Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen [1 ed.] 9783412512279, 9783412511364


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Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen [1 ed.]
 9783412512279, 9783412511364

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Materialien zur thüringischen Geschichte Im Auftrag der „Historischen Kommission für Thüringen“ herausgegeben von Werner Greiling Band 1

Stefan Gerber · Werner Greiling · Marco Swiniartzki (Hg.)

INDUSTRIALISIERUNG, ­INDUSTRIEKULTUR UND SOZIALE BEWEGUNGEN IN THÜRINGEN

Böhlau Verlag wien köln weimar

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Gera um 1900 (Postkarte. Stadtarchiv Gera, Bildsammlung A3394)

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Lindenstraße 14, D-50674 Köln www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Redaktion und Satz: Dr. Pierre Fütterer (Jena) Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Einbandgestaltung  : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt

ISBN 978-3-412-51227-9

Inhalt 7 Einleitung

1. Regionale Industrialisierungsforschung und Bilanz der thüringischen Entwicklung 15

Reiner Flik

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Hans-Werner Hahn Thüringen im deutschen Industrialisierungsprozess: Forschungsbilanz und Forschungsperspektiven

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Uwe Schirmer Agrarwirtschaft, ländliche Gesellschaft und frühe Industrialisierung. Beobachtungen aus dem mittel- und nordostdeutschen Raum (1770–1830/50)

2.

Rahmenbedingungen und Vergleich



Marko Kreutzmann Zwischen Deutschem Bund und Deutschem Zollverein: Die Zollpolitik in der Region Thüringen im 19. Jahrhundert

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Industrialisierung − Begriff, Voraussetzungen, Forschungskonzepte

Marco Swiniartzki Kapitalismus und Industrialisierung im Textilgewerbe – Tendenzen und Fragen für die Forschung zur mitteldeutschen Geschichte

3. Fallbeispiele, Teilaspekte und die Perspektiven regionaler Industriekultur

Ronny Schwalbe

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Von einer reußischen Stückfärberei zum Global Player. Kommerzienrat Dr. h. c. Georg Hirsch als Fallbeispiel der Industrialisierung in Ostthüringen





Jürgen Schreiber

131 Gebrüder Thiel in Ruhla. Motor der Industrialisierung in

Westthüringen 141

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Werner Greiling Medienproduktion und Medienrealität im Jahrhundert der Industrialisierung Dirk Schaal

Überlegungen zur Beschäftigung mit Industriekultur in Thüringen

179 Ortsregister 181 Personenregister 183 Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

Einleitung

In der historischen Erforschung deutscher Industrieregionen spielte Thüringen bisher keine größere Rolle. Die Konzentration auf schwerindustrielle und großstädtische Ballungsräume sperrte sich lange gegen die regional und gewerblich hochdifferenzierte Wirtschaftslandschaft in den thüringischen Territorien.1 So existieren folgerichtig kaum Studien zum hauptsächlich kleingewerblichen, ländlich geprägten und hausindustriell durchdrungenen Thüringen während des 19. Jahrhunderts.2 Es kam für diese Region außerdem noch erschwerend hinzu, dass die kleinstaatliche Organisation nicht nur Quellenzugänge verkomplizierte, sondern auch der lange vorherrschenden preußenaffinen Forschungskonjunktur diametral entgegenstand. Der in Deutschland gerne nachgegangenen Frage nach dem Verhältnis der Industrialisierung zum entstehenden Staat wurde sich für Thüringen nur selten gewidmet – das Ergebnis schien bereits festzustehen.3 Dennoch bildet Thüringen ein stark unterschätztes Forschungsfeld für die Wirtschaftsgeschichte, in dem gerade die eingeschliffenen Narrative der regionalen oder nationalen Industrialisierungsforschung hinterfragt werden können. So machte Thüringen im 19. Jahrhundert zum Beispiel keinen raschen wirtschaftlichen Sprung „nach vorn“. Das Industrialisierungspotential kam erst langsam 1 Zur regionalen Industrialisierung generell vgl. Sydney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981; vgl. Toni Pierenkemper, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, 2., erw. Aufl., München 2007, S. 100–112; Zur Problematisierung des Regionenbegriffs vgl. Peter Weichart, Die Region – Chimäre, Artefakt oder Strukturprinzip sozialer Systeme?, in: Gerhard Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996, S. 29–38; vgl. exemplarisch für die Forschung zu schwerindustriellen Regionen: Ralf Banken, Die Industrialisierung der Saarregion 1815–1914, Stuttgart 2000. 2 Für einen Forschungsüberblick vgl. den Beitrag von Hans-Werner Hahn in diesem Band. Zuletzt: Falk Burkhardt, Grundzüge ostthüringischer Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, S. 193–213; zum Charakter von regionalen Industrialisierungstypen vgl. Hubert Kiesewetter, Region und Industrie in Europa 1815–1995, Stuttgart 2000, S. 177–196. 3 Vgl. Hans-Werner Hahn, Fortschrittshindernis oder Motor des Wandels? Die thüringische Kleinstaatenwelt im 19. Jahrhundert, in: Vom Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen, hrsg. vom Thüringer Landtag und der Historischen Kommission für Thüringen, Erfurt 1999, S. 69–92.

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Einleitung

und gegen viele Widerstände zur Geltung und entwickelte die Region schrittweise weiter, während stets Bereiche des Gewerbes vorhanden blieben, die noch vorindustriellen Produktionsmethoden anhingen. Die in den thüringischen Kleinstaaten beheimateten Gewerbe können deshalb – auf ihren Übergang in die industrielle Produktionsweise (oder ihr Spannungsverhältnis gegenüber dieser) befragt – für viele kleingewerbliche Regionen Pate stehen, deren weniger spektakuläre, dafür aber stabilere Wirtschaftsstruktur lange verborgen blieb.4 Die Attraktivität der Region als Forschungsgegenstand resultiert dabei besonders aus ihren großen industriellen und sozio-ökonomischen Unterschieden: Neben Schwerpunkten der früh-industriellen Produktionsweise, etwa in der ostthüringischen Textilindustrie und starken Kleinmetallgewerben, verfügte Thüringen über eine traditionsreiche Luxusgüterproduktion (Glas, Porzellan) und über einen bis ins 20. Jahrhundert konstant wichtigen Heimarbeitssektor in Süd- und Westthüringen, der häufig mit industriellen Großunternehmen verflochten war.5 Dieses teilweise im Heimgewerbe organisierte und über Verleger ins kapitalistische Netzwerk eingebundene Kleingewerbe, das sich beispielsweise für Waffenteile, Tabakspfeifen, Rauchwaren, Spielzeug, Körbe und viele andere Waren nachweisen lässt, bildete konstant das Rückgrat der Thüringer Gewerbelandschaft. Erweitert wurde es um die im späten 19. Jahrhundert wachsende Zahl mittelgroßer Unternehmen, die sich teilweise in wenigen Jahren zu Großbetrieben entwickelten – so etwa die Waggonfabrik in Gotha, die Nähmaschinenfabriken in Altenburg oder die Fahrzeugfabrik in Eisenach. Auch die Zeiss-Werke in Jena und die in Ostthüringen konzentrierte Textilindustrie gehörten zu diesem schnell wachsenden Unternehmenskreis, der das Gesicht der thüringischen Industrie nach außen prägte, während sich parallel dazu stets auch kleingewerbliche Strukturen hielten.6 Überschaut man die regionale Gewerbeentwicklung, wird bereits hier deutlich, dass Thüringens Industrialisierungsprozess von einem konstan4 Vgl. Gudrun Braune (Hg.), Vom Leben im Oberland. Alltag in der Region Thüringer Schiefergebirge/Obere Saale, Beiträge des Kolloquiums „Alltagsleben in der Region Thüringer Schiefergebirge/Obere Saale. Wandlungsprozesse auf dem Wege zur Industrialisierung im 19./20. Jahrhundert“ in Leutenberg, Erfurt 2013. 5 Vgl. Thomas Schwämmlein, Verlag und Hausindustrie im Meininger Oberland. Entstehung und sozioökonomische Strukturen – Ein Einstieg, Steinach 2009; vgl. Johann Peter Baum, Die wirtschaftliche Entwickelung des Obereichsfeldes in der Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung der Hausindustrie, Berlin 1903; vgl. Emanuel Sax, Die Hausindustrie in Thüringen, 2 Teile, Jena 1884 und 1885. 6 Vgl. Werner Plumpe (Hg.), Eine Vision – zwei Unternehmen. 125 Jahre Carl-Zeiss-Stiftung, München 2014.

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ten Spannungsverhältnis großer Innovations- und Beharrungskräfte geprägt wurde. Denn einerseits umfasste die Region viele der Führungssektoren der Industrialisierung und partizipierte am fortlaufenden Wirtschaftswachstum des 19.  Jahrhunderts – andererseits machte dies die breit gefächerte Gewerbelandschaft zu keiner Zeit obsolet. Im Gegensatz zu anderen Industrialisierungsregionen, die ihren Aufschwung einer starken Fokussierung auf Schwer-, Textil- oder Metallindustrie verdankten, wurde Thüringens Industrialisierung niemals von einer einzigen Branche dominiert – sie blieb immer von einem Nebeneinander traditioneller und neuartiger Gewerbe bestimmt. Der daraus erwachsende wirtschaftliche Fortschritt ging dabei zwar weitaus bruchloser vonstatten als etwa im Ruhrgebiet, weist aber Thüringen gerade deshalb eine wichtige Rolle in der Industrialisierungsgeschichte zu: Denn die wechselseitige Verbindung älterer und neuerer Gewerbe und Produktionsmethoden sowie der langsame Einzug industrieller Arbeitsweisen in die traditionellen Abläufe dürften für den deutschen Industrialisierungsprozess insgesamt repräsentativ gewesen sein.7 Langsame Dynamik war demnach eher anzutreffen als ein spektakulärer Bruch – im Verhältnis der Produktionsweisen beschrieb Industrialisierung mehr ein weichenstellendes Einsickern des „Neuen“ in das „Alte“ als dessen kurzfristige Überstülpung. Ernst Blochs berühmtes Diktum von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ trifft also in starkem Maße auch auf die Thüringer Industrieentwicklung zu. Die regionalen, gewerblichen und damit verbundenen lebensweltlichen Faktoren des Industrialisierungsprozesses gilt es für Thüringen daher in einem dynamischen und relationalen Gleichgewicht von Tradition und Innovation zu analysieren, will man ihre Besonderheiten näher hinterfragen. Gleichzeitig muss es in der Zukunft aber auch darum gehen, die thüringische Wirtschafts- und Sozialgeschichte in einem europäischen Forschungskontext zu verorten, der die Fragestellungen weit über die Industrialisierung hinaus in Richtung Kapitalismusgeschichte, Marktbildung und Kaufmannsgeschichte erweitert hat.8 Die in Deutschland lange Zeit dominierende Forschung zur 7 Vgl. zu diesem evolutionären Charakter der Industrialisierung Hans-Werner Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland, München 32011, S. 51–59. Bezeichnete Pollard die weniger dynamischen und nicht dem englischen Industrialisierungstyp entsprechenden Regionen noch folgenreich als „Peripherien“, widmen sich jüngere Ansätze einer breiten Würdigung solch querliegender Entwicklungen. Vgl. Christof Dejung/Martin Lengwiler, Einleitung: Ränder der Moderne, in: dies. (Hg.), Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte, Köln 2016, S. 7–35. 8 Vgl. Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014; vgl. Marcel Boldorf, Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Wei-

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Einleitung

Proto-Industrialisierung9 umfasst nur einen kleinen Teil dieses Turns und sollte – besonders unter den Bedingungen eines neuen Methodenpluralismus10 – dringend um vergleichende sowie akteurs- und marktorientierte Studien erweitert werden. Der hier vorliegende Band soll die bisherigen Überlegungen zur Industrialisierung in Thüringen erstmals bündeln, trägt aufgrund der angesprochenen Forschungssituation jedoch einen Arbeitscharakter. Er geht auf einen Workshop der Historischen Kommission für Thüringen zurück, der am 17. und 18. März 2017 in Bad Blankenburg unter dem Titel „Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen in Thüringen“ abgehalten wurde. Die dort vorgestellten Ideen, Anregungen und Projektentwürfe nahmen dabei bereits Bezug auf das 2018 stattfindende Thüringer Kulturthemenjahr „Thüringens Aufbruch in die Moderne. Industrialisierung und soziale Bewegungen.“ In einer Reihe von Veranstaltungen verfolgt das Themenjahr das Ziel, den Stand der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Thüringens im 19. und 20. Jahrhundert zusammenzutragen, zu erweitern und konzeptionell anzustoßen. Gemeinsam mit der Leitausstellung „Erlebnis Industriekultur. Innovatives Thüringen seit 1800“ in Pößneck sollen mehrere Tagungen und Konferenzen diesen Themenbereich, für den wichtige Fragen und Entwicklungen bisher Desiderate geblieben sind, in den Mittelpunkt aktueller Forschungen stellen und weiterführende Forschungsfragen entwickeln. Dieser Band präsentiert daher sowohl erste Ergebnisse, als auch einen offenen Ausblick für ein großes Forschungsfeld. Als erster Band der Reihe „Materialien zur chenstellungen in Schlesien und Irland (1750–1850), Köln/Weimar/Wien 2006; vgl. Christof Dejung, Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln/Weimar/Wien 2013; Vgl. Michael Schäfer, Eine andere Industrialisierung. Die Transformation der sächsischen Tex­ tilexportgewerbe 1790–1890, Stuttgart 2016. 9 Grundlegend: vgl. Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm (Hg.), Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1978; vgl. Dietrich Ebeling/Wolfgang Mager (Hg.), Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19.  Jahrhundert, Bielefeld 1997; vgl. Markus Cerman (Hg.), Proto-Industrialisierung in Europa. Industrielle Produktion vor dem Fabrikszeitalter, Wien 1994. 10 Vgl. etwa Clemens Wischermann/Anne Nieberding, Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004; Jan de Vries, The industrious revolution. Consumer behaviour and the household economy, 1650 to the present, Cambridge 2008; Karl-Peter Ellerbrock/Clemens Wischermann (Hg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004.

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thüringischen Geschichte“ bietet er einen Problemaufriss aus verschiedenen Perspektiven, durch die sich den Industrialisierungsprozessen genähert werden könnte, umfasst aber auch Beiträge zu abgeschlossenen oder laufenden Forschungsvorhaben. So stellt Reiner Flik anhand einer theoretisch ausgerichteten Betrachtung die großen historischen Entwicklungslinien und analytischen Begriffe des Industrialisierungsprozesses vor. Dessen zentrale Merkmale Mechanisierung, Zentralisierung und Spezialisierung verfolgt der Autor über unterschiedliche Produktionssysteme hinweg und formuliert abschließend ein Plädoyer für den regionalgeschichtlichen Ansatz der historischen Industrialisierungsforschung. Hans-Werner Hahn legt dagegen ausgehend von einem Überblick über die bisherigen Forschungen zur Industrialisierung in Thüringen bereits eine kurze Ereignisgeschichte dieser Prozesse vor, in der er die thüringischen Territorien in den deutschen Industrialisierungsprozess einordnet. Die Notwendigkeit weiterer Forschungsarbeiten sieht er dabei besonders auf fünf Feldern: in Vergleichen über staatliche Grenzen hinaus, der Herkunft der Unternehmer, im Verhältnis von Staat und Wirtschaft, in der Rolle politischer Zäsuren für die Industrialisierungsgeschichte und letztlich in den politischen und gesellschaftlichen Folgen der Industrialisierung. Dem Verhältnis der Agrarwirtschaft zur frühen Industrialisierung in Thüringen widmet sich Uwe Schirmer. Seit vielen Jahrzehnten gehört diese Frage quasi zu den Kernanliegen historischer Industrialisierungsforschungen und erfreut sich auch im Rahmen der Protoindustrialisierungsdebatte sowie der Neuen Institutionenökonomik andauernder Relevanz. Der Autor stellt dabei Thüringen als Territorium mit einem agrarisch-industriellen Verhältnis heraus, wie es auch für andere Regionen der „Peripherie“ in den letzten Jahren beschrieben wurde: Auch ein traditioneller, kaum oder langsam durch Reformen berührter Agrarsektor war demnach in der Lage, die wachsende Bevölkerung während der Frühindustrialisierung zu versorgen. Die lange gängige Kausalbeziehung zwischen der „Agrarrevolution“ und der Industriellen Revolution trifft in dieser Hinsicht neben England nur noch auf wenige andere Territorien zu. Ein langfristiges Nebeneinander traditioneller, sich aber dennoch langsam modernisierender Agrarstrukturen war in Thüringen daher auch für das agrarische Verhältnis zur Frühindustrialisierung kennzeichnend. Auf einen der von Hans-Werner Hahn vorgeschlagenen Schwerpunkte, nämlich die Beziehung zwischen staatlicher Wirtschaftspolitik und Industrialisierung, bezieht sich Marko Kreutzmann. Sein Beitrag „Zwischen Deutschem Bund und Deutschem Zollverein: Die Zollpolitik in der Region

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Einleitung

Thüringen im 19. Jahrhundert“ zeigt, dass die Zollpolitik der thüringischen Kleinstaaten zwar nicht direkt Industrialisierungsschübe anstieß und lange zwischen den preußischen und österreichischen Entwürfen lavierte, dafür aber indirekt großen Einfluss auf die strukturellen Rahmenbedingungen der regionalen Industrialisierung besaß. Darüber hinaus waren die Maßnahmen auch immer vor dem Hintergrund einer wachsenden thüringischen Identität zu lesen – Industrialisierung und Staatlichkeit also als wechselseitig aufeinander bezogene Prozesse zu interpretieren. Die Rolle der Anschubpotentiale des Agrarsektors spielen im internationalen Forschungskontext mittlerweile nicht mehr nur für die Industrialisierung eine Rolle, sondern werden auch als strukturelle Bedingung der Entwicklung des Kapitalismus analysiert. Marco Swiniartzki weist in diesem Zusammenhang auf die bisherigen Defizite der deutschen historischen Forschung hin und entwirft anhand eines Vergleichsmodells zwischen Mitteldeutschland und Katalonien einen möglichen Projektzuschnitt, um die Kapitalismusforschung auch für die thüringische Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu stärken. Die wichtigsten Voraussetzungen dafür wären Forschungen zur Herkunft des Kapitals und zum sozialen Hintergrund der frühen Unternehmer sowie die Klärung der Frage, wie diese ihre Unternehmen auf einem zunehmend globalen Markt positionierten, Absatzmärkte erschlossen, Rohstoffe einkauften und dabei auf politische und gesellschaftliche Zäsuren reagierten. Ein über strukturhistorische Aspekte hinausgehendes Exempel präsentiert Ronny Schwalbe mit seinem Aufsatz „Von einer reußischen Stückfärberei zum Global Player. Kommerzienrat Dr. h. c. Georg Hirsch als Fallbeispiel der Industrialisierung in Ostthüringen.“ Durch einen personengeschichtlichen Ansatz gelingt es dem Autor, den Aufstieg und die weltweite Ausdehnung der Firmen des Geraer Industriellen Georg Hirsch einzuordnen. Sowohl der globalgeschichtliche Anteil als auch die akteurs- und netzwerkorientierte Analyse leisten dabei einen wichtigen Beitrag zur Integration des ostthüringischen Textilgebiets in den europäischen Forschungsrahmen der letzten Jahre. So zeigt der Autor nicht nur deren bemerkenswerte globale Vernetzung – er weist überdies auch auf die fundamentale Rolle hin, die soziale und besonders familiäre Beziehungen für das entstehende thüringische Wirtschaftsbürgertum besaßen. Ebenfalls unternehmensgeschichtlich, aber weniger personen- als marktstrategisch, argumentiert Jürgen Schreiber in seinem Beitrag zur Industrialisierung Ruhlas am Beispiel der Firma Gebrüder Thiel. Er kann dabei zeigen, dass es trotz erheblicher Nachteile in der geographischen Lage und Verkehrs­ anbindung während des 19. Jahrhunderts möglich war, erfolgreiche Unter-

Einleitung 

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nehmen in kleinen Orten des Thüringer Waldes zu etablieren. Als wichtigste Voraussetzungen für einen langfristigen Erfolg stellt Schreiber besonders das unternehmerische Geschick und Fingerspitzengefühl heraus, wenn es darum ging, Absatzmärkte mit preislich günstigen und/oder qualitativ innovativen Produkten zu erobern, die Produktpalette fortwährend an Moden und Geschmack anzupassen und für eine lokale soziale Basis durch einen qualifizierten Mitarbeiterstamm zu sorgen. Ebenfalls einen bisher viel zu wenig beachteten Aspekt der Industrialisierungsgeschichte behandelt Werner Greiling in seinem Beitrag „Medienproduktion und Medienrealität im Jahrhundert der Industrialisierung.“ Dabei stellt er vor allem den Schnittstellencharakter der Medienentwicklung in seiner Mehrdimensionalität heraus. So trugen der Buchdruck und das Verlagswesen in Thüringen entscheidend zur Industrialisierung der Region bei, vermittelten durch ihre Produkte aber auch einem breiter werdenden Publikum ein bestimmtes Bild vom Industrialisierungsprozess. Industrialisierung erscheint somit als medial vermittelter Prozess, dessen Träger in der Medienlandschaft genauso auf ihre Intentionen befragt werden müssen wie die Folgen ihrer Berichterstattung auf regionale Diskurse in Bürgertum und Arbeiterschaft. Parallel dazu nahmen Medienprodukte, vor allem über einen Anzeigenteil, großen Einfluss auf Produktwerbung und Marktbeziehungen, gehören also auch zu den wichtigen Motoren der Industrialisierung anderer Gewerbe und der sich entwickelnden Konsumenteneigenschaft der Leser. Und nicht zuletzt zählten die Medien des 19. Jahrhunderts zu den entscheidenden Verbindungskanälen zwischen Industrialisierung und Industriekultur, deren Bedeutung in den letzten Jahren beständig zugenommen hat. So veranschaulicht Werner Greilings Beitrag auch, dass die Industrialisierung allein als historisches Untersuchungsobjekt noch nicht hinreichend umrissen ist. Die andauernde Fortschreibung des Industrialisierungsnarrativs durch die „Industrie 4.0“, die Etablierung von Massenkonsum und Massenmedien sowie die Musealisierung und Umfunktionierung ihrer baulichen Hinterlassenschaften oder die Erklärung einiger zentraler Industrieanlagen zu Weltkulturerben verdeutlichen eine bis in die Gegenwart reichende Aktualität dieses Zugriffs auf die Wirtschaftsentwicklung und die Lebensweise von Gesellschaften. Die Erklärung des Genossenschaftswesens zum immateriellen Kulturerbe veranschaulicht dabei wie kaum ein anderer Umstand, wie entscheidend unsere heutige Gesellschaft von den Begriffen und Organisationen abhängt, die sich in

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Einleitung

der Industrialisierungsepoche herauszubilden begannen.11 „Industrialisierung“ beschreibt in dieser Hinsicht nicht nur ein Erklärungsangebot für die Vergangenheit, sondern auch einen Zukunftsentwurf – sie ist „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“,12 deren handlungsleitende Schnittstelle in der Gegenwart von der Industriekultur besetzt wird.13 Dass die wissenschaftlichen, gesellschaftlich-sinnstiftenden, pädagogischen und auch touristischen Aspekte der Industriekultur in und für Thüringen bisher zu wenig bedacht wurden, macht schließlich Dirk Schaal in seinem kurzen Problemaufriss deutlich. Er entwirft dabei neben den industriellen Grundlagen auch einen Katalog von Maßnahmen, um den Arbeits- und Forschungsbereich Industriekultur in Thüringen zu stärken. Auf Basis des Dreiklangs Bewahren und Erforschen, Erleben und Vermitteln sowie Gestalten und Weiterentwickeln, schlägt er vier konzeptionelle Schritte vor, die ein neues öffentliches Verständnis und die dazu nötigen institutionellen Schritte anstoßen könnten.

11 Vgl. https://www.unesco.de/kultur/immaterielles-kulturerbe/bundesweites-verzeichnis/eintrag/ genossenschaftsidee.html (letzter Zugriff: 31.1.2018). 12 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. ²1992, S. 349–375. 13 Vgl. Juliane Czierpka/Kathrin Oerters/Nora Thorade (Hg.), Regions, Industries, and Heritage. Perspectives on Economy, Society, and Culture in Modern Western Europe, Basingstoke 2015; vgl. mit Blick auf Thüringen: Scotty Scout (Hg.), Thüringen Reiseführer. Orte der Industriekultur in Thüringen so gesehen, 2018 [im Erscheinen]; vgl. Eva Aymans, Industriekultur in Pößneck. Lebenswelten im 19. und 20. Jahrhundert, Pößneck 2011; vgl. die Reihe „Straße der Industriekultur“, beginnend mit: Tamara Hawich/Dietmar Grosser, Straße der Industriekultur, [1] Eisenach. AWE, in: Wirtschaftsmagazin für Nord- und Mittelthüringen 26 (2015) 6, S. 40 f.; vgl. Manfred Seifert, Arbeitskulturen – Mentalitäten – Industriekultur. Forschungskonzepte mit anthropologischer Perspektive, in: Wolfgang Hesse/ Holger Starke (Hg.), Arbeiter, Kultur, Geschichte. Arbeiterfotografie im Museum, Leipzig 2017, S. 481–494; vgl. Eva-Maria Beckmann (Hg.), Schall und Rauch. Industriedenkmäler bewahren, Dokumentation der Jahrestagung der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland, 13. bis 15. Juni 2016 in Oberhausen, Petersberg 2017.

Reiner Flik

Industrialisierung − Begriff, Voraussetzungen, Forschungskonzepte

1. Definitionen und Vorgehensweise

Der Name Industrie ist vom lateinischen industria (Fleiß, Betriebsamkeit) abgeleitet und bezeichnet ursprünglich den Kunstfleiß, also eine verarbeitende, veredelnde Tätigkeit, wodurch aus den Produkten der Natur höherwertige Güter erzeugt werden. Im 18. Jahrhundert war er ein Synonym für Hausgewerbe. Später wurde er auf die großgewerbliche Betriebsform eingeengt. Die amtliche Statistik tut sich aber schwer damit, die Industrie vom Handwerk zu unterscheiden. In Deutschland gilt das Formalkriterium, dass die Unternehmen des Produzierenden Gewerbes, die nicht Mitglied einer Handwerkskammer, sondern in einer Industrie- und Handelskammer organisiert sind, zur Industrie rechnen. Die Industrielle Revolution begann ausgangs des 18. Jahrhunderts in Großbritannien. Ihr technologisches Fundament bildeten die Ersetzung der Holzkohlen durch Steinkohlen als Brennstoff im Eisenhüttenwesen, die Dampfmaschine und die Mechanisierung des Spinn- und des Webprozesses im Textilgewerbe. Der Name wurde durch Arnold Toynbees 1884 posthum veröffentlichtes Buch „Lectures on the Industrial Revolution in England“ als Schlagwort zur Bezeichnung einer Epoche der Wirtschaftsgeschichte gebräuchlich. Er drückt aus, dass den neuen Produktionsverfahren eine ähnlich große Bedeutung für die Geschichte Westeuropas zugeschrieben wird wie dem Umsturz der politischen und der sozialen Verfassung Frankreichs im Jahr 1789. Industrialisierung wird von manchen Historikern synonym verwendet. Andere verstehen darunter einen länger dauernden Prozess, der durch ein, dem Trend nach, kontinuierliches Wachstum des Pro-Kopf-Sozialprodukts gekennzeichnet ist. Dieses Verständnis des Begriffs erlaubt es, sinnvoll mehrere aufeinander folgende Industrielle Revolutionen zu unterscheiden; die Erste Industrielle Revolution einer Volkswirtschaft ist demnach die Phase, die Walt Whitman Rostow in seinen „Stadien wirtschaftlichen Wachstums“ als take-off-Phase bezeichnet.

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Reiner Flik

Abb. 1: Vorindustrielle Textilproduktion. Anmerkung: Die Fotografien zeigen die Herstellung von baumwollenem Gewebe nach dem um 1750 ergiebigsten Produktionsverfahren, oben den Webprozess auf dem in den 1730er Jahren entwickelten „flying shuttle“-Webstuhl, unten den Spinnprozess. Zunächst wurde aus der Rohbaumwolle mit Drahtbürsten ein Faservlies erzeugt, das anschließend mit einem von Hand angetriebenen Spinnrad zu Garn verdrillt wurde. Eine geübte Kraft kann mit dieser Ausrüstung etwa 300 Meter Faden pro Stunde spinnen. Wie viele Stunden brauchte es wohl, um nach dieser Methode ein Hemd herzustellen?

Industrialisierung - Begriffe, Voraussetzungen, Forschungskonzepte 

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Man findet den Begriff freilich auch ganz von der Bindung an das Wirtschaften losgelöst – es gibt in der kulturgeschichtlichen Literatur Texte über die Industrialisierung der Zeit, des Raumes, des Alltags, sogar des Tötens (auf den Schlachtfeldern der Weltkriege und in den Vernichtungslagern der totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts). Mir erscheint diese Aufblähung des Geltungsbereichs des Begriffs Industrialisierung unzweckmäßig; von den oben aufgezählten Wortschöpfungen ist allenfalls die zuletzt genannte einigermaßen sinnvoll. Ich schlage vor, ihn auf sein angestammtes Gebiet zu reduzieren und den Bezug zum Wirtschaften durch einen Zusatz (z. B. Industrialisierung der Produktionsweise) erkennbar zu machen. Im Folgenden wird zunächst anhand eines Vergleiches der im Gewerbe vorkommenden Betriebsformen das Charakteristische der Industrie beschrieben. Anschließend wird erklärt, welcher Voraussetzungen es bedurfte, um die Industrialisierung der Produktionsweise in Westeuropa zu bewerkstelligen. Im Schlusskapitel erläutere ich, kurz gefasst, wie der um 1980 entstandene regional differenzierende Ansatz der Industrialisierungsforschung m. E. verstanden werden muss.

2. Beschreibung

Die Wirtschaftslehre unterscheidet zwei Typen von Produktionssystemen: das Handwerk und die Fabrik. Mischformen sind der Verlag und die Manufaktur. Bis zur Frühen Neuzeit war die Warenproduktion fast ganz handwerklich organisiert. Das augenfällige Kennzeichen des Handwerksystems ist der Kleinbetrieb. Der Meister, sein Geselle oder Lehrbub – das war das Ideal der mittelalterlichen Gesellschaft, wodurch jedem Zunftgenossen ein auskömmliches Einkommen gesichert werden sollte. Nur wenige Gewerbe waren schon großbetrieblich organisiert: der Bergbau, das Eisenhütten-, das Glashüttengewerbe. Das Handwerksystem arbeitete mit einfachem Werkzeug. Seine Produktionsweise war zeitraubend, sein Output gering. Die wichtigsten Hilfsmittel der mittelalterlichen Wirtschaft, sozusagen die Hauptposten ihres Anlagekapitals, waren Wassermühlen. Die unter Abbildung 1 abgedruckten, in dem englischen Industriemuseum Quarry Bank Mill entstandenen Fotografien machen das Kardinalproblem, das im 18. Jahrhundert die Volkswirtschaftslehre (political economy) hervorbrachte, anschaulich: Die Ergiebigkeit der Arbeit der vorindustriellen Gesellschaft war gering! Wenn damals ein Wirtschaftsdenker

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Reiner Flik

über die Industrie schrieb, dann meinte er damit Methoden zur Steigerung der Produktivität der Arbeit. Adam Smith begann seine 1776 in London herausgekommene, Epoche machende Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Wohlstands der Nationen mit der Behauptung, das Wohlergehen der Gesellschaft hänge einzig und allein von der Art und Weise, wie sie arbeite, ab: „Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es ursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen Dingen des Lebens versorgt wird. […] Zwei Faktoren bestimmen […] diese Pro-Kopf-Versorgung: Erstens die Produktivität der Arbeit als Ergebnis von Geschicklichkeit, Sachkenntnis und Erfahrung, und zweitens das Verhältnis der produktiv Erwerbstätigen zur übrigen Bevölkerung.“1

Lebte Smith heute, dann würde er den Zusammenhang des Lebensstandards der Gesellschaft mit ihrem Arbeitsvolumen wohl mittels der Gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion formulieren. Eine Produktionsfunktion gibt an, wie Inputmengen mit dem Output zusammenhängen. Darin wird das Sozialprodukt als Ergebnis des Zusammenwirkens zweier Produktionsfaktoren, Arbeit und Kapital, aufgefasst. Der Kapitalstock ist der Produktionsapparat der Volkswirtschaft, die Ausrüstung, mit der gewirtschaftet wird:

(1) Y = f (A, K) Y = Sozialprodukt (vom engl. yield [Ertrag]) (2) Y/A = F (K/A) K = Kapitalstock, A = Arbeit (Beschäftigte)

Teilt man die Gleichung (1) durch A, dann steht links vom Gleichheitszeichen die Arbeitsproduktivität (das ist der Durchschnittsertrag pro Beschäftigten), rechts davon eingeklammert die Kapitalintensität. Unterscheidet man nicht zwischen der Beschäftigung und der Bevölkerung, dann ist die Arbeitsproduktivität gleich dem Pro-Kopf-Einkommen der Volkswirtschaft. Diese Umformung macht ersichtlich, welche Möglichkeiten der Gesellschaft zu Gebote stehen, um die Ergiebigkeit ihrer Arbeit zu steigern: 1. Die Steigerung der Kapitalintensität (d. h. die Verbesserung der Aus- rüstung der Beschäftigten),

1 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1978 [Erstdruck: London 1776], S. 3.

Industrialisierung - Begriffe, Voraussetzungen, Forschungskonzepte 

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2. Die Steigerung des Effizienzgrades, in dem die Produktionsfaktoren kombiniert werden. Der Effizienzgrad beschreibt das Technikniveau, auf dem produziert wird. Es kommt im Funktionalzusammenhang f zum Ausdruck. (Die Idee, den Technisch-Organisatorischen Fortschritt selbst als Produktionsfaktor aufzufassen, ergibt keinen Sinn). Die Beschreibung des Problems mittels der Gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion verschafft uns annähernd eine Vorstellung vom Wesen der Industrialisierung: Industriell betriebene Produktion ist arbeitsteilig und kapitalintensiv organisierte Produktion im Großbetrieb. Die Merkmale des Fabriksystems sind nachfolgend in einem Schema zusammengefasst.

Unter der Mechanisierung der Produktion versteht man die Ersetzung der Arbeit von Menschen und Tieren durch Maschinenarbeit. Spezialisierung der Produktion ist Arbeitsteilung im weiten Sinne, im Fall der Betrieblichen Arbeitsteilung die Zerlegung eines komplexen Produktionsprozesses in Teilschritte, die das Aufgabenspektrum jedes Beschäftigten eng begrenzen, im Fall der Regionalen Arbeitsteilung die Konzentration eines Wirtschaftsraums auf ein Produkt bzw. eine Funktion im Produktionsprozess (z. B. Transport, Finanzierung). Zentralisierung der Produktion ist die Zusammenfassung eines mehrstufigen Produktionsprozesses in einem Betrieb bzw. in einem Unternehmen (vertikale Integration) sowie die Konzentration von Betrieben an einem Standort (Agglomeration). Die Zusammenballung der Betriebsstätten verlangte auch die Ballung der Wohnstätten der Beschäftigten. Deshalb ist die Urbanisierung (Verstädterung) notwendig eine Komponente der Industrialisierung. In der Agrargesellschaft lebten vier Fünftel ihrer Mitglieder auf dem Land. Unter den Bedingungen einer Industriegesellschaft leben vier Fünftel der Mitglieder im städtisch strukturierten Siedlungsraum.

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Reiner Flik

Arbeitsteilung und Manufakturwesen

Adam Smith nannte die Arbeitsteilung im Wohlstand der Nationen die bedeutendste Triebkraft des Einkommenswachstums. Die Spezialisierung der Beschäftigten auf einen Arbeitsschritt oder wenige Verrichtungen erhöht die Produktivität der Arbeit, weil dies • b esonderen Talenten Geltung verschafft, • L erneffekte durch Wiederholung einer Tätigkeit generiert, • u nproduktive Tätigkeiten reduziert (Smith versteht darunter den Zeitbedarf für den Wechsel des Arbeitsplatzes bzw. -geräts und für die Umrüstung von Maschinen), • z ur Erfindung von Werkzeug und Maschinen, welche die Arbeit er- leichtern und produktiver machen, anregt. Smiths Werk beginnt mit der Beschreibung der Betriebsorganisation einer Stecknadelmanufaktur. Eine Manufaktur − ihr Name ist vom lateinischen Begriff manu facere („etwas von Hand machen“) abgeleitet − ist ein Vorläufer der Fabrik: ein arbeitsteilig organisierter Großbetrieb, in dem nur handwerkliche Produktionsverfahren angewandt werden. Diese Organisation der Warenproduktion entstand im 16. Jahrhundert in Norditalien und in Frankreich. Ihre hohe Zeit war das 18. Jahrhundert. Man bezeichnet diese Epoche als Manufakturperiode. Manche Manufakturen beschäftigten mehrere Hundert Menschen. Manufaktur und Fabrik lassen sich freilich nicht sauber voneinander scheiden. Der Name Fabrik ist vom lateinischen Wort fabrica (die Werkstatt des Schmiedes) abgeleitet. Er bezeichnet ursprünglich eine Arbeitsstätte, in der mit Feuer gearbeitet wurde, weshalb sie ganz aus Stein erbaut sein musste: eine Schmiede, Töpferei, Ziegelbrennerei, Eisenhütte, Glashütte usw. Der Sprachgebrauch, Manufakturen seien Großbetriebe, in denen vorwiegend von Hand gefertigt wird, Fabriken Großbetriebe, die mit Maschinen produzieren, bildete sich im 19. Jahrhundert heraus, als die Sozialwissenschaft nach einem Abgrenzungskriterium für Stufen der Wirtschaftsentwicklung suchte. Karl Marx hat darauf seine Lehre von den Phasen der Entwicklung des Kapitalismus gegründet. Er datiert die Manufakturperiode auf die Zeit von 1550 bis 1770. Der amtlichen Statistik der Gliedstaaten Deutschlands galten die Begriffe Fabrik und Manufaktur bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Synonyma.

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Mechanisierung der Produktion und Fabrikwesen

Von der zu seiner Zeit beginnenden Mechanisierung der Produktion, dem Maschinenwesen, ist in Adam Smiths Wohlstand der Nationen kaum die Rede. Das erstaunt, weil Smith den Dampfmaschinen-Pionier James Watt gut kannte. Watt war in den 1750er Jahren Mechanikus an der Universität Glasgow und es heißt, dass Smith den jüngeren Kollegen oft in dessen Werkstatt im Keller des Universitätsgebäudes besucht habe. Aber Watts „doppelt wirkende“ Antriebsmaschine war damals noch ein Prototyp. Und die Spinnmaschinen, die in den 1760er Jahren in Mittelengland entwickelt wurden, waren zu der Zeit, als Smith am Wohlstand schrieb, noch so jung und selten, dass er ihnen, falls er sie überhaupt kannte, keine Bedeutung zumaß. Mit der Waterframe-Spinnmaschine, die der Barbier Richard Arkwright 1769 patentieren ließ, begann das Fabrikzeitalter. Seine 1771 in Betrieb gegangene Maschinenspinnerei gilt als erste Fabrik der Welt im oben definierten Sinn (mechanisierter Großbetrieb). Der Name mill erhielt nun einen neuen Sinn. Er bezeichnet seitdem auch den Fabrikbetrieb. Die englische Sprache tradiert also die Bedeutung der Wasserkraft für die Industrielle Revolution. Unter den Lebensbedingungen der vorindustriellen Gesellschaft war es freilich schwierig, Großbetriebe zu errichten – sei es mangels Wasserkraft, sei es mangels Wohnraum, sei es, weil kommunales Recht dem entgegenstand. In vielen Gewerben war die Betriebsgröße durch das Zunftrecht beschränkt. Die Zunftgenossen achteten streng darauf, dass ihnen kein Unberechtigter ins Handwerk pfuschte. Wer ein Handwerk nicht ordnungsgemäß erlernt hatte, der durfte es nicht selbständig ausüben − wer nur weben gelernt hatte, durfte sein Webstück nicht selbst färben, Leinenweber durften kein Wolltuch, Eisenschmiede keine Kupferware herstellen. Buchdrucker durften ihre Druckbögen nicht selbst binden usw. Ursprünglich dienten diese Beschränkungen der Qualitätssicherung. Aber in der Neuzeit war der Verbraucherschutz in vielen Fällen nur ein Vorwand, um zu verhindern, dass man sich die „Nahrung“ aus seinem Gewerbe mit Konkurrenten teilen musste. Die Erstarrung der Berufe machte es neuerungsfreundlichen Unternehmern schwer, neue Produkte und neue, effiziente Produktionsverfahren einzuführen. Viele Kommunen ließen die dauerhafte Ansiedlung unbemittelter Fremder am Ort nicht zu, weil mit dem Bürgerstatus gewöhnlich ein Anspruch auf Armenfürsorge verknüpft war. Ein weiteres Problem war, dass die Lebensmittel durch die Anhäufung vieler Menschen auf engem Raum knapp und teuer wurden.

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Abb. 2: Baumwollspinnerei Arkwright in Cromford (Grafschaft Derbyshire).

Abb. 3: Mechanisierung des Spinnprozesses. Anmerkung: Die 1760er Jahre waren die hohe Zeit des „Garnhungers“ in Großbritannien. Der entstand durch einen neuen Wettbewerber auf dem Markt für Bekleidung und Wohnungsdekor – den King Cotton. Die Nachfrage nach Baumwollstoffen machte die Spinnerei zum Engpasssektor und trieb den Spinnerlohn in die Höhe. Das animierte einige Tüftler dazu, sich an die Verbesserung des Spinnprozesses zu machen. Binnen weniger Jahre wurden zwei brauchbare technische Systeme zur maschinellen Herstellung von Garn herausgebracht − ein von Hand betriebener hölzerner Apparat, mit dem mehrere Fäden zugleich gesponnen werden können, und eine teils aus Eisen gebaute, mit Wasserkraft angetriebene Spinnmaschine (waterframe). Links ist die von dem Weber James Hargreaves 1764 entwickelte spinning jenny abgebildet. Ihr Name ist wahrscheinlich eine Verballhornung des Begriffs engine. Rechts ist Arkwrights Spinnmaschine abgebildet. Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Waterframe (letzter Zugriff: 31. August 2017).

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Dezentral organisierter Großbetrieb und Verlagswesen

Wegen dieser Schwierigkeiten brauchte es von der Atlantischen Revolution des Welthandels bis zur Industriellen Revolution der Produktionsweise Westeuropas eines langen Vorbereitungsstadiums. Wirtschaftshistoriker bezeichnen diese Phase als Proto-Industrialisierung. Sie verstehen darunter die Vergewerblichung von Landschaften, die zuvor fast ganz von der Landwirtschaft lebten. In der Frühen Neuzeit entstanden in vielen Regionen Westeuropas Hausindustrien, die von Kaufleuten und von Handelskompanien mit der Herstellung von Garn, Web-, Strickwaren, Metallwaren (Messer, Schere usw.), Uhren, Holzschnitzerei, Stroh-, Korbflechterei usw. beschäftigt wurden. Hausindustrien wurden bevorzugt im ländlichen Raum angesiedelt, im Hinterland der Verkehrszentren, wo die Lebenshaltung billig war und, folglich, das Lohnniveau niedriger sein konnte als in der Stadt. Außerdem war die Macht der Zünfte, ihre Vorschriften über Produktionsverfahren und Entlohnung auf dem Land durchzusetzen, gering, obwohl sie natürlich alle Hebel in Bewegung setzten, um das Aufkommen von Konkurrenz in den Dörfern zu verhindern. Die Tätigkeit für Fernhandelskaufleute wurde von der Landbevölkerung häufig als Nebenerwerb ausgeübt zu der Jahreszeit, zu der die Landwirtschaft ruht. Man bezeichnet diese Betriebsform als Verlag, ihre Unternehmer als Verleger; die Angelsachsen nennen sie cottage industry und putting-out system. Der Name besagt, dass der Arbeitgeber seinen außer Haus Beschäftigten die Werkstoffe, mitunter auch Betriebsmittel vorlegt (im Sinne von vorschießen, vorstrecken, finanzieren). Er überdauerte im Buchgewerbe, wo der Unternehmer einen Schriftsteller mit der Abfassung eines Manuskripts beauftragt und ihm auf den Autorenlohn einen Vorschuss zahlt. Der Verlag rechnet nach seiner Produktionstechnik zum Handwerk, nach seiner kaufmännischen Organisation zur Industrie: Die Beschaffung und der Vertrieb sind zentralisiert, die Fertigung findet größtenteils außer Haus statt. Er wird deshalb auch als dezentral organisierter Großbetrieb bezeichnet. Wer für einen Verleger arbeitete, besaß in der Regel weder die Geldmittel noch die Kenntnis des Marktes, die nötig waren, um sich die Produktionsmittel – Flachs, Wolle, Baumwolle, Garn usw. – selbst zu beschaffen. Er war also de facto ein Lohnarbeiter, auch in den Fällen, in denen die Mitgliedschaft in einer Zunft ihn als selbständigen Handwerksmeister auswies. Die ländliche Hausindustrie zog ihre Wettbewerbsfähigkeit hauptsächlich daraus, dass Grundbesitz – ein eigenes Haus, ein kleiner Landwirtschaftsbetrieb, oft auch nur etwas Gartenland – dem für Verleger arbeitenden Handwerker einen

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Grundstock für den Lebensunterhalt lieferte. Er war dann ein Mittelding zwischen einem Kleinbauern und einem Kleingewerbetreibenden. Adam Smith erklärt im Wohlstand der Nationen die Vorteile des Manufakturbetriebs anhand dieses Sozialtypus so: Ein Weber, der ständig zwischen seinem Webstuhl und seinem Acker hin und her wandere, vertue viel Zeit, und selten bringe es so jemand zur Meisterschaft in seinem Fach.2 Deshalb und wegen der Konkurrenz der Beschäftigung suchenden Landbevölkerung untereinander, wurden in den Verlagsindustrien meistens nur Hungerlöhne gezahlt. Der Großteil der Wertschöpfung blieb bei den Kaufleuten hängen. Viele Vermögen, die mächtige Positionen im Handel, im Bankwesen und in der Industrie begründeten, hatten ihren Ursprung im Verlagsgeschäft – zum Beispiel das der Augsburger Bankiersdynastie Fugger, deren Stammvater Leinwand-Verleger war. Das Studium der Proto-Industrie lehrt, dass es nicht genügte, Werkzeugmaschinen und eine ortsunabhängige Kraftquelle zu entwickeln, um die Industrialisierung in Gang zu bringen. Es musste auch eine Verkehrsinfrastruktur geschaffen werden, die es erlaubte, Massenfrachtgüter (Kohlen, Erz, Holz, Baumaterial) und Lebensmittel schnell und billig in Ballungsgebiete zu transportieren. Ferner mussten das Gewerberecht und das Sozialrecht der vorindustriellen Gesellschaft den Bedürfnissen der Industrie angepasst werden. Es brauchte Gewerbefreiheit und Niederlassungsfreiheit und – um die freie Wahl des Arbeits- und des Wohnorts den Zuwanderungsorten zumutbar zu machen – der Ersetzung des alten, auf der Solidarität der Großfamilie, der Zunftgemeinschaft und des Herkunftsorts beruhenden Systems sozialer Absicherung durch kollektivistisch organisierte Versicherungssysteme (Sozialversicherung). Als die in der Sozialordnung der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Gesellschaft verankerten Hemmnisse der Entwicklung großindustrieller Betriebsformen hinweggeräumt waren, wurde die Hausindustrie rasch auf Marktnischen reduziert. Viele dezentralisierte Großbetriebe wurden nun in Fabrikbetriebe umgewandelt und es entstanden Industrieballungsräume, in denen in der Wertschöpfungskette aufeinander folgende Produktionsprozesse zusammengefasst wurden. Man bezeichnet die Zusammenfassung von Unternehmen im Wege der Fusion oder Konzernbildung als Integration, die Zusammenballung von durch Lieferbeziehungen miteinander verbundenen Betrieben auf engem Raum als Agglomeration, neuerdings auch als Cluster(bildung).

2 Vgl. Smith, Wohlstand (wie Anm. 1), S. 12 f.

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Zentralisierung der Produktion und Urbanisierung

Ein augenfälliges Beispiel für die Ballung von Industrien und für Unternehmenskonzentration sind die Schwerindustrie-Städtelandschaften, die im 19. Jahrhundert in den Steinkohlenrevieren entstanden. Ursprünglich war die Erzeugung und Verarbeitung von Eisen in Mittelgebirgslandschaften angesiedelt. Dort gab es reichlich Holz und Wasserkraft und an den Hanglagen der Täler kamen metallhaltige Gesteinsschichten zutage, die durch Anlage von waagrecht in den Berg getriebenen Stollen leicht abzubauen waren. Die Betriebe, in denen das Erz verhüttet, Eisen zu Stahl veredelt und zu Blech, Stangen, Schienen usw. ausgehämmert bzw. ausgewalzt wurde, waren in großem Abstand entlang der Wasserläufe angesiedelt, weil auf jeder Produktionsstufe Wasserkraft gebraucht wurde. Bis 1709 wurde Eisen ausschließlich mit Holzkohlen erschmolzen. Steinkohlen galten wegen ihres niedrigen Brennwerts und der Verunreinigungen, die Eisen brüchig machen (Phosphor, Schwefel), als für den Hochofenprozess unbrauchbar. Die Einführung von Steinkohlen ins Hüttenwesen ging von Großbritannien aus. Die Verteuerung von Holz bewog britische Unternehmer dazu, Holzkohlen durch Steinkohlen zu ersetzen. Bahnbrechende Innovationen britischer Metallurgen waren die Entwicklung von Koks als Brennstoff für die Verhüttung von Eisenerz und die Erfindung des Puddelverfahrens und des Konverterverfahrens für die Umwandlung von Eisen in Stahl. Ausgangs des 18. Jahrhunderts war das britische Eisen- und Stahlgewerbe fast ganz auf Steinkohlen umgestellt. Nach dem Übergang von der Holzkohlen- zur Steinkohlen-Metallurgie und der Einführung der Dampfmaschine ins Eisenhüttengewerbe wurden alle Produktionsstufen zusammengefasst und auf Kohlenlagerstätten angesiedelt. Durch die Wanderung der Betriebe vom Erz zur Kohle sanken die Transportkosten. Die Dampfmaschine erlaubte es, tief liegende Kohlenflöze zu erschließen und die Verhüttung von Eisen und dessen Veredelung zu Stahl im Integrierten Großbetrieb zusammenzufassen. Dadurch sanken die Energiekosten, weil es nun möglich war, das aus dem Hochofen abgestochene Roheisen „in einer Hitze“ (d. h. ohne es abermals aufschmelzen zu müssen) im Stahlwerk zu entkohlen und es im Guss-, Hammer- oder Walzwerk in Form zu bringen. Die Wanderung der Industrie wird durch Alfred Webers Gewichtsverlust-Regel erklärt. Sie schreibt vor, dass frachtkostenintensive Produkte am Lagerort des Rohstoffes, von dem nach Gewicht oder Volumen am meisten benötigt wird, hergestellt werden. Unter der im 19. Jahrhundert üblichen Verhüttungstechnik

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wurde für die Erzeugung von Roheisen etwa dreimal so viel Steinkohle wie Erz verbraucht. Später wurde das Verhältnis durch Verbesserung der Hochofenkonstruktion und Rückführung der Abwärme in den Schmelzprozess kleiner. Die Umstellung der Brennstoffwirtschaft und die Aufhebung der Bindung der Eisenhüttenwerke an Wasserläufe durch Verwendung von Dampfmaschinen führten also binnen weniger Jahrzehnte zu einer völligen Neuorganisation dieser Branche. Die meisten kleinen Werke in den Mittelgebirgen wurden stillgelegt. Die überlebenden spezialisierten sich auf Nischenproduktion (z. B. kunstgewerbliche Eisengusswaren). Die alten Gewerbelandschaften in den Mittelgebirgen wurden entvölkert, die Steinkohlenreviere wurden zu Ballungsgebieten.

3. Erklärung

Bis heute tun sich Toynbees Nachfolger schwer damit, den Begriff Industrielle Revolution bzw. Industrialisierung konkret zu machen. Man behilft sich damit, Sub-Revolutionen, von denen jede für sich als Epoche machend gilt, zu unterscheiden: die Revolution der Wissenschaft und der Technik, die Agrarrevolution, die Verkehrsrevolution und die Institutionelle Revolution. Darunter wird, den Inhalt des Begriffs auf einen einfachen Nenner gebracht, die Durchsetzung des Programms der Französischen Revolution verstanden − die Freiheit der Person, die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und der Schutz des Privateigentums, institutionalisiert in der Abschaffung der Feudallasten (Bauernbefreiung), im Steuerbewilligungsrecht des vom Volk gewählten Parlaments (Zensuswahlrecht) und im Urheber- bzw. Patentrecht. Jedoch sind diese Sub-Revolutionen lediglich didaktische Konstrukte zur Reduktion der Komplexität des Vorgangs. Die Lehrbücher der Industrialisierung beschreiben ihren Gegenstand gewöhnlich als komplexen Prozess Technisch-wirtschaftlichen, Demographischen und Sozialen Wandels. Er schließe die Wirtschaft, die Gesellschaft, die politische Strukturen, die öffentliche Meinung, schlichtweg alle Lebensbereiche ein und lasse sich, wie nachdrücklich der Historiker auch zu Werke gehe, in keine endgültige Definition zwingen, heißt es in Fernand Braudels Sozialgeschichte des 15.−18. Jahrhunderts.3 Das erklärt, warum in diesen Lehrbüchern außer von der Technik, von großen Erfindern und Unternehmern, vom Verkehrs- und vom Bankenwesen 3 Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, München 1986, S. 623.

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auch viel von der Sozialphilosophie der Aufklärung (Liberalismus) und darauf gegründeten Sozialreformen − Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit und Niederlassungsfreiheit − die Rede ist. Die ständisch gegliederte Feudalgesellschaft des Mittelalters, die jedem Menschen kraft Geburt seine Position in der Sozialhierarchie zuwies, musste in eine auf Privateigentum und unbehinderten Wettbewerb um Lebenschancen gegründete Bürgerliche Gesellschaft umgewandelt werden, um die der freiheitlichen Ordnung der Wirtschaft innewohnenden Produktivkräfte entfalten zu können. Schon Aristoteles lehrte, dass nur das Eigentum an einer Sache es gewährleistet, dass pfleglich damit umgegangen wird. Es spricht viel dafür, dass ein Übervölkerungsproblem die Industrielle Revolution der Produktionsweise ausgelöst hat. Im 18. Jahrhundert nahm die Bevölkerung Mitteleuropas rasch zu – so schnell, dass der englische Pfarrer Thomas Robert Malthus 1798 in seinem Aufsehen erregenden Essay on the Principle of Population vorhersagte, sie werde bald an die Grenze ihres Nahrungsspielraums stoßen, wenn nichts dagegen unternommen werde. Die Bevölkerung Englands wuchs zu Malthus’ Zeit mit einer Rate von fast einem Prozent pro Jahr. Eine Größe, die mit diesem Tempo wächst, wird binnen 70 Jahren verdoppelt. Die „Explosion“ der Bevölkerung machte Land, Lebensmittel und Holz knapp und das auf dem Erbe oder der Erheiratung einer Hof- oder Meisterstelle beruhende Gesellschaftsmodell, das die mittelständisch-selbständige Existenz als Bauer oder Handwerker zur Norm machte, brüchig. Malthus verlangte, einst geltende Heiratsbeschränkungen wieder einzuführen. Die Industrialisierung löste das Problem. Sie enthob die Gesellschaft Mitteleuropas der Notwendigkeit, sich der von Malthus geforderten Schrumpfung zu unterziehen.

