller : Propheten und Dichter auf dem Berg der Wahrheit. Hermann Hesse, Gusto Gräser, Gerhart Hauptmann, in: Buchholz: Lebensreform (Anm. 11), S. 321 – 324.

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den Krieg wie so viele Lebensreformer in der Sehnsucht nach einem Neubeginn als reinigendem »Katalysator, als Reaktionsbeschleuniger«15 – für etliche folgte allerdings der Untergang. Die Kriegsjahre 1914 bis 1918 markierten einen tiefen politischen Einschnitt. Zunächst provozierte der Krieg ein enthusiastisches Kunstschaffen patriotischer Hoffnungen, der Krieg wurde als »Hygiene der Welt« gefeiert,16 aber schon bald machten sich Ernüchterung und Desillusionierung breit. Picasso begleitete Georges Braque und Andr¦ Derain, die ihren Stellungsbefehl erhalten hatten, zum Bahnhof in Avignon. Franz Marc und August Macke starben auf den Schlachtfeldern des Krieges – und mit ihnen »starb« der »Blaue Reiter«. Kandinsky und andere russische Meister der Moderne mussten Deutschland verlassen, Max Beckmann erlebte einen Nervenzusammenbruch und Wilhelm Lehmbruck nahm sich in seinem Atelier das Leben. Gerade die Rezeption der Kunst des vermeintlich unbescholtenen 19. Jahrhunderts wich den grundlegenden Bedürfnissen des Lebens und Überlebens und bezüglich des Kunstschaffens war nach all dem Schrecken ein Anschluss an vorherige ästhetische Konzepte kaum mehr möglich. Wer überlebt hatte, verarbeitete die Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs und des gesellschaftlichen Wandels in dessen Folge. Die Kunstrichtung der Goldenen Zwanziger war die »Neue Sachlichkeit«. Man zeigte sich engagiert und politisch interessiert, ohne Scham und mit Blick auf das Leben in der Großstadt und die Wunden des Krieges. Beispiele sind das »Großstadt-Triptychon« von Otto Dix mit seinen Kriegsverletzten und Prostituierten in teils freizügiger Pose, die kaputten Gestalten eines George Grosz unter dem zynischen Titel »Stützen der Gesellschaft« oder das schwarz umrandete Elend der Nachkriegszeit von Max Beckmann.

Diefenbachs Erbe in der Zwischenkriegszeit Und Diefenbach? Zwar hielten seine Anhänger und Nachfolger den Namen des »Meisters« in Ehren – sein Schwiegersohn und Schüler Paul von Spaun gab 1927 sogar noch einen langen Aufsatz über den »Bahnbrecher« in der Zeitschrift Schönheit heraus; der prominente Jünger Fidus veröffentlichte noch 1932 einen Aufsatz über seinen Lehrer – doch zeitgleich gingen große Teile des künstlerischen Werkes auf Capri durch schlechte Verwaltung, Verkäufe und Diebstahl 15 Vgl. Florentine Fritzen: Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert (Frankfurter Historische Abhandlungen; 45), Stuttgart 2006, S. 189. 16 Filippo Tommaso Marinetti: Das futuristische Manifest, in: Evelyn Benesch: Futurismus. Radikale Avantgarde, Mailand 2003, S. 263–265.

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verloren.17 Um Diefenbach herrschte vor allem Schweigen, bis ästhetisch eine neue Zeit anbrach, die den bisherigen künstlerischen Entwicklungen mit dem Begriff »entartet« ein jähes Ende setzte. Die Moderne wurde als »undeutsch« und »artfremd« abgehängt und getilgt. Man knüpfte dort an, wo man künstlerisch zunächst eine Sackgasse vermutet hatte, nämlich im Wesentlichen an der Heimatkunst des Deutschen Kaiserreichs. Man bevorzugte romantische deutsche Landschaftsbilder, Blut-und-Boden-Motive des heroischen Realismus mit seinen deutschen kämpferischen Helden und fruchtbaren Frauen, hatte aber auch einen Sinn für symbolgeladene Stimmungslandschaften. Es wundert also nicht, dass gerade während der Ära Mussolinis, dem Duce del Fascismo in Italien, Diefenbachs verbliebene Werke in der Certosa S. Giacomo, einem leer stehenden Kloster auf Capri, Aufnahme und Aufmerksamkeit fanden.18 Die restlichen großformatigen Gemälde sowie einige plastische Arbeiten überdauerten dort teils vernachlässigt und unangemessen gelagert den Zweiten Weltkrieg und die folgenden Jahrzehnte. Im deutschsprachigen Raum wurde Diefenbachs Werk 1933 für die Frühjahrsausstellung im Glaspalast in Wien wieder ausgepackt und der DiefenbachBekannte Arthur Roessler, einst kurzfristig Sekretär in der Wiener Landkommune und inzwischen anerkannter aber zutiefst liberaler Kunstkritiker – er war Förderer und Freund Egon Schieles in Wien – formulierte eben 1933, im Jahr der Machtergreifung im benachbarten Deutschland, in der Einleitung des Katalogs: »In der Perspektive unserer Zeit gesehen, erscheint K. W. Diefenbach nicht als eigentlich künstlerische, insbesondere malerische, sondern als psychologische, charakterologische Merkwürdigkeit. Er war seiner Wesensartung nach weniger Maler als Weltverbesserer, der sich der Malerei als ein Propagandamittel bediente […] Die Gegenwart zu schauen vermied er, weil sie ihm trostlos häßlich dünkte. Und so war er ganz der Zukunft zugewendet; einer von ihm ersehnten, erträumten schöneren Zukunft.«19 Allerdings ist es kein Geheimnis, dass gerade auch die Ideale der Lebensreformbewegung, für die Diefenbach wie kaum ein anderer als Urvater gelten darf, durch das nationalsozialistische Regime missbraucht, radikalisiert und so schließlich pervertiert wurden. Die Ziele einer Reform und der Kampf für eine Entwicklung zum besseren Leben und vor allem besseren Menschen ließen eben auch Überlegenheitsideologien aufkeimen. Allerdings – ohne diese völkischen 17 Vgl. Paul von Spaun: Karl Wilhelm Diefenbach ¢ ein Bahnbrecher, in: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben 1927, 23. Jg, Heft 9, S. 403–423. – Fidus: Karl Wilhelm Diefenbach, in: Lachendes Leben, 1932, Heft 6/8. 18 Wann genau die Übergabe erfolgte, ist nicht bekannt. Vgl. Spaun-Kunde. Mitteilungen der Spaunstiftung für Familienforschung e.V., 1988, Nr. 8, S. 6. 19 Vgl. Arthur Roessler : Kunstgemeinschaft Frühjahrsausstellung. Allgemeine Bilderschau nebst Kollektiven von Altmeister Diefenbach, Glaspalast Wien, 28.03.–01. 05. 1933.

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Einflüsse übersehen zu wollen – die Lebensreform blieb in der Regel mit dem liberalen Milieu verbunden, auch wenn die ethischen und humanitären Gedankengängen ihrer Verfechter wiederholt in dem »großen Ziel eines gesunden und leistungsfähigen Volkes« aufgingen.20 Diefenbachs Haltung zu den völkischen Tendenzen seiner Zeit war uneindeutig. Einerseits korrespondierte er etwa 1910 mit dem völkischen Verfechter des Nudismus und Publizisten Richard Ungewitter,21 der mit Büchern wie »Nacktheit und Aufstieg« von sich reden machte. In seinen Briefen fordert Diefenbach »Viribus unitis«, also die vereinten Kräfte »aller Deutschdenkenden und -Fühlenden als alleinige Rettung und Sieg über die antideutsche Juden- und Christenpest« und unterzeichnet mit »warmem Kampfgruß«.22 Auch ist belegt, dass er die Mittgart-Blätter von Willibald Hentschel abonniert hatte, der wiederum mit dem Antisemiten Theodor Fritsch, Herausgeber des »Hammer«, einer der aggressivsten Publikationen der völkischen Bewegung, in Verbindung stand.23 Zudem ist nicht zu übersehen, dass Diefenbach nicht nur von der »Judenpest« schrieb, sondern auch das »verpfaffte, das Erden-Paradies verpestende ›Christentum‹« anklagte, weil es seinem »übergewaltigen Kampfe um eine höhere Weltanschauung«24 im Weg stand. Bei dem gegenwärtigen Kenntnisstand ist unklar, auf welche politische Seite sich Diefenbach nach 1918 geschlagen hätte, in dessen gesamtem Nachlass ohnehin kaum ein tagespolitisches Wort zu finden ist. Anders sieht es bei seinem Schüler Fidus aus. Seit der Trennung von seinem ersten »Meister« verirrte sich Fidus zunehmend auf den Spuren neuer Führer bis hin zu einer Anbiederung an das nationalsozialistische Regime. Der eigenwillige Illustrator Fidus bediente das kleinbürgerliche Publikum mit seiner teils naiven Suche nach neuen ideologischen Tendenzen. Zudem förderte er mit seinem volkserzieherischen Anspruch, indirekt und sicherlich esoterisch überlagert, die nationalsozialistische Propaganda für den »neuen Menschen«.25 Beeindruckt von dem »hochwertigen Mitstreiter« Goebbels, wie er ihn nannte, und dem »Lebensreformer« Hitler führte sein Konzept, sein »Dritter Weg«, direkt in ein »Drittes Reich«. Zwar wurde ihm zum 75. Geburtstag 1943 der Titel eines »Ehrenprofessors« verliehen, jedoch 20 Leib und Leben, November 1935, S. 328, zitiert nach Fritzen: Gesünder (Anm. 15), S. 219. Allgemein zu Lebensreform und Nationalsozialismus vgl. Fritzen: Gesünder (Anm. 15), S. 243 ff. sowie Volker Weiß: Zucht und Boden, in: Anders Leben. Jugendbewegung und Lebensreform, ZEIT Geschichte, 2013, Heft 2, S. 94 ff. 21 AdJb N 151, Tagebuch 28, S. 114: Diefenbach an Richard Ungewitter, 10. 02. 1910. 22 Ebenda, S. 142: Diefenbach an Ungewitter, 10.02. und 05. 04. 1910. 23 Ebenda. 24 Ebenda, S. 103: Diefenbach an Prof. Dr. von Schrön, Neapel, 19. 05. 1910. 25 Vgl. Marina Schuster : Fidus – ein Gesinnungskünstler der völkischen Kulturbewegung (1871¢1918), in: Uwe Puschner (Hg.): Handbuch der »Völkischen Bewegung«, München 1996, S. 635.

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blieb eine ersehnte Berufung für sein Großschaffen aus. Sein Werk galt als zu »okkultisch«, sein Führerporträt wurde sogar verboten, auch wenn Hitlers Stellvertreter Martin Bormann 1941 ein Original des »Lichtgebets« erworben hatte. Währenddessen hing Böcklins »Toteninsel«, die Diefenbach als Hommage an den großen Meister des Symbolismus adaptierte hatte, im Reichspräsidentenpalais in Berlin.

Die Diefenbach-Rezeption nach 1945 Gerade aufgrund der Präferenz der Nationalsozialisten für symbolgeladene Werke und symbolistische Landschaften konnte man sich diesen Werken nach 1945 nur mit äußerster Distanz und Vorsicht nähern. In der kunsthistorischen »Stunde Null« knüpfte man 1945 im Gegensatz zum okkulten NS-Symbolismus und -Realismus wieder an die Vorlieben für abstrakte, geometrische Formen und gerade Linien an und es war lange nicht opportun, sich kunsthistorisch überhaupt mit dem Symbolismus auseinanderzusetzen, schon gar nicht mit Malern, die auch von NS-Funktionären geschätzt wurden. In diesem Umfeld war für eine Wiederentdeckung Diefenbachs kein Platz. Daher schlummerte er weiter in Vergessenheit bis in die 1960er-Jahre hinein, als die ersten kunsthistorischen Forschungen zum Symbolismus einsetzten.26 1961 schlug Diefenbachs Tochter Stella von Spaun eine Dokumentation über den »Kohlrabi-Apostel« im Münchner Valentin-Musäum vor und sein Enkel Fridolin von Spaun begann sich aktiv für das Erbe seines Großvaters einzusetzen. Auf Capri waren noch 31 Gemälde in den Räumen der Certosa erhalten. Diese wurden am 11. Juni 1971 durch eine Schenkung von Spauns dem italienischen Staat zu Zwecken einer Dauerausstellung vermacht. Den umfangreichen schriftlichen Nachlass holte Fridolin von Spaun in sein Archiv in die Nähe von München und begann mit der privaten Aufarbeitung und Erforschung. Damit war er in dieser Zeit nicht allein. Die frühe Lebensreformbewegung schien soziokulturell und politisch für die zeitgleich junge Generation der »68er« durchaus von Relevanz.27 So betteten die Autoren Frecot, Geist und Kerbs den reformorientierte Künstler in eine breite bürgerliche Mittelschicht ein, die sich um 1900 jenseits von kapitalistischem Materialismus und kämpferischem Kommunismus aus der städtischen Zivilisation aufs Land »flüchtete«, um dort in Siedlungsgemeinschaften und Kommunen ein Alternativkonzept zu entwickeln. Von Interesse war nicht nur die 26 Hinzuweisen ist hier vor allem auf die Arbeiten von Hans H. Hofstätter. – Siehe ders.: Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende, Köln 1965. 27 In diesem Umfeld erschien die bis heute einschlägige Studie zu Fidus: Janos Frecot, Johann Friedrich Geist und Diethart Kerbs: Fidus. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, München 1972.

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»ästhetische Praxis« eines bild- und motivgebenden Künstlers, sondern vor allem auch die soziologische Einbindung. Der Gedanke der »Fluchtbewegung« findet sein Äquivalent in der zeitgleichen internationalen Hippie- und Aussteigerkultur, die die bürgerliche Mitte der 1960er- und 1970er-Jahre zu einer Besinnung auf die frühe Ökologiebewegung trieb. Diefenbachs Einfluss lässt sich über seinen Schüler Gusto Gräser und die Kommune des Monte Verit‚ bis zu den Blumenkindern Amerikas und den sich daran anschließenden entsprechend europäischen Bewegungen verfolgen. Vergleichbar ist dabei der Kampf beider gegen ein autoritäres Regime, der sich bei Diefenbach gegen das wilhelminische Kaiserreich richtete, während man in den 1960er-Jahren eher gegen den »Muff von 1000 Jahren« und die fragwürdig gewordenen Strukturen der Nachkriegsgesellschaft protestierte. Anders als bei Diefenbach, dessen Ideale pervertiert und missbraucht wurden, macht es den Anschein, als wäre der Kampf der Protestbewegungen der 1960er-Jahre teilweise erfolgreich.28

Diefenbachs Erbe in Zivilisationskritik, Ökologie und Umweltschutz Mit neuen Begriffen (Ökologie, Nachhaltigkeit, Fitness, Verbraucherschutz, Saurer Regen) knüpfte die Ökobewegung der 1980er-Jahre an ältere Positionen an, die auch schon Diefenbach vertreten hatte: Forderungen nach einem Leben im Einklang mit der Natur, nach Tierschutz und mäßigem Fleischkonsum, nach mehr Umweltschutz und Körperbewusstsein. Wenn es also zunächst in Italien ab 1979 zu Ausstellungen und Publikationen über den Maler Diefenbach kam, so reizte daran nicht nur seine Kunst, sondern besonders auch seine Ideale und der Einfluss, den er damit auf die ökologischen Auseinandersetzungen bis heute nimmt. Auffallend ist, dass beide Strömungen, die Lebensreformbewegung um 1900 und die Ökobewegung seit den 1970er-Jahren in eine Phase zunehmenden Wohlstands und gleichzeitigen Krisenbewusstseins fallen. Während der Lebensstandard um die Jahrhundertwende durch erhöhten Fleisch- und Alkoholkonsum, Hygienemaßnahmen, eine allgemeine Wasserversorgung und Elektrizität stieg, profitierte man seit den späten 1960er-Jahren vom Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Zivilisationskrankheiten und Überfluss bewirkten eine »Sehnsucht nach dem Reichtum des einfachen Lebens«. »Wo aus Überfluss Mangel resultiert, wird Verzicht als Gewinn erfahren«, resümierte Ulrich Linse in einem aufschlussreichen Interview die Einflüsse der Lebensre28 Vgl. Der Naturprophet vergangener Tage. Interview Erwin Uhrmann mit Claudia Wagner, in: Biorama. Magazin für nachhaltiges Leben mit Stil, 2011, Heft 13, S. 28 – 31.

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formbewegung bis heute.29 Reformbewegungen bilden sich also nicht nur aufgrund hohen gesellschaftlichen Leidensdrucks und dem daraus resultierenden Bewusstsein einer notwendigen Veränderung. Sie werden erst in einer Gesellschaft möglich, die Perspektiven bietet, wie es in der industrialisierten, zukunftsorientierten Gesellschaft der Jahrhundertwende ebenso der Fall war wie zur Zeit der »68er«, als eine agile Akademikergeneration ohne Zukunftsängste protestierend in eine neue Zeit starten konnte.30 Allerdings sollte man nicht vergessen, dass sie eine gesellschaftspolitische Revolution angestrebte, während die »Kohlrabiapostel« um 1900 zunächst sich selbst und ihre wachsenden Landkommunen reformieren wollten. Und heute? Heute erkennen wir, dass der Kampf zwischen Mensch und Natur, den Diefenbach formulierte, noch lange nicht beigelegt ist und was er äußerte, war nur ein Anfangsverdacht. Damals war der »Kohlrabi-Apostel« ein Außenseiter in seiner Zeit, heute scheint er Prophet und seine Visionen vom Leben im Einklang mit der Natur, von einer Religion der »Menschlichkeit« und der allgemeinen »Mäßigung der Bedürfnisse«, also einer neuen Bescheidenheit, entsprechen den politischen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen unserer Zeit. Diefenbach erwachte 1995, hundert Jahre nach seinen einflussreichsten Lebensjahren, endgültig aus seinem Dornröschenschlaf, als es in Italien zu einer ersten Ausstellung von Bildern aus verschiedenem Privatbesitz kam. Nur wenige Jahre zuvor, 1988, wurde sein bekanntestes Werk, der aus 34 Teilbildern bestehende Fries »Per aspera ad astra«, dem Stadtmuseum Hadamar zur Dauerausstellung übergeben. 2001 wurden Teile davon in der Ausstellung »Lebensreform« auf der Mathildenhöhe in Darmstadt präsentiert. 2003 begann im Rahmen einer Promotion die strukturierte wissenschaftliche Erforschung seines Lebens und Werkes auf der Basis des von Spaun’schen Familienarchivs, die 2009 in einer monographischen Ausstellung in der Münchner Villa Stuck und anschließend 2011 in der Wiener Hermesvilla, einer Dependance des Wien Museums, mündete. Die regionale und überregionale Presse nahm das anekdotenreiche Leben und die brisanten Reformideen des Künstlers dankend auf und der Todgeglaubte wurde wieder lebendig. Aufgrund dieser Ausstellung kam es zum Ankauf einer Version seines prominenten Motivs »Du sollst nicht töten«, einem Propagandabild für den jungen Vegetarismus, durch das Frankfurter Städel Museum. Im Rahmen der neuen Hängung im Jahr 2012 wurde es neben die großen Meister der Zeit, Giovanni Segantini, Wilhelm Lehmbruck und Puvis de Chavannes und mit Blick auf Franz von Stuck und Arnold Böcklin gehängt. Der Symbolismus ist wieder in den anerkannten Sphären der europäischen 29 Vgl. hierzu: Macht es selbst! Interview mit Ulrich Linse und Antje Vollmer, in: Anders Leben (Anm. 20), S. 104. 30 Vgl. Joachim Radkau: Ins Freie, ins Licht!, in: Anders Leben (Anm. 20), S. 21.

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Hochkunst angelangt und damit auch Diefenbach. Das Bild des Städel ist in der kurzen Zeit seit der ersten Präsentation 2012 bereits auf Reisen in die Ausstellung zum deutschen Symbolismus nach Bielefeld gegangen; Werke aus Privatbesitz tauchen in den letzten Jahren immer wieder in den großen Häusern des deutschsprachigen Kunstzirkus auf, im Wiener Belvedere oder in der Sammlung Leopold. Im Frühjahr 2015 wird eine umfangreiche Schau zu den »Barfußpropheten« in der Frankfurter Schirn zu sehen sein. Diefenbach steht dabei als Ikone und früher Initiator der Bewegung am Anfang der verschiedenen Sektionen, die eine Rezeptionsgeschichte bis in die zeitgenössische Kunst aufweisen. Auch in die Diefenbach-Forschung kam neuer Wind, vor allem nachdem das Spaun’sche Familienarchiv mit dem kompletten Diefenbach-Nachlass, damals noch in unsortiertem und wenig fachmännisch gelagertem Zustand, an das Archiv der deutschen Jugendbewegung übergeben wurde. Die bis dahin und vor allem nach dem Tod Fridolin von Spauns für die Öffentlichkeit unzugängliche Sammlung ist heute auf der Burg Ludwigstein einzusehen und wird sukzessive digital erschlossen. Auch der Kunsthandel interessiert sich heute für Diefenbach. In Auktionskatalogen vor allem des Dorotheums in Wien und in München werden wiederholt Gemälde aus Privatbesitz zum Verkauf angeboten. Doch Diefenbach ist noch immer keine Kunst für Spekulanten. Der Meister ist ein Künstler für Liebhaber und Engagierte, die nicht nur die Malerei sehen, bei der er qualitativ im Vergleich zu anderen Symbolisten hintansteht. Diefenbach begeistert noch immer die Andersdenkenden, deren aufgeklärten und vielfältig gelebten Vegetarismus, deren Öffnung zu Sonne, Luft und Licht, deren Begeisterung für sportliche Betätigung und deren alternatives und ökologisches Engagement er weit vorausahnte. Dieser Tendenz entsprach der Titel der Wiener Ausstellung »Der Prophet«, in der viele Besucher ihre eigenen ökologischen Ideale als frühe, vage Visionen wiederfanden. Diefenbach erlebte in den letzten Jahren eine Renaissance. Nach dem tiefen Fall, der Vergessenheit und den Missverständnissen der Geschichte ist er wieder aufgestiegen zu einem Vorbild in Kutte und Sandalen, wie Peter Richter, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, anlässlich der Münchner Ausstellung formulierte:31 »Mag ja sein, dass alle Menschen von Adam abstammen. Sicher ist aber, dass auch alle besseren Menschen einen gemeinsamen Urvater haben. Alle Vegetarier und Veganer, alle Nichtraucher und Abstinenzler, alle Nacktbader und Tierschützer, alle Naturheilkundler und Biobauern, aber auch Hippies und Aussteiger, die Weltverbesserer und 31 Peter Richter : Der Jesus von München, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29. 11. 2009, Nr. 48.

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Polygamisten, die Wohnkommunarden, Sektenführer, und Gurus […] Und selbst wenn die alle sich vollkommen zurecht dagegen verwehren würden, in einen derart großen Topf zusammengeworfen zu werden – den einen großen Vorfahren, der alles, was sie heute im Einzelnen ausmacht und umtreibt, auch schon verkörpert hat: Den gab es eben doch.« Karl Wilhelm Diefenbach.

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»Vorweggelebtes Leben«. Die Erinnerungen des kommunistischen Reichstagsabgeordneten Ernst Putz an seine Wickersdorfer Schulzeit

Einleitung Die Pädagogik Gustav Wynekens und die Geschichte der Freien Schulgemeinde (FSG) Wickersdorf sind in ihrer Programmatik und ihren zahlreichen Konflikten in der pädagogischen und jugendhistorischen Literatur aus verschiedensten Blickwinkeln hinreichend thematisiert worden. Aber es gibt nur wenige Zeugnisse, die aus Sicht der damals beteiligten und betroffenen Schüler diese Geschichte ausschnittsweise und aus ihrer subjektiven Sicht beleuchten. Wie erlebten damalige Schüler eigentlich ihr Leben in der FSG Wickersdorf ? Darüber gibt es ¢ wie erwähnt ¢ nur vereinzelte Antworten. Zwar existieren einige wenige Autobiographien ehemaliger Wickersdorfer Schüler, sie alle jedoch oszillieren ¢ und das ist bezeichnend ¢ zwischen verklärender Begeisterung1 und teils traumatischen Erinnerungen.2 Eine in dieser Hinsicht einzigartige Quelle bildet das Wickersdorfer Tagebuch von Rosemarie Bernfeld (1915 – 1984), der ältesten Tochter des Pädagogen und Psychoanalytikers Siegfried Bernfeld (1892 – 1953), das seit einigen Jahren von mir in Auszügen veröffentlicht vorliegt.3 Es ist auch bildungshistorisch insofern aufschlussreich, weil es den Wickersdorfer Alltag einer damals gerade fünfzehnjährigen Schülerin hautnah dokumentiert. Der hatte nämlich wenig mit den jugendkulturell-programmatischen Ansprüchen Gustav Wynekens, den hehren reformpädagogischen Aspirationen der »Freien Schulgemeinde« oder gar dem Schulgemeindegedan1 Erik Ode: Der Kommissar und ich, Percha 1972. – Friedrich Schoenfelder : Ich war doch immer ich. Erinnerungen, Berlin 1996. 2 Marianne Walter: Die Saat ging auf. Eine jüdische Jugend in Deutschland von 1910 bis 1937, Hamm 1998. – Ulrich Roloff-Momin: »Andere machten Geschichte, ich machte Musik«. Die Lebensgeschichte des Dirigenten Kurt Sanderling in Gesprächen und Dokumenten, Berlin 2002. 3 Peter Dudek: »Es ist zu komisch mit diesen Seelenzuständen«. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf in der Wahrnehmung einer 15-jährigen Schülerin, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, 2010, 16. Jg, S. 266 – 295.

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ken zu tun, sondern mit ganz anderen profanen Dingen einer sich in der Pubertät befindenden Internatsschülerin, nämlich mit der Entdeckung des männlichen Geschlechts, mit Freundschaften, mit Alltäglichkeiten, dem ersten Umgang mit verbotenem Tabak und Alkohol, mit ihren schulischen Verpflichtungen und ihren literarischen Vorlieben ¢ alles relativ unspektakulär. Vor diesem Hintergrund präsentiert der folgende Beitrag in Teilen zwei weitere autobiographische Erinnerungen eines ehemaligen Schülers der FSG Wickersdorf und seiner Schwester, nämlich die des späteren kommunistischen Reichstagsabgeordneten Ernst Putz und die seiner jüngeren Schwester Charlotte Putz. Sie fallen ebenso konträr aus wie die bislang vorliegenden Erinnerungen ehemaliger Wickersdorfer Schüler ¢ Emphase und Trauma. Ernst Putz hatte 1920 in seinem Heimatort Bad Brückenau zusammen mit dem jugendbewegten Kunsthistoriker Max Bondy, einem Mitglied der Deutschen Akademischen Freischar, und dessen Frau, der Ärztin und Psychoanalytikerin Gertrud Bondy, die »Freie Schul- und Werkgemeinschaft Sinntalhof« gegründet. Nach deren Scheitern schloss er sich dann der KPD an, um in der Partei für die Rechte der kleinen Landwirte vor allem die in seiner Heimat, der Rhön, einzutreten. Es folgen zunächst einige biographische Hinweise zu Ernst Putz, dann kurze Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte seiner Erinnerungen und ihrer Entschlüsselung sowie ¢ von mir unter Rückgriff auf das Schüler- und Lehrerbuch der FSG Wickersdorf in Anmerkungen kommentiert ¢ abschließend sein Text selbst als eine der seltenen autobiographischen Quellen zur frühen Geschichte der FSG Wickersdorf.

Biographische Hinweise zu Ernst Putz Ernst Putz wurde am 20. Januar 1896 als zweites von insgesamt fünf Kindern des Bildhauers, Pensionsbetreibers und Nebenerwerbslandwirts Sebastian Putz (1868 – 1937) und seiner Frau Amelie Putz, geb. Moritz (1868 – 1918), im Sinntalhof in der Nähe des fränkischen Bad Brückenau geboren.4 Den Hof und die dazugehörigen Ländereien brachte die aus einer alteingesessenen Familie stammende Amelie Moritz mit in die Ehe ein. Nachdem das Anwesen im Mai 1910 durch einen Zyklon schwer beschädigt worden war, baute das Ehepaar in unmittelbarer Nähe einen neuen Sinntalhof auf, der dann ein Jahr später als eine 4 Zur Geschichte des alten (1821) und des neuen Sinntalhofs (1911), in der älteren Schreibweise auch Sinnthalhof, sowie zu den Familien Putz und Moritz vgl. Leonhard Rugel: Der Sinnthalhof und die Familien Moritz und Putz, in: Jahresbericht des Franz-Miltenberger-Gymnasiums Bad Brückenau, 1982, S. 101 – 106.

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zunächst recht lukrative Pension für Kurgäste eröffnet wurde. Er bildete fortan die Haupteinnahmequelle der Familie. Putz’ Elternhaus war streng katholisch, der Vater angeblich seit 1918 Mitglied der Bayerischen Volkspartei. Dennoch oder vielleicht deswegen traten alle fünf Kinder in jungen Jahren aus der Kirche aus, ein Schritt, der die Eltern entsetzte. Ernst Putz, der in früher Kindheit längere Zeit lebensbedrohlich erkrankt und deshalb von schwächlicher Konstitution war, besuchte von 1902 bis 1905 zunächst die Volksschule in seinem Heimatort, wechselte dann bis 1909 an das heutige Kronberg-Gymnasium nach Aschaffenburg und besuchte anschließend bis Sommer 1913 das Realgymnasium in Würzburg, das heutige Röntgengymnasium. Nach Angaben seiner Schwester Charlotte (1903 – 1960) sei er dort von seinem damaligen Religionslehrer sexuell missbraucht worden, eine Gewalttat, an der er sein Leben lang litt. »Mein Bruder war durch seinen Religionslehrer, den er sehr verehrte, zu homosexuellen Dingen verführt worden im Alter von 15 oder 16 Jahren. Er kam nie darüber hinweg.«5 Wir wissen nicht, ob dieser Vorfall ausschlaggebend war für seinen Wechsel zur FSG Wickersdorf. Aber das Problem hat ihn wohl auch dort umgetrieben. In einem nicht mehr erhalten gebliebenen Brief an Gustav Wyneken hatte er offensichtlich die gleichgeschlechtlichen Praktiken an der FSG angesprochen, die man aber wohl »mit in Kauf nehmen« müsse. Wyneken antwortete dem »lieben Kameraden« jedenfalls darauf etwas pikiert. »Ich weiß nicht, was Sie unter ›mit in Kauf nehmen‹ verstehen. Selbstverständlich würde ich solche Ausschreitungen (die doch immer nur Ergebnisse seltener, unbewußter Eigenheiten sein können) zu verhindern suchen, und vor allen Dingen versuchen, auf die jungen Menschen aufklärend und Selbstdisziplin erzwingend einzuwirken. Aber ich würde dort, wo eine tiefe, seelische Freundschaft vorhanden ist, diese nicht wegen einiger das Erotische berührender Äußerungen unterdrücken und die Jungen nicht mit dem medizinischen Begriff der Homosexualität ängstigen. Wie man 5 Brief Charlotte Putz an Romano Guardini vom 02. 10. 1958, in: Nachlass Charlotte Putz. Privatbesitz Barbara Meyer-Jürgens [Bad Brückenau]. Romano Guardini (1885 – 1968) war ein bekannter katholischer Priester, Theologe und Religionsphilosoph, der nachhaltig die katholische Jugendbewegung »Quickborn« geprägt hatte. Obwohl Charlotte Putz aus der Kirche ausgetreten war, war sie offenbar Mitglied des Quickborns, denn sie ist Guardini mehrfach auf Burg Rothenfels begegnet und auch während ihrer späteren Ausbildung zur Malerin und Bildhauerin in München traf sie ihn. In ihrem Nachlass befinden sich umfangreiche Lebenserinnerungen und Tagebücher, in denen sie auch auf ihre Wickersdorfer Zeit einging. Im Dezember 1938 kehrte Charlotte Putz wieder gläubig in den Kreis der katholischen Kirche zurück. Später wurde sie Mitglied der Bruderhöfer um Eberhard und Emmy Arnold in Sannerz [Rhön], emigrierte dann in den fünfziger Jahren nach England. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte die an Depressionen leidende Charlotte Putz dort in einem von Nonnen geleiteten katholischen Heim zugleich als Patientin und Küchenhilfe. Die Zitate aus ihren Erinnerungen und Tagebüchern erfolgen ohne Seitenangaben und werden auch als Anmerkungen nicht mehr gesondert ausgewiesen. Sie sind aus dem Text selbst erschließbar.

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sich in solchen Fällen praktisch zu verhalten hat, ergibt sich ganz aus den besonderen Bedingungen des Einzelfalles. Mir kommt es darauf an, zu betonen, daß gerade erste Liebe als solche nie fertig ist. Das ist das Prinzip, das andere Sache des Taktes.«6

In Wickersdorf blieb Putz vom 20. September 1913 bis 22. Januar 1915, besuchte dort zunächst die Unterprima und gehörte der Kameradschaft von Martin Luserke an. Vermutlich nahm der neue Schüler der FSG mit etwa 100 anderen seiner Kameraden auch am Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner teil. Während seiner Wickersdorfer Zeit war er jedenfalls ein sehr aktives Mitglied des Schülerausschusses, dem bereits am 21. Juni 1915 die auswärtige Mitgliedschaft übertragen wurde.7 Putz nahm sie auch in späteren Jahren regelmäßig wahr. Noch als Schüler beantragte er am 03. November 1914 die auswärtige Mitgliedschaft für seinen Freund, den späteren Religionsphilosophen Otto Gründler (1894 – 1961), ein Stiefsohn des Malers und Graphikers Alfred Kubin (1887 – 1966). Gründler gehörte zur ersten Generation der Wickersdorfer Schüler. Er kam im August 1907 von einer Privatschule zur FSG, blieb dort bis Ende März 1914 und bestand anschließend sein Abitur an der Oberrealschule in Sonneberg. Am 14. Dezember 1917 nahm Putz an einer weiteren Sitzung der Schulgemeinde teil. Auf seine Anregung hin beantragte dann Martin Luserke am 09. September 1918, den Briefwechsel zwischen der Schulgemeinde und den im Krieg befindlichen Wickersdorfern zu intensivieren. Zusammen mit Hedda Korsch, Martin Luserke und Horst Horster beantragte Putz am 20. Januar 1919 in der Schulgemeinde die »Herstellung der Öffentlichkeit« zur effektiveren Bekämpfung der überhandnehmenden Eigentumsdelikte in der FSG. Vier Tage später beschloss die Schulgemeinde wiederum auf seinen Vorschlag hin, die Rechte des Schülerausschusses zu stärken. Der kommunistische Silberschmied Horst Horster (1903 – 1981) besuchte die FSG von April 1913 bis März 1920 und gehörte der Kameradschaft von Hedda Korsch an. Danach studierte er an der Staatlichen Kunstgewerbeschule in Berlin und unterrichtete sogar von 1923 bis 1926 als Werklehrer in Wickersdorf. Beide, Putz und Horster, wurden im engeren Umfeld von Karl und Hedda Korsch politisiert; vor allem Horster kann als einer der engsten Mitarbeiter Karl Korschs gelten.8 Der mit Bert Brecht befreundete Horster emigrierte nach dem Tod von 6 Brief Gustav Wyneken an Ernst Putz vom 11. 02. 1914, in: Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb), N 35 Nachlass Gustav Wyneken, Nr. 1035. 7 Bei den »auswärtigen Mitgliedern« handelte es sich um eine ausgesuchte Gruppe ehemaliger Schüler und Lehrer der FSG, die von der Schulgemeinde gewählt wurden und die ein begrenztes Mitspracherecht bei der Gesetzgebung der Schulgemeinde hatten. Die Teilnahme des auswärtigen Mitglieds Ernst Putz an den Schulgemeindesitzungen ist dokumentiert: Kreisarchiv Saalfeld-Rudolstadt, Protokollbuch »Tagesordnungen und Beschlüsse der Schulgemeinden 1906 – 1921«. 8 Birgit S. Nielsen: Horst Horster (1903 – 1981). Silberschmied, in: Willy Dähnhardt, Birgit S.

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Putz im September 1933 auf Anraten der beiden Korschs mit seiner Familie nach Dänemark, wo er sich einen Namen als begabter und bekannter Marionettenspieler gemacht sowie eine Werkstatt als Silberschmied eröffnet hat. Während seiner Wickersdorfer Zeit interessierte sich Putz stark für die Aktivitäten der Jugendkulturbewegung rund um die legendäre Schülerzeitung »Der Anfang«9, zu deren Lesern er gehörte. Als Siegfried Bernfeld hier Anfang 1914 die Gründung des »Grünen Ankers« anzeigte, einer unentgeltlichen Rat- und Hilfsstelle für jugendliche Angelegenheiten, war auch Putz zur Mitarbeit bereit. Grün symbolisierte damals die Farbe der Jugend, der Anker Halt und Rettung für in Schwierigkeiten und Not geratene Jugendliche. Bei Konflikten mit Eltern und Schule, bei Fragen der Berufswahlfindung und des Sexuallebens, bei körperlichen und seelischen Misshandlungen standen dem »Grünen Anker« befreundete Ärzte, Juristen, Pädagogen, Hochschullehrer, Abgeordnete und Journalisten als kompetente Ansprechpartner und Berater zur Verfügung. Anspielend auf seine eigenen langjährigen Internatserfahrungen in kirchlichen Einrichtungen in Aschaffenburg und Würzburg schrieb Putz Mitte Februar 1914 von Wickersdorf aus an Bernfeld: »Mir leuchtet der Gedanke sehr ein, ich glaube, daß diese Einrichtung sehr ernstvoll werden kann. Sie fordern die, die mithelfen wollen, auf, sich bei Ihnen zu melden. Da ich glaube, daß ich in manchen Fällen jüngeren Kameraden helfen kann, so melde ich mich gerne zur Mitarbeit. Ich bin 18 Jahre. Durch siebenjährigen Aufenthalt in religiöskirchlich geleiteten Internaten weiß ich, wie schwer die Kämpfe sind, die mancher durchzumachen hat. Da ich weiß, daß ich vielen jüngeren Kameraden in religiösen, sexuellen und moralischen Schwierigkeiten schon helfen konnte, glaube ich, diese Arbeit […] leisten zu können.«10

Wie viele seiner Altersgenossen hatte sich dann auch Ernst Putz zu Beginn des Ersten Weltkrieges als Kriegsfreiwilliger gemeldet. Im Gegensatz zu seinem Vater und seinem jüngeren Bruder wurde er jedoch wegen seiner schwächlichen Konstitution zunächst zurückgestellt und begab sich wieder nach Wickersdorf. Ein halbes Jahr später verließ er die FSG wohl mit dem Ziel, nun eine Offizierslaufbahn einzuschlagen. Deshalb legte Putz am 09. März 1915 in BerlinLichterfelde extern sein Notabitur ab und schuf damit die Voraussetzung für diese Laufbahn. Wenig später, am 22. März, trat er in die Offiziersschule der Nielsen (Hg.): Exil in Dänemark. Deutschsprachige Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller im dänischen Exil nach 1933, Heide 1993, S. 331 – 336. 9 Peter Dudek: Fetisch Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld ¢ Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn 2002, S. 76 ff. – Ders.: »Er war halt genialer als die anderen.« Biographische Annäherung an Siegfried Bernfeld, Gießen 2012, S. 54 ff. 10 Brief von Ernst Putz an Bernfeld vom 18. 02. 1914, in: YIVO Institute for Jewish Research, New York: unidentified material [Kopie im Privatarchiv des Bernfeld-Herausgebers Ulrich Herrmann, Tübingen].

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Kriegsmarine in Kiel ein, danach war er in Flensburg stationiert. Als Leutnant war Putz auf verschiedenen Torpedobooten des Marinekorps Flandern, dann auf dem Linienschiff »Posen« im Kriegseinsatz. Gegen Kriegsende wurde er an der Westfront eingesetzt. Hier machte er 1917/18 den Rückzug aus Belgien mit. Während der gesamten Zeit hielt Putz engen Kontakt zur FSG Wickersdorf. Vom 04. Januar bis 16. März 1919 vermerkte das Schülerbuch der FSG nochmals seinen Aufenthalt in Wickersdorf, obwohl er bereits seit Anfang Juni 1918 als Student der Philosophie an der Universität Jena eingeschrieben war. Ohne hier im Einzelnen auf die zahlreichen ¢ auch politisch motivierten ¢ Legenden einzugehen, die in der einschlägigen Literatur über sein Studium in Jena zu lesen sind, sei an dieser Stelle doch knapp festgehalten: Ernst Putz hatte weder Agrarwissenschaften studiert noch war er Diplomlandwirt; er hatte weder Mathematik noch Germanistik studiert, sondern allenfalls Philosophie bei dem Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken (1846 – 1926), wenn man denn von einem geregelten Studium überhaupt sprechen kann. Putz immatrikulierte sich in Jena für das Sommersemester 1918 in der Fachrichtung Philosophie. Folgt man den gedruckten Verzeichnissen der Studierenden der Universität, so lässt sich ersehen, dass er am 03. Juni 1918 zwar immatrikuliert wurde, zunächst jedoch weiterhin »im Felde« war. Erst ab dem Sommersemester 1919 war Putz nach seinem Wickersdorfer Aufenthalt auch physisch in Jena anwesend und studierte bis zum Wintersemester 1920/ 1921 hier. Am 04. Januar 1921 wurde er nämlich bereits wieder wegen seines Weggangs aus Jena in den Listen der Studierenden gestrichen.11 Bestenfalls hatte er also vier Semester studiert und verließ die Universität dann ohne Abschluss. Es darf aber bezweifelt werden, ob er im Wintersemester 1920/21 wirklich noch regelmäßig in Jena gewesen ist. Denn im Oktober 1920 gründete Putz zusammen mit Max Bondy (1892 – 1951) und dessen Ehefrau Gertrud Bondy (1889 – 1977) auf dem elterlichen Sinntalhof die »Freie Schulund Werkgemeinschaft Sinntalhof«, ein kleines Landerziehungsheim, das nie mehr als 25 bis 30 Schüler hatte. Zuvor beherbergte er vom Herbst 1919 bis zum Frühjahr 1920 die im April 1919 von drei Wickersdorfer Lehrkräften, nämlich von Bernhard Uffrecht (1885 – 1959), Lisbeth Wyneken und der Klavierlehrerin Käthe Conrad (Jg. 1893), gegründete spätere »Freie Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen«.12 Zur gleichen Zeit öffnete Putz den Hof auch für Tagungen 11 Universitätsarchiv Jena, Bestand BA, Nr. 902 und Nr. 983. 12 Bernhard Uffrecht: Die Freie Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen, in: Franz Hilker (Hg.): Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 137 – 155. – Ders.: Der Gedanke der erziehungsfreien Gemeinschaft und seine Durchsetzung in der Freien Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen, in: Alfred Andreesen (Hg.): Das Landerziehungsheim, Leipzig 1926, S. 40 – 47. – Ulrich Uffrecht: Die Freie Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen. Ein Schulversuch von bleibender Bedeutung, in: Neue Sammlung. Göttinger Blätter für Kultur und Erziehung,

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Ernst Putz um 1925. Quelle: Private Sammlung Peter Dudek.

verschiedener Gruppen der bürgerlichen Jugendbewegung ¢ etwa im September 1921 für den Vertretertag des »Ausschusses der deutschen Jugendverbände« oder Ende April 1922 für die Tagung der Deutschen Akademischen Freischar. Zwischen Oktober 1920 und Oktober 1921 wurde der Sinntalhof »von etwa 300 Menschen besucht, meist Angehörigen der Jugendbewegung und zwar von Leuten aller politischen und religiösen Richtungen: Deutsch-völkische und Kommunisten, Angehörige der freideutschen, der katholischen und evangelischen Bünde trafen sich hier und es zeigte sich eigentlich, dass hinter den verschiedenen Aushängeschildern ein Gemeinsames sich barg, das Verwandtschaft mit den geistigen Zielen der Schule hatte.«13

Charlotte Putz schrieb in ihren Erinnerungen über diese wenigen Monate, in denen Bernhard Uffrecht und seine Schüler auf dem Sinntalhof waren: »In den Weihnachtsferien auf dem Sinnthalhof begegnete ich Lisbeth Wyneken. Ich hatte sofort Kontakt mit ihr und mochte sie sehr. Ich nahm an ihrem Unterricht teil. Wir lasen Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹.14 Es war als ob unter Frl. Wynekens 1992, 32. Jg., S. 549 – 570. – Ders.: Die Freie Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen ¢ ihr Verhältnis zur Jugendbewegung und zu anderen Landerziehungsheimen, in: Neue Sammlung , 1995, 35. Jg., S. 89 – 106. – Ders.: Von der Freien Schulgemeinde Wickersdorf zur Freien Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen. Bernhard Uffrechts Radikalisierung des Schulgemeinde-Konzepts, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2006, NF 3, S. 160 – 183. 13 Bericht der Schule auf dem Sinntalhof vom Oktober 1920 bis Oktober 1921, in: AdJb, N 164, Nachlass Paul Böckmann, Nr. 14, o. S.. 14 Spengler : Oswald Spengler (188–-1936), konservativer und antidemokratischer Schriftsteller und Kulturhistoriker, dessen umstrittenes Buch »Untergang des Abendlandes« zeitgenössisch breit diskutiert wurde.

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gütiger Führung mein verstörtes Wesen, sich löste. Es war unsere Altersstufe, die mit Bernhard Uffrecht, Käthe Conrad u. Dr. Hell einen Winter auf dem Hof verbrachten, nach der Neugründung einer eigenen Schule. Ich mußte nach Wickersdorf zurück, und es wurde ein sehr harter Winter. Wir froren entsetzlich, das Herrenhaus war nur Sonntags geheizt, die Ernährung war nicht ausreichend, wir spürten das Hungersjahr. Ich erinnere mich deutlich wie wir in Jürgens Hütte verschimmeltes Brot aßen, das ein Schüler irgendwo gestohlen hatte.«15

Vermutlich waren es die Erfahrungen mit Uffrechts kleiner Schul- und Werkgemeinschaft, die Ernst Putz veranlassten, im August 1920 bei der bayerischen Landesregierung den Antrag zur Gründung einer eigenen Schule zu stellen. Im Oktober 1920 genehmigte das Kultusministerium die Eröffnung eines privaten Landerziehungsheims, das seinen Betrieb mit zunächst vier Schülern aufnahm. Ein Jahr später lebten 14 Schüler hier, im Schuljahr 1922/23 wurden 29 Schüler in der Schülerliste geführt.16 Unter ihnen befand sich auch der spätere ¢ an der FU Berlin tätige ¢ Paläontologe Walter Kühne (1911 – 1991), der nach der Schließung der Schule an die FSG Wickersdorf wechselte. Dort hatte bereits 1915/16 sein Vater, der gleichnamige Radierer und Kunstmaler Walter Kühne (1875 – 1956), als Zeichenlehrer gearbeitet, dort gingen auch sein Bruder Wolfgang (Jg. 1902) von 1915 bis 1919 und seine Schwester Marianne (Jg. 1907) 1922/23 zur Schule. Putz und Kühne blieben nach der Schließung der Schule lebenslang enge Freunde. Auch Charlotte Putz stand bis zu ihrem Tod in brieflichem Kontakt mit ihm. Da weder Ernst Putz noch Max Bondy über eine abgeschlossene Lehrerausbildung verfügten und Putz diese auch nicht nachträglich ¢ wie er dem Kultusministerium eigentlich versprochen hatte ¢ absolvierte, übernahm schließlich der Lehrer Jakob Stahl formal die pädagogische Leitung. Putz fiel die technische, Bondy die kaufmännische Leitung zu. Für den Gartenbau und den handwerklichen Unterricht war Jürgen Diederichs (1901-1976), ein Sohn des Jenaer Verlegers Eugen Diederichs, verantwortlich, der als Schüler von 1913 bis 1919 die FSG Wickersdorf besucht hatte. Die jüngeren Schüler beaufsichtigte Bondys langjährige Mitarbeiterin Martha Philips (1896-1956) und der jugendbewegte Arzt und Psychoanalytiker Harald Schultz-Hencke (1892-1953) hatte im ersten Jahr aushilfsweise den naturwissenschaftlichen Unterricht übernommen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Max Bondys einziges pädagogisches Buch, das aus seinen Vorträgen auf dem Sinntalhof entstanden war, dann 1922 gerade im Verlag Eugen Diederichs erschienen war.17 15 Jürgen: Jürgen Diederichs, der 1919 mit ihr zusammen Schüler der FSG Wickersdorf war. 16 Ulrich Debler : Die jüdische Gemeinde von Bad Brückenau, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter, 2004, 66. Jg., S. 130 ff. 17 Max Bondy : Das neue Weltbild der Erziehung, Jena 1922. Das Buch hatte er der Deutschen Akademischen Freischar gewidmet.

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Schul- und Werkgemeinschaft Sinntalhof. Rechts hinten Ernst Putz, 3. von rechts Max Bondy, 4. von rechts Martha Philips, 5. von rechts Gertrud Bondy. Quelle: Archiv Schule Marienau.

Die wohl bekannteste Lehrkraft der Sinntalschule war die ehemalige Wickersdorfer Lehrerin Hedwig [Hedda] Korsch18, die von Mai 1922 bis Anfang März 1923 hier Englisch und Französisch unterrichtete. Sie wurde durch die Wickersdorfer Lehrerin Gertrud Kraker (Jg. 1888) ersetzt. Deren Aufenthalt sollte jedoch nur von kurzer Dauer sein, denn bereits am 04. August 1923 teilte Ernst Putz der Elternschaft mit, dass die Schule wegen erheblicher interner Streitigkeiten geschlossen werden müsse. Ausschlaggebend dafür waren die in der damaligen Landerziehungsheimbewegung üblichen Kompetenzstreitigkeiten über die Führungsrolle im jeweiligen Internat. »Die Differenzen, die zwischen meinem bisherigen Mitleiter Herrn Dr. Bondy und mir bestehen und schon seit einiger Zeit zu einem Prozess zwischen uns geführt haben, die wir aber mit Rücksicht auf die Schule bisher ganz intern behandelt haben, haben sich neuerdings so verschärft, daß einer Weiterführung der Schule zur Zeit pädagogische 18 Hedwig [Hedda] Gagliardi-Korsch (1890 – 1982), 1908 Abitur am Mädchen-Realgymnasium in Charlottenburg, Studium in Berlin und Jena. 1914 Promotion in Berlin. 1919 Mitglied der USPD. Hedda Korsch unterrichtete als Deutsch- und Englischlehrerin von 1916 bis 1921 – mit einer Unterbrechung von Oktober 1919 bis Oktober 1920 ¢ in Wickersdorf und leitete hier auch eine Kameradschaft. Später war sie als Lehrerin an der Berliner Karl-Marx-Schule tätig. Sie war seit August 1913 die Ehefrau des kommunistischen Juraprofessors Karl Korsch (1886 – 1961), der 1923 eine Professur für Zivil-, Prozess- und Arbeitsrecht an der Universität Jena inne hatte, die ihm ein Jahr später aus politischen Gründen aberkannt wurde. 1923 war er auch Justizminister der SPD-KPD-Koalition in Thüringen. Von 1924 bis 1926 war Karl Korsch als KPD-Vertreter Mitglied des Reichstages. Nach seinem Parteiausschluss im Mai 1926 gehörte er bis 1928 als Vertreter der Gruppe »Linker Kommunisten« dem Reichstag an. Hedda und Karl Korsch emigrierten im Herbst 1933 zunächst nach Dänemark, dann nach Großbritannien und 1936 in die USA.

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Bedenken entgegenstehen. Herr Bondy hat mir in einem Schreiben vom 17. 7. 1923 erklärt, daß er nicht mehr auch nur für kurze Zeit mit mir gemeinsam die Schule weiterführen wolle. Seiner Zumutung, die Schulleitung bis auf weiteres ihm allein zu überlassen, nachzugeben, besteht für mich nicht die geringste Veranlassung, zumal da nach den zwischen uns gepflogenen Vertragsverhandlungen als ›grundsätzlicher Leiter‹ der Schule von Anfang an stets nur ich, dagegen Dr. Bondy nur als gleichberechtigter Mitleiter in Frage kommen sollte. Andererseits sehe ich nach dem Stand des zwischen uns schwebenden Prozesses zur Zeit keine Möglichkeit, die Schule ohne Gefährdung der Schüler gegen den Willen Dr. Bondys allein weiterzuführen, da ich hierbei fortwährend störende Eingriffe Dr. Bondys zu besorgen haben würde, durch die die Schüler in Mitleidenschaft gezogen werden würden, was weder ich noch unser Unterrichtsleiter Herr Stahl mit Rücksicht auf die uns anvertrauten Kinder verantworten können. Das Ministerium ist in diesem Sinne benachrichtigt. […] Ich würde Ihnen empfehlen, mit einer der unten angegebenen Schulen zwecks Aufnahme ihres Kindes ab Michaelis sich in Verbindung zu setzen. Wir haben mit diesen unserer Art nach verwandten Schulen schon bisher im Schüleraustausch gestanden.«19

Zu den empfohlenen Schulen zählte an erster Stelle die FSG Wickersdorf, dann die Lietz‹ schen Landerziehungsheime, die Odenwaldschule, Bernhard Uffrechts Freie Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen, das Landschulheim am Solling und die kleine, noch heute relativ unbekannte, Bergschule Hochwaldhausen im hessischen Vogelsberg.20 Mit diesem Schreiben endete die laienpädagogische und jugendbewegt geprägte schulische Tätigkeit von Ernst Putz. Er und Bondy trennten sich im Streit. Deshalb ist wenig realistisch, was Martha Philips, seit den Jahren auf dem Sinntalhof enge Mitarbeiterin Bondys, dreißig Jahre später zu Papier gebracht hatte. Danach hätten die Bondys den Hof verlassen, weil das Gebäude zu klein und der Ort zu abgelegen gewesen sei.21 Ernst Putz erwähnte sie namentlich nicht, er blieb in ihrer Erinnerung nur ein früherer Schüler Martin Luserkes. Gertrud und Max Bondy sowie Martha Philips zogen im August 1923 mit etwa 20 Schülern in ein neues Gebäude nach Gandersheim (Harz) und begründeten dort die »Schulgemeinde Gandersheim«. 1929 siedelte das Internat dauerhaft nach Marienau in der Nähe von Lüneburg um, wo die Schule noch heute besteht. Nach der Trennung von Bondy wandte sich Putz einem neuen Metier zu, nämlich der sozialen Notlage der Kleinbauern in der Rhön und dem Kommunismus, während er weiterhin den Pensionsbetrieb auf dem Sinntalhof betrieb.

19 Leonhard Rugel: Zur Geschichte des Franz-Miltenberger-Gymnasiums, in: Jahresbericht des Franz-Miltenberger-Gymnasiums 1973/74, S. 49. 20 Peter Dudek: »Wir wollen Krieger sein im Heere des Lichts«. Reformpädagogische Landerziehungsheime im hessischen Hochwaldhausen 1912 – 1927, Bad Heilbrunn 2013. 21 Martha Philips: Max Bondy. Sein Leben und Werk, in: Marienauer Chronik, 1953, Heft 6, S. 5.

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Auf diesen abrupten Sinneswandel ging er in seinen Zuchthauserinnerungen von 1933 näher ein. »Als die Obstbäume im Mai blühten in diesem Jahre [1923; P.D.], habe ich mit Hedda Korsch zum ersten Mal über den wissenschaftlichen Sozialismus gesprochen. Da sah ich, daß meine Schul- u. Werkgemeinschaft nur Stückwerk und Insel der Seligen war. Daß man nicht ohne Kampf eine neue Welt schaffen könne. ¢ Daß ich, um wirklich in Reih u. Glied zu marschieren, auf vieles verzichten müsse, was mir lieb und teuer war. Ich danke Hedda, daß sie mir diesen meinen Weg hat finden helfen, wenn er auch schwer war und das Ziel nicht erreicht wurde«.22

Nach den Wahlen vom Dezember 1924 zog der damals noch parteilose 28-jährige Putz für die KPD in den Reichstag ein, dem er bis 1933 nun als KPD-Mitglied angehörte. Neben Edwin Hoernle galt er als der kompetenteste Agrarexperte der Partei; er war seit Ende 1924 Mitglied im »Internationalen Bauernrat«, nahm an zahlreichen nationalen und internationalen Bauernkongressen teil. 1925, 1927 und 1932 besuchte Putz als Mitglied verschiedener Bauerndelegationen auch die Sowjetunion. Dieser Teil seiner Biographie soll hier nicht näher behandelt werden, da er zum Thema wenig beiträgt.23 Als Ernst Putz am 19. Juli 1933 von der Gestapo aufgegriffen, verhaftet und in das Berliner Zuchthaus Moabit gebracht wurde, war er zahlreichen Verhören und auch Folterungen ausgesetzt. In diesen wenigen Monaten bis zu seinem Selbstmord am 12. September 1933 pflegte er einen intensiven Briefwechsel mit seinem Vater und seinen Schwestern. Gleichzeitig begann er seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben, die ebenfalls an seinen Vater adressiert waren, den er an verschiedenen Stellen explizit angesprochen hatte. Ein Teil dieses Textes befasste sich auch mit seiner Zeit an der FSG Wickersdorf. An verschiedenen Stellen dieser Erinnerungen kündigte er ihnen auch seinen geplanten Freitod an, weil er Angst hatte, in den Verhören andere Menschen zu belasten bzw. zu verraten. »Das ist meine Tragik: ich, der ich wirklich versucht habe, mein ganzes Leben für Andere einzusetzen, gehe zugrunde im Kummer um die Tatsache, daß ich Anderen und guten Freunden, die mir nahestanden möglicherweise Schaden zugefügt habe. Jetzt scheint es mir klar, daß es für alle Teile das Beste ist, wenn ich gehe. Ich kann jetzt niemand mehr helfen, ich kann nur noch durch Selbstaufopferung, wie mir scheint, einiges wenige wieder gut machen, wodurch ich andere Menschen schone. […] Meine 22 Zuchthaustagebuch von Ernst Putz, in: Bundesarchiv Berlin – SAPMO NY 4156, Nachlass Ernst Putz, ohne Seitenangaben. 23 Alois Hönig: Ernst Putz, ein kommunistischer Bauernführer, Rostock 1969 [Phil. Diss. maschinenschriftlich]. – Ders.: Der Bauer vom Sinnthalhof. Ernst Putz, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1967, 9. Jg., S. 713-718. – Inge Hildebrandt, Alois Hönig: Putz, Ernst, in: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Biographisches Lexikon, Berlin 1970, S. 370 – 371.