Eine „kleine Theorie der Industrialisierung“

Theoriebildung bezweckt, einen komplexen Prozess zu verstehen, indem man ihn auf seine wesentlichen Merkmale (also auf das, was sein „Wesen“ ausmacht) und auf Naturgesetze, denen er unterliegt, zurückführt. In diesem Sinne wurde der Begriff Industrialisierung eingangs als Methode der Steigerung der Arbeitsproduktivität definiert − ihre wesentlichen Merkmale seien die Spezialisierung, die Mechanisierung und die Zentralisierung der Produktion. Die Spezialisierung und die Mechanisierung der Produktion bringen das Gesetz der Massenproduktion zur Geltung. (Die Metapher bezeichnet die Degression der Durchschnittskosten infolge der Verteilung fixer Kosten einer Produktion auf eine wachsende Produktionsmenge.) Die Zusammenfassung von in

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der Wertschöpfungskette aufeinander folgenden Produktionsprozessen an einem Standort (Agglomeration) senkt die Transportkosten und, wie oben am Beispiel der Eisen- und Stahlproduktion gezeigt wurde, in vielen Branchen auch Energiekosten. Die Zusammenfassung von in der Wertschöpfungskette aufeinander folgenden Produktionsprozessen in einer Organisation (vertikale Integration von Unternehmen) senkt andere Kosten der Kommunikation, welche die Institutionenökonomik unter dem Namen Transaktionskosten versammelt. Transaktionskosten sind die Kosten, die bei der Übertragung einer Ressource von einem Wirtschaftssubjekt auf ein anderes entstehen, also die Kosten der Suche nach Lieferanten von Vorleistungen und Abnehmern des eigenen Produkts, die Kosten des Abschlusses von Verträgen und die Kosten, die anfallen, um die Einhaltung der darin getroffenen Abmachungen zu überwachen (z. B. Eingangs-Qualitätskontrolle). Ronald H. Coase begreift das Großunternehmen in seiner Unternehmenstheorie ganz als Veranstaltung zur Senkung von Transaktionskosten.4 Das Wesen der Industrialisierung auf Kostenvorteile zu reduzieren, mag im Lichte von Braudels Forderung, man müsse ein großes Bild zeichnen, wenn man darüber schreibe, übermäßig vereinfacht erscheinen. Aber irgendwo muss man ansetzen, und dieser Ansatz hat den Vorteil, dass man daraus mit wenigen Federstrichen die Voraussetzungen, die es braucht, damit Industrie entstehen kann, ableiten kann. In Abbildung 4 ist in stilisierter Form die Entwicklung der Produktionskosten in Abhängigkeit von der Produktionsmenge im Handwerksystem und im Fabriksystem dargestellt. Aus dem Vergleich der Stückkostenkurven folgt, dass die Behauptung, die industrielle Produktionsweise sei der handwerklichen an Effizienz überlegen, undifferenziert nicht haltbar ist. Die optimale Betriebsform ist eine Funktion der Marktgröße, also der Absatzmenge. Diese hängt wiederum von den Kosten der Raumüberwindung ab, also von Transportkosten und anderen Handelshemmnissen, z. B. Zöllen. Zölle wirken wie Transportkosten. Sie vergrößern die „ökonomische Entfernung“ zwischen dem Ort der Produktion und dem Absatzort. Hohe Transportkosten begrenzen den Absatzradius und konservieren die kleinbetrieblich-handwerkliche Produktionsweise. Dieser Zusammenhang ist in Abbildung 5 mittels Wilhelm Launhardts Trichtermodell erläutert. Das Handwerksystem war die der Kleinstaaterei und den Kommunikationen des Mittelalters angemessene Betriebsform. Wäre Richard Arkwright im 15. Jahrhundert mit seiner Mechanischen Spinnerei herausgekommen, dann wäre er wohl im Armenhaus gestorben. Die Verhältnisse zu jener Zeit hätten 4 Vgl. Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, in: Economica 4 (1937), S. 386–405.

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es ihm gar nicht erlaubt, die Kapazität der Anlage auszulasten. Der mise­rable Zustand der Verkehrswege und ein Wust von tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen (Fluss-, Straßen-, Brückenzölle, Stapelrechte usw.) ließen in der Regel nur eine geringe Marktausdehnung zu – die mittelalterliche Stadt-Umland-Wirtschaft. Fernhandel über Land entwickelte sich nur mit Waren, die leicht zu transportieren und verhältnismäßig wertvoll waren. Große Städte entstanden nur an Plätzen, die über Wasser zu versorgen waren. Die Verfahrensschwelle definiert die Absatzmenge, die den Großbetrieb erst lebensfähig macht. Ist diese „kritische Masse“ erreicht, dann entsteht Industrie und wird der Handwerksbetrieb verdrängt. Das Wachstum der Betriebsgröße geht fortan unablässig mit der Steigerung der Effizienz einher. Adam Smith hat den Zusammenhang der Marktgröße mit der Betriebsgröße bereits im Wohlstand der Nationen herausgearbeitet. Im Kapitel 3 heißt es, der Grad, in dem die Produktion von Gütern sinnvoll spezialisiert werden könne, hänge von den Absatzmöglichkeiten ab. In Großstädten wie London zerfalle das Schmiedehandwerk in Untergruppen: Huf-, Nagel-, Kupfer-, Messerschmied usw. In den Kleinstädten auf dem schottischen Hochland könne niemand von nur einem dieser Handwerke leben. Dort seien diese Tätigkeiten in der Regel noch in einem Betrieb vereinigt.5 Die Erkenntnis der Bedeutung der Marktgröße für die Höherentwicklung der Produktivkräfte erklärt, warum die Klassiker der Nationalökonomie dem Freihandel in ihren Schriften so viel Gewicht beilegten. Großbetrieblich-industrielle Produktion setzt die Integration von Wirtschaftsräumen voraus − im ersten Schritt die Zusammenfassung der Stadt-Umland-Wirtschaften zur Volkswirtschaft, später die Herausbildung der Weltwirtschaft. Es bedurfte zuerst der Abschaffung der Handelshemmnisse im Binnenverkehr und im Außenhandel sowie der Modernisierung des Verkehrswesens, um die Industrie zur überlegenen Form zu machen. „Stehen Wasserwege zur Verfügung, so öffnet sich für den Handel und jedes Gewerbe ein Markt, der viel ausgedehnter ist, als wenn die Waren allein über die Landstraßen transportiert werden müssen. So haben sich die verschiedenen Gewerbe zunächst an der Meeresküste und am Ufer schiffbarer Flüsse spezialisiert, eine Entwicklung, die häufig erst viel später auf das Landesinnere übergriff. […] Da der Transport auf dem Wasser solche enormen Vorteile mit sich bringt, ist es nur natürlich, dass die ersten Anfänge früher Kulturen, das Aufblühen von 5 Vgl. Smith, Wohlstand (wie Anm. 1), S. 20.

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Kunst und Gewerbe, an jenen Orten zu finden ist, wo dieser günstige Verkehrsweg den Zugang zu einem weltweiten Markt für alle Arten Güter öffnete, und dass ihre Ausbreitung ins Landesinnere in der Regel erst viel später erfolgte.“6

Smith erklärt mit diesem Argument die Entstehung der Hochkulturen des Altertums im Mittelmeerraum. Jedoch hilft es auch, um zu verstehen, warum Großbritannien das Mutterland der Industriellen Revolution ist. Großbritannien ist reich an Erz- und an Kohlenlagerstätten. Vor allem aber ist es reich an Wasser und an Wasserwegen. Seine lang gestreckte Dreiecksform macht es zu einer einzigen Küstenanrainer-Lage. Lücken im Flusssystem wurden bereits im 18. Jahrhundert durch Kanäle geschlossen. Das erlaubte es, Massengüter billig zu transportieren. Der Zustand der Landwege war damals in ganz Europa erbärmlich − nach Dauerregen und im Winter waren viele Routen unpassierbar. Aber die Wasserwege Englands „largely made up for the deficiencies of the land routes“, heißt es in Toynbees Industrial Revolution.7 Adam Smith schätzt, dass der Transport einer Wagenladung von seiner Heimatstadt Edinburgh nach London über Land seinerzeit zwölf- bis fünfzehn mal so viel an Lohn koste wie der Transport zur See − der Unterhalt der Pferde, Verschleiß des Fuhrwerks, Straßennutzungsgebühren und die weitaus höhere Unsicherheit des Landwegs seien in dieser Rechnung noch nicht einmal berücksichtigt. Noch heute gilt (freilich nur als Faustregel, die Ausnahmen zulässt) der Satz, dass Staaten, die vom Meer abgeschnitten sind, ärmer sind und ihre Wirtschaft langsamer entwickeln als Küstenanrainer.8

4. Regionalisierung der Industrialisierungsforschung

Man kann die unter Kapitel 3 entwickelte „kleine Theorie der Industrialisierung“ zu zwei Behauptungen bündeln. Erstens: Transportkosten strukturieren den Raum. Zweitens: Um Industrie hervorzubringen, braucht es Marktintegration. Die Bedingungen, die es Unternehmen erlaubten, die Verfahrensschwelle zu überschreiten, konnte nur der Staat schaffen − durch zweckmäßige Infrastruktur- und Handelspolitik. Damit die Wirtschaft Deutschlands die in 6 Ebd., S. 20 f. 7 Arnold Toynbee, Lectures on the Industrial Revolution of the 18th century in England. Popular Adresses, Notes and other Fragments, London 31890, S. 52. 8 Vgl. Smith, Wohlstand (wie Anm. 1), S. 20.

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Großbritannien entwickelte Produktionsweise übernehmen konnte, bedurfte es der Gründung des Deutschen Zollvereins und des Baus von Eisenbahnen. Der Zollverein war Voraussetzung, um staatliche und private Investoren dazu zu bewegen, ein Deutschland vernetzendes System von Eisenbahnstrecken zu errichten (Verkehrsintegration), und er war der erste Schritt zur Politischen Integration Deutschlands (Zollparlament!). Um 1980 kam unter den Wirtschafts- und Sozialhistorikern Westeuropas ein Forschungsansatz in Mode, der die Bedeutung des Staates für die Initiierung von Wirtschaftswachstum relativiert. Die Beschäftigung mit dem Territorial- bzw. Nationalstaat allein sei ein Holzweg; die Industrialisierung könne nicht verstanden werden, wenn man sie nur in einem durch den Nationalstaat abgegrenzten Rahmen studiere. Die Triebkräfte des Wirtschaftswachstums seien nicht Staaten, sondern Regionen.9 Der Begriff Industrialisierung ist, auf seine raumwirtschaftlichen Implikationen reduziert, nur ein anderes Wort für Differenzierung des Wirtschaftsraumes. Wenn die Kosten der Überwindung des Raumes sinken, dann spezialisieren sich zuvor kaum miteinander kommunizierende Regionen auf solche Produkte, für die sie einen absoluten oder wenigstens einen komparativen Kostenvorteil besitzen, und bilden fortan einen integrierten Wirtschaftsraum. Die konkrete Ausformung der Arbeitsteilung wird zum einen durch die Eigenschaften des Naturraums (Klima, Geländeform, Bodengüte und -schätze, natürliche Verkehrswege), zum anderen durch die kulturell erworbenen Fähigkeiten der in ihm siedelnden Bevölkerung bestimmt. Der Ausdruck „kulturell erworbene Fähigkeiten“ bündelt die Einflussfaktoren, die wir als Beitrag des Staates zur Entwicklung der Wirtschaft wahrnehmen (also die Rolle des Gewerberechts und des Steuerrechts, des Bildungswesens, des Geld- und Bankenwesens, der Handels- und der Infrastrukturpolitik usw.). Auch die Agrarverfassung (welche die Bevölkerungsdichte beeinflusst) und die Konfession (die das Bildungsniveau beeinflusst) zählen zum Kulturraum. Dieses komplexe Geflecht von Rahmenbedingungen erzeugt eine Differenzierung der Wirtschaftsstruktur, die im Fall günstiger Ausstattung von

9 Der Forschungsansatz wurde von Sidney Pollard (1925–1998) in den beiden nachfolgend genannten Schriften entwickelt. Pollard war von 1980 bis zu seiner Emeritierung 1990 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld. Sidney Pollard (Hg.), Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte, Göttingen 1980; Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981.

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Regionen mit Produktionsfaktoren zwei Typen hoch entwickelten Wirtschaftsraumes entstehen lässt: • Regionen, in denen die gewerbliche Produktion konzentriert ist, weshalb sie eine hohe Dichte der Bevölkerung aufweisen, • Regionen, in denen mit industriellen Methoden Landwirtschaft betrieben wird. Weil Landwirtschaft viel Raum braucht, sind sie dünn besiedelt. Das wurde mitunter als ein Anzeichen von Rückständigkeit missdeutet. Die Bewohner dieser Räume tauschen Rohstoffe und Lebensmittel gegen Waren und Dienstleistungen und erwirtschaften durch die Spezialisierung in der Regel beide höhere Pro-Kopf-Einkommen. Als dritter Raumtypus entstehen Peripherien („Hinterland“), die nur schwach in das Handelssystem eingebunden sind und deshalb in ihrer Einkommensentwicklung zurückbleiben. Die natürliche Ordnung der Wirtschaft im Raum wurde erstmals von dem deutschen Nationalökonomen Johann Heinrich von Thünen (1783–1850) beschrieben. Die Gesetze, die aus seinem Ringe-Modell abzuleiten sind, gelten auch in der globalisierten Wirtschaft des 21. Jahrhunderts. Sie sind dort bloß nicht mehr so augenfällig wie in der mittelalterlichen Stadt-Umland-Wirtschaft. Der Regionalansatz ist eine konsequente Umsetzung der Forderung, die Wirtschaftsgeschichte theoriegeleitet zu studieren. Es gibt keine andere sinnvolle Methode, empirisch gehaltvolle Aussagen über die Entwicklung der Wirtschaft im Raum zu gewinnen als den Vergleich von Regionen. Er macht aber die Beschäftigung mit dem Nationalstaat nicht obsolet. Man kann den Werdegang einer Wirtschaftsregion nur dann verstehen, wenn man ihre Interaktion mit dem überregionalen Markt- und Herrschaftsgebiet, in das sie eingebunden ist, kennt. Insofern ist die Perspektive des Historikers, egal ob er Stadtgeschichte, Regionalgeschichte oder die Geschichte des Nationalstaats schreibt, immer gleich; es geht stets um den Zusammenhang.

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Abb. 4: Gesamtkosten und Stückkosten im Handwerks- und im Fabriksystem. Anmerkung: Der Grafik liegen folgende Annahmen zugrunde: Die Abschreibung auf Anlagekapital ist im Handwerksbetrieb unbedeutend; sie ist daher vernachlässigt. Im Industriebetrieb reduzieren die Arbeitsteilung und die Verwendung von Maschinen die für die Herstellung einer Produkteinheit notwendige Arbeitszeit auf einen Bruchteil des Betrages, der beim handwerklichen Verfahren aufzuwenden ist. In der Grafik ist ein Rückgang der Lohnstückkosten um drei Viertel des Ausgangswerts unterstellt.

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Abb. 5. Wilhelm Launhardts Trichter-Modell. Anmerkung: Wilhelm Launhardt (1832–1918) war Professor für Straßen-, Eisenbahn- und Brückenbau am Polytechnikum Hannover und ein Pionier der Raumwirtschaftslehre. Sein Trichtermodell macht den Einfluss der Transportkosten auf die Marktgröße von Unternehmen anschaulich. Oben ist das Verkaufsgebiet zweier Unternehmen, die mit identischem Produktionsverfahren ein Produkt herstellen und gleiche Frachtkosten pro Entfernungseinheit haben, dargestellt. Die Ordinate gibt den die Herstellkosten und die Kosten des Transports des Produkts zum Abnehmer deckenden Mindestpreis an. Die Orte der Gruppe A bilden das Vertriebsgebiet des Unternehmens A. Die Orte der Gruppe B bilden das Vertriebsgebiet des Unternehmens B. Unten ist dargestellt, wie die Verbesserung des Verkehrswesens die Marktgröße verändert. Es wird unterstellt, dass der Bau einer Eisenbahn im Vertriebsgebiet von Unternehmen A die Kosten des Transports seines Produkts zum Kunden halbiert. Dadurch verliert B den Rand seines Marktgebiets an A. Die Zunahme des Outputs erlaubt A im Fortgang die Wahl eines Produktionsverfahrens mit höherer Kapitalintensität, wodurch auch seine Produktionskosten sinken. B wird nach und nach vom Markt verdrängt.

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Abb. 6: Die Thünenschen Ringe (Ordnung der Landwirtschaft im Raum). Anmerkung: „Man denke sich eine […] Stadt in der Mitte einer fruchtbaren Ebene gelegen, die von keinem schiffbaren Flusse oder Kanale durchströmt wird. Die Ebene selbst bestehe aus einem durchaus gleichen Boden, der überall der Kultur fähig ist. In großer Entfernung von der Stadt endige sich die Ebene in eine unkultivierbare Wildnis, wodurch dieser Staat gänzlich von der übrigen Welt getrennt wird.“10 − Die Zone I ist der natürliche Standort der Produkte, die rasch zum Absatzort transportiert werden müssen (Gartenbau, Milchwirtschaft). Die Zone II ist der natürliche Ort der Forstwirtschaft (wegen des hohen Anteils der Transportkosten am Marktpreis von Holz). Die Zone III ist der natürliche Ort des Ackerbaus. Dieser wird nach der Intensität der Bewirtschaftung abgestuft (Fruchtwechsel-, Dreifelderwirtschaft). Die Zone IV ist der natürliche Ort der Viehzucht (Weidewirtschaft). Verkehrswege (Wasserweg, Eisenbahnlinie, Kunststraße) verzerren die Gruppierung der Produktionsorte um den Absatzort. Bildquelle: Brandt, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, S. 192.

d10 10 Johann Heinrich von Thünen, Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Na­ tionalökonomie, Jena 21921, S. 12.

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Literatur Karl Brandt, Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1992– 1993. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, 3 Bde., München 1985–1986. Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, in: Economica 4 (1937), S. 386–405. Hubert Kiesewetter, Region und Industrie in Europa 1815–1995, Stuttgart 2000. Wilhelm Launhardt, Mathematische Begründung der Volkswirthschaftslehre, Leipzig 1885. Thomas R. Malthus, Das Bevölkerungsgesetz, München 1977 [Erstdruck: London 1798]. Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981. Ders. (Hg.), Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte, Göttingen 1980. Walt Whitman Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Wachstumstheorie, Göttingen 1960. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1978 [Erstdruck: London 1776]. Johann Heinrich von Thünen, Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, Jena 21921 [Erstdruck: Hamburg 1826]. Arnold Toynbee, Lectures on the Industrial Revolution of the 18th century in England. Popular Adresses, Notes and other Fragments, London 31890.

Hans-Werner Hahn

Thüringen im deutschen Industrialisierungsprozess: Forschungsbilanz und Forschungsperspektiven

Der Raum Thüringen zählte am Ende des 19. Jahrhunderts zu den am stärksten industrialisierten Regionen Deutschlands. Innerhalb eines Jahrhunderts war aus sehr bescheidenen Anfängen eine sehr vielgestaltige moderne gewerbliche Wirtschaft entstanden, die 1907 weit mehr Menschen beschäftigte als die beiden anderen großen Wirtschaftsbereiche, Landwirtschaft und Dienstleistungen, zusammen und die damit auch bereits deutlich über dem Durchschnitt im Deutschen Reich lag.1 Dennoch ist der thüringische Industrialisierungsprozess weit weniger gut erforscht als der des Königreichs Sachsen oder der anderer frühindustrieller Kernregionen wie das Ruhrgebiet oder Oberschlesien. Die Gründe für diesen Befund dürften zum einen darin liegen, dass Thüringen nicht den einen großen Führungssektor aufwies, der wie Kohle und Stahl an der Ruhr zum bestimmenden Faktor beim Durchbruch der Industrialisierung wurde, sondern im 19. Jahrhundert eine sehr vielgestaltige, in weiten Teilen mittelständische Industriestruktur besaß. Zum zweiten erschwerten auch die kleinstaatlichen Strukturen und die mit ihnen gegebene heterogene Quellensituation eine auf den gesamten Raum Thüringen bezogene Industrialisierungsforschung. Immerhin sind aber bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zahlreiche Arbeiten zur Thematik erschienen, die zu einzelnen Städten, Wirtschaftszweigen und den sozialgeschichtlichen Aspekten breites Material erschlossen haben.2 Zu den wichtigen frühen Arbeiten zählte etwa die 1 Vgl. Wolfgang Mühlfriedel, Die Industrialisierung in Thüringen. Grundzüge der gewerblichen Entwicklung in Thüringen von 1800 bis 1945, Erfurt 2001, S. 137. Die Dynamik des thüringischen Industrialisierungsprozesses zeigt sich etwa auch beim Vergleich mit der Nachbarregion Franken. Hierzu Peter Mast, Politischer Raum und Industrialisierung. Thüringen vor und nach der Reichsgründung im Vergleich zum zeitgenössischen Franken, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 62 (2002), S. 279–303. 2 Verwiesen sei hier auf das umfangreiche Literaturverzeichnis in Horst Moritz, Thüringen im 19. Jahrhundert. Von der Agrar- zur Industriegesellschaft, Teil 1: 1800–1870, Erfurt 2010, Teil 2: 1871–1918, Erfurt 2012.

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Untersuchung von Emanuel Sax über die Hausindustrie im Thüringer Wald mit ihren großes Aufsehen erregenden Berichten über die unhaltbaren sozialen Zustände.3 Johannes Müller legte 1930 eine Studie zur thüringischen Industrie vor, die sich vor allem den Standortfaktoren der vielgestaltigen Fertigwarenindustrie widmete.4 Zu den wegweisenden Arbeiten gehörte dann vor allem Friedrich Becks Untersuchung zur wirtschaftlichen Entwicklung der von der Textilindustrie geprägten reußischen Residenzstadt Greiz, die 1955 vorgelegt wurde, auf die aber leider lange Zeit keine weiteren umfassenden Arbeiten folgten.5 Erst in den 1980er Jahren widmete sich eine leider ungedruckt gebliebene Jenaer Dissertation der Frage, wie der ost- und südthüringische Raum in den 1830er und 40er Jahren von dem sich auch hier allmählich beschleunigenden Industrialisierungsprozess erfasst wurde.6 Auch das gewachsene Interesse, das die thüringische Landesgeschichte nach der deutschen Wiedervereinigung fand, hat sich auf die wirtschaftshistorische Forschung zunächst deutlich weniger niedergeschlagen, als dies bei anderen Bereichen der Fall war.7 Der Niedergang und Verfall traditionsreicher Unternehmen sowie Umstrukturierung und Neuaufbau in früheren industriellen Zentren haben dann aber vielerorts die Beschäftigung mit der modernen Wirtschaftsgeschichte thüringischer Städte und Regionen befördert. Schon 1995 legte Annegret Schüle eine Geschichte des Büromaschinenwerkes Sömmerda (BWS) vor, dessen Anfänge bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichen, als der Schlosser Nikolaus Dreyse eine Metallwarenmanufaktur gründete, die durch das von ihm entwickelte Zündnadelgewehr zu einem Zentrum der preußischen Rüstungsindustrie aufsteigen sollte.8 Weitere Arbeiten widmeten sich dem Ka-

3 Emanuel Sax, Die Hausindustrie in Thüringen. Wirtschaftsgeschichtliche Studien, 3 Teile, Jena 1882–1888. 4 Johannes Müller, Die thüringische Industrie. Eine wirtschaftskundliche Darstellung, zugleich ein Beitrag zur Lehre von den Standortsfaktoren der Fertigindustrie, Jena 1930. 5 Friedrich Beck, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Stadt Greiz während des 19. Jahrhunderts, Weimar 1955. 6 Waltraud Ullrich, Studien zur industriellen Entwicklung Süd- und Ostthüringens in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, Diss. Jena 1986. 7 Vgl. Sabine Wefers, Forschungen in und über Thüringen seit 1990, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 137 (2001), S. 377–424, hier S. 397. 8 Annegret Schüle, BWS Sömmerda. Die wechselvolle Geschichte eines Industriestandortes in Thüringen 1816–1995. Dreyse & Collenbusch – Rheinmetall – Büromaschinenwerk, Erfurt 1995.

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libergbau im thüringisch-hessischen Grenzgebiet,9 der Industrialisierung und ihren Auswirkungen auf die Entwicklung thüringischer Residenz- und Landstädte,10 dem „Porzellanland“ Thüringen11 oder dem Aufstieg der Ruhlaer Uhren- und Werkzeugmaschinenproduktion.12 Ein besonderes Interesse fanden aber vor allem die Jenaer Firmen Zeiss und Schott, deren Aufstieg durch die enge Verknüpfung von wissenschaftlicher Forschung und industrieller Produktion geprägt war und in mehreren neuen Publikationen behandelt wurde.13 Neben solchen erfreulicherweise zunehmenden Untersuchungen zu einzelnen Firmen oder Städten kann man auch auf neuere zusammenfassende Darstellungen zur thüringischen Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Nachdem bereits in den großen Gesamtdarstellungen zur Geschichte Thüringens im 19. Jahrhundert von Facius und Hess Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung ausführlich angesprochen worden sind,14 liegen 9 Ulrich Eisenbach/Akos Paulinyi (Hg.), Die Kaliindustrie an Werra und Fulda. Geschichte eines landschaftsprägenden Industriezweigs, Darmstadt 1998. 10 Falk Burkhardt, Gewerbe, Industrie und Industrialisierung in den thüringischen Residenzen, in: Konrad Scheuermann/Jördis Frank (Hg.): neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen, Essays, Mainz 2004, S. 425–444; Robert Mailbeck, Die verspätete Industrie. Wirtschaft und kommunale Entwicklung in Neustadt an der Orla im 19. Jahrhundert, Weimar 2006; Eva Aymans, Industriekultur in Pößneck. Lebenswelten im 19. und 20. Jahrhundert, Pößneck 2011. 11 Museumsverband Thüringen (Hg.), Porzellanland Thüringen. 250 Jahre Porzellan aus Thüringen, Jena 2010. 12 Jürgen Schreiber, Uhren – Werkzeugmaschinen – Rüstungsgüter. Das Familienunternehmen Gebrüder Thiel aus Ruhla 1862–1972, Köln/Weimar/Wien 2017. 13 Frank Markowski, Der letzte Schliff. 150 Jahre Arbeit und Alltag bei Carl Zeiss, Berlin 1997; Klaus Mütze, Die Macht der Optik. Industriegeschichte Jenas 1846–1996, Bd. 1: Vom Atelier für Mechanik zum Rüstungskonzern, 1846–1946, Weimar u. a. 2004; Dieter Kappler/ Jürgen Steiner, Schott 1884–2009. Vom Glaslabor zum Technologiekonzern, Mainz 2009; Herbert Kühnert, Forschungen zur Geschichte des Jenaer Glaswerks Schott & Genossen. Aus dem Nachlass hg. von Volker Wahl, Köln/Weimar/Wien 2012; Rolf Walter/Wolfgang Mühlfriedel (Hg.), Carl Zeiss. Geschichte eines Unternehmens, Köln/Weimar/Wien 1996– 2004: Bd: 1: Edith Hellmuth/Wolfgang Mühlfriedel, Zeiss 1846–1905. Vom Atelier für Mechanik zum führenden Unternehmen des optischen Gerätebaus, 1996; Bd. 2: Rolf Walter, Carl Zeiss 1905–1945, 2000; Bd. 3: Edith Hellmuth/Wolfgang Mühlfriedel, Carl Zeiss in Jena 1945–1990, 2004; Werner Plumpe (Hg.), Eine Vision – zwei Unternehmen. 125 Jahre Carl-Zeiss-Stiftung, München 2014; Stephan Paetrow/Wolfgang Wimmer, Carl Zeiss. Eine Biografie. 1816–1888, Köln/Weimar/Wien 2016. 14 Friedrich Facius, Politische Geschichte von 1828 bis 1945, in: Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens, Bd. 5: Politische Geschichte in der Neuzeit, Teil 2, Köln/Wien 1978; Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866–1914. Aus dem Nachlass hg. von Volker Wahl, Weimar 1991.

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inzwischen zwei Publikationen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Thüringens im Industriezeitalter vor. Während Wolfgang Mühlfriedel in einem von der Landeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Band die Grundzüge der gewerblichen Entwicklung Thüringens von 1800 bis 1945 skizziert,15 bezieht Horst Moritz in seinen 2010 und 2012 vorgelegten Bänden zum Wandel Thüringens vom Agrar- zum Industriestaat auch die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Industrialisierungsprozesses mit ein.16 Allerdings gehen beide Darstellungen zu wenig auf aktuelle Forschungsfragen ein, etwa den Vergleich mit den Entwicklungsmustern anderer Regionen. Eine umfassende Analyse des thüringischen Industrialisierungsprozesses nach dem Vorbild anderer moderner regionalgeschichtlicher Untersuchungen, wie sie etwa Ralf Banken für die Saarregion oder Hubert Kiesewetter für das Königreich Sachsen vorgelegt haben, fehlt deshalb nach wie vor.17 Sie wäre aber schon deshalb höchst wünschenswert, weil die neuere Industrialisierungsforschung immer deutlicher zeigt, dass es eben nicht einen, das englische Vorbild imitierenden Weg in die Industrialisierung gab, sondern eine Vielfalt regionaler Verlaufsmuster.18 Eine umfassende Analyse des Industrialisierungsprozesses im kleinstaatlichen Thüringen wäre auch deshalb ein wichtiger Baustein der deutschen und europäischen Industrialisierungsforschung, weil sie das noch immer vorhandene Bild der besonderen Rückständigkeit kleinstaatlicher Strukturen korrigieren und die durchaus beachtlichen industriellen Leistungen von kleinen Staaten noch stärker hervorheben könnte. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden die Zusammenhänge von politischer Zersplitterung und wirtschaftlicher Rückständigkeit vor allem von Friedrich List, aber auch vielen anderen Liberalen vielfach thematisiert.19 Der Kleinstaat blockierte demnach nicht nur 15 Mühlfriedel, Industrialisierung (wie Anm. 1). 16 Horst Moritz, Thüringen im 19. Jahrhundert. Von der Agrar- zur Industriegesellschaft, Teil 1: 1800–1870, Erfurt 2010; Teil 2: 1871–1918, Erfurt 2012. 17 Ralf Banken, Die Industrialisierung der Saarregion 1815–1914, Bd. 1: Die Frühindustrialisierung 1815–1850, Stuttgart 2000; Bd. 2: Take-Off-Phase und Hochindustrialisierung 1850–1914, Stuttgart 2003; Hubert Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozeß Deutschlands im 19. Jahrhundert, Köln/Wien 1988. 18 Zusammenfassend zur neueren Forschung Hans-Werner Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 49), München 32011. 19 Vgl. Theodor Schieder, Partikularismus und nationales Bewusstsein im Denken des Vormärz, in: Werner Conze (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, Stuttgart 2 1970, S. 9–38.

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die politische Einigung Deutschlands, sondern auch den wirtschaftlichen Aufstieg der Nation. Für den nationalliberalen Reichstagsabgeordneten und Publizisten Karl Braun hatten solche Strukturen keine Zukunft. Er prophezeite, dass die moderne Wirtschaft – die Dampfmaschinen, Fabriken, Eisenbahnen und Telegraphen – die Kleinstaaten zwangsläufig überrollen müsste.20 Aber auch im Kaiserreich vollzog sich der Großteil des Thüringer Industrialisierungsprozesses noch unter den Bedingungen der Kleinstaaterei, und zwar durchaus mit wachsenden Erfolgen.21 Dem hat eine lange ganz auf den deutschen Nationalstaat und seine Führungsmacht Preußen fixierte Wirtschaftsgeschichtsschreibung über viele Jahre zu wenig Beachtung geschenkt. Im Folgenden soll nun in einem ersten Schritt danach gefragt werden, was sich aus den bisher vorliegenden Forschungen zum Verlauf des Thüringer Industrialisierungsprozesses sagen lässt, um dann in einem zweiten Schritt einige Forschungsperspektiven zu umreißen. Trotz des gewaltigen Einschnitts, welcher der Industrialisierung in der Menschheitsgeschichte zufällt, ist es bekanntlich umstritten, ob man den im 18. Jahrhundert einsetzenden und bis heute anhaltenden wirtschaftlichen Strukturwandel als „Revolution“ bezeichnen soll. Viele Historiker plädieren eher für Begriffe wie Industrialisierung oder modernes Wirtschaftswachstum. Zum einen wurde die Vorstellung eines quantitativen und qualitativen Entwicklungssprungs durch die Erkenntnis relativiert, dass der so genannten „Industriellen Revolution“ eine sehr lange Vorbereitungsphase vorausging und das von ihr ausgelöste wirtschaftliche Wachstum auch im Pionierland England in den frühen Phasen viel bescheidener blieb als lange angenommen.22 Nach allem, was wir wissen, sollte man sich gerade in Bezug auf Thüringen von der Vorstellung einer „Industriellen Revolution“ im Sinne eines qualitativen und quantitativen Entwicklungssprungs verabschieden. Thüringen wurde im frühen 19. Jahrhundert nur allmählich von der neuen industriellen Wirtschaftsweise erfasst und erlebte bis Ende des 19. Jahrhunderts 20 Karl Braun, Verkehrte Verkehrspolitik, in: ders., Bilder aus der deutschen Kleinstaaterei, Bd. 5, Hannover 1881, S. 71–89, hier S. 89. 21 Zur Diskussion über die industriellen Leistungen des Kleinstaates vgl. auch Peter Lange, Kleinstaatlichkeit und Wirtschaftsentwicklung in Thüringen, in: Jürgen John (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 187–204; Hans-Werner Hahn, Deutsche Kleinstaaterei und Industrialisierung. Überlegungen zur Rolle kleiner Staaten im Industrialisierungsprozess am Beispiel des Fürstentums Reuß älterer Linie, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum, Jena 2013, S. 187–192. 22 Vgl. etwa Toni Pierenkemper, Umstrittene Revolutionen. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1996, S. 11–26.

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auch keinen spektakulären Entwicklungssprung, wie ihn manche Führungsregionen der Industrialisierung durchaus verzeichneten. Es war eher ein zunächst langsames, seit den 1840er Jahren aber an Tempo zunehmendes Herauswachsen aus alten Strukturen. Monarchen wie Carl August,23 Minister wie Goethe oder aufgeschlossene Wirtschaftsbürger wie der Erfurter Sebastian Lucius verfolgten zwar schon um 1800 mit Interesse, Goethe auch mit großer Skepsis,24 die technischen Errungenschaften Englands und ihre gesellschaftlichen Folgen. Doch im Unterschied zu Sachsen oder dem Rheinland war von Imitationen englischer Vorbilder zunächst eher wenig zu spüren. Ein deutsches Manchester, wie man das sächsische Chemnitz bald nannte, war in Thüringen nicht zu finden. Auch von dem noch dominierenden Agrarsektor gingen vergleichsweise wenige Wachstumsimpulse aus. Zudem mangelte es an natürlichen Rohstoffen wie Kohle und Eisenerz, deren Abbau in anderen deutschen Regionen wie Oberschlesien, der Ruhr- oder der Saarregion frühe Industrialisierungsfortschritte begünstigte. Auf der anderen Seite verfügte der thüringische Raum aber über eine lange Gewerbetradition, die durchaus Potential für neue Entwicklungen bot. Hierzu gehörte neben dem Textilgewerbe, das seinen Schwerpunkt im ostthüringischen Raum besaß, die Metallverarbeitung, die Glashütten und Porzellanfabriken oder auch die auf überregionalen Märkten präsente Sonneberger Spielwarenproduktion.25 Die Fortschritte blieben bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts freilich begrenzt und reichten nicht aus, um der wachsenden Bevölkerung ausreichende Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen. Vielmehr gehörte der thüringische Raum zu jenen Gebieten, die vom so genannten Pauperismus am stärksten betroffen waren. Erst mit der sich um 1850 beschleunigenden Industrialisierung konnte dann die Kluft zwischen Arbeitskräftepotential und Arbeitsplatzangebot langsam geschlossen und das vormärzliche Massenelend allmählich überwunden werden. Die Ausgangsbedingungen für die Industrialisierung waren in Thüringen somit insgesamt zunächst weniger günstig als in anderen deutschen Regionen wie dem Rheinland oder dem Königreich Sachsen. Vom meist kleinbäuerlichen Agrarsektor gingen nur wenige Impulse aus, um die Ausbreitung industrieller Wirtschaftsformen voranzutreiben. Im gewerblichen Sektor dominierte das 23 Vgl. hierzu Hans-Werner Hahn, Ernestinische Monarchen und industrielle Welt, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 71 (2017), S. 167–187. 24 Ausführlich hierzu Michael Jaeger, Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne, Würzburg 2004. 25 Vgl. den Überblick bei Mühlfriedel, Industrialisierung (wie Anm. 1), S. 23–50.

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Handwerk, das noch weitgehend von vielen Kleinmeistern bestimmt war und auf die lokalen Märkte beschränkt blieb. Thüringen war zudem keine Region, die über reiche Bodenschätze verfügte. Auch von den Manufakturen gingen zunächst kaum Leitfunktionen für den wirtschaftlichen Strukturwandel aus. Die Bedeutung, die der Manufaktur als Vorstufe des Fabriksystems zufiel, ist vor allem von der marxistischen Forschung überschätzt worden. Manche der von den Herrschern geförderten Manufakturen haben auch in Thüringen den Übergang in moderne marktwirtschaftliche Verhältnisse nicht überlebt. Auch die Porzellanmanufakturen litten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert unter Überkapazitäten, am Ende aber fand dieser wichtige Teil der thüringischen Gewerbeproduktion doch den Anschluss an die neuen wirtschaftlichen Entwicklungen.26 Inwieweit den protoindustriellen Gewerbezweigen, also dem Verlagssystem, wie in Teilen Sachsens der Weg in die Industrialisierung geglückt ist, müsste noch genauer überprüft werden. Für das Leinengewerbe des Eichsfelds oder auch die Tuchweberei des Meininger Landes galt dies nicht, in Ostthüringen ergibt sich dagegen ein etwas anderes Bild. Hier lässt sich die Entfaltung der industriellen Wirtschaft durchaus als allmähliches Herauswachsen aus schon länger existierenden protoindustriellen Verhältnissen beschreiben.27 Zu den entwicklungshemmenden Faktoren, die ein zügigeres Einschwenken der thüringischen Wirtschaft auf den Industrialisierungspfad erschwerten, gehörten schließlich auch die Defizite im Bereich der Verkehrserschließung. Es fehlte die Nähe zu den großen Wasserstraßen. Der Eisenbahnbau setzte vielfach nur verzögert ein. Hinzu kamen die schwierigen Zollverhältnisse, die in den ersten zwei Jahrzehnten des Deutschen Bundes gerade den kleinen Staaten Mitteldeutschlands sehr zu schaffen machten, ehe mit der Gründung des Deutschen Zollvereins berechenbare handelspolitische Rahmenbedingungen geschaffen wurden.28 Obwohl man die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen des Zollvereins nicht überschätzen sollte, so begünstigte er doch auch in Thüringen die Innovationsbereitschaft von Unternehmern und Kreditgebern. Noch wichtiger als der Zollverein waren freilich die Wachstumsanstöße, die sein „siamesischer Zwilling“ – der Eisenbahnbau mit all seinen Kopplungseffekten – für die wirtschaftliche 26 Vgl. Peter Lange, Das Thüringer Porzellan in der Wirtschafts- und Technikgeschichte, in: Porzellanland Thüringen (wie Anm. 11), S. 15–24. 27 Vgl. Falk Burkhardt, Grundzüge ostthüringischer Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Greiling/Rüster (Hg.), Reuß (wie Anm. 21), S. 193–214. 28 Vgl. hierzu den Beitrag von Marko Kreutzmann in diesem Band.

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Entwicklung gab. Dennoch blieben diese Effekte im thüringischen Raum bis zur Reichsgründung deutlich schwächer als in den industriellen Führungsregionen Deutschlands. In vielen Teilen Thüringens dauerte es noch Jahre, ehe der Eisenbahnanschluss erreicht war und entsprechende Kopplungseffekte einsetzen konnten. Vor allem aber waren Bergbau, Eisenindustrie und Maschinenbau in den thüringischen Gebieten zu schwach entwickelt, um hier wie im Ruhrgebiet oder an der Saar als Führungssektor die Industrialisierung voranzutreiben. So ließ vor allem das Fehlen geeigneter Bodenschätze, die günstig abzubauen und industriell zu nutzen waren, die 1845 vom Hildburghausener Verleger Carl Joseph Meyer gegründete „Deutsche Eisenbahnschienen-Compagnie“ in Neuhaus-Schierschnitz grandios scheitern. Trotz gewaltiger Investitionen, modernster Technik und qualifizierten Arbeitern wurde das Werk zur größten Fehlinvestition der deutschen Eisenindustrie des 19. Jahrhunderts, weil am Ende die Erzbasis der Region einfach nicht ausreichend war, die Steinkohlen der Region nicht geeignet waren und Meyer damit die falsche Standortwahl getroffen hatte.29 Trotz der Fortschritte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb die Dynamik industrieller Wachstumsprozesse im Thüringer Raum damit doch deutlich hinter derjenigen der industriellen Führungsregionen zurück.30 Dennoch wäre es falsch, bis 1850 ein Bild völliger Stagnation zu zeichnen und jenes wirtschaftliche Entwicklungspotential zu übersehen, das auch in Thüringen bereits vorhanden war und das im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker zur Geltung kommen sollte. An zahlreichen Orten traten frühindustrielle Unternehmer mit neuen Ansätzen hervor. Verwiesen sei etwa auf die Kammgarnspinnereien Eichel in Eisenach und Weiß in Langensalza, auf die Anfänge der Baumwollspinnerei in Gera, die Glaswarenproduktion im Thüringer Wald oder auch die Innovationen des Versicherungspioniers Arnoldi in Gotha. Mit Arnoldi und dem Geraer Textilfabrikanten Ernst Weber trat das Thüringer Wirtschaftsbürgertum auch auf der gesamtdeutschen Ebene als Interessenvertreter und Anhänger des Industrialisierungsbefürworters Friedrich List schon

29 Rainer Fremdling, Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19. Jahrhundert. Die Eisenindustrien in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland, Berlin 1986, S. 333 f. 30 Vgl. den Überblick über die Führungsregionen im Vormärz bei Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49, München 1987, S. 632–637.

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früh in Erscheinung.31 Im breit aufgestellten Handwerk gab es ungeachtet der noch dominierenden Krisenerscheinungen ebenfalls mancherorts entwicklungsfähige Ansätze. Verwiesen sei etwa auf den bereits erwähnten Schlosser Nikolaus Dreyse, dessen Metallbetrieb in Sömmerda durch die Erfindung des Zündnadelgewehrs und die kräftige Nachfrage des preußischen Militärs schon 1848 etwa 600 Beschäftigte zählte.32 Seit den 1850er Jahren gewann die industrielle Produktion dann auch in Thüringen zunehmend an Bedeutung. Wie vielfältig die gewerbliche Produktion um die Jahrhundertmitte bereits war, zeigten die ersten Thüringer Gewerbeausstellungen. Schon 1831 fand eine erste Ausstellung im preußischen Erfurt statt, 1853 dann die erste große Thüringer Gewerbeausstellung in Gotha.33 Bereits zwei Jahre zuvor hatten die thüringischen Staaten ihre wichtigsten Gewerbeerzeugnisse auf der ersten Weltausstellung in London präsentiert. Im Mittelpunkt stand zwar mit dem „Volksfest auf der Rosenau“ noch ein Produkt der Sonneberger Spielwarenherstellung, aber schon die vom jungen Thüringer Moritz Hensoldt gefertigte Mechanik dieses Dioramas unterstrich die Qualität thüringischer Gewerbeerzeugnisse.34 Noch deutlicher wurde dies auf der zweiten großen Thüringer Gewerbeausstellung, die 1861 im Weimarer Schießhaus stattfand, auf der fast 1000 Aussteller ihre Erzeugnisse präsentierten und die von über 30.000 Menschen besucht wurde, wobei auch Thüringer Monarchen der neuen industriellen Welt ihre Reverenz erwiesen.35 Wenn die Thüringer Wirtschaft schon vor der Reichsgründung die Entwicklungsabstände zu den industriellen Führungsregionen verringern konnte, so war dies nicht einem einzelnen dominierenden 31 Sven Ballenthin, Ein Gothaer Unternehmer zwischen privaten Geschäften, städtischem Engagement und nationalen Reformversuchen. Ernst Wilhelm Arnoldi, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt/Jena 2001, S. 231–252. 32 Frank Boblenz, „Bete und arbeite für König und Vaterland“. Zur Biographie des Industriellen Johann Nikolaus von Dreyse, in: Hahn/Greiling/Ries (Hg.), Bürgertum (wie Anm. 31), S. 201–229. 33 Katalog der ersten Allgemeinen Thüringischen Gewerbe-Ausstellung zu Gotha 1853, Gotha 1853. 34 Karsten Porezag, Hensoldt. Geschichte eines optischen Werkes in Wetzlar, Bd. 1: Familienund Gründungsgeschichte, Wetzlar 2001, S. 167–182. 35 „Die zweite Allgemeine Thüringische Gewerbeausstellung in Weimar“, in: Illustrierte Zeitung vom 8. Juni 1861; Katalog der zweiten allgemeinen thüringischen Gewerbe-Ausstellung zu Weimar 1861. Nebst Übersichtsplan und Geschäftsanzeiger, Weimar 1861. Zur gesellschaftlichen Bedeutung solcher Ausstellungen vgl. Thomas Grossbölting, „Im Reich der Arbeit“. Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914, München 2008.

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Führungssektor zu verdanken. Thüringen verfügte vielmehr über eine Gewerbestruktur, in der die Textilindustrie, der Maschinenbau und die Glas- und Porzellanherstellung von besonderer Bedeutung waren, die sich aber darüber hinaus durch eine auffallende Vielfalt auszeichnete. In vielen Fällen entwickelten sich die neuen Industrien aus bereits vorhandenen Gewerbezweigen. Dies galt für die teilweise zur industriellen Massenfertigung übergehende Spielwarenindustrie, die Leder- und Schuhherstellung, das Textil- oder auch das Metallgewerbe.36 In der nach der Reichsgründung einsetzenden Phase der Hochindustrialisierung schloss Thüringen in seiner wirtschaftlichen Entwicklung dann immer mehr zu den bislang führenden Industrieregionen Deutschlands auf, weil man mit Optik und Feinmechanik sowie dem Maschinenbau über Branchen verfügte, die nun die bisherigen Leitsektoren der Schwer- und Textilindustrie ablösten. Man hat in diesem Zusammenhang auch von einer „zweiten industriellen Revolution“ oder auch „zweiten wirtschaftlichen Revolution“ gesprochen.37 Die Kennzeichen dieser sich gerade um 1900 noch einmal beschleunigenden Entwicklung prägten zunehmend auch die Wirtschaftsgeschichte Thüringens. Dies galt besonders für die enge Vernetzung von naturwissenschaftlicher Forschung und technischer Bildung einerseits und unternehmerischen Erfolgen andererseits, wie sie sich vor allem im aufstrebenden Jena zeigte. Während frühere Unternehmenserfolge meist noch auf der Imitation ausländischer Technik beruht hatten, ging die Dynamik nun von eigenen Innovationen und eben der Verbindung von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und industrieller Produktion aus.38 Im Zuge der neuen Entwicklungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert traten aber auch ganz neue thüringische Wirtschaftszweige hervor wie der Kaliabbau an der Werra.39 Wichtige Impulse erhielt der Industrialisierungsprozess ferner durch die Urbanisierungsprozesse. Der Bevölkerungszuwachs in Städten wie Erfurt und Jena regte den Wohnungsbau an und erforderte eine Fülle von Infrastrukturmaßnahmen wie die Gas- und Wasserversorgung, die Elektrifizierung oder der innerstädtische Nahverkehr. Hierzu bietet die leider noch nicht publi-

36 Vgl. Überblick bei Mühlfriedel, Industrialisierung (wie Anm. 1), S. 23–50. 37 Werner Abelshauser, Von der Industriellen Revolution zur Neuen Wirtschaft. Der Paradigmenwechsel im wirtschaftlichen Weltbild der Gegenwart, in: Jürgen Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 201–218. 38 Vgl. Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1989, S. 155–176. 39 Vgl. Eisenbach/Paulinyi (Hg.), Kaliindustrie (wie Anm. 9).

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zierte Dissertation von Marco Schrul anschauliches Material.40 All das eröffnete vielen Unternehmen neue Expansionschancen. Die Konsumgüterindustrie profitierte zudem von den allmählich steigenden Einkommen, was sich etwa am Aufstieg der Erfurter Schuhproduktion zeigen lässt.41 Der Industrialisierungsprozess schlug sich um 1900 zudem immer stärker auch auf die anderen Sektoren der Wirtschaft nieder. Der wachsende Anteil städtischer Bevölkerung und veränderte Konsumgewohnheiten beförderten die Expansion einer modernen Lebensmittelindustrie, von der wiederum die regionale Landwirtschaft profitierte. Auch der tertiäre Sektor erfuhr grundlegende Veränderungen. Der Ausbau des Dienstleistungssektors war nicht allein die Folge der beschleunigten Industrialisierung, vielmehr war der Bereich von Handel, Verkehr und Dienstleistungen gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts selbst ein wichtiger Motor des wirtschaftlichen Wandels. Immer mehr Erwerbspersonen fanden Arbeit im Eisenbahn- und Schiffsverkehr, im Postwesen, bei Banken und Sparkassen sowie in den verschiedensten Sparten des Handels. Die wachsende Rolle, welche die neuen Banken für die thüringische Industriefinanzierung spielten, zeigt vor allem der Blick auf das Meininger Bankhaus Strupp, dem Alfred Erck in den letzten Jahren mehrere Studien gewidmet hat.42 Die 1856 von Strupp und mehreren Frankfurter Privatbankiers in Meiningen gegründete „Mitteldeutsche Creditanstalt“, die sich vor allem dem Gründungs- und Emissionsgeschäft für Industrieunternehmen und Eisenbahngesellschaften widmete, wirkte sich auch auf den thüringischen Industrialisierungsprozess positiv aus.43 Ein wichtiger Motor der thüringischen Hochindustrialisierung waren schließlich die starken außenwirtschaftlichen Verflechtungen. Schon manche vorindustriellen Gewerbe wie die Sonneberger Spielzeugindustrie verdankten ihre Expansion dem Absatz auf zum Teil weit ent-

40 Marco Schrul, Die Umweltgeschichte der Stadt im Zeitalter der Industriellen Revolution. Entwicklungen, Konflikte und Akteure in Apolda, Jena und Weimar 1850–1914, Diss. Jena 2008. 41 Steffen Rassloff, Geschichte der Stadt Erfurt, Erfurt 2012, S. 99–102. 42 Alfred Erck, Kleine Bankengeschichte der Stadt Meiningen, Meiningen 2000; ders., Gustav Strupp als Bankier und Industrieller, 4 Teile, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 24 (2009), S. 163–180; ebd. 25 (2010), S. 155–180; ebd. 26 (2011), S. 249–283; ebd. 27 (2012), S. 173–192; ders., Dr. Gustav Strupp und die Entwicklungen in der thüringisch-fränkischen Porzellanindustrie zwischen 1884 und 1918, in: Porzellanland Thüringen (wie Anm. 11), S. 255–261. 43 Carl-Ludwig Holtfrerich, Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, München 1999, S. 162.

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fernten Märkten.44 Aber auch der Aufstieg neuer Branchen wie der optischen und feinmechanischen Industrie in Jena oder der Uhrenproduktion in Ruhla hing um 1900 ganz wesentlich von ihren Exporterfolgen auf dem Weltmarkt ab. Aus dieser knappen Einordnung der Thüringer Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert ergeben sich vor allem fünf Forschungsperspektiven. Zum Ersten wäre es höchst wünschenswert, auch für Thüringen die Fragestellungen der modernen regionalen Industrialisierungsforschung aufzugreifen. Der Industrialisierungsprozess erfasste in der Regel keineswegs alle Teile eines Staates, Staatenbundes oder einer Provinz gleichermaßen. Industrialisierung, so hat es vor allem Sidney Pollard hervorgehoben, war in England wie in allen Nachfolgestaaten ein regionales Phänomen.45 Der Industrialisierungsprozess begann zunächst in wenigen Führungsregionen, während andere Gebiete kaum erfasst wurden oder sogar als Folge der neuen Entwicklungen an wirtschaftlichem Gewicht verloren. Die regionalen Industrialisierungsprozesse stellten dabei keineswegs eine vollständige Imitation des englischen Vorbildes dar, sondern bildeten aufgrund spezifischer Ausgangsbedingungen jeweils eigene Wachstumsmuster aus. Zu solchen Ausgangsbedingungen zählten Bevölkerungswachstum und -dichte, Boden- und Klimaverhältnisse, Bodenschätze, vorindustrielle Gewerbestrukturen, Unternehmer- und Arbeitskräftepotential, Kapital, Verkehrsverhältnisse, Anbindung an überregionale Märkte oder auch die staatlichen Rahmenbedingungen.46 Zu zahlreichen deutschen Regionen wie Sachsen, Württemberg oder Oberschlesien liegen inzwischen umfassende Studien vor.47 Zur Saarregion hat Ralf Banken eine zweibändige Studie vorgelegt, die für mich den umfassendsten empirischen Beitrag zu einer deutschen Industrieregion des 19. Jahrhunderts darstellt und auch in methodischer Hinsicht neue Wege beschreitet.48

44 Vgl. Heinrich Christoph Hensoldt, Beschreibung der durch ihren Welthandel berühmten Stadt Sonneberg im Herzogthum Sachsen-Meiningen, Nürnberg 1845, S. 102–129. 45 Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981, S. 84–86. Vgl. ferner ders. (Hg.), Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte, Göttingen 1980. 46 Ausführlich hierzu Hubert Kiesewetter, Region und Industrie in Europa 1815–1995, Stuttgart 2000. 47 Zum Forschungsstand Hahn, Industrielle Revolution (wie Anm. 18), S. 98–106 u. 129–132. 48 Banken, Industrialisierung (wie Anm. 17).

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Vor einigen Jahren hat Kiesewetter eine Typologie des Industrialisierungsverlaufs deutscher Regionen vorgelegt.49 Der erste Typus umfasst jene Pionierregionen, die wie Sachsen oder Teile des Rheinlandes relativ früh dem englischen Modell folgten und deren Wachstum vor allem von der Textilindustrie sowie den Bereichen Kohle und Stahl mit all ihren nachgelagerten Zweigen getragen wurde. Zum zweiten Typus gehören Regionen, in denen die Industrialisierung aufgrund ungünstigerer Ausgangsbedingungen zunächst nur langsam Fuß fasste, die aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch neue Ansätze in anderen Bereichen zu den Pionierregionen aufschlossen. Der dritte Typus umfasst schließlich Regionen, die auf ihrer landwirtschaftlichen Basis verharrten oder durch die Dynamik der anderen Regionen ihre vorindustriellen Gewerbestrukturen verloren. Der erste Typus ist von der Forschung inzwischen umfassend bearbeitet worden. Was die zur zweiten Gruppe gehörenden Regionen betrifft, so gibt es weiteren Forschungsbedarf zum jeweiligen Aufholprozess, seinen Verlaufsmustern und Führungssektoren. Das gilt in besonderem Maße für Thüringen, das in weiten Teilen um 1870 eine im deutschen Vergleich hohe Gewerbedichte aufwies.50 In diesem Zusammenhang wäre aber nicht nur nach den Ausgangsbedingungen erfolgreicher Industrialisierungsprozesse zu fragen, sondern auch danach, inwieweit man überhaupt von Thüringen als einer zusammenhängenden Wirtschaftsregion sprechen kann. Innerhalb des heutigen Thüringens gab es um 1870 gravierende Entwicklungsunterschiede. Während etwa das Eichsfeld durch den Niedergang des Leinengewerbes dem dritten Typus zuzuordnen ist, treten in Ostthüringen schon Entwicklungsmuster hervor, die denen des Königreichs Sachsen folgen. Reuß älterer Linie mit dem Zentrum Greiz nahm 1871 bei dem Anteil der Industriebeschäftigten hinter dem Kreis Zwickau deutschlandweit den zweiten Platz ein.51 Hier wäre übrigens zu fragen, inwieweit man regionalgeschichtliche Studien noch an staatlichen Grenzen ausrichten kann. Viele Untersuchungen zur regionalen Industrialisierung orientieren sich noch zu stark an staatlichen Verwaltungseinheiten. Die wirtschaftlichen Ausbreitungsprozesse erfassten aber stets nur Teile solcher Einheiten und überschritten oft die administrativen Grenzen. So war der Aachener Raum, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der deutschen Industrialisierung eine Führungsrolle einnahm, 49 Hubert Kiesewetter, Regionale Industrialisierung in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung. Ein vergleichend-quantitativer Versuch, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 38–60, hier S. 59. 50 Vgl. ebd., S. 46–49. 51 Ebd., S. 52.

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sehr eng mit dem benachbarten Lütticher Gebiet verflochten. Und der RheinMain-Raum, der wie Teile Thüringens zu den besonders erfolgreichen Nachzüglerregionen gehörte, setzte sich bis 1866 aus Gebieten von drei hessischen Staaten, dem Herzogtum Nassau und der freien Stadt Frankfurt zusammen.52 Ähnlich war es im Raum Mannheim-Ludwigshafen. Man wird bei Untersuchungen zur Thüringer Industrialisierung Ostthüringen wohl als einen eigenen Wirtschaftsraum mit engeren Verflechtungen zu Sachsen ansehen müssen und die besonderen Verflechtungen zwischen dem südthüringischen Raum zu Franken ebenso berücksichtigen müssen wie die westthüringischen Verflechtungen mit Teilen Hessens. Es wäre eine lohnende Aufgabe künftiger wirtschaftshistorischer Forschung, diese Beziehungen noch ausführlicher zu erfassen, die einzelnen Wirtschaftsräume genauer abzugrenzen, die Unterschiede im jeweiligen Industrialisierungsverlauf präziser zu bestimmen und die Entwicklungen mit ähnlich strukturierten Räumen zu vergleichen. Ein zweites wichtiges Forschungsfeld betrifft die Herkunft der Thüringer Unternehmer und hier vor allem die Bedeutung des Handwerks für die regionale Industrialisierung. Auf der einen Seite durchlebte das traditionelle Handwerk im 19. Jahrhundert schwere Strukturkrisen, denen viele Betriebe zum Opfer fielen. Andererseits ist das Bild vom stetigen Niedergang des Handwerks zu einseitig, denn handwerkliches Können war eine nicht unwichtige Mitgift des vorindustriellen Zeitalters, und unter den erfolgreichen Unternehmern des 19. Jahrhunderts gab es deshalb durchaus eine beträchtliche Zahl ehemaliger Handwerker. Dies galt besonders für den Maschinenbau und das Metallgewerbe.53 Für den Rhein-Main-Raum, vor allem für Höchst, Offenbach, Frankfurt und Mainz, ist nachgewiesen worden, welch wichtige Rolle ein sich industrialisierendes Handwerk für den Strukturwandel der Region spielte und wie gelerntes Handwerk in modernisierte Industriebetriebe überging. Für Thüringen hat Wolfgang Huschke schon vor 50 Jahren in einer größeren Untersuchung über die Herkunft der Thüringer Unternehmerschaft gezeigt, dass der Großteil der Unternehmer aus dem handwerklichen Milieu stammte. 57 % der erfassten Thüringer Unternehmer hatten Eltern, die aus dem Handwerk stammten, 62  % entsprechende Großeltern. Die nächstgrößere Gruppe bildeten dann

52 Vgl. hierzu Hans-Werner Hahn, Wirtschaft und Verkehr 1800–1945, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 1: Bevölkerung, Wirtschaft und Staat in Hessen 1806–1945, Marburg 2010, S. 73–249. 53 Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975, S. 47–50.

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Kaufleute und Gastwirte.54 Über diese Zahlen hinaus könnte man aber noch einmal detaillierter danach fragen, warum die handwerklichen Traditionen für die regionale Industrialisierung so wichtig waren und inwieweit dies etwa auch mit einem Thüringen oft zugeschriebenen überdurchschnittlichen Bildungsstand der Bevölkerung zusammenhing.55 Ein dritter Bereich künftiger Forschung betrifft das Verhältnis von Staat und Wirtschaft.56 Die Rolle des Staates im deutschen Industrialisierungsprozess ist lange überschätzt worden. Dies schlägt sich in den lange Zeit zu positiven Urteilen über Preußens Verdienste ebenso nieder wie in der überzogenen Kleinstaatenkritik. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass die Industrialisierung in Deutschland nirgendwo eine staatliche Veranstaltung war und keiner bewussten staatlichen Planung unterlag. Auf der anderen Seite stellte der Staat als Gesetzgeber, Administrator, Konsument oder auch in seiner Unternehmerfunktion aber durchaus wichtige Weichen. So profitierten Teile Thüringens zumindest langfristig davon, dass das kurzlebige Königreich Westfalen viele institutionelle Hemmnisse für wirtschaftliches Wachstum beseitigt hatte. Andererseits brachte die preußische Zollgesetzgebung nach 1815 für die Kleinstaaten zeitweise harte Belastungen mit sich.57 Politische Grenzen und staatliches Handeln waren für die wirtschaftliche Entwicklung also keineswegs völlig irrelevant. In Bezug auf die Thüringer Kleinstaaten wäre etwa zu fragen, inwieweit fehlende Geldmittel zu geringeren Leistungen beim Aufbau von Infrastruktur führten oder ob ihre Gewerbegesetzgebung im Vergleich zu Preußen den Aufbau neuer Industriezweige bis in die 1860er Jahre behinderte. Um 1850 scheiterte in Südthüringen der Aufbau eines feinmechanischen Werkes an den dortigen Bürgerrechtsbestimmungen, sodass der Unternehmer schließlich in eine preußische Stadt zog.58 Solchen institutionellen Rahmenbedingungen ist größere Aufmerksamkeit zu schenken als der Frage nach der direkten staatlichen Gewerbeförderung. Hier 54 Wolfgang Huschke, Forschungen über die Herkunft der thüringischen Unternehmerschicht des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden 1962. 55 Zur hohen Schuldichte in Thüringen und den zahlreichen reformpädagogischen Ansätzen vgl. Wilhelm Flitner, Wissenschaft und Schulwesen in Thüringen von 1550 bis 1933, in: Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. IV: Kirche und Kultur in der Neuzeit, Köln/Wien 1972, S. 53–206. 56 Vgl. hierzu den Forschungsüberblick bei Rudolf Boch, Staat und Wirtschaft im 19.  Jahr­ hundert, München 2004. 57 Vgl. hierzu den Beitrag von Marko Kreutzmann in diesem Band. 58 Vgl. Porezag, Hensoldt (wie Anm. 34), S. 103–108. Ausführliche Darstellung der ent­ sprechenden Bemühungen bei Christine Hensoldt-Belz, Zwei Pioniere der Optik. Carl Kellners Briefe an Moritz Hensoldt 1846–1852, Gladenbach 2007.

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hatten kleine Staaten zwar weit weniger Mittel als etwa Preußen, aber man darf Ausmaß und Wirkungen direkter staatlicher Gewerbeförderung ohnehin nicht überschätzen. Weit wichtiger als die direkte Subventionierung von Unternehmen waren staatliche Initiativen im Bildungsbereich. Gerade für Thüringen könnten Untersuchungen zum Zusammenhang von Bildungsstand und wirtschaftlicher Entwicklung wichtige neue Aufschlüsse vermitteln. Zwar besaß Thüringen im 19. Jahrhundert keine technische Hochschule wie Karlsruhe oder Darmstadt, aber auch in den Kleinstaaten entstanden zahlreiche Fachschulen. So hat gerade Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen in seiner Regierungszeit spezielle Bildungsstätten wie die „Zeichen- und Modellierschule“ in Lauscha oder eine „Modellier- und Holzschnitzschule“ in Sonneberg ins Leben gerufen. Der Herzog war der Ansicht, dass Geschmack und Kunstfertigkeit der Produzenten von Spielwaren und Glas noch ungenügend ausgeprägt seien, und wollte daher über Schulen und Ausstellungen zu Qualitätsverbesserungen und dem Ausbau der Gewerbe beitragen.59 Ein vierter Bereich, der eng mit der Rolle des Staates zusammenhängt, bezieht sich auf die Bedeutung politischer Zäsuren für die wirtschaftliche Entwicklung der thüringischen Kleinstaatenwelt. Im Unterschied zu Sachsen oder dem Rheinland sind die wirtschaftlichen Folgen, von denen Thüringen unter den Sonderbedingungen der napoleonischen Zeit – vor allem durch die Kontinentalsperre – betroffen war, noch wenig erforscht.60 Auch zu den Wirkungen des Zollvereins und der von ihm betriebenen Tarifpolitik ist noch zu wenig bekannt. Vor allem aber wäre auch gezielter danach zu fragen, welche Wachstums­impulse die 1815 vollzogene preußische Besitznahme großer thüringischer Gebiete langfristig mit sich brachte und wie sich später die Reichsgründung und die neue Wirtschaftsgesetzgebung des Reiches auf die wirtschaftliche Entwicklung Thüringens auswirkten. Fünftens schließlich eröffnet das große Feld der gesellschaftlichen und politischen Folgen der Hochindustrialisierung zahlreiche Forschungsperspektiven. Zu den politischen Prozessen gibt es reichlich Literatur, eine moderne Gesellschaftsgeschichte Thüringens, welche die Heterogenität der sozialen Verhält59 Hans-Werner Hahn, Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel im Herzogtum SachsenMeiningen, in: Maren Goltz/Werner Greiling/Johannes Mötsch (Hg.), Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826–1914). Kultur als Behauptungsstrategie, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 173–186, hier S. 181. 60 Zu Erfurt vgl. Horst Moritz, Die französische Herrschaft über Erfurt 1806–1814, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 67, NF 14 (2006), S. 161–199.

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nisse angemessen erfasst, steht nach wie vor aus, wenngleich etwa Arbeiten zu Erfurt in jüngster Zeit wichtige neue Kenntnisse vermittelt haben.61 Im Hinblick auf das Industrialisierungsthema wäre aber vor allem auch gezielter danach zu fragen, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts auf die Debatte über die Leistungsfähigkeit des Kleinstaates auswirkte. Gewiss war die Kleinstaatenkritik in ökonomischer Hinsicht oft völlig überzogen. Dennoch ließen die neuen Entwicklungen der Hochindustrialisierung um 1900 auch die Grenzen der kleinstaatlichen Strukturen deutlich hervortreten, etwa beim Aufbau der modernen Verkehrs- und Energiewirtschaft. Sowohl im Wirtschaftsbürgertum als auch in der Arbeiterbewegung wurde bekanntlich schon vor 1914 deshalb eine Anpassung der politisch-administrativen Strukturen angemahnt.62 Die Industrialisierungsgeschichte Thüringens bietet somit noch breiten Raum für moderne Forschungen. Lohnend erscheinen sowohl Untersuchungen zu einzelnen Branchen, Unternehmern, Städten und Teilregionen als auch eine umfassende Analyse der Gesamtentwicklung nach dem Vorbild moderner regionalgeschichtlicher Ansätze, durch welche Thüringens Rolle im deutschen und europäischen Industrialisierungsprozess noch genauer bestimmt werden könnte.

61 Jürgen Schmidt, Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870–1914, Göttingen 2005; Steffen Rassloff, Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur, Köln/Weimar/Wien 2003. 62 Zu den entsprechenden Debatten vgl. Beate Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen. Staatsbildung und Reformpolitik 1918–1923, S. 20–75.

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Agrarwirtschaft, ländliche Gesellschaft und frühe Industrialisierung Beobachtungen aus dem mittel- und nordostdeutschen Raum (1770–1830/50)

An Erklärungsmodellen und theoretischen Konzepten hinsichtlich der sich allmählich entwickelnden frühen Industrialisierung herrscht kein Mangel.1 Weitgehend Konsens besteht darüber, dass die frühe Industrialisierung aus einer sich forcierenden gewerblichen Entwicklung jenseits des Manufakturwesens erwuchs. Zünftiger, vor allem jedoch verlagsmäßiger und individueller Gewerbefleiß besaßen folglich einen bedeutend stärkeren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung als die größtenteils subventionierten Manufakturen. Eine wichtige Antriebskraft dieser Entwicklung war die ungebrochene Nachfrage nach gewerblichen Produkten; vorrangig nach Textilien, Glas und Industrieporzellanen, nach anspruchsvollen Konsumgütern (Tee, Kaffee, Kakao), aber auch nach Branntwein und Tabak. Da in allen Regionen am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Bevölkerung noch größtenteils im ländlichen Raum beheimatet war, sind in der Inkubationszeit frühindustrieller Entwicklung besonders die Dörfer, Kleinstädte und Gewerbereviere sowie folglich das Landhandwerk bzw. die Hausindustrie ins Blickfeld zu nehmen.2 In Sachsen (in den Grenzen von 1952) lag der Anteil der ländlichen Bevölkerung in den Stichjahren 1550, 1750 und 1843 fast gleichbleibend stabil bei zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung – er blieb sogar in der Frühphase der Industrialisierung konstant, was mit Recht auf die gewerbliche Produktivität der ländlichen Bevölkerung bzw. des Landhandwerks zurückzuführen ist.3 Der demographische, sozialstrukturelle und wirtschaftliche Anteil des Landhandwerks bzw. der Heimindustrie ist folglich eine herausragende 1 Hans-Werner Hahn, Die industrielle Revolution in Deutschland, München 32011; Toni Pierenkemper, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1994. 2 Wilfried Reininghaus, Gewerbe in der frühen Neuzeit, München 1990, S.  71–90; Walter Achilles, Landwirtschaft in der frühen Neuzeit, München 1991, S. 115–117. 3 Karlheinz Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur Industriellen Revolution, Weimar 1967, S. 163.

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Kennziffer bei der Erklärung gewerblicher bzw. frühindustrieller Entwicklungen um sowie nach 1800. Das Phänomen des Landhandwerks ist seit dem Spätmittelalter in den Quellen zu fassen – so auch im obersächsisch-thüringischen Raum. Der Bergbau im Erzgebirge, um Saalfeld oder im Mansfelder Land, die thüringischen Saigerhütten, die Glas- und später auch die Porzellanfabrikation im Thüringer Wald sowie die großen mitteldeutschen Leinwandreviere haben dieser Region ein Gepräge gegeben, das bis weit ins 19. Jahrhundert hinein raum- und siedlungsbestimmend war.4 Die Landhandwerker, die in den Quellen nicht zwingend so bezeichnet worden sind, erscheinen in Steuerregistern, Kirchenbüchern oder in protostatistisch-zeitgenössischen Quellen als Häusler, Hausgenossen, Drescher oder Tagelöhner. Ein Häusler war ein Hausbesitzer, der über kein Land in der verhuften Flur verfügte. Ihm gehörte allein sein Haus; gegebenenfalls mit einer unmittelbar daran anliegenden Parzelle. Häusler (auch: Katner, Hauszinser, Drescher o. Ä.) konnten indes etwas Kleinvieh oder sogar eine Ziege besitzen, so dass sie nicht gänzlich auf den Lebensmittelmarkt angewiesen waren.5 Die Masse der Häusler verdiente sich als Landhandwerker und/oder Tagelöhner. Hausgenossen lebten hingegen unterm Dach eines Mittel- oder Großbauern bzw. bei einem Herrn im Gesindehaus. Sie besaßen einen eigenen Herd und es wurde ihnen zugestanden, sich zu vermählen. Die Hausgenossen arbeiteten für ihre Herren in der Landwirtschaft und/oder als Landhandwerker (zumeist als Leinwandweber). Hausgenossen besaßen im Prinzip weder Land noch Vieh. Bei den Häuslern und Hausgenossen war entscheidend, dass die Frauen und Kinder in Lohn- und/oder Verlagsarbeit unbedingt mit zur Ernährung der Familie beitragen mussten. Es versteht sich fast von selbst, dass diese soziale Schicht immer am Rande des Existenzminimums lebte und arbeitete. Bevölkerungs- und sozialgeschichtlich ist freilich von Belang, dass die Eheleute zum Bevölkerungswachstum beigetragen haben. 4 Wolfgang von Stromer, Gewerbereviere und Protoindustrien in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: Hans Pohl (Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, S. 39–111; Gerhard Heitz, Ländliche Leinenproduktion in Sachsen (1470–1555), Berlin 1961; Wilhelm Stieda, Die Anfänge der Porzellanfabrikation auf dem Thüringerwalde. Volkswirtschaftlich-historische Studien, Jena 1902; Peter Lange, Die Glasherstellung und ihr Nebengewerbe im Südthüringer Raum vor 1870, Mengersgreuth-Hämmern 2014; Jochen Vogel, Steinach macht Blau. Zur Herstellung der Farbe „Berlinerblau“ im 18. Jahrhundert, Steinach 2013. 5 Uwe Schirmer, Art. „Häusler“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 3, Berlin 22008, Sp. 813–815.

Agrarwirtschaft, ländliche Gesellschaft und frühe Industrialisierung 

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Der Anteil des Landhandwerks (Gewerbedichte auf dem Lande) ist jedoch nur eine Kenngröße unter vielen. Ebenso bedeutsam sind die Marktquote der Landwirtschaft sowie die Bevölkerungszahl insgesamt. Da – wie angedeutet – große Teile der Bevölkerung vom Lebensmittelmarkt abhängig waren, kam dem Agrarsektor eine zentrale Stellung bei der Versorgung der Gesamtbevölkerung mit Nahrungsmitteln zu. Hinsichtlich des Agrarsektors sind jedoch verfassungsrechtliche und wirtschaftsstrukturelle Unterschiede im lokalen und regionalen Bereich zu beachten. Es war von Relevanz, ob das altfränkische Recht der Realteilung oder das altsächsische Recht der geschlossenen Hofübergabe gebräuchlich war. Hinsichtlich des fränkischen Rechts, das in weiten Teilen Thüringens Anwendung fand, scheint entscheidend gewesen zu sein, dass die landwirtschaftlichen Betriebe kleiner waren als beispielsweise im Geltungsbereich des sächsischen Rechts (Magdeburger Börde, östlich der Saale). Infolge der kleineren Betriebsgröße der Höfe war die Marktquote niedriger. Zwar konnte die geringe Marktquote im Regionalen durch den überregionalen Warenverkehr kompensiert werden, jedoch nicht bei schwerwiegenden Missernten und Ertragsausfällen.6 Spätestens seit dem 16. Jahrhundert kann im Untersuchungsraum beobachtet werden, dass bei Getreidepreissteigerungen, die sehr oft durch Missernten ausgelöst worden sind, der Lebensmittelhandel (besonders mit Brotgetreide) drastisch zurückgefahren wurde. Die Energie – in dem Falle der Futterhafer für die Pferde – fraß die potentiellen Gewinne auf. Die Fuhrleute spannten aus, so dass ganze Gebirgsregionen unter Getreidemangel und schließlich unter Hunger litten.7 Die verfassungsrechtlichen Gegebenheiten haben also nicht nur die soziale Strukturierung der bäuerlichen Betriebe beeinflusst, sondern auch die Marktquote sowie die Lebensmittelversorgung. Mittel- und Großbauern haben zu allen Zeit verstärkt für den Markt produziert. Hinzuzufügen ist ferner, dass nicht allein die Groß- und Mittelbauern die Märkte versorgt haben, sondern auch landwirtschaftliche Großbetriebe wie die landesherrlichen Domänen und Vorwerke oder die Masse der Rittergüter, die sich in bürgerlichen oder adligen Besitz befanden. Im mitteldeutschen Raum war der Großgrundbesitz verstärkt in der Magdeburger Börde, um Querfurt und Merseburg sowie teilweise auch im Königreich Sachsen heimisch. In der preußischen Provinz Sachsen war dies6 Günther Franz, Die Geschichte des Landwarenhandels, Hannover 1960, S. 84–102. 7 Uwe Schirmer, Anmerkungen zur regionalen Bevölkerungsentwicklung in Thüringen (1500–1800), in: Stefan Gerber/Werner Greiling u. a. (Hrsg.), Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland, Göttingen 2015, Teil 2, S. 581–600, hier S. 582 f.

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bezüglich der Regierungsbezirk Erfurt in Vergleich zu den Regierungsbezirken Magdeburg und Merseburg eindeutig bäuerlicher bzw. kleingrundherrlicher geprägt.8 Die großen Latifundien, auf denen nach circa 1860 zudem der Zuckerrübenanbau dominierte, sind im thüringischen Teil der Provinz Sachsen kaum zu finden. Das mit wenigen Strichen skizzierte agrarrechtliche und agrarwirtschaftliche West-Ost-Gefälle wird durch eine bemerkenswerte zeitgenössische Quelle aus der Mitte des 19. Jahrhunderts untermauert. Es handelt sich um die Landeskunde des 1826 entstandenen Herzogtums Sachsen-Meiningen. Ihr Verfasser ist der im Jahr 1800 in Oberneubrunn geborene Georg Brückner. Brücker hat, wie zeitgleich Wilhelm Heinrich Riehl oder geraume Zeit später Eberhard Gothein, seine Untersuchungsregion um 1850 durchwandert,9 um durch eigene Beobachtungen und persönliche Gespräche unmittelbare Erkenntnis für seine historisch-geographische Beschreibung schöpfen zu können. Brückner durchstreifte das Meininger Unter- und Oberland entlang der Werra ebenso wie jene Gebiete, die sich von Sonneberg über den Rennsteig bis in den Orlagau hinzogen. Letztlich entdeckte und beschrieb er das Verwaltungsamt Camburg, das durch die Saale und damit durch die alte Rechtsgrenze zwischen fränkischem und sächsischem Recht zweigeteilt war. Ausdrücklich geht er auf das Erbrecht, folglich auf die Größe der Bauerngüter und letztlich auf die Marktbeziehungen ein. Er schreibt: „Von dieser Geschlossenheit der Güter geht man auf der Meißner Seite niemals ab, wohl aber auf der Thüringer, wo die zu große Zerstückelung des väterlichen Erbeigens keinen tüchtigen Bauernstand aufkommen lässt; denn solche Zwerglandwirtschaften haben nicht allein das Unzulängliche, die darauf neu begründete Familie zu ernähren, sondern aller Nachdruck geht ihnen ab, den Boden auf das Beste zu benutzen. Auf der Meißner Seite sind den geschlossenen, meist von keinen Schulden belasteten Bauerngütern ausreichend fleißige Hände, dazu Einsicht und Kapital und sparsame Kindererzeugung zugewendet, und darum blüht hier der Ertrag des Bodens, Bedingungen, die der Thüringer Seite fehlen“.10 Weiterhin lobt er besonders auf der Meißner 8 Eduard Müller, Der Großgrundbesitz in der Provinz Sachsen. Eine agrarstatistische Untersuchung, Jena 1912, S. 89–93. 9 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Erster Band: Land und Leute, Stuttgart 41857; Michael Maurer, Eberhard Gothein (1853–1923). Leben und Werk zwischen Kulturgeschichte und Nationalökonomie, Köln 2007, S. 66–71 („Wandern als Wissenschaft“). 10 Georg Brückner, Landeskunde des Herzogtums Meiningen. Zweiter Teil: die Topographie des Landes, Meiningen 1853, S. 704 f.

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Seite den Ackerbau, die Viehzucht sowie Garten- und Obstkultur in höchsten Tönen. Eigens betont Brückner, dass die Bauern bereits die Vierfelderwirtschaft eingeführt haben und im starken Umfang agrarische Produkte exportieren. Beispielsweise beliefern sie ihr Getreide zu den Märkten nach Naumburg, Jena und Eisenberg – ausdrücklich wird das „sächsische Vogtland“, als eine Pionierregion der frühen Industrialisierung genannt. Insgesamt hält Brückner fest, dass „das Amt Camburg fast durch und durch ein ökonomisches Land ist und im Vergleich zu den übrigen Amtsdistrikten die reichste Scheune und der beste Viehstall des Herzogtums“ sei. Abschließend sei angemerkt – dies geht aus Brückners Beschreibung deutlich hervor –, dass alle Gemarkungen im Verwaltungsbezirk Camburg noch nicht separiert waren. Es herrschte also noch der Flurzwang mit Brache vor.11 Nicht nur Gewerbe- und Bevölkerungsdichte prägten den sich allmählich entfaltenden Industrialisierungsprozess, sondern auch die Leistungsstärke der Landwirtschaft. Für die thüringische Landwirtschaft und das Gewerbe des 19. Jahrhunderts kam erschwerend hinzu, dass wichtige Nebenerwerbszweige wie der Wein- oder Waidanbau endgültig weggebrochen waren. Der Weinanbau erfuhr zwar bereits seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts heftige Rückschläge, vollends zum Niedergang kam es jedoch erst im 19. Jahrhundert durch die amerikanische Reblaus sowie infolge des Mehltaus.12 Hinsichtlich der Kommerzialisierung des ländlichen Raumes war das ein schwerer Rückschlag. Komplizierter vollzog sich der Niedergang beim Waid.13 Zwar stand ihm seit der Entdeckung Amerikas und den Indigoimporten ernsthafte Konkurrenz entgegen, entscheidend scheint jedoch gewesen zu sein, dass die Bauern im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also in Zeiten hoher Getreidepreise,14 sehr wohl und bedacht betriebswirtschaftlich kalkuliert haben. Der nicht völlig zum Erliegen gekommene Waidanbau im kursächsischen Amt Langensalza sollte nach 1753 wieder in Gang gebracht werden. Dies verweigerten die Bauern indes mit Hinweisen auf die geringeren fiskalischen Erträge: Beim Waid lag 11 Ebd., S. 704–706. 12 Gebhard Falk, Der Jenaer Weinbau. Ergänzt und hrsg. von Karsten Kirsch und Wolfram Proppe, o. O. [Erfurt] 2013, S. 121 f. 13 Frank Boblenz, Gelbe Blüten und blaue Farbe – zum Waidanbau im Erfurter Landgebiet im 16. Jahrhundert, in: Heimat Thüringen 21 (2014), S. 46–48; Hansjürgen Müllerott, Quellen zum Waidanbau in Thüringen, mit einem Exkurs in die anderen Waidanbaugebiete Europas und Vorderasiens, Arnstadt 1992. 14 Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg u. a. 1978, S. 184–195.

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er pro Acker bei drei Talern und zwölf Groschen, beim Roggen jedoch bei vier Talern und 13 Groschen. Außerdem führten sie an, dass inzwischen viele Triften gesperrt seien, womit sie indirekt die intensive Schafhaltung des Adels kritisierten.15 Die bäuerlichen Preiskalkulationen illustrieren zugleich, wie exakt die Märkte beobachtet worden sind und in welchem Maße die Bauern betriebswirtschaftlich agiert haben. Nichts bekräftigt die Kommerzialisierung der ländlichen Gesellschaft besser als dieses Beispiel.16 Zwischen 1770 und 1840 hat sich die Zusammensetzung des Bruttosozialproduktes beständig zugunsten des gewerblich-frühindustriellen Sektors sowie stets zuungunsten des agrarischen Sektors verändert. Es kommt hinzu, dass gleichermaßen die Anzahl der Beschäftigten im Agrarsektor kontinuierlich abnahm, während sie in Industrie und Handwerk (einschließlich des Dorf- oder Landhandwerks) immerfort zunahm. Immer weniger Beschäftigte in der Landwirtschaft haben also immer mehr Menschen ernährt. Die durchschnittlichen Getreideerträge im Deutschen Bund/Deutschland sind in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch nur marginal angestiegen: beim Weizen von 10,3 auf 12,3 dt/ha, bei Roggen von 9,0 auf 10,2 und bei der Sommergerste von 8,1 auf 9,7; allein beim Hafer ist der Zuwachs deutlich: von 6,8 auf 9,5 dt/ha.17 Hinsichtlich der Ernährung war der Siegeszug der Kartoffel ausschlaggebend. Die Pflanze kam um bzw. nach 1700 aus Oberfranken ins Vogtland sowie ins Werratal. Ihr Anbau ist zu den Jahren 1690 und 1722 auf dem Rittergut Lunzig (Landkreis Greiz) belegt. Weiterhin kann der Kartoffelanbau im erzgebirgischen Stützengrün (1712), auf den im Reußischen Oberland gelegenen Rittergütern Brückla (1715) und Hohenölsen (1728), in Wasungen (1731), in Machern bei Leipzig (1740) oder für das Jahr 1742 in Zoppoten (Orlagau) nachgewiesen werden. Im Thüringer Becken wurde die Kartoffel wahrscheinlich erst etwas später (1751 Erfurt; 1757 Weimar) angebaut.18 Die Beispiele, vor allem nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, ließen sich vermehren. 15 Jörg Ludwig, Amerikanische Kolonialwaren in Sachsen 1700–1850. Politik, wirtschaftliche Entwicklung und sozialer Wandel, Leipzig 1994, S. 111 f. 16 Stefan Brakensiek/Barbara Krug-Richter, Editorial [zu: Die Kommerzialisierung ländlicher Gesellschaften vor der Industrialisierung], in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 59 (2011), 2, S. 8–13. 17 Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993, S. 222 f. 18 Rudolf Schramm, Wie kam die Kartoffel ins Oberland (Manuskript im Landesarchiv Thüringen-Staatsarchiv Greiz, Bücherei P02/01); L. Bennert, Der Kampf um den Kleebau und die Hut- und Triftgerechtigkeit im Neustädter Kreis (1714–1848), Dissertation Universität Jena 1924 (masch.); J. M. Richter, Zum Beginn und zur Ausbreitung des Kartoffelanbaus

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Hinsichtlich der Kartoffel war entscheidend, dass sie anfangs fast ausschließlich in Gärten angepflanzt wurde. Das war aufgrund des fast allerorts vorherrschenden Flurzwangs die einzige Möglichkeit, sie anzubauen. Eine andere Handhabe war es, Kartoffeln auf dem Pfarrlehn der Kirche anzupflanzen – so in Königshain (Herrschaft Schönburg), wo die Knollen zuerst im Zehntfeld angebaut worden sind. Jedoch verbot dies 1744 der Grundherr aufgrund der herrschaftlichen Hut- und Triftrechte. Ein ähnliches Verbot ist aus dem Jahr 1776 aus Bibra überliefert, wo der Grundherr das Besömmern der Brache mit Senf und Erbsen untersagte.19 Die Verbote illustrieren, welche Barrieren die Hut- und Triftgerechtigkeit gegenüber dem agrarischen Fortschritt aufgetürmt hat. Zugleich dokumentiert aber auch das Beispiel aus Königshain das Engagement der sogenannten „Kartoffelpastoren“, denn ohne die Einwilligung des Pfarrers war es wohl kaum möglich gewesen, das Zehntfeld zu bebauen. Nicht wenige Dorfpfarrer propagierten vielerorts den Kartoffelanbau. Indirekt beförderte vor allem die verheerende Hungersnot von 1771/72 den Kartoffelanbau. Das untermauert die Ertragsentwicklung im Kurfürstentum Sachsen. Im Jahr 1755 wurden rund 144.570 Scheffel Kartoffeln geerntet, 1772 brachte die Ernte bereits 769.473 Scheffel ein. Im Jahr 1790 waren es sodann 1.858.800 Scheffel und 1812 über 2.145.000 Scheffel Kartoffeln. Damit hatte sich der Mengenertrag zwischen 1772 und 1812 verdreifacht. Die positive Entwicklung setzte sich ungehindert fort. Empirisch ist sie für das Königreich Sachsen zu belegen, das nach dem Wiener Kongress zwei Drittel seines Territoriums verloren hatte. Im Jahr 1830 lag der landesweite Kartoffelertrag inzwischen bei 3.540.500 Scheffeln. Bezüglich der Menge übertraf damit die Kartoffel sehr deutlich die Erträge bei Roggen (1,2 Mill. Scheffel), Weizen (0,2 Mill.), Gerste (0,7 Mill.) und Hafer (1,9 Mill.).20 Der Bevölkerungsanstieg und die gewerblich-industrielle Entwicklung gründeten sich eindeutig auf den Kartoffelanbau. Die Kartoffel sicherte die Grundernährung ab. Nimmt man freilich die Landwirtschaft und noch viel stärker die bäuerlichen Betriebe in den Blick, dann gilt uneingeschränkt das Wort von Alfred Heyl: „Der Kartoffel gebührt

im Vogtland, in: Sächsische Heimatblätter 7 (1961), S. 511–517; Curt Dietrich, Die Entwicklung des Kartoffelfeldbaus in Sachsen, Merseburg 1919; Alfred Heyl, Die im Herzogtum Sachsen-Meiningen üblichen Fruchtfolgen unter Berücksichtigung ihrer geschichtlichen Entwicklung, Coburg 1907, S. 24. 19 Heyl, Fruchtfolgen (wie Anm. 18), S. 22. 20 Reiner Gross, Die bürgerliche Agrarreform in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Weimar 1968, S. 54.

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der Vorzug, wenn nur Bevölkerungszunahme erstrebt wird, dem Rotklee aber, wenn Wohlstand herrschen soll“.21 Auf den Klee kommen wir noch zurück. Die Abhängigkeit von der Kartoffel barg jedoch auch Risiken. Allzu sehr verließen sich die Menschen auf diese Frucht, ohne zu ahnen, dass ein zu enger Anbauintervall auf demselben Ackerstück sowie vor allem die Kartoffelfäulnis zu unvorhergesehenen (und verheerenden) Ertragsausfällen führen konnte. Die sehr schlechten Kartoffelernten von 1816 sowie von 1845 und 1846 hatten dramatische Folgen.22 In gewisser Weise erinnerten sie, zumindest im Thüringer Wald und im Erzgebirge, an die Hungersnot von 1771/72. Mit geradezu traumatischen Folgen setzten sich Hunger und Tod von 1845 bis 1848/49 in Irland fest. Die Hunger- und Mangelkrisen von 1771/72, 1816/17, 1830/31 und von 1845 bis 1847 schlugen jedoch stets auf den gewerblichen Sektor durch, da ein nicht geringer Teil der Gesamtbevölkerung, der auf die Lebensmittelmärkte angewiesen war, den größten bzw. den gesamten Teil seines finanziellen Einkommens für den Erwerb stark gestiegener Grundnahrungsmittel aufwenden musste. Infolgedessen kam es zu starken Nachfrageausfällen im Gewerbesektor, so dass vor allem im verlagsmäßig organisierten Heimgewerbe bittere Not ausbrach (durch eine Unterkonsumtionskrise für Gewerbeprodukte, so dass der Arbeitskräftebedarf rückläufig war und die Löhne sanken). Makrohistorisch sind diese schweren Subsistenz-, Mangel- und Ernährungskrisen beispielhaft durch Ernest Labrousse erforscht und beschrieben worden. Er charakterisierte sie als zyklische Krisen des Ancien Régime sowie in der Übergangszeit zur frühen Industrialisierung. Unstrittig haben diese vorrangig im Agrarsektor durch Missernten ausgelöste Krisen immer wieder die gewerblich-frühindustrielle Entwicklung gestört, behindert und verzögert; vorrangig in jenen Regionen, in denen nicht für den überregionalen bzw. überseeischen Markt produziert wurde.23 Mikroökonomisch sind jedoch auch die einzelnen Haushalte in den

21 Heyl, Fruchtfolgen (wie Anm. 18), S. 26. 22 Hans-Heinrich Bass, Hungerkrisen in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, St. Katharinen 1991, S. 136–139 u. 221–225; Manfred Gailus/Heinrich Volkmann (Hg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770–1990, Opladen 1994; Gross, Agrarreform in Sachsen (wie Anm. 20), S. 54. 23 Ernst Labrousse, Elan und Unbeständigkeit des Wachstums, in: Fernand Braudel/Ernst Labrousse (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich im Zeitalter der Industrialisierung 1789–1880, Bd. 2, Frankfurt/Main 1988, S. 368–419, hier S. 386–389.

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Blick zu nehmen.24 Überschaut man den thüringisch-sächsischen Raum, dann schlummern in den Archiven durchaus Übersichten mit protostatistischen Angaben, wie hoch bzw. niedrig die Einnahmen und Ausgaben bäuerlicher Betriebe sowie von Landhandwerkern und Tagelöhnern waren. Solche Verzeichnisse wurden bei Zwangsverwaltungen, aber auch durch die Steuerbehörden erstellt.25 Hier liegen Quellengattungen ungenutzt vor, die es – namentlich wenn es um den Verbrauch bzw. den Konsum oder die Marktabhängigkeit geht – zukünftig auszuwerten gilt. Frühe Industrialisierungen sind grundsätzlich regionale Phänomene.26 Überschaut man die Standorte industrieller Entwicklung in Deutschland wenige Jahre nach der Reichsgründung, so stechen elf große Ballungsräume mit einer hohen relativen wie absoluten Dichte an Erwerbstätigen ins Auge: Das erweiterte Ruhrgebiet zwischen Aachen und Dortmund sowie zwischen Krefeld und Mühlheim an der Ruhr, sodann Oberschlesien, drittens das Schweidnitzer Textilrevier, ferner das Saarland, fünftens das Textilrevier um PforzheimEsslingen und Stuttgart, schließlich die Ballungsräume Frankfurt, Bremen, Hamburg, Berlin und Leipzig sowie elftens endlich das zusammenhänge Textilrevier, das sich von der Oberlausitz über die nördlichen Vorläufer des Erzgebirges bis nach Ostthüringen erstreckt hat.27 Wie auf einer Perlenschnur reihen sich die Textilgewerbezentren von Zittau bis nach Gera und Greiz eng aneinander. Dieses lang gezogene Revier erstreckt sich komplett nördlich im hügeligen Vorland der Mittelgebirge. Auf diesen wichtigen topographischen Befund wird noch zurückzukommen sein. Da ich mich in dieser Miszelle auf die frühe Industrialisierung konzentriere, soll es bei dieser Standortverteilung und Standortbeschreibung von 1880 belassen werden – wohl wissend, dass die Montanindustrie, der Werkzeugmaschinenbau, die Chemie- und Elektroindustrie immer stärker an Bedeutung gewonnen haben. Allerdings – und dies 24 Toni Pierenkemper, Haushalte, in: Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe (Hg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 1986, S. 29–46. 25 Uwe Schirmer, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Sachsen zwischen 1720 und 1830. Bemerkungen zu Verfassung, Wirtschaft und Alltag, in: ders., (Hg.), Sachsen 1763 bis 1832. Zwischen Rétablissement und bürgerlichen Reformen, Beucha 1996, S. 128–171, hier S. 145–152. 26 Hubert Kiesewetter, Raum und Region, in: Ambrosius et al., Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 24), S. 105–118. 27 Vgl. Karte: Die Standortverteilung der Wirtschaft im Deutschen Reich um 1800, in: Deutsche Geschichte, Bd. 5: Der Kapitalismus der freien Konkurrenz und der Übergang zum Monopolkapitalismus im Kaiserreich von 1871 bis 1897, Berlin 1988, S. 200 f.

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ist eine Binsenweisheit – war die Textilindustrie unstrittig der Motor frühindustrieller Entwicklung. Bezüglich einer möglichen protostatistischen Beschreibung ist es hinderlich, dass das zusammenhänge Gewerbe- und Textilrevier von Zittau bis Gera, Greiz und Plauen politisch zweigeteilt ist. Die Zweiteilung ist abermals ein Beleg, dass eine erfolgreiche gewerbliche Entwicklung nicht allein von wirtschaftsfördernden Maßnahmen des Staates abhängig war. Industrialisierung war und ist ein regionales Phänomen. Dies indiziert die Frage, warum es in Ostthüringen im Gegensatz zu den anderen Regionen in Thüringen zu einer solchen Entwicklung kam.28 Allein mit Unternehmertum, Förderungen des Staates oder einem funktionieren Anleihemarkt kann dies nicht erklärt werden. Wie oben mehrfach angedeutet wurde, sollte der Blick auf die Kommerzialisierung der ländlichen Räume, auf die Gewerbedichte (und damit auf die Haushaltsdichte) sowie auf die lokale und regionale Nachfrage nach Gütern des täglichen Bedarf­s sowie auf die überregionale Kaufkraft (hier vor allem nach preiswerten Textilprodukten) gelenkt werden. Vor allem mit Bezug zur frühen industriellen Entwicklung in England sowie in Preußen wurde postuliert, dass die gestiegene Nachfrage nach gewerblichen Produkten und der insgesamt zunehmende Konsum von tiefgreifenden Veränderungen im Agrarsektor abhängig seien. In England seien es die großen Einhegungen des 16. Jahrhunderts gewesen. Unweigerlich denkt man diesbezüglich an die Utopia von Thomas Morus und an dessen Metapher von den „Schafen, die Menschen auffressen“ sowie natürlich an Karl Marx und die Entstehung des „doppelt freien Lohnarbeiters“, der infolge der Einhegungen „als vogelfreier Proletarier auf die Arbeitsmärkte geschleudert“ wurde.29 Vermeintlich waren diese agrarischen Umwälzungen eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Industrialisierungsprozess. In Preußen wird stets das große Reformwerk aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts angeführt, das den Weg zur Industrialisierung geebnet habe. Der entschiedenste Verfechter solcher Theorien war Paul Bairoch.30 Hinsichtlich des Königreichs Sachsen streicht Hubert Kiesewetter 28 Zu den Grundzügen der industriellen Entwicklung in Ostthüringen: Falk Burkhardt, Grundzüge ostthüringischer Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß ältere Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum, Jena 2013, S. 193–214. 29 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Berlin 1983, S. 746 f. 30 Paul Bairoch, Die Landwirtschaft und die Industrielle Revolution 1700–1914, in: Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 3: Die Industrielle Revolution, Stuttgart 1976, S. 297–332, zitiert nach: Toni Pierenkemper, Englische Agrarrevolution und preußisch-deutsche Agrar-

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ebenfalls nachdrücklich heraus, dass Agrarreformen „zu den entscheidendsten, ja notwendigen Voraussetzungen jeder Industrialisierung gehören“.31 Ähnliche Argumente sind bei Hartmut Harnisch zu finden, der vor allem das ostelbische Preußen bzw. die Provinz Brandenburg untersucht hat.32 Neben den grundsätzlichen Arbeiten von Kiesewetter und Harnisch sei vor allem auf die Studien von Hans-Heinrich Müller zum Zuckerrübenanbau und zur Rübenindustrie in der Magdeburger Börde verwiesen. Einige Beobachtungen seien kurz paraphrasiert.33 Die Magdeburger Börde ist zweifellos die Region, die unter Bezugnahme auf die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche über die besten Böden in Deutschland und darüber hinaus verfügt. Es wurde oben gesagt, dass dort vor allem mittlere und größere Bauernhöfe sowie Gutswirtschaften dominant waren. Ihre Leistungsstärke war bereits im 18. Jahrhundert überregional bekannt und geschätzt. Die agrarwirtschaftliche Kraft gründete sich bereits vor 1800 auf den sehr arbeitsintensiven Zichorien- und Runkelrübenanbau. Dazu bedurfte es vieler Arbeitskräfte. Zum einen weil Zichorien (Endivien) und Runkelrüben als Hackkultur gepflegt wurden, zum anderen weil es ganz oder teilweise eine Spatenkultur war.34 Bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts, als in weiten Teilen Mittel- und Nordostdeutschlands Fürsten und Landstände über die Einführung des Gesindezwangsdienstes diskutiert haben, wurde wiederholt geklagt, dass das Gesinde ins Erzstift Magdeburg, nach Anhalt bzw. in die Börde abwandert. In den Quellen wird ausdrücklich betont, dass das Gesinde dort nicht nach dem Tagelohne, sondern im Akkord arbeite.35 Es muss offenbleiben, ob damit bereits Hack- und Spatenarbeiten gemeint waren. Sicher scheint reformen in vergleichender Perspektive, in: ders. (Hg.), Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution, Stuttgart 1989, S. 7–25, hier S. 7. 31 Hubert Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozess Deutschlands im 19. Jahrhundert, Köln et al. 1988, S. 132. 32 Hartmut Harnisch, Kapitalistische Agrarreform und Industrielle Revolution. Agrarhistorische Untersuchungen über das ostelbische Preußen zwischen Spätfeudalismus und bürgerlich-demokratischer Revolution von 1848/49 unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Brandenburg, Weimar 1984. 33 Hans-Heinrich Müller, Landwirtschaft und Industrielle Revolution – am Beispiel der Magdeburger Börde, in: Pierenkemper, Landwirtschaft und industrielle Entwicklung (wie Anm. 30), S. 45–57. 34 Müller, Landwirtschaft und Industrielle Revolution (wie Anm. 33), S. 46–49. 35 Robert Wuttke, Gesindeordnungen und Gesindezwangsdienst in Sachsen bis zum Jahre 1835. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie, Leipzig 1893, S. 70.

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indes, dass in der Börde aufgrund der spezialisierten und kommerzialisierten Landwirtschaft höhere Löhne gezahlt wurden als vergleichsweise in Kursachsen oder in der Mark Brandenburg. Hinsichtlich der Magdeburger Börde kommt noch hinzu, dass es in den Dörfern ein weit entwickeltes Landhandwerk gab, wobei die Dorfhandwerker nicht das in den Städten beheimatete Handwerk und Gewerbe beeinträchtigt haben. Insgesamt wird für diese Region von einer „gewissen Wohlhabenheit“ der Voll- und Halbbauern sowie der Großkossäten gesprochen.36 Kurzum: Die frühe Intensivierung und Spezialisierung im Agrarsektor, der hohe Arbeitskräftebedarf sowie nicht zuletzt das Dorfhandwerk haben die Kommerzialisierung des ländlichen Raumes befördert. Dazu ein weiteres Beispiel, wenngleich es erst aus dem Jahr 1873 stammt: Den kontraktlich gebundenen Tagelöhnern, die in der Landwirtschaft arbeiteten, wurde in der preußischen Provinz Sachsen der Gesamtlohn in Geld zu 82 % ausgezahlt. Hingegen waren es in den Provinzen Ostpreußen nur 13,5  %, in Pommern 19,8 % und in Brandenburg 28,3 %.37 Zum preußischen Reformwerk gehörte das Gesetz von 1821, das den Weg für die Gemeinheitsteilung und Separation ebenen sollte. Im Kreis Wanzleben, wo es die besten Böden in der Börde gibt, waren bis 1840 nur 25 % der Nutzfläche separiert, allerdings stieg der Anteil bis 1848 rasant an – auf knapp 74 %. Als zentrale Triebkraft dieser Entwicklung wird der Zuckerrübenbau angesehen.38 Die sehr zügige Separierung muss jedoch im Vergleich mit Thüringen und Obersachsen als Ausnahme angesehen werden. Neben dem sehr guten und fruchtbaren Lößboden, dem Zuckerrübenbau samt den erforderlichen Zuckerfabriken, günstigen Betriebsgrößen sowie den zur Verfügung stehenden Arbeitskräften (die aus den östlichen Provinzen Preußens, aus Polen sowie dem Eichsfeld als Wander- bzw. Saisonarbeiter kamen)39 werden nicht zuletzt natürliche Wasserstraßen (die Elbe), ein gut entwickeltes Straßen- und Wegenetz für den Transport agrarischer Produkte, vor allem der frühe Beginn des Eisenbahnwesens (in Magdeburg schnitten sich bereits 1850 sechs Linien!) sowie eine insgesamt günstige Energieversorgung (hier: Braunkohle als Brennstoff für 36 Harnisch, Kapitalistische Agrarreform (wie Anm. 32), S. 331; ders., Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft in der Magdeburger Börde von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zuckerrübenanbaus in der Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Landwirtschaft und Kapitalismus in der Magdeburger Börde, 1. Halbbd., Berlin 1978, S. 67–173, hier S. 124–127. 37 Müller, Landwirtschaft und Industrielle Revolution (wie Anm. 33), S. 51. 38 Ebd., S. 48. 39 Ingeborg Weber-Kellermann, Landleben im 19. Jahrhundert, München 1988, S. 375–379.

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die Zuckerfabriken) als wichtige Faktoren für eine erfolgreiche Kapitalisierung der Landwirtschaft benannt.40 Die Befunde aus der Magdeburger Börde scheinen die Entwicklung von kommerzialisierten ländlichen Räumen hin zu kapitalisierten Landwirtschaftsbetrieben zu belegen. Ähnlich gelagert waren die Verhältnisse am Rande des Thüringer Beckens, wo in Oldisleben bereits 1835 eine Zuckersiederei in Betrieb genommen wurde. Neben ihr wurde im Jahr 1872 eine Zuckerfabrik erbaut, die obendrein seit 1881 über den Bahnhof Heldrungen Anschluss an die Bahnlinie Erfurt-Sangerhausen erhielt. Dadurch wurden zugleich agrarwirtschaftliche Gebiete mit einer hohen Bodenfertilität erschlossen, die bestens für den Zuckerrübenanbau geeignet sind.41 Die Agrarreformen, der Zuckerrübenbau und eine kapitalistische Landwirtschaft scheinen demzufolge elementare Faktoren der Industrialisierung zu sein. Doch Vorsicht ist vor einer allzu schnellen Verallgemeinerung geboten, da – wie mehrfach betont – die Industrialisierung ein regionales Phänomen war. Selbstverständlich gab es auch eine Modernisierung ohne den Rübenzucker.42 Allerdings sind die Befunde aus der Börde sowie insgesamt aus Preußen geeignet, um weitere Überlegungen anzustellen. Hartmut Harnisch, konzeptionell Paul Bairoch folgend, analysierte den Massenkonsum in allen preußischen Provinzen („Gesamtpreußen“) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – konkret den jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch an Nahrungsmitteln und Rohstoffen für das Gewerbe zu den Stichjahren 1806, 1831, 1842 und 1849. Die vorgelegten Ergebnisse sind bemerkenswert.43 Dazu einige Anmerkungen. Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Brotgetreide, Gewürzen und Salz blieb im Zeitraum von 1806 bis 1849 annähernd konstant; Kartoffeln erscheinen in der Statistik erstaunlicherweise nicht. Interessant ist der stärkere Fleisch-, aber auch Branntwein- und Tabakkonsum; Gleiches gilt für Zucker und Bohnenkaffee. Ein Verbrauchsrückgang ist bei fast keinem der Konsumartikel festellbar; sehr moderat nur beim Bier – dafür stieg jedoch, wie 40 Müller, Landwirtschaft und Industrielle Revolution (wie Anm. 33), S. 45. 41 Dietrich Wiegand (Bearb.), Kulturdenkmale in Thüringen, Bd. 5.3: Kyffhäuserkreis, Östlicher Teil, Altenburg 2014, S. 1222. – In diesem Zusammenhang könnte auch auf die erste kursächsische Zuckerraffinerie in Bottendorf/Unstrut verwiesen werden, die von 1799 bis 1803 existierte und vom Staat subventioniert worden war. Vgl. ebd., S. 1052. 42 W. Robert lee, Kommentar zu Hans-Heinrich Müller, in: Pierenkemper, Landwirtschaft und industrielle Entwicklung (wie Anm. 30), S. 58–62. – Justus Liebig bezeichnete die Zuckerrübe als eine „kostspielige Treibhauspflanze“ (ebd., S. 59). 43 Harnisch, Kapitalistische Agrarreform (wie Anm. 32), S. 344.

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erwähnt, der Schnaps-, Tabak- sowie der Wein- und Kaffeekonsum. Weitgehend konstant bzw. nur eine geringfügige Zunahme ist bei wollenen Tüchern, bei Seide sowie bei der Leinwand festzustellen. Letzteres mag erstaunen, wird jedoch mit Blick auf die Textilien aus Baumwolle erklärlich, denn ihr Absatz ist um das 16-fache gestiegen. Eine starke Zunahme ist auch bei ledernen Produkten nachweisbar. Die Daten passen ins Bild: Einerseits spiegeln sie immer noch den latenten Pauperismus wider; andererseits dokumentieren sie die gestiegene Massennachfrage nach typisch „industriellen“ Produkten (Baumwolle, Branntwein) sowie nach „bürgerlichen“ Konsumartikeln – beispielsweise nach Kaffee und Tee.44 Neben dem insgesamt gestiegenen Pro-Kopf-Verbrauch an Gewerbe-, Nahrungs- und Genussmitteln wuchs zeitgleich aber auch die absolute Bevölkerungszahl; ebenso kletterte die Zahl der im Landhandwerk Beschäftigten in die Höhe,45 wobei abermals herauszustreichen ist, dass sich diese positive Entwicklung auf die erste Jahrhunderthälfte (1806–1849) bezieht. Allerdings weist Harnisch auch darauf hin, dass sich die soziale Lage der Industriearbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschlechter hat. Als Stichworte seien verlängerte Arbeitstage, sinkende Reallöhne, steigende Kindersterblichkeit sowie die generell steigende Mortalität in den proletarischen Wohnquartieren genannt.46 Die Kommerzialisierung ländlicher Räume kann indes nicht nur mit dem Wandel des Konsums sowie mit gestiegener Kaufkraft und verstärktem Massenkonsum erklärt werden. Diesbezüglich ist zu fragen, woher die Kaufkraft der zumeist landlosen Landhandwerker, die mit ihren Familien nicht selten genug hart an der Grenze des Existenzminimums arbeiten und leben mussten, herrührte. Jan De Vries hat eine These angeboten, die an Max Webers „Geist des Protestantismus“, aber auch an die Sozialdisziplinierungsthese von Gerhard Oestreich erinnert.47 De Vries argumentiert, dass es neben der „Konsumrevolution“ auch eine „Fleißrevolution“ gegeben habe, die vorrangig einem deutlich veränderten Arbeitsverhalten entsprungen sei.48 Nun ist es methodisch 44 Wolfgang Schivelbusch, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Ein Geschichte der Genussmittel, Frankfurt am Mai 1992. 45 Harnisch, Kapitalistische Agrarreform (wie Anm. 32), S. 331–335, Tabellen XII und XIII im Anhang. 46 Ebd., S. 345. 47 Brakensiek/Krug-Richter, Editorial (wie Anm. 16), S. 11. 48 Jan De Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2008. Vgl. nicht zuletzt die Anmerkungen bei: Brakensiek/ Krug-Richter, Editorial (wie Anm. 16), S. 11 f.

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schwierig, einer veränderten Arbeitsmoral bzw. der Mentalität nachzuspüren. Jedoch sei an den oben angeführten Befund erinnert, dass Knechte und Mägde in der Mitte des 17. Jahrhunderts bereit waren, freiwillig im Akkord zu arbeiten. Wenn man sich mit der Geschichte des Gedingelohns seit dem Spätmittelalter auseinandersetzt, dann fällt auf, dass immer die Arbeitgeber bemüht waren, Arbeit zum Gedingelohn zu vergeben.49 Nunmehr, nach der Mitte des 17. Jahrhunderts, sind es die Arbeitnehmer, die den Akkordlohn vor dem bloßen Tage-, Wochen- oder Jahreslohn bevorzugen. Die Geschichte des Gesindewesens und ein historischer Blick über die Entlohnung der Knechte und Mägde kann hier nicht geboten werden. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Gutsherren oder Großbauern im thüringisch-obersächsischen Raum stets bemüht waren, ihr angemietetes Gesinde nur zum geringsten Teil bar zu entlohnen. Ein Großteil des Lohns wurde im 15./16. Jahrhundert neben der täglichen Verpflegung in natura entrichtet (alkoholisches Getränk, Fleisch, Kleidung). Die Knechte und Mägde strebten indes immer an, den Bargeldanteil in die Höhe zu treiben. Deren bare Entlohnung sowie die Möglichkeit, den Nominallohn durch harte Arbeit im Akkord zu steigern, waren nicht zu unterschätzende Antriebskräfte hinsichtlich einer „Fleißrevolution“. Dass mit dem erarbeiteten Bargeld Konsumartikel gekauft worden sind, liegt auf der Hand. Ein nicht zu unterschätzender Befund dafür sind die in allen Territorien nachweisbaren und ständig neu aufgelegten bzw. novellierten spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kleiderordnungen, in denen gebetsmühlenartig wiederholt wurde, dass die unteren Stände in ungebührlicher Weise seidene Schleier, farbiges oder ausländisches Tuch, verbrämten Wams oder gar Pelz trügen. Die Antriebskraft, stets modisch, chic und herrengleich gekleidet zu sein, erscheint als gar zu menschlich. Die Mode, der gute bzw. schlechte Geschmack sowie der kulturelle Herdentrieb können nicht zuletzt sozial- und kulturgeschichtlich mit dem dichotomischen Modell von Robert Muchembled erklärt werden.50 Und nicht nur nebenbei sei erwähnt, dass in Kursachsen bereits nach der Mitte des 17. Jahrhunderts kaum noch novellierte Kleiderordnungen neu aufgelegt worden sind – offensichtlich resignierte die Zentralverwaltung bzw. sie überließ diese Angelegenheit den Ständen vor Ort.51 49 Diese Beobachtung gründet sich vor allem auf die kursächsischen Amtsrechnungen (1440– 1572). Gedingelöhne wurden jedoch vorrangig im Bauwesen gezahlt. 50 Robert Muchembled, Kultur des Volkes – Kultur der Eliten, Stuttgart 1984. 51 Vgl. in diesem Zusammenhang: Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – Ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialforschung 23 (1997), S. 647–663.