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Kampfgenossen werden, in Unkenntnis der Zusammenhänge, meinen Freitod missbilligen. Vielleicht werdet Ihr den Einen oder Anderen in späterer Zeit kennen lernen, soweit nicht auch sie der große Krieg verschlingt ¢ viele werden noch fallen.«24

Diese Passage ist insofern von Bedeutung, weil in der einschlägigen Literatur bisher in der Regel eine Mord-These vertreten wurde. Einzig Ulrich Debler schrieb 2004 zutreffend, Putz beging Selbstmord, »zu dem er von den Nazis gedrängt wurde, sonst Sippenhaft«.25 Sein Hinweis auf eine damals angedrohte Sippenhaft ist glaubhaft, und wird auch durch einen Tagebucheintrag gestützt, den Charlotte Putz am 02. Oktober 1958 gemacht hatte. Sie schrieb damals: »Es war alles schwer nach Ernsts Tod, der so einen tiefen Schatten warf und doch hat er mit seinem Tod uns den Sinnthalhof erhalten und dem Vater auf seine alten letzten Jahre vieles erspart. Es war sein Opfer und seine Sühne für die Schuld. Ich könnte mir Ernst auch nicht als Bonzen in der Ostzone vorstellen. Er war mit seinem tragischen Leben zum Märtyrer geboren. Wollte Gott nicht, daß er Priester wurde, so mag er ihn doch in Gnaden annehmen.«26

Laut einer nachträglich eingefügten Bemerkung im Schülerbuch der FSG Wickersdorf wurde Putz dagegen »in Moabit erschlagen«. Das war bisher die gängige Lesart nicht nur in der DDR-Geschichtsschreibung. Auch die einschlägige Geschichtsschreibung in der alten Bundesrepublik vertrat bislang in verschiedensten Ausschmückungen die These, Putz sei von der Gestapo ermordet worden. Das setzte sich auch in den Erinnerungen von Zeitzeugen fest. Der Arzt und Psychoanalytiker Ottokar Graf zu Sayn-Wittgenstein (1911 – 1995) etwa, ein ehemaliger Schüler der »Schul- und Werkgemeinschaft Sinntalhof«, der später als Medizinstudent Putz öfters in Berlin traf, schrieb in seinen Erinnerungen über die dortige Schulzeit zu dessen Tod: »Ich sehe Ernst Putz in Berlin. Er hatte gerade Parteigenossen nach Tempelhof gebracht, von wo sie 1933 nach Moskau emigrierten. Als sie ihn aufforderten mitzukommen, sagte er : ›Nein, ich bleibe hier in Deutschland!‹ Er entschied so ¢ wie ich heute annehme ¢ weil er nicht nur Kommunist, sondern ¢ ambivalent ¢ auch Landwirt in der Rhön war. Ein paar Tage später wurde er von nationalen Sozialisten erschlagen«.27 24 Zuchthaustagebuch von Ernst Putz (Anm. 22). 25 Debler : Gemeinde (Anm. 15), S. 133. 26 Schuld: In den Augen der gläubigen Katholikin war das Bekenntnis ihres Bruders zum Kommunismus und seine Abkehr von der katholischen Kirche seine »Schuld«. Bis zu ihrem Tode trieb sie die Angst um, dass ihr geliebter Bruder deshalb mit der Verdammnis bestraft werde, auch weil die Kirche dem Selbstmörder damals ein christliches Begräbnis verweigert hatte. 27 Ottokar Graf zu Sayn Wittgenstein: Bewunderte und Verdammte prägen das Bild des werdenden Menschen, in: Wolf-Dieter Hasenclever (Hg.): Pädagogik und Psychoanalyse. Marienauer Symposion zum 100. Geburtstag Gertrud Bondys, Frankfurt a. M. 1990, S. 34.

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Seine Schwester Charlotte Putz, die nach eigenen Angaben am 12. September 1933 über den Tod ihres Bruders informiert worden war, bestätigte jedoch dessen Selbstmord. Das Datum vermerkte sie auch mehrfach in ihren Tagebüchern. In ihrem Brief an Romano Guardini von Anfang Oktober 1958, den sie sehr verehrte und aus dessen Büchern sie jahrelang gläubigen Trost suchte, schrieb sie dazu: »Mein durch tiefe Freundschaft verbundener Bruder (er war seit Kindertagen mein bester Freund) nahm sich 1933 im Gefängnis in Moabit das Leben. Es war kurz vor dem Urteil, das unseren alten Vater und uns Schwestern Heimat und Vermögen genommen hätte. Dies war wohl eines der Motive, die zu diesem Entschluß bestimmten. Es galt ihm halt auch, noch mehr Menschen zu schützen durch seinen Tod im Gefängnis. Ich sah ihn (meinen Bruder) nach seinem Tod im Gefängnis. Sein Gesicht war klar und schön, die Augen offen; er war in keiner Weise entstellt, wir ließen ihn einäschern, wie er es gewünscht hatte in seinem Abschiedsbrief, und nahmen die Urne mit auf seinen Hof, der uns als Heimat erhalten blieb.«

Nach dem Tod der Mutter 1918 drängte Ernst Putz darauf, dass auch seine jüngere Schwester Charlotte ihre Schullaufbahn in Wickersdorf fortsetzen sollte, zumal der Vater eine rasche Wiederverheiratung ins Auge gefasst hatte ¢ ein Plan, von dem Charlotte wenig begeistert war. In ihren Erinnerungen hielt sie dazu fest: »Vater war mir entfremdet. Er wollte wieder heiraten und ich hasste die fremde Frau. In keinem Alter lebt man wohl so außerhalb wie in diesen Entwicklungsjahren. Der Kirche war ich durch das Internatsleben entfremdet. Ich weiß nicht ob ich Sonntags noch zum Gottesdienst ging, durch die neue Mutter war ein fremder Geist in unser Haus eingezogen. Dann brachte mich mein Bruder im Herbst nach Wickersdorf. Aber ich konnte mich nicht mehr darüber freuen. Es war anders als er mir erzählt hatte.«

Im Gegensatz zu seiner Schwester empfand Ernst Putz seine Wickersdorfer Zeit jedoch emphatisch wie ein »vorweggelebtes Leben« der künftigen Menschheit. Sie besuchte die FSG Wickersdorf dann eher widerwillig von September 1919 bis Juli 1920. Laut Schülerbuch wurde sie wegen »Disziplinlosigkeit (Hysterie?)« schließlich entlassen. Die ihr Leben lang an Depressionen leidende und an Knochentuberkulose schon in jungen Jahren erkrankte Charlotte erlebte in Wickersdorf nun eine traumatische Zeit ¢ allein der Unterricht sei »ausgezeichnet« gewesen, schrieb sie in ihren bislang unveröffentlichten Lebenserinnerungen. »Dr. Wyneken war Schulleiter. Er wurde mein Religionslehrer und hat mit einem ungemein faszinierenden Geist den Kindheitsglauben, der in A.burg [Aschaffenburg; P.D:] und nach Mutters Tod ins Wanken gekommen war ehrlich zerstört. Er gab Religionsgeschichte und Philosophie. Ich warf alles über Bord. Der Unterricht in der

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Schule war ausgezeichnet. Dr. Lehmann28 in Deutsch und Englisch, Dr. Petit Pierre29 Französisch, Luserke Mathematik. […] Unendlich wert wurde mir in dieser Zeit Musik. Jeden Morgen vor dem Frühstück wurde ein Präludium oder eine Fuge von Bach gespielt. Schubert30 spielte fast täglich um 11h Mozart, Haydn u. u. Oft hörten wir Beethovenquartette. Wie tröstete und half die Musik. Die Landschaft um die Schule war unbeschreiblich schön. Diese erlebte ich und liebte ich mit der gleichen Liebe wie mein Bruder. Die Menschen blieben mir fremd. Ich war scheu und zurückhaltend.«

Ihren Schulverweis führte Charlotte Putz darauf zurück, dass sie inzwischen in eine »Gegnerstimmung« zu Gustav Wyneken gekommen sei. Die Folgen des Verweises waren für sie jedoch gravierend ¢ sie bekam nämlich einen Nervenzusammenbruch. »Da kam der Zusammenbruch und ich wurde in die Nervenklinik nach Jena gebracht. Nie hat mich jemand von Wickersdorf besucht, ich lag allein viele, traurige Monate in fremder Umgebung ohne jede äußere Hilfe. Vater war selbst hilflos. Er hatte seiner Kinder wegen auf die zweite Ehe verzichtet.«

28 Wilhelm Lehmann (1882 – 1968), Schriftsteller und Lehrer, unterrichtete von 1912 bis 1920 an der FSG. Seine Wickersdorfer Erfahrungen und seine Gegnerschaft zu Wyneken hat er in seinem Roman »Der Bilderstürmer« literarisch festgehalten. Wilhelm Lehmann: Der Bilderstürmer (Gesammelte Werke; 2), Stuttgart 1984. Zur Biographie Lehmanns vgl. David Scrase: Wilhelm Lehmann. Biographie, Göttingen 2011. 29 Fernand Petitpierre (1879 – 1972), geb. in Murten [Schweiz]; Besuch des Gymnasiums in Burgdorf bei Bern. Lehrerstudium in Neuchatel, Genf und Bern. 1914 Promotion an der Universität Zürich. Danach kurzzeitig Hauslehrer in Moskau. Lehrer an der Pestalozzischule in Zürich, Dozent für französische Sprache und Literatur in Düsseldorf. Von September 1915 bis Ende März 1922 und von 1926 bis 1931 Lehrer für Französisch an der FSG Wickersdorf. 1929/30 kurzzeitig auch Schulleiter. Nach seinem Weggang aus Wickersdorf war er Lehrer an verschiedenen höheren Schulen in der Schweiz. Unter dem Pseudonym Ren¦ Lermite veröffentlichte er in den dreißiger und vierziger Jahren mehrere homoerotisch eingefärbte Gedichtbände und Novellen. Petitpierre gehörte zu jener Gruppe Wickersdorfer Lehrer, die dort ihre pädophilen Neigungen ausleben konnten und ausgelebt haben. 30 Schubert: Ernst Schubert (Jg. 1879) war von 1907 bis 1936 Lehrer an der FSG Wickersdorf und unterrichtete dort die Fächer Deutsch, Geschichte, Musik und Schultheater. Auf Betreiben des damaligen Schulleiters Paul Döring (1903 – 1998) wurde er 1936 wegen seiner »liberalistischen Gesinnung« entlassen. Seinen Lebensabend verbrachte Schubert mit seiner Frau Gertrud (Jg. 1880), die von 1906 bis 1936 an der FSG vorwiegend als Betreuerin der Mädchen arbeitete, in Hannover. Trotz der politisch motivierten Entlassung blieb Schubert auch weiterhin der Schule in Wickersdorf treu verbunden.

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Anmerkungen zu Ernst Putz’ Erinnerungen an seine Schulzeit in der FSG Wickersdorf Nur der Wickersdorfer Teil seiner Lebenserinnerungen wird anschließend dokumentiert und kommentiert werden. Da Ernst Putz hier in vertrauter Sicht zahlreiche seiner ehemaligen Kameraden und Lehrer namentlich erwähnte lassen sich seine Erinnerungen ohne einen Rückgriff auf das Lehrer- und Schülerbuch der FSG nicht sinnvoll verstehen. Beide Quellen befinden sich seit vielen Jahren im Kreisarchiv Saalfeld-Rudolstadt und wurden im Kontext der Erinnerungsveranstaltungen zum 100jährigen Gründungstag der FSG Wickersdorf in einem zeitlich und finanziell aufwändigen Projekt digitalisiert und sind nun einer breiteren Öffentlichkeit auch im Archiv der deutschen Jugendbewegung für neue Forschungen zugänglich. Allerdings sollte man zugleich vor zu großen Erwartungen warnen. Denn beide Bestände sind quellenkritisch zu behandeln und ihre Informationen durch ergänzende Archivarbeiten abzusichern. Schulverwaltung war nämlich nicht gerade eine Stärke von Gustav Wyneken und seinen Mitstreitern. Offensichtlich legten sie besonders in den Anfangsjahren der FSG keinen gesteigerten Wert auf eine sorgsame Verwaltung. Denn erst 1912, also fast sechs Jahre nach Gründung der FSG, legte Martin Luserke diese Bücher nachträglich an.Im Februar 1912 stellte er dem Schülerbuch folgende Notiz voran: »Nachdem in den ersten Jahren der Schule gar keine und seit 1909 nur unvollständige Listen geführt worden sind, habe ich dies Buch am 10. Februar 1912 angelegt und in ihm ein Verzeichnis sämtlicher Schüler der F.S.G. Wickersdorf mit den noch festzustellenden Angaben vorgetragen, welches bis No 204 geht.« Ähnlich lautete seine Vorbemerkung für das Lehrerbuch: »Dies Buch wurde angelegt am 1. April 1912, die Angaben aus früherer Zeit wurden, soweit Aufzeichnungen vorhanden waren, vorgetragen.« Entsprechend dürftig und unvollständig ist speziell das Lehrerbuch für die ersten Jahre. Unter Luserkes Leitung wurde dann aber vor allem das Schülerbuch mehr oder weniger sorgfältig gepflegt, im Lehrerbuch stößt man jedoch auch noch später auf Lücken. Angesichts der häufig kurzen Verweildauer der Lehrkräfte, mag dies nicht verwundern. Dennoch bilden beide Bücher aus bildungshistorischer Sicht wertvolle Quellen, wenn es um biographisch orientierte Untersuchungen zur Geschichte der Schule oder dort lebender Lehrer und Schüler geht. Ernst Putz hatte seine Erinnerungen für seinen Vater und seine beiden noch lebenden Schwestern Charlotte und Elisabeth geschrieben. Sie waren auch eine Art Rechtfertigung seines politischen Lebensweges. Mehrfach richtete er sich persönlich an den »lieben Vater«, der nie verstanden hatte, warum sein Sohn unbedingt nach Wickersdorf gehen wollte, sein Leben lang so sehr an der Schule

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und an der Landschaft hing. Ebensowenig hatte Sebastian Putz verstanden, warum seine Kinder aus der katholischen Kirche ausgetreten waren und warum sein Sohn ein überzeugter Kommunist geworden war. Angesichts seines geplanten Freitodes versuchte Ernst Putz seinem Vater gegenüber auch darüber Rechenschaft abzulegen. Zwei Faktoren erwähnte er in diesem Zusammenhang, nämlich einmal das soziale Elend und die wirtschaftliche Not der Rhönbauern, zum anderen seine Gespräche mit Hedda Korsch über den wissenschaftlichen Sozialismus im Mai 1923. »Ihr wißt, daß ich aus innerster Überzeugung meinen Weg ging. Diese Überzeugung ist durch nichts bis heute erschüttert. Keiner, der es ehrlich meint, kann gegen sein Gewissen. Ich habe mit Dir, liebster Vater, oft gesprochen, daß nichts mich halten würde, andere Wege zu gehen, sobald ich nicht mehr zutiefst von der Richtigkeit meiner Anschauungen überzeugt wäre. Ich habe mit Menschen aller Richtungen diskutiert und gesprochen und beraten. Ich habe monatelang die Presse des Nationalsozialismus studiert. Aber alles, was ich fand, war nur, daß die Lehre, deren Bücher man heute verbrennt, mir als die Richtige und für die Errettung unseres werktätigen deutschen Volkes einzig Geeignete sei. Nichts kann ich hinwegnehmen, was ich zehn Jahre lang aus innerster Überzeugung gesprochen und geschrieben habe, du weißt, daß man mir immer bestätigte, auch von politischen Gegnern her, daß ich sachlich gewesen bin.«31

Das handschriftliche Original der Quelle existiert vermutlich nicht mehr. Die im Bundesarchiv Berlin in Putz’ Nachlass befindliche Abschrift stammt von seiner Schwester Elisabeth Putz-Valtari (Jg. 1900), die das Tagebuch in einer maschinenschriftlichen Fassung im Dezember 1974 dem damaligen SED-Parteiarchiv zukommen ließ. Dieser Text in der maschinenschriftlichen Fassung aus dem Nachlass von Ernst Putz folgt nun, ergänzt durch meine Anmerkungen, die dem besseren Verständnis der Erinnerungen Ernst Putz’ dienen sollen. Es ist ein Text, den er im Bewusstsein seines geplanten Freitods geschrieben hatte. Er endet nicht zufällig mit seinem Besuch an dem Grab von August Halm und mit den Grüßen an alle noch lebenden und vor allem an die toten Bekannten aus seiner Wickersdorfer Zeit ¢ »ehe ich weiter eile«, ihnen zu folgen.

Quelle: Ernst Putz: Wickersdorf »In den Ferien nach der 7. Klasse lernte ich Waldi Hasama Ohli und seine Schwester Hertha kennen. Beide waren im Hotel Gäste mit der Großmutter und Tante.32 Waldi und Hertha waren Wickersdorfer Schüler.33 (Waldi ist seit Jahren 31 Zuchthaustagebuch von Ernst Putz (Anm. 22). 32 Hotel: Ernst Putz’ Eltern betrieben seit Mai 1911 auf ihrem neuen Sinntalhof in der Nähe von Bad Brückenau eine große Pension für Kur- und Sommergäste. Durch sie und ihre kleine

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tot, er nahm sich, ich glaube aus Schwermut der Blutmischung seiner deutschjapanischen Eltern, das Leben als Student der Rechte). Von diesen Beiden hörte ich zuerst von der Schule. Waldi erzählte von äußeren Dingen, Hertha von der inneren Freiheit, von Musik, Morgensprachen und Menschen. Eine große Sehnsucht kam über mich. Die Jahresberichte der Schule ¢ sie stehen alle in meinem Bücherschrank rechts vom Schreibtisch ¢ las ich fiebernd. Heimlich bereitete ich eine Wanderung zum Stiftungsfest 1913 vor. Sofie34 sollte mir einen Sonntagsanzug nachschicken. Sie verplauderte sich bei Tisch ¢ Mutter wollte nichts wissen von dieser Schule ohne Konfession ¢ fürchterlich teuer ¢ und wenn dort alles so einfach sei ¢ wozu brauchte ich da einen Sonntagsanzug? Schließlich wanderte ich los. Auf dem Eierhauck35 buk ich auf dem Spirituskocher ein paar Eier, im Brendtal unter Erlen kochte ich Kakao, Neustadt an der Saale: Station bei der Familie Krug. Der ältere Krug war mein Chemiepartner vom ›Physikalischen Kabinett‹ der Maxl war mir lieb, weil er ein hübscher, lustiger Bursche war.36 Als Flieger ist er später tödlich abgestürzt, nachdem er vorher an der Front schwer verwundet und lange leidend war. Die Eltern Krug, beide liebe Menschen, starben früh ¢ von Sohn und Tochter hörte ich nichts mehr. ¢ Wartburg ¢ Drachenschlucht ¢ Inselberg ¢ Friedrichsroda! Von hier nach Saalfeld. Auf dem Weg nach Sommerstein kam mir Waldi entgegen. Am Abend kam ich ziemlich müde mit ihm, Fritz Fuhrmann37 und anderen in Wi-

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Landwirtschaft konnten sie ihren Lebensstandard sichern, denn allein von seiner Bildhauerei hätte Sebastian Putz die siebenköpfige Familie nicht ernähren können. Ernst Putz begegnete den beiden Wickersdorfer Schülern also im Sommer 1911 auf dem elterlichen Hof. Waldi: Waldemar Hazama Ohly (Jg. 1900), Sohn eines deutschen Kaufmanns, der in Asien seinen Geschäften nachging, und einer Japanerin, besuchte von April 1910 bis Oktober 1916 die FSG. Als Vorsitzender des Schülerausschusses trat er im Kontext der Feierlichkeiten zum zehnjährigen Stiftungsfest für eine Würdigung Gustav Wynekens als Gründer der Schule ein. Zusammen mit einem weiteren Schüler, der ihn dabei unterstützte, wurde er daraufhin der Schule verwiesen. Vgl. Peter Dudek: »Versuchsacker für eine neue Jugend«. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906-1945, Bad Heilbrunn 2009, S. 257 ff. Hertha: Herta Fumi Ohly (Jg. 1898), die ältere Schwester von Waldemar, war von April 1910 bis Ende März 1912 Schülerin der FSG. Sofie: Sophie Putz (1894 – 1923) war die ältere Schwester von Ernst Putz. Einen Tag vor ihrer Einweisung in eine psychiatrische Klinik nach Frankfurt a. M. beging sie 1918 einen Selbstmordversuch. Eierhauck: Ein Berg an der bayerisch-hessischen Grenze. Maxl: Max Krug (1897 – 1918), geb. in Münnerstadt, war ein Mitschüler von Ernst Putz im Realgymnasium Würzburg. Während des Ersten Weltkriegs war Krug Leutnant in der Fliegerersatzabteilung 3 Darmstadt-Griesheim, die im Februar 1915 nach Gotha verlegt wurde. Dort kam er am 06. April 1918 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Fritz Fuhrmann (Jg. 1898) stammte aus dem ostpreußischen Heydekrug und besuchte die FSG Wickersdorf von Mitte Dezember 1911 bis Ende September 1913. Putz verbrachte also mit ihm nur wenige gemeinsame Tage in Wickersdorf.

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ckersdorf an. Fräulein Franke38 besorgte, ein wenig ärgerlich über den späten Gast, noch eine Matratze beim Lehrer Knopf39. Oben im Schlafsaal des Forsthauses, der eben ausgebaut wurde, schlief ich zwischen den Tertianern. In der Ecke lag Hafner und Fix.40 Die Tage des Stiftungsfestes rauschten vorüber. Bunte Fahnen, Guirlanden, Chorgesang, Sport. Lauter aufrechte, frohe Menschen. Noch sehe ich den Tschang und die Hanna, sehe den Roland und die Sonja und höre geradezu noch Fräulein Doktor, wie sie dem Lu mit strahlenden Augen am Sportplatz zurief: ›Ja, Lu, die Bären!‹ Dem Zauber dieser Tage erlag ich ganz.41 Ich sah wohl, daß auch da nicht alles echt war. Ein neuer russischer Schüler nahm andere mit zum Rauchen und Saufen nach Hoheneiche. Sie mußten später die Schule verlassen. Aber im Ganzen war es, was mein Herz ersehnte. Ich sprach mit Lu ¢ es gab später noch einen Briefwechsel ¢ ich müsse nochmals des anderen Lehrgangs wegen, in Obersekunda und verlöre dadurch ein halbes Jahr. Also solle ich’s mir überlegen. Was war da schon zu überlegen? Das Telegramm kam, daß ich eine völlige Freistelle bekommen könne. Vater und Mutter waren dagegen, vor allen Dingen aus religiöser Einstellung heraus. Auf der Bank oben am Waldrand, unter der Hainbuche, überwand ich den Widerstand. Ich durfte gehen. Schmerzloser Abschied von Würzburg. Fahrt über Sonneberg, Anmarsch von Süden her,

38 Fräulein Franke: Marie Franke war von 1909 bis 1925 Wirtschaftsleiterin in Wickersdorf. Sie folgte dann Martin Luserke an die »Schule am Meer« auf der Nordseeinsel Juist. 39 Lehrer Knopf: Christian Knopf (Jg. 1864) war Lehrer an der Volksschule Wickersdorf und Vater des Wickersdorfer Lokalhistorikers Alfred Knopf (Jg. 1890). Vgl. sein Buch: Alfred Knopf: Wickersdorf einst und jetzt, Jena 1938. 40 Hafner : Fritz Hafner (1877 – 1964), Maler und Kunsterzieher, besuchte von 1897 bis 1905 die Stuttgarter Kunstakademie; 1905 bis 1925 Kunstlehrer an der FSG Wickersdorf; 1925 Mitbegründer der »Schule am Meer«. Nach Schließung der Schule 1934 arbeitete Hafner dort als freier Künstler. 1934 gründete er ein kleines Heimatmuseum auf Juist, das er bis 1953 leitete. Mit Gustav Wyneken stand Hafner auch nach 1945 noch in Kontakt und besuchte ihn mehrfach in Göttingen. – Fix: Unbekannt, vermutlich der Kosename eines Wickersdorfer Schülers. 41 Tschang: Der chinesische Schüler Tschangehun Inan (Jg. 1897), Sohn eines Landwirtes, der die FSG Wickersdorf von April 1913 bis Ende März 1914 besuchte. – Hanna: Hanna Keitel (1896 – 1918) war von 1910 bis 1916 Schülerin der FSG; 1917 Abitur am Realgymnasium in Sonneberg. Sie kam 1918 bei einem Unfall ums Leben. – Roland: Roland Friend (Jg.1897), englischer Schüler, der die FSG von April 1913 bis Juli 1914 besuchte. Zusammen mit seinem Bruder William wurde er wegen des bevorstehenden Krieges von seinen Eltern abgemeldet. – Sonja: Sonja David (Jg. 1897), Tochter des SPD-Reichstagsabgeordneten Eduard David, besuchte die FSG von 1908 bis 1916 und bestand anschließend extern ihr Abitur. – Fräulein Doktor: Dr. Hedwig [Betty] Freudwiler (1875 – 1918), aus der Schweiz stammende Lehrerin, die von 1907 bis zu ihrer Erkrankung im Dezember 1917 an der FSG unterrichtete. Sie starb im April 1918 in Zürich. – Lu: Martin Luserke (1880 – 1968), von 1910 bis 1925 mit Unterbrechungen Direktor der FSG. Er führte zur damaligen Zeit die Kameradschaft der »Bären« an, zu der auch Ernst Putz gehörte.

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Reichmannsdorfer Chaussee ¢ Stern ¢ Schulhof: Ro Frend42 tanzte im Badelaken über den Hof, als er mich kommen sah. Ich war da, in meiner zweiten Heimat. Lieber Vater, nie hast du verstanden, warum ich so an Wickersdorf hing. Ich kann dir’s sicher auch heute nicht klarmachen. Aber ich weiß, daß diese 16 Monate dort mir wie ein erfülltes Leben vorkamen. So wird die Menschheit später leben ¢ verändert äußere Formen freilich und eine klarere Weltanschauung auf den Ideen fußend, denen ich jetzt die letzten 10 Jahre diente. Aber wieviel war doch schon erreicht auf dieser Insel! Ich müßte einen Roman dieser 16 Monate schreiben und könnte doch nicht verständlich machen, wie sehr ich für diese Zeit dem Schicksal dankbar bin. Meinen Wickersdorfer Freunden wird dies bekannt sein. Vielleicht nicht ganz in dem Umfange, wie ich es empfinde. Alles war unbeschreiblich. Die Natur vor allem. Gehe doch einmal zu den verschiedensten Jahreszeiten die stillen Wege, das große und das Panorama, zum Ellen Key-Platz, über den Horizont, zum Feldherrnhügel und zum Meurablick. Wenn der Wind braust im Winter, alles tief im Schnee liegt, die Tannen im Forst krachen und knarren und die Schiefern an den Wänden klappern. Oder in einer sanften Sommernacht, ein voller Mond über den Bergen, die Täler mit seinem Licht und Schatten erfüllt, das Bächlein im Tal plätschernd, leise der Wind die Tannen wiegend. Im heißen Sommer durch die Eichenschonung, wenn die Sonne prall darauf scheint, zum Meurablick, wo heute August Halms Grabhügel ist. Wie stark gerade in diesen Jahren die Mutter Natur mich in ihre Arme nahm, ich kann’s nicht sagen. Meine zweite, nie verlorene Heimat, mein Boden, meine Bäume, die hohen Linden gegenüber dem Herrenhaus, die Apfelbaumwiese, der See im Tal, der Geruch von Boden, Gras, Tanne, Stein ¢ ach, Ihr Wickersdorfer, Ihr werdet wissen, wie mein Herz voll ist aller dieser Herrlichkeiten! Die Menschen, Lu, mein Kameradschaftsführer, Aeschli43, Fräulein Doktor, Wilhelm Lehmann, Dr. Krebs44, Hafner, Fräulein Franke nannte ich schon. Ich kann Euch dalles (sic!) [das alles; P.D.] nicht lebendig machen. Ich kann Euch nicht sagen, was die Musik, das Bühnenspiel, das Chorsingen für mich geworden ist. Es gibt einige Romane um die Schule. Um sie zu verstehen, muß man aber vielleicht doch selbst in den Bergen gewesen sein. 42 Ro Frend: Gemeint ist der Schüler Roland Friend. 43 Aeschli: Rudolf Aeschlimann (1884 – 1961) mit Unterbrechungen von 1906 bis 1925 Lehrer an der FSG sowie von 1917 bis 1924 Geschäftsführer. Seit 1918 war er mit der Wickersdorfer Lehrerin Helene Pahl (1893 – 1987) verheiratet. Sie unterrichtete dort seit 1915. Beide folgten 1925 Martin Luserke an die »Schule am Meer«. 44 Dr. Krebs: Dr. Siegfried Krebs (1882 – 1914), Kunstlehrer, Philologe und Romancier, der in Wickersdorf von 1910 bis 1914 unterrichtete. Er war der erste Wickersdorfer Kriegsfreiwillige und auch der erste Gefallene aus den Reihen der FSG.