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Doch was ist zum Zusammenhang von Agrarreformen und früher Industrialisierung in Ostthüringen und Sachsen zu sagen? Existierten in den frühindustriell entwickelten Textilrevieren ähnliche Wechselbeziehungen wie in der Magdeburger Börde oder um Oldisleben? Abermals sei der Blick auf die Agrarreformwerke des 19. Jahrhunderts gerichtet. Es wäre eine außerordentlich lohnenswerte Forschungsarbeit, den Vollzug der Agrarreformen in einzelnen thüringischen oder sächsischen Dörfern bzw. Landkreisen chronologisch und synoptisch zu erfassen: Also nicht danach zu fragen, wann seitens des Staates die Möglichkeit zur Reform eröffnet wurde,52 sondern zu ergründen, in welchem Jahr sich die einzelnen Gemeinden konkret durchgerungen haben, die grundherrlichen Lasten und Dienste durch Kredite abzulösen sowie vor allem zu separieren. Hierbei muss Ersteres von Letzterem unterschieden werden. Das Abgelten der Lasten und Dienste geschah relativ schnell und zügig. Völlig anders sah es jedoch bei der Separation aus. Separieren bzw. Separation soll heißen: dass die Besitzparzellierung in den Gemengen aufgehoben worden ist. Dies bedeutete das Ende des Flurzwangs und somit letztlich die Aufhebung der Drei- oder Vierfelderwirtschaft. Die Separation ermöglicht es den einzelnen Bauern, individuell zu wirtschaften. Nunmehr war eine vielgestaltige Fruchtfolgewirtschaft mit Zuckerrüben, Kartoffeln und Leguminosen oder mit anderen Futterfrüchten durchführbar. Besonders der Feldfutterbau ermöglichte die ganzjährige Stallfütterung. All die genannten Neuerungen sollen – wie mehrfach betont wurde – zum Durchbruch einer leistungsstarken Landwirtschaft geführt haben, die zur erfolgreichen Industrialisierung, insbesondere zur Ernährung der städtischen Bevölkerung, beigetragen habe. Empirisch gesättigt und theoretisch sehr überzeugend haben diese Sachverhalte Kiesewetter für Sachsen und Harnisch für Preußen herausgearbeitet. Trotzdem sind alternative Überlegungen erforderlich. Hinsichtlich der Separation in Thüringen wurde aufgrund der territorialen Vielgestaltigkeit und der damit verbundenen fragmentarischen Statistik bisher keine vollends befriedigende Antwort auf die Frage nach der Separation gegeben.53 Allerdings liegen aus dem Königreich Sachsen flächendeckend Daten vor – mithin aus dem Pionierland der Industrialisierung. Im Jahr 1884, also 52 Friedrich Lütge, Die mitteldeutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung, Stuttgart 21957; Gross, Agrarreform in Sachsen (wie Anm. 20). 53 Vgl. jedoch für das Großherzogtum Sachsen-Weimar: Geschichte und gegenwärtiger Stand der Ablösungen und Separationen im Großherzogtum Sachsen-Weimar (Auszug aus dem Geschäftsbericht der Generalablösungscommission in Weimar vom 20. Januar 1869) in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 13 (1869), S. 426–440.

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in der Zeit der beginnenden Hochindustrialisierung, waren in Sachsen über 77 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche zusammengelegt („separiert“).54 Das heißt, die sogenannte „Agrarische Revolution“ war zu über drei Vierteln vollzogen. Das scheint mit gängigen Lehrmeinungen übereinzustimmen. Zweifel kommt jedoch auf, wenn man ins Detail geht. Demnach war die Agrarreform in den Kreishauptmannschaften Zwickau und Bautzen komplett umgesetzt; also in den industriellen Textilrevieren, das sich von Zittau bis nach Zwickau und Plauen ausgebreitet hatten. In der Kreishauptmannschaft Leipzig waren jedoch nur 45 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche separiert, obwohl der Großraum Leipzig nach allen verfügbaren Daten als eine durch und durch industrialisierte Region angesehen wird. In der Kreishauptmannschaft Dresden waren es knapp 80 %.55 Wie ist der Widerspruch zwischen erfolgreicher Industrialisierung und einer noch größtenteils „feudalen“ Landwirtschaft im regionalen Bereich zu erklären? Keinesfalls durch Agrarimporte bzw. mit der Versorgung über die Eisenbahn. Vielmehr ist zu betonen, dass die sogenannte „feudale Landwirtschaft“, also der noch nicht separierte Agrarsektor, sehr wohl in der Lage war, den Bedürfnissen der frühentwickelten Industrie sowie der städtischen Nachfrage nachzukommen. Wie verhielt es sich mit der Separation in Thüringen? Da es, wie erwähnt, keine landesweit einheitliche Statistik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt,56 ist es schwer, die Frage zufriedenstellend zu beantworten. Ein wichtiger Indikator dürfte der sich ausbreitende Zuckerrübenanbau sein. Die Zuckerrübe erscheint als Signatur einer modernen (und separierten) Landwirtschaft. Demzufolge wäre das Thüringer Becken anzuführen, dass größtenteils als Regierungsbezirk Erfurt zu Preußen gehört hat. Ebenso waren im Jahr 1869 die bäuerlichen Gemeinden um Weimar „am meisten zur Separation geschritten. Sehr zurück stehen aber noch (…) das Eisenacher Oberland und der Neustädter Bezirk“.57 Überschaut man insgesamt die thüringischen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dann wurden die Agrarreformgesetze zwischen 1809 und 1852 verabschiedet.58 Sie ermöglichten es, die traditionelle mittelalterliche Dorf- und Gemeindeverfassung aufzubrechen und zu überwinden, doch dies geschah – wie in fast allen deutschen Regionen – sehr zögerlich. 54 Gross, Agrarreform in Sachsen (wie Anm. 20), S. 121. 55 Ebd., S. 121. 56 Vgl. jedoch Bruno Hildebrand, Statistik Thüringens, Bd. II: Agrarstatistik, Jena 1871. 57 Ebd., S. 55. 58 Lütge, Mitteldeutsche Grundherrschaft (wie Anm. 52), S. 245–282.

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Bezüglich der Zusammenlegung der Parzellen und Grundstücke innerhalb der Dorfgemarkung und der damit verbundenen Ablösung der Dreifelderwirtschaft musste ein Majoritätsbeschluss innerhalb der bäuerlichen Gemeinde herbeigeführt werden. Oft fanden sich jedoch keine Mehrheiten, was vorrangig mit der Skepsis gegenüber dem Staat sowie mit der starken traditionellen Bindung der Bauern zu erklären ist. Der agrarwirtschaftliche Fortschritt konnte nicht Fuß fassen, so dass scheinbar ganze Regionen agrarwirtschaftlich zurückfielen. Die geringen Marktquoten der bäuerlichen Betriebe, soziale Spannungen innerhalb der Dorfgemeinde sowie die zögerliche Auflösung der alten Agrarverfassung ließen Regionen, die ohnehin nicht übermäßig kommerzialisiert waren, erstarren und weiter zurückfallen. Für Thüringen kam das Realteilungsrecht noch hinzu. Die sich mühsam dahinschleppende bzw. nichtvollzogene Separation kann für das 20. (!) Jahrhundert dokumentiert werden. In dem nach dem Ersten Weltkrieg zu Bayern gekommenen Coburger Land waren im Jahre 1927 nur rund 16  % der landwirtschaftlichen Nutzfläche separiert. Wenige Jahre zuvor, in Cospeda bei Jena, hat sich im Jahr 1921 der Heimbürge das Leben genommen, weil die Dorfgemeinde einen mehrheitlichen Beschluss bezüglich der Separation gefasst hatte. Und in Jüchsen, an der Straße von Römhild nach Meiningen gelegen, zog sich die Flurzusammenlegung bis 1943 hin. Letztlich ist – letztlich im wahrsten Sinne des Wortes – Hindfeld bei Römhild zu nennen, wo es erst den kommunistischen Machthabern zwischen 1947 und 1952 gelang, das Ende der alten Agrarverfassung herbeizuführen.59 Der Volks- und Landwirt Alfred Heyl ist dem Problem der sich in Thüringen sehr gemächlich dahinschleppenden Agrarreformen in einer Studie von 1907 nachgegangen. Unter anderen verweist er auf den positiven preußischen Einfluss im Regierungsbezirk Erfurt. Entscheidend ist jedoch, dass Heyl auch auf die Rittergüter, die bäuerlichen Erbgewohnheiten sowie die Flur- und Gemarkungsformen hinweist und nachdrücklich betont, dass sich in den Waldhufendörfern die Reformen wie selbstverständlich von selbst durchsetzen konnten, da in diesen Dörfern einem jeden Bauer seit dem Hochmittelalter sein Ackerland (im allgemeinen eine Hufe) unmittelbar und ungeteilt an den Hof angeschlossen war (Hofgelänge).60 Dies erscheint als eine überaus wichtige Feststellung, die zudem erklären hilft, warum in den Kreishauptmann59 Werner Emmerich, Die siedlungsgeschichtlichen Grundlagen, in: Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 1: Grundlagen und frühes Mittelalter, Köln u. a. 1968, S. 219 u. 414. 60 Heyl, Fruchtfolgen (wie Anm. 18), S. 33–36.

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schaften Bautzen und Zwickau (wie oben angeführt) sowie größtenteils auch in den Reußischen Gebieten – also in Ostthüringen – die Separation sehr früh abgeschlossen war. Hier wie dort dominierten Waldhufendörfer. Die Untersuchung von Heyl erscheint nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil in allen Abhandlungen, die sich mit der Separation befassen, Flurformen und Flurverfassung zumeist außer Acht gelassen werden. Die unterschiedlichen Flurformen und Triftrechte haben jedoch maßgeblich die Separation bzw. die Kommerzialisierung ländlicher Räume beeinflusst. Mehr noch: Dort, wo Waldhufen bzw. Hofgelänge dominieren, konnte theoretisch von Anbeginn an – also seit der mittelalterlichen Siedlungszeit – agrarwirtschaftlich „experimentiert“ werden, da die Waldhufenbauern nicht in dem Maße auf Flurzwang und Triftgerechtigkeit Rücksicht nehmen mussten. Hier war es möglich – seit wann müsste noch erforscht werden –, zur Vier- oder gar Fünffelderwirtschaft (unter Beibehaltung des Brachfeldes) überzugehen. Fernerhin ist nachdrücklich zu betonen, dass es wohl kein Zufall ist, dass es in den nach Norden abflachenden Gebieten der Mittelgebirge – also dort, wo die Waldhufendörfer in der Mehrzahl sind – einen sehr hohen Anteil an Gärtnern und Häuslern (Dorfhandwerker) gab – beispielsweise in Sachsen zum Jahr 1750.61 Sehr viele der Waldhufendörfer vom Reußischen Oberland, über das thüringische und sächsische Vogtland,62 das erzgebirgische Vorland, die Oberlausitz bis hin ins Schlesische Riesen-, Eulen- und Altvatergebirge waren seit Ausgang des 15. Jahrhunderts zugleich Textilregionen, die ins überregionale Verlagswesen eingebunden waren. Die Forschungen von Herman Aubin, Wolfgang von Stromer oder Gerhard Heitz belegen die ökonomische Leistungsfähigkeit dieser Gewerberegionen. In dem Sinne waren es protoindustrielle Reviere bzw. kommerzialisierte ländliche Räume.63 Für sie waren eine hohe 61 Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen (wie Anm. 3), S. 200 f. 62 Zu den Verhältnissen um Greiz: Henriette Joseph/Haik Thomas Porada (Hg.), Das nördliche Vogtland um Greiz, Köln 2006, S. 81–85; ferner: Brigitte Unger u. a. (Hg.), Der Vogtlandatlas, Regionalatlas zur Natur, Geschichte, Bevölkerung, Wirtschaft, Kultur des sächsischen Vogtlandes, Chemnitz 2003, S. 37. 63 Heitz, Ländliche Leinenproduktion (wie Anm. 4); Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Sozialgeschichte in der Erweiterung – Proto-Industrialisierung in der Verengung. Demographie, Sozialstruktur, moderne Hausindustrie: eine Zwischenbilanz der Proto-Industrialisierungsforschung, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaften 18 (1992), S. 70–87, S. 231–255; Wolfgang Mager, Protoindustrialisierung und Protoindustrie. Vom Nutzen und Nachteil zweier Konzepte, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaften 14 (1988), S. 275–303; von Stromer, Gewerbereviere (wie Anm. 4), S. 42–45 u. 70–72; Karl Heinrich Kaufhold, Ge-

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Landhandwerkerdichte sowie ein ausgeprägtes Marktverhalten typisch. Große Teile der Landbevölkerung agierten erfolgreich auf den Produkt-, Kredit- und Arbeitsmärkten. Das in dem von Hans Pohl herausgegebenen Band über Gewerbe- und Industrielandschaften aufbereitete Karten-, Tabellen- und Übersichtsmaterial illustriert eindrucksvoll, welchen Stellenwert die (fast) zusammenhängenden Textilreviere von Schlesien bis um Gera, Greiz und Plauen im überregionalen Vergleich eingenommen haben.64 In all diesen Regionen, dies ist zu wiederholen, dominierten nicht nur Waldhufendörfer, es herrschte auch die geschlossene Hoffolge (Anerbrecht) vor. Dies beförderte die hohe Dichte an Leinwandproduzenten. Die Leinwandproduktion war verlagsmäßig organisiert. Ferner herrschten gute Bedingungen für den Flachs- bzw. Hanfanbau vor. Flachs und Hanf gedeihen nicht nur vorzüglich im Vorgebirgsland, sie konnten zudem ins System der Vierfelderwirtschaft mühelos integriert werden. Im Übrigen galt das auch für Klee, Tabak, Rüben oder Kartoffeln.65 Hinsichtlich des überregionalen Vergleichs muss indes auch darauf verwiesen werden, dass die Bereitschaft zu Neuerungen im Produktionsprozess bzw. die „Reformfähigkeit“ der Verleger und Unternehmer unterschiedlich ausgeprägt war, was die prekären Verhältnisse in Schlesien in den 1830er und 1840er Jahren erklärt.66 Somit gilt es unbedingt, auch die Unternehmer in den Blick zu nehmen.67 Neben einem innovationsfreudigen Unternehmertum, der Agrarverfassung in den Waldhufendörfern, dem Anerbrecht, den günstigen Möglichkeiten Flachs, Leinen und Hanf anzubauen, den Anbindungen an den überregionalen Verkehr scheint ein weiterer Aspekt bedeutsam zu sein: die relativ billige Energie. Der Nordhang der Mittelgebirgskette von Schweidnitz im Osten bis nach Greiz oder Gera flacht nur sehr allmählich ab – im Gegensatz zur böhmischen Seite – und war damit außerordentlich „wassermühlenfreundlich“. Eindrucksvoll belegen dies die Forschungen der Wirtschaftsgeographie und Technikwerbelandschaften in der frühen Neuzeit, in: Pohl, Gewerbe- und Industrielandschaften (wie Anm. 4), S. 112–202, hier S. 124–131. 64 Pohl, Gewerbe- und Industrielandschaften (wie Anm. 4), passim. – Dass die Entwicklungen im Textilbereich jedoch keine Einbahnstraßen waren, wurde am Beispiel Schlesiens eindrucksvoll gezeigt. Vgl. Marcel Boldorf, Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750–1859), Köln u. a. 2006. 65 Heyl, Fruchtfolgen (wie Anm. 18), S. 25. 66 Grundsätzlich: Boldorf, Europäische Leinenregionen im Wandel (wie Anm. 64). 67 Das berühmteste Beispiel Mitteldeutschlands ist sicherlich Dürninger: vgl. Herbert Hammer, Abraham Dürninger. Ein Herrnhuter Wirtschaftsmensch des achtzehnten Jahrhunderts, Berlin 1925.

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geschichte.68 Mit Blick auf Ostthüringen, das Vogtland und den sich östlich anschließenden Landstrichen gibt es nur wenige Regionen, die über eine derartige Mühlendichte verfügen, so sei beispielsweise auf die Vielzahl der Mühlen an der Weißen Elster zwischen Greiz und Bad Köstritz, an der oberen Weida zwischen Pausa und Steinsdorf oder an der Orla zwischen Kolba und Neunhofen verwiesen. Ferner wird betont, dass nach 1800 „in Thüringen Industriemühlen verschiedener Größen, meist mit Wasserradantrieb, selten mit Turbine oder gar Dampfmaschine“ entstanden sind.69 Hinsichtlich der Energienutzung und Energiegewinnung hat die Forschung ohnehin herausgearbeitet, dass die Wassermühlen – dort, wo es die geographisch-topographischen Verhältnisse erlaubt haben – bis in die Zwischenkriegszeit der wichtigste Energie- und Kraftspender waren.70 Und mit Bezug auf die stärker werdende Mechanisierung im Textilsektor und dem damit oft verbundenen Einsatz von dampfangetriebenen Maschinen sei darauf verwiesen, dass die Dampfmaschine höchst selten voraussetzungslos erworben und in Betrieb genommen wurde. An fast allen Standorten (Textilgewerbe), an denen Dampfmaschinen zum Einsatz kamen, haben zuvor wasserangetriebene Werke oder Mühlen gestanden. Die Standortkontinuität ist demnach für die Industrialisierungsgeschichte des Textilsektors ein überaus wichtiger Faktor. In allen mittel- und nordostdeutschen Regionen weisen die agrarischen Produktionsziffern für das 19. Jahrhundert unablässig Zuwächse auf. Die Hektar­ erträge steigen ebenso wie die Anzahl der Nutztiere; einzig die Zahl der Schafe nimmt rapide ab. Zum einen ist dies auf die Baumwollimporte, zum anderen aber auch auf das Ende der grundherrlichen Hutungsgerechtigkeit auf den Brachen sowie natürlich mit dem Verschwinden der Brachen infolge der Separation zu erklären. Die vormoderne Landwirtschaft scheint bis um 1900 und darüber hinaus in der Lage gewesen zu sein, die Bevölkerung zu ernähren. Am deutlichsten belegt dies der Einsatz des Mineraldüngers, der erst um 1900 bzw. nach dem Ersten Weltkrieg im großen Stil zum Einsatz kam.71 Die Mechanisierung des Agrarsektors setzte erst in der Zwischenkriegszeit sowie – freilich 68 Otfried Wagenbreth u. a., Mühlen. Geschichte der Getreidemühlen. Technische Denkmale in Mittel- und Ostdeutschland, Leipzig/Stuttgart 1994. 69 Ebd., S. 241. 70 Christian Zumbrägel, „Viele wenige machen ein Viel!“ Eine Kleingeschichte der Wasserkraft im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 2017; vgl. zur Ergänzung auch: Josef Reinhold, Mühlen im Eichsfeld an Wipper und Ohne, Duderstadt 2012; Frank Müller, Die Mühlen der Stadt Mühlhausen in Thüringen, Mühlhausen 2016. 71 Achilles, Deutsche Agrargeschichte (wie Anm. 17), S. 222.

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abhängig von den Betriebsgrößen – nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Gleichwohl nahm seit circa 1860 die Anzahl der Zucker- und Stärkefabriken, die Zahl der Brennereien, Schlachthöfe und Molkereien kontinuierlich zu. Nicht wenige von ihnen wurden immer stärker durch die Eisenbahn beliefert. Doch ist das Thema Agrarwirtschaft während der Hochindustrialisierungsphase nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrages gewesen. Insgesamt – mit Blick auf die Jahre zwischen circa 1770 und 1850 – bleibt festzuhalten, dass anhand der Beispiele aus England oder Preußen stets betont wurde, dass es ohne die Agrarreformen schwer gewesen sei, erfolgreich und rasch den regionalen Industrialisierungsprozess voranzutreiben. Beispiele aus Ostthüringen, Sachsen und der Oberlausitz scheinen jedoch zu belegen, dass es durchaus möglich war, auch ohne entsprechende Reformen eine gewerblich-frühindustrielle Entwicklung im Textilsektor voranzutreiben. Nicht wenige spezifische Faktoren (Topographie, Erbrecht, siedlungsgenetische Voraussetzungen, Unternehmertum, aber auch Freizügigkeit) führten dazu, dass sich agrarische Gesellschaften bereits vor dem 19. Jahrhundert kommerzialisiert haben. Unternehmer befeuerten als Verleger diese Entwicklung, die mit dem wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Modell des Textilkapitalismus stringent beschrieben werden kann. Dass es sodann in den Textilrevieren zu unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen kommen konnte, illustriert vor allem das Negativbeispiel Schlesien. Das Stocken der frühindustriellen Entwicklung ist jedoch nicht auf ein Versagen im Agrarsektor zurückzuführen, sondern auf das Unvermögen der Unternehmer.

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Zwischen Deutschem Bund und Deutschem Zollverein: Die Zollpolitik in der Region Thüringen im 19. Jahrhundert

I. Einleitung

Die Zollpolitik spielte eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung der Region Thüringen im 19. Jahrhundert.1 Aufgrund seiner geringen territorialen Größe und seiner Gliederung in zahlreiche Kleinstaaten sowie Gebietsanteile außerthüringischer Staaten war Thüringen für eine erfolgreiche Industrialisierung nicht nur auf die Bildung eines gemeinsamen regionalen Wirtschaftsraumes, sondern auch auf die Integration in einen nationalen Markt und auf den Anschluss an internationale Absatzmärkte angewiesen.2 Der Zollpolitik kam aber von Anfang an nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine fiskalische sowie eine macht- und nationalpolitische Funktion zu. Die Zolleinkünfte leisteten einen immer größeren Beitrag zu den Staatseinnahmen. Zugleich wurde die Bildung eines gemeinsamen Zollgebietes ein Mittel in der Auseinandersetzung zwischen Österreich und Preußen um die politische Führungsrolle im Deutschen Bund sowie, zumindest in den Augen großer Teile des liberalen Bürgertums, für die nationale Einigung Deutschlands.3 Lange Zeit ist die Zollpolitik in Thüringen vor allem unter dem Aspekt des Anschlusses der thüringischen Kleinstaaten an den 1834 ins Leben getretenen 1 Zum Begriff der Region vgl. Bernd Schönemann, Die Region als Konstrukt. Historio­ graphiegeschichtliche Befunde und geschichtsdidaktische Reflexionen, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 135 (1999), S. 153–187; Hannes Siegrist, Region, Regionalisierung und Regionalismus in Mitteldeutschland aus europäischer Perspektive, in: Jürgen John (Hg.), „Mitteldeutschland“. Begriff – Geschichte – Konstrukt, Rudolstadt/Jena 2001, S. 91–108. 2 Eine fundierte Gesamtdarstellung der wirtschaftlichen Entwicklung Thüringens im 19. Jahr­ hundert fehlt. Vgl. als knappen Überblick: Wolfgang Mühlfriedel, Die Industrialisierung in Thüringen. Grundzüge der gewerblichen Entwicklung in Thüringen von 1800 bis 1945, Erfurt 2001; vgl. zur Industriellen Revolution in Deutschland grundlegend: Hans-Werner Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland, München 32011. 3 Vgl. Andreas Etges, Wirtschaftsnationalismus. USA und Deutschland im Vergleich (1815– 1914), Frankfurt a. M. 1999; Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hg.), Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2012.

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und von Preußen beherrschten Deutschen Zollverein untersucht worden.4 In einer durch die preußisch-kleindeutsche Nationalgeschichtsschreibung des späten 19. Jahrhunderts maßgeblich vorgeprägten Perspektive wurden der Anschluss an den Deutschen Zollverein als einzig sinnvolle Lösung der zollpolitischen Probleme und die vielfältigen Hindernisse auf dem Weg zu diesem Ziel als Ausdruck eines blockierenden kleinstaatlichen Partikularismus interpretiert.5 Die eigenständigen zollpolitischen Interessen der Kleinstaaten wurden dabei ebenso wenig ernst genommen wie deren Bemühungen um eine Lösung der Zollfrage auf der Ebene des Deutschen Bundes. Die Frage, ob hier eine wirtschaftlich und politisch angemessenere Lösung der thüringischen und der gesamtdeutschen Zollfrage möglich gewesen wäre, wurde gar nicht erst gestellt.6 Erst allmählich zeichnet sich ein Wandel der Perspektiven auf die kleinstaatliche Zollpolitik ab, etwa bei Untersuchungen zur Geschichte des lange Zeit ebenfalls als bloßer Ausdruck des kleinstaatlichen Partikularismus angesehenen Mitteldeutschen Handelsvereins von 1828.7 Der folgende Beitrag möchte daher, ohne aufgrund der noch unzureichenden Forschungslage eine erschöpfende Antwort auf die aufgeworfenen Fragen geben zu können, die Zollpolitik in der Region Thüringen im Spannungsfeld zwischen Deutschem Bund und Deutschem Zollverein skizzieren. Neben den Regierungen werden auch gesellschaftliche Gruppen und Interessenverbände als Akteure auf dem Feld der Zollpolitik in den Blick genommen. Ebenso werden die Auswirkungen der Zollpolitik auf die Industrialisierung in Thüringen diskutiert. Nicht zuletzt wird auch die Bedeutung der Zollpolitik für 4 Vgl. zum Deutschen Zollverein grundlegend: Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984; William O. Henderson, The Zollverein, London 31984. 5 Vgl. Hans Patze, Die Zollpolitik der Thüringischen Staaten 1815–1833, Diss. Jena 1945; ders., Die Zollpolitik der thüringischen Staaten von 1815 bis 1833, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 40 (1953), S. 28–58; dagegen die Politik der Kleinstaaten verteidigend: Hans Tümmler, Die Zeit Carl Augusts von Weimar, in: Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 5: Politische Geschichte in der Neuzeit, Teil 1, 2. Teilbd., Köln/Wien 1984, hier S. 664–667; Friedrich Facius, Politische Geschichte von 1828–1945, in: Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 5: Politische Geschichte in der Neuzeit, Teil 2, Köln/Wien 1978, hier S. 17–30. 6 Vgl. dagegen Jürgen Müller, Der Deutsche Bund und die ökonomische Nationsbildung. Die Ausschüsse und Kommissionen des Deutschen Bundes als Faktoren politischer Integration, in: Hahn/Kreutzmann (Hg.), Zollverein (wie Anm. 3), S. 283–302. 7 Vgl. Oliver Werner, Die Zollpolitik der reußischen Fürstentümer 1820 bis 1834, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert: Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, S. 175–186.

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die regionale Identitätsbildung thematisiert. Im 19. Jahrhundert wurde über Medien wie Literatur, Presse, Vereine, Feste oder Denkmäler ein thüringisches Bewusstsein aktualisiert und in den Prozess der föderativen Nationsbildung eingebunden.8 Während die kulturellen Faktoren dieser regionalen Identitätsbildung bereits recht gut untersucht worden sind, wurde bislang noch kaum nach den Wechselwirkungen mit wirtschaftlichen Integrationsprozessen gefragt.9

II. Ausgangslage um 1800 und zollpolitische Initiativen beim Deutschen Bund

Die Auswirkungen der Französischen Revolution auf Europa brachten mit dem Ende des Alten Reiches und der Errichtung der napoleonischen Herrschaft große territoriale Umbrüche in Deutschland.10 Während jedoch in anderen Regionen aus den kleineren politischen Gebilden des ehemaligen Alten Reiches arrondierte Mittelstaaten entstanden, blieben die Kleinstaaten der ernestinischen, der schwarzburgischen und der reußischen Dynastien in ihrem territorialen Bestand erhalten. Dennoch zeigten sich auch in Thüringen die Folgen des großen Umbruchs. Eine der gravierendsten Veränderungen betraf die Zollverhältnisse. Die nunmehr souveränen deutschen Mittelstaaten beseitigten die alten Zölle in ihrem Inneren und errichteten dafür neue Zollaußengrenzen. Dadurch wurden gewachsene regionale Wirtschaftsverflechtungen zerstört und überregionale Handelsverbindungen abgeschnitten.11

8 Vgl. Matthias Werner, Perspektiven einer thüringischen Landesgeschichte im Europa der Regionen, in: Konrad Scheurmann/Jördis Frank (Hg.), Thüringen – Land der Residenzen. 2. Thüringer Landesausstellung, Mainz 2004, S. 13–26; Hans-Werner Hahn, Vom „Thüringer Kleinstaatenjammer“ zum Land Thüringen. Die ‚Thüringen-Frage‘ 1806 bis 1920, in: Robert Kretzschmar/Anton Schindling/Eike Wolgast (Hg.), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 125–152. 9 Vgl. Hans-Werner Hahn, Thüringischer Zollverein und regionale Wirtschaftsinteressen. Erfurt als Zentralort einer neuen thüringischen Wirtschaftspolitik 1834–1848/49, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 60, NF 7 (1999), S. 75–87. 10 Vgl. Hans-Werner Hahn/Helmut Berding, Reformen, Restauration und Revolution 1806– 1848/49, Stuttgart 102010; Andreas Fahrmeir, Revolutionen und Reformen. Europa 1789– 1850, München 2010. 11 Vgl. Helmut Berding, Die Reform des Zollwesens in Deutschland unter dem Einfluss der napoleonischen Herrschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 523–537.

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Das Ende der Herrschaft Napoleons und die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress von 1814/15 führten zur territorialen Ausdehnung Preußens nach Thüringen. Preußen erwarb vor allem ehemals kurmainzische Gebiete mit der Stadt Erfurt sowie ehemals königlich sächsische und früher reichsstädtische Territorien, meist als zusammenhängendes Gebiet in Nordthüringen, aber auch als Exklaven in Mittel- und Südthüringen. Im Jahr 1818 erließ Preußen zudem ein Zollgesetz, das eine einheitliche Zollgrenze um die Monarchie zog.12 Obwohl Teile des preußischen Thüringens zunächst noch von der Zollgrenze ausgeschlossen waren, wurden Handel und Gewerbe der thüringischen Kleinstaaten von den hohen Ein- und Durchfuhrzöllen des preußischen Zollgesetzes hart getroffen.13 Neben der Errichtung neuer Zollgrenzen wirkte sich auch der Wegfall der napoleonischen Kontinentalsperre störend auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland aus. Durch das Einfuhrverbot britischer Produkte wollte Napoleon einst den Kriegsgegner Großbritannien ökonomisch in die Knie zwingen. Während die Kontinentalsperre negative wirtschaftliche Folgen für bestimmte Branchen und Regionen in Deutschland hatte, wirkte sie durch den Ausschluss der überlegenen britischen Konkurrenz auf andere Bereiche, wie das ohnehin aufstrebende Baumwollgewerbe, begünstigend.14 Von den Vorteilen der Kontinentalsperre profitierte auch der gewerblich weit entwickelte sächsisch-thüringische Raum.15 Mit dem Wegfall der Kontinentalsperre aber strömten wieder in großem Umfang billige britische Industrieprodukte auf den deutschen Markt und brachten das einheimische Gewerbe in große Absatzschwierigkeiten. Verschärft wurden diese Entwicklungen durch massive Ernteausfälle im Jahr 1816, die zu einer Hungerkrise und zur Verteuerung von Lebensmitteln führten. Viele deutsche Staaten reagierten mit Ausfuhrverboten für Getreide und andere Nahrungsmittel, was die Krise aber nur noch ver-

12 Vgl. Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 20–27. 13 Vgl. Facius, Politische Geschichte (wie Anm. 5), S. 18. 14 Vgl. Hahn, Industrielle Revolution (wie Anm. 2), S. 11–13; Diedrich Saalfeld, Die K­ ontinentalsperre, in: Hans Pohl (Hg.), Die Auswirkungen von Zöllen und anderen Handelshemmnissen auf Wirtschaft und Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1987, S. 121–139. 15 Vgl. Mühlfriedel, Industrialisierung (wie Anm. 2), hier bes. S. 25 f.; zu Sachsen u. a. Hubert Kiesewetter, Die Industrialisierung Sachsens. Ein regional-vergleichendes Erklärungsmodell, Stuttgart 2007.

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stärkte, da so der Austausch zwischen den Überschuss- und den Bedarfsregionen verhindert wurde.16 Diese Krise bewirkte eine erste handelspolitische Initiative beim 1815 gegründeten Deutschen Bund. Dabei handelte es sich um einen Staatenbund, dem die Großmächte Österreich und Preußen sowie die deutschen Mittel- und Kleinstaaten angehörten. Er sollte vor allem die äußere und innere Sicherheit der in ihm vereinten Staaten gewährleisten. Zugleich war dem Deutschen Bund aber auch eine nationale Integrationsfunktion zugedacht worden.17 Daher sollte die Bundesversammlung in Frankfurt am Main, die aus Gesandten der deutschen Staaten bestand, auch über die gemeinsame Regelung der Handels- und Verkehrsverhältnisse beraten. Am 19. Mai 1817 stellte Württemberg den Antrag, eine Übereinkunft zwischen den Bundesstaaten über den freien Verkehr mit Lebensmitteln zu treffen. Es wurde eine fünfköpfige Kommission eingesetzt. Von der Einführung einer allgemeinen Handelsfreiheit zwischen den deutschen Staaten sah man aufgrund der Schwierigkeiten eines solchen Vorhabens zwar zunächst ab. Dennoch regte die Kommission eine weitgehende Freiheit des Lebensmittelverkehrs und gemeinsame Maßregeln gegenüber den nicht zum Deutschen Bund gehörigen Staaten an.18 Die meisten Bundesstaaten schlossen sich dem Kommissionsentwurf an. Allein die ernestinischen Staaten, die im Engeren Rat der Bundesversammlung eine gemeinsame Stimme führten, gingen in ihrer Abstimmung über diesen Vorschlag hinaus und trugen mit der Begründung, dass die Beförderung der nationalen Einheit „der wesentlichste Zweck der Bundesvereinigung“ sei, auf den „möglichst freien und unbeschränkten Handelsverkehr innerhalb der Grenzen der zu einem Vaterlande vereinigten Bundesstaaten an“.19 Österreich, die Präsidialmacht des Deutschen Bundes, nutzte jedoch bayerische Vorbehalte gegenüber dem Kommissionsvorschlag dazu aus, um die Beschlussfas16 Vgl. Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 15–17; zu den globalen Zusammenhängen: Wolfgang Behringer, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München 2015. 17 Vgl. Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2006; ders., Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, Göttingen 2005. 18 Vgl. den Antrag Württembergs, in: Eckhardt Treichel (Bearb.), Organisation und innere Ausgestaltung des Deutschen Bundes 1815–1819, Berlin/Boston 2016, S. 777 f.; Kommissionsvortrag und Entwurf einer Übereinkunft zwischen den deutschen Bundesstaaten über die Freiheit des Handels mit Getreide und Schlachtvieh, in: ebd., S. 799–807. 19 Abstimmung der ernestinischen Staaten in der 37. Bundestagssitzung vom 23. Juni 1817, in: Protokolle der Deutschen Bundesversammlung nebst den loco dictaturae gedruckten Beilagen [amtliche Folioausgabe], Frankfurt am Main 1817, § 258, S. 519.

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sung zu verzögern und die Bundestagsberatungen zu diesem Gegenstand im Juli 1818 schließlich ganz auszusetzen.20 Begünstigend hierfür wirkte, dass die Hungerkrise infolge besserer Ernten im Jahr 1817 wieder abzuflauen begann. Im deutschen Wirtschaftsbürgertum wurde jedoch weiterhin heftig über die negativen zoll- und handelspolitischen Verhältnisse in Deutschland diskutiert und die Untätigkeit des Deutschen Bundes in dieser Frage kritisiert. Auf der Frankfurter Ostermesse schlossen sich 1819 zahlreiche Kaufleute und Industrielle zum „Deutschen Handels- und Gewerbsverein“ zusammen, dem ersten gesamtdeutschen wirtschaftlichen Interessenverband, der noch am 20. April mit einer Eingabe zugunsten der Einführung eines gemeinsamen Grenzzollsystems an den Deutschen Bund herantrat.21 Das maßgeblich vom Tübinger Nationalökonomen Friedrich List entwickelte Konzept lief jedoch nicht einfach auf eine zollpolitische Abschottung hinaus. Es war vielmehr ein Entwicklungsprogramm, das den Aufbau der inländischen Industrie durch einen vorübergehenden Zollschutz fördern wollte.22 Der Handels- und Gewerbsverein, der sich ab Frühsommer 1819 „Verein deutscher Kaufleute und Fabrikanten“ nannte und dessen Mitglieder und Unterstützer vor allem aus den süd- und mitteldeutschen Staaten kamen, fand auch bei den Kaufleuten und Gewerbetreibenden in den thüringischen Staaten großen Anklang. Besonders im Thüringer Wald wurde die Krise der hier verbreiteten traditionellen Gewerbezweige durch die handelspolitischen Zustände noch verschärft. Aber auch die in einigen Orten Thüringens stark entwickelte, großgewerbliche Textilproduktion litt unter den ungünstigen handelspolitischen Rahmenbedingungen. Dies zeigt eine am 1. Juli 1819 im Namen von mehr als 5.000 thüringischen Handwerkern, Kaufleuten und Industriellen beim Deutschen Bund eingereichte Eingabe.23 Diese war nach der Zahl der Unterzeichner die mit Abstand größte Eingabe, die bis 1848 beim Deutschen 20 Vgl. die Abstimmung Österreichs in der 37. Bundestagssitzung vom 9. Juli 1818, in: Treichel (Bearb.), Organisation (wie Anm. 18), S. 830–836. 21 Vgl. Heinrich Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49. Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland, Göttingen 1980, S. 81–87. 22 Vgl. William O. Henderson, Friedrich List. Der erste Visionär eines vereinten Europas. Eine historische Biographie, Reutlingen 1989; Eugen Wendler, Friedrich List. Politische Wirkungsgeschichte des Vordenkers der europäischen Integration, München 1989. 23 Vgl. Vorstellung thüringischer, vogtländischer, sächsischer und hessischer Handwerker, Fabrikanten und Kaufleute um Herstellung des freien Handelsverkehrs im Innern des deutschen Bundesgebiets und Sicherstellung des deutschen Gewerbefleißes durch eine kräftige gemeinsame Handelspolitik, in: Treichel (Bearb.), Organisation (wie Anm. 18), S. 856–876.

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Bund vorgelegt worden ist.24 Initiiert wurde sie von dem Gothaer Kaufmann, Fabrikanten und Versicherungspionier Ernst Wilhelm Arnoldi.25 Die Eingabe schloss sich an die Forderungen des Handels- und Gewerbsvereins an. Die Unterzeichner kamen aus allen thüringischen Staaten, abgesehen von Sachsen-Hildburghausen. Auch aus der kurhessischen Herrschaft Schmalkalden sowie aus dem zum Königreich Sachsen gehörenden Teil des Vogtlandes kamen jeweils mehr als 800 Unterzeichner. Nicht vertreten waren dagegen die preußischen Gebiete Thüringens.26 Dennoch wurde die Region Thüringen, einschließlich angrenzender hessischer und sächsischer Gebiete, in der Eingabe als ein einheitlicher wirtschaftlicher und sozialer Raum wahrgenommen, innerhalb dessen die vorhandenen Zollgrenzen „die Gränzen nachbarlicher Völker eines Stammes versperren“.27 Der ernestinische Bundestagsgesandte Franz Josias von Hendrich wurde von seinen Höfen beauftragt, die Eingabe Arnoldis als „billiges und auf die dem ganzen deutschen Volke in der Bundesacte gegebene Zusicherung begründetes Gesuch“ zu fördern.28 Doch bereits am 24. Mai 1819 war die Eingabe des Handels- und Gewerbsvereins von der Bundesversammlung als unzulässig abgewiesen worden.29 Die ernestinischen Staaten forderten jedoch neue Beratungen und die Einsetzung einer Kommission zur Vorbereitung eines Bundesbeschlusses.30 Die Handels- und Zollfragen wurden zunächst auf den Karlsbader Ministerkonferenzen vom August 1819, dann auf der Wiener Ministerkonferenz im Frühjahr 1820 in einem eigenen Ausschuss beraten. Aber auch hier kam es zu keinem Beschluss, obwohl man sich zumindest darüber einig war, die Freiheit des Lebensmittelverkehrs festlegen zu wollen. Die weiteren Beratungen wurden an die Bundesversammlung verwiesen. Hier wurde jetzt eine 24 Der Verfasser hat im Rahmen eines DFG-Projekts, das sich mit den Kommissionen der Deutschen Bundesversammlung befasst, alle zwischen 1816 und 1848 an den Deutschen Bund gerichteten Eingaben erfasst. 25 Vgl. Arwed Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi. Leben und Schöpfungen eines deutschen Kaufmanns. Mit einem Portrait, Weimar 1878. 26 Vgl. die Eingabe mit allen Vollmachten und Unterschriften, in: Bundesarchiv, DB 1/I, Nr. 166, T. 1 u. 2. 27 Vorstellung (wie Anm. 23), S. 867. 28 Erklärung der großherzoglich und herzoglich sächsischen Häuser in der 26. Sitzung der Deutschen Bundesversammlung vom 22. Juli 1819, in: Treichel (Bearb.), Organisation (wie Anm. 18), S. 877–879, Zitat S. 878. 29 Vgl. den Vortrag des Berichterstatters, des hannoverschen Gesandten Martens, in: ebd., S. 846–856. 30 Vgl. Erklärung der großherzoglich und herzoglich sächsischen Häuser (wie Anm. 28).

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Kommission eingesetzt, deren Mitglieder 1824 nochmals ergänzt wurden. Ein konkretes Ergebnis brachte ihre Tätigkeit trotz aller Bemühungen aber nicht mehr hervor.31

III. Integration in den Deutschen Zollverein

Die thüringischen Staaten begannen nun direkte Verhandlungen mit anderen deutschen Mittel- und Kleinstaaten. Die von 1820 bis 1823 stattfindenden Darmstädter Verhandlungen führten jedoch zu keinem Ergebnis.32 Zwar vereinigten sich die thüringischen Staaten, außer Reuß und Sachsen-Coburg, im Arnstädter Vertrag vom 23. Dezember 1822 zu einem „in sich geschlossenen Handelsstaat unter gemeinschaftlich zu verabredender Handelsgesetzgebung“33 als Vorstufe für den Anschluss an einen größeren Zollverband. Aber der Arnstädter Vertrag scheiterte an den gegensätzlichen Interessen der beteiligten Staaten und trat nie in Kraft. Dagegen vereinbarten Schwarzburg-Sondershausen (1819), Schwarzburg-Rudolstadt (1822) und Sachsen-Weimar-Eisenach (1823) besondere Zollanschlussverträge mit Preußen für ihre nordthüringischen, von preußischem Territorium umschlossenen Gebietsteile. Anfang 1828 schlossen jeweils Bayern mit Württemberg und Preußen mit Hessen-Darmstadt einen Zollvereinsvertrag ab.34 Als Reaktion darauf gründeten einige der übrigen Mittel- und Kleinstaaten im September 1828 den Mitteldeutschen Handelsverein.35 Diesem gehörten neben Sachsen und den thüringischen Staaten das Königreich Hannover, das Großherzogtum Oldenburg, das Herzogtum Braunschweig, die freien Städte Frankfurt und Bremen, das Kurfürstentum Hessen und weitere kleinere Staaten an. Doch schon 1829 31 Vgl. L[eopold] Fr[iedrich] Ilse, Geschichte der deutschen Bundesversammlung, insbesondere ihres Verhaltens zu den deutschen National-Interessen, 3 Bde., Marburg 1861–1862, hier Bd. 1, S. 438–457. 32 Vgl. Patze, Zollpolitik der thüringischen Staaten (wie Anm. 5), S. 35 f.; Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 35–38. 33 Arnstädter Vertrag vom 23. Dezember 1822, in: Willy Andreas (Hg.)/Hans Tümmler (Bearb.), Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar, Bd.  3: Von der Rheinbundzeit bis zum Ende der Regierung 1808–1828, bearb. u. hg. von Hans Tümmler, Göttingen 1973, S. 666–669, Zitat S. 666. 34 Vgl. Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 41–48. 35 Vgl. Oliver Werner, Konfrontation und Kooperation. Der Mitteldeutsche Handelsverein im Gründungsprozess des Deutschen Zollvereins 1828 bis 1834, in: Hahn/Kreutzmann (Hg.), Zollverein (wie Anm. 3), S. 75–94.

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schlossen die thüringischen Herzogtümer Sachsen-Coburg und Gotha sowie Sachsen-Meiningen Verträge mit Preußen zum Bau von Straßen ab, die eine zollfreie Verbindung zwischen dem preußisch-darmstädtischen und dem bayerisch-württembergischen Zollverein herstellten und damit die Position des Mitteldeutschen Handelsvereins erheblich schwächten.36 Der Anschluss Kurhessens an das preußische Zollsystem 1831 zerschlug den Mitteldeutschen Handelsverein endgültig und mündete nach weiteren Verhandlungen im Frühjahr 1833 in die Gründung des Deutschen Zollvereins unter Führung Preußens.37 Dem Deutschen Zollverein, dessen Verträge zum 1. Januar 1834 in Kraft traten, gehörten auch die thüringischen Staaten an. Sie hatten sich dabei zu einem eigenen Zoll- und Steuerverein zusammengeschlossen, dem auch Preußen und Kurhessen mit ihren thüringischen Gebieten beitraten und dessen Verwaltungssitz in Erfurt war. Der thüringische Zoll- und Steuerverein war durch einen eigenen, stets von Sachsen-Weimar-Eisenach gestellten Bevollmächtigten bei den Generalkonferenzen des Deutschen Zollvereins, auf denen über die Zolltarife, Zollgesetze und die Zollverwaltung verhandelt wurde, vertreten.38 Obwohl der Deutsche Zollverein durch den Abbau von Handelshemmnissen zwischen den deutschen Staaten für den Industrialisierungsprozess „alles andere als unwichtig“ war, dürfen die „unmittelbar aus dem Zollverein resultierenden ökonomischen Erfolge nicht überschätzt werden“.39 Der Zollverein umfasste zunächst einmal keineswegs alle deutschen Staaten. Neben Österreich fehlten etwa die für den internationalen Handel so wichtigen Küstenstaaten und die Hansestädte. Darüber hinaus waren die Zollvereinsverträge nur befristet gültig, zunächst für acht, später dann für jeweils zwölf Jahre. Bei den regelmäßig anstehenden Vertragsverlängerungen kam es stets zu schweren Krisen.40 Das Gebot der Einstimmigkeit aller Immediatmitglieder erschwerte die Fassung von Beschlüssen, etwa über die Anpassung der Zolltarife. Darüber hinaus gab es noch zahlreiche Handelshemmnisse, etwa im monetären Bereich oder bei den Verkehrsverbindungen. Schließlich belasteten die hohen Zölle auf Kolonialwaren wie Kaffee, Zucker und Tee, die Verbrauchssteuern 36 Vgl. Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 53. 37 Vgl. ebd., S. 60 f. u. 74–76. 38 Vgl. Hahn, Thüringischer Zollverein (wie Anm. 9); Kurt Wildenhayn, Der Thüringische Zoll- und Steuerverein, sein Wesen und seine Bedeutung in völkerrechtlicher und staatsrechtlicher Hinsicht, Ellrich a. Harz 1927. 39 Hahn, Industrielle Revolution (wie Anm. 2), S. 23. 40 Vgl. Hahn, Zollverein; Henderson, Zollverein (beide wie Anm. 4).

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auf Branntwein, Tabak, Bier und Wein sowie die hohen Preise für Kochsalz die Bevölkerung. Erfolgreich war der Zollverein dagegen bei der Steigerung der Staatseinnahmen. Insbesondere die Mittel- und Kleinstaaten profitierten von der Verteilung der gemeinsamen Zolleinnahmen proportional zur Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten.41 Der Zollverein weckte aber auch Hoffnungen auf Fortschritte hin zur nationalen Einheit.42 Die wirtschaftliche Einigung, so das Kalkül vieler Vertreter des liberalen Bürgertums, werde die nationale Einigung befördern, indem sie das Gemeinschaftsbewusstsein der deutschen Staaten stärke. So schrieb der braunschweigische Liberale Karl Steinacker 1844, dass der Zollverein „die Heimat der Idee der Einheit“ geworden sei. Man werde sich im In- und Ausland immer mehr daran gewöhnen, „unter Deutschland hauptsächlich das zollverbündete zu verstehen“.43 Aber auch für das regionale Bewusstsein in Thüringen wirkte die Zollvereinsgründung weiter fördernd. Der romantische Schriftsteller und herzogliche Bibliothekar in Meiningen, Ludwig Bechstein, konstatierte 1843, dass der thüringische Zollverein „Thüringen auch in politischer Beziehung wieder eine Bedeutung gegeben“ habe, indem er „den alten Landesnamen wieder zu Gnaden angenommen“ und die „verschiedenen kleinen Staaten und Provinzen in einen Handelsstaat“ vereinigt habe.44 Der Beitritt zum Deutschen Zollverein hatte kurzfristig nur bescheidene Effekte für den Übergang der gewerblichen Wirtschaft in Thüringen von den traditionellen zu den neuen industriellen Produktionsformen zur Folge.45 Vielmehr dominierten in den 1830er und 1840er Jahren die Krise des traditionellen Gewerbes und die wachsende Massenarmut, der so genannte Pauperismus. Verstärkt wurde dies noch durch die Folgen einer Missernte im Jahr 1846, die zu einer schweren Hungerkrise im Winter 1846/47 führte.46 Die anhaltende Krise führte innerhalb des Zollvereins zum Konflikt zwischen den Befürwortern des Freihandels und den Vertretern des Schutzzolls. Die an den Theorien von 41 Vgl. Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 96–102. 42 Vgl. Hahn/Kreutzmann (Hg.), Zollverein; Etges, Wirtschaftsnationalismus (beide wie Anm. 3). 43 Karl Steinacker, Die politische und staatsrechtliche Entwickelung Deutschlands durch den Einfluss des deutschen Zollvereins. Mit Bemerkungen über des Dr. Faber politische Predigten, Braunschweig 1844, S. 36. 44 Ludwig Bechstein, Thüringen in der Gegenwart, Gotha 1843, S. 178. 45 Darauf weisen etwa die Ausführungen bei Mühlfriedel, Industrialisierung (wie Anm. 2), S. 23–49 hin. 46 Vgl. Hahn, Industrielle Revolution (wie Anm. 2), S. 25.

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Adam Smith orientierten und vor allem im agrarischen Norden Deutschlands dominierenden Freihändler vertrauten ganz auf den freien Markt und lehnten Eingriffe des Staates in die wirtschaftliche Entwicklung und damit auch die Einführung von Schutzzöllen für die inländische Industrie ab. Dagegen vertrat Friedrich List als wichtigster Verfechter des Schutzzolls die Auffassung, dass der Staat die Entwicklung der einheimischen Wirtschaft durch einen vorübergehenden Zollschutz fördern müsse. Bei den Vertretern des Schutzzolls spielten oft auch nationalistische Motive eine Rolle, da die Forderung nach dem Schutz der „nationalen Arbeit“ mit dem Fernziel einer starken nationalen Industrieund Handelsmacht begründet wurde.47 Die Forderung nach Schutzzöllen erreichte während der Revolution von 1848/49 ihren Höhepunkt. Es entstand eine Massenpetitionsbewegung, an der die Region Thüringen überproportional beteiligt war, während sich hier keine Unterschrift für eine freihändlerische Eingabe fand.48 In Erfurt entstand im Mai 1848 der „Industrie-Verein des Thüringischen Zollgebietes“ als Interessenverband thüringischer Kaufleute und Industrieller. Dieser Verein setzte sich für die Einführung von Schutzzöllen ein und betonte, dass auch die Klasse der Arbeiter von dem dadurch bewirkten Aufschwung der heimischen Industrie und der Senkung der Zölle auf Kolonialwaren profitieren werde.49 Die Gründung des „Industrie-Vereins“ zeigt, dass der 1833 geschaffene thüringische Zoll- und Steuerverein zur Ausbildung des regionalen Bewusstseins beitrug, indem „sich die thüringische Wirtschaft über die bestehenden einzelstaatlichen Grenzen hinaus ihrer gemeinsamen Interessen bewusst wurde“.50

IV. Kleindeutsche oder mitteleuropäische Zolleinheit?

Das Ende der Revolution entzog der Schutzzollbewegung politisch den Boden. In den 1850er Jahren setzte zudem ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ein, das die ökonomische und soziale Krise entschärfte und die Konflikte um Freihandel und Schutzzoll in den Hintergrund treten ließ.51 Schließlich wurde die Zollpolitik immer mehr zum Instrument in der Auseinandersetzung zwi47 Vgl. Etges, Wirtschaftsnationalismus (wie Anm. 3). 48 Vgl. Best, Interessenpolitik (wie Anm. 21), S. 195. 49 Vgl. Hahn, Thüringischer Zollverein (wie Anm. 9), S. 83–85. 50 Ebd., S. 87. 51 Vgl. Hahn, Industrielle Revolution (wie Anm. 2), S. 30–36; ders., Zollverein (wie Anm. 4), S. 151 f.

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schen Österreich und Preußen um die politische Führungsrolle in Deutschland. Preußen verstärkte seinen freihändlerischen Kurs, um die Norderweiterung des Deutschen Zollvereins voranzutreiben und zugleich Österreich, das eine protektionistische Zollpolitik betrieb, aus dem Zollverein herauszuhalten. Österreich dagegen ging mit eigenen Plänen einer mitteleuropäischen Zollunion in die Offensive. Diese waren tarifpolitisch auf Schutzzoll ausgerichtet und gewannen auch außerhalb Österreichs zahlreiche Befürworter.52 Sie standen außerdem in engem Zusammenhang mit den Bemühungen um eine Reform des nach der Revolution wiederhergestellten Deutschen Bundes.53 Die Haltung der Regierungen und der Wirtschaftsvertreter in den Klein- und Mittelstaaten während der beiden Zollvereinskrisen der 1850er und der 1860er Jahre war ambivalent.54 Die Regierungen wollten einerseits die wirtschaftlichen und fiskalischen Vorteile des Zollvereins nicht aufgeben, andererseits aber eine zu große Abhängigkeit von Preußen vermeiden. Auch bei den Vertretern der Wirtschaft war allgemein das Interesse am Erhalt des Binnenmarktes des Zollvereins groß. Die freihändlerische Politik Preußens wurde jedoch vom Gewerbe nur zu einem Teil befürwortet, teilweise aufgrund des Vertrauens in die eigene Stärke geduldet, mitunter aber auch abgelehnt, da man eine endgültige Trennung vom österreichischen Markt befürchtete. Dieses Spektrum der Haltungen zeigt sich auch in den thüringischen Staaten. So stellten sich die Regierungen der thüringischen Staaten zwar schnell auf die Seite Preußens, doch bestand Reuß älterer Linie aufgrund der veranschlagten „politischen und mercantilen Vortheile“ auch auf der „Anbahnung einer immer engern Verbindung“ mit Österreich.55 Auch die Geraer Handelskammer56 sprach sich 1852 zwar mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib beim preußischen Zollsystem aus. Doch trat deren Vorsitzender, Carl Christoph Nürmberger, diesem Votum nicht bei, sondern unterstrich neben den Risiken einer Trennung vom 52 Vgl. Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 140–151; Thomas J. Hagen, Österreichs Mitteleuropa 1850–1866. Die Wirtschafts-, Währungs- und Verkehrsunion des Karl Ludwig Freiherrn von Bruck, Husum 2015. 53 Vgl. Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation (wie Anm. 17); ders. (Bearb.), Die Dresdener Konferenz und die Wiederherstellung des Deutschen Bundes 1850/51, München 1996. 54 Vgl. Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 140–180. 55 Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Kaiser und Reich C 2402, Bl. 79r–80r, Schreiben des Greizer Ministeriums an das Staatsministerium in Weimar, Greiz, 17. Dezember 1851. 56 Vgl. Reyk Seela, Die Industrie- und Handelskammer Ostthüringen zu Gera. Festschrift zur 150jährigen Kammergeschichte in Ostthüringen (1849–1999), Gera 1999.

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Zollverein auch die wirtschaftlichen Chancen, die sich beim Anschluss an eine österreichisch-mittelstaatliche Zollunion ergeben würden.57 Letztlich war es auch die seit 1834 entstandene höhere Zollvereinsbürokratie, die bei den Regierungen der Mitgliedsstaaten den Ausschlag für den Erhalt des Deutschen Zollvereins gab.58 So warnte der langjährige Zollfachbeamte und thüringische Unterhändler bei den seit April 1852 in Berlin laufenden Verhandlungen über die Erneuerung der Zollvereinsverträge, Gustav Thon, vor den negativen Folgen eines Ausscheidens der thüringischen Staaten aus dem Zollverein. Das „Bedürfniß“, so Thon im September 1852, das die thüringischen Staaten vor zwanzig Jahren in den Deutschen Zollverein geführt habe, sei „durch die Dauer dieses Verbandes selbst, durch die unzähligen Verhältnisse, welche darauf gegründet sind, durch die gestiegenen Ansprüche an die Finanzen der Staaten zu einer Nothwendigkeit geworden“.59 Im Zuge der Erneuerung des um Hannover und Oldenburg erweiterten Deutschen Zollvereins im Jahr 1853 kam es zwar auch zum Abschluss eines Handelsvertrages zwischen Österreich und dem Zollverein, der das Versprechen für eine künftige gemeinsame Zollunion enthielt. Preußen konterkarierte diesen Vertrag jedoch, indem es im Zollverein weiterhin auf einen niedrigen Zolltarif drängte und schließlich den im März 1862 paraphierten preußisch-französischen Handelsvertrag mit seinen niedrigen Zollsätzen zur Grundlage für die wieder anstehende Erneuerung der Zollvereinsverträge machte. Innerhalb des Zollvereins regten sich erneut Widerstände einiger Mittelstaaten, aber auch aus der gewerblichen Wirtschaft gegen die Annahme des Handelsvertrages, da er die französische Wirtschaft einseitig begünstige.60 Das Dilemma, in dem sich die Gegner der preußischen Handelspolitik befanden, verdeutlicht erneut ein Gutachten der Geraer Handelskammer von 1863. Einerseits wollte man auf den Zollverein nicht verzichten, da er gerade in Zeiten internationaler Krisen einen sicheren Absatzmarkt gewähre. Andererseits sah man mit Sorge die Gefahr einer Spaltung des Zollvereins durch die preußische Politik. Zudem 57 Vgl. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Greiz (im Folgenden: LATh–StA Greiz), Ministerium Gera, Nr. 799, Bl. 298r–300r, Schreiben Nürmbergers an das Ministerium in Gera, Gera, 25. September 1852. 58 Vgl. Marko Kreutzmann, Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereins. Eine bürokratische Funktionselite zwischen einzelstaatlichen Interessen und zwischenstaatlicher Integration (1834–1871) , Göttingen 2012. 59 LATh–StA Greiz, Ministerium Gera, Nr. 799, Bl. 280r–283r, Bericht Thons an das Geraer Staatsministerium, Berlin, 15. September 1852, Zitat Bl. 282v. 60 Vgl. Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 171 f.

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erhoffte man sich neue Absatzchancen weniger in Westeuropa, sondern eher auf dem österreichischen Markt. Man wollte den Zollverein mit Preußen erhalten, sich zugleich aber an Österreich annähern.61 Preußen setzte jedoch 1865 die Erneuerung des Zollvereins auf der Grundlage des preußisch-französischen Handelsvertrages durch. Eine weitere Annäherung oder gar ein Eintritt Österreichs in den Zollverein waren damit endgültig vereitelt.62 Der Krieg zwischen Preußen und Österreich und deren jeweiligen Verbündeten von 1866 führte zur Auflösung des Deutschen Bundes und zum Eintritt der thüringischen Kleinstaaten in den Norddeutschen Bund von 1867 und dann in das kleindeutsch-preußische Kaiserreich von 1871. Die thüringischen Staaten wurden damit Teil eines einheitlichen Zollgebietes. Sie behielten zwar ihre eigene Zollverwaltung, betrieben aber keine eigenständige Zollpolitik mehr. Dennoch spielten zoll- und handelspolitische Fragen auch in den folgenden Jahren in Thüringen noch eine wichtige Rolle. Die liberale Zollpolitik wie der Liberalismus überhaupt gerieten im Zuge der Gründerkrise seit Mitte der 1870er Jahre erheblich in die Kritik.63 Die Reichstagswahl vom Juli 1878 wurde zur Abstimmung über eine neue Schutzzollpolitik, die vor allem bei Industriellen, Arbeitern und Handwerkern lebhafte Befürwortung fand. Auch in den thüringischen Wahlkreisen, die seit 1867 vom Liberalismus dominiert worden waren, zeigte sich der Umschwung der öffentlichen Meinung zugunsten einer verstärkten staatlichen Interventionspolitik.64

V. Fazit

Die Zollpolitik in der Region Thüringen im 19. Jahrhundert bewegte sich im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen, fiskalischen sowie macht- und nationalpolitischen Interessen. Die politischen und territorialen Umwälzungen 61 Vgl. LATh–StA Greiz, Ministerium Gera, Nr. 802, Bl. 61r–63v, Gutachten der Handelskammer Gera über das vom Königlich Preußischen Ministerium vorgelegte Promemoria sammt Vereins-Zolltarifs-Entwurf, Gera, 31. Oktober 1863. 62 Vgl. Hahn, Zollverein (wie Anm. 4), S. 179 f. 63 Vgl. Werner Plumpe, Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 22011, S. 62– 67. 64 Vgl. Marko Kreutzmann, „… den bewährten Traditionen des Zollvereins gemäß“. Die Wahl Rudolph Delbrücks zum Reichstagsabgeordneten im Wahlkreis Jena-Neustadt im Jahr 1878, in: Stefan Gerber/Werner Greiling/Tobias Kaiser/Klaus Ries (Hg.), Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland, Göttingen 2014, S. 115–130.

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um 1800 erforderten eine Reorganisation des Zollwesens. Die thüringischen Kleinstaaten sahen sich bald von neuen Zollschranken der deutschen Einzelstaaten und insbesondere des seit 1815 weit nach Thüringen ausgedehnten Preußens umgeben. Der Handlungsspielraum der thüringischen Kleinstaaten war dabei gering. Ihr Interesse galt der Herstellung einer möglichst großen innerdeutschen Handelsfreiheit und dem Zollschutz gegen Industrieprodukte außerdeutscher Länder. Dies entsprach ihrer von einem traditionellen, aber leistungsfähigen und teilweise auch international erfolgreichen Gewerbe geprägten Wirtschaftsstruktur. Die Bemühungen, im Rahmen des Deutschen Bundes und auf der Grundlage des Erziehungszollkonzeptes von Friedrich List ein gesamtdeutsches Zollgebiet zu schaffen, blieben vergeblich. Möglicherweise hätten stabilere handelspolitische Rahmenbedingungen und ein wirksamerer Zollschutz den krisenhaften Verfall des traditionellen Gewerbes abgemildert und Investitionen in neue Erwerbszweige stärker gefördert. Der Deutsche Zollverein von 1834, dem auch die thüringischen Staaten angehörten, betrieb eine vor allem von fiskalischen Interessen motivierte, liberale Tarifpolitik und litt unter organisatorischen Defiziten und politischen Krisen. Er war zwar keine Initialzündung für die Industrialisierung der Region, schuf aber langfristig die nötigen Rahmenbedingungen, unter denen auch Thüringen seit den 1850er Jahren am allgemeinen industriellen Aufschwung teilhaben konnte. Zugleich wurden die regionalen Wirtschaftsinteressen gebündelt und damit eine gemeinsame thüringische Identität verstärkt, die sich im 19. Jahrhundert als Teil des Prozesses der föderativen Nationsbildung entwickelte.

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Kapitalismus und Industrialisierung im Textilgewerbe – Tendenzen und Fragen für die Forschung zur mitteldeutschen Geschichte

1. Historische Kapitalismusforschung und die deutsche Geschichtswissenschaft

Seit einigen Jahren drängen innerhalb der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung Arbeiten in den Vordergrund, die sich vom lange Zeit vorherrschenden Industrialisierungsparadigma lösen und die Genese des Kapitalismus in den Mittelpunkt stellen.1 Anstatt die ökonomischen Entwicklungen mit der Gründung der ersten Fabrik beginnen zu lassen, wenden sie sich verstärkt den Marktbildungs-, Handels-, Agrar- und Konsumprozessen der Frühen Neuzeit zu. Unter einem in der Regel regionalen Fokus wird vor allem für das 17. und 18.  Jahrhundert untersucht, wie und warum sich die kapitalistische Wirtschaftsweise gegenüber älteren ökonomischen Funktionsprinzipien durchsetzen konnte, sodass die Industrialisierung beinahe überall auf diese Weise ablief.2 Dabei werden ältere Forschungsansätze wie die „Protoindustrialisierung“, „Industrious Revolution“ oder die Fragen der „Brenner debate“ mit den Prämissen der „Neuen Institutionenökonomik“ und akteurszentrierten Blickwinkeln zu einer modernen Wirtschafts- und Sozialgeschichte verbunden.3 Diese 1 Vgl. Larry Neal/Jeffrey Williamson (Hg.), The Cambridge history of capitalism, Cambridge u. a. 2014; Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014; Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014; Julie Marfany, Land, proto-industry and population in Catalonia, 1680–1829. An alternative transition to capitalism?, Farnham u. a. 2012. 2 Vgl. Jaume Torras/Bartolomé Yun (Hg.), Consumo, condiciones de vida y comercializatión. Cataluña y Castilla, siglos XVII–XIX, Valladolid 1999; Marcel Boldorf, Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750– 1850), Köln/Weimar/Wien 2006; Michael Prinz, Konsum und Konsumgesellschaft seit dem 18. Jahrhundert. Neuere deutsche, englische und amerikanische Literatur, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 450–514. 3 Grundlegend: Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm (Hg.), Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1978; Jan de Vries, The industrious revolution. Consumer

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verortet die Geschichte des Kapitalismus nicht mehr nur als Angelegenheit wirtschaftswissenschaftlicher Subdisziplinen – sie verleiht dem Phänomen viel stärker eine sozial-, kultur- und politikgeschichtliche Dimension als wichtigem Antriebsmoment in einer „histoire totale“. Gleichzeitig verweisen neuere Untersuchungen immer stärker auf die frühe globale Dimension wirtschaftlicher Verflechtungen des Textilgewerbes. Der Fokus liegt dabei (meist ausgehend von der Händler- und Handelsgeschichte) auf den Fragen, wie Märkte international gebildet und verteidigt wurden, wie sich unternehmerische Netzwerke ausbreiteten und welche Rolle dabei den entstehenden Nationalstaaten zukam.4 Obgleich textile Kapitalismusgeschichte dabei als Globalgeschichte par excellence erscheint, wurde in diesem Kontext jedoch auch immer wieder hinterfragt, in welchem Verhältnis globale und lokale Entwicklungen standen, wie sich ihre Verschränkungen als „Glokalisierungen“5 auf die Denkhorizonte und Handlungsweisen der regionalen Akteure auswirkten und wie sich in diesem Kontext wesentliche Prozesse der Neuzeit konstituierten.6 Sowohl Regionen als auch der Regionalismus erscheinen in diesem Zusammenhang als konstruierte Phänomene, die – der historiographische Schwerpunkt liegt hier deutlich auf dem 19. Jahrhundert – immer stärker transnational vergleichend hergeleitet werden.7 Obgleich innerhalb dieser Forschungsrichtung eine internationale und bereits seit Jahren laufende Diskussion stattfindet, wurden ihre Ergebnisse innerhalb der deutschen historischen Forschung nur vereinzelt rezipiert und trafen kaum auf Widerhall. Unter dem Industrialisierungsfokus ging der Diskurs hier

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behaviour and the household economy, 1650 to the present, Cambridge 2008; Karl-Peter Ellerbrock/Clemens Wischermann (Hg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004. Vgl. Christof Dejung, Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln/Weimar/ Wien 2013; Beckert, King Cotton (wie Anm. 1); Mark Häberlein/Christof Jeggle (Hg.), Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit, München 2010. Vgl. Roland Robertson, Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hg.), Global Modernities, London/Thousand Oaks/ New Delhi 1994, S. 25–44. Vgl. Christof Dejung/Martin Lengwiler, Einleitung: Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte, in: dies. (Hg.), Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte, Köln 2016, S. 7–35. Vgl. Eric Storm, Nation-building in the Provinces. The Interplay between Local, Regional and National Identities in Central and Western Europe, 1870–1945, in: European History Quarterly 42 (2012), S. 651 f.

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nur selten über die Frage der „Protoindustrialisierung“ hinaus.8 Dies ist umso bedauerlicher, da mit den Weiterentwicklungen der englischen, niederländischen, französischen, italienischen und spanischen Forschung ein Fragenkatalog und ein konzeptionelles Gerüst bereitstehen würden, um auch den Blick auf die Kapitalismusgeschichte deutscher Wirtschaftsregionen in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert zu schärfen.9 Darüber hinaus klafft derzeit in der deutschen Forschung nicht nur eine theoretisch-konzeptionelle Lücke, sondern es herrscht ein deutlicher Rückstand gegenüber intensiven Kontroversen der west- und südeuropäischen Wirtschafts- und Sozialhistoriker – für weite Teile des deutschsprachigen Raumes und wichtige deutsche Textilregionen ist die Entwicklung des Kapitalismus bis heute ein Desiderat geblieben, das den Eindruck erweckt, der Kapitalismus sei „aus dem Nichts“ erwachsen. Daher bedarf es neben einem forschungsstrategischen Anschluss der deutschen Kapitalismusforschung vor allem eines Überdenkens und Erforschens der Entstehungsgrundlagen dieser Wirtschaftsform. Im Folgenden soll es vor allem darum gehen, aus der reichhaltigen internationalen Literatur zentrale Forschungslinien für die historische Beschäftigung mit regionalen Textilkapitalismen zu beschreiben. Gleichzeitig möchte ich meines Erachtens fruchtbare Fragestellung herausarbeiten, die zum besseren Verständnis der deutschen Entwicklungen beitragen könnten.

2. Wichtige aktuelle Forschungslinien

Eine Neuinterpretation, die den deutschen Textilkapitalismus in einen interregional-europäischen und sich global vernetzenden Rahmen stellt, könnte von mehreren Ansätzen profitieren. Zunächst wäre ein regionaler Fokus von großem Vorteil, der unterschiedliche Produktvielfalten aus Wolle, Leinen, Seide und/oder Baumwolle umfassen kann. Diese Ausrichtung hat nicht nur den Vorteil, die bisher übliche, historisch aber nicht haltbare Verknüpfung des Textilkapitalismus mit der Baumwolle zu erweitern – der regionale Blick er8 Vgl. Ulrich Pfister, Proto-industrielles Wachstum: ein theoretisches Modell, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 39 (1998), H. 2, S. 21–47. Eine partielle Ausnahme bildet z. B. Mark Häberlein/Christoph Jeggle (Hg.), Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehung in Mittelalter und früher Neuzeit, Konstanz 2004. 9 Vgl. Maxine Berg (Hg.), Markets and Manufacture in Early Industrial Europe, London/New York 1991; Aloys Prinz/Albert E. Steenge/Jörg Schmidt (Hg.), The Rules of the Game. Institutions, Law and Economics, Münster 2007.

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weist sich für den Untersuchungszeitraum auch als um ein Vielfaches schärfer als nationale Zugriffe.10 So machen neueste Arbeiten deutlich, dass sich auch der Kapitalismus als regionalspezifisches Phänomen etablierte und von regional-unterschiedlichen Triebkräften profitierte oder begrenzt wurde.11 Parallel zu einer regionalen Fokussierung muss jedoch auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass kapitalistische Netzwerke teilweise schon früh über den regionalen Rahmen hinauswuchsen und sich global formierten. Als Untersuchung von Interaktionen zwischen bestimmten Orten, ihrer institutionellen Verfestigung, der daran beteiligten Akteure und ihrer Vorstellung kann beispielsweise der Ansatz der Transregionalität dazu beitragen, wachsende Verschränkungen lokaler und globaler Entwicklungen nachzuzeichnen und damit das entstehende spezifische Profil einer Textilregion zu schärfen.12 Neben den dezidiert regionalen Faktoren der Genese des Textilkapitalismus wird hier auch immer nach der wechselseitigen Bedeutung des „Fernen“ für das „Regionale“ gefragt. Aufgrund der bisherigen historiographischen Konzentration auf das 19. Jahrhundert wären in diesem Zusammenhang Projekte wünschenswert, die sich als Untersuchungen zur Genese des regionalen Frühkapitalismus verstehen und eine beginnende wechselseitig-transregionale und globale Vernetzung der Region problematisieren. Gleichzeitig bleibt jedoch auch der Blick auf die Phasen einer hohen transregionalen Verflechtung lohnend, deren Zustandekommen und langfristige Stabilität hinterfragt werden müsste. Sowohl „Zeit“ als auch „Raum“ können dadurch als Dimensionen kapitalistischer Entwicklung vergleichend eingeordnet werden.13 10 Vgl. grundlegend Sydney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981. Zu Regionen als „Verflechtungsbereichen“ ökonomischer Interaktion vgl. Peter Weichhardt, Die Region – Chimäre, Artefakt oder Strukturprinzip sozialer Systeme?, in: Gerhard Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996, S. 29–38, hier besonders S. 34; Toni Pierenkemper, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 100–112. 11 Vgl. Lex Heerma van Voss u. a. (Hg.), The Ashgate Companion to the History of Textile Workers, 1650–2000, Farnham 2010 und ebenso Giorgio Riello/Prasannan Parthasarathi (Hg.), The Spinning World. A Global History of Cotton Textiles. 1200–1850, Oxford 2009. 12 Vgl. zum Begriff der Translokalität bzw. Transregionalität: Ulrike Freitag/Achim von Oppen (Hg.), Translocality. The Study of Globalising Processes from a Southern Perspective, Leiden/ Boston 2010. Zum Verhältnis von Regional- und Globalgeschichte vgl. Johannes Paulmann, Regionen und Welten. Arenen und Akteure regionaler Weltbeziehungen seit dem 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 660–699. 13 Zu „Raum“ und „Zeit“ als Dimensionen der Globalisierung vgl. Sebastian Conrad/Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung

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Zweitens betrifft eine weitere wichtige Vorüberlegung das Verhältnis von Kapitalismus und Industrialisierung, zweier Begriffe, die in weiten Teilen der historischen Forschung beinahe deckungsgleich verwendet werden, obgleich sie völlig verschiedene Phänomene bezeichnen.14 Vor allem für die gewerbliche Textilproduktion, die schon Jahrhunderte vor der Industrialisierung kapitalistisch organisiert wurde und um die herum sich kaufmännische Marktbeziehungen ausbreiteten, müssen beide Begriffe zunächst scharf voneinander getrennt werden. Da sich jedoch auch der Befund nicht widerlegen lässt, dass die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts fast überall kapitalistisch ablief, werfen diese Überlegungen ein besonderes Licht auf die Schnittstelle beider Phänomene im 18. Jahrhundert. Es muss daher vermutet werden, dass sich in dieser Transformationsphase ein ökonomischer Wandel vollzog, an dessen Ende sich der Kapitalismus von einer punktuellen Organisationsform zu einer überregionalen Triebkraft entwickelt hatte, die als dynamische Voraussetzung der Industrialisierung wirkte. Drittens würden kommende Forschungen auf einer theoretisch-methodischen Ebene massiv durch eine international anschlussfähige Erweiterung des typischen Industrialisierungsblickwinkels gewinnen. Denkbar wäre dabei z. B. eine konzeptionelle Verschränkung des Ansatzes der „New Economic History“ mit handlungs- und akteurszentrierten Vorgehensweisen. Diese Verbindung zweier ansonsten getrennter Analyserahmen und Untersuchungsgegenstände leitet sich einerseits aus der Qualität des Textilkapitalismus als sozialem Prozess zwischen Struktur und Handlung ab und lässt sich andererseits mit der europäischen Forschungsentwicklung der letzten Jahre begründen. Denn die „Neue Institutionenökonomik“,15 die sich besonders mit der Verteilung von Besitzrechten und den Transaktionskosten zu deren Beeinflussung beschäftigt, wird innerhalb der europäischen Kapitalismusforschung seit langem erfolgreich für die Interpretation der Entwicklung landwirtschaftlicher Prozesse der modernen Welt, in: Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a. M. 2007, S. 7–52; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003. 14 Vgl. Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013, S. 78–84. 15 Vgl. grundlegend: Douglass C. North, Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988; Clemens Wischermann/Anne Nieberding, Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004.

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und agrarischer Gesellschaften angewendet, um die Zusammenhänge zwischen ruraler Kommerzialisierung und kapitalistischer Gewerbeentwicklung nachzuzeichnen.16 Im Mittelpunkt steht dabei besonders die Kontextualisierung regionaler Agrarverfassungen mit Schwerpunkten auf dem Erbteilungsrecht, den Heiratsregelungen und der Frage, wie sich bestimmte Konstellationen von Landbesitz und Landnutzung auf die Ausbreitung einer ländlichen textilen Hausindustrie auswirkten.17 Damit eng verbunden ist auch die Analyse sozialer Institutionen in Dorf- und Stadtgemeinschaften, die großen Einfluss auf Aspekte der Produktion und Machtverteilung ausüben konnten.18 So ist zu vermuten, dass sich frühe textilkapitalistische Prozesse vor allem dort zeigten, wo der zersplitterte Landbesitz nicht zur bäuerlichen Subsistenz ausreichte und wo wenig restriktive Zunftschranken herrschten;19 ein Argumentationsmuster, das jedoch allzu schematisch nach den „agrarischen Wurzeln des europäischen Kapitalismus“20 sucht, ohne die dynamische Wechselseitigkeit agrarischer und gewerblicher Produktion und ihrer Trägergruppen zu würdigen. So erscheinen die historischen Prozesse nur in wenigen Regionen so gradlinig und „agrarkapitalistisch“ wie in den englischen Textilhochburgen. Das Verhältnis beider Prozesse muss daher dringend regional-quellengestützt hinterfragt werden.

16 Vgl. Gérard Beaur u. a. (Hg.), Property rights, land markets and economic growth in the European countryside (Thirteenth-Twentieth Centuries), Turnhout 2013; Jaume Torras, Especialization agricola e industria rural en Cataluña en el siglo XVIII, in: Revista de Historia Econòmica 2 (1984), S. 113–127; Dietmar Müller/Angela Harre (Hg.), Transforming Rural Societies. Agrarian Property and Agrarianism in East Central Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Innsbruck 2011; Georg Fertig, Äcker, Wirte, Gaben. Ländlicher Bodenmarkt und liberale Eigentumsordnung im Westfalen des 19. Jahrhunderts, Berlin 2007. 17 Vgl. Juan Carmona/James Simpson, The „Rabassa Morta“ in Catalan Viticulture: The Rise and Decline of a Long-Term Sharecropping Contract, 1670s–1920s, in: The Journal of Economic History 59 (1999), S. 290–315. 18 Vgl. Anne-Lise Head-König (Hg.), Inheritance practices, marriage strategies and household formation in European rural societies, Turnhout 2012; Sheilagh C. Ogilvie, Social Institutions and proto-industrialization, in: Markus Cerman/dies. (Hg.), Protoindustrialisierung in Europa. Industrielle Produktion vor dem Fabrikszeitalter, Wien 1994, S. 23–37. 19 Vgl. Sydney Pollard, Die Erfahrung der Industrialisierung in Textilregionen. Zusammenfassung und Schlußbemerkung, in: Karl Ditt/ders. (Hg.), Von der Heimarbeit in die Fabrik. Industrialisierung und Arbeiterschaft in Leinen- und Baumwollregionen Westeuropas während des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 1992, S. 451–471, hier S. 453. 20 Vgl. Robert Brenner, The agrarian roots of European capitalism, in: T. H. Aston/C. H. E. Philpin (Hg.), The Brenner debate. Agrarian Class Structure an Economic Development in Pre-Industrial Europe, Cambridge 1985, S. 213–328.

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Während diese Ansätze strukturell argumentieren und nach quasi-objektiven Schubkräften für die Ausprägung einer Marktstruktur suchen, befasst sich eine andere Herangehensweise seit einigen Jahren mit einer akteurszentrierten Interpretation kapitalistischer Entwicklung.21 Zentrale Elemente sehen die Autoren dabei vor allem in der Auslotung bäuerlicher und handwerklicher Selbstbestimmung im Zuge der wachsenden Marktintegration sowie in der Ersetzung der Subsistenz- durch eine Konsumlogik der Haushalte.22 Diese Entdeckung des Konsumenten hat dazu geführt, kapitalistische Genese stärker im sozialen Gefüge einer ganzen regionalen Wirtschaftsstruktur zu verorten – der ökonomische Wandel erscheint völlig zu Recht nicht als top-down-Logik, sondern als komplexe soziale Gemengelage, in der allen Akteuren unterschiedliche Gestaltungsspielräume und Entscheidungsmöglichkeiten zukamen. Um diesen Akteursbezug weiter zu vertiefen und mit seinen strukturellen agrarischen und handwerklichen Bedingungen wechselseitig in Verbindung zu setzen, bietet es sich an, mit der Handels- und Kaufmannsgeschichte einen Forschungszweig zu integrieren, der häufig getrennt von den obigen Entwicklungen behandelt wurde und den Fokus kommender Forschung weit über den „Protoindustrialisierungs“-Bezug hinaus schärfen könnte.23 Dieser Schritt ist von zentraler Bedeutung, weil sich dadurch mit dem Handelsrecht und dem Binnenhandel nicht nur zwei bisher fast vollständig vernachlässigte, aber entscheidende Faktoren für den frühen Textilkapitalismus integrieren lassen, sondern weil die „eigenartige Polarität systemorientierter und praxeologischer

21 Vgl. Michael Kopsidis/Georg Fertig, Agrarwachstum und bäuerliche Ökonomie 1640–1880. Neue Ansätze zwischen Entwicklungstheorie, historischer Anthropologie und Demographie, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 52 (2004), H. 1, S. 11–21; Beckert, King Cotton (wie Anm. 1), u. a. S. 197–230 u. 259–290. 22 Vgl. Jan de Vries, Between purchasing power and the world of goods. Understanding the household economy in early modern Europe, in: John Brewer/Roy Porter (Hg.), Consumption and the world of goods, London 1993, S. 85–123; Hartmut Harnisch, Kapitalistische Agrarreformen und industrielle Revolution, Weimar 1984. 23 Vgl. Michael Schäfer, Eine andere Industrialisierung. Die Transformation der sächsischen Textilexportgewerbe 1790–1890, Stuttgart 2016; Pere Molas, La burguesía mercantil en la España del Antiguo Régimen, Salamanca 1985; Jens Beckert/Rainer Diaz-Bone/Heiner Ganssmann (Hg.), Märkte als soziale Strukturen, Frankfurt a. M./New York 2007; Margit Schulte Beerbühl/Jörg Vögele (Hg.), Spinning the Commercial Web. International Trade, Merchants, and Commercial Cities, c. 1640–1939, Frankfurt a. M. 2004; Axel Flügel, Kaufleute und Manufakturen in Bielefeld. Sozialer Wandel und wirtschaftliche Entwicklung im protoindustriellen Leinengewerbe von 1680 bis 1850, Bielefeld 1993.

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Aspekte“24 zwischen Handels- und Händlergeschichte bereits auf die besondere historische Qualität des Textilkapitalismus als Sozialprozess verweist. Von ausschlaggebender Bedeutung sind dabei vor allem Handlungsweisen und Taktiken bei der Bildung vorindustrieller Märkte und die Frage, wie und warum das nötige Kapital akkumuliert wurde, bevor es in ein textiles Engagement floss.25 Des Weiteren wirft der Handels- und Finanzfokus einen korrigierenden Blick auf die lange Zeit rein agrarische Argumentation der „Protoindustrialisierung“, indem urbane Handelstraditionen und Finanzkräfte gleichwertig in das Bild der frühen textilkapitalistischen Produktion einbezogen werden.26 Gleichzeitig bleibt die Frage nach der Herkunft dieser frühen kapitalistischen Unternehmer eines der größten Desiderate der Forschung.27 Entscheidende Fragen für die historische Beschäftigung mit regionalen Textilkapitalismen wären daher: Wie waren die zentralen Akteure städtisch und regional organisiert und welche Verbindungen entwickelten sich durch welche Methoden zu anderen Regionen?28 Wie lassen sich solche Entwicklungen mit der aktuellen Netzwerkforschung verbinden?29 Welche Rolle spielte der handwerkliche Hintergrund? Was unterschied Kaufmänner und Unternehmer in

24 Jochen Hoock, Zum Stand der europäischen Kaufmannsgeschichte, in: ders./Wilfried Reininghaus (Hg.), Kaufleute in Europa. Handelshäuser und ihre Überlieferung in vor- und frühindustrieller Zeit, Dortmund 1997, S. 11–24, hier S. 11. 25 Für die Textilgewerbe Barcelonas im 18. Jahrhundert vgl. J. K. J. Thomson, A distinctive industrialization. Cotton in Barcelona 1728–1832, Cambridge 1992, S. 96–147. 26 Bereits gefordert bei: Karl Heinrich Kaufhold, Gewerbelandschaften in der frühen Neuzeit (1650–1800), in: Hans Pohl (Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften, Stuttgart 1986, S. 112–202. 27 Vgl. Wolfgang Huschke, Forschungen über die Herkunft der thüringischen Unternehmerschicht des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden 1962. 28 Zur wichtigen familiären Organisationsform vgl. Michael Schäfer, Familienunternehmen und Unternehmerfamilien. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der sächsischen Unternehmer 1850–1940, München 2007. Das Beispiel einer verwandtschaftlich und geschäftlich eng vernetzten lokal-regionalen Textilunternehmerelite zeigen für die südwestsächsische Textilindustrie z. B. Andrea Bergler/Patricia Ober, Das Textilunternehmen Pfau in Crimmitschau (1859–1900), in: Ulrich Hess/Petra Listewnik/Michael Schäfer (Hg.), Unternehmen im regionalen und lokalen Raum 1750–2000, Leipzig 2004, S. 143–168. 29 Hartmut Berghoff/Jörg Sydow (Hg.), Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart 2007; Monika Poettinger, Deutsche Unternehmer im Mailand des neunzehnten Jahrhunderts. Netzwerke, soziales Kapital und Industrialisierung, Mailand 2012; Marten Dürig/Ulrich Eumann, Historische Netzwerkforschung: Ein neuer Ansatz in den Geschichtswissenschaften, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 369–390.

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Gera, Greiz und Mühlhausen von solchen in Mailand und Barcelona?30 Wie sahen gegenseitige Absprachen und Vereinbarungen aus? Und wie unterhielten sie ein weltweites System von Handelsbeziehungen? So wurden die Textilunternehmen aus Gera und Greiz immer wieder für ihr weltweites Handelsnetz gewürdigt – nach dessen Entstehen fragten dagegen nur wenige Autoren.31 Um etwa die überseeischen Absatzgebiete mancher Kammgarnprodukte aus Ostthüringen zu erklären, müsste versucht werden, das Handeln globaler Zwischenhändler, Kaufmänner und Faktoren in einer zunehmenden internationalen Verflechtung von Handel und Produktion nachzuzeichnen. Dabei ist es besonders wichtig, zentrale Bereiche der kapitalistischen Distribution quellengestützt zu beleuchten: Wie kauften Unternehmer Rohwaren ein? Wer vermittelte auf welche Weise die Warenströme über Grenzen hinweg? Welche Rolle spielten dabei verschiedene Marktstrukturen?32 Welche Handelswege nahmen die fertigen Produkte genau und wie wurde ihr Absatz langfristig sichergestellt? Wie ist der Übergang mancher Handelsunternehmen in eine Verlags- oder Industrieunternehmensorganisation zu erklären?33 Und daraus als übergeordnete Frage entstehend: Wie waren Produktion und Handel einer Region an Produktion, Konsum, Moden und Absatzstrategien in einer anderen Region gebunden und umgekehrt? Oder kurz: Wie wurde Transregionalität organisiert, welche Bedeutung hatte die „Ferne“ für das „Regionale“ und umgekehrt und wie verortete man sich in einer zunehmend globalen Textilwirtschaft? 30 Vgl. z. B. die Beiträge in: Werner Plumpe (Hg.), Unternehmer. Fakten und Fiktionen. Historisch-biographische Studien, München 2014. Hierbei insbesondere: Werner Plumpe, Unternehmer – Fakten und Fiktionen. Einleitung, in: ebd., S. 1–26 und Jürgen Kocka, Braucht der Kapitalismus erfolgreiche Unternehmer, und wenn ja, gibt es sie?, in: ebd., S. 81–96. 31 Vgl. Falk Burkhardt, Grundzüge ostthüringischer Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, S. 193–213; ders., Gewerbe, Industrie und Industrialisierung im 19. Jahrhundert in den thüringischen Residenzen, in: Konrad Scheurmann/ Jördis Frank (Hg.), Thüringen – Land der Residenzen, Bd. 3, Essays, Mainz 2004, S. 425– 444. 32 Über den Einfluss bestimmter Marktstrukturen schweigen sich neuere Forschungen meistens aus. Besonders im Gegensatz zu England wirkte sich z. B. der dezentrale deutsche Markt massiv auf die täglichen Wirtschaftsprozesse aus. Vgl. Richard Dehn, The German Cotton Industry, Manchester 1913, S. 52–64. 33 Vgl. Alex Sánchez, La era de la manufactura algonodera en Barcelona, in: Estudios de Historia Social 48/49 (1989), S. 65–113; Ulrich Pfister, Unternehmerverhalten im 19. Jahrhundert jenseits der Bürgerlichkeit, in: Jan-Otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/Karl Lauschke (Hg.), Kulturalismus. Neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmengeschichte, Essen 2002, S. 51–61.

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Im Zusammenhang des institutionellen Wandels und der unternehmerischen Agenda nimmt die Frage nach der Bedeutung unterschiedlicher Textilprodukte einen hohen Stellenwert ein. Denn mit dem europaweiten Übergang von Leinen und Wolle zur Baumwolle veränderten sich neben Moden auch die Produktionsprozesse der Textilgewerbe und die konkurrierenden Handels- und Absatzwege grundlegend.34 Daher ist es für die Analyse textilkapitalistischer Entwicklung zentral, jene produktspezifisch-technischen und arbeitsbezogenen Sozial- und Machtbeziehungen zu beleuchten, die den Möglichkeiten zur Kapitalakkumulation und Markteroberung zu Grunde lagen.35 Der Umgang mit technischem Know-how spielt dabei ebenso eine entscheidende Rolle wie die konflikthafte Durchsetzung bestimmter Arbeitsgruppen gegen bestehende Autonomiespielräume im Produktions- und Vermarktungsprozess.36 Erst durch eine gründliche Rekonstruktion dieser Faktoren kann es gelingen, den Auf- und Abstieg verschiedener Unternehmer- und Kaufmannsgruppen zu verstehen und den Weg in die industrielle Arbeitsteilung nachzuzeichnen. Der Vergleich verschiedener Textilprodukte und damit unterschiedlicher regionaler Produktionsregime eröffnet vor diesem Hintergrund die Möglichkeit, die Genese des Textilkapitalismus von seiner gängigen Ausrichtung auf die Baumwolle zu befreien und neue Facetten seiner regionalen Durchsetzung zu beleuchten. Nicht zuletzt wird bei der Bearbeitung der obigen Fragestellungen immer wieder die Einbeziehung politischer Prozesse unabdingbar sein. So waren steuer-, privat- und handelsrechtliche Entscheidungen als institutionelle Weichensteller maßgeblich an der Ausbildung bestimmter Marktstrukturen beteiligt. Sie müssen daher in ihrer Wechselwirkung mit den regionalen öko34 Vgl. Marfany, Land, proto-industry and population (wie Anm. 1), S. 4–6. 35 Für die Ostschweiz vgl. Albert Tanner, Das Schiffchen fliegt, die Maschine rauscht. Weber, Sticker und Unternehmer in der Ostschweiz, Zürich 1985. Für die Folgen technisch-organisatorischer Prozesse vgl. Rudolf Braun, Veränderungen der Lebensformen unter Einwirkung der verlagsindustriellen Heimarbeit in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) vor 1800, Göttingen 1979. Für den theoretischen Umgang mit der Technikgeschichte als soziologischem Problem vgl. Ulrich Dolata/Raymund Werle, „Bringing technology back in“: Technik als Einflussfaktor sozioökonomischen und institutionellen Wandels, in: dies. (Hg.), Gesellschaft und die Macht der Technik. Sozioökonomischer und institutioneller Wandel durch Technisierung, Frankfurt a. M. 2007, S. 15–43. 36 Vgl. etwa für die paraires im katalonischen Wollproduktionsprozess: Jaume Torras, The old and the new. Marketing networks and textile growth in eighteenth-century Spain, in: Berg (Hg.), Markets and Manufacture (wie Anm. 9), S. 93–113; Carles Enrech u. a., Spain, in: Voss u. a. (Hg.), Ashgate Companion (wie Anm. 11), S. 449–476, hier S. 452 f.

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nomischen und sozialen Entwicklungen berücksichtigt werden.37 Diese Untersuchungsperspektive ermöglicht dann auch Antworten auf die übergreifende strukturgeschichtliche Frage, ob eine kleinterritorial-kleinstaatliche politische Organisation – so wie es die noch von der wirtschaftsliberal-nationalökonomischen Kleinstaatenkritik des 19. Jahrhunderts geprägte Industrialisierungs- und Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts vielfach behauptet hat – tatsächlich „Hindernis“ einer kapitalistischen Organisation der gewerblich-industriellen Produktion war.38 Oder galt, um – etwas zugespitzt und vereinfacht – mit dem Ökonomen Leopold Kohr zu sprechen, auch hier „small is beautiful“?39

3. Ein vergleichendes Projektbeispiel: Katalonien und Mitteldeutschland 1650–1850

Katalonien, das als einzige iberische Ausnahme eine langfristig erfolgreiche Textilbranche entwickeln konnte, muss zu den wichtigsten südeuropäischen Industrieregionen gezählt werden.40 Indem sich im katalonischen Bergland, nach zahlreichen Vorläufern während des Mittelalters, im 17. und 18. Jahrhundert eine absatzstarke Wolltuchproduktion etablierte, stieg die Region zum größten Zulieferer im spanischen Binnenhandel auf.41 Zur gleichen Zeit begann man in den 37 Vgl. Wischermann/Nieberding, Die Institutionelle Revolution (wie Anm. 15), S. 137–149 u. 157–176; Hubert Kiesewetter, Staat und Unternehmen während der Frühindustrialisierung. Das Königreich Sachsen als Paradigma, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 29 (1984), S. 1–32. 38 Vgl. Hans-Werner Hahn, Fortschrittshindernis oder Motor des Wandels? Die thüringische Kleinstaatenwelt im 19. Jahrhundert, in: Vom Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen, hg. vom Thüringer Landtag und der Historischen Kommission für Thüringen, Erfurt 1999, S. 69–92. 39 Vgl. Leopold Kohr, Das Ende der Großen. Zurück zum menschlichen Maß, Salzburg 2002; auch ders., „Small is beautiful“. Ausgewählte Schriften aus dem Gesamtwerk, Wien 1995. 40 Vgl. Jordi Maluquer de Motes, La industrialization de Cataluña: Un balance historiográfico, in: Antonio di Vittorio/Carlos Lopez/Giovanni Luigi Fontana (Hg.), Storiografia d’industria e d’impresa in italia e spagna in etá moderna e contemporanea, Padua 2004, S. 63–102; ders., The Industrial Revolution in Catalonia, in: Nicolás Sánchez-Albornoz (Hg.), The economic modernization of Spain 1830–1930, New York 1987, S. 169–190; Pierre Vilar, Cataluña en la España moderna, Barcelona 1987; Pollard, Peaceful conquest (wie Anm. 10), S. 206 f. 41 Vgl. Josep M. Benaul Berenguer, Los orígines de la empresa textil lanera en Sabadell y Terrassa, in: Revista de Historia Industrial 1 (1992), S. 39–62; Manuel Riu, The Woolen Industry in Catalonia in the Later Middle Ages, in: N. B. Harte/K. G. Ponting (Hg.), Cloth and Clothing in Medieval Europe, London 1983, S. 205–229.

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flacheren Küstenregionen und vor allem in Barcelona damit, Baumwolle zu verarbeiten und läutete damit den weitreichenden Wandel ein, der diesen Rohstoff langsam zum unangefochtenen Grundprodukt der Textilbranche machte, die Industrialisierung früh einleitete und Barcelona seit den 1830er Jahren zur iberischen Textilhochburg aufsteigen ließ.42 Gleichzeitig bestand jedoch bis ins 19. Jahrhundert hinein eine wichtige Wolltuch- und Garnproduktion im ländlichen Raum weiter.43 Auch Mitteldeutschland, dessen Textilproduktion sich (wiederum mit frühen Vorläufern) besonders im Eichsfeld, im ostthüringisch-westsächsischen Raum sowie in der Oberlausitz konzentrierte, gehörte zu den wichtigsten europäischen Textilregionen.44 Ebenso wie in Katalonien etablierten sich hier seit dem späten 17. Jahrhundert Zentren einer frühkapitalistischen Produktionsund Absatzstruktur, die im Eichsfeld mit Wolle und Leinen, im Raum Greiz/ Gera mit Wolle,45 in Westsachsen mit dem Kattundruck und der Strumpfwirkerei und in der Oberlausitz mit Wolle verbunden waren.46 Anders als in Ka42 Vgl. Jaume Torras, L’Industrializzazione Catalana: Vantaggi e Svantaggi del Pionerismo, in: Giovanni Luigi Fontana (Hg.), Le vie dell’industializzazione europea. Sistemi e confronto, Bologna 1997, S. 261–274; Alex Sánchez, Crisis Economica, in: Revista de Historia Economica 18 (2000), S. 485–522; ders., La empresa algonodera en Cataluña antes de la aplicacion del vapor 1783–1832, in: Francisco Comín u. a. (Hg.), La empresa en la historia de España, Madrid 1996, S. 155–170. 43 Vgl. Josep M. Benaul Berenguer, Realidades empresariales y estructura productiva en la industria textil lanera Catalana 1815–1870, in: Comín (Hg.), La empresa (wie Anm. 42), S. 171–186. 44 Vgl. Kaufhold, Gewerbelandschaften (wie Anm. 26); Dietrich Ebeling u. a., The German wool and cotton industry from the sixteenth to the twentieth century, in: Voss u. a. (Hg.), Ashgate Companion (wie Anm. 11), S. 199–229. 45 Die Forschung zur Wirtschaft Thüringens steht (ähnlich wie jene zu Sachsen) fast ausnahmslos unter dem Industrialisierungsparadigma und lässt das 17. und 18. Jahrhundert daher meist unberücksichtigt. Auch besitzen wichtige Studien mittlerweile ein hohes Alter, während aktuelle Untersuchungen oft außerhalb der universitären Diskussion in heimatgeschichtlichen Veröffentlichungen stattfinden. Vgl. Friedrich Beck, Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Greiz während des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Industrialisierung in Deutschland, Weimar 1955; Rudolf Forberger, Die industrielle Revolution in Sachsen 1800–1861, Berlin 1982; Adelheid Schleitz, Aus der Textilgeschichte der Stadt Gera, Erfurt 1999; Dieter Obenauf/Wolfgang Ritter/Gerhard Strauss, Ein Streifzug durch die Greizer Textilgeschichte, Greiz 2005; Helmut Godehard, Der Anteil der eichsfeldischen Wollkämmer an der Entwicklung der Maschinenkammgarnspinnerei, in: Eichsfelder Heimathefte 10 (1970), S. 210–228. 46 Vgl. Albin König, Die sächsische Baumwollindustrie am Ende des vorigen Jahrhunderts und während der Kontinentalsperre, Leipzig 1899; Friedrich Georg Wieck, Industrielle Zu-

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talonien traten diese Subregionen jedoch auf unterschiedliche Art und Weise in die Industrialisierung ein: Das Eichsfeld schaffte diesen Sprung nicht, Ostthüringen behielt seinen Fokus auf der Wolle (Kammgarnindustrie) und Westsachsen und die Oberlausitz stiegen zu wichtigen Zentren der Baumwollverarbeitung auf, während jedoch immer eine leicht produktdiversifizierte Struktur vorhanden blieb. Schließlich war es diese frühkapitalistische Textilbranche, die den massiven Industrialisierungsschub Sachsens und Ostthüringens im 19. Jahrhundert ermöglichte.47 Mit Blick auf die skizzierten Forschungslinien könnte sich ein solches Projekt im Speziellen der Entwicklung der Produktions- und Machtverhältnisse, Absatzmärkte und Handelswege der Wolltuchproduktion im Bergland Kataloniens während des 18. Jahrhunderts widmen und die Ergebnisse für Orte wie Igualada, Sabadell und Terrassa mit jenen Phänomenen vergleichen, die sich zur selben Zeit im Eichsfeld, in Ostthüringen und Westsachsen sowie in der Oberlausitz rund um die Leinen- und Wolltuchproduktion sowie -weiterverarbeitung zeigten.48 Für Katalonien dürfte es sich dabei um eine Kaufmannsgeschichte der Familienunternehmer handeln, die sich aus neuralgischen Produktionspositionen (v. a. paraires) heraus hochgearbeitet hatten und über rein katalonische Verwandtschaftsbeziehungen sowohl ihre Transaktionskosten minimierten als auch in einer Art „Handelsdiaspora“ den spanischen Binnenhandel kontrollierten.49 Für Mitteldeutschland wissen wir mit Ausnahme von

stände Sachsens, Chemnitz 1840; Wilhelm von Westernhagen, Leinwandmanufaktur und Leinwandhandel der Oberlausitz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und während der Kontinentalsperre, Leipzig 1993; Kurt Finkenwirth, Urkundliche Geschichte der Gera-Greizer Wollwarenindustrie von 1572 bis zur Neuzeit, Leipzig 1909; Siegfried Rätzer, Die Baumwollwarenmanufaktur im sächsischen Vogtlande von ihren Anfängen bis zum Zusammenbruch des Napoleonischen Kontinentalsystems, Königsberg 1914. 47 Vgl. Rainer Karlsch/Michael Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter, Leipzig 2006; Katrin Keller, Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2002, S. 308–328. 48 Besonders global und transnational arbeitende Historiker beschwören immer wieder die Notwendigkeit komparativer Zugänge, während vergleichende Arbeiten dennoch überschaubar bleiben. Vgl. Jan Rüger, OXO: Or, the challenges of transnational history, in: European History Quarterly 40 (2010), S. 656–668; Jeroen Duindam, Early Modern Europe. Beyond the Structures of Modernization and National Historiography, in: ebd., S. 606–623; Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1996; Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999. 49 Torras, The old and the new (wie Anm. 36), S. 100–104.

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Chemnitz in diesem Zusammenhang dagegen fast nichts.50 Hier gilt es vor allem, die Herkunft der frühen Unternehmer, die Wege ihrer Kapitalbeschaffung, ihre internationale Vernetzung und ihr Verhältnis zu verschiedenen Formen der Textilproduktion (Manufaktur, Verlag, „Protoindustrie“, Fabrik) zu beleuchten.51 Eine weitere entscheidende Rolle spielt die Art des Textilproduktes für die Formen der Produktion, des Handels und besonders für die wichtige Modernisierungsphase zwischen 1770 und 1830. Vor allem die zentrale Schnittstelle des Übergangs vieler Textilzweige in die Baumwollverarbeitung liegt für Mitteldeutschland weitestgehend im Dunkeln, während man für Katalonien mittlerweile zumindest weiß, dass sich die Baumwolle in einer längeren Parallelphase gegen die Wolltuchproduktion durchsetzte.52 Der Übergang in die Industrialisierung sah zu diesem Zeitpunkt in Katalonien schon Textilkapitalisten aus dem ländlichen Wolltuchbereich sowie der urbanen Kaufmannsschicht Barcelonas, die bereits genügend Kapital akkumuliert hatten, um die Produktion auf Baumwolle umzustellen und langsam zu modernisieren.53 Um den Vergleich zu den frühen Wolltuch- und Leinenunternehmern aus Mühlhausen, Gera, Greiz, der Lausitz oder dem Vogtland zu ermöglichen und den Aufstieg des Textilkapitalismus für Leinen- und Wollprodukte sowie den punktuellen Übergang in die Dominanz der Baumwolle zu beschreiben, muss daher zunächst empirische Grundlagenforschung geleistet werden. Gleiches gilt für die Entwicklung und Rolle transregionaler Prozesse für die textile Regionenbildung: Während sich in Katalonien traditionell der Handel und Technologieimport aus Südfrankreich als stark herausstellte, aber auch mit Eng-

50 Vgl. Matthias Hahn, Handwerkliches Unternehmertum und Unternehmerpotential eines entwickelten sächsischen Gewerbezentrums – Das Beispiel der Chemnitzer Zeug- und Leineweberinnung, in: Uwe Schirmer (Hg.), Sachsen 1763 bis 1832. Zwischen Rétablissement und bürgerlichen Reformen, Beucha 1996, S. 109–127; Forberger, Industrielle Revolution (wie Anm. 45). 51 Karin Zachmann, Die Kraft traditioneller Strukturen. Sächsische Textilregionen im Industrialisierungsprozess, in: Uwe John (Hg.), Landesgeschichte als Herausforderung und Programm, Stuttgart 1997, S. 509–535; Johann Peter Baum, Die wirtschaftliche Entwickelung des Obereichsfeldes in der Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung der Hausindustrie, Berlin 1903; Emanuel Sax, Die Hausindustrie in Thüringen, 2 Teile, Jena 1884–1885. 52 Vgl. Enrech, Spain (wie Anm. 36), S. 453–455; Marfany, Land, proto-industry and population (wie Anm. 1), S. 4 f.; Thomson, Distinctive Industrialization (wie Anm. 25), S. 50 f. 53 Vgl. Molas, La burguesía mercantil (wie Anm. 23), S. 67–80 u. 150–161; Enrech, Spain (wie Anm. 36), S. 454 f.; Thomson, Distinctive Industrialization (wie Anm. 25), S. 96–185.

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land und Flandern diesbezüglich Kontakte bestanden,54 wissen wir über solche Beziehungen für Mitteldeutschland (mit Ausnahme Westsachsens) wiederum fast nichts. Auch muss unbedingt quellengestützt hinterfragt werden, warum sich die katalonische Baumwollverarbeitung, obgleich Kaufleute immer wieder schubweise an der Investition und Handelsvernetzung dieses Zweigs beteiligt waren, zu einer „inward looking“-industry entwickelte,55 die im 19. Jahrhundert fast ausschließlich den iberischen Binnenabsatz bediente. Das Ziel eines solchen Ansatzes liegt dabei nicht nur in einer vergleichenden Gegenüberstellung der Kapitalisierung der Textilproduktion, sondern auch in einer Erklärung des Wandels von Produkt-, Absatz- und Handelsausrichtungen, die häufig untrennbar mit Investitionsverhalten und dem Auf- und Abstieg bestimmter Unternehmer verbunden waren. Auch dürfte der Vergleich veranschaulichen, dass es sich bei der Ausbreitung kapitalistischer Strukturen keinesfalls um eine Einbahnstraße handelte, sondern Regionen wie etwa das Eichsfeld eine Dekapitalisierung ebenso erleben konnten wie eine Deindustrialisierung. Ähnliches gilt auch für die strukturellen Umstände dieser Prozesse im ländlichen wie urbanen Raum: Während der Einfluss der katalonischen Agrarverfassung auf bestimmte Formen der Textilproduktion seit längerer Zeit erforscht wird und diese Ergebnisse vor allem einer Verknüpfung mit der Handels- und Händlergeschichte sowie der Handwerksentwicklung bedürfen,56 ist die Frage der ländlichen Schubkräfte für den mitteldeutschen Textilarbeitsmarkt ein Desiderat geblieben.57 Die Kommerzialisierung der katalonischen Landwirtschaft durch die Urbarmachung großer Gebiete für den Weinbau hatte gemeinsam mit dem katalonischen Erbrecht, dass mindestens 80 % des Landes dem ältesten Nachkommen vererbte, bedeutenden Einfluss auf die Rekrutierung der ländlichen Bevölkerung für die Textilgewerbe und den Binnenabsatz billiger Textil54 Vgl. Thomson, Distinctive Industrialization (wie Anm. 25), S. 44–47. 55 Enrech, Spain (wie Anm. 36), S. 449. 56 Vgl. Carmona/Simpson, Rabassa Morta (wie Anm. 17); Rosa Congost, The social dynamics of agricultural growth. The example of Catalan emphyteusis in the eighteenth century, in: Beaur u. a. (Hg.), Property Rights (wie Anm. 16), S. 439–454; Rosa Congost/Llorenc Alós/ Julie Marfany, The formation of new households and social change in a single heir system. The Catalan case, eighteenth century, in: Head-König (Hg.), Inheritance practices (wie Anm. 18), S. 49–73. 57 Generell findet die Beschäftigung mit Thüringen und Mitteldeutschland, die vor 1945 eine gewisse Blüte erlebte, unter solchen Gesichtspunkten fast gar nicht mehr statt. Vgl. als herausragende Studie: Gustav Aubin/Arno Kunze, Leinenerzeugung und Leinenabsatz im östlichen Mitteldeutschland zur Zeit der Zunftkäufe, Stuttgart 1940.

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produkte. Gleichzeitig führte eine besondere Form der Pacht, die sogenannte rabassa morta, dazu, dass sich Quasi-Besitzrechte der Weinkultivatoren langfristig durchsetzten und zu einer großen Stabilität der Agrarverfassung führten.58 Wichtige Forschungsfragen für den Vergleich zu Mitteldeutschland sind daher: In welchem Verhältnis standen vergleichend dazu die grundherrschaftlichen und (in der Lausitz) gutsherrschaftlichen Strukturen des mitteldeutschen Agrarraums zur beginnenden marktorientierten Textilproduktion?59 Wie lassen sich die landwirtschaftlichen Bedingungen mit den Schubkräften verbinden, die zur Etablierung eines textilen Arbeitsmarktes und zum dauerhaften Produktabsatz führten?

4. Fazit

Zwei Weichenstellungen scheinen m. E. fast allen neueren Ansätzen für die historische Kapitalismusforschung gemein: Zum einen wurde deutlich, dass es sich bei kapitalistischen Wirtschaftsprozessen in den Textilgewerben um regionale, aber auch sehr früh darüber ausgreifende Phänomene handelte. Die Verdrängung älterer Formen des Wirtschaftens vollzog sich also erst punktuell und anschließend durch Verbindungen dieser Punkte – wie bei einem Netz, dessen Maschen im Laufe der Zeit immer enger gezogen wurden. Die dabei zentrale Verschränkung lokaler, regionaler und internationaler, gleichsam „naher“ und „ferner“ Entwicklungen scheint mir eine der Wurzeln des Erfolgs der kapitalistischen Wirtschaftslogik zu sein. Sie wirft einen entscheidenden Fokus auf die Region – gewissermaßen als Mesoebene wirtschaftlicher und sozialer Austauschprozesse und als räumliche Verdichtung ökonomischer Entwicklung. Fragen der Definition des Begriffs, des Zuschnitts, der Wechselwirkung oder 58 Vgl. Torras, Especialization agricola e industria rural en Cataluña en el siglo XVIII (wie Anm. 16); Agustin Enciso, La protoindustrialization de España, in: Revista de Historia Económica 2 (1984), S. 11–44. 59 Vgl. Thomas Rudert, Gutsherrschaft und ländliche Gemeinde. Beobachtungen zum Zusammenhang von gemeindlicher Autonomie und Agrarverfassung in der Oberlausitz im 18. Jahrhundert, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell, München 1995, S. 197–218; Uwe Schirmer, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Sachsen zwischen 1720 und 1830 – Bemerkungen zu Verfassung, Wirtschaft und Alltag, in: ders. (Hg.), Sachsen 1763–1832, S. 128–172; Christof Dipper, Bauernbefreiung, landwirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung in Deutschland. Die nichtpreußischen Staaten, in: Pierenkemper (Hg.), Landwirtschaft und industrielle Entwicklung (wie Anm. 57), S. 63–75.

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der kulturellen Bedeutung von Regionen sind demnach auch Jahrzehnte nach Pollards wegweisendem Diktum aktueller denn je. Zum anderen wurde gezeigt, dass Kapitalismus ein inhärent sozialer Prozess war, der sich kaum mit vom menschlichen Handeln oder kulturellen Entwicklungen abgekoppelten Zahlenreihen und Makrozugriffen einfangen lässt. Die kaum befriedigende Reichweite solcher Ansätze, aber auch die begrenzte Aussagekraft mikrohistorischer Studien bekräftigen wiederum den regionalen Ansatz – in der Region bündeln sich beide Stränge zu einem komplexen Ganzen. In der Verbindung wirtschaftlicher Großwetterlagen mit betrieblichen Entwicklungen oder der Ebene der Haushalte über einen regionalen Fokus ist man in der Lage, historische Akteure mit ihren spezifischen Handlungsweisen und -grenzen genauso zu integrieren wie internationale Zusammenhänge. Die Analyse wirtschaftlicher Sozialbeziehungen, z. B. in Netzwerken, aber auch in Form der Institutionenökonomik, kann daher wesentlich zur Klärung des „sozialen Kerns“ des Kapitalismus beitragen und die Entmystifizierung dieses Systems als objektive Gegebenheit einleiten.