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Die jungen Menschen, der Ausschuß; die Ausschußabende; die Morgen- und Abendsprachen; Geist wirklicher Kameradschaftlichkeit und unerhörten Gemeinschaftssinnes. Frau Lu45 ¢ Fräulein Cordes46 ¢ Namen kommen mir in den Sinn, die ich oben vergaß. Es hat gar keinen Sinn hier weiter zu fahren. Nie werde ich’s irgendeinem klarmachen können, was diese Zeit für mich war : vorweggelebtes Leben einer zukünftigen Menschheit. Meinen Wickersdorfer Freunden allen, den alten und den jungen der damaligen Zeit, die Ihr erreichen könnt, heißen innigen Dank und Grüße und gute Wünsche für ihr Leben und ihre Arbeit. Den Toten aus Wickersdorf, die ich liebte und die mir naheblieben, meinen Gruß! Dr. Krebs zuerst. Am Tisch mit der schwarzen Seidendecke stand der Alpenveilchenstock und brannten die Kerzen. Dr. Lehmann las ›Der Tod des Arztes‹. Und Krebs, der es geschrieben hatte, war draußen in Frankreich gefallen und sein Leib ist heute längst vermodert. Bei meinen Briefen ist einer von ihm, geschrieben im Krebshäuschen in einer Gewitternacht. Wilhelm Jerasch47, der ein weicher Junge schien und ein harter Soldat wurde. Weißt Du noch, Will, wie wir in der Tannenschonung am Fußballplatz mit Adolf48, Fritz und Karl Abel49 an unserem Zelt bauten, dort hausten in den Ostertagen 1914 und unseren Spaziergang machten am großen Panoramaweg im Morgendämmern? Wie wir des Abends an der Steinhalde die Feuersteine ins Tal warfen, daß es blitzte? Wessen Stein leuchtete, der kam wieder. Wie du mich in Hamburg besuchtest und wie wir uns später einmal in Frankfurt am Main sahen, ich dich in der Kaserne 45 Frau Lu: Annemarie Gerwien-Luserke (1878 – 1926) war von 1906 bis 1925 Hausdame in der FSG. 1908 heiratete sie Martin Luserke. Der Ehe entstammten drei Söhne und eine Tochter. 46 Fräulein Cordes: Clara Cordes (Jg. 1907) besuchte von 1915 bis 1923 die Deutsche Schule in Peking. 1923 – 1925 Schülerin der FSG Wickersdorf, 1925 – 1926 »Schule am Meer«. Von 1927 bis 1929 Ausbildung zur Gymnastiklehrerin in Hamburg. Von Ostern 1931 bis Ostern 1932 nun als Gymnastiklehrerin wieder in Wickersdorf tätig. Vermutlich hatte Putz sie bei einem seiner späteren Besuche dort kennengelernt. 47 Jerasch: Wilhelm Jerosch (1898 – 1917), wie seine Brüder in Lissabon geboren, war der Sohn eines dort ansässigen Hamburger Kaufmanns. Er besuchte die FSG von 1912 bis 1915, ging dann an eine »Presse« nach Hamburg, um dort sein Abitur abzulegen. Im Oktober 1917 ist er in Flandern gefallen. Seine Brüder Carlo (Jg. 1890), Paul (Jg. 1893), Adolf (Jg. 1900) und Heinz (Jg. 1908) besuchten ebenfalls die FSG. Carlo, der später als Arzt in Hamburg arbeitete, war der erste Schüler, der im Schülerbuch der FSG verzeichnet wurde. Er kam im September 1906 von Bieberstein nach Wickersdorf und verließ die FSG im April 1909, um Medizin zu studieren. 48 Adolf: Adolf Jerosch, der die FSG von August 1913 bis Ende März 1917 besuchte. Danach bereitete er sich an einer »Presse« auf das Abitur vor. 49 Fritz und Karl Abel: Fritz Abel (1899 – 1919) wurde wie seine beiden Brüder als Sohn des in Kairo arbeitenden Ingenieurs Karl Abel im ägyptischen Tantah geboren. Er besuchte die FSG von April 1908 bis Juli 1914. Sein Bruder Karl Abel (Jg. 1900) war im gleichen Zeitraum Schüler der FSG. Der dritte Bruder, Ludwig Abel (1897 – 1918), war von April 1908 bis Ende September 1913 in Wickersdorf. Er verließ also die Schule, als Ernst Putz dort gerade angekommen war.

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abholte und du seufztest: ›oh, die Preussen‹! Und dann bist du doch ein solcher Draufgänger geworden und wir haben uns nicht mehr getroffen in Flandern1917, weil ich ein paar Wochen zuvor nach Deutschland mußte ¢ und dann kam die Nachricht, daß du tot seist. In den zerschossenen Feldern von Gheluwell, an der letzten Spur der Straße nach Zandnorde, habe ich dein Grab gesucht, guter Junge. Aber es war nicht mehr zu finden, auch du ruhst ¢ wer weiß wo? Frau Lu grüße ich. Sie war immer gut zu mir. Ihr danke ich vor allen Dingen auch die Bekanntschaft mit meiner Mutter Gerwien50 und Tante Lies.51 Davon aber noch später. Zuletzt, als ich sie [Frau Lu; P.D.] sah, war sie schon sehr müde des Lebens und ohne Kraft und Hoffnung. Das war schon im Krankenhaus, in dem sie auch starb. An Halms Grab saß ich in den letzten Stunden meines Aufenthaltes in Wickersdorf.52 Es war ein heißer Septembertag und herbstklar lag das Land unter mir. Wer wollte den Musiker um dieses Fleckchen Erde nicht beneiden. Noch einmal, ehe ich weiter eile, grüße ich Euch, ihr Berge um Wickersdorf, Wald, Duft der Tannen, Schatten und Licht der Täler, Ihr Menschen, die mit dieser Gegend so eng verbunden seid ¢ dich du schönes Leben, das ich dort gelebt habe!«

Schlussbemerkungen Wie eingangs angedeutet zählen Putz’ Erinnerungen an seine Zeit in Wickersdorf zu der Gattung der emphatischen Texte, die seiner Schwester dagegen zu den eher traumatischen Erfahrungen, die Schüler dort auch machen mussten. 50 Mutter Gerwien: Julie Elisabeth Gerwien, geb. Riese, die Mutter von Annemarie GerwienLuserke. Sie unterstützte ihre Tochter zeitweise als Hausdame in Wickersdorf. Die Formulierung »meine Mutter« deutet darauf hin, dass Ernst Putz zu ihr ein besonderes Vertrauensverhältnis hatte. 51 Tante Lies: Elisabeth Wyneken (1876 – 1959) war eine Schwester Gustav Wynekens, die als Lehrerin von 1910 bis 1919 in der FSG unterrichtete. Danach schloss sie sich Bernhard Uffrecht und seiner neugegründeten »Freien Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen« an. Von 1905 bis 1907 war Elisabeth Wyneken Erzieherin im Hause der kunstsinnigen Dresdener Industriellenfamilie Erwin und Ida Bienert, deren Töchter später die FSG Wickersdorf besuchten. Vgl. Dudek: Versuchsacker (Anm. 33), S. 200 ff. 52 Halm: August Halm (1869 – 1929) war Musiklehrer und Komponist und prägte das reichhaltige Musikleben in der FSG, speziell die Musik Bachs und Anton Bruckners. Er zählte zu den acht Lehrkräften, die 1906 die Sezession mit Lietz vollzogen. Halm unterrichtete von 1906 bis 1910 und von 1920 bis 1929 in Wickersdorf. Nach dem Ausscheiden Luserkes 1925 fungierte er mit Unterbrechungen, wo ihn Peter Suhrkamp vertrat, bis 1927 als Schulleiter. Halm stand Wyneken nicht nur pädagogisch sehr nahe, er war auch seit 1913 mit dessen Schwester Hilda Wyneken (1887 – 1965) verheiratet, die über lange Jahre für die Küche der FSG verantwortlich war. Zeitgenössisch gewürdigt wurde Halms Wirken in Wickersdorf bei Hilmar Höckner : Die Musik in der deutschen Jugendbewegung, Wolfenbüttel 1927, S. 63 ff.

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Insofern passen beide Erinnerungen ins Bild, das bisher aus Schülersicht von Wynekens »geometrischem Ort« der Jugendkultur vorliegt. Andererseits muss man auch den historischen Kontext berücksichtigen, in dem Ernst Putz seine Wickersdorfer Erinnerungen verfasst hatte. Als kommunistischer Reichstagsabgeordneter saß er im Sommer 1933 im Gefängnis Moabit, war ständigen Verhören und wohl auch Folterungen durch die Gestapo ausgesetzt, lebte in ständiger Angst, in dieser Situation Parteigenossen zu verraten und auch seiner Familie schaden zu können. Vor diesem Hintergrund entschied er sich für den Freitod und im Bewusstsein dieser Entscheidung hatte er seine Erinnerungen an seine Wickersdorfer Schulzeit verfasst. Nicht zufällig enden sie mit seinen Grüßen an die Toten, nicht zufällig haben sie einen verklärenden Zug und erinnern an Abschied ¢ ein Dokument der Rückbesinnung und der Rechtfertigung gegenüber seinem Vater und seinen beiden noch lebenden Schwestern, warum ein einst gläubiger Katholik zum kommunistischen Aktivisten wurde. Putz selbst hatte für diesen Werdegang seine Schulzeit in Wickersdorf und seine Begegnung mit Hedda Korsch verantwortlich gemacht ¢ er empfand sie als »vorweggelebtes Leben« einer künftigen kommunistischen Gesellschaft.

Simon Leisterer

Jugendalltag in Dauerausstellungen zur DDR-Geschichte

Der folgende Beitrag fragt nach der musealen Präsentation von Jugendalltag in Dauerausstellungen zur DDR-Geschichte.1 Wird Zeitgeschichte als Streitgeschichte charakterisiert, bietet der Untersuchungsgegenstand aufgrund der besonders hohen Zahl von Zeitzeugen eine ganz besondere Brisanz.2 Anhand dreier Beispiele soll aufgezeigt werden, wie unterschiedliche Akteure der Museumslandschaft alltägliches Jugendleben in der DDR darstellen und wie sie mit ihrer Verantwortung für das »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft« umgehen.3 Vorgestellt werden die Untersuchungsergebnisse zu den Jugendpräsentationen in den Dauerausstellungen des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt, des DDR Museums Pirna und des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Einleitend werden Skizzierungen zum DDR-Alltag als museales Feld und zur Jugend in der DDR vorangestellt.

Zur Musealisierung des DDR-Alltags Nach der Wiedervereinigung vollzog sich im Ostteil Deutschlands ein sozialer und kultureller Wandel, der bei vielen ehemaligen Bürgern der DDR zu einer verstärkten Suche nach Identifikation mit der selbst erlebten Vergangenheit führte.4 Diese Vergangenheitshinwendung führte zu einer »progressiven Mu1 Dieser Aufsatz stellt eine Zusammenfassung der Masterarbeit mit dem Titel »Jugend im Museum. Eine exemplarisch-vergleichende Analyse von Dauerausstellungen zur DDR-Geschichte« dar, die ich im Frühjahr 2014 am Historischen Seminar [Betreuer : Prof. Dr. Alfons Kenkmann] der Universität Leipzig eingereicht habe. 2 Vergleiche hierzu Martin Sabrow u. a. (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003, S. 9-19. 3 Zum Begriff »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft«: Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, in: Hilke Günther-Arndt (Hg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, S. 17. 4 Katrin Hammerstein, Jan Scheunemann: Zwischen Leerstellen und Sammelwut. DDR-Ge-

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sealisierung«5, welche sich am besten in der Vielzahl von bereits ab den 1990erJahren gegründeten Privatmuseen zum DDR-Alltag ablesen lässt: Immerhin mehr als 20 von ihnen bestehen derzeitig – fast ausschließlich auf ostdeutschem Gebiet.6 Andreas Ludwig bezeichnete sie sogar als Orte der »Trauerarbeit«, weil sie vorwiegend jenes Publikum ansprächen, das ein Verlustgefühl im Hinblick auf die erlebte DDR-Zeit mit sich trüge und dort die Brüche in der individuellen Biographie verarbeiten wolle.7 Die Musealisierung des DDR-Alltags in der staatlich geförderten Museumslandschaft ist zunächst stiefmütterlich behandelt, ab der Mitte der 2000er-Jahre dann heftig diskutiert worden. Der Streit in der Fachwelt um den »richtigen« Umgang mit der DDR-Geschichte und die Erweiterung des Themenspektrums um den Alltag manifestierte sich im Jahr 2006, als die ein Jahr zuvor von dem Bundesbeauftragten für Kultur und Medien initiierte und von Martin Sabrow geleitete Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« eine deutliche Unterrepräsentation des Alltags in den staatlich geförderten Gedenkstätten konstatierte.8 Das vorgeschlagene Aufarbeitungsforum wurde zwar nicht realisiert, doch fand die Darstellung des Alltags zwei Jahre später Beachtung in der »Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes«. Danach sollte der Alltagsbereich einbezogen, jedoch stets im Kontext der Diktatur präsentiert werden.9 Als förderungswürdig

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schichte in kommunalen und privaten Museen, in: Museumskunde, 2010, 75. Jg., Heft 2, S. 68-73, hier S. 70. Ebenda. Vgl. DDR-Museumsführer 2011: Von Rügen bis zum Erzgebirge. Der Alltag in der DDR: Wohnen und Leben, Schule und Spiel, Arbeit und Freizeit, hg. vom Verein zur Dokumentation der DDR-Alltagskultur e.V., Berlin 2011; zitiert nach Andreas Ludwig: Musealisierung der Zeitgeschichte. Die DDR im Kontext (veröffentlicht am 05. 10. 2011); URL: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/53234/musealisierung-der-zeitgeschichte?p=all; [17. 06. 2014]. Ludwig: Musealisierung (Anm. 6). – Am Erfolg überaus erfolgreicher Privatinstitutionen wie dem Berliner »DDR-Museum«, das direkt im touristischen Zentrum der Hauptstadt gelegen und mit jährlich über 500 000 Besuchen eines der meistbesuchten Museen der Metropole ist, zeigt sich ein generell gestiegenes Interesse eines breiten, auch touristischen Publikums an der DDR-Geschichte und ihrem Alltag. Zu den Besuchszahlen des »DDR-Museums« siehe: URL: http://www.ddr-museum.de [17. 06. 2014]. »Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ›Aufarbeitung der SED-Diktatur‹«, in: Martin Sabrow (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007, S. 33 f. Siehe: Deutscher Bundestag, Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, Berlin vom 19. 06. 2008; S. 9; URL: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/BKM/ 2008 – 06 – 18-fortschreibung-gedenkstaettenkonzepion-barrierefrei.pdf ?__blob=pu blicationFile [17. 06. 2014].

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wurden ausschließlich diejenigen Ausstellungen angesehen, die das Leben in der »durchherrschten Gesellschaft« zeigten.10 Als Ergebnis der Debatte um die DDR-Alltagsgeschichte und ihrer Aufnahme in die »Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes« erhielt das Thema deutlichere Präsenz in den von öffentlichen Mitteln geförderten Institutionen. Häuser wie das hier untersuchte Zeitgeschichtliche Forum Leipzig bezogen nun den Alltagsaspekt in die Konzeption ihrer Dauerausstellung ein.11 Die hohe Anzahl an sowohl privaten als auch verstärkt öffentlichen Einrichtungen zur Ausstellung der DDR-Alltagsgeschichte, sowie deren hohe Frequentierung lassen auf eine erhebliche Nachfrage zum Themengebiet schließen. Gerade vor dem Hintergrund der Funktion von Museen und Ausstellungen als Akteure und Schaukästen von individuellem Geschichtsbewusstsein und kollektiver Geschichtskultur gilt es, die differenten musealen Offerten mit kritischem Blick zu beobachten.

Jugend in der DDR Der Jugend kam in der DDR von Seiten der Machthaber eine besondere Rolle zu: Sie sollte, getreu der marxistischen-leninistischen Theorie, die Verkörperung des »Neuen Menschen« sein. »Dem Sozialismus […], und nur dem Sozialismus, gehört die Zukunft. Und das ist die Zukunft der Jugend«, erklärte Erich Honecker 1972.12 Doch kam die Jugend dem Anspruch als Erbauerin und Schützerin des Sozialismus nur bedingt nach: »Die Jugend war historisch die erste Altersgruppe, welche die SED für sich vereinnahmen konnte, und sie war zugleich auch die erste, die der Partei aus dem Ruder lief.«13 Lindner macht damit deutlich, dass die Jugend in der DDR differenziert betrachtet werden muss: Die »Aufbaugeneration« sah durchaus Karrierechancen in den ersten Jahren der DDRExistenz. Damit einher ging ein »hohes Maß an Loyalität gegenüber dem Ar10 Zu dem Begriff »durchherrschte Gesellschaft« vgl. Jürgen Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft; in: Hartmut Kaelbe (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553. 11 Zwei Ausstellungen der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entstanden in jüngster Zeit neu und warben mit dem Label »Alltag« in ihrem Titel: »GrenzErfahrung. Alltag im geteilten Deutschland« im Berliner Tränenpalast und die kürzlich eröffnete Dauerausstellung in der Berliner Kulturbrauerei »Alltag in der DDR«. 12 Erich Honecker : Die Jugend der Deutschen Demokratischen Republik und die Aufgaben unserer Zeit, 20. 10. 1972; zitiert nach: Marc-Dietrich Ohse: »Wir haben uns prächtig amüsiert«. Die DDR – Ein Staat der Jugend?, in: Thomas Großbölting (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 75. 13 Bernd Lindner: Das eigentliche Gestaltungsfeld. Kulturelle Prägungen der Jugendgenerationen in der DDR, in: Deutschland-Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 2005, 38. Jg., Heft 1, S. 49-56, hier S. 51.

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beiter- und Bauernstaat«.14 Doch wurde bald deutlich, dass ohne eine Mitgliedschaft in dem staatlichen Jugendverband FDJ und durch offen geäußerte Ablehnung gegenüber der Staatsgewalt keine höhere Berufslaufbahn einzuschlagen und mit Repressalien zu rechnen war. Deshalb wurde die Mitgliedschaft in den staatlichen Massenorganisationen von vielen Jugendlichen und ihren Eltern als zwangsläufige Selbstverständlichkeit angesehen.15 Entgegen den offiziellen Mitgliedszahlen in der FDJ schwand die Bindung der Jugendlichen an die DDR im Laufe der Zeit beachtlich: Hatten zu Beginn der 1980er-Jahre noch 46 Prozent der Lehrlinge und 50 Prozent der Schüler erklärt, sie identifizierten sich mit der DDR, lagen die Werte bei einer weiteren Befragung des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung im Oktober 1989 nur noch bei 15 bzw. 13 Prozent.16 Trotz dieser rapiden Abwendung stiegen die Mitgliedszahlen stetig: Im Jahr 1989 waren immerhin über 2,1 Millionen Jugendliche und somit 76 % der 14 – 25-Jährigen in der FDJ als Mitglied verzeichnet.17 Da die Jugend aus Sicht der Partei für Aufbau und Stabilität des sozialistischen Staates von enormer Bedeutung war, später aber durch ihre Abkehr »einen wesentlichen Anteil am Sturz des SED-Regimes«18 hatte, kommt ihrer musealen Darstellung eine wichtige Rolle für das Verständnis der DDR zu.19

Zur Untersuchung des ausgestellten Jugendalltags Für die Untersuchung des Jugendalltags wurden drei Kategorien gebildet. In der Kategorie »Privatsphäre – Jugend zu Hause« wurden die Dauerausstellungen zunächst auf ihre Vermittlungen von häuslichen Jugendrollen sowie die präsentierten Bedürfnisse und Freizeitbeschäftigungen untersucht. Der zweite Untersuchungsbereich, »Anpassungsdruck – Jugendliche im System der staatlichen Erziehung«, befasst sich mit dem Zwang zur jugendlichen Konformität im 14 Saskia Handro: Alltagsgeschichte. Alltag, Arbeit, Politik und Kultur in SBZ und DDR, Schwalbach 2004, S. 99. 15 Ohse: DDR (Anm. 12), S. 77. 16 Ohse: DDR (Anm. 12), S. 86 f. 17 Christoph Führ, Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band 6, 2. Teilband, München 1998, S. 293. 18 Ulrich Mählert, Gerd-Rüdiger Stephan: Blaue Hemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996, S. 8. 19 Vgl. Alfons Kenkmann, Das Museum als Teil der kommunalen Erinnerungskultur. Politische Bildung, Geschichtsbewusstsein und Museumspädagogik, in: Katrin Hammerstein, Jan Scheunemann (Hg.), Die Musealisierung der DDR. Wege, Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Zeitgeschichte in stadt- und regionalgeschichtlichen Museen, Berlin 2012, S. 228-244, S. 239.

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Bildungs- und staatlich organisierten Freizeitbereich. Schon das Bildungsgesetz von 1965 hatte im ersten Paragraphen die hohe Bedeutung der Erziehung innerhalb des Bildungssystems in ihrer ideologischen Ausrichtung betont: »Das Ziel des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems ist eine hohe Bildung des ganzen Volkes, die Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten […].«20 Die enge Verflechtung der Bildungsinstitutionen mit der FDJ war aus staatlicher Sicht für die Erziehung der Jugendlichen zu »aktiven Erbauern und standhaften Verteidigern des Sozialismus und Kommunismus« von enormer Wichtigkeit.21 Vielfältig war ihr Freizeitangebot im schulischen, wie außerschulischen Kontext. Sie organisierte Tanzabende und Kinobesuche, gründete Jugendklubs und Singegruppen etc. und wirkte somit in den Alltag vieler Jugendlicher hinein. In der dritten Kategorie, »Anderssein – Leben in Jugendsubkulturen«, wird die museale Darstellung jener Jugendlichen untersucht, die sich in informellen Gruppen trafen und den staatlichen wie gesellschaftlichen Normen entzogen.22 Zu ihnen gehörten im Laufe der DDRExistenz z. B. Jugendliche, die in den 1950er-Jahren den Rock’n’Roll oder ab den 1960er-Jahren die Beatmusik liebten. Auch die in den 1970er-Jahren aufkommenden Hippies, Tramper, Kunden oder Blueser sowie die sich im letzten DDRJahrzehnt formierenden HipHopper und Punks zählen dazu. Diese Subkulturen wurden häufig vom Staat als Bedrohung empfunden, weshalb auf sogenannte »Gammler« und »Asoziale« mit Überwachung und Repressalien reagiert wurde.23

20 Bildungsgesetz der DDR aus dem Jahr 1965; URL: http://www.verfassungen.de/de/ddr/ schulgesetz65.htm [11. 01. 2014]. 21 Aus dem FDJ-Zentralorgan »Junge Generation« 1976; zit. nach: Führ : Handbuch (Anm. 17), S. 289. 22 Die museale Präsentation jugendlichen Lebens in der Junge Gemeinde, der Jugendarbeit der Evangelischen Kirche, ist nicht Bestandteil der Untersuchung, da sie keine autonome, jugendsubkulturelle Gruppierung darstellte. 23 Eine Ausnahme im repressiven Handeln des Staates stellte die Gruppe der HipHopper dar, wie Leonard Schmieding feststellt. Von Seiten der Kulturpolitik wurden sie gefördert, von der Staatssicherheit wiederum misstrauisch beobachtet. Siehe Leonard Schmieding: »Das ist unsere Party«. Hiphop in der DDR, Stuttgart u. a. 2014; ders.: Leipziger BreakdanceWorkshop und Universal Hip Hop Family in Dresden, in: ders., Alfons Kenkmann (Hg.): Kothe, Kanu, Kino und Kassette. Jugend zwischen Wilhelm II. und Wiedervereinigung, Leipzig 2012, S. 182 f.

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Der DDR-Jugendalltag im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt In Eisenhüttenstadt befindet sich das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. Seit Ende 2012 ist das Dokumentationszentrum in städtischer Trägerschaft, finanzielle Unterstützung gewähren das Land Brandenburg und der Landkreis Oder-Spree. Die Neugestaltung der Dauerausstellung unter dem Titel »Alltag: DDR« wurde vom Bund und vom Land Brandenburg finanziert. Sie wurde 2012 eröffnet und befindet sich in der zweiten Etage einer ehemaligen Kinderkrippe. Auf einer Fläche von ca. 300 m2 wird in zehn thematisch konzipierten Räumen ein »strukturierte[r] Überblick über die Geschichte und das Alltagsleben in der DDR« gegeben.24 Im Untersuchungsbereich »Privatsphäre – Jugend zu Hause« werden v. a. zwei Themenbereiche präsentiert: Zum einen häusliche Jugendbedürfnisse und zum anderen der oftmals frühe Rollenwechsel der Jugendlichen im Kontext der eigenen Familiengründung, welcher im Abschnitt »Familie« über eine Fotoserie und eine »Familienbiografie in Objekten« vorgenommen wird. Insbesondere die Bedürfnisse und die daraus resultierende Freizeitgestaltung finden in verschiedenen Räumen der Eisenhüttenstädter Exposition Beachtung. Dabei wird v. a. dem Hören von westlicher Musik eine erhebliche Bedeutung beigemessen. Als charakteristisches Mittel dient die Zentrierung auf Objekte des alltäglichen Lebens, wie Rekorder oder selbstgebastelte Kassetten. Durch ihre gleichsam geschickten Anordnungen wie spärlichen Kommentierungen wird der Betrachter auf anspruchsvolle Weise herausgefordert, sich mit den Exponaten eingehend zu beschäftigen. Dabei sind es oftmals Spuren des Gebrauchs und sinnstiftende Ding-Inszenierungen, die Rückschlüsse auf ihre frühere Verwendung geben. Ein Beispiel sei hier vorgestellt, das im Raum »Kommunikation« zu finden ist. In diesem befindet sich eine Vitrine, in der allerhand technische Geräte zum Empfang von Radiosendern oder zum Abspielen und Aufnehmen von Musik ausgestellt sind. Nur wenige Exponate liefern für sich betrachtet zunächst Anhaltspunkte für eine Darstellung von Jugendalltag: Der »KR 450 Steracord« wäre ohne eine Kommentierung in Form weiterer Objekte kein expliziter Zeichenträger jugendlicher Nutzung. Doch befinden sich links neben ihm fünf bespielbare Musikkassetten: Zwei von ihnen sind mit der Frontseite dem Betrachter zugewandt, während von den restlichen nur die Kassettenrücken offenbart werden. Die vorderste, zentral ausgestellte Kassette ist mit einem selbstgebastelten Cover versehen: »DIRE STREAT« ist in ausgeschnittenen, roten und schwarzen Lettern zu lesen. Gemeint ist die britische Rockband »Dire 24 Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR Eisenhüttenstadt (Hg.): Alltag DDR. Begleitheft zur Ausstellung, Eisenhüttenstadt 2012, S. 1.

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Straits«, die seit den ausgehenden 1970er-Jahren große Erfolge feierte. Die liebevolle Covergestaltung lässt darauf schließen, dass Westmusik für Jugendliche einen hohen Wert hatte und zugleich, dass der Besitz einer Originalaufnahme nicht üblich war. Der falsch geschriebene Name lässt darüber hinaus die Vermutung zu, dass westliche Künstler in den DDR-Printmedien wenig berücksichtigt wurden und somit ihre Schreibweisen den Jugendlichen weniger vertraut waren.

Selbstgebastelte Kassettencover. Foto: Simon Leisterer.

Hinter dieser bespielten ORWO-Kassette aus DDR-Produktion ist eine weitere platziert, die mit einem Sticker aus der westlichen Jugendzeitschrift »Popcorn« geschmückt ist. Hier ist das Portrait des Sängers Jordan Knight zu sehen, der mit seiner Band 1988 seinen internationalen Durchbruch feierte, weshalb der Sticker auf ein Jugendidol der finalen DDR-Phase hinweist. Er ist ein weiteres Zeichen für das Hören und Aufnehmen westlicher Musik. Außerdem lassen die Sticker auf das Lesen westlicher Jugendzeitschriften, wie eben der »Popcorn«, schließen – wie diese allerdings in ihre Hände kamen, lässt die Ausstellung offen. Die mit ihrem Rücken präsentierten Kassetten sind unbespielt. Sie können vom Besucher als Zeichen der Reserve für weitere Aufnahmen gedeutet werden und unterstreichen somit den präsentierten, gewichtigen Platz von Westmusik und die aufgebrachte Zeit an der Aufnahmetaste des Rekorders als Teil des Jugendalltags. Dem Alltag in den Bildungsinstitutionen wird durch die Bereitstellung eines ganzen Ausstellungsraumes für den Bereich »Bildung« eine herausragende Rolle eingeräumt. Die Tafel »Bildungswege« zeigt das Schulleben seit der Einführung der Polytechnischen Oberschule 1959; das erste Jahrzehnt der DDR- Alltagsgeschichte im Bildungsbereich bleibt unbeleuchtet. Im Jugendbereich wird vornehmlich der Alltag in der Erweiterten Oberschule, in Leistungszentren, Ausbildung und Studium gezeigt. Dabei erfahren der Anpassungsdruck und die Benachteiligung all derjenigen, die sich dem Staatswillen entgegenstellten,

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immer wieder Beachtung. Immerwährendes Motiv ist die Ideologisierung und Militarisierung des bildungsinstitutionellen Alltags. Sowohl durch die Objektwahl als auch durch kontextualisierende Materialien, wie Audioguide- und Touchscreen-Beiträge, rücken individuelle Lebensepisoden in den Fokus des Betrachters. Vor allem ist es die Kombination von singulärem Objekt und auf dem Audioguide anwählbaren Zeitzeugenberichten, die Erlebnisse des Alltags vermitteln: In einem Brief des Studenten Reinhard K. aus dem Jahr 1966 lassen sich die Ideologisierung des Studiums, sowie die schlechten Bedingungen an der Universität nachlesen und -hören. Die spätere Leistungssportlerin Ines Geipel berichtet von ihrem Schulalltag am Leistungszentrum, in dem sie zu Höchstleistungen getrieben wurde. Währenddessen betrachtet der Besucher die Lobeshymne einer Zeitung auf das Nachwuchstalent. Das Dargebotene wird durch diese Kombination der Materialien mit Leben und mit individuellen Geschichten gefüllt, wodurch es eine Einzigartigkeit zugesprochen bekommt und die Empathie des Besuchers geweckt wird. Ebenso trifft der Besucher hier, wie auch in anderen Bereichen der Ausstellung, immer wieder auf Brechungen in den Objektarrangements. In dieser Hinsicht besonders gelungen ist die Gegenüberstellung von Wunsch und Wirklichkeit an den Schulen in den 1980er-Jahren. So zeigt ein Exzerpt aus der 1981 erschienenen Aufnahmeordnung für die Erweiterte Oberschule (EOS) den Anspruch des Staates auf eine linientreue Jugend: Darin wird gefordert, nur Schülern die Aufnahme zu gewähren, die sich durch gute Leistungen, »sowie politisch-moralische und charakterliche Reife auszeichnen und ihre Verbundenheit mit der Deutschen Demokratischen Republik durch ihre Haltung und gesellschaftliche Aktivität bewiesen haben.« Diesem Wunsch wird ein »Bericht über besondere Vorkommnisse« des Berliner Magistrats aus dem Jahr 1987 gegenübergestellt, der verdeutlicht, dass dieses Ideal des Jugendlichen eben nicht mit der Alltagsrealität zusammen passen wollte. Denn in diesem Schreiben werden die Missetaten von Schülern zusammengetragen, welche sich von »politischem Fehlverhalten« bis hin zur »Verunglimpfung der DDR« erstreckten – unter ihnen befanden sich demnach auch EOS-Schüler. Zum anderen kontrastiert ein »Rapport Allgemeine Vorkommnisse« des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) aus dem Jahr 1988 den staatlichen Willen: Er berichtet von dem bereits damals hohe Wellen schlagenden Vorkommnis an der EOS »Carl von Ossietzky« bei der Unterschriftenaktion des Schülers Kai Feller, die sich gegen die Militärparade im Rahmen der Staatsfeierlichkeiten zum 39. Jahrestag der DDR richtete. Diese Widersprüchlichkeiten aufzeigende Gegenüberstellung des staatlichen Anspruchs mit der Wirklichkeit fordert den Besucher heraus, die zunächst gegenläufigen Informationen in Einklang zu bringen und das stellenweise Ausbrechen von Schülern aus dem Zwang zur Konformität zu erkennen.

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Während der Alltag im Bildungsbereich recht große Beachtung erfährt, werden die staatlich organisierte Freizeit und ihr erzieherischer Aspekt nur marginal thematisiert. Neben wenigen Bildern an der Tafel »Bildung und Erziehung« soll v. a. eine Vitrine im Ausstellungsbereich »Macht« einen Einblick in die Massenorganisationen geben. Eine Darstellung des Alltags erfolgt dort allerdings kaum. Vielmehr wird ihrem Aufbau und ihrer politischen Funktion als Stütze der SED Beachtung geschenkt. Für den dritten Untersuchungsbereich, »Anderssein – Leben in Subkulturen«, ist zu konstatieren, dass die Ausstellung subkulturelle Gruppierungen der 1970er- und 1980er-Jahre v. a. im Abschnitt »Milieus« und dessen Tafel »Subkulturen« thematisiert. Die Darstellungen von Kunden, Trampern und Punks stehen dabei im Zentrum. Die Materialauswahl folgt multiperspektivischen Richtlinien: Gegenüberstellungen von Innen- und Außensicht verdeutlichen die unterschiedlichen Wahrnehmungen des subkulturellen Jugendalltags, wobei ihrer Überwachung durch die Stasi ein besonderes Gewicht gegeben wird. Als Beispiel kann hier die Präsentation der Punks angeführt werden, welche an der Tafel über nahezu unkommentiertes Bildmaterial erfolgt: Sowohl ein von dem bekannten Fotografen Harald Hauswald portraitiertes Punker-Pärchen, das sympathisch-verliebt in die Kamera lächelt, als auch Aufnahmen der Staatssicherheit samt einer Fotodokumentation des Abzeichens »CRASS«, die die Sammelwut und einen gewissen Dilettantismus der Überwachenden widerspiegelt, zeigen die eigensinnigen und so unterschiedlich wahrgenommenen Jugendlichen. Ein besonderes Objekt ist zudem eine Lederhose, die sich unterhalb des Tafelbereichs in einer Vitrine neben lediglich zwei Punk-Kassetten befindet. Durch ihre nahezu separate Präsentation wird ihre Aura und Faszinationskraft gesteigert. Im Kontext der Tafelbeiträge zu den Punks wird dem Betrachter nicht nur ihr Wert für den ehemaligen Besitzer deutlich, sondern ebenso, dass dieses Kleidungsstück ein politisches Statement im Alltag und ein Symbol gesellschaftlicher Zuordnung war. Des Weiteren wird auch hier über einen Audioguide-Beitrag auf das Mittel der Oral History zurückgegriffen, wodurch die Hose mit einer weiteren Bedeutung, nämlich der authentischbiographischen, versehen wird. Der ehemalige Punker berichtet darin, wie schwierig es war, diese Hose zu beschaffen, und von ihrer Funktion als Begleiterin beim Besuch eines Konzerts von Rio Reiser. Zu seinen Worten wird ein Live-Mitschnitt des Liedes »Der Traum ist aus« eingespielt, wodurch auf gelungene Weise neben der Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zuständen seitens des Punks auch eine besonders emotionale Geschichtsdarstellung vollzogen wird.

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Lederhose eines Punkers. Foto: Simon Leisterer.

Das Thema »Alltag von Jugendlichen« im DDR Museum Pirna Das DDR-Museum Pirna befindet sich nach einem Umzug im Jahr 2009 in einer ehemaligen NVA-Kaserne, womit eine Vergrößerung der Ausstellungsfläche von anfangs 250 m2 auf 2 000 m2 einherging. Zwei Etagen sind dem Alltagsleben gewidmet. Mit offiziell immerhin fast einer Million Besuchen in acht Jahren ist es eines der beliebtesten Museen in der Region.25 Im DDR Museum Pirna erweist sich die Suche nach Präsentationen zum häuslichen Jugendalltag zu einer regelrechten Herausforderung: Durch die Aneinanderreihung zahlreicher Objekte unterschiedlicher Kontexte und das Fehlen schriftlicher Hinweise wird kein Ausstellungsraum zu einem expliziten Darstellungsort häuslichen Jugendlebens. Lediglich die Rezeption von Musik erscheint als wesentlicher Teil des Jugendlebens im Privatbereich, ohne allerdings als solcher deklariert zu sein. In Pirna wird dabei eine Geschichte geschrieben, derzufolge jugendliche Musikbedürfnisse im Wesentlichen über das Hören der staatlichen Radiosender und der heimischen Musikgruppen gedeckt worden wären. So hängen beispielsweise mehrere Schallplatten und Poster von DDR-Musikstars unkommentiert an den Wänden eines mit technischen Geräten vollgepackten Raumes. Lediglich ein Poster der Band »The Cure« und eine Kassette der »Bee Gees«, die wie zufällig in einer Vitrine fernab dieses Bereichs zu finden ist, zeugen von einer gewissen Existenz westlicher Musikgrößen im Jugendalltag – doch bleiben diese Objekte nahezu bedeutungslos, da sie einerseits in der Masse anderer Exponate kaum wahrgenommen werden können und andererseits keine Erläuterungen zur Seite gestellt bekommen. Es drängt sich das Bild eines häuslichen DDR-Alltags auf, in dem sich Jugendliche mit den

25 Besucherzahl bis zum 03. 02. 2014 laut Homepage: 966 454. Sicherlich sind Besuche gemeint. Siehe URL: http://www.ddr-museum-pirna.de [17. 06. 2014].

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einheimischen Produkten und offiziellen Kulturangeboten identifizierten und dort keineswegs eine Flucht aus dem öffentlichen Leben anstrebten.

Schallplatten und Poster. Foto: Simon Leisterer.

Der Anpassungsdruck im System der staatlichen Erziehung ist nicht Gegenstand der Pirnaer Ausstellung. Allerdings wird in der Thematisierung des Schullebens auch kaum ersichtlich, dass es überhaupt ein Normen- und Verhaltenskorsett gab, an das sich die Jugendlichen zu halten hatten, wollten sie nicht in ihrem beruflichen Werdegang benachteiligt werden. Folglich kann es nach der dortigen Geschichtsschreibung auch keine Darstellung eines Zwangs zur Konformität, erst recht keine von Abweichlern geben. Die Ausstellung thematisiert weder die Erweiterte Oberschule, noch Ausbildung und Studium. Lediglich die Inszenierung des Klassenraums einer Polytechnischen Oberschule (POS) soll dem Besucher einen Eindruck des alltäglichen Jugendlebens im Bildungssystem geben. Elf platzfüllende Schulbänke sind zentral positioniert, an der Frontseite befindet sich eine Tafel, Schulschränke sind gefüllt mit Lehrbüchern, Mikroskopen und Globen. Die Objekte stammen aus den 1970er- und 1980er-Jahren und damit wohl auch der Klassenraum selbst. Dem ist kommentarlos eine Bühne gegenüber gestellt, wie sie für Schulaulen typisch gewesen sein mag: Ein Portrait Walter Ulbrichts hängt an der Wand hinter einem Rednerpult, flankiert von Fahnen der Pionierorganisation und der FDJ. Fälschlicherweise muss hierbei der Eindruck entstehen, in jedem Klassenzimmer habe sich solch eine Bühne befunden und es habe in den 1970erJahren keine Geschichtsrevision samt Verdrängung Ulbrichts aus den öffentlichen Institutionen gegeben. Durch ihre verniedlichende Aufbereitung und die räumliche wie historische Deplatzierung muss diese Einheit in mehrerer Hin-

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sicht als misslungen angesehen werden. Diese Einschätzung ist auf den gesamten »Klassenraum« zu übertragen, da er aufgrund seiner Objektanhäufung an Wänden und in Vitrinen sowie durch den weitgehenden Verzicht auf Erläuterungen eher ein Ausstellungskabinett allmöglicher Schulobjekte, als eine seriöse Darstellung des Schulalltags ist.

Inszenierter Klassenraum. Foto: Simon Leisterer.

Inszenierte Pionierstube. Foto: Simon Leisterer.

Der Alltag in den Jugendorganisationen soll ebenfalls anhand unzähliger, chaotisch präsentierter Objekte aufgezeigt werden. Sie sind dem reichhaltigen Fundus ehemaliger Herrschaftsinsignien entnommen: Wimpel, Anstecknadeln, Büsten, Uniformen etc. prägen die Darstellung. Dadurch beleuchtet die Ausstellung nicht den Alltag, sondern weist hauptsächlich auf staatlich initiierte Feste und Wettkämpfe hin. Differenzierungen zwischen den Altersstufen werden nicht vorgenommen, sodass stets Objekte von Pionieren und FDJ in inszenierten Pionierstuben oder in vollgepackten Vitrinen miteinander vermengt werden. Von dem vereinnahmenden Charakter der Organisationen und tatsächlich all-

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täglichen, nicht von besonderen Events zeugenden Aktivitäten berichtet die Pirnaer Ausstellung gar nicht. Auffallend wie schockierend ist obendrein die vollkommene Ignoranz der Ausstellungsmacher gegenüber der Darstellung von eigensinnigen Jugendlichen. Auch nach intensiver Suche lassen sich weder Objekte noch schriftliche Hinweise darauf finden, dass es durchaus eigenwillige Jugendliche gab. Die Narration verschweigt die Unangepassten und verzichtet somit auf eine umfassende Alltagsdarstellung. Damit kann der selbstformulierte und für sich schon zweifelhafte Anspruch des Museumsteams, die Ausstellungsbesucher vornehmlich zur biographischen (Produkt-)Erinnerung anregen zu wollen, nicht auf jene Besucher zielen, die sich in ihrer DDR-Jugend dem staatlichen Freizeitangebot entzogen und ihr Anderssein in informellen Gruppen auslebten.26

Die Musealisierung des Jugendalltags im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig gehört zur Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und wird aus staatlichen Mitteln finanziert. Mit über 2,7 Millionen Besuchen seit 1999 ist es das meistfrequentierte Museum in der Stadt, die sich wie vielleicht keine weitere über ihren Beitrag zur Friedlichen Revolution definiert.27 Seine Dauerausstellung ist chronologisch aufgebaut und in zwölf Ausstellungseinheiten auf ganzen 2 000 m2 zu begehen. Wurde die im Jahr 2007 eröffnete Dauerausstellung auch um das Feld des Alltags sowohl in seinem Titel »Demokratie – jetzt oder nie! Diktatur – Widerstand – Alltag«, sowie in seiner Gestaltung angereichert, so stellt sie doch noch immer weitestgehend den Widerstand mutiger DDR-Oppositioneller gegen das SED-Regime ins Zentrum ihrer Darstellung. Die museale Präsentation des häuslichen Jugendalltags wird im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig äußerst sparsam vorgenommen. Durch die Wahl der Objekte zu dem Themenbereich sowie durch streng narrative Erläuterungstexte wird ein Verlangen nach westlicher Musik und deren Konsum vermittelt. Hinweise dazu finden sich v. a. im Bereich »Kultur- und Jugendpolitik der SED«. Dieser wird im Wesentlichen durch eine Zusammenstellung von 26 »Wir sind uns sicher, dass dem Einen oder Anderen viele der kleinen und großen Ausstellungsstücke ein ›schau doch mal, das kenn’ ich doch’ entlocken werden […].«; in: Flyer des DDR Museums Pirna [2013], S. 3. 27 Zu den Besuchszahlen: URL: http://www.hdg.de/leipzig/ueber-uns/besuchszahlen/ [17. 06. 2014].

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Briefsendungen an den RIAS II und zwei MfS-Fotografien von jugendlichen »Beatkellern« vorgestellt. Das Bedürfnis nach Westmusik wird in den Briefen durch jugendliche Äußerungen zum Radiohören und durch die mit Fanartikeln von Popikonen ausgestatteten Zimmer, die von der Staatssicherheit fotografiert wurden, ausgedrückt. Dabei flankieren knapp gehaltene Erläuterungstexte die Zeugnisse: Die Texttafel »Wir stehn auf Beat!« betont den Mut der Jugendlichen, die sich trotz der Verbote an westliche Radiostationen gewendet und staatliche Repressalien, wie den zwangsweisen Friseurbesuch oder gar einen Schulverweis, in Kauf genommen hätten. Die »Beatkeller« seien laut der gleichnamigen Erläuterung »Fahndungsziel« des MfS gewesen, wodurch das häusliche Einrichten des Zimmers zu einem mutigen Akt der Jugendlichen erkoren wird und somit eine durchaus überhöhte Betonung erfährt.

MfS-Aufnahme eines Beatkellers. Foto: Simon Leisterer.

Gewissermaßen wird in der Leipziger Ausstellung jeder Jugendliche zu einem eigensinnigen Akteur innerhalb des Überwachungsstaates. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass die wenigen Materialien zum häuslichen Jugendalltag v. a. in jenem Bereich verortet sind, in dem explizit das Eingreifen des Staates in die Lebensstile von Jugendlichen thematisiert wird. Dabei sind zwei Aspekte besonders auffällig: Zum einen geschieht eine merkwürdige Ausweitung des Kreises der Beatanhänger auf nahezu die gesamte Jugend der 1960erJahre, sodass weniger eine Subkultur, sondern vielmehr eine sich in der Gesamtgesellschaft schlagartig etablierende jugendliche Gesellungsform vorgestellt wird. Dem Besucher drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, die gesamte DDR-Jugend habe ihren Blick nach Westen gerichtet, sich die Haare lang wachsen lassen und jede Musiksendung des RIAS gehört – tauchen doch weder in diesem noch in anderen Ausstellungsbereichen angepasste Jugendliche auf. Damit verbunden ist die zweite anzumerkende Auffälligkeit: Mit der Darstellung dieser angeblich beatverrückten DDR-Jugend geht die Zeichnung eines chronisch oppositionellen Nachwuchses seit den 1960er-Jahren einher. Dieser

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Eindruck kommt durch die zwar multiperspektive (Staats- vs. Jugendsicht), aber von Brechungen in ihrer metakommunikativen Narration unberührte Objektwahl auf, die immer wieder westliche Beatmusik und ihre aufbegehrenden Anhänger in Uneinigkeit mit der Staatsmacht thematisiert.28 Die zahlreichen Erläuterungstexte folgen diese Narration ebenfalls, wodurch dem Betrachter kein Raum für eigene Interpretationen gegeben wird. Diese überspitzte Darstellung einer revoltierenden Jugend passt sich in die gesamtnarrative Hervorhebung einer oppositionellen und widerstandsfreudigen DDR-Gesellschaft ein. Dass sich der Großteil der Jugendlichen über weite Strecken der DDR-Existenz mit den politischen Gegebenheiten arrangierte, findet in den Darstellungen nahezu keine Beachtung.29 Weitere Objekte des individuellen Lebensgefühls werden zusammen in einer Vitrine platziert, wie eine Jeans, ein Hirschbeutel und Tramper-Schuhe. Dem Besucher wird über die Zentrierung der dreidimensionalen, von ihrem Gebrauch gekennzeichneten Objekte und die hier deutlich sparsameren Erläuterungen mehr Raum zur eigenen Interpretation und Imagination in die Alltagswelt der Jugendlichen gegeben. Ihre abneigende Haltung gegenüber dem Staat wird durch das Gesamtarrangement verstärkt: Das als Vitrinenüberschrift genutzte Plenzdorf-Zitat »Ich meine, Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen«30 und ihre Platzierung in direkter Nachbarschaft zu den politisierten Beatfans wirken auf sie ein, was zu einer Vermengung der verschiedenen Jugendstile führt. Der bildungsinstitutionelle Alltag findet nahezu keine Thematisierung in der Leipziger Ausstellung. Neben der alleinigen Fokussierung auf die Wehrerziehung bei der Präsentation von Schulinhalten wird die Schule vornehmlich als Ort des Widerstands gezeigt. Die Darstellungen verschiedener Widerstandsgruppen zu Beginn der DDR-Zeit, wie der Werdauer Oberschüler, des Eisenberger Kreises und der Altenburger Schüler, sowie der Flucht von Storkower Schülern sind die einzigen Ausstellungsbereiche, in denen Schule thematisiert wird. Da angepasstes Schülerverhalten überhaupt nicht zur Sprache kommt, werden die Widerstandsaktionen der vergleichsweise wenigen Jugendlichen in einer Weise dargestellt, als stünden sie pars pro toto. Somit wird fälschlicherweise der Eindruck erweckt, es hätte keine konformen Schüler gegeben. Darüber hinaus wird die durchaus vorhandene Identifikation der ersten DDR-Jugendgeneration 28 Bspw. Honecker-Statements gegen jugendliche Beatfans, Aufrufe Jugendlicher zur Leipziger Beatdemo, Stasi-Fotografien von Jugendlichen in Beatkellern. 29 Vgl. Ohse: DDR (Anm. 12), S. 88. 30 Das Zitat ist Ulrich Plenzdorfs 1972 erschienenem Bühnenstück und Roman »Die neuen Leiden des jungen W.« entnommen, dessen Protagonist der jugendliche Aussteiger Edgar Wibeau ist.; vgl. Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W., 56. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, hier S. 27.

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Jeans, Hirschbeutel und Tramper. Foto: Simon Leisterer.

mit dem jungen Staat weitgehend negiert.31 Für die Präsentation der ausbruchswilligen Schüler, welcher stets eine scheinbare Sehnsucht nach der Bundesrepublik inhärent ist, werden relativ wenige, oftmals nach dem Kriterium der Multiperspektivität ausgesuchte Objekte genutzt. Allerdings sieht sich der Besucher selten mit Brüchen in deren Arrangement konfrontiert, wodurch einheitliche Interpretationen evoziert werden. Ein weiteres Mittel der normativ gelenkten Vergangenheitsinterpretationen ist in den ausführlichen Erläuterungstafeln zu sehen, die jedem Objekt beigefügt sind und die Lesart des Betrachters lenken.

Fazit Die höchst unterschiedlichen Konzeptionen und Schwerpunktsetzungen in der Darstellung von Jugendalltagsgeschichte zeigen die Schwierigkeiten der musealen Präsentation von Zeitgeschichte in Ausstellungen sehr deutlich. Wenn auch alle Ausstellungen differente Zugriffe wählen, verbindet sie doch die Absicht, das Publikum nicht vor den Kopf stoßen zu wollen. 31 Zu den Jugendgenerationen in der DDR siehe: Lindner: Gestaltungsfeld (Anm. 13), S. 51.

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Dabei kann das DDR Museum Pirna als »Ostalgie-Kabinett« angesehen werden, das all jenen ein freudiger Ort der Erinnerung sein möchte, die sich auch früher mit der DDR identifizierten oder im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen der 1990er-Jahre, im Sinne Lübbes Kompensationstheorie, einen Erinnerungsort an stabilere Zeiten suchen.32 Auf Erklärungen verzichtend, über allgemein bekannte Konsumgüter und Herrschaftsinsignien die Erinnerung des Publikums anregend, wird in Pirna der Mythos einer stets zufriedenen und in ihren Bedürfnissen gestillten DDR-Jugend präsentiert. Fragen werden nicht provoziert und wollen allem Anschein nach auch nicht beantwortet werden. Die Ausstellung von Zeitgeschichte wird somit nicht als Präsentation einer offenen »Streitgeschichte« (Martin Sabrow) sondern als verklärende museale Darstellung von der Geschichte des besseren Damals aufgefasst.33 Durch die unreflektierte und mythologisierende Geschichtsdarstellung ist eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Jugendalltag in der DDR ausgeschlossen und das DDR Museum Pirna als Lernort zu diesem Thema ungeeignet. Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig gibt dem Besucher seine Geschichtsschreibung ebenfalls deutlich vor – nur wird dort eine dem DDR Museum Pirna diametral entgegengesetzte Narration verfolgt: Der Jugendalltag wird stets im Kontext der Diktatur dargestellt, wie es auch die Gedenkstättenkonzeption des Bundes fordert.34 Er erscheint als ein stets überwachter und von einer ständigen »Westsehnsucht« geprägter Raum, womit übrigens eine Art indirekter »Westalgie« einhergeht. Christian Gaubert mahnte bereits in seiner Untersuchung des privat betriebenen DDR Museum Berlin an, dass eine zu enge und stigmatisierende Darstellung des Alltags im Kontext der Diktatur auch Probleme in sich birgt. Denn eine präsentierte Omnipräsenz des Staates ermögliche es, »den eigenen Alltag nicht als wenig rühmliche Geschichte stillschweigender Angepasstheit zu erzählen oder empfinden zu müssen.«35 Dieser Befund lässt sich durchaus auch auf die größtenteils verengte und pauschalisierende Jugenddarstellung im Zeitgeschichtlichen Forum übertragen. In der Perspektive des wiedervereinigten Deutschland können somit viele Besucher der Leipziger Aus-

32 Zur Kompensationstheorie siehe Herrmann Lübbe: Der Fortschritt und das Museum, in: ders.: Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus, Graz u. a. 1989, S. 1–30; ebenso ders.: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin u. a. 1994, S. 281 – 304. 33 Sabrow: Zeitgeschichte (Anm. 2), S. 9-19. 34 Allerdings wird in der Gedenkstättenkonzeption auch die »Mitmachbereitschaft der Gesellschaft« erwähnt, die in den Leipziger Jugenddarstellungen keinerlei Erwähnung finden. Siehe: Deutscher Bundestag: Unterrichtung, S. 9. 35 Christian Gaubert: Der DDR-Alltag im Kontext der Diktatur. Eine vergleichende Analyse der Dauerausstellungen des DDR-Museums Berlin und des Deutschen Historischen Museums, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2011, 59. Jg., S. 1012.

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stellung ihre Jugend heroisiert sehen und müssen sich nicht unangenehmen Fragen stellen. Die Jugendgeschichtsdarstellung des staatlich finanzierten Hauses ist über weite Strecken normierend und wandelt immer wieder auf mythologisierenden Spuren, wenn sie den Anteil der angeblich widerständischen Jugendlichen durch ihre einengende Objektwahl und dramatisierenden Texte enorm ausweitet. Zwar sind ihre Aussagen von weitaus weniger geschichtspolitischer Brisanz als jene des DDR Museums Pirna, doch muss die Ausstellung für eine umfassende und reflektierte Auseinandersetzung mit dem jugendlichen Alltagsleben in der DDR als nicht geeignet befunden werden. Andreas Wagner bezeichnete die frühere Dauerausstellung des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt als »durchdachtestes museales Angebot« zur DDR-Alltagsgeschichte.36 Diese Einschätzung kann auch für dessen aktuelle Dauerausstellung im Kontext der hier verglichenen Jugenddarstellungen gelten. Die Eisenhüttenstädter Präsentation gibt nicht nur den umfangreichsten, sondern auch einen fundierten Einblick in den Jugendalltag in der DDR. Sie schließt eine normative Geschichtsschreibung über die Zentrierung weniger und aussagekräftiger Objekte sowie deren wirkungsreiche Inszenierungen aus. Der Einsatz von Autorentexten wird auf ein Mindestmaß reduziert. Dafür erfolgt der Großteil an Kommentierungen über die sinnstiftenden Gegenüberstellungen von Objekten, die stets von Multiperspektivität und Brechungen zueinander gekennzeichnet sind, oder über die Nutzung von Audioguides, die auf das Mittel der Oral History zurückgreifen und somit die objektimmanenten biographischen Bezüge vertiefen. Der Museumsbesucher wird unausgesprochen zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Präsentierten aufgefordert, wobei die Deutungen stets ihm überlassen bleiben. Inwiefern dieses Vertrauen in die Bereitschaft des Publikums zur Auseinandersetzung mit den teilweise stachligen Ausstellungseinheiten eines »Igel-Museums« auch eine Überforderung für Besucher darstellen kann, ist an dieser Stelle nicht zu ermitteln.37 Dass die Eisenhüttenstädter Ausstellung aber den Weg für eine fundierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Jugendalltags und eine damit einhergehende Erweiterung des reflektierten Geschichtsbewusstseins ermöglicht, bleibt ohne Zweifel.