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Von einer reußischen Stückfärberei zum Global Player Kommerzienrat Dr. h. c. Georg Hirsch als Fallbeispiel der Industrialisierung in Ostthüringen

„Die wirtschaftlichen Leistungen des thüringischen Bürgertums sollten nicht unterschätzt werden“, betont Hans-Werner Hahn in seinem Resümee zu den Forschungsdesideraten zum thüringischen Bürgertum und zielt damit auf die Gruppe von Innovativen und Unternehmern, die sich gerade im ausgehenden 19. Jahrhundert eine besondere Rolle erwirkt haben und deren Bedeutung bislang noch nicht umfassend untersucht wurde.1 Denn „nach Sachsen, dem Rheinland und Westfalen bildete Thüringen unter den deutschen Landschaften das vierte Ballungsgebiet der aufstrebenden […] Industrie. Doch wuchs die thüringische Industrie wegen der nur mangelhaft ausgebildeten Schwerindustrie nicht zu solcher Wirtschaftskraft heran“,2 denn „die Industrialisierung trug vielgestaltige, innovative Züge. […] Jena entwickelte sich zu einem Musterbeispiel des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.“3 Namen wie Carl Zeiss, Ernst Abbe und Otto Schott klingen hier an. Der Kalibergbau in Nordthüringen und im Werratal, die Waffenproduktion in Sömmerda, der Fahrzeugbau in Eisenach oder aber der Braunkohletagebau im Altenburger Land stehen hierfür stellvertretend. Zu einer bedeutenden Wirtschaftsregion stieg der Ostthüringer Raum auf. Porzellanherstellung, Maschinenbau und Textilindustrie waren hier die beschleunigenden Faktoren des re1 Hans-Werner Hahn, Bürgertum in Thüringen im 19. Jahrhundert: Forschungsdesiderate und Forschungskonzepte, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Rudolstadt 2001, S. 7–25, hier S. 16. 2 Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866–1914, Weimar 1991, S. 95. Vgl. auch Falk Burkhardt, Grundzüge ostthüringischer Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, S. 193–213, hier S. 195. 3 Steffen Rassloff, Geschichte Thüringens, München 2010, S. 74.

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gionalen Industrialisierungsprozesses. So sind in den Städten Altenburg, Gera, Greiz, Neustadt an der Orla, Pößneck und Zeulenroda vielfältig spezialisierte textilgewerbliche Aktivitäten zu verzeichnen.4 Mit der großen Anzahl an Woll-, Baumwoll- und Leinenspinnereien als auch Webereien und Färbereien lassen sich großgewerbliche Tendenzen ausmachen, die den sächsisch-thüringischen Wirtschaftsraum in diesem Bereich definieren. Von hier aus gehen Impulse, die neben den klassischen Produktionsstandorten und den damit verbundenen Vorteilen und Chancen für die Regionen auch den Aufstieg bürgerlicher Kreise erleichtern, denn die Industrialisierung prägte die Entwicklung der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Besitz- und Erwerbsklassen auf vielfältige Weise. Am offensichtlichsten tritt dieser Zusammenhang bei den aktiven Trägern des industriellen Wandels, den Fabrikunternehmern, zutage. Damit sind vornehmlich diejenigen Unternehmer gemeint, die zentralisierte Produktionsstätten betrieben, in denen eine größere Anzahl von Lohnarbeitern Waren mit Hilfe kraftgetriebener Maschinen herstellte. Diese im 19. Jahrhundert ständig wachsende Zahl von Industriellen bildete den Kern des modernen Wirtschaftsbürgertums.5 Solche Industrielle finden sich zahlreich im ostthüringischen Wirtschaftsraum und ihre Namen stehen für den Aufschwung einer ganzen Region: Weißflog, Morand, Jahr, Ferber in Gera, Arnold, Schleber und Weber in Greiz und viele mehr. Ein weiterer dieser herausragenden Protagonisten ist der Geraer Johann Karl Georg Hirsch (1863–1939). Ernst Paul Kretschmer bezeichnete ihn als einen der „rührigsten Großindustriellen Ostthüringens“, denn als Georg Hirsch am 4. März 1939 in Gera die Augen schloss, hinterließ er ein Lebenswerk, das zur damaligen Zeit in diesem Wirtschaftsraum seinesgleichen suchte.6 Als Sohn eines Geraer Industriellen wurden ihm zwar die Grundlagen für den späteren Erfolg mit auf den Weg gegeben, dennoch vermochte er auf Grund seines geschäftlichen Geschickes 4 Vgl. Burkhardt, Grundzüge (wie Anm. 2), S. 196. 5 Vgl. Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 82. 6 Ernst Paul Kretschmer, Aus den vergangenen Tagen des kanzleischriftsässigen Rittergutes Kospoda und seiner nächsten Umgebung, Gera 1934, S. 431. Ernst Paul Kretschmer (1887–1957) legte 1919 seine zweite Lehrerprüfung ab, erhielt 1915 das Rektorenexamen und unterrichtete fortan in Gera. Von 1915 bis 1937 nebenamtlich, ab 1938 in Teilzeit war er von 1949 bis 1952 hauptamtlicher Stadtarchivar von Gera. Während seines umfangreichen Schaffens entstanden mehrere Monographien zur Geraer Ortsgeschichte, zur reußischen Landesgeschichte und zu Themen des lokalen Umfeldes der Kirchen-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, Ethnographie, Genealogie und Flurnamenforschung.

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und seines Führungsstils ein Firmenimperium zu schaffen, das ihm und seiner Familie zu wirtschaftlichem und ideellem Wohlstand verhalf. Mit ihm findet sich genau ein solcher Akteur, der zum Kreis der „aufholenden Wirtschaftsbürger [gehört, d. V.], deren Oberschicht […] am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts […] in den kommerziell und gewerblich entwickelten Regionen […] an die Spitze der gesellschaftlichen Pyramide vorstieß“.7 So ist er ein treffendes Beispiel für Bürgertums-, Sozialgeschichts-, Wirtschaftsgeschichts-, Kolonialgeschichts- und Regionalgeschichtsforschung im ostthüringischen Raum. Mit Georg Hirsch soll im Folgenden ein Vertreter des thüringischen Wirtschaftsbürgertums vorgestellt werden, der trotz der Veränderungen, die sich aus den Umbrüchen seiner Lebenszeit (1863–1939) ergeben sollten, an seinen ökonomischen und gesellschaftlichen Zielen festhielt.

Eingebettet in die familiären Verflechtungen des ostthüringischen Wirtschaftsbürgertums

Der Vater Georg Hirschs, Carl Louis Hirsch (1814–1880), legte 1837 den Grundstein des späteren Hirsch’schen Firmenimperiums. Er heiratete Louise Wilhelmine Arnold (1837–1907), die Tochter des Weberfabrikanten Ferdinand Arnold. Sie entstammte der gleichnamigen Greizer Weberdynastie, die mit Christian Friedrich Arnold (1818–1879) den wirtschaftlich bedeutendsten Spross, mit Ernst Arnold (1841–1893) den sozial-gesellschaftlich bedeutendsten Spross und mit Paul Arnold (1856–1928) unter anderem als Handelkammerpräsident Reuß ä. L. und Mitglied des Landtages Reuß ä. L. den politisch bedeutendsten Spross hervorbrachte. Über die Arnold-Linie bestanden zudem verwandtschaftliche Beziehungen zu den großen Greizer Fabrikantenfamilien Heyer und Schilbach.8 Louis und Louise Hirsch hatten vier Kinder, von denen drei für uns von Bedeutung sind: Clara Alwine Louise, Marie Ottilie und Johann Karl Georg. Clara Alwine Louise (1860–1929) heiratete Max Ramminger, einen Geraer Wollwarenfabrikanten und Mitinhaber der Weberei Bach & Ramminger, und ihre Schwester, Marie Ottilie (1859–?), den Fabrikanten und Kommerzienrat 7 Jürgen Kocka, Bürger als Mäzene. Ein historisches Forschungsproblem, in: Thomas Gaehtgens/Martin Schieder, Mäzenatisches Handeln. Studien zur Kultur des Bürgersinns in der Gesellschaft, Berlin 1998, S. 35. 8 Vgl. zur Greizer Wirtschaftsentwicklung und deren Fabrikanten: Burkhardt, Grundzüge (wie Anm. 2), S. 195 (im Besonderen das Kapitel „Greiz“) sowie Friedrich Beck, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Stadt Greiz während des 19. Jahrhunderts, Weimar 1955.

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Eugen Ruckdeschel (1849–1919). Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Aufsichtsrates der Gera-Greizer Kammgarnspinnerei sowie Enkel des Gründers der Firma Ernst Friedrich Weißflog, deren Mitinhaber er 1884 wurde. Der einzige Sohn und spätere Erbe, Johann Karl Georg, heiratete 1885 Anna Elisabeth Schlick (1865–1952). Sie war die Tochter des fürstlich reußisch Geheimen Kabinettsrates Luis Theodor Schlick (1820–1901) und über die mütterliche Linie die Enkelin des reußischen Regierungsadvokaten Ferdinand Reichhard (1793–1862). Georg und Elisabeth Hirsch hatten drei Kinder, wovon eines im Kindbett starb. Der Sohn Hans Georg Louis (1890–1975) blieb Zeit seines Lebens ledig und kinderlos. Er trat nur bedingt in die Fußstapfen des Vaters und hielt sich viele Jahre in den ausländischen Besitzungen seiner Eltern auf. Seine Schwester Anna Louise Margarete (1887–1980) heiratete 1908 Walther Robert Bauer (1877–?). Er sollte als rechte Hand des Schwiegervaters die Geschicke der Firmen führen, war in zahlreichen Unternehmungen Georg Hirschs federführend tätig und in vielen Firmen als Geschäftsführer eingesetzt. Er entstammte der Geraer Kaufmanns- und Fabrikantenfamilie Bauer. Über seine Mutter war Walther Robert Bauer mit der berühmten Geraer Kaufmannsfamilie Ferber verwandt. Moritz Rudolph Ferber (1805–1875) war Inhaber der Firma Morand & Ferber oder Morand & Co., die 1833 die erste Dampfmaschine in Gera einsetzte. Der berühmte Kommerzienrat Alfred Ferber (1857–1940) war Bauers Onkel. Zudem kamen dadurch verwandtschaftliche Verhältnisse zu den Geraer Industriellenfamilien Gladitzsch und Semmel zustande. Grafik 1 zeigt die enge Verflechtung der bedeutendsten Familien im Textilsektor für den Gera-Greizer Wirtschaftsraum. Das soziale und wirtschaftliche Zusammenspiel des Bürgertums in einem „homogenen Milieu“ resultierte aus einer „überschaubaren Anzahl möglicher Begegnungen im berufsständisch geprägten Bekanntenkreis“.9 Durch dieses gleiche „Herkunfts- und Sozialmilieu [sollen, d. V.] die materiellen Ressourcen stabilisiert“ werden und somit den wirtschaftlichen Aufstieg aller forcieren. Man kann hier als bürgerliches Paradebeispiel von einem „planvollen Querheiraten“ reden, das „zur Maximierung geschäftlicher und gesellschaftlicher Möglichkeiten sowie zur Minimierung

9 Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 5.

Grafik 1

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möglicher Risiken dient“.10 Das dabei geschaffene Netzwerk sicherte Vertrauen und half, über viele Kanäle notwendige Informationen zu beschaffen und benötigte Geschäftsbeziehungen zu intensivieren oder aufzubauen. Somit wird erkennbar, dass die Familie Hirsch über die gezielt gesteuerte Familienpolitik mit den größten und bedeutendsten Familien der Textilwirtschaft verwandt war und diese Situation zu nutzen wusste, war doch damit ein wesentlicher Grundstein für das wirtschaftliche Miteinander gelegt worden. Als zentrale Beispiele für die familiär/wirtschaftlichen Beziehungen können hier gegenseitige Geschäftsbeziehungen, komplexe Interessenverflechtungen und gemeinsame Unternehmen und Unternehmungen genannt werden (Grafik 2). Für die Geschäftsbeziehungen kann hier exemplarisch der Warenaustausch zwischen den Firmen erwähnt werden. Das heißt für die Textilwirtschaft, dass das Rohmaterial, die Wolle, zunächst über die Kaufleute (wie Ferber, Semmel oder Bauer) beschafft wurde, es dann beispielsweise bei Weißflog gesponnen, bei Arnold zu Tuchen verwebt und schließlich bei Hirsch gefärbt und veredelt wurde. Das alles geschah innerhalb des Familiennetzwerkes, ohne die engen Verbindungen verlassen und ohne ein direktes wirtschaftliches Risiko durch Konkurrenten in Kauf nehmen zu müssen. Darüber hinaus bestanden zahlreiche Interessenverflechtungen, über deren gemeinsame Ziele man sich beispielsweise im Bund der Industriellen verständigte. Diese industrielle Interessenvertretung kannte zahlreiche regionale Verbände wie den Verband Sächsischer Industrieller, der 1902 gegründet wurde, oder den Verband Thüringischer Industrieller.11 Auch hier waren die genannten Familienzweige prominent vertreten. Um ein „Ringen des Einzelnen gegen Konkurrenten und Marktgegner zu verhindern“, schuf man zudem auf regionaler Ebene beispielsweise 1894 ein Kartell unter dem Namen „Vereinigte Färbereien und Appreturanstalten“, das 1903 in „Konvention der Sächs.-Thür. Färbereien“ umbenannt und 1924 durch einen Gesellschaftervertrag in die Sächsisch-Thüringische Färbereien GmbH überführt wurde. 12 Initiatoren und 10 Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 28 f. 11 Vgl. Hans-Peter Ullmann, Der Bund der Industriellen. Organisation, Einfluß und Politik klein- und mittelbetrieblicher Industrieller im Deutschen Kaiserreich 1895–1914, Göttingen 1976. 12 Gustav Eisengarten, Die Konvention Sächsisch-Thüringische Färbereien, Greiz. Eine kartellpolitische Untersuchung, Zeulenroda 1939, S. 36.

Grafik 2

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maßgebliche Gestalter dieser Färbereikonvention waren die bereits benannten Personen.13 Zugleich nutzte man die Geschäftsbeziehungen über den engeren betrieblichen Rahmen hinaus und engagierte sich beispielsweise im Geraer Fabrikantenverein. Aber auch gemeinsame Unternehmungen entstanden aus den Familienbanden. Exemplarisch genannt seien hier die Kohlegrube „Fürst Bismarck“ zwischen den Familien Hirsch und Ruckdeschel,14 die Botany Worsted Mills in New Jersey15 zwischen den Familien Arnold und Hirsch sowie die Gera-Greizer Kammgarnspinnerei16 zwischen den Familien Hirsch, Ruckdeschel und Schilbach. Auf die beiden Letzteren wird im Folgenden kurz eingegangen. Nachdem die familienspezifischen Grundlagen und daraus resultierende familiäre Verflechtungen offengelegt wurden, soll nun das das Wirken Georg Hirschs als herausragender Akteur der Industrialisierung Ostthüringens und Global Player näher untersucht werden.

Als reußischer Industrieller in die Welt

Am 29. Januar 1863 wurde Johann Karl Georg Hirsch in Gera geboren. Über seine frühe Kindheit in einem wohlbehüteten, bürgerlichen Elternhaus ist nichts bekannt. Seine Schulbildung begann er in Gera und setzte diese im 13 Die Louis Hirsch GmbH legte 1924 bei insgesamt 31 Gesellschaftern die zweithöchste Einzeleinlage in die GmbH ein. Zudem sind die Geschäftsführer der Louis Hirsch GmbH regelmäßig Mitglieder des Aufsichtsrates. Siehe hier beispielsweise: Stadtarchiv Gera (im Folgenden: StadtA Gera), Sig III A 41 – 1132, Provenienz Louis Hirsch GmbH, Gesellschaftsvertrag der Geschäftsstelle der Sächsisch-Thüringischen Färbereien GmbH (1909–1940). Weitere beteiligte Firmen und Familienzweigen nennen bspw. StadtA Gera, Sig. III A 41 – 627 Provenienz Louis Hirsch GmbH, Mitteilung der Konvention Sächsisch-Thüringische Färbereien über Lohnerhöhungen 1911; StadtA Gera, Sig. III A 41, Provenienz Louis Hirsch GmbH, Betriebsleitung: Schriftverkehr Dr. E. Weniger Rechtsanwalt und Konvention sächsisch-thüringische Färbereien (1906–1933). 14 Der große Kohlebedarf der Hirsch’schen Färberei veranlasste Georg Hirsch gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Schwager, das Kohlewerk „Grube Fürst Bismarck“ im Meuselwitzer Revier zu gründen. Vgl. Ernst-Paul Kretschmer, Kommerzienrat Dr. h. c. Georg Hirsch, in: Franz Simcik/Richard Köppler (Hg.), Zweites Jahrbuch des Geraer Museums- und Geschichtsvereins, Gera 1940, S. 8–11. 15 Vgl. Hans Embersmann, Gera, Geschichte der Stadt in Wort und Bild, Berlin 1987, S. 107. 16 Ernst Paul Kretschmer, 50 Jahre Gera-Greizer Kammgarnspinnerei mit kulturgeschichtlichen Beiträgen zur Entwicklung der Geraer Textilindustrie, Gera 1940.

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Alter von zehn Jahren bis 1879 an der von Friedrich Fröbel gegründeten Privatschule in Keilhau fort. Seine kaufmännische Ausbildung absolvierte er in der Firma seines Onkels, der Mechanischen Kammgarnweberei Heinrich Arnold & Söhne in Greiz. Anschließend nahm er das Studium der Chemie in dem 1848 von Carl Remigius Fresenius gegründeten „Chemischen Laboratorium Fresenius“ in Wiesbaden auf, das eines der modernsten chemischen Labore seiner Zeit war. Bei Fresenius, der in Gießen bei Justus Liebig promoviert hatte, stand die Entwicklung der modernen Analytik im Vordergrund. Auch Hirsch hat diese Grundlagen Zeit seines Lebens angewandt und die Ideen seiner hervorragenden Ausbildung spätestens bei der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Lehre an der Universität Jena eingebracht und dort gefördert. Als die Universität Jena 1923 Georg Hirschs Verdienste mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde honoriert, schrieb Gottlob Eduard Linck (1858–1947), Professor für Mineralogie und Kristallographie, in seinem Antragsschreiben: „Er gilt als eine bedeutende und bekannte Persönlichkeit den unantastbarem Charakter nach in geschäftlicher Beziehung und genießt überall, auch weit über Thüringen hinaus das beste Ansehen. Wir verdanken ihm durch die Gesellschaft der Freunde schon wenigstens 3 Millionen Mark und er hat gerade sein Interesse für die Naturwissenschaften besonders bekundet, durch die Stiftung vom Excursionsfonds für Geographie, Geologie und Chemie. Auch dem Studentenkreise hat er schon erheblich unter die Arme gegriffen. An dessen Verdienste in mehreren Punkten gerade die Naturwissenschaften berühren, so werde ich den Vorschlag bei der Fakultät nur machen, wenn die Naturwissenschaftler mit mir übereinstimmen.“17 Professor A. Kenlein befürwortete den Vorschlag mit folgenden Worten: „Nach den vorstehenden Ausführungen bin ich durchaus für den Antrag von Col. Linck. In der deutschen angewandten Chemie nimmt Hirsch eine führende Stellung ein. Seiner Anstrengung verdankt man die Einführung Juweldial-Blaus in die Färberei und damit die Beschaffung der ‚feldgrauen‘ Farbe. Ich freue mich des Antrags von Collegen Linck und anberufe ihn aufs Wärmste.“18 Die Universität beabsichtigte schon seit 1922 Georg Hirsch zudem die Ehrenbürgerwürde der Universität zu verleihen, was schließlich 1931 realisiert werden konnte. „Unter dem Rektorate Seiner Magnificens des ordentlichen Professors der Augenheilkunde Dr. Walther Löhlein hat der große Senat auf Grund des ihm von der Landesregierung verliehenen Rechtes 17 Universitätsarchiv Jena, M 660, Akten der philosophischen Fakultät betreffend. Ehren- und Erneuerungsdiplome, sowie sonstige Ehrenbezeugungen. 1. Januar 1922–1924, fol. 46r. 18 Ebd.

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Herrn Fabrikbesitzer Kommerzienrat Dr. phil. h. c. Georg Hirsch in Gera, den bedeutenden und verdienstvollen thüringischen Industriellen, den tatkräftigen Förderer der Wissenschaften und Wohltäter der Universität, den Mitbegründer und das allzeit eifrige Mitglied der Gesellschaft ihrer Freunde, in dankbarer Anerkennung seiner oft bewährten Fürsorge für die Universität, ihre Anstalten und für die Studierenden zum Ehrenbürger der Thüringischen Landesuniversität am Tage der Feier ihres Jahresfestes ernannt und ihm diese Urkunde über die Ernennung sowie die damit verbundene Medaille überreicht.“19 Hirsch war sich seiner akademischen Prägung bewusst und wusste sie zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses entsprechend einzusetzen. Die eigenen praktischen Färbereikenntnisse erwarb er sich nach seinem Studium in einer Firma in Spindlersfelde bei Berlin und in dem Unternehmen seines bereits verstorbenen Vaters. Dieser hatte 1837 am Geraer Mühlgraben, dem alten Gerber- und Färberviertel, eine Stückfärberei gegründet und mit dem waschechten „Hirsch-Schwarz“ eine neue Färbermethode entwickelt. Ab 1863/64 ergänzte der Vater den Betrieb um eine Appreturanstalt und verließ den alten Firmenstandort. Der neue Standort an der Reichsstraße wurde stetig weiterentwickelt und umfasste in den 1870er Jahren fünf Hektar. Allein das 1878 fertiggestellte Appreturgebäude maß 5.100 m².20 1880 starb der Vater Louis Hirsch. Nach einer knapp siebenjährigen Interimszeit übernahm der 24-jährige Georg Hirsch im Jahr 1887 den Färberei- und Appreturbetrieb in Gera. Die Firma zählte mit der Übernahme 181 mechanisch bewegte Farbfässer, 410 Appreturmaschinen, drei Dampfkesselanlagen mit 23 Kesseln und 1.800 PS. Der jährliche Kohlebedarf von 25.000 t wurde auf einem eigenen Eisenbahngleis befördert. Die Maschinen wurden über zehn Dampfmaschinen und einen Gasmotor bewegt. Der jährliche Verbrauch an Farbstoffen und Chemikalien belief sich auf 1.350 t bei zirka 950–1.000 Beschäftigten, die täglich bis zu 2.000 Stück Zeugs21 färbten und appretierten.22 Die Fabrikanlagen wurden im Laufe der Jahre sukzessive erweitert. Recht modern gestalteten sich auch die Arbeitsbedingungen, so erließ Hirsch 1892 eine 19 Universitätsarchiv Jena, BA 1858, Acta academica betreffend: Die Einführung einer Ehrenmitgliedschaft der Universität 1920–1932. Fol. 231. 20 Vgl. Stadtmuseum Gera, ohne Signatur, Jubiläumsschrift: „Der hochgeehrten Firma Louis Hirsch in Gera zum Jubiläum ihres 50jährigen Bestehens in Dankbarkeit und Verehrung gewidmet am 3. September 1887“. 21 Tuche zu je 100 m Länge. 22 Louis C. Beck, Deutschlands Großindustrie und Großhandel, Abtheilung Thüringen, Berlin 1888, S. 56 f.

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Arbeitsordnung mit Arbeitszeit- und Pausenregelungen und eine Bezahlung an Feiertagen und im Krankheitsfall. Er richtete eine Beschwerdestelle ein, ließ einen Arbeiter-Ausschuss gewähren, gründete die Hirsch’sche Kranken-Unterstützungskasse, schaffte eine Betriebswährung mit Ersatzgeld, stiftete 200.000 Mark für den firmeneigenen Beamtenpensionsfonds und richtet selbst eine eigene Fabrikfeuerwehr ein.23 Die Firma Louis Hirsch GmbH sollte Zeit seines Lebens das Fundament von Georg Hirschs wirtschaftlichem Erfolg sein. Der Ausbau der wirtschaftlichen Interessen Georg Hirschs erfolgte in kontinuierlichem Maße. Hierbei standen die Sicherung der Stammfirma und der hierfür benötigte Maschinen- und Rohstoffbedarf im Fokus, zudem wurden Zulieferbetriebe übernommen. Aber auch kapitalbildenden Unternehmungen verschloss sich Georg Hirsch nicht und verstand es, sein Firmenimperium bis ins hohe Alter zu formen, zu vergrößern und zu festigen. Dieses soll im Folgenden kurz umrissen, in chronologischer Reihenfolge aufgeführt und mit wenigen Hintergrundinformationen versehen werden. Bereits wenige Jahre nach der Übernahme der Louis Hirsch GmbH durch Georg Hirsch gründete die Färberei gemeinsam mit der Leipziger Kammgarnspinnerei Stöhr & Co. und der Greizer Weberei Friedrich Arnold 1890 in Passaic (New Jersey, USA) die Botany Worsted Mills, denn Anfang der 1890er Jahre waren durch Bestrebungen der Vereinigten Staaten von Amerika mit der Mac-Kinley-Bill Prohibitivzölle eingeführt worden. Somit geriet der bis dahin größte Absatzmarkt für die ostthüringischen Textilfabrikate in Gefahr. Mit der Mac-Kinley-Bill wurden die Zollsätze für ausländische Importe erhöht. Um dies zu umgehen und sich auf dem amerikanischen Wirtschaftsmarkt zu festigen, war mit der Gründung der Botany Worsted Mills der Grundstein für eines der größten Textilunternehmen der Vereinigten Staaten von Amerika gelegt worden24. 1890 wurde der Elly-Schacht im nordwestböhmischen Braunkohlerevier erschlossen. Jährlich wurden hier zirka 400.000 t Kohle im Tief- und Tagebau gefördert.25 1912 wurde zu diesen Anlagen, die aus Maschinenpark, Verwaltungs-, Förder- und Arbeiterwohnungen bestanden, noch der Georg-Schacht in Dux 23 Kretschmer, Rittergut Kospoda (wie Anm. 7), S. 434. 24 Vgl. Kretschmer, Georg Hirsch (wie Anm. 14), S. 9. 25 Montanistischer Klub für die Bergreviere Teplitz, Brüx und Komotau (Hg.), Führer durch das nordwestböhmische Braunkohlenrevier, Brüx 1907.

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hinzugekauft.26 Im selben Jahr erwarb Georg Hirsch die Majorität der Kohle-Industrie-Verein Aktiengesellschaft Wien mit zahlreichen weiteren Gruben; unter anderem in Kroatien und Ungarn. Diese Gruben wurden 1939 in die „Vereinigten Hirsch’sche Kohlenwerke“ zusammengeschlossen.27 1894 kauft Georg Hirsch gemeinsam mit seiner Mutter Louise das Rittergut Kospoda bei Neustadt an der Orla. Man baute das stattliche Gutshaus für Eigenzwecke um und verpachtete zunächst vom 155 ha großen Eigentum 125 ha. Als 1921 die Besitzungen in Deutsch-Ostafrika verloren gingen, wurden das Gut in Kospoda in Eigenbetrieb genommen und fortan mit Gärtnerei, Forstbetrieb und Landwirtschaft gute Erträge erwirtschaftet.28 1895 gründete Hirsch die Wesselmann-Bohrer-Compagnie Aktiengesellschaft Gera, die Spiralbohrer, Präzisionswerkzeuge, Drehbankfutter und Bohrmaschinen erzeugte. Sie ging aus der Fusion mit der früheren Werkzeugfirma Pitschel & Steudner in Gera-Debschwitz hervor. Georg Hirsch wandelte die Firma später in eine Aktiengesellschaft mit eigenem Stammkapital von 1.800.000 RM um und behielt eine einhundertprozentige Beteiligung, die er später an seine eigenen Firmen ausgab.291902 gründet er die Gera-Leumnitzer Kalkwerke Georg Hirsch. In Spitzenzeiten hatte die Firma, die später auch Kohle abbaute und über einen Brennerei- und Mühlenbetrieb verfügte, über 100 Mann Belegschaft.30 Um die bis dahin gegründeten und noch zu gründenden Unternehmen zu verwalten, schuf Hirsch 1907 die Centralgeschäftsstelle Georg Hirsch. Sie war die oberste Verwaltungsstelle und das oberste Leitungsgremium des Firmenimperiums. Jegliche Korrespondenz ging über die Tische dieser Geschäftsstelle, Bilanzen wurden hier für den zentralen Konzern erstellt und Perspektiven entwickelt.

26 Vgl. Familienarchiv Bauer [im Folgenden: FA Bauer]: VHKW [Vereinigte Hirsch’sche Kohlewerke], ohne Paginierung. (Beim Familienarchiv Bauer handelt es sich um private Aktenbestände der Nachfahren von Georg Hirsch. Diese sind bisher archivalisch nicht bearbeitet worden. Die Konvolute sind allesamt unnummeriert. Die Aktentitel geben nur einen groben Verweis auf den tatsächlichen Inhalt. Der Autor dankt der Familie Bauer ausdrücklich für die Zurverfügungstellung.) 27 Vgl. FA Bauer: Enteignungen der Ostzone I, ohne pag. 28 Vgl. Kretschmer, Rittergut Kospoda (wie Anm. 7), S. 431 ff. 29 K. Meister, Die Industrie im Bezirke der vormaligen Handelskammer Gera, in: Wilhelm Luthardt, Gera, Berlin 1926, S. 93–98. 30 Vgl. FA Bauer: Enteignungen der Ostzone I, ohne pag.

Von der reußischen Stückfäberei zum Global Player 

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Finanziert wurde die Geschäftsstelle über Verwaltungskostenzuschüsse von den hauptsächlichen Konzernfirmen.31 Mit dem Eintritt des Deutschen Kaiserreiches in die Kolonialpolitik taten sich auch für Hirsch neue Expansionsfelder auf. 1907 ließ er in Morogoro (Deutsch-Ostafrika) eine Baumwoll- und Kautschukplantage anlegen, die eine vollfunktionsfähige Infrastruktur mit Straßen- und Eisenbahnnetz, einen Beamtenstab und entsprechende Gebäudestrukturen aufwies. Infolge des Ersten Weltkrieges gingen diese Werte verloren. Ebenfalls 1907 wurden auch die amerikanischen Interessen verstärkt und Georg Hirsch erwarb Kohlefelder in Girard (Illinois, USA) und fasste diese in der Elly Coal Co. AG zusammen.32 Kurze Zeit darauf expandierte die Unternehmensgruppe in den asiatischen Raum. An der Ostküste Sumatras in Niederländisch-Indien eröffnete er ab 1909 Plantagenbetriebe für Kautschuk, Tee und Ölpalmen. Auch hier wurde eine komplette Infrastruktur mit eigener Eisenbahn (87 km) und Straßennetz (137 km) errichtet. Zudem wurden eigene Fabrikanlagen für die Verarbeitung der Rohstoffe, ein Wohnhaus des Hauptadministrators mit Gästehaus und Park, mehrere Kulidörfer mit jeweils einem Versammlungshaus und drei Erholungsheimen geschaffen.33 Auch wurde mit zwei weiteren Plantagen ein „Centraal-Hospital“ betrieben.34 Am 31. Juli 1939 wurde die Belegschaft mit 21 Europäern und 3.064 inländischen Arbeitern gezählt. 1910 erwarb Georg Hirsch die brachliegende Werkzeugfabrik Ernst Ullmann & CO. in Gera, 1912 den Schacht Ivanec als Kroatische Bergbau AG und ebenso einen ungarischen Schacht mit Firmensitz in Budapest. Im Zuge gesteigerter Aktivitäten auf Sumatra erstand er 1913 eine Bergbaukonzession für Erz- und Edelmetallvorkommen in Loeboek Soelassi an der Westküste der Insel. Für den Absatz seiner asiatischen Kautschukprodukte kaufte er 1918 die renommierte Metzeler-Gummiwerke A.G. in München. Sie stellte fortan Gummiwaren und Fahrzeugbereifungen aus Rohgummi seiner eigenen Plantagen 31 Vgl. FA Bauer: Buch- und Betriebsprüfung 1933, ohne pag. 32 Vgl. FA Bauer: Enteignungen der Ostzone I, ohne pag. 33 Die Anlage bestand unter anderem aus einer Ziegelei und einer Sodafabrik für den eigenen Bedarf, Werkstätten für die Instandhaltung des Maschinenparks und der Eisenbahn, Tankanlagen für Palmöl, Lagerhäusern, zwei Wasserkraftwerken, einem chemischen Labor und Verwaltungsgebäuden. 34 Vgl. Metzeler & Co. AG (Hg.), Gummi-Gewinnung und Verwertung. Plantage MarihatSumatra, München 1930.

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her. Um den Transport dieser Waren aus Niederländisch-Indien nach Europa zu gewährleisten, gründet er 1921 die Naamloze Vennootschap Algoma, Maatschappij voor Handel en Industrie in Amsterdam. Sie war eine Holding-Gesellschaft und ein Makler-Unternehmen für die Ölpalmen-Produkte der Marihat Sumatra Plantagen Co. GmbH in Gera.35 1902 wurden durch Hirsch die Gera-Leumnitzer Kalkwerke mit einem privaten Anschlussgleis an die Gera-Meuselwitz-Wuitzer Eisenbahn angeschlossen. Jedoch geriet die Privatbahn recht schnell in finanzielle Schieflage und musste 1920 den Personenverkehr einstellen. Um die für die Wirtschaftlichkeit der Gera-Leumnitzer Kalkwerke wichtige Bahntrasse zu erhalten, kaufte Hirsch 1921 für 2 Millionen Mark fünfzig Prozent dieser Eisenbahn AG und führte die Bahn weiter.36 Unterschiedliche Produktionen verlegte die Geraer Verlagsanstalt und Druckerei Karl Basch & Co. in Gera, die Hirsch erwarb. Sie war Herausgeber der Geraer Zeitung und wird für die 1930er Jahre als Militärzurüster erwähnt. Georg Hirsch besaß zahlreiche Aktienbeteiligungen. So war er bei seinem Tod mit 3,6 Millionen Reichsmark an der Gera-Greizer-Kammgarnspinnerei AG beteiligt. Sie war eine der größten thüringischen Spinnereien und wurde 1890 mit dem Ziel gegründet, Aktionäre mit Waren zu beliefern. Aus den zahlreichen Geraer und Greizer Aktionären zählten neben Georg Hirsch auch seine Mutter, sein Schwiegervater, sein Onkel und sein Schwager zu den Gründungsmitgliedern.37 Zudem bestand innerhalb des Firmenimperiums ein enger Zusammenhalt aller Firmen. Keines der genannten Unternehmen wurde bis zum Lebensende Georg Hirschs abgewickelt. Die Gründe hierfür waren unter anderem die untereinander bestehenden Aktienbeteiligungen und gegenseitige Kreditaufnahmen, um den Fortbestand des Firmenimperiums zu sichern. Darüber hinaus waren die Firmen gegenseitig aufeinander angewiesen. So organisierte beispielsweise die Naamlooze Vennootschap Algoma den Transport der Rohstoffe von Sumatra nach München, die von der Metzeler-Gummiwerke A.G. weiterverarbeitet wurden. Ein weiteres Beispiel für den konzerninternen Warenaustausch war der Kohlebedarf der Geraer Firmen, der mit Kohle aus den nordwestböhmischen Besitzungen gedeckt wurde. 35 Vgl. FA Bauer: Marihat, ohne pag. 36 Vgl. Dietmar Franz/Rainer Heinrich/Reinhard Taege, Die Schmalspurbahn Gera-Pforten – Wuitz-Mumsdorf, Berlin 1987. 37 Vgl. Kretschmer, Kammgarnspinnerei (wie Anm. 16).

Von der reußischen Stückfäberei zum Global Player 

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Es war so ein Firmenimperium entstanden, welches weltweit agierte und auf vier Kontinenten präsent war. Georg Hirsch kann deshalb als ein Global Player bezeichnet werden.38 Sein Lebenswerk spiegelt exemplarisch das Werk eines Wirtschaftsbürgers im 19./20. Jahrhundert wider, welcher gerade im Ostthüringer Raum seinesgleichen, sucht. Der Begriff Wirtschaftsbürger definiert aber nicht allein ökonomische Interessen, sondern auch das Streben nach politischer, gesellschaftlicher und kultureller Akzeptanz. Dieses Ziel verfolgte Georg Hirsch Zeit seines Lebens, was abschließend verdeutlicht werden soll.

Bürgerliche Inszenierung durch Repräsentation, mäzenatisches Handeln und soziales Engagement

Zuvorderst vermutet man eine politische Betätigung Georg Hirschs, die die stringente Fortentwicklung der Unternehmen und des privaten Wohlstandes beflügelte. Man meint, dass in den zahlreichen Umbruchs- und Krisenzeiten eine kontinuierliche Präsenz ausschließlich durch politische Einflussnahmen zu erreichen sei. Aber hierzu schweigen bisher die Quellen. Es ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, inwieweit Georg Hirsch hier Einflüsse geltend machen konnte. Anders sieht es jedoch bei der gesellschaftlichen und der kulturellen Akzeptanz sowie seinem Repräsentationsbedürfnis aus. 38 Global Player meint einen Unternehmer, der am internationalen Wettbewerb in globalen Branchen vertreten ist und durch Technik, Qualität und Innovation weltweit eine Vormachtstellung zu behaupten sucht. Aus dieser Position heraus versucht der Global Player, die Märkte und politischen Bedingungen für seine Produkte auch außerhalb des nationalen Firmensitzes in großem Maßstab in seinem Sinne zu steuern, um seine Position weiter auszubauen und zu konsolidieren. Eines der wichtigsten Merkmale ist aber das Bestreben, nicht nur in einem Land mit einem Geschäft vertreten zu sein, sondern Filialen zu besitzen, die auf der ganzen Welt verstreut sind, und so gleichzeitig alle weltweit relevanten Märkte bedienen bzw. bearbeiten zu können. (Nach http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/6910/globale-unternehmung-v9.html; letzter Zugriff: 27.12.2017). Gunilla Budde unterstreicht bei der Begriffsverwendung des Global Players in Bezug auf das Wirtschaftsbürgertum zugleich aber auch das „Networking“ durch Interessenverbände, um so die Einflussnahme zu erhöhen (vgl. Budde, Blütezeit des Bürgertums [wie Anm. 10], S. 11 sowie Gunilla Budde, Kapitalismus. Historische Annäherungen, Göttingen 2011, S. 102). Michael Schäfer spricht auch vom Typus der „multipotenten Unternehmer“ (vgl. Schäfer, Geschichte des Bürgertums [wie Anm. 5], S. 86) wenngleich dies mehr die Breite der Interessenlage des Unternehmers definiert als die globale Ausrichtung.

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Gemeint ist hier vornehmlich sein Hang, sich architektonisch im Stil der Zeit mit ortsbildprägenden Bauwerken wie Villen, Fabrikgebäuden und anderen Funktionsgebäuden auszudrücken und seinen Stand als begüterter Wirtschaftsbürger zu präsentieren. Dass Hirsch diesen Lebensstil pflegte, soll exemplarisch durch seine beiden Villen, das Wohnhaus in Gera und seinen Sommersitz in Kospoda unterstrichen werden. Die Villa in Gera wird hinsichtlich von Größe und Prachtentfaltung als herrschaftlichster Villenbau der Stadt bezeichnet.39 Sie „trägt den Charakter eines von Wassergräben umgebenen Schlosses […], in einem Mischstil aus Formen der Spätgotik, Renaissance und des Frühbarock. Die Villa zeigt den Reichtum des Bauherren, der bezüglich seiner baulich geschaffenen Umwelt mit derjenigen der Landesherrschaft Reuß j.L. konkurrieren konnte. Es gelang ihm, einen in sich abgeschlossenen, stimmigen Komplex zu schaffen, der als Herrschaftssitz eines kleinen, ihn umgebenden bzw. ihm untergebenen Stadtstaates bezeichnet werden darf“.40 Der zweigeschossige Monumentalbau in der heutigen Hermann-Drechsler-Straße wurde vom Geraer Architekten Rudolf Schmidt geplant und ab 1894 gebaut. Er wurde nach den klassischen Mustern einer bourgeoisen Lebensführung konzipiert. „Bauherr und Ausführende der Villa Hirsch eiferten den adligen Schlossherren des Historismus nach. Abfolge, Gestaltung und Funktion der Räume folgten einem durchdachten Gesamtkonzept.“41 So fanden sich im Souterrain die Wirtschaftsräume. Das Erdgeschoss war Repräsentationszwecken und das Obergeschoss den privaten Wohnräumen vorbehalten. Das Dachgeschoss beherbergte Gäste- und Dienstmädchenzimmer.42 Das Haus umgab ein Landschaftsgarten, der gemeinsam mit den Nebengebäuden (Torturm, Kutscherhaus, Remisen und Pferdestallungen) eine funktionale und künstlerische Einheit bildete. Ein besonderes gestalterisches Element war, mitten in Geras Innenstadt, ein großer, von aufgeschütteten Hügeln umgebener Teich. 39 Anja Löffler (Bearb.), Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Kulturdenkmale in Thüringen, Bd. 3: Stadt Gera, Erfurt 2007, S. 523. 40 Ebd. 41 Stadt Gera (Hg.), Villen und Villengärten in Gera, Gera 1999, S. 20. 42 Im Souterrain befanden sich Wirtschaftsräume, die Anrichte, eine Speisekammer, Lager, Waschhaus, Wein- und Bierkeller sowie die Heizungsanlage; im Erdgeschoss ein Windfang, ein Vestibül, eine Garderobe, eine gebäudemittige Diele, eine Veranda, ein Ess-, Wohn- und Herrenzimmer, der Grüne Salon, die Bibliothek und Räume mit Botentreppe und Speiseaufzug. Das Obergeschoss wurde ausschließlich privat genutzt. Hier finden sich eine Loggia, eine Terrasse, Schlaf- und Ankleideräume, ein Marmorbad, Toiletten und die Kinderzimmer. Das Dachgeschoss bot Gästen Platz und hielt Zimmer für die Dienstmädchen vor.

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Für den Sommersitz in Kospoda lässt sich ein ähnliches Bild zeichnen.43 Hier baute Hirsch nicht neu, sondern ließ gemeinsam mit seiner verwitweten Mutter einen klassizistischen Gutsbau mit Wirtschaftsgebäuden komplett im Stil des Historismus umgestalten. „Für Rittergut Kospoda beginnt mit der Übernahme durch die Familie Hirsch eine Zeit der Renaissance! Herrenhaus, Wirtschaftsgebäude, Gärtnerei, Park und die gesamte Umwelt des alten schönen Herrensitzes wurde von Grund auf um- und neugestaltet.“44 Auch hier war Rudolf Schmidt, der der Familie über drei Jahrzehnte verbunden blieb, maßgeblich beteiligt. Aus einem Herrenhaus entstand ein Schloss. Sein markantestes Kennzeichen war und ist der große Belvedereturm, mit dem sich Hirsch in die Nähe des Adels stellt. In finanzieller Hinsicht sind er und das aufblühende Bürgertum den Adligen ohne Zweifel bereits überlegen. Und so steht auch das bürgerliche Repräsentationsstreben für den Versuch, die gesellschaftlichen Schranken zu überwinden und einen adelsgleichen Status zu erreichen. Es fügt sich in die gedankliche Nähe des über Jahrhunderte hinweg präsenten Darstellungsmodus des inszenierten, akzeptierten und machtbewussten Adels.45 In Kospoda ließ Hirsch neben Schmidt auch den jungen Münchner Architekten Max Ostenrieder für sich tätig werden. Ostenrieder entstammte dem Umfeld von Gabriel von Seidl und dem Maler Franz von Lenbach. Beide deckten für die Zeit die wichtigsten Kunstgebiete für Dekoration und Kunstge43 Vgl. Bertram Lucke/Ronny Schwalbe, Eine Zeit der Renaissance. Das Rittergut in Kospoda im Eigentum der Geraer Fabrikantenfamilie Hirsch, in: Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie (Hg.), Aus der Arbeit des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie, Erfurt 2006, S. 61–67. 44 Kretschmer, Rittergut Kospoda (wie Anm. 6), S. 434. 45 Zu den Veränderungs- und Annäherungsprozessen zwischen Adel und Wirtschaftsbürgertum in der Industrialisierung sowie der bereits ab 1895 von Max Weber eingeleiteten Debatte der „Aristokratisierung“ des Großbürgertums in Form der Imitation und Adaption des adligen Lebensstils unter der These der „Feudalisierung“ des Bürgertums vgl. Hartmut Berghoff, Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich. Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten, in: Heinz Reif, Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 233–272; Werner Plumpe/Jörg Lesczenski (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009; Johannes Cramer: Fabrikantenvillen, in: Karl Möckel (Hg.), Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. München 1996, S. 431–448; Karl Möckel, Wirtschaftsbürgertum im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. München 1996, S. 7–12; Hans Pohl, Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870–1914), Paderborn 1979, S. 45  ff.; Schäfer, Geschichte des Bürgertums (wie Anm. 5), S. 176 f.; Budde, Blütezeit des Bürgertums (wie Anm. 10), S. 333 ff.

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werbe für die gehobene Bürgerschicht ab. Seidl schuf die Räume, in die Lenbachs Werke dekorativ und von antikem Mobiliar umgeben dem modernen Interieurgeschmack Rechnung trugen. Hirsch fühlte sich mit Ostenrieder in diese Tradition gestellt und er ließ sich von ihm und Rudolf Schmidt aus einem Herrenhaus ein Schloss bauen. Dieses beherbergte unter anderem eine eigene Kunstsammlung mit mehr als 300 Werken quer durch alle Kunstepochen. Diese Sammelleidenschaft war indes kein Selbstzweck, vielmehr trat Hirsch Zeit seines Lebens als Mäzen in Erscheinung und förderte die Kunst auf vielen Gebieten. So stiftete er beispielsweise für den Konzertsaal im Geraer Theater eine dreimanualige Orgel, förderte geschichtsforschende Vereine sowie den Kunstverein, war maßgeblich am Bau der Geraer Hütte im hinteren Valsertal beteiligt und gab Publikationen im Selbstverlag heraus. Sein soziales Engagement drückt sich ebenso vielfältig aus. Hier lassen sich Unterstützungskassen für Konfirmanden, zahlreiche Spenden an das Winterhilfswerk und das Rote Kreuz, die betrieblichen Versorgungsnetzwerke der Angestellten und vieles mehr anführen. Besondere Verdienste können ihm hier auch auf dem Bildungssektor beschieden werden. Nicht nur die schon erwähnten Förderungen für die Universität Jena, sondern auch jene im Volksschulwesen sollten abschließend erwähnt werden. Auf sein Betreiben hin wurde in Kospoda mit seinen Mitteln eine neue Schule gebaut, die 1913 eingeweiht werden konnte. Diese stattete er fortan regelmäßig mit den neuesten Lehrmitteln aus. Georg Hirsch war zudem im gesellschaftlichen Leben der Stadt Gera und der Region präsent. Er war Mitglied und Ehrenmitglied in zahlreichen Vereinen (z. B. Kunst-, Museums- und Geschichtsverein) sowie der Sektion Gera im Deutschen Alpenverein. Seine herausragende Stellung für die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und mäzenatischen Belange drücken sich unter anderem in zahlreichen Titeln und Ehrentiteln, wie dem eines reußischen Kommerzienrates, dem Kirchenpatronat von Kospoda, der Ehrenbürgerschaft der Universität Jena und deren Ehrendoktorwürde, aus. Mit dem Geraer Wirtschaftsbürger Georg Hirsch begegnet eine spannende und bislang unbeachtete Figur der Thüringer Bürgertums- und Industrialisierungsgeschichte. Er spiegelt jenen Typus der Gründergeneration wider, der zum dynamischen Großunternehmer emporstieg und dabei die regionalen Chancen stets im Blick behielt. Durch seine Einbettung in lokale familiäre Netzwerke, sein ökonomisches Geschick und den Mut sowie sein gesellschaftliches Engagement ist er einer dieser Protagonisten des wirtschaftlichen und

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bürgerlichen Aufstiegs in Thüringen, der exemplarisch für die Eliten jener Tage genannt werden muss und der dazu beiträgt, die eingangs erwähnten Forschungsdesiderate auszuräumen.46

46 Der Autor betreibt derzeit am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena ein Promotionsprojekt mit dem Arbeitsthema „Wirtschaftsbürgertum in Ostthüringen. Der Geraer Industrielle Georg Hirsch“ und bettet dabei den Protagonisten zum einen in den ZeitRaum-Kontext ein und verortet ihn andererseits als Wirtschaftsbürger der Ostthüringer Industrieregion des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie seines Wirkens als Global Player. Hierbei spielen biographisch-familiäre Beziehungen, unternehmerische Entwicklungslinien und deren Veränderungsprozesse sowie die bürgerliche Präsenz Georg Hirschs eine zentrale Rolle.

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Gebrüder Thiel in Ruhla Motor der Industrialisierung in Westthüringen

Gebrüder Thiel in Ruhla – Hinführung zum Thema

Das 1862 in Ruhla gegründete Unternehmen Gebrüder Thiel spiegelt in seiner Entwicklung in besonderem Maße die Wandlung der Thüringer Wirtschaft in der Zeit der Industrialisierung wider. Aus den zur Gründung eher als handwerklich zu charakterisierenden Betriebsstrukturen war binnen weniger Jahrzehnte einer der größten Thüringer Industriekonzerne erwachsen. Der damit verbundene Entwicklungsprozess verlieh nicht nur dem Standort Ruhla eine besondere industrielle Prägung, sondern bewirkte auch an anderen Orten in Thüringen dahingehende Fortschritte. Dieser Beitrag verdeutlicht in Anlehnung und unter Bezugnahme auf die Quellen der durch den Verfasser selbst vorgelegten Unternehmensdarstellung in groben Zügen die Parallelität des Wachstums Ruhlas und des Familienunternehmens von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts.1 Damit wird zugleich erkennbar, wieso Ruhla, ungeachtet der vermeintlich wenig günstigen geografischen und infrastrukturellen Lage, zu einem der bedeutendsten Industriezentren Westthüringens im 20. Jahrhundert werden konnte.

Ruhla in Thüringen – Standort und industrielle Anfänge

Ruhla liegt etwa 15 Kilometer südöstlich von Eisenach im nordwestlichen Teil des Thüringer Waldes. Schwierige topografische Verhältnisse und die Unzulänglichkeiten der bestehenden Verkehrsinfrastruktur sind Rahmenbedingungen, die Mitte des 19. Jahrhunderts keine günstigen Industrialisierungsvoraus1 Jürgen Schreiber, Uhren – Werkzeugmaschinen – Rüstungsgüter. Das Familienunternehmen Gebrüder Thiel aus Ruhla 1862–1972, Köln/Weimar/Wien 2017.

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setzungen erkennen lassen. Die Mittelgebirgslage, Ruhla erstreckt sich entlang eines Haupttales über eine Strecke von etwa fünf Kilometern auf einer Höhe von 350 bis 530 Metern über NN, bietet nur ein begrenztes Platzangebot und kaum geeignete Bauflächen für ausgedehnte Industrieanlagen. Ein Anschluss an die seit Ende der 1840er Jahre etwa sieben Kilometer nördlich verlaufende Bahnstrecke Halle-Erfurt-Gotha-Eisenach erfolgte erst im Jahr 1880. Insoweit basierte die verkehrstechnische, auch überregionale Verbindung auf einem einfachen Wegenetz, welches seit dem frühen 19. Jahrhundert einen zunehmenden Ausbau erfuhr. Die Einrichtung einer Poststation und einer regelmäßigen Postkutschenverbindung nach Eisenach verdeutlicht die dahingehenden Fortschritte in einer Zeit, in der Ruhlas handwerklich-gewerbliche Struktur bereits stark an internationalen Handelsstrukturen ausgerichtet war.2 Im Zuge verschiedener zeitlicher Ablöseprozesse hatte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert am Ort die Pfeifenherstellung als bedeutender Wirtschaftszweig etabliert. In den ersten Jahrzehnten nach Gründung des Deutschen Zollvereins 1833 wurde eine Blüte erreicht. Verschiedene Quellen vermitteln das Bild einer Massenfertigung am Ort, noch bevor die Industrialisierung diesen richtig erfasste. Die variierenden Angaben zu den Stückzahlen der verschiedenen Produkte liegen zumeist im Millionenbereich und reichen bis hin zu einer Jahresfertigung von 50 Millionen Stück. Mit diesem Aufschwung verband sich die Einrichtung einer Zeichen- und Gewerbeschule, was zugleich eine Verbesserung der Bildungsinfrastruktur bedeutete. Ein später einsetzender Wandel in den gesellschaftlichen Konsumgewohnheiten, der eine Verdrängung der Tabakpfeife zu Gunsten der Zigarette bewirkte, veränderte Ruhla abermals. Zahlen des Jahres 1855 zur gewerblichen Struktur am Ort belegen zunächst noch den hohen Stellenwert, ja sogar die Dominanz der Pfeifenfertigung. Die Zuordnung zu den einzelnen Gewerben zeigt an erster Stelle 192 Pfeifenbeschläger, gefolgt von 76 Porzellanmalern und 61 Tagelöhnern. Weitere Branchen mit zweistelliger Gewerbeanzahl sind Kauf- und Handelsleute (42), Drechsler (37), Pfeifenlackierer (35), Versilberer (34), Meerschaumschneider (33), Meerschaumarbeiter (24), Krämer (22), Schuster (20), Schreiner (17), Meerschaumfabrikanten (12), Schneider (12), Holzhauer (12), Metzger (11), Botenfrauen (11), Tüncher (10), Maurer (10), Messerschmiede (10), Bäcker (10) sowie Eseltreiber und Gemüsehändler (10).3 2 Vgl. ebd., S. 29–32 u. 85 f. 3 Lotar Köllner, Mi Ruhl, mi Heimet, Ruhlaer Heimatbuch und Chronik, Bd. 2, Ruhla 2010, S. 104–116; Bd. 3, Ruhla 2013, S. 192 f.; Schreiber, Gebrüder Thiel (wie Anm. 1), S. 32.

Die Gebrüder Thiel in Ruhla 

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Dennoch hatte eine Abkehr von der Pfeifenherstellung bereits begonnen und dieser Prozess sollte die wirtschaftlichen Strukturen Ruhlas nochmals grundhaft verändern. In der Metallwarenfabrikation waren seit den 1840er Jahren erste Impulse hin zu einer Industrialisierung zu verzeichnen. Als Initiator galt zunächst Christian Bardenheuer mit seiner 1841 gegründeten Firma Beschläge und Metallwaren Chr. Bardenheuer. Sowohl die örtlichen Betriebsals auch die Beschäftigtenzahlen stiegen in diesem Bereich in den kommenden Jahrzehnten signifikant an und führten im Zeitverlauf zu verschiedensten Spezialisierungen. Feinmechanik, Uhrenherstellung, Elektroartikel und Maschinenbau wurden prägend für die regionale Industriestruktur des 20. Jahrhunderts. Diese Veränderungen, insbesondere der schrittweise Einsatz von Maschinen in der Fertigung, riefen bei Teilen der Gewerbetreibenden und Arbeiter Ängste bezüglich ihrer wirtschaftlichen Zukunft hervor. Daraus erwachsende Gewaltaufrufe, wie 1847 zum Maschinensturm, sorgten zwar kurzzeitig für Unruhe, konnten den Entwicklungsprozess aber nicht aufhalten. Nach einigen Verzögerungen wurde 1860 wiederum durch Bardenheuer ein erster Metallwarenfabrikneubau in Ruhla fertiggestellt. Als ein nach Ruhla Zugezogener und aus einfachen Verhältnissen stammend, brachte er mit seinem fortgesetzten unternehmerischen Engagement auch soziale Veränderungen in Gang. Entgegen vieler Ängste bewirkten industrielle Fertigungsmethoden, wie sie Bardenheuer in Ruhla einführte, auch verbesserte Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und reduzierte Arbeitszeiten. Über den Wettbewerb um benötigte Arbeitskräfte konnten derartige Tendenzen auch eine Strahlkraft auf andere Wirtschaftsbereiche ausüben. Das grundlegende Spannungsfeld zwischen den Interessen der um eine auskömmliche Existenz bemühten Arbeiterschaft und dem Gewinnstreben der Arbeitgeber blieb indes bestehen. Verschiedene lokale Arbeitskämpfe des ausgehenden 19. und einsetzenden 20. Jahrhunderts, die sich zum Teil über einen längeren Zeitraum erstrecken konnten, geben davon Zeugnis.4 Abgesehen von solchen Ereignissen spiegelt sich die insgesamt positive wirtschaftliche Entwicklung Ruhlas auch im deutlichen Wachstum der dortigen Wohnbevölkerung wider. Waren für 1850 noch 3.675 Einwohner registriert, stieg die Zahl binnen 25 Jahren zunächst auf 4.407. Bis 1899 wuchs die Bevölkerung um weitere 50 Prozent auf 6.570 an. 1910 lebten bereits 7.882 Menschen in Ruhla. Genau genommen war es aber nicht der eine Ort Ruhla, 4 Köllner, Ruhlaer Chronik, Bd. 3 (wie Anm. 3), S. 201–206; Schreiber, Gebrüder Thiel (wie Anm. 1), S. 32.