36 Andreas Wagner : DDR-Geschichte im Museum. Musealisierung zwischen Aufarbeitung und »Ostalgie«, in: Praxis Geschichte, 2005, Heft 3, S. 99. 37 Zum Begriff des »Igel-Museums« siehe Gottfried Korff: Igel oder Kuscheltier? Anmerkungen zur Situation des Museums im Medienwandel der Informationsgesellschaft, in: Michael Simon u. a. (Hg.): Bilder, Bücher, Bytes. Zur Medialität des Alltags (Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde; 36), Münster 2009, S. 66.

Rezensionen

Gudrun Fiedler

Grundlagenwerk zur Wirkungsgeschichte der Jugendbewegung

Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen(=Formen der Erinnerung; 52), Göttingen: V& R unipress 2013, 819 S., ISBN: 978 – 3 – 8471 – 0004 – 1, 74,90 E Der vorliegende Band nimmt die bisherige Reihe der biographischen Arbeiten zur Jugendbewegung ausdrücklich auf, strebt jedoch keine Selbstvergewisserung von Wandervogel und bündischer Jugend an. Folgerichtig fehlen einige bekannte Persönlichkeiten wie Eberhard Koebel, die »innerhalb der jugendbewegten ›Szenerie‹ einen großen Einfluss hatten« (S. 36).1 Porträtiert werden Menschen mit jugendbewegter Vergangenheit, wie sie von den Zeitläuften des 20. Jahrhunderts beeinflusst wurden und wie sie in autobiographischen Texten den »Geist der Jugendbewegung« (S. 38) aufriefen. Es geht um Personen, die im deutschen öffentlichen Leben nach 1945 bekannt wurden und in ihrer Jugend der einen oder anderen Gruppe angehört haben. Dabei beschränkt sich die Herausgeberin nicht auf den klassisch-bürgerlichen Kern. Selbstbestimmt und eigenverantwortlich sein Leben zu gestalten – das hatten sich zahlreiche Bünde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Fahnen geschrieben, neben den Wandervogel-Gruppen und der Freideutschen Jugend protestantische wie katholische kirchliche Bünde, ein Teil der Pfadfinder und der Arbeiterjugend, »die jüdische Jugendbewegung und einige der Jugendbewegung nahestehende Zusammenschlüsse von Studenten« (S. 15). In 61 Biogrammen und Essays stellen die Autorinnen und Autoren – nur zum geringeren Teil der Jugendbewegung nahestehend – individuelle Schicksale mit »folgenreichen biographischen Brüchen […] nicht zuletzt mit Verstrickungen und auch ideologischen Verführungen« (S. 12) eindrucksvoll vor. Dass darunter mit der Journalistin Christel Beilmann nur eine Frau vorkommt, die eindeutig die Kriterien eines autobio1 Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die Seitenangaben auf die Einleitung der Herausgeberin Barbara Stambolis, S. 13 – 42.

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graphischen Rückbezugs auf die Jugendbewegung erfüllt, zeigt die Bedeutung der Jugendbewegung besonders für die Selbstfindung und Identitätsstiftung heranwachsender Jungen. Die Herausgeberin macht in ihrem Nachwort deutlich, dass sich einige noch in Frage kommende Frauen nicht ausdrücklich schriftlich zu ihrer jugendbewegten Prägung geäußert haben. Zwischen »gelebter Lebensgeschichte und gelebter Gesellschaftsgeschichte« (Fischer-Rosenthal nach Stambolis, S. 27) angesiedelt, lassen die Essays jugendbewegte »Erlebnisgenerationen und Erinnerungsgemeinschaften« um 1900 (S. 15), in der Weimarer Republik oder gar in der NS-Zeit sichtbar werden, die den hier die Porträtierten lebenslang Impulse gaben. Das ist bemerkenswert, denn zwischen dem unbeschwerten jugendbewegten Gruppenleben und dem späteren Abfassen der autobiographischen Texte lag die existenzielle Erfahrung der Grausamkeit von Kriegen und das Wissen um das Sterben von Millionen Menschen, was besonders im Beitrag von Eckart Conze über Otto Abetz, der von 1940 bis 1944 deutscher Botschafter in Paris war, deutlich wird (S. 67). Im Rückblick erschöpfte sich die intensive Gruppenerfahrung der Jugendbewegung nicht im Erleben von Natur und Romantik, sondern schloss tief empfundene menschliche Begegnungen und nachhaltige Erfahrungen ein, die später halfen, schwierige Zeiten konstruktiv zu verarbeiten. Daraus erwuchs bei Vielen eine Selbstverpflichtung zum gesellschaftlichen Engagement. Noch bis in die Zeit nach 1945 wirkten das Erlebnis der Freideutschen Jugendtages auf dem Meißner 1913 und die Meißnerformel als sinnstiftende Bezugspunkte nach. Noch in der Aufbau- und Konsolidierungsphase der Bundesrepublik Deutschland waren die jugendbewegten Netzwerke und Mentalitäten für die Generation der vor 1930 Geborenen sehr präsent und wirksam. Insbesondere für Personen wie Wolfgang Abendroth, Arnold Bergsträsser, Willy Brandt, Walter Dirks oder Alexander Rüstow leuchtet deshalb B. Stambolis‹ Vorschlag ein, doch einmal das Erbe der Jugendbewegung in Kontexten »mit der intellektuellen Gründung der Bundesrepublik« wissenschaftlich zu analysieren (S. 38). Allerdings, und das zeigt wiederum das Beispiel des Otto Abetz besonders deutlich, hat es auch zahlreiche Karrieren ehemaliger Jugendbewegter im NS-Staat gegeben. Abetz spielte eine »zentrale Rolle […] bei der deutschen antisemitischen Diskriminierungs-, Verfolgungs- und Vernichtungspolitik in Frankreich ab 1940«, so E. Conze (S. 66). Willy Graf und Hans Scholl (Weiße Rose) sowie Adolf Reichwein (Kreisauer Kreis) hingegen leisteten Widerstand gegen die NS-Diktatur – und bezahlten dies mit ihrem Leben. Helmuth Kittel, 1963-1970 vielgeachteter Ordinarius für Religionspädagogik an der Universität Münster, begrüßte nicht nur als einflussreicher Führer der bündischen Jugend, »sondern auch als Theologe und Lehrer[…] den Nationalsozialismus«, wie B. Stambolis ausführt (S. 413). In seiner Rückschau sah er die NS-Zeit als Zeit »schicksalhafte(r) Heimsuchungen« (S. 414) an, durch die er

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sich durchlaviert habe. Wie existenziell jugendbewegte Wurzeln für das eigene Leben in der Fremde sein konnten, ist den Texten von Gerhard Gershom Sholem, Werner T. Angress, Paul Yogi Meyer und Guy Stern zu entnehmen, die als jüdische Deutsche durch die Emigration ihr Leben retteten. Bei zahlreichen der hier dargestellten Personen sind die Lebensläufe nicht so klar einzuordnen. Theodor Schieder und Werner Conze etwa haben wichtige methodische Impulse für die »Weiterentwicklung und Modernisierung der Neuzeitgeschichte in der Bundesrepublik« gegeben, so J. Reulecke (S. 200). Ihre Grundlagen erarbeiteten sie allerdings im NS-Staat im Rahmen des Forschungskomplexes der »Ostforschung«, deren Denkmuster in die expansive und rassisch begründete NS-Eroberungspolitik einflossen. Zwei Essays beschäftigen sich mit hochrangigen Funktionären der DDR. Wie Friedrich Wolf (Arzt, 1949-1951 DDR-Botschafter in Polen) blieb auch Alfred Kurella (Schriftsteller, Kulturfunktionär) ein Leben lang seinem im Wandervogel geübten Lebensstil treu. Entscheidend für seinen politischen Weg war jedoch ein Ereignis außerhalb des Gruppenlebens: die Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg. Der vorliegende Band bietet eine große Fülle an Informationen, Literaturund Quellennachweisen, die zu weiteren Forschungen anregen, so beispielsweise zu einzelnen Persönlichkeiten, aber auch zur funktionalen Qualität von (jugendbewegten) Freundschaftsbünden oder zu biographischen Selbstwahrnehmungen und Konstruktionen im 20. Jahrhundert. Die Kommentare, so die Herausgeberin, können keine »analytische Tiefe, wie sie von rein wissenschaftlich ausgerichteten biographischen Einzelstudien oder intensiveren jugendbewegten Netzwerkanalysen zu erwarten wären«, bieten (S. 36). Gerade darin zeigt sich m. E., dass sich die »Komplexität der Geschichte der Jugendbewegung […] einfachen Deutungen entzieht (Conze, S. 67). Schon daraus ergibt sich, dass das Sample keine Vollständigkeit beanspruchen kann – zumal im Zeitalter von Internet und Facebook das schrittweise gemeinsame Arbeiten Vieler an größeren Projekten mit offenem Ausgang keine Seltenheit mehr ist. Ein weiterer Band, der auf »Jugendbewegt geprägt« aufbaut und jugendbewegte Wirkungen und Vernetzungen zum Thema hat, geht, ist in Vorbereitung; zugesagt hat dazu u. a. bereits Walter Laqueur.2

2 Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen (in Vorbereitung).

Arno Klönne

Lebensläufe, kritisch betrachtet

Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen (= Formen der Erinnerung, Bd. 52), Göttingen: V& R unipress 2013, 820 S., ISBN 978 – 3 – 8471 – 0004 – 1, 59,99 E. Haben Erlebnisse und Erfahrungen im Milieu der »klassischen« Jugendbewegung nachhaltigen Einfluss genommen auf die Lebenswege von Menschen, die in der deutschen Gesellschaft Prominenz erlangten? Dieser Frage gehen für sechzig Männer und eine Frau in dem hier vorzustellenden Sammelband biografische Skizzen nach, ausgehend von Selbstzeugnissen, in der Auswahl der präsentierten Persönlichkeiten ein breites Spektrum von beruflichen und politischen Engagements berücksichtigend. Ganz überwiegend sind dabei Lebensläufe beschrieben, deren jugendbewegte Phase der »Generation vom Hohen Meißner« oder »Bündischer Jugend« in den 1920er-Jahren zuzuordnen ist. Erfreulicherweise halten sich die Autorinnen und Autoren durchweg einer unkritischen Würdigung jugendbewegter »Prägung« und deren Nachwirkungen fern; wie sehr eine solche zu vermeiden ist, wird schon unter zeitgeschichtlichem Aspekt deutlich: Aus alphabetischem Grund stehen am Beginn des Bandes gleich nacheinander Texte über einen Mann des Widerstandes im »Dritten Reich« (Wolfgang Abendroth) und über Hitlers Botschafter im besetzten Frankreich (Otto Abetz), beide kamen aus der jugendbündischen Szene der Weimarer Republik. Aber auch im Hinblick auf eine Biografie wie die des »Parteikommunisten« Alfred Kurella stellt sich heraus: Jugendbewegte sind in ihrem späteren gesellschaftlichen Wirken keineswegs auf einen gemeinsamen ideellen Nenner zu bringen. Dass jugendbewegte Herkünfte von Frauen nur mit einem Beitrag bedacht sind, ist nicht der Herausgeberin anzulasten – es offenbart sich darin nicht nur, was Prominenz angeht, die weibliche historische Benachteiligung, sondern auch ein immer noch bestehendes historiografisches Missverhältnis; Geschichte der Jugendbewegung wird allzu gern »männerbündisch« betrachtet.

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Arno Klönne

Der sehr materialreiche Sammelband regt an zu weiterführenden Überlegungen: Gab es überhaupt, wenn man es nicht bei der Erinnerung an die Gemeinschaft in der kleinen Gruppe und an deren Unternehmungen belassen will, »die« Erlebniswelt von Jugendbewegung? Existierte so etwas wie ein typischer Effekt jugendbewegter Sozialisation? Um zwei Biografien beispielhaft zu nennen, die in diesem Buch behandelt sind und bei denen die Differenz nicht eigentlich politisch begründet war : Zwischen Erich Ollenhauer und Willy Brandt lag, was mentale »Prägungen« angeht, ein unverkennbarer Abstand. Noch schärfer würden solche Unterschiedlichkeiten sichtbar, wollte man Lebensläufe von Menschen aus der Jugendbewegung heranziehen, die es – trotz ihrer Talente – nicht zu Prominenz gebracht haben.

Barbara Stambolis

Arbeiterfreunde aus dem Bürgertum

Jens Wietschorke: Arbeiterfreunde. Soziale Mission im dunklen Berlin (1911 – 1933) (= Historische Studien; 67), Frankfurt a. M.: Campus 2013, 451 S., ISBN 978 – 3 – 593 – 39744 – 3, 51,00 E Der Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke wurde mit der 2013 erschienenen Studie über die »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin Ost« (SAG) im Berliner Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität promoviert. Der Name dieses 1911 in Berlin unter maßgeblicher Beteiligung des Theologen und Pazifisten Friedrich Siegmund-Schultze (1885 – 1969) gegründeten Zusammenschlusses von Personen, die sich bis 1933 intensiv auf dem Gebiet der Jugendarbeit engagierten, wird im Titel des Buches nicht genannt. Wohl zum einen deshalb, weil diese Gruppierung vielen Lesern nicht bekannt sein dürfte, zum zweiten, weil es Wietschorke nicht vorrangig um die Organisationsgeschichte dieser Gruppierung geht. Vielmehr steht der »soziale Auftrag« der vorwiegend dem Bürgertum entstammenden Mitglieder dieser Arbeitsgemeinschaft im Mittelpunkt, die sich aus zeittypisch reformbewegtem Geist in einem der damaligen sozialen Brennpunkte im Osten Berlins für die ›unteren Klassen‹ einsetzten (S. 127). Der Kreis verfügte über ein Reservoir guter, auch internationaler Adressen und beachtliche Unterstützer-Ressourcen, d. h. er war ausgesprochen gut vernetzt: mit einflussreichen Persönlichkeiten, weiteren reformorientierten Gruppen, besonders jungen ›Söhnen des Bürgertums‹, zumeist in den 1890er-Jahren geboren (S. 93-95). – Schade, dass dem Buch kein Namensverzeichnis beigefügt ist, das die Vernetzungen auf einen Blick deutlich werden ließe und auch für weitere Netzwerkstudien hätte nützlich sein können. – Manche der in der SAG Mitwirkenden hatten einen jugendbewegten Hintergrund, viele waren dann Soldaten im Ersten Weltkrieg und kehrten mit neuen sozialen Impulsen zurück. Sie fanden nun eine Gesellschaft vor, in der die sozialen Problemlagen vieler Menschen prekär waren und in der Verunsicherung, Perspektivlosigkeit, Zukunftsängste und daraus erwachsender Sprengstoff zu

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Barbara Stambolis

Generationenkonflikten und einer tiefgreifenden Legitimationskrise des politischen Systems beitrugen. Der Osten Berlins war für die SAG, die sich die »Rettung« sozial Benachteiligter zum Ziel gesetzt hatte, zweifellos auch ein symbolischer Ort, an dem sich die negativen Auswirkungen von Industrialisierung und Verstädterung in krasser Form zeigten (S. 40, 47). Wietschorke hat bereits 2012 deutlich gemacht, dass für die SAG Berlin Inbegriff einer »wuchernden Sumpfpflanze« und des »Niedergangs« war, in der sich zudem nach 1918 die Folgen des Ersten Weltkriegs stärker bemerkbar machten als in manch ländlichen Regionen, wie nicht zuletzt Siegmund-Schulze als Leiter des Berliner Städtischen Jugendamtes (1917-1919) wusste.1 Der Idealismus der Männer und Frauen in der SAG und ihr durch den Krieg noch einmal mitbeeinflusstes Selbst- und Menschenbild bildete zweifellos die Grundlage für ihr hohes sozialreformerisches Engagement, das sich z. B. auch in der 1926 gegründeten Gilde Soziale Arbeit und in dem von Carl Mennicke (1887 – 1958) geleiteten Seminar für Jugendwohlfahrt beobachten lässt. In die Politik wollten sich die Angehörigen der in den 1890er-Jahren geborenen SAGMitarbeiter und auch die Jüngeren, darunter eine Reihe von Studenten, die aufgrund eigener sozialer Abstiegserfahrungen sozialistischen Ideen durchaus zugeneigt waren, nur unter Vorbehalt einmischen. Wietschorke kommt zu dem Ergebnis, die SAG habe die Interessen jungen Arbeiter daher nicht wirklich angemessen vertreten können; sie sei letztlich romantisch-jugendbewegt und damit rückwärtsorientiert gewesen (S. 338). Die Studie ist materialreich, quellengesättigt, klar gegliedert in chronologische und thematische Kapitel; sie gibt den Forschungsstand angemessen wieder und ist überdies gut lesbar. Den Lesern bietet sie weitere Bausteine zur Vervollständigung der facettenreichen Zusammenhänge von Jugendbewegung und Erwachsenenbildung, Sozialreform und Fürsorge um die Jahrhundertwende und in der Weimarer Republik. Auch für diejenigen, die sich für jugendbewegte ›Vernetzungen‹ interessieren, bietet die Studie anregendes Material.

1 Jens Wietschorke: Bürgerliche ›Volksfreundschaft‹ zwischen Jugendbewegung und Erwachsenenbildung, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2011, NF 8, S. 30-46.

Arno Klönne

Deutsche Herbergsväter

Eva Kraus: Das Deutsche Jugendherbergswerk 1909 – 1933. Programm – Personen – Gleichschaltung, Berlin: Pro Business 2013, 450 S., ISBN 978 – 3 – 86386 – 488 – 0, 19,95 E Wissenschaftliche Arbeiten über die Entwicklung der »Herbergen« für jugendlichen Tourismus, deren Erfinder der deutsche Lehrer Richard Schirrmann (1874 – 1961) war, sind bisher rar, obwohl das Thema für die Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert erhebliche Bedeutung hat. Eine Lücke füllt da die als book-on-demand vorliegende Dissertation von Eva Kraus. Sie setzt sich in ihren Schwerpunkten mit der politischen Biographie von Schirrmann, dem leitenden Personal des deutschen Jugendherbergsverbandes in der Zeit der Weimarer Republik und den Vorgängen bei der Inbesitznahme desselben im Jahre der Machtdurchsetzung des »Dritten Reiches« auseinander. Die Autorin will damit auch die Frage klären, ob eine »Mitverantwortung« des Jugendherbergswerks für die Etablierung des NS-Regimes gegeben war. Deutlich wird mit dieser Studie, wie sehr der »Vater« des Konzepts der Heime für die »wandernde Jugend« von zivilisationskritischen, lebensreformerischen Ideen geprägt war, und zwar in deren deutschvölkischer Variante. Herausgearbeitet wird auch, dass die Übernahme des nach 1918 praxisstark gewordenen Deutschen Jugendherbergsverbandes durch die NS-Machthaber sich widerstandslos vollzog, allerdings per »Säuberung« von jenen Funktionsträgern, die aus politischen oder »rassischen« Gründen nun in dem »deutschen erzieherischen Werk« nicht mehr ihren Platz haben sollten. Diese »Reinigung« verweist auf eine Eigenschaft der Jugendherbergen in der Weimarer Republik, die in der Studie von Eva Kraus zu kurz kommt: Es hatten sich dort Treffpunkte für Jugendgruppen unterschiedlicher weltanschaulicher Orientierung herausgebildet, »Herberge« wurde auch für junge Leute aus sozialistischen, pazifistischen und jüdischen Bünden geboten. (Am Rande: Anders als die Autorin es annimmt, bedeutete eine Neigung zur Zentrumspartei – gerade im jugendbündischen Terrain – nicht unbedingt Zugehörigkeit zum »nationalistischen Lager«.) Zu

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Arno Klönne

berücksichtigen wäre in diesem Zusammenhang auch die jugendkulturelle Eigendynamik der gerade von Schirrmann betriebenen Öffnung des Jugendherbergskonzepts für Internationalität. Solche »Heime« wurden ab Mitte der 1920er-Jahre, angeregt durch den deutschen Jugendherbergsverband, in einer Reihe anderer Länder eingerichtet, erklärtermaßen mit der Zielsetzung, jugendliche Völkerverständigung zu unterstützen. Im Herbst 1946, nach dem Untergang des »Dritten Reiches«, holten ausländische Jugendherbergsfreunde Schirrmann zu einer internationalen Konferenz in Schottland – trotz seiner Anpassungsbereitschaft in NS-Zeiten. Dem ersten Jugendherbergsvater kam dabei zugute, dass er – trotz seiner deutschnational-völkischen Ideenwelt – nach seinem Erlebnis des Ersten Weltkrieges eher zu Friedensträumen als zu Kriegsappellen neigte. Interessant könnte es sein, der »Lebenswelt« in den Jugendherbergen zur Zeit des »Dritten Reiches« nachzugehen. Zu dem disziplinierenden und geschlossenen »Lager«-Konzept von Jugenderziehung, wie es die Hitlerjugend umsetzte, konnten sie in gewisser Hinsicht querstehen, insoweit jedenfalls als einzelne Herbergsväter dem Besuch von Jugendlichen Raum gaben, die nicht dem Verhaltensmuster der Hitlerjugend entsprachen. Doch diese Aspekte waren nicht Gegenstand der Untersuchungen von Eva Kraus; sie würden auch einen anderen methodischen Zugriff erfordern. War der Deutsche Jugendherbergsverband mitverantwortlich dafür, dass sich 1933 das »Dritte Reich« etablieren konnte? Die Autorin der hier kurz besprochenen Studie tendiert dahin, diese Frage zu bejahen. Zutreffend ist, dass mit dem Aufbau des Jugendherbergswerks in Deutschland vor 1933 ein sozialisatorischer Raum bereitgestellt war, dessen sich dann der NS-Staat bedienen konnte. Eine Möglichkeit, sich der Gleichschaltung zu widersetzen hatte, realistisch betrachtet, der deutsche Jugendherbergsverband 1933 allerdings nicht. Und für die machtpolitische Vorbereitung sowie Befestigung des NS-Regimes hatte dieser Verband keine Relevanz, da waren andere Kräfte am Werk.

Hartmut Alphei

Aus dem Hamburger »Wendekreis« nach Argentinien und Chile

Peter Dudek: »Vom Schulmeister zum Menschen«. Max Tepp – ein jugendbewegter Reformpädagoge, Schriftsteller und Verleger, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2014, 314 S., ISBN 978 – 3 – 7815 – 1959 – 6, 19, 90 E Der von Peter Dudek vorgestellte Reformpädagoge Max Tepp, bisher nur wenigen bekannt, ist ein Beispiel dafür, dass die Teilnahme am »Ersten Freideutschen Jugendtag« vom 13. Oktober 1913 von großer Bedeutung für das weitere Leben werden konnte. Tepps Denken und Handeln wurde zeitlebens von der Jugendbewegung und dem Meißnertreffen als dem bewegendsten Erlebnis seiner Jugend bestimmt. Dudek hat bereits zahlreiche Veröffentlichungen zu Akteuren oder Institutionen der von Nohl so genannten »Pädagogischen Bewegung« vorgelegt (u. a. über Walter Benjamin, Siegfried Bernfeld, Hermann Nohl bzw. die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, die Erziehungsschule Schloss Bischofstein, das Landerziehungsheim Hochwaldhausen) und stellt mit Max Tepp nun einen wichtigen Mitstreiter aus dem Hamburger »Wendekreis« vor. Der im Rahmen der Reformpädagogik bislang wenig rezipierte Tepp verfolgte das zentrale Anliegen dieser pädagogischen Richtung, die »Erziehung vom Kinde aus«, konsequent. Bis zu seiner Emigration nach Südamerika 1924 war er einer ihrer radikalsten Verfechter und nahm für seine Überzeugungen auch das Ende einer Laufbahn als Lehrer an Hamburger Schulen in Kauf. Er war jemand, der unnachgiebig den Grundsatz der Wahrhaftigkeit, wie er in der »Meißnerformel« von 1913 formuliert worden war, zur Maxime seines Denkens und Handelns gemacht hat. In diesem Wahrhaftigkeitsstreben blieb er geradezu gefangen, was letztlich auch zu seiner Verweigerung des Beamteneides und damit zu seiner Entlassung aus dem Hamburger Schuldienst führte, und zum Grund dafür wurde, dass er zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen Deutschland 1924 verließ. Erst nach seiner Emigration konnte er sich in der neuen Umgebung von der blockierenden »Wahrhaftigkeit« lösen. Max Tepps Leben spiegelt die Geschichte des »Wendekreises« mit seinen

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Hartmut Alphei

verschiedenen Phasen von Gelingen und Scheitern wider und verweist auf die ausgeprägten Widersprüche, die sich aus dem Engagement für Alternativprojekte ergeben können und mitunter zur Aufgabe großer Pläne führen: Idee und Realität, Wollen und Können, Euphorie und Depression, Erfolg und Misserfolg. Ein Berufsleben im Schnittfeld von staatlicher und freier Pädagogik und die Erfahrungen bei der Gründung einer Freien Schule teile ich mit Max Tepp. Der Autor zeigt am Beispiel des »Wendekreises« den Idealismus, der dem Willen zum Neuanfang nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs bei dieser Gruppe der aus der Jugendbewegung herkommenden Lehrer zugrunde lag. Schulreform war ihnen zu wenig, es ging ihnen um die »Zersetzung der Schule an sich«, um dann eine andere Form von Schule realisieren zu können. Daher entwickelten sie alternative Konzepte für öffentliche Schulen in staatlicher Trägerschaft. Das war durchaus ungewöhnlich. Zwar gab es mit den Landerziehungsheimen bereits Alternativschulen, aber sie hatten private Träger ; Regelschulen hingegen waren vom Staat getragen und damit staatstragend. Die Hamburger Schulbehörde war nach der »Revolution« von 1918/19 sehr viel offener gegenüber Veränderungsbestrebungen der Schule als die anderer deutscher Länder ; insofern hätte der »Wendekreis« wohl auch anderswo keine Chancen gehabt. Allerdings gab es auch in Hamburg »konservative« Bildungspolitiker, die letztlich die Entlassung Tepps aus dem Schuldienst betrieben, weil er sich aus grundsätzlichen Überlegungen geweigert hatte, den geforderten Eid auf die Hamburger Verfassung abzulegen. Tepp aber blieb standhaft und wurde im Rahmen eines Disziplinarverfahrens aus dem Dienst als Lehrer entlassen. Deutlich wird dabei, dass eine staatliche Behörde Konzepte wie das des »Wendekreises« bestenfalls vorübergehend tolerieren kann, sie aber im Konfliktfall, hier die Konsequenz des »Aussteigers« Tepp, doch aus Prinzip ablehnen muss. Bis heute führen die widersprüchlichen Anforderungen an Schulen zur Erhaltung der »Normalität« einerseits und der Offenheit für »Utopien« andererseits mitunter zu erheblichen Schwierigkeiten für beamtete Lehrer. Der Hamburger »Wendekreis« setzte sich aus jungen Lehrern zusammen, die fast alle aus der Jugendbewegung kamen und sich die Umsetzung jugendbewegter Impulse im pädagogischen Umfeld, vor allem in der Schule, aber auch in der sozialpädagogischen Arbeit zum Ziel gesetzt hatten. Sie wollten in der Schule ihre aus dem Geist der Jugendbewegung entwickelten Gedanken in die Tat umsetzen. Insbesondere wollten sie »den neuen Menschen schaffen« und glaubten, das über eine jugendbewegte Pädagogik realisieren zu können. Wörtlich formuliert etwa von dem späteren Erziehungswissenschaftler Heinrich Roth (1906-1983): »Ich trat als Jugendbewegter von der Universität kommend als Lehrer in die Schule ein. Nach meinem Erleben war die Reformpädagogik der zwanziger Jahre nichts anderes als der Versuch, das in der Jugendbewegung erfahrene und entdeckte neue Leben in die Schule hineinzutragen. Jeder von uns

Aus dem Hamburger »Wendekreis« nach Argentinien und Chile

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war in diesem Sinne bestrebt, die Schule vom Geist der Jugendbewegung her zu beleben.« Der Name »Wendekreis« drückt ihr Anliegen aus: sie wollten ein Kreis von Menschen sein, die nach dem Zusammenbruch Deutschlands 1918 eine Wende hin zu einem neuen, besseren Deutschland im Sinne der Ideale der Jugendbewegung erreichen. Dafür setzten sie auf die zukünftige Generation, die Kinder und Jugendlichen. Dazu Max Tepp: »Wir sehen das Kind als etwas Werdendes, Wachsendes, stets sich Änderndes an«. An anderer Stelle spricht er von der bedingungslosen »Liebe zum Kinde als werdendem Menschen«. Eine Schule der Zukunft musste also im weitesten Sinne »offen« sein und sich am Wollen der Kinder orientieren, nicht an den Vorstellungen der Erwachsenen. Der »Wendekreis« wollte eine schnelle Umsetzung seiner Vorstellungen in den Schulen. In Hamburg waren nach der Revolution von 1918/19 mit Unterstützung der Schulbehörde bereits einzelne »Gemeinschaftsschulen« eingerichtet worden »als Experimentierfeld für die neue Schule und den neuen Menschen«. Die Lehrer des »Wendekreises« engagierten sich zunächst an der Schule Breitenfelder Straße 35, die sie als Bezirksschule Ostern 1919 übernahmen und nach ihren pädagogischen Vorstellungen umbauten. Schnell wurde sie zur Angebotsschule, in die Eltern aus allen Bezirken fortan ihre Kinder schicken konnten. Bei den regulär aus dem Schulbezirk zugeordneten Schülern und ihren Eltern überwog die Skepsis. Dudek schildert die Entwicklung der »Wendeschule« und die zahlreich auftretenden Schwierigkeiten mit großer Detailkenntnis, dabei arbeitet er die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit, aber auch die Spannungen innerhalb der Lehrerschaft sowie mit der Öffentlichkeit und den Behörden heraus. Leider kommt diese anschauliche und differenzierte Darstellung von Schultheorie und -wirklichkeit, die über die Biographie Max Tepps weit hinausgeht und die gesamte reformpädagogische Bewegung zum Thema hat, im Titel des Buches gar nicht zum Ausdruck. Max Tepps weiterer Lebensweg nach der Emigration wird im zweiten, kürzeren Teil des Buches entwickelt. Neben die Tätigkeit als Lehrer treten nun die Arbeit als Schriftsteller und Verleger. Auch zuvor hatte Tepp schon zahlreiche Beiträge u. a. zur Theorie und Praxis des Tanzes und der Körpererziehung sowie zu allgemeinen pädagogischen Fragen veröffentlicht. Nun kamen neu hinzu: Erzählungen, Kinder- und Jugendbücher, Berichte über deutsche Schulen im Ausland, Auslandsdeutsche und deutsche Kultur im Ausland, Reisebeschreibungen über verschiedene Landschaften in Argentinien und Chile, die dortige Tier- und Pflanzenwelt, als Schulbücher nutzbare Bücher und vieles mehr, insgesamt mehr als 100 Titel. Hier, fern von Deutschland, konnte sich Tepp von seinem pädagogischen Fundamentalismus der frühen Berufsjahre lösen. Beeindruckend sind Dudeks gründliche Recherchen zu der Studie in vielen

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Hartmut Alphei

öffentlichen und Familienarchiven. Diese Hinweise nutzt Dudek jeweils für Kurzbiographien und veranschaulicht damit die personalen Zusammenhänge. Es handelt sich damit um äußerst ertragreiche Historische Bildungsforschung in Reinform – quer zu gegenwärtigen Trends in den Erziehungswissenschaften.

Jürgen Reulecke

Kontinuitäten und Wandlungen eines deutschen Rechtsintellektuellen

Ulrich Prehn: Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; 51), Göttingen: Wallstein Verlag 2013, 576 S., ISBN: 978 – 3 – 8353 – 1304 – 0, 42,– E Inzwischen gibt es eine Reihe von Studien und Quellenpublikationen zu einzelnen Persönlichkeiten der »Frontsoldatengeneration« und der »Kriegsjugendlichen-/ Kriegskindergeneration« des Ersten Weltkriegs, die deren Lebensweg vom späten Kaiserreich bis in die Nachkriegsgeschichte nach 1945 verfolgen. Nicht zuletzt zu Personen, die im Umfeld der Jugendbewegung bedeutsame Rollen gespielt haben wie Eberhard Koebel-tusk, Erich Scholzolka, Karl Christian Müller-teut, Walter Hammer, Max Tepp1 und andere, neuerdings auch zu Werner Helwig2 liegen zum Teil umfangreiche Publikationen vor. Die 2013 erschienene, auf akribischen Archivrecherchen und umsichtigen Literaturanalysen beruhende Arbeit von Ulrich Prehn über Max Hildebert Boehm (1891 – 1968) liefert zu der generationengeschichtlich-biographischen »Schneise« Jugendbewegung nun eine exemplarische Analyse einer gewissermaßen parallel dazu zu verortenden, sich aber auch immer wieder mit der Jugendbewegung berührenden weiteren »Schneise« vor dem Hintergrund der krassen historischen Herausforderungen des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts. Prehns umfangreiches Opus – auf einer 2010 an der Universität Hamburg angenommenen Dissertation beruhend – ist von seinem Verfasser als »biographische Studie über die Kontinuitäten und Wandlungen eines deutschen Rechtsintellektuellen« charakterisiert worden, der nachdrücklich in die Wandlungen des deutschen Konservativismus bis in die 1960er-Jahre hinein einzuordnen ist (S. 12 f.) – ausgehend vor allem von 1 Einige dieser Publikationen der letzten Jahre wurden von der »Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung« unterstützt. 2 Ursula Prause (Hg.): Werner Helwig. Eine nachgetragene Autobiographie, Bremen 2014.

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Jürgen Reulecke

den intellektuellen Neuorientierungsbemühungen nach dem Ersten Weltkrieg, bei denen es um die Entstehung und Ausformung einer »Volkstheorie« bzw. einer Absolutsetzung der Begriffe »Volk« und »Volksgemeinschaft« ging. Damit ist bereits angedeutet, dass Prehn nicht nur eine biographische und ideengeschichtliche Untersuchung vorgelegt hat, sondern Boehm als einen exemplarischen Intellektuellentypus mentalitäts- und generationengeschichtlich verortet und bestrebt ist, ihn in diverse Netzwerke und zeittypische Intellektuellenkreise mit deren gesellschaftspolitischer Bedeutung und Wirkung einzuordnen sowie seine Rolle dabei zu identifizieren. Aufgewachsen zunächst im Baltikum, dann in Elsass-Lothringen, studierte Boehm Kulturgeschichte, Philosophie und Soziologie in Jena, Bonn, München und Berlin und entdeckte dabei vor allem die Philosophen Georg Simmel und Max Scheler als wichtige geistigen Mentoren für sich. Gleichzeitig erlebte er die auch viele Jugendbewegte prägende »weltanschauliche Unruhe« bzw. »Suchbewegung« (S. 47) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die bei ihm nach Ausbruch des Krieges – er war wegen Kurzsichtigkeit als »dienstuntauglich« gemustert worden – eine wachsende Politisierung auslöste, ausgehend von dem für seine von nun an immer vehementer vertretene Volksgemeinschafts-Ideologie entscheidenden »Augusterlebnis«. Dabei spielte einerseits früh eine Auseinandersetzung mit dem Zionismus und im Rahmen seiner Propagandatätigkeit für das Deutsche Reich auch zunehmende Kritik an der »jüdischen Assimilation« eine wichtige Rolle. Andererseits begann er mit Blick auf Elsass-Lothringen und die Schweiz, auf das Baltikum, auf Posen und Westpreußen eine engagierte »politische Grenzlandarbeit« zu betreiben. In den auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bezogenen Kapiteln zeigt Prehn dann, wie diese frühen Impulse in eine Fülle von Aktivitäten gegen die »verhasste Republik« von Weimar einmündeten. Bei Boehms Engagement in diversen Betätigungsfeldern, zum Teil in enger Verbindung vor allem mit Arthur Moeller van den Bruck, so zum Beispiel im Berliner »Politischen Kolleg« und dann ab 1926 im dortigen Institut für Grenz- und Auslandsdeutschtum in der Deutschen Hochschule für Politik spielten die von ihm begründete »Volkstheorie« und seine politikwissenschaftliche »Nationalitätenkunde« eine zentrale Rolle. Durch seine Lehrtätigkeit und durch viele Schriften vermittelte er, so belegt Prehn ausführlich, dem »jungkonservativen« Spektrum und der »volksdeutschen Bewegung« der 1920er-Jahre zentrale Impulse, die Entstehung einer »Volksgemeinschaft« vehement voranzutreiben und zugleich die Etablierung einer neuen europäischen »Völkerordnung« anzustreben. Dem liberalistischen Fortschrittsglauben in der modernen Massenzivilisationsgesellschaft setzte er die organisch gegliederte, biologisch-rassentheoretisch begründete »Volkspersönlichkeit« gegenüber, die anstelle des bisherigen Staatssystems die Zukunft des Reiches gestalten sollte. Mit solchen Ideengebäuden konnte er dann im »3. Reich«, von 1933 bis 1945 als

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Professor für »Volkstumssoziologie und Volkstheorie« an der Universität Jena tätig, zu einem der gefragten Experten für die wissenschaftlich-politische Begründung der Kernmaximen des NS-Regimes aufsteigen. Nach Kriegsbeginn konzentrierte er sich dann – in enger Beziehung zu dem für die deutsche Militärverwaltung in Frankreich zuständigen Werner Best – auf eine »Westarbeit«, bei der es u. a. um Pläne ging, bei einer »völkischen Neuordnung Europas« Nordfrankreich in das Deutsche Reich einzugliedern. Vermittelt wurde dieser Kontakt übrigens von dem Hamburger Mäzen Alfred Toepfer, von dem Boehm bereits seit Mitte der 1930er-Jahre unterstützt worden war. Nach Kriegsende wurde Boehm im Zuge der Auflösung des Jenaer Seminars für Volkstheorie und Grenzlandpolitik entlassen und zog Anfang 1946 in die britische Zone. Er ging zunächst nach Ratzeburg und dann nach Lüneburg, wo sich die Geschäftsstelle des »Notverbandes amtsverdrängter Hochschullehrer und Wissenschaftler« befand und Boehm 1951 eine »Ostakademie« gründete, die sich der Erforschung der Flüchtlingsproblematik, des ostdeutschen Volkstums und der deutschen Kulturleistungen in Ostmitteleuropa zu widmen begann. Seine Aktivitäten wurden übrigens damals vom Bundespräsidenten Heuss unterstützt, den er seit den 1920er-Jahren als ehemaligen Kollegen an der Deutschen Hochschule für Politik kannte. Prehns Analyse von Boehms Aktivitäten und Publikationen in der Nachkriegszeit läuft darauf hinaus, dass die neuen Herausforderungen letztlich nicht zu umfassenderen Neuorientierungen geführt hätten, sondern Boehm als »Rechtsintellektueller« eher nur »leichte, oberflächliche Transformationen ›alter‹ Entwürfe aus den 1920/1930er Jahren« vollzogen habe. Allerdings habe es auch bei seinen engagierten Versuchen seit den 1950er-Jahren, im Hinblick auf die ehemalige Deutschtumsbewegung eine »Ehrenrettung« und eine Fortsetzung ihrer »Denkfiguren« zu erreichen, letztlich bei ihm ebenso wie in seinen Netzwerken an einem »radikalen ›Tat‹-Willen« wie in der Zwischenkriegszeit gefehlt (S. 473). Sein Ziel, mittels der »biographischen ›Sonde‹« Boehm rechtsintellektuelle Schnittstellen und Kopplungen von Wissenschaft und Politik in den ersten sechs Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu analysieren, hat Prehn mit seiner höchst detailreichen, immer wieder von längeren Originalzitaten und einem immens umfangreichen Anmerkungsapparat angereicherten Studie eindrucksvoll erreicht. Ein über siebzig Seiten langes Quellen- und Literaturverzeichnis und zusätzlich noch »biographische Skizzen« zu siebzehn Personen aus dem Netzwerk Boehms, darunter zum Beispiel Hans Freyer, Eugen Lemberg, Erich Rothacker und Reinhard Wittram, runden das Opus ab.

Jürgen Reulecke

Kinder und Enkel der NS-Verfolgten im Umgang mit ihrer Familiengeschichte

Markus Zöchmeister : Vom Leben danach. Eine transgenerationelle Studie über die Shoah, Gießen: Psychosozial-Verlag 2013, 532 S., ISBN I978 – 3 – 8379 – 2281 – 3, 49,90 E Der Verfasser, Psychoanalytiker mit eigener Praxis und zugleich Dozent an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien, legt mit diesem umfangreichen Werk die Ergebnisse eines langjährigen Forschungsprojekts vor, bei dem es darum ging, anhand einer großen Zahl von Interviews mit Personen dreier Generationen aus acht österreichischen Familien mit Überlebenden der Shoah der Frage nachzugehen, welche »Erzählungen über die familiäre Vergangenheit aus dem Konzentrationslager … an die nachfolgenden Generationen weitergegeben und welche… zurückgehalten (wurden) und warum.« (S. 29) Aus einem größeren Spektrum hat Zöchmeister acht Familien ausgesucht, in denen die Angehörigen der ersten Generation infolge ihrer jüdischen Herkunft oder einer politischen Widerstandstätigkeit Opfer des NS-Regimes waren, aber überlebt haben. Nach einer ausführlichen Einleitung und anschließend einem ebenfalls ausführlichen Kapitel zur Methode seines Vorgehens folgen dann acht Kapitel, in denen er jeweils mit vielen eingefügten Zitaten und Erläuterungen in eindrucksvoller Weise Vertreter/Vertreterinnen der Eltern-, der Kinder- und der Enkelgeneration zu Wort kommen lässt. Ein abschließendes Kapitel liefert mit Blick auf die generationell unterschiedlichen Formen, Inhalte und Umgehensweisen mit der jeweiligen Familiengeschichte eine zusammenfassende Analyse der Interviews und vorgelegten Texte. Zwar stehen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung Zöchmeisters mit dem Thema die Arten des nachträglichen Umgehens konkret Betroffener mit ihren extremen Erfahrungen vor allem in Konzentrationslagern sowie die Frage nach deren Weitergabe an Angehörige ihrer Kinder- und Enkelgeneration, doch regen seine beeindruckenden, auf die Shoah bezogenen Ergebnisse dazu an, die gestellte Frage und seine konkreten Analyseergebnisse in einen erheblich weiteren psychohistorischen Zusammenhang zu stellen und in die seit einigen Jahren

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Jürgen Reulecke

breit geführte Debatte um die gesamte generationengeschichtliche Problematik des rückblickenden Umgehens mit der NS-Zeit einzubringen. Hier kann es jetzt nur darum gehen, einige Aspekte aus dem immens breiten Spektrum in dieser Richtung zu erwähnen. Im Hinblick auf die erste Generation und deren Betroffenheit als Opfer einerseits, aber auch als Mitläufer und als Täter gibt es das Phänomen der massiven Verdrängung der zum Teil traumatischen Erfahrungen und deren Verschweigen gegenüber den Kindern – aus unterschiedlichen Gründen, versteht sich, aber mit der Folge, dass die Angehörigen der Kindergeneration (heute vierzig bis sechzig Jahre alt) im Hinblick auf ihre Eltern hier eine, was die Kommunikation darüber angeht, »verbotene Zone«, d. h. ein bewusstes Verschweigen erlebt haben, welches bei diesen manchmal zu konkreten Phantasien mit zum Teil »schrecklicher Nachträglichkeit« geführt habe (S. 502 f.). Ihr lediglich »unbewusstes Wissen«, bzw. die Unfähigkeit beider Seiten, »Unbeschreibliches zu sagen«, habe, so Zöchmeister, sich oft über die »Alltagserfahrung« gelegt und dann aus »dem Unscheinbaren etwas Unheimliches« in der Beziehung zwischen den Eltern und Kindern werden lassen (S. 507). Von der älteren Generation aufbewahrte Gegenstände und Dokumente seien in diesem Kontext für Angehörige der Kindergeneration z. B. oft zu »Symbolobjekten« geworden, die für diese dann als materielle historische Relikte eine Rekonstruktion der Geschichte der Eltern ermöglicht hätten: Eine solche Rekonstruktion sei wie eine Deutung, die als ein kreatives Bearbeiten der familiären Vergangenheit dazu beigetragen habe, sich in die »elterliche Überlebensgeschichte einzuordnen und sich somit davon ein Stück zu lösen« (S. 519). Den Angehörigen der Enkelgeneration (nun ca. dreißig bis vierzig Jahre alt) hat Zöchmeister bestätigt, dass sie – anders als ihre Eltern – früh in der Schule und durch die Medien, beginnend mit dem 1978 uraufgeführten Film »Holocaust«, die inzwischen breit diskutierte gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und dessen Verbrechen kennen gelernt hätten und deshalb im Gegensatz zu ihren Eltern ermutigt worden seien, mit ihren Großeltern mit deutlich weniger Ängsten und Hemmungen über deren Lebenserfahrungen mit dem NS-Regime zu sprechen. Zudem seien die Großeltern nun in einer Lebensphase angekommen, »in der der Mensch im Alter Rückschau hält«, und deshalb – »aus der unmittelbaren Gegenwart des Lebens gerückt« (S. 522) – eher bereit gewesen, das Interesse der Enkel an ihrer Geschichte zu befriedigen, da diese dritte Generation nicht mehr wie deren Eltern »den traumatischen Alp der Familiengeschichte in sich« getragen habe. Neben der Erzählbereitschaft der Großeltern angesichts der unbedarfteren Fragen ihrer Enkel habe sich, so Zöchmeister, zudem inzwischen auch »eine signifikante zeitliche und generationelle Distanz zur traumatische Historie« entwickelt, die das Sprechen erleichtere.

Kinder und Enkel der NS-Verfolgten im Umgang mit ihrer Familiengeschichte

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Wie bereits gesagt: Die hier jetzt nur auszugsweise zitierten Ergebnisse der umfangreichen Studie Zöchmeisters über die Arten und Weisen der transgenerationellen Verarbeitung der Shoah motivieren nachdrücklich dazu, mit ähnlichen Fragestellungen, aber selbstverständlich mit dem Wissen über die völlig anderen Erfahrungswelten der nicht von der NS-Vernichtungsstrategie betroffenen Zeitgenossen, generationenübergreifend die auf das NS-Regime bezogenen Verarbeitungen der um 1920, um 1950 und um 1980 geborenen drei Altersgruppen zu analysieren. Die hier besprochene Publikation motiviert nachdrücklich dazu.

Paul Ciupke

Rückblicke auf Initiativen der Friedenspädagogik

Till Kössler, Alexander J. Schwitanski (Hg.): Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert, Essen: Klartext Verlag 2014, 288 S., ISBN: 978 – 3 – 8375 – 0946 – 5, 19,95 E Die Friedenspädagogik war einmal ein bedeutenderes Thema, vor allem in den 1970er- und 1980er- Jahren. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation hat sich das Interesse allmählich verloren – vielleicht, weil man hierzulande nicht mehr mit bewaffneten Konflikten in Europa rechnete, obwohl es unter anderem die Kriege in den postjugoslawischen Gebieten gab. Aktuelle Umfragen ergeben auch, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung grundsätzlich skeptisch gegenüber bewaffneten Einsätzen im Ausland reagiert. Dass die Anliegen einer Friedenserziehung in der politischen Öffentlichkeit und den politischen Institutionen der Bundesrepublik vor 1989 auch ganz anders bewertet werden konnten, zeigt aber das Beispiel des früheren Vereins für Friedenspädagogik in Tübingen (heute integriert in die Berghof-Stiftung), dem 1984 durch die dortige Oberfinanzdirektion – offenbar politisch motiviert – für mehrere Jahre die Gemeinnützigkeit entzogen wurde, weil ihm vorgeworfen wurde, in Fragen des Friedens nicht »neutral« zu agieren, sondern »einseitig« Partei zu nehmen für Kriegsdienstverweigerung und gegen die Bundeswehr. Dies erwähnt Uli Jäger in seiner Zusammenfassung der friedenspädagogischen Aktivitäten für den Zeitraum 1945 bis 1989. Jäger identifiziert zwei Phasen: eine eher unpolitisch-individualistische Richtung nach dem Zweiten Weltkrieg und eine kritische Periode nach den Impulsen der Protestbewegung 1968 und den Neuen sozialen Bewegungen. Eine wichtige impulsgebende Rolle spielte dabei natürlich auch die inzwischen institutionalisierte Friedens- und Konfliktforschung. Frieden war immer auch, das zeigt dieser durchaus materialreiche Sammelband mit seinen 16 Beiträgen, eine Angelegenheit der Jugend. Gewerkschaftliche, sozialistische, kirchliche und andere Jugendverbände und ihre Jugendbildungseinrichtungen haben seit den 1950er-Jahren in verschiedenster Weise auf

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internationale Verständigung und Friedenssicherung hingearbeitet: unter anderem mit Jugendreisen, Workcamps und Zeltlagern. Der Band bietet einige Einblicke in diese Aktivitäten, dennoch muss daraufhin gewiesen werden (und das wissen die beiden Herausgeber ebenfalls), dass viele Institutionen, Sektoren und Initiativen, auch weil dazu teilweise keine relevanten Forschungen vorliegen, hier unberücksichtigt bleiben. So fehlen nahezu gänzlich die Institutionen und Angebote der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Till Kössler skizziert in seinem Einleitungsbeitrag verschiedene Forschungsperspektiven und Zugänge zu einer Geschichte der Friedenserziehung. Er plädiert dabei für einen Abschied von der Untersuchung normativ konstruierter Modelle der Friedenserziehung und für verschiedene Weiterungen des historischen Blicks. Neben neuen ideengeschichtlichen Zugängen schlägt er auch wissenschaftshistorische, psychologische, gesellschaftsgeschichtliche und kulturgeschichtliche Herangehensweisen und globale Betrachtungen vor. Auch fordert er – zu Recht natürlich – ein, die Programmatiken mit der Praxis abzugleichen und plädiert schließlich dafür »Aufwachsen und Erziehung als wichtige Themen für eine Gesellschaftsgeschichte von Krieg und Frieden fruchtbar zu machen.« (S. 34) Schwierig bleibt die Frage der Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes, zeigt sich doch bei vielen Beiträgen des Bandes, dass es oft keine reine Friedenserziehung gibt, sondern Erziehung zu Aggression oder zur teilweisen Gleichgültigkeit gegenüber Gewalt mit friedenspolitischen Zielen und entsprechenden pädagogischen Programmen einhergehen kann. Besonders krass widersprüchlich war die offizielle Friedenserziehung in der DDR angelegt, wo die Wehrerziehung Teil der Friedenspropaganda war, wie man der Untersuchung von Andreas Tietze und Nicole Vogel entnehmen kann. Eine Aufwertung bildungsgeschichtlicher Forschungen ist zweifelsohne wünschenswert, stellt doch das System von Bildung und Erziehung einen der gewichtigsten Handlungsbereiche moderner Gesellschaften dar. Dennoch fragt man sich, wie ein solch breites von Kössler vorgeschlagenes Untersuchungsprogramm funktionieren kann, wenn man die Eigenlogik des Pädagogischen nicht sozialhistorisch überschreiben will. Frieden und die Wege dahin waren bereits ein Thema der Jugend nach der »Urkatastrophe« des Ersten Weltkriegs. Wolfgang Keim erinnert in seinem leider recht knappen Beitrag zum »Friedensengagement in der Reformpädagogik« unter anderem auch an Wilhelm Lamszus, der bereits vor dem großen Krieg in seinem Roman »Das Menschenschlachthaus« die industriellen Formen des modernen Krieges voraussah. Reinhold Lütgemeier-Davin untersucht das bekannt wechselvolle und ambivalente Verhältnis zum Frieden in der bürgerlichen Jugendbewegung. Als wichtiger und problematisch beispielhafter Protagonist dient ihm hier Knud Ahlborn, der als führende Figur des Freideutschtums und Leiter des Freideutschen Jugendlagers Klappholttal in den Jahren 1920 bis in die

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Nazizeit recht konträre politische Parteinahmen vollzog, von der USPD bis hin zur Mitgliedschaft in der SA, und von Lütgemeier-Davin deshalb als »besonders politisch rückgratlos« charakterisiert wird. Er merkt außerdem kritisch an, dass die Jugendbewegung keine dezidierten friedenspädagogischen Konzepte entwickelte, sondern gewissermaßen naiv davon ausging, dass der ihr eigene Ansatz humaner Entwicklung die Friedfertigkeit gleichsam mit einschließen würde. Arndt Weinrich untersucht die Erinnerungskonstruktionen an den Ersten Weltkrieg am Beispiel zweier republikanischer Jugendbünde, des sozialdemokratischen Jungbanners und des Katholischen Jungmännerverband Deutschlands. Obwohl beide Organisationen nach dem Kriege sich zu den Werten der Friedfertigkeit und des Friedens eindeutig bekannten und den Krieg als große Katastrophe ansahen, ergaben sich im Zuge der sich in der Weimarer Republik erst allmählich herausgebildeten Sinndeutungen, die auf eine Heroisierung und einen Opfermythos zielten, immer mehr Schnittmengen mit diesen Erinnerungsmustern, so dass »die soldatischen Werte als anschlussfähiges Element für den Wehrmachts- und Soldatenkult« (S. 140) des Nationalsozialismus auch in diesen Gruppierungen wirkungsfähig wurden. Die Ambivalenzen sozialistischer Friedenserziehung werden im Beitrag von Alexander Schwitanski offenkundig, der die Kinderrepubliken der Kinderfreundebewegung vor dem Zweiten Weltkrieg und die internationalen Zeltlager der Falken nach dem Kriege miteinander vergleicht. Dabei wird unter anderem sichtbar, dass im sozialistischen Milieu persönliche Haltungen zwar auch als bedeutsam eingeschätzt wurden, stärker aber die gesellschaftlichen Ursachen, das heißt letztlich die kapitalistische Wirtschaftsordnung, für Kriege verantwortlich gemacht wurden und insofern Gegengewalt auch als ultima ratio legitimiert wurde. Der Einübung internationaler Verständigung dienten auch die Workcamps der verschiedenen Jugendgemeinschaftsdienste, die nach dem Zweiten Krieg entstanden. Als Arbeitslager wurden ähnliche Formate bereits in der Weimarer Republik in der Jugendbewegung praktiziert. Christine G. Krüger beschreibt in ihrem lesenswerten Beitrag die westdeutschen Entwicklungen des Selbstverständnisses und der Arbeitsformen von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre. Ähnlich gerichtete Initiativen stellten die vielfältigen Jugendreisen und internationalen Begegnungen nach 1945 dar, die Sonja Levsen unter besonderer Berücksichtigung des deutsch-französischen Austausches untersucht. Nicht alle 16 Beiträge des Bandes können hier im Einzelnen vorgestellt werden. Bevorzugt wurden solche erwähnt, die einen Bezug zur Jugend und Jugendbewegung im 20. Jahrhundert aufweisen. Der Band bietet lesenswerte Beiträge und interessante Einblicke, gleichwohl ist hier nur ein Anfang gemacht. Insbesondere die Probleme der Abgrenzung des Gegenstandes und seiner his-

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toriografischen Konstruktion müssen weiter diskutiert werden. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie das pädagogische Handeln und seine Wirkungen sowie die Entwicklung von Standards und Professionalität stärker in Forschung und Darstellung berücksichtigt werden können. Diese Dimensionen fehlen nämlich in den meisten Beiträgen.

Aus der Arbeit des Archivs

Susanne Rappe-Weber

Tätigkeitsbericht für das Jahr 2013

Das Jahr 2013 stand auf der Burg Ludwigstein und damit auch im Archiv der deutschen Jugendbewegung im Zeichen der 100-Jahrfeier des Ersten Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913. Das AdJb beteiligte sich als Hauptleihgeber an einer großen Publikumsausstellung »Aufbruch der Jugend« im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Viele Anfragen von Journalisten, Veranstaltern und anderen Kulturakteuren zum historischen Ereignis und seiner Folgegeschichte zogen Recherchen oder Archivaufenthalte nach sich. In Zusammenarbeit zwischen Archiv, Stiftung Jugendburg und Jugendbildungsstätte wurde ein zweiwöchiges Vortrags-und Veranstaltungsprogramm durchgeführt. Daher lag der Arbeitsschwerpunkt das ganze Jahr über bei der Öffentlichkeitsarbeit, Anfragenbearbeitung und Besucherbetreuung. Insgesamt ging die Arbeitsdichte weit über das in den Vorjahren übliche hinaus.

Archivstatistik 2013 Schriftliche Auskünfte

2007 159

2008 160

2009 136

2010 161

2011 178

2012 259

2013 315

Benutzer Benutzertage

362 464

350 684

196 242

177 282

128 695

220 294

113 228

Besucher Besuchergruppen

694 37

781 21

828 16

778 14

885 19

906 23

863 22

Seminargruppen Seminarteilnehmer

8 162

8 98

3 25

7 101

8 160

5 115

9 137

191

532

337

603

Fotoaufträge

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Susanne Rappe-Weber

Personal Die Stellen der Archivleiterin Dr. S. Rappe-Weber, der Archivarin E. Hack und der Fachangestellten B. Richter waren das ganze Jahr über besetzt. Am 1. September kam als erste Bundesfreiwillige des Archivs T. Geißler aus Lindewerra dazu, die vor allem beim Ausheben und Reponieren von Akten half und darüber hinaus mit Ordnungsarbeiten betraut wurde. Die für das DFG-Projekt »Fotodigitalisierung« eingestellte Fachangestellte J. Voss sorgte für die Einzel-Erschließung der Fotos. Bis Mai 2013 entwickelte die Kunsthistorikerin und Projektmanagerin A. Jackes den Workflow zur Digitalisierung.