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der diese Bevölkerungsentwicklung aufwies. Vielmehr existierten im Betrachtungszeitraum zwei nebeneinander bestehende politische Gemeinden, welche hier als Ruhla kumuliert erfasst wurden. Nach vorangegangener weiterer territorialer Zersplitterung, bestanden seit einem Zusammenschluss im Jahr 1833 fortan in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft die Gemeinden Ruhla G. A. für Gothaischen Anteils und Ruhla W. A. für Weimarischen Anteils. Der Ortszusatz verdeutlicht neben der bestehenden lokalen Teilung zugleich die regional unterschiedliche Zugehörigkeit zu zwei der Thüringer Kleinstaaten dieser Zeit. Diese Trennung hatte über die jeweilige Verleihung des Stadtrechts 1896 bis zur Vereinigung Ruhlas 1921 Bestand.5 Die bislang aufgezeigte Entwicklung, insbesondere jener im Metallgewerbe, verbindet sich ab den 1860er Jahren auf verschiedene Weise mit dem Namen Thiel. Innerhalb dieses Jahrzehntes wurden in Ruhla 13 Metallwarenfabrikationen gegründet, darunter im Jahr 1862 die der Gebrüder Georg und Christian Thiel. Auch wenn die Brüder seit 1867 getrennte Wege gingen, blieben beide im Metallwarengeschäft tätig. Georg mit eigener Firma unter seinem Namen, Christian mit der Fortführung der Firma Gebrüder Thiel. Die günstige Entwicklung und der finanzielle Rückhalt aus einem Lotteriegewinn aus der Zeit vor der Unternehmensgründung ermöglichten Christian Thiel 1870 auch den Einstieg in das Unternehmen von Christian Bardenheuer. Der damals größte Ruhlaer Metallwarenbetrieb firmierte fortan unter der Bezeichnung Thiel & Bardenheuer. Damit prägte Christian Thiel über seine Tätigkeit in diesen beiden Unternehmen ein Stück der örtlichen Industrialisierung. Dass seine getroffenen Weichenstellungen erfolgreich und auch nachhaltig waren, zeigt die weitere Entwicklung nach seinem Tod 1879. Das Unternehmen Gebrüder Thiel prägte in den kommenden Jahrzehnten im zunehmenden Maße Ruhlas Industrie. Im Jahr 1891 existierten dort 17 Metallwaren-, 29 Tabakpfeifen- und 16 weitere Fabriken. Gebrüder Thiel beschäftigte zu dieser Zeit etwa 500 Menschen, was rund zehn Prozent der örtlichen Bevölkerung entsprach. Ein halbes Jahrzehnt später hatte sich die Beschäftigtenzahl fast verdoppelt und lag in Relation zur Einwohnerzahl bei circa 18 Prozent.6

5 Schreiber, Gebrüder Thiel (wie Anm. 1), S. 30 f. 6 Vgl. ebd., S. 24 f., 29, 31, 35 u. 49.

Die Gebrüder Thiel in Ruhla 

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Gebrüder Thiel – Das Unternehmen

Der gezeigte Stellenwert des Unternehmens Gebrüder Thiel im lokalen Kontext bestätigt sich auch auf regionaler Ebene. In den Thüringer Staaten arbeiteten 1895 in acht Prozent der Betriebe mehr als fünf Beschäftigte. Insgesamt existierten 99 Betriebe mit über 200 Mitarbeitern. Die Gebrüder Thiel OHG ordnet sich in diesem Vergleich, ohne eine gesonderte Erfassung der in Heimarbeit Tätigen, mit etwa 800 Beschäftigten ein.7 Industrieller Großbetrieb, Heimarbeit, Personengesellschaft und einiges mehr sind vermeintliche Widersprüche, die nunmehr eine weitere Erläuterung erfahren sollen. Das eine Unternehmen Gebrüder Thiel, wie es die Überschrift ein Stück weit suggeriert, gab es nicht. Vielmehr war es mit der Gründung die Personengesellschaft Gebrüder Thiel, welche ab der Trennung der Gründer 1867 unter Beibehaltung des Namens zunächst zum Einzelunternehmen wurde. Mit der Aufnahme zweier jüngerer Brüder als Gesellschafter kurz vor Christian Thiels Tod war die Personengesellschaft wiederbelebt. Diese als Offene Handelsgesellschaft (OHG) geführte Unternehmung wurde 1901 in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt. Die so entstandene Gebrüder Thiel GmbH wurde als Familiengesellschaft Kernstück des später weiter ausgebauten Unternehmensgeflechtes. Zu diesem zählten die 1922 gegründete Gebrüder Thiel Seebach GmbH und die 1937 gegründete Gerätebau GmbH als Haupt­ elemente. Alle drei hatten ihren Sitz in Ruhla und verfügten über Betriebsstätten in verschiedenen weiteren Thüringer Orten, so u. a. in Seebach, Apolda, Waltershausen, Meiningen und Mühlhausen. Für den internationalen Vertrieb spielten zudem zwei Tochterunternehmen, R. Thiel London und Thiel Brothers Ltd. London, eine Rolle. Eine Zäsur folgte mit der Enteignung in der Sowjetischen Besatzungszone 1945. Der in Familienhand liegende Konzern mit seinen weitestgehend unbeschädigten Produktionsstätten in Thüringen war damit für die vormaligen privaten Eigentümer fast vollständig verloren. Es folgte ein Neuanfang in den westlichen Besatzungszonen. Der Sitz der Gebrüder Thiel GmbH konnte 1950 zunächst von Ruhla nach Göttingen in die neu gegründete Bundesrepublik verlegt werden. Die Ortswahl resultierte aus einem ersten gescheiterten Versuch einer Verlagerung nach Kassel und der Verfügbarkeit einer in Göttingen ansässigen Vertrauensperson. Im Folgejahr kam es zur Verlagerung nach Sand 7 Vgl. ebd., S. 11 u. 48 f.

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bei Kassel. Dort waren seit 1948 bereits die ersten Schritte hin zu einem Neuanfang getätigt worden. Das Familienunternehmen konnte so in Teilen nochmals neu aufgebaut und unter dem Dach der Gebrüder Thiel GmbH bis zum Verkauf 1972 weitergeführt werden. Die erhaltene Unternehmensbezeichnung war indes zunächst nicht viel mehr als die gerettete leere Hülle. Ohne verfügbar gebliebene Produktionsstätte musste der Neuaufbau der Fertigung in Hessen bei null beginnen. Das Unternehmen entwickelte sich zwar in den folgenden zwei Jahrzehnten wirtschaftlich erfolgreich, die vormalige Dimension der zivilen Fertigung konnte indes nicht wieder erreicht werden.8 Zurückblickend auf die Anfänge und Entwicklungen in Thüringen zeigt sich, dass das Unternehmenswachstum, was nach der Gründung 1862 zu verzeichnen war, auf mehreren Faktoren basierte. Ursächlich dafür waren verschiedene Produkte, welche nebeneinander gefertigt wurden. Ebenso zielgerichtet vorangetriebene Entwicklungen, die über die Verbesserung und Weiterentwicklung bestehender Erzeugnisse zu neuen Produkten führten. Anfänglich standen, angelehnt an die Tradition der Ruhlaer Pfeifenherstellung, die Fertigung von Pfeifenbeschlägen und ein breites Spektrum weiterer Kleinmetallwaren. Durch Verlagerung der Produktionsstätte innerhalb Ruhlas konnte ab Ende 1873 Wasser als Antriebskraft für die Maschinen genutzt werden. Kinderspieluhren kamen zu dieser Zeit ins Sortiment und öffneten den Weg auf internationale Märkte. In diesem Segment gab es, abgesehen von einigen französischen Produzenten, nahezu keine Konkurrenz. Die französischen Fabrikate waren zudem teurer und wurden nur in geringen Stückzahlen gefertigt. Gebrüder Thiel setzte hingegen auf Produkte, die kostengünstig in Massenfertigung hergestellt werden konnten. Maschineneinsatz, moderne Fertigungsmethoden, aber ebenso an den Bedürfnissen der verschiedenen Märkte abgestimmte Variationen der Kinderspieluhren verhalfen dabei zu einem internationalen Verkaufserfolg mit entsprechenden Gewinnen. Das Werk in Ruhla wurde weiter ausgebaut und in der Wertschöpfungskette bereits 1875 durch Errichtung eines Messingwalzwerkes breiter aufgestellt. Erforderliche Vorprodukte konnten so in erheblichem Maße selbst erzeugt werden.9 Durch die von einem amerikanischen Geschäftspartner angeregte Weiterentwicklung der Kinderspieluhren kam es zur neuerlichen Erweiterung der Produktpalette. Über die Auseinandersetzung mit der Frage, ob es möglich wäre, aus dem vormaligen Spielzeug eine Uhr zu schaffen, die für eine gewisse Spanne 8 Vgl. ebd., S. 35, 223–234, 247–263, 282–284 u. 326. 9 Vgl. ebd., S. 26–29, 35–46.

Die Gebrüder Thiel in Ruhla 

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die Zeit genau anzeigt, kam es zur Konstruktion einer preiswerten Taschenuhr, die 1892 am Markt eingeführt wurde. Wie zuvor bei den Kinderspieluhren kam auch hier den internationalen Märkten, wobei hier insbesondere der englische und englischsprachige Raum im Fokus standen, die entscheidende Bedeutung für den Verkaufserfolg des Produktes zu.10 Konsequenter Einsatz und Verbesserung der Stanztechnik zur rationellen Massenfertigung austauschbarer Teile waren für den Erfolg der Kinderspieluhren wie auch der Taschenuhren eine wesentliche Komponente. Kreativität und der Erfindergeist von Mitarbeitern und Inhabern brachten zudem über die Jahre eine Reihe selbst konstruierter Maschinen hervor. Diese, ebenso wie die Suche und Umsetzung von Optimierungsmöglichkeiten in technischer aber auch baulicher Sicht, halfen die Produktionsabläufe stetig zu verbessern. Dadurch konnte zunehmend die Fertigung zuvor extern bezogener Teile in Eigenregie erfolgen. Der dahinterstehende Autarkiegedanke spiegelte sich in einem schrittweise über Jahrzehnte verlaufenden Entwicklungsprozess wider. Erst ab den 1920er Jahren kann jedoch von einer in den wesentlichen Teilen tatsächlich erreichten Autarkie ausgegangen werden. Diese war insoweit wichtig, als dass Gebrüder Thiel nach anfänglicher Skepsis bezüglich seiner Uhrenerzeugnisse im zunehmenden Maße als Wettbewerber wahrgenommen wurde. Es bestand dadurch spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sorge, dass eine Stockung in den von Konkurrenten beeinflussbaren Zulieferketten empfindliche betriebliche Auswirkungen haben könnte. Produktionsstörungen mit in der Folge eintretenden Lieferengpässen und damit der Verlust von Marktanteilen waren denkbare Szenarien. Eigene negative Erfahrungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts nährten solche Ängste. Damals waren es leitende Thiel-Mitarbeiter, die nach ihrem Ausscheiden eigene Unternehmen gründeten und mit den dort gefertigten Produkten zu Thiel in Konkurrenz traten. Das bewirkte zumindest im Kinderuhrenbereich mit seinen zuvor monopolähnlichen Anbieterstrukturen einen vorübergehenden Preisverfall mit entsprechendem Gewinnrückgang bei Gebrüder Thiel. Solche Erfahrungen sollten nach Möglichkeit zukünftig vermieden werden. Dies galt insbesondere für die preiswerten Taschenuhren, die etwa in England nahezu konkurrenzlos waren und dem Unternehmen innerhalb von zehn Jahren eine monopolähnliche Stellung bescherten.11 Eine Auseinandersetzung mit Wettbewerbern, die im zunehmenden Maße in das Geschäftsfeld preiswerter Taschenuhren vordrangen, war für die Gebrüder 10 Vgl. ebd., S. 39. 11 Vgl. ebd., S. 39 u. 44–64.

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Thiel unvermeidbar. Die aus der Vorreiterrolle in diesem Segment entstandene komfortable Lage der Anfangsjahre veränderte sich und zwang damit auch Gebrüder Thiel zu Veränderungen. Solche werden insbesondere im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in vielfältigster Weise sichtbar. Das Unternehmen wandelt sich nach außen, was vor allem in der Umwandlung von der OHG zur GmbH sichtbar wird. Die innerbetrieblichen Veränderungen gestalten sich in der Art, dass neue Produktfelder erschlossen werden, von denen zwei in den folgenden Jahrzehnten zu tragenden Säulen der Unternehmensentwicklung heranwachsen. Eine erste ist der Einstieg in die Entwicklung und Fertigung mechanischer Zeitzünder. Mit der Bereitschaft, sich in Zusammenarbeit mit der Friedrich Krupp AG in Essen diesem Thema zu widmen, verbanden sich für Gebrüder Thiel neben weiteren Motiven zwei wirtschaftliche Aspekte: Einerseits konnten die auf Uhrwerksbasis konstruierten Zünder bei hoher Ausbringungszahl zu einer verbesserten Auslastung der Teilefertigung mit entsprechenden Kosten­ effekten auch für die weitere Uhrenfertigung führen. Andererseits waren die Spielräume hinsichtlich des Gewinns bei einer Taschenuhr, die für drei Mark im Laden verkauft wurde, stärker begrenzt als bei einem Zünderwerk, welches für 15 Mark und mehr verkauft werden konnte. Der endgültige Durchbruch auf diesem Gebiet gelang nach einer durch Rückschläge geprägten mehr als zehnjährigen Entwicklungsphase im Verlauf des Ersten Weltkrieges. Von diesem Punkt an bis zur Enteignung 1945 wurde die Zünderproduktion, mit kurzer Unterbrechung unmittelbar nach dem Krieg, fester und über weite Strecken dominierender Bestandteil der Unternehmensgeschichte. Die zweite Säule wurde mit der Einrichtung einer Zentralwerkstatt begründet, welche die vorherigen Werkstätten in den einzelnen Abteilungen des Unternehmens ablöste. Mit ihrer Ausstattung und den daraus erwachsenden Möglichkeiten des Maschinen- und Werkzeugbaues erwies sie sich zu groß und damit zu teuer für eine reine Selbstversorgung des Unternehmens. Konsequenz war die schrittweise Öffnung nach außen, bis hin zum aktiven Anbieter von einem wachsenden Spektrum selbst entwickelter und gebauter Maschinen. Erste wirtschaftliche Erfolge waren für diese neue Abteilung noch vor dem Ersten Weltkrieg zu verzeichnen. In der Weimarer Zeit gelang dann auch der Sprung auf die internationalen Märkte und dort mit verschiedenen Entwicklungen der Maschinenfabrik, insbesondere den Universalwerkzeugfräsmaschinen, an die Weltspitze.12 Während andere und auch zuvor erfolgreiche Produkte und Geschäftsfelder aus dem Unternehmen über die Jahre wieder verschwanden, konnte sich die 12 Vgl. ebd., S. 71–87.

Die Gebrüder Thiel in Ruhla 

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Uhrenfertigung weiter entwickeln und mit neuen Artikeln am Markt behaupten. So wurden das um das Jahr 1900 in Betrieb genommene neue Messingwalzwerk 1924 stillgelegt und die verbliebenen Reste der Kinderuhrenfertigung 1934 verkauft. Neben den Taschenuhren brachte Gebrüder Thiel ab 1908 erste preiswerte Armbanduhren heraus und übernahm damit erneut eine Vorreiterrolle in der deutschen Uhrenindustrie. Derartige Neu- und Weiterentwicklungen sowie deren industrielle Serienfertigung machten die Uhrenfertigung über Jahrzehnte hinweg zur dritten tragenden Säule von Gebrüder Thiel.13 Das in der Summe feststellbare Unternehmenswachstum zeigt sich auch über die Jahrhundertwende hinweg in steigenden Beschäftigten- wie auch Umsatzzahlen. Lag der Gesamtumsatz 1875 bei etwa 150.000 Mark, so war er bis 1903 bereits auf etwa 2,75 Millionen Mark angestiegen. Im Jahr 1911 lag er dann bei rund 4,75 Millionen Mark. Die zunehmende Dominanz der Zünderfertigung ab 1916 führt dann insbesondere in den weiteren Jahren des Ersten Weltkrieges und in den Kriegs- und Vorkriegsjahren des Zweiten Weltkrieges zu weiteren deutlichen Zuwächsen bei Umsatz und Beschäftigung. In der Spitze wurde von mehr als 12.000 Beschäftigten des Thiel-Konzerns 1941/42 ein Jahresumsatz von über 52 Millionen Reichsmark erwirtschaftet. Die Mitarbeiterzahl hatte sich somit nach einem zwischenzeitlichen Höchstwert von etwa 4.000 im Jahr 1918 verdreifacht. Dabei sind immer wieder signifikante Schwankungen der Mitarbeiterzahlen, die ebenso zu einer Veränderung der Beschäftigtenstrukturen beitrugen, zu verzeichnen. Heimarbeit war ungeachtet aller Industrialisierungsfortschritte bei Gebrüder Thiel bis zum Ende der Weimarer Republik zu finden. Mit der dann konjunkturbestimmenden Weltwirtschaftskrise verschwand diese Beschäftigungsform fast vollständig.14

Ruhla und Gebrüder Thiel – Ein Fazit

Über die einzelnen Schritte der Unternehmensentwicklung von Gebrüder Thiel des Jahres 1862 bis zum Thiel-Konzern des Jahres 1945 ist eine besondere Fokussierung auf den Standort Ruhla feststellbar. Trotz global ausgerichteter Geschäftsbeziehungen erfolgt überwiegend lokal eine Bündelung der verschiedenen Tochtergesellschaften. Gebrüder Thiel schafft über seine Verwaltung wie auch seine Produktionsanlagen einen oftmals über das örtliche Angebot hin13 Vgl. ebd., S. 62, 72 u. 82–84. 14 Vgl. ebd., S. 41–43, 200–202, 228, 334 u. 351–356.

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ausgehenden Arbeitskräftebedarf. Damit wurden zumeist Impulse gegeben, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch zunehmend soziale Veränderungen in Gang setzten. Verstärkt durch weitere Gewerbe- und Industriebetriebe am Ort entstand so eine Dynamik, die ungeachtet etwaiger Standortschwächen, Ruhla, aber eben auch Gebrüder Thiel, einen besonderen Stellenwert bei der Industrialisierung im Westen Thüringens verlieh.

Werner Greiling

Medienproduktion und Medienrealität im Jahrhundert der Industrialisierung

Mit Blick auf Fragen der Industrialisierung und der Industriekultur, aber auch in Bezug auf deren soziale Folgen drängt sich eine Berücksichtigung der Medien geradezu auf. Dies gilt für die Frage ihrer technischen Entwicklung und der technologischen Grundlagen, aber auch ihres Einsatzes und ihrer Wirkung in der Gesellschaft sowie der Art und Weise, in der sie ihrerseits die Realität der Industrialisierung und die damit verbundenen Phänomene darstellen. Unter Zugrundelegung eines „engeren“, eines publizistikwissenschaftlichen Medienbegriffs sollen im Folgenden ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit einige Aspekte problematisiert werden, die die Relevanz der Thematik andeuten. Unter dem Begriff „Medien“ verstehen wir dabei mit Jürgen Wilke jene technischen Mittel, „die zur Verbreitung von Aussagen an ein potentiell unbegrenztes Publikum geeignet sind […]. Aber nicht nur die Technik selbst wird mit ihm bezeichnet, sondern auch die Produkte dieser Technik und die jeweiligen Institutionen, die mit der Produktion und Verbreitung solcher Aussagen beschäftigt sind.“1

1. Buchdruck und Verlagswesen in Thüringen – einige Anmerkungen

Im Zusammenhang mit dem Thema dieses Bandes liegt zunächst eine Beschäftigung mit dem Buchdruck und dem Verlagswesen sowie mit Presse und Öffentlichkeit nahe. Thüringen gilt zu Recht als eine Medienlandschaft von außerordentlicher Dichte und Vielfalt.2 Die Erfindung des Buchdrucks war 1 Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, Köln/Weimar/Wien ²2008, S. 1. 2 Vgl. Werner Greiling, Von der Hofbuchdruckerei zum modernen Verlagswesen. In: Neu entdeckt/Essays. Thüringen – Land der Residenzen. Hg. von Konrad Scheurmann und Jördis Frank, Mainz 2004, S. 272–279.

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Grundlage und Voraussetzung für die Herstellung und Verbreitung geistlicher Bücher, wissenschaftlicher Werke, schöngeistiger und unterhaltender Literatur sowie jeglichen periodischen Schrifttums. Ältester Standort des Gewerbes ist Erfurt, wo sich der erste Buchdrucker in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts niederließ.3 Jena und Altenburg beherbergten seit 1523 eigene Druckereien, in Coburg wurde seit 1530 gedruckt. Schleusingen, Schmalkalden und Mühlhausen folgten in den Jahrzehnten danach. Viele Drucker traten zugleich als Buchhändler bzw. Verleger auf. Die Mechanismen des freien Marktes waren zunächst kaum wirksam, weil die Tätigkeit als Buchdrucker in der Regel an eine Konzession des Landesherrn gebunden war, die zugleich Privilegium war und nicht selten über mehrere Generationen hinweg in einer Familie verblieb. Im Rahmen eines bestimmten Territoriums schloss dies Konkurrenz weitgehend aus. Die Branche etablierte sich zunächst vor allem in Residenz- und Universitätsstädten. Im 17. und 18. Jahrhundert fasste der Buchdruck dann auch in kleineren thüringischen Orten Fuß. Um und nach 1800 entstanden mehrere jener Verlage, die im Zeitalter der Industrialisierung tonangebend waren. Zu ihnen zählen die Frommann’sche Buchhandlung in Jena4 und die Firma des 1821 nach Gotha übergesiedelten Buchhändlers Friedrich Christoph Perthes.5 Ihren fast beispiellosen Erfolgsweg begann 1815/16 auch die „Geographische Anstalt“ von Johann Georg Justus Perthes, dem Onkel des Vorgenannten, am gleichen Ort. Hervorgegangen aus der 1785 gegründeten Justus Perthes’schen Verlagsanstalt plante der Inhaber 1815 gemeinsam mit den Geographen Adolf Stieler und Christian Gottlieb Reichard die Herausgabe eines Atlas’, der im Jahr darauf als „Stieler’s Hand-Atlas“ tatsächlich erschien und das weltweite Renommee der „Geographischen Anstalt“ begründete.6 Zum bedeutendsten Verleger im Thüringen der Übergangszeit avancierte Friedrich Justin Bertuch in Weimar, der das Label des 19. Jahrhunderts bereits 3 Vgl. Vivien Stawitzke, Reformation und Buchdruck. Erfurt als frühes Medienzentrum (1499–1547), Jena 2017, S. 17–23. 4 Vgl. Frank Wogawa, „Etwas theurer muß der Druck auf jeden Fall bey uns seyn“. Die Frommannsche Verlagsbuchhandlung in Jena in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Werner Greiling/Siegfried Seifert (Hg.), „Der entfesselte Markt“. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800, Leipzig 2004, S. 177–217. 5 Vgl. Dirk Moldenhauer, Geschichte als Ware. Der Verleger Christoph Friedrich Perthes (1772–1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung, Köln/Weimar/Wien 2008. 6 Vgl. Werner Painke, 200 Jahre Justus Perthes Geographische Verlagsanstalt, Gotha–Darmstadt 1785–1985, Darmstadt 1985.

Medienproduktion und Medienrealität 

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1791 als Stichwort im Namen der Firma führte: „Landes-Industrie-Comptoir“.7 Dieses Unternehmen war sowohl mit auflagenstarken Publikumszeitschriften wie dem „Journal des Luxus und der Moden“8 als auch mit zahlreichen Fachzeitschriften erfolgreich, unter ihnen die „Allgemeinen geographischen Ephemeriden“. Friedrich Justin Bertuch, der bereits einen modernen Unternehmertypus verkörperte,9 eroberte den Markt aber auch mit Landkarten, Atlanten und Globen. Hierfür wurde von ihm im Jahr 1804 in Gestalt des „Geographischen Instituts“ eine weitere Firma „mit eigenem Fonds, Factorey und Buchhaltung“ etabliert.10 Herausragende Bedeutung erlangte zudem Carl Joseph Meyer, der 1826 in Gotha das „Bibliographische Institut“ gründete und mit diesem Unternehmen 1828 nach Hildburghausen wechselte.11 Es umfasste einen Verlag, eine moderne Druckerei, eine Buchbinderei sowie eine „Artistisch-geographische Anstalt“. Meyers berühmteste Verlagserzeugnisse waren die auflagenstarke „Groschen-Bibliothek der deutschen Classiker für alle Stände“, mehrere Taschenbuchreihen sowie das „Conversations-Lexikon“. Dessen erste Ausgabe erschien von 1840 bis 1855 in 52 Bänden und fand weite Verbreitung. Zum großen Erfolg Meyers, der sich auch in Filialen in Amsterdam, New York und Philadelphia manifestierte, trugen neben den inhaltlichen Aspekten des Verlagsprogramms auch technische Neuerungen bei. Hierzu zählen die Einführung des Zweispaltensystems, das einen sehr übersichtlichen Druck des Lexikons ermöglichte, und die meist großzügige Illustrierung der Verlagsprodukte mittels Kupfer- und Stahlstich. Aber auch weniger bekannte Unternehmen erzielten mit dem herstellenden Buchhandel enorme wirtschaftliche Erträge und hatten deutschlandweite Verkaufserfolge. Dies zeigen beispielsweise auch die auflagenstarke neunbändige 7 Vgl. Katharina Middell, „Die Bertuchs müssen doch in dieser Welt überall Glück haben“. Der Verleger Friedrich Justin Bertuch und sein Landes-Industrie-Comptoir um 1800, Leipzig 2002, bes. S. 79–116; dies., „Dann wird es wiederum ein Popanz für Otto …“ Das Weimarer Landes-Industrie-Comptoir als Familienbetrieb (1800–1830). Mit einem Anhang ungedruckter Dokumente, Leipzig 2006. 8 Vgl. Angela Borchert/Ralf Dressel (Hg.), Das Journal des Luxus und der Moden: Kultur um 1800, Heidelberg 2004. 9 Vgl. Julia A. Schmidt-Funke, Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft. Die politische Publizistik des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch, Köln/Weimar/Wien 2005. 10 Zit. nach Andreas Christoph, Geographica und Karthographica aus dem Hause Bertuch. Zur Ökonomisierung des Naturwissens um 1800, München 2012, S. 47. 11 Vgl. Armin Human, Carl Joseph Meyer und das bibliographische Institut von Hildburghausen, Leipzig 1896.

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„Schullehrerbibel“ des Theologen, Pädagogen und Schulreformers Gustav Friedrich Dinter, mehr als 50 weitere Werke aus dessen Feder sowie eine immense Vielfalt an Lehr- und Schulbüchern, die beispielsweise bei Johann Karl Gottfried Wagner in Neustadt an der Orla herauskamen.12 Die Druckereien und Verlage in Thüringen, aber auch die bis zu 90 Papiermühlen13 bildeten gleichsam das Hinterland der Buchmetropole Leipzig. Schon vor 1800 hatte Bertuch die Idee verfolgt, die Städte Weimar und Jena zu Satelliten Leipzigs zu machen, da die Wege kurz, Löhne und Lebenshaltungskosten niedrig und das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften für den Buchhandel gut waren. Ein rohstoffarmes Land brauche hierfür lediglich Genie und Lumpen, zwei Dinge, die jeder Boden der Welt trage.14 Buchdruck und Verlagswesen stellten ein wichtiges Segment der industriellen Entwicklung in Thüringen dar. Durch den Doppelcharakter der Produkte, die sowohl Kulturgut als auch Handelsware sind, verschränkten sich in dieser Branche die Fragen von Industrialisierung und Industriekultur in einer besonderen Weise. Zwischen dem Entwicklungsstand der Gesellschaft und dem Niveau des Druck- und Verlagswesens gibt es einen deutlichen Zusammenhang und eine wechselseitige Beeinflussung. Die enorme Konzentration des Buchdrucks in Thüringen kann man mit der Standortlehre zu erklären versuchen, die die räumliche Ordnung der Wirtschaft als einen Auswahlprozess begreift. Dieser werde durch die Verteilung der natürlichen Ressourcen und des Humankapitals gesteuert. Dabei fallen die günstige Mittellage im deutschsprachigen Raum als natürlicher und die überdurchschnittliche allgemeine Bildung als ein kulturell erworbener Standortvorteil besonders ins Auge.15 Aus Letzterem erwuchs ein großes Reservoir an Autoren und Lesern, während sich aus der geographischen Mittellage günstige Dispositionen für die Nachrichtenvermittlung und den Transport von Rohstoffen und Waren ergaben. Hinzu kommt die bereits erwähnte Tatsache, dass 12 Vgl. Werner Greiling, Verlagsstrategien zur Schulverbesserung und Volksbildung im 19. Jahrhundert. Gustav Friedrich Dinter und Johann Karl Gottfried Wagner, Leipzig 2017. 13 Vgl. Frieder Schmidt, Besitzerfolgen von Papiermühlen in Thüringen, zusammengestellt nach den Unterlagen der Papierhistorischen Sammlungen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums und der Deutschen Bücherei Leipzig, Leipzig 1998. 14 Vgl. Friedrich Justin Bertuch, Gedanken über den Buchhandel (1774). Bearbeitet von A. Plott, in: Archiv für Geschichte des Buchhandels 7 (1967), Sp. 1797–1810. 15 Vgl. Reiner Flik, „Nur zur literarischen und artistischen Landes-Industrie geeignet?“. Die Weimarer Klassik im Lichte der Standortlehre, in: Stefan Matuschek (Hg.), Organisation der Kritik. Die Allgemeine Literatur-Zeitung in Jena 1785–1803, Heidelberg 2004, S. 175–190, bes. S. 185 f.

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es in der Frühen Neuzeit in Deutschland vor allem Residenzorte waren, in denen sich der Buchdruck etablierte. An derartigen Städten herrschte durch die zahlreichen thüringischen Territorialstaaten kein Mangel.

2. Technischer Fortschritt und industrielle Produktionsformen

Nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg hielten sich die technischen Verbesserungen in der Branche während der folgenden Jahrhunderte in engen Grenzen. Die Ausdifferenzierung der Medien und der stete Anstieg der Gesamtauflage erfolgten im Wesentlichen mit jener Technologie, die um 1500 eine Medienrevolution möglich gemacht und mit der Reformation eine erste große Bewährungssituation bestanden hatte.16 Um und nach 1800 erlebte der literarische Markt dann aber einen enormen Boom, trotz aller Zensur- und Bildungsschranken, die auch im 19. Jahrhundert nicht verschwanden.17 Durch die Bevölkerungsexplosion und die Tatsache, dass sich die Leser- und Käuferschaft zunehmend auch aus den bildungsfernen Schichten rekrutierte, stieg der Bedarf an Druckerzeugnissen enorm an. Das inhaltliche Angebot hatte sich folgerichtig um zahlreiche einfache, leicht verständliche Lesestoffe erweitert,18 die einerseits der Volksaufklärung und andererseits der Trivialliteratur zuzurechnen sind.19 Zur sich verändernden Produktpalette gehörten aber auch die entstehende Massenpresse, diverse große Lexika sowie ein immenses Angebot an Schul- und Lehrbüchern.20 Doch auch die Produktions- und Rezeptionsbedingungen änderten sich. Auf der Basis einer avancierten Infrastruktur entwickelte sich ein Industriezweig, in welchem nunmehr eine gleichermaßen massenhafte wie preisgünstige Herstellung von Druckerzeugnissen möglich war. Nach den mehr als drei Jahrhunderten 16 Vgl. Berndt Hamm, Die Reformation als Medienereignis, in: Jahrbuch für biblische Theologie 11 (1996), S. 137–166. 17 Vgl. Jost Schneider, Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland, Berlin/New York 2004, S. 168 f. 18 Vgl. Reinhart Siegert u. a. (Hg.), Volksbildung durch Lesestoffe im 18. und 19. Jahrhundert. Voraussetzungen – Medien – Topographie, Bremen 2012. 19 Vgl. Holger Böning/Hanno Schmitt/Reinhart Siegert (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007. 20 Vgl. Christine Haug/Johannes Frimmel (Hg.), Schulbücher um 1800. Ein Spezialmarkt zwischen staatlichem, volksaufklärerischem und konfessionellem Auftrag, Wiesbaden 2015.

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der Kontinuität, die man pejorativ auch als einen technologischen Stillstand beschreiben kann, kam es jetzt zu technischen Innovationen, die die Branche markant veränderten und den Übergang vom Handwerk zur industriellen Produktion ermöglichten. Dazu gehört zunächst die Erfindung der dampfbetriebenen Schnellpresse (1823) und der Handgießmaschine (1845). Die technologische Entwicklung setzte sich dann in der zweiten Jahrhunderthälfte fort und wurde beispielsweise in Gestalt der Rotationsdruckmaschine (1872/73) und der Drahtheftmaschine (1878) manifest. Die hohen Auflagen der Tagespresse, die in mehreren Fällen am Ende des 19. Jahrhunderts die Einhunderttausendergrenze überschritten hatten, konnten jetzt Nacht für Nacht in wenigen Stunden gedruckt werden. Dies wäre allerdings nicht ohne die Entwicklung des Holzschliffpapiers möglich gewesen, die dem Erfinder Friedrich Gottlob Keller (1816–1895) Anfang der 1840er Jahre gelang und in der Folge den enorm gestiegenen Papierbedarf decken konnte.21 Die bis dahin übliche Methode der Papierherstellung aus Textillumpen (Hadern) war bereits um 1700 an ihre Grenzen gestoßen und seither ein reales Problem für die Branche. Nach einem weiteren Anstieg der Nachfrage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt die Bereitstellung großer Mengen preiswerten Papiers als eines der drängenden Probleme im Zeitalter der Industrialisierung. Keller schuf mit einer Mischung aus Lumpen und geschliffenem Holz die Grundlage dafür, ohne diese allerdings selbst in eine erfolg- und ertragreiche Produktion überführen zu können. Vielmehr ist die Geschichte des Erfinders Keller ein Musterbeispiel für das notwendige Zusammenspiel von Erfindungsgeist und unternehmerischem bzw. kaufmännischem Geschick im Zeitalter der Industrialisierung. Keller musste nach eigenem Scheitern sein Patent zur modernen Papierherstellung dem Fabrikanten Heinrich Voelter (1817–1887) überlassen, der das Holzschliffverfahren dann gemeinsam mit Johann Matthäus Voith (1803–1874) weiterentwickelte und profitabel machte.22 Auch wenn das neue Papier eine schlechtere Qualität und eine deutlich geringere Haltbarkeit als die auf textiler Grundlage hergestellte Variante aufwies, besitzt die Erfindung von Friedrich Gottlob Keller eine eminente, kaum zu 21 Vgl. Wolfgang Schlieder, Der Erfinder des Holzschliffs Friedrich Gottlob Keller. Beiträge zu seinem Lebensbild aus Briefen, Leipzig 1977, S. 16–30; Jürgen Blechschmidt/Arnold Opherden, Technologie der Holzstofferzeugung, Leipzig 1985, S. 11–20. 22 Vgl. Adolf Benedello, Keller-Voelter. Die Einführung des Holzschliffs in der Papierindustrie, Hagen-Kabel 1957.

Medienproduktion und Medienrealität 

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überschätzende Bedeutung. Zum Einsatz kam das Holzschliffpapier vor allem beim Druck von Zeitungen und Zeitschriften, die in gewisser Weise ja auch als Gebrauchs- und Verbrauchsliteratur anzusehen sind und – anders als Bücher – nicht unbedingt für die Ewigkeit produziert werden mussten. Gleiches gilt für diverse Verpackungen, Kartone etc. Das Einbringen der Holzfaser in die Papierproduktion stellte eine eminente Ausweitung der Rohstoffbasis dar und ermöglichte die großindustrielle Herstellung sehr preiswerter Papiere. Dies wiederum war eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung der polygraphischen Industrie und der modernen Massenpresse, die mit arbeitsteiligen, mechanisierten Druckverfahren hergestellt wurde. Auf dieser Grundlage konnte sich die Anzahl der in Deutschland verlegten Buchtitel vom ersten bis zum letzten Jahrfünft des 19. Jahrhunderts von 20.264 auf 119.448 fast versechsfachen.23 Zeitungen, Generalanzeiger und einige Zeitschriften, vor allem Familienzeitschriften wie „Die Gartenlaube“ und die neu entstehenden Illustrierten,24 erreichten enorme Auflagenhöhen, sodass wir spätestens für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts von der Existenz einer Massenpresse sprechen können. Die Zahl der Buchhandlungen in Deutschland stieg von 887 im Jahr 1843 auf 3.375 im Jahr 1880. Und im Buchhandel war bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts der bislang geldlose Tauschhandel durch den sogenannten Kommissionshandel bzw. den Nettohandel ersetzt worden.25 Während in früherer Zeit der Begriff Buchhandel sowohl die Herstellung als auch den Vertrieb implizierte, setzte sich auch im graphischen Gewerbe eine arbeitsteilige Vorgehensweise durch. Buchdruck, Verlag und Handel wurden zunehmend voneinander getrennt, personell und organisatorisch. Und wenn dies auch kein einmaliger Akt, sondern ein längerer Entwicklungsprozess war, galten jene Akteure als besonders erfolgreich, die zu einer kapitalistischen, streng an den Bedürfnissen des Marktes ausgerichteten Tätigkeit fanden. Nunmehr verkaufte der Verleger seine Ware gegen Geld an den Buchhändler, der allerdings ein begrenztes Rückgaberecht besaß. Gesetze gegen den Nachdruck und die 23 Zu den diversen statistischen Angaben vgl. Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, München ³2011, S. 218–223, 258–262 u. 295 f. 24 Vgl. Björn Vahldiek, Propaganda und Unterhaltung. Wandel und Kontinuität in der Kriegsberichterstattung der Familienzeitschrift ‚Die Gartenlaube‘ (1853–1944), Bremen 2014, bes. S. 21–31; Natalia Igl/Julia Menzel (Hg.), Illustrierte Zeitschriften um 1900. Mediale Eigenlogik, Multimodalität und Metaisierung, Bielefeld 2016; Nina Reusch, Populäre Geschichte im Kaiserreich. Familienzeitschriften als Akteure der deutschen Geschichtskultur 1890–1913, Bielefeld 2015. 25 Vgl. Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels (wie Anm. 23), S. 126–129.

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Regelung des Urheberrechts – zunächst in Preußen, seit 1870 im Norddeutschen Bund und 1871 im gesamten Reich –, aber auch die allmähliche Durchsetzung der Gewerbefreiheit in den verschiedenen Sparten des Buch- und Pressewesens sorgten dafür, dass reichsweit einheitliche Rahmenbedingungen in der Branche herrschten.26 Dadurch konnten die Gewinnchancen der Unternehmer gesichert werden, was sie in die Lage versetzte, an die Autoren der Druckerzeugnisse bessere Honorare zu zahlen. Dies wiederum trug vor allem im Pressewesen zur Professionalisierung des Personals und zur Hebung der Qualitätsstandards bei.27 Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang es einigen, zum Teil neu gegründeten Buchdruckereien und Verlagen, in der Branche aufzusteigen und deutschlandweiten Erfolg zu erlangen. Zu jenen Unternehmen, deren Erzeugnisse weit über die Grenzen Thüringens gekauft und geschätzt wurden, zählen die Verlage Hermann Böhlau in Weimar und Gustav Fischer in Jena.28 Letzterer avancierte für die Bereiche Medizin und Naturwissenschaften, aber auch für juristische, staatswissenschaftliche und nationalökonomische Werke zu einer deutschlandweit führenden Adresse. Absolute Weltgeltung erlangten der bereits erwähnte „Stieler’s Handatlas“, aber auch diverse Spezialatlanten, Kartenwerke für den Schulgebrauch sowie geographische Periodika aus der „Geographischen Anstalt Justus Perthes“ in Gotha, wo am Ende des 19. Jahrhunderts rund 300 hoch qualifizierte Arbeitnehmer tätig waren.

3. Wirtschaft und Werbung

Die ostthüringische Stadt Pößneck zählt nicht zu den frühen und traditionsreichen Standorten des thüringischen Buchhandels. Der erste Buchdrucker in Person des aus Bayreuth stammenden Ernst Vogler hatte sich erst im 19. Jahrhundert dort niedergelassen und fand mit der Herstellung und dem Vertrieb des „Pößnecker Wochenblatts“ – Nachfolger der 1828 gegründeten, aber in Neustadt an der Orla gedruckten „Pößnecker wöchentlichen Nachrichten“ – 26 Ebd., S. 225 f. u. 258–260. 27 Vgl. Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Die Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995, S. 117–242. 28 Vgl. u. a. Gerd Schulz, Hundert Jahre Gustav Fischer Verlag. 1878, 1948, 1978. Verlagsgeschichte. Verzeichnis der seit 1948 in Stuttgart erschienenen Bücher und Zeitschriften, Stuttgart 1978.

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ein lediglich bescheidenes Auskommen.29 Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erfuhr der Buchdruck in Pößneck dann allerdings eine enorme Ausweitung,30 was ihn zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor der Stadt machte. Dies verdankte sich dem 1891 von Carl Gustav Vogel gegründeten Verlag, der vor allem mit diversen Fachzeitschriften reüssierte.31 Ausgehend vom Einstieg auf dem Zeitschriftenmarkt mit dem „Internationalen Briefmarkenoffertenblatt“, aus dem sich die Zeitschrift „Internationaler Postwertzeichen-Markt“ entwickelte, erweiterte Vogel die Palette seiner Periodika bis in die 1920er Jahre auf rund 20 Blätter. In dieser Zeit avancierte die Firma „C.G. Vogel, Verlag und Großdruckerei“ mit fast 1.000 Beschäftigten zu einem der modernsten Druckereibetriebe Deutschlands und Europas. Die Firma benötigte monatlich fast 200 Tonnen Papier, um ca. zweieinhalb Millionen Zeitschriftenexemplare mit einer bedruckten Seitenzahl von 78 Millionen herzustellen.32 Damit hatte die Produktion im graphischen Gewerbe großindustrielle Dimensionen angenommen, für die neben der Palette qualitätsvoller Erzeugnisse und den modernen technologischen Grundlagen für deren Fabrikation auch die Werbemaßnahmen Vogels und seine innovativen Marktstrategien als Voraussetzung gelten. Der ungeheure Markterfolg wird vor allem dem von Vogel eingeführten Streu- und Wechselversand zugeschrieben. Der Unternehmer versendete seine Fachzeitschriften mit jeweils umfänglichem Inseratenteil nicht nur an die eigentlichen Abonnenten, sondern – kostenfrei und nach einem ausgeklügelten System der Relevanz – auch an die Adressaten der Anzeigen. Die jeweils anvisierte Zielgruppe konnte dadurch fast vollständig erreicht werden. Vogels Geschäftsprinzip lautete, dass die von seiner Firma erbrachte Gegenleistung für die Kosten der Anzeigenwerbung nicht allein in deren Veröffentlichung bestand, sondern sich in einem konkret messbaren Erfolg (Anfragen, Bestellungen etc.) niederschlagen müsse.33 Hierfür betrieb er, ganz im Sinne des modernen Kundendienstes, einen beträchtlichen logistischen Aufwand.34 29 Vgl. Aus der Geschichte der Pößnecker Zeitung. Zugleich Streiflichter aus Pößnecks Stadtgeschichte, in: [Otto Tischendorf ], Gedenkbuch zur Erinnerung an das hundertjährige Bestehen der Pößnecker Zeitung. Im Januar 1928, Pößneck 1928, S. 4–14, hier S. 5 f. 30 Vgl. Fr. Hermann Hausotter, Geschichte der Stadt Pößneck, Pößneck 1902, S. 271 f. 31 Vgl. Paul Michligk, Der Vogel-Verlag Pößneck (Musterbetriebe deutscher Wirtschaft, Bd. 4: Der Fachzeitschriftenverlag), Berlin 1928. Michligk nennt 1895 als Gründungsjahr. Vgl. ebd., S. 8. 32 Ebd., S. 12 f. 33 Ebd., S. 7. 34 Ebd., S. 59 f.

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Dass auch in der Verlagsbranche die Frage des Vertriebs zunehmend an Bedeutung gewann, hatte sich im Übrigen schon einige Jahrzehnte zuvor bei Carl Joseph Meyer gezeigt. Denn während in der Frühen Neuzeit und bis ins beginnende 19. Jahrhundert hinein „Schriften aller Art durch wandernde, systematisch ganze Landstriche durchstreifende Hausierer“ feilgeboten wurden, dieses Prinzip des „Kolportage-Vertriebs“ aber vor allem bei populären Lesestoffen, Schreibkalendern und Gebrauchsliteratur Anwendung fand, hatte der Gründer des „Bibliographischen Instituts“ Carl Joseph Meyer „erstmals Kolporteure in großem Stile zum Direktvertrieb anspruchsvoller Erzeugnisse eingesetzt“.35 Damit konnten die soziale Reichweite erhöht und völlig neue Käuferschichten erreicht werden. Dies wiederum führte dazu, dass sich der Kolportagevertrieb zu einem eigenen Sektor des Buchhandels entwickelte.36 Die intensive Beschäftigung mit Fragen der Distribution bzw. des Vertriebs macht deutlich, dass sich industrielle Produktion in zunehmend stärkerem Maße an der Nachfrage des Marktes ausrichten, also marktwirtschaftlich organisiert werden musste. Um die potentiellen Kunden zu erreichen, musste man deren Bedürfnisse kennen. Zugleich versuchte man, neue Begierden und Bedürfnisse zu wecken, die Nützlichkeit und Qualität der eigenen Waren herauszustellen und alles möglichst weithin publik zu machen. Hier schließt sich wieder der Kreis zur Wirtschaftswerbung, die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorm an Bedeutung gewonnen hatte.37 Denn die 1860er und 1870er Jahre waren von einem enormen Wirtschaftswachstum gekennzeichnet, das nach den politischen Entscheidungen des Jahres 1866 nochmals eine deutliche Beschleunigung erfuhr und – nach einem kurzen Dämpfer durch den deutsch-französischen Krieg 1870/71 – in einen regelrechten Boom mündete. Der seit der Reichsgründung endgültig weitgehend homogene nationale Wirtschaftsraum bot beste Voraussetzungen für einen weiteren Aufschwung der Produktion, welcher auch die Konsumgüterherstellung erfasst hatte. Die Nachfrage war größer geworden, weil seit den 1850er Jahren auch die Nominallöhne und damit die Massenkaufkraft gestie-

35 Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels (wie Anm. 23), S. 271. 36 Vgl. ebd., S. 272 f. 37 Vgl. Kurt Schöning, Anzeigenwerbung. Eine Dokumentation, München 1975; Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993; Michael Kriegeskorte, 100 Jahre Werbung im Wandel. Eine Reise durch die deutsche Vergangenheit, Köln 1995.

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gen waren.38 Dies ging mit der Expansion der Presse und ihrem zunehmenden Bedeutungszuwachs einher. Selbstverständlich wirkte sich der wirtschaftliche Aufschwung auch positiv auf den Zeitungsverkauf aus. Schon in den 1870er Jahren wurden in Deutschland mehr Zeitungen gedruckt und gelesen als je zuvor. Es gab einen Gründungsboom, der seinen Höhepunkt in den 1880er Jahren erreichte. 1881 wurden in Deutschland 2.437 Zeitungen gezählt. Das ist eine Verdoppelung im Vergleich zum Jahre 1862. Die Daten für 1885 lassen eine weitere Erhöhung auf 3.069 erkennen. Nach einer kurzen Phase der Stagnation in den späten 1880er und frühen 1890er Jahren, für 1891 kennen wir 3.005 Zeitungen, stieg die Zahl der Tagesblätter bis zum Ende des Jahrhunderts nochmals leicht auf 3.405 im Jahr 1897 an. Dieses quantitative Wachstum war begleitet von einer weiteren lokalen Verbreitung und Verästelung des Zeitungswesens. Thüringen mit seiner dezentralen Struktur gilt auch für diese Zeit als eine Medienlandschaft großer Dichte und Vielfalt. Dies war natürlich auch den Zeitschriften geschuldet, deren Anzahl sich vor der Reichsgründung deutschlandweit auf mehr als 1.000 belief. Bis 1894 stieg die Gesamtzahl auf 3.766 und damit auf mehr als das Dreifache. Bereits ein knappes Jahrzehnt später markiert das Jahr 1902 mit 5.632 bibliographisch erfassten Zeitschriften einen Höhepunkt. Dann stagnierte das Zeitschriftenwesen quantitativ, doch vor dem Weltkrieg gibt es dann nochmals einen Anstieg. Für das Jahr 1913 schlägt die Zahl von 6.689 Zeitschriften zu Buche. Besonders erfolgreich waren dabei lange Zeit die Familienblätter, als deren Prototyp „Die Gartenlaube“ gilt, mit einer Auflagenhöhe von 382.000 bereits 1875. Und schließlich nahm am Ende des 19. Jahrhunderts mit der aktuellen Illustrierten ein neuer Zeitschriftentypus seinen Aufschwung, der die bislang beim Publikum sehr beliebten Familienzeitschriften zurückzudrängen begann. Bei den Illustrierten kam es in einer bislang nicht gekannten Intensität zum Einsatz des Mediums Bild und damit zu einer deutlich stärkeren Visualisierung der Presse. Dies wiederum war durch neue Techniken der Bildreproduktion möglich geworden. Zum Beispiel konnten mit der Netzätzung, einem chemigraphischen Verfahren der Autotypie, photographische Aufnahmen zerlegt und durch ein Rastersystem von Punkten wiedergegeben werden. Die als Bildträger benutzten Zink- und Kupferplatten wurden so verbessert, dass man sie auch beim Rotationsdruck einsetzen konnte. 38 Vgl. Hans-Werner Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland, München 1998, S. 33–39.

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Die auflagenstarke Zeitungs- und Zeitschriftenpresse war Teil des wirtschaftlichen Fortschritts, aber auch Medium der Wirtschaftswerbung.39 Mit dem ökonomischen Wachstum hatte sich deren Bedeutung in Gestalt des Anzeigenwesens weiter erhöht.40 Diese Tendenz hatte die „Gründerkrise“ zwar vorübergehend dämpfen, aber nicht zum Stehen bringen können. Anzeigenwerbung wurde für die Marktwirtschaft unerlässlich. „Der Motor der nicht geölt wird, läuft sich mit der Zeit fest. Genauso geht es mit dem Geschäft, das nicht durch Zeitungsanzeigen wirbt. Es verliert einen Kunden nach dem andern, die sich den Geschäften zuwenden, welche die Zeitungsanzeige als das beste und billigste Werbemittel erkannt haben. Denn was das Öl für den Motor ist, ist die Zeitungsanzeige für das Geschäft“,41 notierte hierzu Jahrzehnte später „Der Neustädter Kreisbote“ in Ostthüringen. Die Anzeige hatte die Aufgabe, über das Angebot von Gütern und Waren oder Dienstleistungen nicht nur zu informieren, sondern den Adressaten auch zum Kauf derselben zu bewegen. Um diese Funktion deutlich zu machen, spricht man auch von der Werbeanzeige.42 Sie galt alsbald als „Haupthebel der Konkurrenz“43 auf einem zunehmend freier werdenden Markt und hatte eine Vermittlungsfunktion zwischen den Produzenten und Verbrauchern. In einer Zeit wirtschaftlichen Wachstums tat sich ein großes Betätigungsfeld für die Presse auf, die der wichtigste Anzeigenträger war. Zeitungen wurden zu einem „Kuppelprodukt“, das den Platz für Anzeigen als Ware anbot. Den Anzeigenraum konnte die Wirtschaft mieten und nutzen. Absetzbar wurde dieser durch den Inhalt der Zeitung, also durch den redaktionellen Teil. Dabei waren die Annoncen nicht nur für die Wirtschaft von zunehmender Bedeutung, sondern auch für die Presse selbst. Der Erlös aus dem Anzeigengeschäft wurde zu einer wichtigen Einnahmequelle und veränderte die Kalkulationsgrundlagen des Zeitungsverlegers. Mitunter konnte der Verkaufspreis eines Blattes dadurch sogar gesenkt werden, was wiederum den Absatz ankurbelte und die 39 Vgl. Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing (wie Anm. 37). 40 Vgl. Peter Borscheid, Am Anfang war das Wort. Die Wirtschaftswerbung beginnt mit der Zeitungsannonce, in: ders./Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hans Jürgen Teuteberg, Stuttgart 1995, S. 20–43; Schöning, Anzeigenwerbung (wie Anm. 37). 41 Der Neustädter Kreisbote, Nr. 136 vom 14.06.1934, unpag. 42 Vgl. Sylvia Bendel, Werbeanzeigen von 1622–1798. Entstehung und Entwicklung einer Textsorte, Tübingen 1998, S. 14 f. 43 Ludwig Munzinger, Die Entwicklung des Inseratenwesens in den deutschen Zeitungen. Eine historisch-wirtschaftliche Studie als Beitrag zur Geschichte des Verkehrswesens, Heidelberg 1901, S. 89.

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Attraktivität für die Wirtschaft erhöhte. Für die in den 1880er Jahren etablierten „Generalanzeiger“, Prototypen einer neuen „Presse für alle“, war das Anzeigengeschäft sogar die wichtigste finanzielle Grundlage. Denn die primäre Eigenschaft, die den Generalanzeiger von der bisherigen Presse unterschied, war dessen vorrangige Finanzierung durch das Anzeigengeschäft. Jene Inserate, die wir bereits aus den thüringischen Intelligenzblättern des 18. Jahrhunderts kennen, bestehen fast ausschließlich aus kurzen Texten. Später wurde dann zunehmend auf ihre graphische Gestaltung Wert gelegt. Die Konkurrenz des freien Marktes erforderte ein intensives Ringen um die Aufmerksamkeit des Zeitungslesers als potentiellen Käufer des beworbenen Produkts. Der Phantasie der Werbefachleute und dem Einfallsreichtum der Künstler waren keine Grenzen gesetzt. So lässt sich die Anzeigenwerbung im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert auch in einer kunst- und kulturgeschichtlichen, alltagsgeschichtlichen oder mentalitätsgeschichtlichen Perspektive betrachten.44 Gezeigt werden kann außerdem, wie sich vor allem in den Illustrierten Zeitschriften, aber auch in der normalen Tagespresse der thüringischen Provinz eine regelrechte „Reklamekunst“ entwickelte.45 In erster Linie erscheinen uns die Anzeigen aber unter wirtschafts- und mediengeschichtlichen Aspekten von Interesse zu sein.

4. Industrialisierung und Industriekultur in den Medien

Als am Ende des 19. Jahrhunderts mit der „Illustrierten“ ein neuer Zeitschriftentypus seinen Aufstieg vollzog und den bis dato überaus beliebten Familienzeitschriften mehr und mehr den Rang ablief, knüpften diese an einen durchaus erfolgreichen Vorläufer an, der allerdings zunächst ein Einzelphänomen geblieben war. Die Rede ist von der seit dem 1. Juli 1843 in Leipzig erscheinenden „Illustrirten Zeitung“.46 Mit ihr begann für die Presse in Deutschland eine

44 Vgl. Rainer Gries/Volker Ilgen/Dirk Schindelbeck (Hg.), „Ins Gehirn der Masse kriechen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 1995. 45 Vgl. Helen Barr, Zwischen Reklamekunst und Kunstreklame. Anzeigen in Illustrierten Zeitschriften um 1910, in: Igl/Menzel (Hg.), Illustrierte Zeitschriften um 1900 (wie Anm. 24), S. 231–259. 46 Vgl. Wolfgang Weber, Johann Jakob Weber. Der Begründer des illustrierten Presse in Deutschland, Leipzig 2003, S. 48–53.