Zugänge Insgesamt wurden 2013 59 Zugänge registriert, darunter viele Bücher und Zeitschriften, etwa aus dem Nachlass von Diethart Kerbs. Größere Zugänge mit Archivgut waren: die Sammlung »Jungdeutscher Orden« von Jürgen Reulecke (A 229), Nachlass und Sammlung zum Deutschen Pfadfinderbund (DPV) HansDieter Wittke (N 157), das Archiv des Bundes deutscher Jungenschaften im Nachlass von Achim Reis (N 163), der Nachlass des Komponisten Werner Gneist (N 171), der Nachlass des Komponisten Max Drischner (N 165), der Nachlass des Germanisten Paul Böckmann (N 164) sowie Ergänzungen zum Künstler-Nachlass Karl Wilhelm Diefenbach (N 188).

Ausstellung Mehrere Arbeitstreffen mit Mitarbeitern des Germanischen Nationalmuseums, Recherchen für die mehr als 180 Objekte aus dem AdJb, Rechteklärungen, Katalogbeiträge und diverse Hilfestellungen bei Konzeptions- und Organisationsfragen für die GNM-Ausstellung »Aufbruch der Jugend« haben alle Mitarbeiterinnen intensiv beschäftigt. Mit der pünktlichen Auslieferung des Kataloges und der Ausstellungseröffnung wurde diese arbeitsintensive Zeit erfolgreich abgeschlossen. Im Archiv selbst wurde die Ausstellung »‹Auf rauher Bahn zu den Sternen hinan‹. Einblicke in den Nachlass des Künstlers und Lebensreformers Karl Wilhelm Diefenbach (1851 – 1913)« am 05.04. eröffnet, die federführend E. Hack erarbeitet hat. Sie zeigte mit acht biographischen Tafeln, fünf Vitrinen, drei größeren Ölgemälden und einem »Diefenbach-Lampenschirm« als kunsthandwerklichem Objekt, wie Diefenbachs Leben verlaufen ist, wie er gearbeitet

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hat, welche Themen er verfolgte und worin die Wirkung seines Lebenswerks besteht.

Beteiligung an fremden Ausstellungen 1. Als Wandervögel ziehen wir durch die Welt. Ausstellung im Haus der Natur, Brandenburg (12.06.–18. 09. 2013) 2. Glut ist Geist. Jugendbewegung auf der Leuchtenburg, Museum Leuchtenburg (Kahla) (19. 09. 2013 – 14. 03. 2014) 3. 1913 – Bilder vor der Apokalypse, Franz-Marc-Museum Kochel, ab Oktober 2013 4. Bernhard Lichtenberg, Diözesanarchiv Berlin (ab 05. 11. 2013)

Archivführungen, Seminare Archivführungen für Beräunertreffen, Alfred-Schmid-Stiftung, Seminar der Universität Bielefeld, Gesellschaft zur Pflege der Volksmusik, DPSG-Gruppe, Stiftung Pfadfinden, Werratalverein, Alte Herren einer Burschenschaft, Familientreffen Ahlborn, div. Besuchergruppen, Betriebsausflug des Staatsarchivs Marburg.

Erschließung E. Hack hat die Aktenverzeichnung auf allen Ebenen weitergeführt und parallel dazu die Magazinordnung nach Numerus currens überarbeitet. Zurzeit ist das AdJb mit rund 73 000 Verzeichnungseinheiten in HADIS vertreten. Im zurückliegenden Jahr sind rund 18 300 VZE eingegeben worden, überwiegend Neuverzeichnungen insbesondere aus dem Foto-Projekt. Am 20. März wurde in Saalfeld das Erschließungsprojekt »Freie Schulgemeinde Wickersdorf« feierlich mit einem Vortrag von Prof. Dr. Dudek abgeschlossen. B. Richter ist für die laufende Einarbeitung von Büchern und Zeitschriften zuständig. Zudem hat sie die sukzessive Erschließung des Zentralarchivs der Pfadfinderbewegung (ZAP) übernommen.

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Magazin Ende September wurde das 70 qm große Magazin des Enno-Narten-Baus mit einer Rollregalanlage ausgestattet. Damit stehen jetzt fast 700 zusätzliche Regalmeter zur Verfügung. Eine Besonderheit stellt ein Regal dar, das auf einer Länge von fast 10 Metern und einer Tiefe von 1,60 m 144 Fächer für großformatige gerahmte Bilder beinhaltet. Die Kosten betrugen insgesamt knapp 18 000 Euro.

Praktikant/innen, Werkverträge, Abschlussarbeiten – Praktikantin Kristin Witte: Plakatsammlung und Aktenbestand Deutsche Waldjugend (03. 12. 2012 – 25. 01. 2013) – Praktikant Manuel Hermes: Nachlass Friedrich Wilhelm Fulda (01.–28.03.) – Praktikantin Nathalie Madaracz: Mitwirkung im DFG-Projekt (19.03.–18.04.) – Praktikantin Leonie Tinnefeld: Personengeschichtliche Sammlungen (08.07. –16.08.) – Praktikantin Charlotte Neufeldt: Teilnachlass Emil Leibold (02.09.–04.10.) – Drittmittel-Werkvertrag Carsten Deiters: Fotodigitalisierung im DFG-Projekt – Werkvertrag Christiane Schröder : Redaktion des Jahrbuchs – Ehrenamtliche Katrin Armbrust: Fotografie der Plakatsammlung im Umfang von 150 Aufnahmen

Tagungen, Lehrgänge, Übungen, Präsentation – Meißnerwochen mit Vorträgen, Besuchergruppen, Ausstellungen und Abendveranstaltungen in der Burg (26.09.–12.10.) – Festveranstaltung des »Vereins Archiv der Jugendmusikbewegung« (03.10.) – Archivtagung: »Sammeln – erschließen – vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv« (24.–26.10.)

Archivseminare – – – –

Archivseminar der Universität Marburg, Prof. Sieg (25.01.) Nachwuchsworkshop, R. Ahrens und M. Lorentzen (05.–07.04.) Archivseminar der Universität Frankfurt, Dr. Wittmeier (28.06.) Archivwerkstatt »NS-Zeit auf der Burg Ludwigstein«, Jugendbildungsstätte Ludwigstein (06.–08.09.)

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– Archivwerkstatt Hermann-Lietz-Schule Haubinda (24.–25.09.) – Archivtag der Friedrich-Wilhelm-Schule Eschwege (02.10.) – Archivseminar der Universität Dortmund, Fachbereich Erziehungswissenschaften, Fr. Hübscher (22.11.) – Archivseminar der Universität Kassel, FB Ökologische Agrarkultur, Dr. Rappe-Weber (29.–30.11.)

Medienberichte Allgemein – Freie Schulgemeinde Wickersdorf: Ein Archivbestand von nationaler Bedeutung; Online-Information auf URL: http://www.kreis-slf.de [27. 03. 2013] – Einklang von Mensch und Natur. Ausstellung über den Lebensreformer und Künstler Karl Wilhelm Diefenbach; HNA Witzenhausen (30.04.13) – Beitrag »Jugendbewegung« mit Archiv-Interview, 3sat-Kulturzeit (09.10.13) – Barbara Stambolis: Mädchen und Knaben miteinander. Erster Freideutscher Jugendtag, einestages. Zeitgeschichten auf Spiegel-Online, URL: http:// www.spiegel.de/einestages [10.10.13] Ludwigsteiner Blätter – Meißner 2013 – Stand der Vorbereitungen; Neue Aspekte der Pfadfindergerschichte; Jule Groß im 21. Jahrhundert; 1920: Wandervögel kaufen die halb verfallene Burg Ludwigstein (Heft 258) – Die Inflation 1923 auf dem Ludwigstein; Hakenkreuzfahnen im Burghof; Alltag unterm Hakenkreuz (Heft 259) – Bundeshauptstadt Hohenmeißner, 1953 – Ludwigstein ist wieder »Grenzburg«; Meißnerformel 1963 – Bekenntnis zur Demokratie; Jugendkultur und Soziale Bewegung –Einladung zur Archivtagung (Heft 260)

Veröffentlichungen und Vorträge S. Rappe-Weber – Zeitgeschichtliche Serie in der Hessisch-Niedersächsisch Allgemeinen Zeitung, Lokalredaktionen Witzenhausen, Eschwege, Hann. Münden gemeinsam mit Nicole Demmer : Als der Meißner »hoch« wurde (10.01.13); »Es gilt jetzt eine Tat zu tun« (22.02.13); Brief für 10 Milliarden. Die Inflation 1923 auf der Jugendburg (28.03.13); Hakenkreuzfahnen im Burghof (22.04.13); Alltag unterm Hakenkreuz (05.05.13); Bundeshauptstadt Hohenmeißner (12.07.13); Die deutsche Teilung stets vor Augen (17.08.13); Ein Bekenntnis zur Demo-

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kratie. Zum 50. Jahrestag des Meißnertreffens setzen sich die jungen Bünde von den Alten ab (19.09.13) Kranich, Lilie, Rune und Kreuz. Gestaltung und Gebrauch der Fahnen in der Jugendbewegung, in: G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung Verführung, Nürnberg 2013, S. 73 – 81 Katalognummern: Fahne des Wandervogel e. V. Lübeck, Nr. 15; Umhang und Zeltzubehör von Hugo Elias »Burkhart« Schomburg, Nr. 17, Fotoalbum von Hans Blüher, Nr. 22, Fotoalbum des Wandervogel Nürnberg, Nr. 23, Pfadfinderbuch für junge Mädchen, Nr. 38; Fotos zum Freideutschen Jugendtag 1913, Nr. 59; Fahne eines vegetarischen Bundes, Nr. 65; Pfadfinder-Kriegsabzeichen mit Eisernem Kreuz, Nr. 80; Postkarte »Gedenkraum der gefallenen Wandervögel«, Nr. 86; Fahne des Alt-Wandervogel, Ortsgruppe BerlinSteglitz, Nr. 90; Fahne einer Wandervogelgruppe, Nr. 91; Fahne des Bayerischen Wandervogel, Nr. 92; Fahne des Wandervogel e. V., Berlin-West, Nr. 93; Wimpel der »Adler und Falken«, Horst Weißensee, Nr. 96; Wimpel der Deutschen Freischar, Nr. 97; Wimpel der Gruppe Rixdorf, Sippe Teja, Deutsche Freischar, Nr. 98; Fahne der Hansischen Jungenschaft, Nr. 99; Fahne der Pfadfinder-Langemarck Mittelelbe, Magdeburg, Nr. 100; Sturmbanner der Pfadfinder, Nr. 101; Fahne des Jungkreuzbundes, Nr. 105; Fahne des Bundes Deutscher Bibelkreise, Nr. 106; Aus dem Leben einer Neupfadfindergruppe, Nr. 124; Wandervogel e. V. Gau Nordmark Hamburg Gruppe Sesambrüder oder Sesamhorde, Nr. 125; Entwürfe für Burg Ludwigstein, Nr. 143; Entwürfe für Wetterfahnen, Nr. 144; Fotoalbum mit Aufnahmen von Jugendherbergen, Nr. 147; Burginnenhof, Nr. 148; Postkarten von der Jugendburg Ludwigstein, Nr. 149; Postkarte »Jugendburg Ludwigstein« – Abend am Kamin, Nr. 150; Wimpel der Jungdeutschen Jugend, Berlin, Nr. 176; Wimpel der Artamanen, Nr. 181; Privates von Horst Schenk-Mischke, Nr. 187; Italienfahrt, Nr. 258; Autografenmappe für Hugo Elias »Burkhart« Schomburg, Nr. 269; Wimpel des Kronacher Bundes, Ortsgruppe Weimar, Nr. 273; in: G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Nürnberg 2013, S. 229, 232, 238 – 239, 247, 250, 256, 258, 260 – 263, 265, 272 – 273, 278 – 280, 294, 296, 299 – 300, 332 – 333, 336 Ereignis, Erinnerung, Neubestimmung. Der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner 1913, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 2013, Jg. 117/118, S. 197 – 204 Hoher Meißner 1913 – Der freideutsche Jugendtag als Fest für den Aufbruch der Jugend, in: Hessische Heimat, 2013, 63. Jg., Heft 2, S. 3 – 7 Tagungsbericht Sammeln – erschließen – vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv. 25. 10. 2013 – 26. 10. 2013, Witzenhausen, in: H-Soz-u-

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Kult, 21. 12. 2013, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5154> 100 Jahre Freideutscher Jugendtag; Vortrag beim Geschichtsverein Witzenhausen (12.03.) »Jugend erzieht sich selbst« – Nachhaltige Jugendbildung am historischen Ort; Vortrag bei der Archivpädagogischen Konferenz, Bielefeld (26.04.) Mittendrin, auch dabei oder nur am Rande – Die 100. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages 1913 als Herausforderung, Hessischer Archivtag (05.06.) 100 Jahre Freideutscher Jugendtag, Vorlesungsreihe der Universität Kassel (04.11.)

E. Hack – Katalognummern: Gerahmtes Lautenband, Nr. 31; Zunftbuch der Ortsgruppe Berlin-Lichterfelde im Alt-Wandervogel, Nr. 75; »Thing- und Denkmalbuch« der Ortsgruppe Erfurt im Wandervogel Deutscher Bund, Nr. 76; »Tippelbuch« von Trude »Maruschka« Marschke, Nr. 77; Bericht der Lettlandfahrt einer Freilingsgruppe, Nr. 110; Fahrtenbuch einer Großfahrt, Nr. 112; Fotoalbum des Wandervogel, Ortsgruppe Coburg, Nr. 131; Fotoalbum der BdM Jungmädel-Gruppe »Nibelungen«, Jungmädelschaft »Caub«, Nr. 234; Fahrtenbuch für Günter Platz, Nr. 243; in: G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Nürnberg 2013, S. 235, 254, 267 – 268, 322, 327 S. Rappe-Weber und E. Hack – Katalognummern: Chronik der Wandervogel-Ortsgruppe Halle an der Saale, Nr. 20; Fotoalbum des Steglitzer Wandervogel e. V., Nr. 21 , in: G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Nürnberg 2013, S. 230 – 231

Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2013 und Nachträge

Bacia, Jürgen; Wenzel, Cornelia: Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, Berlin: Archiv der Jugendkulturen 2013 2. Banach, Stefan: Jugend bewegt. Zum Selbstverständnis bündischer Pfadfinder und ihrer Abgrenzung zum rechten Rand, Norderstedt: Books on Demand 2011 3. Braun, Reinhold (Hg.): »Jede Jugend bekommt ihre Aufgaben von ihrer Zeit gestellt«. Kinder- und Jugendringarbeit seit 1947/48 in Leverkusen, Leverkusen: Selbstverlag 2012 4. Clark, Christopher : Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München: DVA 2013 5. Dudek, Peter : »Wir wollen Krieger sein im Heere des Lichts«. Reformpädagogische Landerziehungsheime im hessischen Hochwaldhausen (1912 – 1927), Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013 6. Großmann, G. Ulrich; Selheim, Claudia; Stambolis, Barbara (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Ausstellungskatalog, Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 2013 7. Hesse, Reinhard (Hg.): »Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste«. Die Geschichte von Hilde und Rose Berger, Gießen: Psychosozial 2013 8. Holler, Eckard (Hg.): »Hier gibt es Jungen, die nicht einmal ein eigenes Bett haben«. Tusks KPD 1932 und die jungenschaftliche Linke nach 1945, Berlin: Selbstverlag 2012 9. Holler, Eckard; Schmidt, Fritz; Stibane, Pit (Hg.): 100 Jahre Meißner (1913 – 2013): Kritische Rückblicke auf 100 Jahre Meißner-Formel der Jugendbewegung, Berlin: Selbstverlag 2013 10. Klönne, Arno: Es begann 1913. Jugendbewegung in der deutschen Geschichte, Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 2013 11. Klönne, Arno: Jugendliche Opposition im »Dritten Reich«, Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 2013 1.

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Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2013

12. Kraus, Eva: Das Deutsche Jugendherbergswerk. Programm – Personen – Gleichschaltung, Berlin: Pro Business 2013 13. Kröher, Oskar: Vom Lagerfeuer ins Rampenlicht, Baunach: Spurbuch 2013 14. Müller, Heiko: »Kinder müssen Klassenkämpfer werden!«. Der kommunistische Kinderverband in der Weimarer Republik (1920 – 1933), Marburg 2013 15. Müller, Yves; Zilkenat, Reiner (Hg.): Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmarmee (SA), Frankfurt a. M.: Lang 2013 16. Niemeyer, Christian: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen: Francke 2013 17. Nonn, Christoph: Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert: Düsseldorf: Droste 2013 18. Pieken, Gorch; Rogg, Matthias (Hg.): Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer, Dresden: Sandstein 2011 19. Ring Junger Bünde Hessen (Hg.): Hoher Meißner 2013. 100 Jahre Freideutscher Jugendtag. Festschrift, o.O. 2013 20. Sauer, Walter : Begegnungen und Schicksale. Autobiographische Aufzeichnungen. Beiträge zu Pädagogik, Jugendbewegung, Natur und Kunst, Dietzenbach: Die Graue Edition 2013 21. Schmieding, Leonard; Kenkmann, Alfons (Hg.): Kothe, Kanu, Kino und Kassette. Jugend zwischen Wilhelm II. und Wiedervereinigung, Leipzig: Universitätsverlag 2012 22. Schneider, Barbara: Kontinuitäten und Brüche der deutschen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert am Beispiel des politischen Historikers Erich Maschke, Diss. Jena 2012 23. Sieg, Ulrich: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München: Hanser 2013 24. Stambolis, Barbara: Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema, Weinheim: Beltz Juventa 2013 25. Stambolis, Barbara: Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen: V+R unipress 2013 26. Stibane, Peter ; Prautzsch, Felix (Hg.): Festschrift Meißner 2013. 100 Jahre Freideutscher Jugendtag auf dem Hohen Meißner, Karlsruhe, Dresden: Selbstverlag 2013

Wissenschaftliche Archivnutzung 2013

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.

Rüdiger Ahrens (Freiburg): Jugendbewegung und Nationalismus in der Weimarer Republik Beatrix Amon (Meinhard): Die völkische Siedlung Donnershag bei Sontra Regine Auster (Potsdam): Die Wandervogelbewegung in Brandenburg Detlef Belau (Naumburg): Friedrich Muck Lamberty Renate Benz (Ahrensburg): Zur Biographie des Wandervogels Curt Scholz Knut Bergbauer (Köln): Die jüdische Jugendbewegung in Breslau Carl-Heinz Beune (Borgholzhausen): Hanns Heere Sven Bindczeck (München): Zur Geschichte der Burg Ludwigstein Gideon Botsch (Potsdam): »Nationale Opposition« und »Nationale Jugendbände« in der Bundesrepublik Deutschland Stefan Brauckmann (Hamburg): Jugendbewegung und SA Siegfried Bresler (Bielefeld): Heinrich Vogeler und die Jugendbewegung Paul Ciupke (Recklinghausen): Jugendbewegung und Volkshochschule Anne Cordes (Hildesheim): Jugendbewegte Fahrtenbücher Claudia Dannenmeier, Rainer Geschke (Karlsruhe): 100 Jahre Pfadfinderinnen in Karlsruhe Mariska van Delft (Amsterdam, Niederlande): Die Jugendbewegung und die Regierung (1901 – 1914) Karolin Dörrheide (Koblenz): Menschenbild und Ethik der Meißnerformel Nikolaus Gatter (Köln): Scherenschnitt in der Wandervogelbewegung Eva-K. Hack (Kassel): Die Lebensgemeinschaften am Edersee (1920 – 1990) Antje Harms (Freiburg): Politische Kultur der Jugendbewegung Martina Hartmann-Menz (Elz): Diefenbach und Plesch Ulrich Herrmann (Tübingen): Bündische Jugend und Nationalsozialismus vor 1945 Susanne Heyn (Frankfurt a. M.): Jugend und koloniale Kontinuitäten in der Weimarer Republik Martin Jürgens (Berlin): Gustav Wynekens »Kritik der Kindheit«

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24. Tom‚sˇ Kasper, Dana Kasperova (Liberec, Tschechien): Deutsche Jugendbewegung in der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit (1919 – 1939) 25. Jürgen Körner (Nürnberg): Kroug und Kamlah. Der Könnensbegriff von Kroug 26. Pamela Kort und Cornelia Müller (Berlin): Germany’s Barefoot Prophets and their Aesthetic Legacy (1872 – 1972) 27. Monika Kubietz-Tuercke (Remagen): Erich Kästner im Nationalsozialismus 28. Petra Lange-Berndt (London, Großbritannien): Die Himmelhof-Kommune von Diefenbach 29. Malte Lorenzen (Bielefeld): Literaturkritik in der deutschen Jugendbewegung 30. Andreas Meyer (Stuttgart): Musik beim Meißnertreffen 1913 31. Fabian Müller (Köln): Walter Hensel 32. Yorck-Philipp Müller-Dieckert (Northeim): Der konservative Teil der Umweltbewegung 33. Gabriella Nagy (Otago, Neuseeland): Die Entwicklung der Jugendherbergen 34. Nikolaos Papadogiannis (Potsdam): Jugendtourismus in Griechenland und in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er-, 1970er- und 1980erJahren 35. Dieter Pfau (Siegen): Jugend im Ersten Weltkrieg 36. Stephen Pielhoff (Wuppertal): Jugendmusikbewegung 37. Dagmar Reese (Kleinmachnow): Melita Maschmann 38. Sven Reiß (Fahrenkrug): Jugendbewegte Freundeskreise im NS-System 1933 – 1945 39. Franz Riemer (Wolfenbüttel): Zur Biographie Fritz Jödes 40. Gregor-Maria Röhr-Ehm (Münster): Die Zeitschrift »Der Weiße Ritter« 41. Eike Seidel (Buchholz): dj.1.11 und die Biographie Hans Seidels 42. Matthew Sikarskie (Okemos, Michigan, USA): Jugendbewegung, Jugendkultur – Langeweile und Technologie 43. Michael von Sooden (Büdingen): Franz Stassen – Leben, Werte, Wirkung 44. Elke Szczepaniak (Würzburg): Hilmar Höckner 45. Ina Schmidt (Hamburg): Werner Laß – Freischar Schill – Eidgenossen. Bündische Jugendbewegung und Nationalsozialismus 46. Stephan Schrölkamp (Berlin): Die Biographien von Martin Voelkel, Alexander Lion, Franz Ludwig Habbel und Karl Seidelmann 47. Katharina Schulz (Berlin): Jüdische Pfadfinder in der Zwischenkriegszeit 48. Thede Stamm (Bremen): Das Ideal autonomer Jugendkultur bei Wyneken und Koebel 49. Hagen Stöckmann (Göttingen): Haltung und Charakter. Erziehungsstil und Generationsprägung an deutschen »Elite«-Schulen 1920 – 1960 50. Christian Volkholz (Tübingen): Ein Leben für das »Gesunde und Echte« –

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Knud Ahlborn und die deutsche Jugendbewegung. Jugendidealismus und Ideen sozialer Neuordnung zwischen innerer Freiheit und Volksgemeinschaft 51. Judith Wassiltschenko (Göttingen): Korrespondenz zwischen Lisa Tetzner und Kurt Kläber 52. Stefan Weis (Untermerzbach): Die Wandervogel-Bewegung in Coburg

Anhang

Autorinnen und Autoren

Hartmut Alphei, Jg. 1940, Studiendirektor i. R.; Veröffentlichungen zur Geschichte, reformpädagogischer Schulen und zur Jugendbewegung Jürgen Bacia, Dr., Jg. 1950, Politologe, Mitbegründer und Leiter des Archivs für alternatives Schrifttum in Duisburg; Arbeitsschwerpunkte: Alternativ- und Protestbewegungen in der Bundesrepublik, Vernetzung von Bewegungsarchiven Paul Ciupke, Dr. phil., Jg. 1953, Diplom-Pädagoge, leitende Tätigkeit im Bildungswerk der Humanistischen Union in Essen; Veröffentlichungen zur Bildungs- und Kulturgeschichte sowie zu Fragen außerschulischer politischer Bildung Peter Dudek, Prof. Dr., Jg. 1949, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt a. M., seit 2013 im Ruhestand; Arbeitsschwerpunkte: Historische Bildungs- und Jugendforschung, Wissenschaftsgeschichte Klaus Farin, Jg. 1958, freier Autor und sowie Lehrbeauftragter, Gründer und Leiter des Archivs der Jugendkulturen (Berlin) 1998 – 2011, seit 2011 Vorsitzender der Stiftung Respekt – Die Stiftung zur Förderung von jugendkultureller Vielfalt und Toleranz, Forschung und Bildung Gudrun Fiedler, Dr. phil, Jg. 1956, Archivdirektorin, Leiterin des Niedersächsischen Lanesarchivs – Standort Stade –; Arbeitsgebiete: niedersächsische Landes- und Regionalgeschichte 18.–20. Jh., niedersächsische Wirtschaftsgeschichte, Geschichte der Jugendbewegung Christian Heppner, Dr., Jg. 1964, Historiker und Mitarbeiter am Stadtarchiv Hannover, zuletzt v. a. im Bereich Bestandsergänzung; Arbeitsschwerpunkte als Historiker : Regional- und Stadtgeschichte des 19./20. Jahrhunderts.

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Autorinnen und Autoren

Arno Klönne, Prof. Dr., Jg. 1931, Sozialwissenschaftler, em. Professor der Universität Paderborn; Veröffentlichungen zur Geschichte sozialer Bewegungen, zu Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik und zu geopolitischen Themen Rolf Kohlstedt M. A., Jg. 1958, Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Stadtarchivs Göttingen und Leiter des Stadtarchivs Laatzen Michael Koltan M. A., Jg. 1964, Studium der Philosophie, Geschichte und Musikwissenschaft, Tätigkeit als Softwarearchitekt, seit 1986 ehrenamtliche Mitarbeit im Archiv Soziale Bewegungen e. V. (Freiburg) Simon Leisterer, M. Ed., Jg. 1987, Promovend im Fach Geschichte und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Leipzig; Arbeitsschwerpunkte: Jugendgeschichte des 20. Jahrhunderts und Museologie Susanne Rappe-Weber, Dr., Jg. 1966, Historikerin und Archivarin, seit 2002 Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung; Veröffentlichungen zur niedersächsischen und hessischen Regional- und Landesgeschichte sowie zur Geschichte der Jugendbewegung Cornelia Regin, Dr., Jg. 1959, Historikerin und Archivarin, seit 1998 tätig im Stadtarchiv Hannover ; wissenschaftliche Arbeitsschwerpunkte u. a. historische soziale Bewegungen Jürgen Reulecke, Prof. Dr., Jg. 1940, 2003 – 2007 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Gießen, vorher Universität Siegen; Forschungen und Veröffentlichungen u. a. zur Stadt- und Urbanisierungsgeschichte, zur Geschichte von Sozialpolitik und Sozialreform, zur Jugend- und Generationengeschichte im 20. Jahrhundert Reinhart Schwarz, Dipl. Pol., Jg. 1952, Politologe, seit 1988 Leiter des Archivs im Hamburger Institut für Sozialforschung; Arbeitsschwerpunkte: Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und anderen Ländern Detlef Siegfried, Prof. Dr., Jg. 1958, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Bundesrepublik und Europas nach 1945, Geschichte der Massenkultur, linksradikale Bewegungen im 20. Jahrhundert Alexander Simmeth, M.A., Jg. 1973, Historiker, Promovend an der Universität Hamburg und Lehrbeauftragter an der Europa-Universität Viadrina in Franfurt

Autorinnen und Autoren

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(Oder), Stipendiat der Hans Böckler Stiftung; Arbeitsschwerpunkte: Deutsche und Europäische Geschichte nach 1945, Transfergeschichte, Konsum und Populärkultur Barbara Stambolis, Prof. Dr., Jg. 1952, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Paderborn; Forschungen und Veröffentlichungen u. a. zur Geschichte der Jugendbewegung, Generationengeschichte, Adoleszenz im 20. Jahrhundert, Kriegskindheiten im Zweiten Weltkrieg sowie kollektivbiographische Studien David Templin, Jg. 1983, Historiker an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH); Arbeitsschwerpunkte: Jugendkulturen und soziale Bewegungen Claudia Wagner, Dr., Jg. 1973, Promotion über Karl Wilhelm Diefenbach und Kuratorin der monographischen Ausstellungen in Wien und München, freiberufliche Kuratorin, Autorin und Lektorin für Verlage und Museen Cornelia Wenzel, Jg. 1953, Wissenschaftliche Dokumentarin, Mitgründerin und Archivreferentin der Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung; Arbeitsschwerpunkte: Frauenbewegungsgeschichte, Vernetzung von Bewegungsarchiven