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neue Ära,47 war das Medium Bild im Wochenblatt des Herausgebers Johann Jakob Weber doch nicht mehr Beigabe, sondern gleichsam Programm. Und es ist von einigem Interesse, wie hier und in anderen Periodika in zunehmendem Maße die Phänomene Industrialisierung und Industriekultur abgebildet und damit widergespiegelt wurden. Denn in der „Illustrirten Zeitung“, deren Auflage nach einem halben Jahr bereits 7.500 betrug und sich – trotz zwischenzeitlicher finanzieller Probleme – bis 1846 auf 11.000 steigerte,48 tauchten sukzessive Motive auf, die das Maschinen- und Fabrikwesen sowie Industriegebäude u. Ä. zeigen. Einige dieser Abbildungen seien beispielhaft angeführt. Dabei liegt das Augenmerk nicht auf ihrer künstlerischen Ausführung, für die sich Weber seit etwa 1855 der Mitarbeit hervorragender Spezialzeichner verschiedenster Gebiete versicherte,49 sondern auf der Auswahl der Motive und der Art und Weise, in der die Realität der Industrialisierung und die damit verbundenen Phänomene dargestellt sind. Mit mehreren Abbildungen werden in der „Illustrirten Zeitung“ moderne Produktionsstätten, Maschinen, Industriegebäude und diverse technische Errungenschaften präsentiert. Dies gilt beispielsweise für mehrere Bilder einer Gasbereitungsanstalt in Paris, die sich im dritten Jahrgang des Blattes finden (Abb. 1).50 Während hier von der technischen Installation für die Gewinnung des wichtigen Energieträgers wenig zu sehen ist, wird die schwere körperliche Arbeit bei der Gasgewinnung aus Steinkohle gezeigt. Das Gas wurde nicht zuletzt für die Straßenbeleuchtung verwendet, die in Deutschland erstmals 1826 in den Städten Berlin und Hannover mit Gas erfolgte und sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Thüringen zu verbreiten begann. In einer Zeit, in der man sich in fast allen mittleren und größeren Städten Thüringens mit der Errichtung von Gasanstalten beschäftigte, insbesondere zum Zwecke einer modernen Straßenbeleuchtung, dürften die Abbildungen aus Paris von einigem Interesse gewesen sein. Eine ingenieurtechnische Meisterleistung erster Ordnung wurde mit der Eisenbahnbrücke über die Elbe zwischen Hamburg und Harburg 1872 gezeigt (Abb. 2).51 In dieser Zeit hatte das neue Verkehrsmittel seinen Siegeszug in Deutschland längst angetreten und erwies sich dabei noch immer als ein Motor 47 Grundsätzlich zum Bild-Text-Zusammenhang vgl. Erich Strassner, Text-Bild-Kommunikation. Bild-Text-Kommunikation, Tübingen 2002. 48 Weber, Johann Jakob Weber (wie Anm. 46), S. 48 u. 53. 49 Vgl. ebd., S. 73. 50 Illustrirte Zeitung, 1845, Bd. 5, H. 2, Nr. 108, S. 61. 51 Illustrirte Zeitung, 1872, Bd. 49, H. 2, Nr. 1531, S. 328.

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Abb. 1: Die Gasbereitungsanstalt zu Paris: Die Retortenhalle.

Abb. 2: Die neue Eisenbahn-Elbbrücke zwischen Hamburg und Harburg.

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der Industrialisierung. Ein beliebtes Motiv waren mehrfach auch Fabriken und andere Produktionsstätten, in denen sowohl die technische Ausstattung als auch die dort gefertigten Erzeugnisse präsentiert wurden. Dies gilt beispielsweise für das Burbacher Hüttenwerk bei Saarbrücken, von dem das Schweißwerk mit mehreren Personen bei schwerer körperlicher Arbeit (Abb. 3),52 aber auch die gesamte äußere Ansicht gezeigt wurde (Abb. 4).53 Große Hochöfen, die Gießhalle und die Gießerei sowie das bereits in der Innenansicht gezeigte Schweißwerk lassen sich hier ebenso erkennen wie die in unmittelbarer Nähe zu den Produktionsstätten errichteten Arbeiterwohnungen (links im Bild). Bemerkenswert sind die Schornsteine, die sich im 19. Jahrhundert auf vielen Gemälden und Zeichnungen finden lassen und gewissermaßen als Symbol der Industrialisierung galten. Den Eindruck des technischen Fortschritts, den man 1876 offensichtlich nur noch mit der besonders großen Anzahl von mehr als 40 rauchenden Schloten zu erzielen vermochte, erreichte man 1845 offensichtlich noch mit einem einzigen Exemplar (Abb. 5).54 Nicht nur große technische und wirtschaftliche Bedeutung, sondern auch beträchtliche symbolische Ausstrahlungskraft hatte zudem die Eisenbahn, von der sich Streckenverläufe, Tunnel und Viadukte als Abbildungen in den zeitgenössischen Periodika finden. Doch auch das technische Produkt selbst, etwa George Stephensons Prototyp einer Lokomotive, mit der seit 1825 zwischen Stockton und Shildon die erste öffentliche Eisenbahnstrecke der Welt betrieben wurde, findet sich in der „Illustrirten Zeitung“ (Abb. 6).55 Diese Darstellung eines technischen Meisterwerks korrespondiert mit der Tatsache, dass auch in anderen Medien die Bildsprache des Industriezeitalters traditionelle Darstellungs- und Rezeptionsgewohnheiten abzulösen begann. Ein eher willkürliches Beispiel ist hierfür eine Serie von Stadtansichten in Schreibkalendern des 19. Jahrhunderts. So finden sich in einer Serie dieser Mediengattung aus dem Verlag J. K. G. Wagner in den Jahren zwischen 1824 und 1840 unter anderem Ansichten der thüringischen Städte Neustadt an der Orla, Weida, Triptis, Ziegenrück und Ebersdorf. Sie alle haben in ihrem Arrangement noch eine gleichsam mittelalterliche Anmutung, mit noch vorhandenen oder angedeuteten Stadtmauern und den traditionell herausgehobenen Gebäuden wie Schlössern und Kirchen. In den zugehörigen Beschreibungen zur Geschichte 52 Illustrirte Zeitung, 1876, Bd. 67, H. 2, Nr. 1745, S. 491. 53 Ebd., S. 490. 54 Illustrirte Zeitung, 1845, Bd. 5, H. 2, Nr. 108, S. 60. 55 Illustrirte Zeitung, 1874, Bd. 62, H. 1, Nr. 1615, S. 457.

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Abb. 3: Das Burbacher Hüttenwerk bei Saarbrücken: Im Schweißwerk.

Abb. 4: Das Burbacher Hüttenwerk bei Saarbrücken: Äußere Ansicht.

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Abb. 5: Kleine Fabrik.

Abb. 6: George Stephenson’s Lokomotive auf der ersten, für den öffentlichen Verkehr bestimmten Eisenbahn von Stockton nach Darlington.

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des Ortes, zur Einwohnerzahl, zu den Schulen, Kirchen und weiteren markanten Gebäuden finden sich seit den 1840er Jahren auch Hinweise auf die Fabriken. Im „Kalender auf das Schaltjahr 1848“ schließlich wird zu Halle an der Saale im Textteil „ein ungefähres Gesammtbild der Stadt“ vermittelt, als Abbildung in ähnlicher Aufmachung und im vergleichbaren Format wie bei den Kalendern zuvor aber keine Stadtansicht, sondern die Detailansicht der neuesten städtebaulichen Errungenschaft, nämlich der „Bahnhof der Thüringer Eisenbahn in Halle“ (Abb. 7) verwendet.56 Auch hier soll die Lokomotive links im Bild als Symbol des Fortschritts gesehen werden.

5. Debatten über das „Maschinenzeitalter“

Dass es über die diversen Erfindungen und den technischen Fortschritt, über die sich entwickelnde Industrie sowie über Aspekte der Industriekultur und der sozialen Auswirkungen der industriellen Entwicklung, etwa den Pauperismus, in den Printmedien diverse Debatten gab, ist nicht neu und sei hier lediglich noch angedeutet. Dabei finden sich vielerlei Verknüpfungspunkte zwischen Medienproduktion und Medienrealität auf der einen und der Industrialisierung auf der anderen Seite. Dies gilt nicht zuletzt für einige Wortmeldungen zum Fabrik- bzw. Maschinenwesen, dem mancherlei Vorurteile entgegenschlugen. So hielt eine einschlägige, 1846 in Leipzig erschienene Schrift fest, dass „kein Vorurtheil […] unter allen Klassen des Volks, unter Hoch und Niedrig, unter Gelehrten und Ungelehrten weiter verbreitet [sei] als dasjenige, welches in dem Maschinenwesen und seiner ferneren Entwicklung ein Uebel erblickt und unberechenbares Unheil daraus weissagt“.57 Um dem entgegenzutreten, „die öffentliche Meinung in Deutschland […] aufzuklären“ und dadurch zum Abbau der „vielen und mannigfaltigen Vorurtheile“ gegenüber der „weiteren Entwicklung der industriellen Thätigkeit“ beizutragen, sollte eine „Reihe kleiner wohlfeiler Schriften über das Wesen und die Bedeutung der modernen Industrie, des sogenannten Fabrikwesens“58 56 Kalender auf das Schaltjahr 1848, Neustadt an der Orla, bei Johann Karl Gottfried Wagner, unpag. Vgl. Werner Greiling, Stadtansichten in Schreibkalendern als kultur- und kunstgeschichtliche Quelle, in: Bleibende Werte. Schlösser und Gärten. Denkmale einer Kulturlandschaft. Festschrift für Prof. Dr. Helmut-Eberhard Paulus, hg. von der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, Regensburg 2017, S. 233–244. 57 Das Maschinenwesen und die darüber verbreiteten Vorurtheile, Leipzig 1846, S. 9. 58 Ebd., S. 5.

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Abb. 7: Bahnhof der Thüringer Eisenbahn in Halle.

veröffentlicht werden. Als Referenztext wurde in dem anonym erschienenen Pamphlet das Werk von William Cooke Taylor über „Factories and the factory system“ angeführt und passagenweise auch zitiert.59 Argumentiert wurde mit der Notwendigkeit, „bei Herstellung alles dessen, was der Mensch zur Leibes Nahrung und Nothdurft, zum Bedürfnis, zur Bequemlichkeit, zum Genuß braucht, Arbeit zu ersparen“ bzw. „mit einem möglichst geringen Aufbrauch von Menschenarbeit alle genannten Güter in reichster Fülle hervorzubringen“.60 Exakt so habe menschlicher und gesellschaftlicher Fortschritt seit jeher funktioniert, lange vor dem Maschinenzeitalter. Neue Erfindungen und technische Entwicklungen hätten die Produktion jeweils nicht nur erleichtert und beschleunigt, sondern auch neue Bedürfnisse geweckt, neue Produkte hervorgebracht und dadurch wiederum auch neue Arbeitsplätze geschaffen. Anschaulich erläutert wird dies an der Geschichte der Baumwollmanufakturen, „da sie helles Licht auf die wahren Wirkungen des Maschinenwesens wirft und die eingebildeten Wirkungen desselben in ihrer Nichtigkeit darstellt“.61 Der Verfasser skizziert die Entwicklung von der Erfindung der Spinnmaschine bis 59 Vgl. William Cooke Taylor, Factories and the factory system. From the parliamentary documents and personal examination, London 1844. 60 Das Maschinenwesen (wie Anm. 57), S. 9 f. 61 Ebd., S. 20.

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hin zur Entfaltung eines riesigen Industriezweigs, in welchem vor allem durch die Verarbeitung von Baumwolle weit mehr Menschen Lohn und Brot finden würden als in Zeiten der ausschließlich handwerklichen Fertigung. Das zweite Beispiel, mit dem der Verfasser die angeblichen Nachteile des Maschinenwesens zu widerlegen versucht, ist der Buchdruck. Zwar habe die „Einführung der Buchdrucks einige tausend Abschreiber ihres Erwerbs beraubt“.62 Zugleich habe Gutenbergs Erfindung jedoch die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Bücher und andere Schriften preiswerter und in bislang nicht gekannter Menge produziert werden konnten. Vor allem aber habe sich beim Buchdruck von „vielen hunderttausend Exemplaren mittels der Schnellpresse die Anzahl der dabei wirkenden Arbeitskräfte ins Unendliche“ vervielfacht, „da nicht nur eine Menge Schriftsteller, Setzer, Schriftgießer, Drucker, Buchbinder, Papierfabrikanten, Maschinenbauer und Buchhändler etc. direct dadurch beschäftigt werden, sondern in zweiter Linie die Gewerke des Kohlen-, Eisen-, Kupfer-, Blei-, Zink etc. Bergbaues, die Oelfabrication und hundert andere Erwerbszweige ihren Vortheil und die Bedingung ihrer Existenz und Ausdehnung daraus ableiten, so daß sich in Wahrheit behaupten läßt, die Herstellung und der Vertrieb eines einzigen größeren Schriftwerkes gewähre heutzutage einer hundertfachen Anzahl von Menschen lohnenden Erwerb, als die war, welche sich zur Zeit der Erfindung der Buchdruckerkunst dadurch und großentheils nur vorübergehend in ihrem Erwerb beeinträchtigt gefunden hat.“63 Neben diesen Ausführungen, in denen vor allem auf positive ökonomische und soziale Aspekte des wirtschaftlichen Wandels verwiesen wird und die durchaus plausibel sind, führt der anonyme Autor noch eine zweite Begründung an, die für die Branche des herstellenden und verbreitenden Buchhandels gegenüber anderen Wirtschaftszweigen eine Besonderheit darstellt und im Kontext unserer Ausführungen noch besonders herausgestellt werden muss. Denn der Anonymus schreibt weiter: „Dabei ist die moralische Seite dieser Entwickelung nicht einmal in Anschlag gebracht worden, daß nämlich heutzutage für wenige Groschen jeder im Volk sich und den Seinigen Bildungsmittel verschaffen kann, die vor jener Erfindung nur den Reichsten zu erlangen möglich war und die von ihnen mit Gold aufgewogen werden mußten.“64 Zu den wirtschaftlichen Vorteilen der Mechanisierung komme beim Buchdruck 62 Ebd., S. 18. 63 Ebd., S. 19 f. 64 Ebd., S. 19.

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und Verlagswesen also auch noch ein Beitrag zur sittlichen und intellektuellen Entwicklung der Menschen hinzu. Diese besondere Bedeutung wird damit auch für das Zeitalter der Industrialisierung nochmals unterstrichen. Denn den Produkten der Buchdruckerpresse war auch im 19. Jahrhundert ein Doppelcharakter eigen – nämlich sowohl Handelsware als auch Kulturgut zu sein. Als Folge jeglicher technischer bzw. technologischer Verbesserungen in der Wirtschaft wird am Ende der Schrift eine Hebung des materiellen Wohlstands aller Menschen festgehalten, und zwar ausdrücklich auch der sozialen Unterschichten: „Sie werden allem bis dahin aufgehäuften Vorrath von Vermögen, Kenntnissen und Arbeit einen erhöhten Werth verleihen, den Kreis der lohnenden Arbeit mit Hülfe des gestiegenen Capitals in unberechenbarer Weise ausdehnen und bis in die tiefsten Schichten der Gesellschaft hinunter die Möglichkeit von Genüssen tragen, die bei dem dermaligen Stande der Mechanik und des Maschinenwesens nur den höheren Klassen zugänglich sind.“65 Derartige Schriften, mit denen verschiedene Aspekte des Maschinen- und Fabrikwesens erörtert, die Vorzüge des technologischen Fortschritts herausgestellt und Gründe für die gelegentlich aufflammende Maschinenstürmerei ad absurdum geführt werden sollten, sind zwar nicht übermäßig zahlreich, aber dennoch in mehreren Beispielen überliefert. Dabei setzte die Debatte in jenen Ländern, die Deutschland in der industriellen Entwicklung vorangingen, auch früher ein. In Deutschland hat man sich mitunter auf die ausländischen Autoren berufen oder sie sogar – wie oben gezeigt – ausführlich zitiert.66 Andere Publikationen wurden zeitnah ins Deutsche übertragen, beispielsweise eine der frühesten Analysen der Technologie und Organisation des Industriekapitalismus aus der Feder des englischen Mathematikers, Erfinders und politischen Ökonomen Charles Babbage.67 Das Werk „On the economy of machinery and manufactures“ erschien 1832 in London und wurde unter dem Titel „Ueber Maschinen- und Fabrikwesen“ bereits ein Jahr später in deutscher Übersetzung in Berlin herausgebracht.68 Das 1844 in Schaffhausen verlegte Traktat mit dem ausführlichen Titel „Das Fabrik- und Maschinen-Wesen oder der Einfluß des Fabrik- und Maschinenwesens auf die physischen, sittlichen, politischen und wirthschaftlichen Zu65 Ebd., S. 40. 66 Vgl. Taylor, Factories and the factory system (wie Anm. 59). 67 Vgl. Charles Babbage, On the economy of machinery and manufactures, London 1832. 68 Vgl. ders., Ueber Maschinen- und Fabrikwesen. Aus dem Englischen übersetzt von Gottfried Friedenberg. Mit einer Vorrede von Karl Friedrich von Klöden, Berlin 1833.

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stände des Völkerlebens“ ist ebenfalls dieser Debatte zuzuordnen. Der auch hier anonym gebliebene Verfasser konstatiert mit Respekt die gewaltigen, lange Zeit als undenkbar geltenden Leistungen, die in den Jahrzehnten zuvor durch menschlichen Geist, menschliche Arbeit, Naturkräfte und Kapital erbracht worden seinen. Zugleich hält er aber auch dagegen, dass die „eminent gesteigerte Produktionskraft“ und „die ihr folgende Produktion“ die Grundpfeiler der Verhältnisse in den Nationen zu erschüttern drohten.69 Zu den großen Problemen der Gegenwart zählt der Autor die Überbevölkerung in fast allen Staaten und die „Massen-Verarmung“, deren Hauptgrund „in der unrichtigen Vertheilung der erworbenen Reichthümer“ liege. Zwar sei die Tatsache eines steigenden Nationalreichtums nicht zu leugnen, doch sei zu kritisieren, „daß in Folge des jetzt herrschenden Prinzips dieses Steigen nur einzelnen Wenigen zu Gute kommt, während Tausende auf eine klägliche Art sich durchs Leben schlagen.“70 In der 157-seitigen Schrift werden in klarer Struktur zunächst die relevanten Phänomene wie Nation, Staat, Industrie, Fabrik- und Maschinenwesen, Nationalreichtum u. Ä. erörtert, um sodann die ökonomischen und sozialen Auswirkungen zu untersuchen, die von verschiedenen Seiten vorgebrachten Empfehlungen „zu Verbesserung des gefundenen Resultats“ kritisch zu hinterfragen,71 eine Gesamtanalyse der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Situation vorzunehmen und schließlich eigene „Vorbeugungsmittel“ zu deren Verbesserung in Vorschlag zu bringen.72

6. Resümee

Die Debatten über das Maschinenzeitalter und der Stolz auf den technischen Fortschritt, der sich in zahlreichen gedruckten Medien auch visuell offenbarte, korrespondiert mit dem Willen zur Bilanz und Leistungsschau. Dieser schlug sich auf den traditionellen Messen, vor allem aber in zahlreichen Gewerbe-

69 Das Fabrik- und Maschinen-Wesen oder der Einfluß des Fabrik- und Maschinenwesens auf die physischen, sittlichen, politischen und wirthschaftlichen Zustände des Völkerlebens, Schaffhausen 1844, S. VII. 70 Ebd., S. VIII. 71 Vgl. ebd., S. 79–91. 72 Vgl. ebd., S. 155 f.

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ausstellungen und in zehn Weltausstellungen nieder,73 die zwischen 1851 und 1900 an wechselnden Orten stattfanden. Sie waren Austragungsort des „globalen Modernitätswettbewerbs“ und erhoben seit der ersten Ausrichtung in London den Anspruch, „die Welt komprimiert in einem ‚Ausstellungsdorf‘ abzubilden, um auf dieser Basis einen virtuellen Besuch“ der Welt zu ermöglichen.74 Ihr Zusammenhang mit Medien und Öffentlichkeit sowie ihre Eigenschaft als Phänomene der Präsentation und Selbstreflexion bieten vielerlei Anknüpfungspunkte für unsere Thematik. Sie waren Medienereignis und Objekt medialer Inszenierung. Und selbstverständlich waren sie auch Gegenstand der Berichterstattung in Thüringen und Mitteldeutschland sowie Motiv visueller Präsentation. So wurde die 1876 in Philadelphia stattfindende sechste Weltausstellung, die zugleich die erste in der Neuen Welt war, in der „Illustrirten Zeitung“ mit der Zeichnung eines gewaltigen Turms bereits 1874 antizipiert (Abb. 8).75 Während die Weltausstellungen mit großem Echo bei Menschen und Medien „eine Bilanz des Bestehenden und Vorhandenen, des Gewollten und Erwünschten in einem den engen Rahmen des einzelnen Landes und der einzelnen Nation sprengenden Ausmaß“ darstellten, wurden in unterschiedlicher Weise und stets von Neuem auch nationale, territorialstaatliche bzw. regionale Bestandsaufnahmen und Leistungsschauen durchgeführt. Zur ersten Kategorie zählt die allgemeine Deutsche Gewerbe-Ausstellung von 1844 zu Berlin,76 zur zweiten eine Gewerbeausstellung in Dresden 184577 und zur dritten Kategorie zählen beispielsweise die thüringischen Gewerbeausstellungen. Deren erste fand 1853 in Gotha auf dem Friedenstein, die zweite 1861 im Weimarer Schießhaus statt.78 In Weimar wurden die zahlreichen Ausstellungsgegenstände in den sechs Gruppen „Rohstoffe und Materialwaaren“, „Maschinerien“, „Manufakturwaaren“, „Metall- und Irdenwaaren“, 73 Vgl. Christian Beutler (Hg.), Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, München 1973, S.  IV–X und S. XXVIII–XXXI; Winfried Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt am Main 1999. 74 Werner Telesko, Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 275–290, hier S. 275. 75 Illustrirte Zeitung, 1874, Bd. 62, H. 1, Nr. 1598, S. 125. 76 Vgl. Amtlicher Bericht über die allgemeine Deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin im Jahre 1844, Berlin 1845. 77 Friedrich Georg Wieck, Die Manufaktur- und Fabrikindustrie des Königreichs Sachsen. Bei Gelegenheit der Gewerbe-Ausstellung in Dresden im Jahre 1845, Leipzig 1845. 78 Die Weimarer Ausstellung von 1861 ist das Referenzereignis für das Ausstellungsprojekt Industriekultur 2018, das im Rahmen des Themenjahres „Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen“ von Juni bis September 2018 in Pößneck präsentiert wird.

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Abb. 8: Der Turm für die Weltausstellung 1876 in Philadelphia.

„Holz- und Steinfabrikate, kurze und gemischte Waaren“ sowie „Schöne Künste in Anwendung auf die Gewerbe“ präsentiert und mittels eines Katalogs beworben. Neben den Angaben zu den Exponaten informierte der Katalog auch über die Öffnungszeiten der breit gefächerten Leistungsschau und offerierte touristische Hinweise, zu denen selbst das Angebot eines „Kombitickets“ für den Eintritt in die Ausstellung und die Anreise mit der Eisenbahn zählte (Abb. 9).79 79 Katalog der zweiten allgemeinen thüringischen Gewerbe-Ausstellung zu Weimar im Jahre 1861. Nebst Uebersichtsplan und Geschäftsanzeiger, Weimar 1861.

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Abb. 9: Titelblatt des Ausstellungskatalogs.

Und schließlich gehören auch zeitgenössische Darstellungen wie die „Kulturgeographie“ Thüringens aus der Feder von Fritz Regel zu jenen publizistischen Medien, die die industrielle Entwicklung in der Region zu bilanzieren suchten und eine Art von Leistungsschau darstellen. Für „Das Buchgewerbe und verwandte Industriezweige“ wird in dem informationsreichen, 1896 bei Gustav Fischer in Jena erschienenen Standardwerk für die sechs Sparten Ver-

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lagsbuchhandel, Sortimentsbuchhandel, Druckereien (Werk-, Zeitungs- und Akzidenzdruck), polygraphisches Gewerbe (Holzschnitt, Lithographie, Notenstich, Kupferstich, Lichtdruck), photographisches Gewerbe sowie Buchbindergewerbe eine eindrucksvolle Leistungsbilanz gezogen.80 Die wirtschaftlich größte Bedeutung hatten die rund 400 Buchdruckereien überall in Thüringen, unter denen die Pierer’sche Hofbuchdruckerei in Altenburg mit einer Belegschaft von mehr als 100 Personen lange Zeit als die größte galt. Versucht man diese Ausführungen zu bündeln, fällt eine Reihe offener Fragen sowie Aufgaben für künftige Forschungen ins Auge, die sowohl empirische Desiderata als auch theoretische und methodologische Aspekte betreffen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige von ihnen abschließend genannt: • Von Interesse ist, welche technologischen Innovationen wann in welcher Druckerei bzw. in welchem Verlag in Thüringen zum Einsatz kamen. Zwar waren die Zahl der Druckorte in Thüringen bereits in der Frühen Neuzeit überproportional groß und das Produktionsaufkommen an Büchern und den verschiedenen Gattungen der Presse, insbesondere an Schreibkalendern und Zeitschriften, beachtlich. Die Kleinteiligkeit der Verhältnisse und die großteils handwerkliche Prägung der meisten Produktionsstätten schlugen hingegen negativ zu Buche. Es wäre also genauer zu untersuchen, wie und wann die neuen Maschinen und verbesserte Technologien im Druckgewerbe Thüringens Einzug hielten und wie es um die Konkurrenzfähigkeit bestellt war. • Zu fragen ist nach den Veränderungen der Berufsprofile und der Qualifikationsanforderungen an die Belegschaft beim Übergang von handwerklichen zu industriellen Produktionsformen. Dies gilt für jene Unternehmen mit einem hohen Maß an Spezialisierung wie die „Geographische Anstalt Justus Perthes“ in Gotha ebenso wie für moderne, aufgrund ihrer Größe aber dennoch sehr arbeitskraftintensive Druckereien wie die „Pierer’sche Hofbuchdruckerei“ in Altenburg. Dabei sind selbstverständlich auch die sozialen Auswirkungen dieser Vorgänge auf die Arbeitnehmer sowie die lebenswelt­ lichen Veränderungen von Interesse. • In den Fokus gerückt werden müssten die durchaus bedeutenden Papiermühlen in Thüringen und ihre Entwicklung nach Einführung des Holzschliffpapiers. Hierzu zählen die Frage des Zeitpunkts, an dem der Wandel 80 Vgl. Fritz Regel, Thüringen. Ein geographisches Handbuch. Dritter Teil: Kulturgeographie, Jena 1896, S. 252–257.

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zum Holzschliffpapier vollzogen wurde, sowie die ökonomische Bedeutung der Papierproduktion davor und danach. Systematisch und an Fallbeispielen sollten der Zusammenhang von Wirtschaft und Werbung sowie die Bedeutung von Produktwerbung für die Buchhandelsbranche beleuchtet werden. Da Werbeträger oft Printmedien waren, ist zu ermitteln, inwiefern sich hieraus neue Aufgaben für die Branche bzw. neue Aufträge ergaben. Ausführlich beleuchtet werden sollten die Reflexion der Industrialisierung in den Medien, nicht zuletzt im jeweiligen Bildteil, und die dabei vermittelte Deutung. Dies impliziert auch Fragen nach der Widerspiegelung sozialer Folgen der Industrialisierung. Zu erforschen ist, wo, wie und mit welchen Ergebnissen in Thüringen sich diese Veränderungen Bahn brachen. Im Zusammenhang mit der enormen Zunahme von Bildern in den Printmedien sind die dabei verwendeten Techniken (Bildgestaltung und Reproduktionsverfahren) ebenso zu betrachten wie die Frage nach Umfang und Profil des dadurch stimulierten bzw. initiierten (Zuliefer-)Gewerbes. Untersucht werden sollten die Bedingungen bzw. Voraussetzungen, unter denen einzelne Unternehmen in Thüringen zu Marktführern avancierten. Mit welchen (Spezial-)Produkten ist das gelungen? Dies sollte beispielsweise bei Firmen wie dem Bibliographischen Institut von Carl Joseph Meyer exemplarisch analysiert werden. Allen Aspekten staatlicher Wirtschaftspolitik in Thüringen muss das Augenmerk gelten, aber auch der wirtschaftlichen Tätigkeit des Staates etwa beim Eisenbahnbau sowie allen Facetten der Wirtschafts- und Handelsgesetzgebung. Und schließlich könnte man neben der Entwicklung der Medien im 19. Jahrhundert und der durch sie vermittelten Realität auch die enorm verbesserten Möglichkeiten der Kommunikation insgesamt in die Betrachtung einbeziehen.81 Wenn man darunter „alle Formen von Verkehr, Verbindung, Vermittlung und Verständigung“ begreift,82 geraten auch die Veränderungen zwischen Produzenten und Käufern, ihre Beziehungen auf dem Markt, die immense Verkürzung der ökonomischen Entfernung bei Massengütern und beim Personen-Massentransport durch die Dampfverkehrstechnik (Eisenbahn und Dampfschiff) sowie zahlreiche weitere Auswirkungen auf die

81 Vgl. Rolf Walter, Die Kommunikationsrevolution im 19. Jahrhundert und ihre Effekte auf Märkte und Preise, in: Michael North (Hg.), Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 179-190. 82 Harry Pross, Medienforschung. Film, Funk, Presse, Fernsehen, Darmstadt 1972, S. 19.

Medienproduktion und Medienrealität 

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Wirtschaft und auf die Marktbeziehungen in den Blick. Doch damit eröffnen sich nochmals völlig neue Perspektiven und ein eigenes Themenfeld zur Industrialisierung und Industriekultur im 19. Jahrhundert.

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Überlegungen zur Beschäftigung mit Industriekultur in Thüringen

Mit den aktuellen Veränderungsprozessen in Wirtschaft und Gesellschaft wurde die Beschäftigung mit Industriekultur in den letzten Jahren neu bewertet und hat dadurch eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Dieser Neubewertung liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Basis unseres hochentwickelten Industrielandes auch dessen Industriekultur ist. Sie steht heute nicht mehr nur für die Bewahrung von Wissen und Zeugnissen aus der Vergangenheit, deren Erforschung und Vermittlung, sondern auch für den Anspruch, die heutige Industriegesellschaft aktiv zu gestalten – mithin für die Auseinandersetzung mit der Kultur des Industriezeitalters in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.1 Statt wie noch in den 1990er Jahren Trostpflaster zu sein in einem Strukturwandel, der einherging mit dem Abbau von Industriearbeitsplätzen und dem Verlust von Arbeit, versteht man das Industriezeitalter vor dem Hintergrund einer weiterhin von industrieller Wertschöpfung getragenen Wirtschaft heute als eine nichtabgeschlossene Kulturepoche, die es weiterzuentwickeln 1 Wissenschaftlicher Beirat für Industriekultur in Sachsen am Zweckverband Sächsisches Industriemuseum (Hg.), Industriekultur in Sachsen. Handlungsempfehlungen des wissenschaftlichen Beirates für Industriekultur in Sachsen, Freiberg 2010; Land Nordrhein-Westfalen/Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)/Landschaftsverband Rheinland (LVR)/Regionalverband Ruhr (RVR)/Stadt Dortmund/Stadt Essen (Hg.), Industriekultur 2020. Positionen und Visionen für Nordrhein-Westfalen, Essen 2014; Sebastian Hettchen/Heidi Pinkepank/Lars Scharnholz (Hg.), Neue Industriekultur. Lausitzer Streitschrift zur Aktualisierung eines Begriffs, Cottbus 2016. Einen Überblick zu Schwerpunkten der Auseinandersetzung und Beschäftigung mit Industriekultur in den letzten 200 Jahren bieten Alexander Kierdorf/Uta Hassler, Denkmale des Industriezeitalters. Von der Geschichte des Umgangs mit Industriekultur, Tübingen/Berlin 2000. Um sich einer unnötigen Kulturdiskussion zu entziehen, empfiehlt sich die Orientierung an der Kulturdefinition der UNESCO, niedergelegt in UNESCO, Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik. Weltkonferenz über Kulturpolitik, Mexiko, 26. Juli bis 6. August 1982, Mexiko City 1982. Siehe http://www.unesco.de/infothek/dokumente/konferenzbeschluesse/erklaerung-von-mexiko.html (letzter Zugriff: 22.01.2018).

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gilt.2 Industriekultur hat sich zu einem weiter gefassten Begriff entwickelt, der es uns erlaubt, den Blick über die reinen Ingenieursleistungen oder die architektonisch-technischen Errungenschaften verstärkt auch auf die sozialen, ökologischen sowie globalen Folgen unseres Handelns zu richten, um aus der Auseinandersetzung damit Haltungen und Wertesysteme für unser künftiges Handeln abzuleiten.3 Neben die etablierten Vertreter aus Denkmalpflege, historischer Forschung oder den Museen sind in den letzten Jahren viele neue Akteure aus der Bürgergesellschaft, der Stadt- und Regionalentwicklung, der Wirtschaftsförderung, dem Tourismus oder der Kultur- und Kreativwirtschaft getreten. Nicht zuletzt durch die im Ruhrgebiet praktizierte Fokussierung auf die eigene Industriekultur mit dem vorläufigen Höhepunkt „Ruhr.2010 – Kulturhauptstadt Europas“ oder die Aktivitäten in Sachsen mit einem „Jahr der Industriekultur 2020“ in Verbindung mit einer Landesausstellung und natürlich dem Themenjahr „Industriekultur und soziale Bewegungen“ in Thüringen engagiert sich auch die Kulturpolitik im Feld der Industriekultur.4 All diese Gruppen bringen ihre Deutungen und Auslegungen sowie ihre Anspruchshaltungen und Aktivitäten in die Beschäftigung mit Industriekultur ein. Das Bild von Industriekultur ist somit facettenreicher geworden; das durch die damit verbundene Überbeanspruchung und Unschärfe des Begriffs erzeugte „Unbehagen mit der Industriekultur“ ist mangels konzeptioneller Schärfung allerdings bislang nicht bewältigt worden.5 Eine gewisse Orientierung bieten die in Sachsen (2010) und Nordrhein-Westfalen (2012) formulierten Perspek2 Wie schon einmal in den 1950er Jahren, als die Automatisierung die Arbeitswelt grundlegend verändert hat, stellt sich mit der Digitalisierung erneut die Sinnfrage nach der kulturellen Dimension dieser Entwicklung. Unter dem Eindruck des Wandels industrieller Arbeit durch die Automatisierung und einer bislang nicht gekannten Einsparung menschlicher Arbeitskraft entwickelte der Soziologe und Philosoph Hans Freyer (1887–1969) eine in den 1950er Jahren einflussreiche Theorie der Industriegesellschaft, in der er den Begriff Industriekultur im Sinne einer Kultur des modernen Industriezeitalters und der Industriegesellschaft nutzte. Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955. 3 Die Genossenschaftsidee – und deren Anerkennung als immaterielles Welterbe der Menschheit im Jahr 2016 – ist nur ein herausgehobenes Beispiel für kulturelle Leistungen der Industriegesellschaften, die unter Industriekultur subsumiert werden. 4 Oliver Scheytt, Kulturstaat Deutschland. Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik, Bielefeld 2008, S. 194–196. 5 Vgl. Berthold Bartel, Das Unbehagen in der Industriekultur, in: Forum Geschichtskultur Ruhr 1 (2008), S. 73–78 sowie Heinz Reif, „Industriekultur“ – Anmerkungen zu einem „unscharfen“ Begriff, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2008), S. 79–87.

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tiven und Handlungsfelder, die für Akteure in der gesamten Gesellschaft konkrete Tätigkeitsfelder aufzeigen.6 Eine zeitgemäße Beschäftigung mit Industriekultur widmet sich folgenden – im Idealfall aufeinander aufbauenden – drei Feldern: dem Bewahren und Erforschen, dem Erleben und Vermitteln sowie dem Gestalten und Weiterentwickeln. Schafft das Bewahren und Erforschen die notwendigen Wissensgrundlagen, kommt dem Erleben und Vermitteln eine Aktivierungsfunktion in der Gesellschaft zu, um letztlich zum Gestalten und Weiterentwickeln kommen zu können. Archivare, Denkmalpfleger, Industriearchäologen, Museologen und nicht zuletzt die Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaftler bewahren und erforschen die materiellen und immateriellen Hinterlassenschaften des Industriezeitalters, die Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Industriegesellschaft und setzen sich im intellektuellen Diskurs mit Industrialisierungsphänomenen auseinander.7 Diese Industriekulturforschung beinhaltet „die umfassende Geschichte des Industriezeitalters mit seinen typischen Lebens- und Gesellschaftsformen und den dazugehörigen Werthaltungen, […] die Geschichte und heutige Ausprägung der industriellen Kulturlandschaft“ sowie die „Industriedenkmalpflege, die ihre industriegeschichtlichen Objekte konservatorisch behandelt, ohne sie zu ästhetisieren.“8 Ziel des Erlebbarmachens und Vermittelns von Industriekultur ist es, Akzeptanz für das Thema zu schaffen und es auf möglichst breiter Basis in der Gesellschaft zu verankern. Dabei erfordert die Vermittlung des industriekulturellen Erbes aufgrund seines hohen Erklärungsbedarfs besondere Anstren6 Wissenschaftlicher Beirat für Industriekultur in Sachsen am Zweckverband Sächsisches Industriemuseum (Hg.), Industriekultur (wie Anm. 1). Download unter www.industriekultur-in-sachsen.de/informieren/wissensportal/publikationen/details/industriekultur-in-sachsen-2/ (letzter Zugriff: 18.1.2018) sowie Land Nordrhein-Westfalen/Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)/Landschaftsverband Rheinland (LVR)/Regionalverband Ruhr (RVR)/Stadt Dortmund/Stadt Essen (Hg.), Industriekultur (wie Anm. 1), S. 256–258. Download unter www.industriekultur-nrw.de/de_DE/ charta-industriekultur-nrw-2020 (letzter Zugriff: 18.1.2018). 7 Helmuth Albrecht, Einleitung, in: Wissenschaftlicher Beirat für Industriekultur in Sachsen am Zweckverband Sächsisches Industriemuseum (Hg.), Industriekultur (wie Anm. 1), S. 4. 8 Klaus Pirke, Industriekultur und ihre Bedeutung für gesellschaftlich-planerische Prozesse am Beispiel der Erhebung von industriekulturellen Potenzialen: Plädoyer für eine Angewandte Industriekulturforschung in der Region, in: Mitteilungen des Instituts für soziale Bewegungen 44 (2010), S. 171–186, hier S. 177.

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gungen. Zur Ressource wird Industriekultur bei der Entwicklung touristischer Angebote. Das Spektrum reicht hierbei von der „Route der Industriekultur“ in Nordrhein-Westfalen bis hin zur „ENERGIE-Route“ in der Lausitz. Als beispielhaft gilt auch die Umnutzung des Gasometers in Leipzig durch den Künstler Yadegar Asisi zum sogenannten Panometer. Allgemein kritisch wird in diesem Zusammenhang die temporäre Nutzung industriekultureller Orte als reine Kulisse für beliebige Kulturangebote ohne eine auf deren Erhalt und nachhaltige Nutzung zielende Wirkung gesehen.9 Orte der Industriekultur werden zunehmend auch als außerschulische Lernorte genutzt. Mit entsprechenden Vermittlungsangeboten wird versucht, dem allgemein beklagten Fachkräfte- und Ingenieursmangel entgegenzutreten – beispielhaft sei auf die VDI-GaraGe in Leipzig verwiesen. Sehr erfolgreiche Formate, die zwischen Wirtschaft und Gesellschaft vermitteln, sind die verschiedenenorts durchgeführten Tage der Industriekultur. Diese mittlerweile zu festen Terminen im Kalenderjahr im Ruhrgebiet, in der Region Rhein-Main, in Leipzig, aber auch anderswo stattfindenden Veranstaltungen an industriekulturellen Orten und in aktiven Unternehmen tragen auch zur Industrieakzeptanz bei und schaffen durch die Einbindung des Umlandes eine Identifizierung mit den jeweiligen Wirtschaftsregionen. Wie wichtig das bürgerschaftliche Engagement als Nukleus für die Entwicklung konkreter industriekultureller Angebote ist, zeigt der Blick auf die Ursprung vieler Tage der Industriekultur: Diese liegen häufig im Wiederentdecken und Vermitteln von Industriedenkmalen durch architektur- und denkmalinteressierte Bürger, die mit ihrem Engagement erst die für das Thema notwendige Öffentlichkeit und kritische Masse hergestellt haben. Die aktive Auseinandersetzung mit aktuellen Aufgaben in unserer Industriegesellschaft wird unter das Gestalten und Weiterentwickeln gefasst. Nach rund drei Jahrzehnten intensiver Auseinandersetzung mit dem Erbe des Industriezeitalters im letzten großen Strukturwandel, der Beseitigung von Umweltschäden oder dem Stadt- und Landschaftsumbau konzentriert sich dieses Gestalten derzeit auf neue Formen der Arbeit und eine teilweise Rückkehr wertschöpfen9 Die verschiedenen Beispiele hier und im Folgenden sind einfach recherchierbar, daher wird auf die Verweise zu den entsprechenden Internetseiten verzichtet. Exemplarisch sei auf die Seite www.industriekultur-in-sachsen.de (letzter Zugriff: 22.1.0218) verwiesen, auf der zu den meisten der hier angeführten Beispiele weitere Informationen zu finden sind. Zu Fragen des Umgangs mit und der Nutzung von Industriedenkmalen siehe Heike Oevermann/Harald A. Mieg (Hg.), Industrial Heritage Sites in Transformation. Clash of Discourses, New York/ London 2015.

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der Arbeit in die Städte. Aber auch die derzeit lebhaft geführte Diskussion um das Grundeinkommen gehört zu einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit Gegenwart und Zukunft unserer Industriegesellschaft. Auch in Thüringen nimmt das Interesse an Industriekultur spürbar zu, setzen sich verschiedene Akteure mit Industriekultur auseinander und tragen den Einstellungswandel, der zur Neubewertung von Industriekultur geführt hat, mit. Allerdings ist das Thema Industriekultur hier bislang nur wenig verankert und in der Breite noch immer eher negativ als positiv besetzt. Auch kann der Erlebniswert industriekultureller Orte in Thüringen gegenüber bestehenden Angeboten dieser reichen und alten Kulturlandschaft kaum bestehen. Da nur wenige dieser Orte die notwendigen touristischen Standards erfüllen – u. a. aufgrund der begrenzten Leistungsfähigkeit der Akteure –, sind sie zumeist auch nur einer kleinen Gruppe interessierter Fachleute bekannt. Jedoch ist die gemeinsame Kultur- und Wirtschaftsgeschichte gerade in Thüringen identitätsstiftend und eine wichtige Klammer für eine gemeinsame Landesidentität über historische Binnengrenzen hinweg. Thüringen versteht sich heute zugleich als Kulturland und innovative Industrieregion. Die derzeitige Landesregierung will dynamisches und umweltverträgliches Wirtschaftswachstum verbinden, neue attraktive Arbeitsplätze schaffen und die Innovationskraft der Thüringer Wirtschaft stärken.10 Das Bewusstmachen der eigenen Industriekultur und deren Vermittlung kann eine notwendige Basis für die Entwicklung zu einer wissensbasierten, ressourcenschonenden Ökonomie schaffen. Auch die Einmaligkeit und Authentizität vieler industriekultureller Orte spricht dafür, sich intensiver und zielgerichteter mit dem Thema Industriekultur in Thüringen zu beschäftigen und Orte mit ihren Geschichten als Ressource für die Bildung und das Erleben nutzbar zu machen. Thüringen kann zudem eine Lücke im Bereich der Industriekulturforschung schließen. Bislang konzentriert sich diese in Deutschland überwiegend auf das Ruhrgebiet mit seiner Großindustrie sowie auf die Großstädte. Der sogenannte ländliche Raum – insbesondere die bereits vor dem Industriezeitalter gewerblich geprägten Mittelgebirgsregionen – mit einer von kleinen und mittleren Unternehmen geprägten Struktur ist bislang kaum erforscht. Dabei sind es gerade diese enorm wandlungs- und innovationsfähigen sowie in Krisenzeiten robusten Strukturen, die das Industrieland Deutschland ausmachen. Aus diesem Grund eignet sich das Ruhrgebiet auch nur bedingt als Referenz10 Vgl. www.thueringen.de/th6/tmwwdg/wirtschaft/ThemenStrategien/index.aspx (letzter Zugriff: 18.1.2018)

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rahmen für Thüringer Aktivitäten – nichtsdestotrotz kann man insbesondere vom hohen Grad der Vernetzung und Kooperation der verschiedenen Akteure im Ruhrgebiet durchaus lernen. Statt nun einen aufholenden Prozess zu starten, sollte Thüringen den Schritt nach vorn wagen. Natürlich müssen Grundlagen erst geschaffen werden, jedoch kann dabei auf den Erfahrungen anderer Regionen aufgebaut und mit den unmittelbaren Nachbarregionen – beispielsweise über die Projektgruppe Industriekultur bei der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland – kooperiert werden. So braucht hier keine grundlegende Neuverhandlung der oben skizzierten Neubewertung von Industriekultur und der damit verbundenen Haltungen mehr geführt werden.11 Der Blick auf andere Regionen zeigt, dass für den Aufbau wirksamer Strukturen und Angebote ein größerer Zeithorizont einzuplanen ist. Der Anfang ist gemacht und es bleibt zu wünschen, dass das Thüringer Themenjahr „Industriekultur und soziale Bewegungen“ 2018 mit seiner Leitausstellung in Pößneck und einem vielfältigen Rahmenprogramm weitere Impulse für eine nachhaltige Beschäftigung mit Industriekultur setzt.

Maßnahmenkatalog

1. Haltung entwickeln: Verabschieden vom „traditionellen“ Industriekulturbegriff, der die Trauerarbeit beinhaltet hat und Verlusterfahrung kompensieren half. Der im Jahr 2017 in Thüringen begonnene Dialog in der Gesellschaft sollte fortgesetzt, gemeinsame Ziele für Thüringen – im Sinne eines Handlungsleitfadens – sollten abgestimmt werden. 2. Wissensgrundlagen schaffen: Relevante Themen, Orte und Erzählungen, aber auch Alleinstellungsmerkmale sind in Thüringen zu identifizieren, zu beschreiben und zu vermitteln. Die vorindustrielle Zeit sollte unbedingt mit einbezogen werden. Anknüpfungspunkte zu überregionalen Themen sollten gefunden werden, denn diese vernetzen Thüringen mit der europäischen Industriekultur. 11 Siehe die Dokumentation „Symposium zur Industriekultur in Thüringen“ am 12./13.6.2017 in Arnstadt. Download unter www.industriekultur-in-sachsen.de/informieren/wissensportal/ publikationen/details/industriekultur-in-thueringen (letzter Zugriff: 18.1.2018).

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3. Strukturen schaffen und professionalisieren: Bestehende Strukturen sind zu vernetzen und insgesamt zu stärken. Hierfür bedarf es einer Netzwerkstelle, aber auch interdisziplinärer Kooperation und Wissensaustausch. Akteure aus der Bürgergesellschaft sind wichtig, aber nicht unbegrenzt leistungsfähig. Sie benötigen Unterstützung durch ein starkes Netzwerk, aber auch geeignete Förderinstrumente. 4. Schaffen von qualitätvollen Angeboten und Erlebnissen: Wissen muss zielgruppengerecht aufbereitet und vermittelt werden, das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche. Qualitative Erlebnis- und Bildungsangebote sind zu schaffen, ebenso touristische Standards.

Literatur Berthold Bartel, Das Unbehagen in der Industriekultur, in: Forum Geschichtskultur Ruhr 1 (2008), S. 73–78. Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955. Sebastian Hettchen/Heidi Pinkepank/Lars Scharnholz (Hg.), Neue Industriekultur. Lausitzer Streitschrift zur Aktualisierung eines Begriffs, Cottbus 2016. Alexander Kierdorf/Uta Hassler, Denkmale des Industriezeitalters. Von der Geschichte des Umgangs mit Industriekultur, Tübingen/Berlin 2000. Land Nordrhein-Westfalen/Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)/Landschaftsverband Rheinland (LVR)/Regionalverband Ruhr (RVR)/Stadt Dortmund/Stadt Essen (Hg.), Industriekultur 2020. Positionen und Visionen für Nordrhein-Westfalen, Essen 2014. Heike Oevermann/Harald A. Mieg (Hg.), Industrial Heritage Sites in Transformation. Clash of Discourses, New York/London 2015. Klaus Pirke, Industriekultur und ihre Bedeutung für gesellschaftlich-planerische Prozesse am Beispiel der Erhebung von industriekulturellen Potenzialen: Plädoyer für eine Angewandte Industriekulturforschung in der Region, in: Mitteilungen des Instituts für soziale Bewegungen 44 (2010), S. 171–186. Heinz Reif, „Industriekultur“ – Anmerkungen zu einem „unscharfen“ Begriff, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2008), S. 79–87. Oliver Scheytt, Kulturstaat Deutschland. Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik, Bielefeld 2008. UNESCO, Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik. Weltkonferenz über Kulturpolitik, Mexiko, 26. Juli bis 6. August 1982, Mexiko City 1982. Wissenschaftlicher Beirat für Industriekultur in Sachsen am Zweckverband Sächsisches Industriemuseum (Hg.), Industriekultur in Sachsen. Handlungsempfehlungen des wissenschaftlichen Beirates für Industriekultur in Sachsen, Freiberg 2010.

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Ortsregister Aachen 49, 63 Altenburg 8, 111 f., 142, 167 Amsterdam 124, 143 Apolda 135 Arnstadt 84, 176 Augsburg 24 Bad Blankenburg 10 Bad Köstritz 75 Barcelona 100 f., 104, 106 Bautzen 71, 73 Bayreuth 148 Berlin 63, 89, 120, 154, 162, 164 Bibra 61 Bielefeld 31 Bottendorf 67 Bremen 63, 84 Brückla 60 Budapest 123 Burbach 156 f. Camburg 58 f. Chemnitz 42, 106 Coburg 72, 142 Cospeda 72 Cromford 22 Darlington 158 Darmstadt 52, 84 Debschwitz 122 Dortmund 63 Dresden 71, 164 Dux 121 Ebersdorf 156 Edinburgh 30 Eisenach 8, 44, 71, 111, 131 f. Eisenberg 59 Erfurt 42, 45–47, 52 f., 58, 60, 67, 71 f., 80, 85, 87, 132, 142 Essen 138 Esslingen 63

Frankfurt am Main 47, 50, 63, 81 f., 84 Gera 12, 44, 63 f., 74, 88 f., 101, 104, 106, 112–114, 118, 120, 122–124, 126, 128 f. Gießen 119 Girard 123 Glasgow 21 Göttingen 135 Gotha 8, 44 f., 83, 132, 142 f., 148, 164, 167 Greiz 38, 49, 60, 63 f., 73–75, 101, 104, 106, 112–114, 119, 121, 124 Halle an der Saale 132, 159 f. Hamburg 63, 154 f. Hannover 34, 154 Harburg 154 f. Heldrungen 67 Hildburghausen 44, 143 Hindfeld 72 Höchst 50 Hohenölsen 60 Igualada 105 Jena 8, 38 f., 46, 48, 59, 72, 111, 119, 128 f., 142, 144, 148, 166 Jüchsen 72 Karlsbad 83 Karlsruhe 52 Kassel 135 f. Keilhau 119 Königshain 61 Kolba 75 Kospoda 122, 126–128 Krefeld 63 Langensalza 44, 59 Lauscha 52 Leipzig 60, 63, 71, 121, 144, 153, 159, 173 f.

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Register

Loeboek Soelassi 123 London 18, 29 f., 45, 162, 164 Lüttich 50 Lunzig 60 Machern 60 Mailand 101 Mainz 50 Manchester 42 Meiningen 47, 72, 86, 135 Merseburg 57 f. Morogoro 123 Mühlhausen 101, 106, 135, 142 Mühlheim an der Ruhr 63 München 123 f. Naumburg 59 Neuhaus-Schierschnitz 44 Neunhofen 75 Neustadt an der Orla 71, 112, 122, 144, 148, 156 New York 143 Oberneubrunn 58 Offenbach 50 Oldisleben 67, 70 Paris 154 f. Passaic 121 Pausa 75 Pforzheim 63 Philadelphia 143, 164 f. Pößneck 10, 112, 148 f., 164, 176 Querfurt 57 Römhild 72 Ruhla 12, 39, 48, 131–136, 139 f.

Saarbrücken 156 f. Sabadell 105 Sand 135 Sangerhausen 67 Schaffhausen 162 Schleusingen 142 Schmalkalden 142 Schweidnitz 63, 74 Seebach 135 Shildon 156 Sömmerda 38, 45, 111 Sonneberg 42, 45, 47, 52, 58 Spindlersfelde 120 Steinsdorf 75 Stockton 156, 158 Stützengrün 60 Stuttgart 63 Terrassa 105 Triptis 156 Tübingen 82 Waltershausen 135 Wanzleben 66 Wasungen 60 Weida 156 Weimar 45, 60, 71, 142, 144, 148, 164 Wien 61, 80, 83 Wiesbaden 119 Zeulenroda 112 Ziegenrück 156 Zittau 63 f., 71 Zoppoten 60 Zwickau 49, 71, 73



Personenregister Abbe, Ernst 111 Aristoteles 27 Arkwright, Richard 21 f., 28 Arnold, Christian Friedrich 113 Arnold, Ernst 113 Arnold, Ferdinand 113 Arnold, Louise Wilhelmine → Hirsch, Louise Wilhelmine Arnold, Paul 113 Arnoldi, Ernst Wilhelm 44, 83 Asisi, Yadegar 174 Babbage, Charles 162 Bardenheuer, Christian 133 f. Bauer, Anna Louise Margarete 114 Bauer, Walther Robert 114, 116 Bechstein, Ludwig 86 Bertuch, Friedrich Justin 142–144 Carl August, Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach 42 Dinter, Gustav Friedrich 144 Dreyse, Nikolaus 38, 45 Dürninger, Abraham 74

Hirsch, Clara Alwine Louise → Ramminger, Clara Alwine Louise Hirsch, Hans Georg Louis 114 Hirsch, Johann Karl Georg 12, 112–114, 118–129 Hirsch, Louise Wilhelmine 113, 122 Hirsch, Marie Ottilie → Ruckdeschel, Marie Ottilie Keller, Friedrich Gottlob 146 Kenlein, A. 119 Kretschmer, Ernst Paul 112 Launhardt, Wilhelm 28, 34 Lenbach, Franz von 127 f. Liebig, Justus 67, 119 Linck, Gottlob Eduard 119 List, Friedrich 40, 44, 82, 87, 91 Löhlein, Walther 119 Lucius, Sebastian 42 Martens, Georg Friedrich von 83 Marx, Karl 20, 64 Meyer, Carl Joseph 44, 143, 150, 168 Morus, Thomas 64

Ferber, Alfred 114 Ferber, Moritz Rudolph 114, 116 Fresenius, Carl Remigius 119 Fröbel, Friedrich 119

Nürmberger, Carl Christoph 88

Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen 52 Gothein, Eberhard 58 Gutenberg, Johannes 145, 161

Perthes, Friedrich Christoph 142 Perthes, Johann Georg Justus 142

Hargreaves, James 22 Hendrich, Franz Josias von 83 Hensoldt, Moritz 45 Hirsch, Anna Elisabeth 114 Hirsch, Anna Louise Margarete → Bauer, Anna Louise Margarete Hirsch, Carl Louis 113, 120

Oestreich, Gerhard 68 Ostenrieder, Max 127 f.

Ramminger, Clara Alwine Louise 113 Ramminger, Max 113 Regel, Fritz 166 Reichard, Christian Gottlieb 142 Reichhard, Ferdinand 114 Riehl, Wilhelm Heinrich 58 Ruckdeschel, Eugen 114 Ruckdeschel, Marie Ottilie 113

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Register

Schlick, Anna Elisabeth → Hirsch, Anna Elisabeth Schlick, Luis Theodor 114 Schmidt, Rudolf 126–128 Schott, Otto 111 Seidl, Gabriel von 127 f. Smith, Adam 18, 20 f., 24, 29 f., 87 Steinacker, Karl 86 Stephenson, George 156, 158 Stieler, Adolf 142 Strupp, Meyer 47 Taylor, William Cooke 160 Thiel, Christian 134 f. Thiel, Georg 134 Thon, Gustav 89 Toynbee, Arnold 15, 26, 30

Voelter, Heinrich 146 Vogel, Carl Gustav 149 Vogler, Ernst 148 Voith, Johann Matthäus 146 Wagner, Johann Karl Gottfried 144 Watt, James 21 Weber, Alfred 25 Weber, Ernst 44 Weber, Johann Jakob 154 Weber, Max 68, 127 Weißflog, Ernst Friedrich 114, 116 Zeiss, Carl 111

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber Prof. Dr. Reiner Flik Dozent für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an Fachhochschulen im Raum Stuttgart und an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg PD Dr. Stefan Gerber Leiter der Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Werner Greiling Professor für Geschichte der Neuzeit am Historischen Institut der FriedrichSchiller-Universität Jena Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Emeritierter Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Marko Kreutzmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen des DFG-Projektes: „Gesellschaftliche Erwartungen und bürokratische Experten: Die Kommissionen und Ausschüsse des Deutschen Bundes als Foren politischer Aushandlungsprozesse (1816–1848)“ Prof. Dr. Dirk Schaal Leiter des Arbeitskreises „Technik und Industriekultur“ an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig Prof. Dr. Uwe Schirmer Inhaber der Professur für Thüringische Landesgeschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Jürgen Schreiber Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

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Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

Ronny Schwalbe Kulturamtsleiter der Stadt Neustadt an der Orla Dr. Marco Swiniartzki Projektmitarbeiter Thüringer Themenjahr „Industrialisierung, Industriekultur und soziale Bewegungen“ 2018 an der Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens