Sakralität von Herrschaft: Herrschaftslegitmierung im Wandel der Zeiten und Räume [Reprint 2015 ed.] 9783050079950, 9783050036601

Zu allen Zeiten und an allen Orten sind die Herrscher mit dem Numinosen in Verbindung gebracht worden: sei es, dass sie

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German Pages 289 [296] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume. Versuch eines Überblicks
Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell
Die Göttlichkeit des Pharao. Sakralität von Herrschaft und Herrschaftslegitimierung im alten Ägypten
Vom göttlichen Wesen des Königtums und seinem Ursprung im Himmel
Den Göttern nahe - und fern den Menschen? Formen der Sakralität des altmesopotamischen Herrschers
Der König als Tempelbauer. Anmerkungen zur sakralen Legitimation von Herrschaft im Alten Testament
Kaiser und Gott auf römischen Fora
Sakralität und Priestertum des byzantinischen Kaisers
Herrschaftslegitimierung im Wandel. Die letzten Jahre Kaiser Heinrichs IV. im Spiegel seiner Urkunden
Der König: Herr von allem
Sakrale „Umbrüche“ am Beispiel von Orissa
„I am all the same as god.“ Königliche Körper und Menschenopfer in drei westafrikanischen Staaten (18.-19. Jahrhundert)
Staatsgewalt in Staatsgestalt - Massenmedien und Herrschaft im 20. Jahrhundert
Sakrales im Säkularen? Elemente politischer Religion im Nationalsozialismus
Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers
Anhang
Abbildungen zum Beitrag
Abbildungen zum Beitrag
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Sakralität von Herrschaft: Herrschaftslegitmierung im Wandel der Zeiten und Räume [Reprint 2015 ed.]
 9783050079950, 9783050036601

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Franz-Reiner Erkens (Hg.)

Die Sakralität von Herrschaft

Die Sakralität von Herrschaft Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen

Herausgegeben

von F r a n z - R e i n e r

Akademie

Verlag

Erkens

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fur diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-05-003660-5

©Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: BARLO FOTOGRAFIK (Tobias Schneider), Berlin Druck: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

FRANZ-REINER ERKENS

Vorwort FRANZ-REINER ERKENS

Einleitung FRANZ-REINER ERKENS

Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume. Versuch eines Überblicks BERNHARD STRECK

Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell ELKE BLUMENTHAL

Die Göttlichkeit des Pharao. Sakralität von Herrschaft und Herrschaftslegitimierung im alten Ägypten CLAUS WILCKE

Vom göttlichen Wesen des Königtums und seinem Ursprung im Himmel WALTHER SALLABERGER

Den Göttern nahe - und fern den Menschen? Formen der Sakralität des altmesopotamischen Herrschers RÜDIGER LUX

Der König als Tempelbauer. Anmerkungen zur sakralen Legitimation von Herrschaft im Alten Testament

HANS-ULRICH CAIN

Kaiser und Gott auf römischen Fora

123

KLAUS-PETER MATSCHKE

Sakralität und Priestertum des byzantinischen Kaisers

143

BERND SCHÜTTE

Herrschaftslegitimierung im Wandel. Die letzten Jahre Kaiser Heinrichs IV. im Spiegel seiner Urkunden

165

BERNHARD KÖLVER (F)

Der König: Herr von allem

181

HEIKO FRESE

Sakrale „Umbrüche" am Beispiel von Orissa

187

ADAM JONES

„I am all the same as god." Königliche Körper und Menschenopfer in drei westafrikanischen Staaten (18.-19. Jahrhundert)

201

JOACHIM-FELIX LEONHARD

Staatsgewalt in Staatsgestalt - Massenmedien und Herrschaft im 20. Jahrhundert

213

ULRICH VON HEHL

Sakrales im Säkularen? Elemente politischer Religion im Nationalsozialismus

225

HUBERT SEIWERT

Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers

245

Anhang Abbildungen zum Beitrag von E. Blumenthal

269

Abbildungen zum Beitrag von H.-U. Cain

275

Vorwort

Scheinbar überholte Strukturen - wie der disparat-eklektische Zuschnitt von Fakultäten, die Fächer ganz unterschiedlicher Traditionen und Ausrichtungen zu einer formalen Einheit zusammenfassen, - können von immensem Vorteil sein, wenn es darum geht, das allseits geforderte, in der Wissenschaftspraxis aber zwangsläufig immer nur mühsam zu verwirklichende interdisziplinäre Gespräch zu fuhren. Die Leipziger Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften ist solch ein zwar noch junger, aber doch in vielfältigen Traditionen stehender Glücksfall, stellt sie doch einen Ort dar, an dem Ethnologen, Asien- und Afrikawissenschaftler, Archäologen, Altorientalisten, Ägyptologen, Religionswissenschaftler und Historiker versammelt sind und wo daher unter Einbeziehung von Alttestamentlern aus der traditionsreichen Theologischen Fakultät ein fachübergreifender Diskurs möglich ist und seit dem Wintersemester 1999/2000 auch über das epochenübergreifende und weltweite Phänomen sakraler Herrschaftslegitimierung nachgedacht und diskutiert wird. Schon im Sommersemester 2000 konnte eine Ringvorlesung über „Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume" veranstaltet werden, der am 27. September 2000 eine gleichnamige Sektion auf dem Aachener Historikertag folgte, wo zusammen mit weiteren Vorträgen erneut einige Referate der Ringvorlesung zur Diskussion gestellt wurden. Ein allgemeines Publikumsinteresse an der Thematik dokumentierte sich dabei an dem überraschend guten Besuch beider Veranstaltungen sowie an den regen und anregenden Diskussionen, die sich sowohl in Leipzig als auch in Aachen entzündeten. Die Beiträge zu beiden Veranstaltungen werden nun in ausgearbeiteter Form einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Interdisziplinarität soll dabei aber nicht zur Gleichförmigkeit führen. Der Herausgeber hat daher bewußt darauf verzichtet, die formale Gestaltung der Texte (vor allem in den Anmerkungen) allzu sehr zu reglementieren. Die unterschiedlichen Zitiertraditionen, die sich in den einzelnen Fächern entwickelt haben, sollten nicht auf ein Prokrustesbett gelegt werden und sind deshalb nicht beseitigt worden. Auf Einheitlichkeit der Erscheinung wurde daher nur innerhalb der einzelnen Beiträge Wert gelegt. Angenehme Pflicht ist es, zum Abschluß dieser Publikation Dank zu sagen: den Referenten von Leipzig und Aachen für die Mühen, die sie mit der Ausarbeitung ihrer

Vorwort

2

Vorträge und deren Drucklegung auf sich genommen haben; Bernhard Streck (Leipzig), der durch eine unglückliche Terminkollision nicht wie ursprünglich geplant an der Aachener Historikertagssektion mitwirken konnte, aber trotzdem einen Beitrag für diese Publikation beisteuerte; den hilfreichen Geistern am Leipziger Lehrstuhl fur Mittelalterliche Geschichte, namentlich Klaudia Naumann, Nadja Braun Μ. A. und Marek Wejwoda, die die mühselige Einrichtung der Manuskripte für den Druck vornahmen, sowie dem Akademie Verlag und Manfred Karras, die das Erscheinen dieses Buches ermöglichten. Leipzig, im Frühjahr 2002

Franz-Reiner Erkens

FRANZ-REINER ERKENS

Einleitung

Vor noch nicht einmal einem Vierteljahrhundert bekannte der Marquis de la Franquerie in einem kaum wissenschaftlich zu nennenden Werk über den „caractere sacre et divin" des französischen Königtums seine Überzeugung, „que, pour un Fran9ais, Γ amour de Dieu, de la France et du Roi doit etre un seul et meme amour indissociable", daß also für einen Franzosen die Liebe zu Gott, zu Frankreich und zum König eine unauflösbare Einheit darzustellen habe, gleichsam eine einheitliche Dreiheit, die den Rang einer geminderten Trinität besitze: „une triologie une, trinite une, certes d'un rang inferieur a la Trinite Divine" 1 . Wenn diese - keinesfalls traditionslose - Ansicht eines erzkonservativen Skribenten hochadligen Geblüts, der sich auch über „die Heiligkeit des französischen Königshauses" und die „göttliche Mission Frankreichs" geäußert hat 2 , das Geschichtsbewußtsein der französischen Nation heute auch kaum mehr entscheidend prägen dürfte, so zeigt sie doch deutlich, wie sehr die politische und religiöse Sphäre auch noch im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts begriffen werden können als miteinander verwobene und letztlich überhaupt nicht zu trennende Bereiche. In Frankreich konnte daher noch 1996 mit großartigen Feiern und trotz aller säkularisierender Tendenzen an die eineinhalb Jahrtausende zuvor vollzogene Taufe des Frankenkönigs Chlodwig und damit gleichsam an ein nationales Symbol der christlichen Nation erinnert werden. Daß der französische König seit dem hohen Mittelalter als „allerchristlich", als rex christianissimus galt und ihm dabei zugleich die Fähigkeiten eines Wunderheilers, eines „roi thaumaturge" zugeschrieben wurden, der seine Heilkraft durch die Herrscherweihe und die bei dieser gespendeten Salbung empfing, daß also dem französischen Königtum und seinen Trägern eine eigentümliche Heiligkeit zukam, ein „caractere sacre", ist eine

1

Marquis DE LA FRANQUERIE, Le caractere sacre et divin de la royaute en France, Vouille 1978, S. 7 (in der ,introduction", die den längsten zusammenhängenden Teil der Publikation bildet, die ansonsten eine endlose, kaum durch eigene Aussagen verbundene Aneinanderreihung von Zitaten aus Quellen und [pseudowissenschaftlichen Werken darstellt). 2 Vgl. ebd. die lange Liste der „Ouvrages de Monsieur de la Franquerie", die den eigentlichen Ausführungen vorangestellt ist und u. a. Titel enthält wie: „Louis XVI roi et martyr", „La Mission divine de la France" oder„De la Saintete de la Maison Royale de France".

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Franz-Reiner Erkens

wohlbekannte Tatsache3, aus der mit Blick auf den französischen Absolutismus der frühen Neuzeit gelegentlich sogar eine „Vergötterung" des Monarchen herausgelesen werden konnte4. Wenn diese Interpretation auch unverkennbar eine Übertreibung darstellt, die zu Recht kritisiert werden darf5, so kann an dem sakralen Charakter der französischen Königsherrschaft doch kaum gezweifelt werden, spiegelt sich dieser doch in zahlreichen Äußerungen und Handlungen wieder, deren Ideenhintergrund im Zuge der Revolution schließlich sogar in anverwandelter Form auf die Grande Nation selbst und das durch sie getragene Staatswesen projektiert worden ist6. Nun ist in jüngster Zeit, ausgehend von den modernen Deutungen des Sakralcharakters der frühneuzeitlichen Monarchie in Frankreich, gerade das Sakrale als „Wesenszug" der Monarchie in Frage gestellt worden 7 . Die Unschärfe des Begriffes „Sakralkönigtum" wurde dabei ebenso kritisiert wie seine inflationäre Verwendung, die die sakrale Selbstinszenierung der Monarchen sowie die entsprechenden Äußerungen ihrer Herrschaftstheoretiker allzu sehr als bare Münze nehme und dabei „das jeweils Spezifische historischer Machtkonstellationen und -konzepte"8 vernachlässige sowie Spott und Hohn, die mit kritischer Absicht über einen König ausgeschüttet werden konnten, zu wenig beachte als Hinweise auf ein alltägliches und eben nichtsakrales Verständnis von Königsherrschaft. So sehr aber auch die Kritik an dem Terminus „Sakralkönigtum" berechtigt erscheint und gerade die deutsche Geschichtswissenschaft, die lange in germanophile, in unselige Vorstellungen über das germanische 'Sakralkönigtum' 9 verstrickt gewesen ist 10 , zurückhaltend bleiben sollte bei der Verwendung dieses Begriffes, 3

Dazu ist immer noch grundlegend die 1 9 2 4 erschienene Studie von Marc BLOCH, Die wundertätigen Könige. Mit einem Vorwort von Jacques LeGoff. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Märtl, München 1998. 4 Vgl. Richard A. JACKSON, Anzeichen der Vergötterung des französischen Königs, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Herrscherweihe und Königskrönung im frühneuzeitlichen Europa (= Schriften der Mainzer Philosophischen Fakultätsgesellschaft), Wiesbaden 1983, S. 96-102. 5 Vgl. Jens Ivo ENGELS, Das „Wesen" der Monarchie? Kritische Anmerkungen zum „Sakralkönigtum" in der Geschichtswissenschaft, in: MAJESTAS 7, 1999, S. 3-39, bes. 12, sowie DERS., Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den französischen König in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts (= Pariser Historische Studien 52), Bonn 2000, bes. S. 240-250. 6 Vgl. Mona OZOUF, La fete revolutionnaire. 1789-1799, 1976, Kap. X.: „La fete revolutionnaire: un transfert de sacralite", mit der Schlußfolgerung auf S. 332 f.: „On peut done risquer cette conclusion: le recours ä l'Antiquite dans les fetes revolutionnaires ne traduit pas seulement une nostalgie d'esthete, ni meme le besoin moral de peupler de grands exemples une memoire qui s'en est videe. C'est aussi, surtout, dans un monde oü se decolorent les valeurs chretiennes, le besoin du sacre. Une societe qui s'institue doit sacraliser le fait meme de Γ institution". 7 Vgl. Anm. 5. 8

9

V g l . ENGELS ( w i e A n m . 5 ) S. 37.

Vgl. dazu etwa Otto HÖFLER, Der Sakralcharakter des germanischen Königtums, in: Theodor Mayer (Hg.), Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen (= Vorträge und Forschungen 3), Sigmaringen 1956, S. 75-104. 10 Vgl. dazu vor allem Klaus VON SEE, Kontinuitätstheorie und Sakraltheorie in der Germanenforschung. Antwort an Otto Höfler, Frankfurt/M. 1972; DERS., Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1 9 7 0 , sowie Eve PICARD, Germanisches Sakralkönigtum?

Einleitung

5

so wenig läßt sich verkennen, daß zu allen Zeiten und überall auf der Erde Herrschaft mit sakralen Elementen durchsetzt erscheint. Nicht zuletzt deshalb ist das 'Sakralkönigtum' bis in die jüngste Zeit hinein auch ein Gegenstand ethnologischer Untersuchungen und Deutungen gewesen", die natürlich auch fur das historische Verständnis des Phänomens von nicht unerheblicher Bedeutung sind und daher grundsätzlich mit in alle Überlegungen zur sakral legitimierten Herrschaft eingeschlossen werden müssen. Gerade die Ethnologie liefert dabei neben Erklärungsmodellen auch ein breitgefachertes Material an sakralen Erscheinungsformen sogenannter archaischer Herrschaft und ihrer einzelnen Elemente. Auf die Erfassung und den strukturellen Vergleich genau dieser Elemente aber kommt es an, wenn das historische und ethnologische Phänomen sakral legitimierter Herrschaft in den Blick genommen und gedeutet werden soll. Dabei ist es freilich unumgänglich, einen weiten Sakralbegriff - etwa im Sinne Josef Pipers - zu verwenden, einen Begriff, der das Sakrale ganz allgemein aus dem Nahverhältnis zum Numinosen ableitet12 und der es erlaubt, sowohl die Divinität 13 als auch die Sakralität14 und die Pseudoreligiösität 15 von Herrschaft mit in die Betrachtung einzubeziehen. Dies allerdings kann nur im Zusammenwirken verschiedener Wissenschaften geschehen, wobei es letztlich um eine das Gesamtphänomen betrachtende, die aus den verschiedenen Bereichen zusammengetragenen Befunde integrierende, mithin prinzipielle Interpretation des Gesamtphänomens gehen muß. Quellenkritische Studien zur Germania des Tacitus und zur altnordischen Überlieferung (= Skandinavistische Arbeiten 12), Heidelberg 1991. 11 Vgl. dazu Bernhard STRECK (in diesem Band). 12 Vgl. Josef PIPER, Was heißt „sakral"? Klärungsversuche, Stuttgart 1 9 8 8 , S. 18: „Die Worte 'heilig' und 'sakral' sollen ... weder die unendliche Vollkommenheit Gottes noch auch die sittliche Größe eines Menschen bezeichnen. Sie besagen vielmehr, daß gewisse empirisch vorfindbare Dinge, Räume, Zeiten, Handlungen die besondere Eigentümlichkeit besitzen, auf eine aus der Reihe des Durchschnittlichen herausfallende Weise der göttlichen Sphäre zugeordnet zu sein". In ebendiesem Sinne soll auch von Sakralität der Herrschaft und des Herrschers die Rede sein. 13 Vgl.dazu etwa Elke BLUMENTHAL (in diesem Band). 14 Vgl. dazu etwa Bernd SCHÜTTE und Klaus-Peter MATSCHKE (beide in diesem Band). 15 Vgl. dazu etwa Ulrich VON HEHL und Joachim-Felix LEONHARD (beide in diesem Band). - Zu den sogenannten 'politischen' oder 'säkularen' Religionen vom Schlage des Nationalsozialismus oder Kommunismus vgl. auch die in Anm. 77 des Beitrages von Franz-Reiner ERKENS (in diesem Band) angeführte Literatur. Zu der gerade für gläubige Menschen nicht unproblematischen Anwendung des Religionsbegriffes auf weltanschaulich fundierte Bewegungen vgl. Hans MAIER, „Politische Religionen". Ein Konzept des Diktaturvergleichs, in: Hennann Lübbe (Hg.), Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts (= Schriften der Kath. Akad. in Bayern 152), Düsseldorf 1 9 9 5 , S. 9 4 - 1 1 2 , bes. 1 0 6 f., sowie Hermann LÜBBE (ebd. in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band S. 11: „Der Begriffsname 'Politische Religion' enthält allerdings eine erhebliche Konzession. Er anerkennt die totalitären Regime immerhin als Religionen. Einen prinzipiellen Einwand dagegen gibt es nicht. Begriffe, mit deren Hilfe wir Phänomene ordnen und Zuordnungen sowie Unterscheidungen treffen, sind nicht wahr oder falsch, sondern zweckmäßig oder weniger zweckmäßig oder auch unzweckmäßig."), aber auch schon Hannah ARENDT, Religion und Politik, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz, München / Z ü r i c h 2 2 0 0 0 , S. 3 0 5 - 3 2 4 .

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Franz-Reiner Erkens

Erste Bemühungen darum werden durch die nachfolgenden Beiträge dokumentiert, die natürlich noch nicht alle Perspektiven der Sakralitätsproblematik erfassen können und wesentliche Bereiche - wie etwa die Frage nach den Königsvorstellungen der einfachen Bevölkerung - noch weitgehend unberücksichtigt lassen müssen, weil damit für die meisten Epochen und Regionen zum Teil nahezu unlösbare Quellenprobleme verbunden sind. Aber erste Annäherungen an die globale Erscheinung sind im interdisziplinären Zugriff doch gelungen und zeugen selbst da, wo eine kritische Distanz zur Sakralitätsproblematik spürbar wird16, von der Fruchtbarkeit der Fragestellung, die auch künftig genügend Stoff für ein interdisziplinäres Gespräch liefern kann.

16

Vgl. etwa Adam

JONES

und Hubert

SEIWERT

(beide in diesem Band).

FRANZ-REINER ERKENS

Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume Versuch eines Überblicks

Hartmut Wolffzum 6. November 2001

„Le voilä Pretre et Roi!" - Dieser Ruf: ,Seht nun den Priester und König', rex et sacerdos\ ertönte nicht im Mittelalter, sondern 1825, veranlaßt durch die Salbung und Krönung Karls X. (1824-1830, f 1836), des zweiten Königs im nachrevolutionären Frankreich, der am 29. Mai dieses Jahres nach altehrwürdigem Zeremoniell an traditioneller Stätte in Reims die Weihe, le sacre, als legitimer Herrscher seines Volkes empfing2. Er ertönte wohl nicht während der feierlichen Handlung in der Kathedrale von Reims, aber in dem aus diesem Anlaß entstandenen Gedicht „Le sacre de Charles X" von Victor Hugo (1802-1885)3, dem Sohn eines napoleonischen Generals und einer royalistisch gesinnten Mutter, der damals legitimistisch dachte4 und einen Monat zuvor ,chevalier de la Legion d'honneur', Ritter der Ehrenlegion, geworden war5. Mit weitausholendem Gestus und tief in die Geschichte Frankreichs und die französische Königsideologie eintauchend, an die - noch 1996 zum nationalen Symbol der christlichen Nation taugende - Taufe des Frankenkönigs Chlodwig erinnernd, vorweisend die Symbole des nationalen Selbst- und GeschichtsVerständnisses: die Oriflamme, die Königsgrablege Saint-Denis, die Reimser Krönungskathedrale, die beiden heiligen Krieger („les deux saints guerriers") Charlemagne und Ludwig IX., die noch nicht heilig gesprochene Jeanne d'Arc und schließlich auch Francois Premier und gar den unglückseligen Louis 1

Zu dieser Floskel vgl. Franz-Reiner ERKENS, Der Herrscher als gotes drüt. Zur Sakralität des ungesagten ostfränkischen Königs, in: HJb 118,1998, S. 1-39, bes. 21-24. 2 Dazu vgl. Jaques LEGOFF, Reims, Krönungsstadt, Berlin 1997 [frz. 1986], S. 90-95. 3 Victor Hugo, (Euvres poetiques I (= Bibliotheque de la Pleiade 171), Gallimard 1964, S. 379-384 (Ode quaüieme), das Zitat findet sich auf S. 383 (s. Anm. 6). Vgl. dazu die Übersetzung von Heinrich Eisner, in: Victor Hugo's sämmtliche Werke, übersetzt von Mehreren. Dreizehnter Band, Stuttgart 1841, S. 149-157, bes. 156: „Schaut ihn als König und als Priester jetzt!" 4 Vgl. Jürgen VON STACKELBERG, Kleine Geschichte der französischen Literatur, München 21999, S. 173-177, bes. 177, sowie Theodor LÜCKE, Victor Hugo. Roman eines Lebens, Berlin (Ost) 1979, S. 15 und 52 [das Buch liegt auch in einer Ausgabe des Fischer Taschenbuchverlags (Frankfurt 1985) vor]. 5 Vgl. die Anmerkungen zu der vierten Ode (wie Anm. 3) S. 1257 (P. 379).

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Franz-Reiner Erkens

Seize, betonend endlich auch den alten Brauch der Salbung und deren Heiligkeit, mithin das große Panorama „de la grandeur fran9aise" als Wurzelgrund bewußtseinsprägender Historie entfaltend, stellt der Dichter die ,heil'ge Salbung Carls', „le Saint Chreme de Charles", in den zeitenüberspannenden Kontext herrscherlicher Gottverbundenheit, ja, er scheut sich nicht, in dem Gebet, mit dem die Ode ausklingt, zu erklären, Karl habe Gott von Angesicht zu Angesicht geschaut: „Charles, comme au Sina, t'a pu voir face ä face!" Victor Hugo stand 1825 mit seiner konservativen Gesinnung, mit seiner den Bruch der Revolutionszeit überbrückenden Hinwendung zu den geheiligten Traditionen der französischen Monarchie und mit seinem Anknüpfen an vormoderne Herrschaftsvorstellungen und Formeln numinoser Herrschaftslegitimierung keinesfalls allein. Sein Dichterkollege und (als gleichfalls neues Mitglied der Legion d'honneur) Rittergenosse Alphonse Marie Louis de Lamartine (1790-1869) ist ebenfalls nicht untätig gewesen und hat mit vergleichbarer, wenn auch historisch weniger weit ausholender Tendenz wie Hugo einen „Chant du Sacre" verfaßt6. Aber auch konservative Geister wie Joseph de Maistre (1753-1821) und damals selbst Felicite Robert de Lamennais (1782-1854) waren Protagonisten des alten Gedankenguts7. Hatte sich Napoleon Bonaparte bei seiner am 2. Dezember 1804 in der Pariser Kathedrale Notre-Dame inszenierten Kaiserkrönung8 trotz des unverkennbaren Bemühens, sich in die Legitimation spendende 6

Vgl. ebd. S. 1257 und Karlheinrich BIERMANN, Vom Ende der großen Revolution zur Kommune: Romantik und Realismus, in: Jürgen Grimm (Hg.), Französische Literaturgeschichte, Stuttgart 1989, S. 230-272, bes. 242, sowie Lamartine, (Euevres poetiques. Edition par Marius-Frangois GUYARD, Bibliotheque de la Pleiade 165, Gallimard (Dijon) 1963, S. 247-271 (und dazu ebd. S. 1834-1837). 7 Vgl. Peter STADLER, Geschichtsschreibung und historisches Denken Frankreichs 1789-1871, Zürich 1958, S. 51-54,204 ff.; zur Geschichtsschreibung der Zeit vgl. Jürgen Voss, Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs. Untersuchungen zur Geschichte des Mittelalterbegriffs und der Mittelalterbewertung von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Mannheim 3), München 1972, S. 312-338. - Zu de Maistre vgl. auch Robert TRIOMPHE, Joseph de Maistre. Etude sur la vie et sur la doctrine d'un materialiste mystique (= Travaux d'histoire ethico-politique 14), Geneve 1968, sowie Hans BARTH, Über die Staats- und Gesellschaftsphilosophie von Lamennais, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 6, 1948, S. 142-168, bes. 142-157, und Peter Richard ROHDEN, Joseph de Maistre als politischer Theoretiker. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Staatsgedankens in Frankreich (= Forschungen zur mittelalterlichen und neueren Geschichte 2), München 1929, bes. S. 192 ff. und 238-242. 8 Dazu und zum folgenden vgl. Hellmuth RÖSSLER, Napoleons Griff nach der Kaiserkrone. Das Ende des alten Reiches 1806, München 1957, S. 18 f.; Jose CABANIS, Le sacre de Napoleon 2 Decembre 1804 (= Trente Joumees qui ont fait la France 21), Paris 1970, S. 209 ff.; Carlrichard BRÜHL, Les autocouronnements d'empereurs et de rois (XIIIe-XIXe s.). Remarques sur la fonction sacramentelle de la royaute au moyen äge et ä l'epoque moderne, in: ders., Aus Mittelalter und Diplomatik I: Studien zur Verfassungsgeschichte und Stadttopographie, Hildesheim / München / Zürich 1989, S. 444^60 [erstmals 1984, in: Academie des Inscriptions et Belle-Lettres. Comptes rendus des seances de l'annee, S. 102-118], bes. 444 ff, sowie Sabine TANZ, Aspekte der Karlsrezeption im Frankreich des 19. Jahrhunderts, in: Franz-Reiner Erkens (Hg.), Karl der Große in Renaissance und Moderne. Zur Rezeptionsgeschichte und Instrumentalisierung eines Herrscherbildes (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 4,2), Berlin 1999, S. 53-64, bes. 56 f.

Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume

9

Tradition Karls des Großen zu stellen, ja, gleichsam dessen Platz einzunehmen 9 , letztlich doch als Kind der Aufklärung gezeigt und sich von dem zu den Feierlichkeiten herbeizitierten Papst zwar salben, aber nicht krönen lassen 10 , so wurde unter dem Bourbonenkönig zum letzten Mal in der französischen Geschichte noch einmal der numinose Zauber der Monarchie entfaltet. Eine Scherbe der während der Revolutionswirren zerbrochenen Sainte-Ampoule, in der über Jahrhunderte hinweg das angeblich für die Taufe des Merowingerkönigs Chlodwig von einer Taube aus dem Himmel herbeigebrachte Salböl aufbewahrt worden war 11 , hatte, eingetaucht in das Salböl Karls X., dieses durch die an ihr haftenden Rückstände zu einem Himmelsöl gemacht 12 , zu einer Substanz, die seit dem Hochmittelalter die französischen Herrscher nach empfangener Salbung entsprechend einer verbreiteten Ansicht dazu befähigte, an Skrofeln Erkrankte durch Handauflegung zu heilen 13 . Auch Karl X. erprobte - wenn auch nur widerstrebend 14 - am 31. Mai 1825 noch einmal diese Kraft der „rois thaumaturges", der wundertätigen Könige, und zog damit natürlich Spott und Kritik von aufgeklärten Geistern auf sich 15 . Die kritische Einstellung gegenüber dem herkömmlichen Glauben an eine besondere Heiligkeit von Herrschern und an den die Sakralität von Herrschaft begründenden Institutionen und Handlungen war seit den Tagen der Aufklärung immer deutlicher geworden. Der Ritter Karl H. von Lang etwa 16 vergoß seinen Spott über die Krönungsfei9

Vgl. etwa Napoleons Äußerung gegenüber dem Kardinal Fesch vom 7. Januar 1806: „Pour le Pape, je suis Charlemagne", Jacques-Louis Davids Bild von Napoleons Uberquerung des Großen St. Bernhard im Mai 1800 und die dort erscheinende Felsinschrift„KAROLUS MAGNUS" sowie die Tafel, die am 9. Juni 1811 bei den in Aachen - wie in anderen Städten auch - stattfindenden Tauffeierlichkeiten für Napoleons Sohn in einem Festzug zusammen mit einer Statue Karls des Großen durch die Stadt getragen wurde und die Aufschrift trug: „Nur Napoleon ist größer als ich", und dazu TANZ (wie Anm. 8) S. 56 ff. (mit den Belegen in Anm. 5, 14 und 17) sowie Thomas R. KRAUS, Auf dem Weg in die Moderne. Aachen in französischer Zeit 1792/93, 1794-1814 (= Beihefte der Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Bd. 4), Aachen 1994, S. 153 f. und 157 f , 171 (Dl 1), und STADLER (wie Anm. 7) S. 56 ff. 10 Vgl. RÖSSLER (wie Anm. 8) S. 19. - Allerdings hinderte diese aufgeklärte Haltung den Maler Antoine Gros 1804 nicht daran, den Pestkranke berührenden General Bonaparte auf dem Gemälde ,Die Pestkranken von Jaffa' in einer Haltung darzustellen, wie sie die französischen Könige einst bei der „touche des ecrouelles" einnahmen; vgl. dazu Werner TELESKO, Napoleon Bonaparte und die Tradition des „alten Europa", in: MAJESTAS 7,1999, S. 89-112, bes. 104 f. und 106 (Abb. 4). 11 Zu dieser Legende vgl. LEGOFF (wie Anm. 2) S. 15 ff. und 19 ff. 12 Vgl. ebd. S. 91 f. sowie Richard A. JACKSON, Vivat Rex. Histoire des sacres et couronnements en France, 1364-1825, Paris 1984 [engl. 1984], S. 180 f. 13 Vgl. dazu das grundlegende Werk von Marc BLOCH, Die wundertätigen Könige, München 1 9 9 8 [frz. 1 9 2 4 ] , - Zu ähnlichen Vorstellungen in England vgl. David J. STURDY, The Royal Touch in England, in: Ders. / Richard A. Jackson / Heinz Duchhardt (Hgg.), European Monarchy. Its Evolution and Practice from Roman Antiquity to Modern Times, Stuttgart 1992, S. 171-184. 14 Vgl. ebd. S. 425^28. 15 Vgl. ebd. S. 428 sowie LEGOFF (wie Anm. 2) S. 94 f., aber auch Georges CLAUSE, Les reactions de la presse et de l'opinion au sacre de Charles X, in: Le sacre de rois. Actes du Colloque international d'histoire sur les sacre et couronnenments royaux (Reims 1975), Paris 1985, S. 289-303. 16 Die Memoiren des Ritters von Lang, 1764-1835, hg. von Hans HAUSHERR, Stuttgart 1957, S. 119 f.

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erlichkeiten Kaiser Leopolds II. im Jahre 1790, beschrieb die ehrwürdigen Handlungen mit beißendem Hohn und stellte sie17 als eine alttestamentliche Judenpracht dar, bei der der Kaiserornat aussah, als war er auf dem Trödelmarkt zusammengekauft worden, und bei der der Kaiser vor allem auf herabwürdigende Weise gezwungen gewesen sei, alle Augenblicke vom Stuhl herab und hinauf hinauf und herab sich ankleiden und auskleiden, einschmieren und wieder abwischen [zu] lassen, sich vor den Bischofsmützen mit Händen und Füßen ausgestreckt auf die Erde [zu] werfen und liegen bleiben zu müssen. Schon eine Flugschrift von 1782 hatte von einem Fasnachtsspiel in zerrissenen, prangenden Fetzen gesprochen18. Selbst Goethe, der als Halbwüchsiger 1764 regen Anteil an dem Verlauf der Frankfurter Krönungsfeierlichkeiten Josefs II. nahm und den erhabenen Zauber der ehrwürdigen Zeremonien empfand, konnte nicht umhin, manche ihrer Erscheinungsformen in ein mild-ironisches Licht zu tauchen. Der junge König, so berichtet er viele Jahre später in ,Dichtung und Wahrheit' 19 , schleppte sich in den ungeheuren Gewandstücken mit den Kleinodien Karls des Großen wie in einer Verkleidung einher, so daß er selbst, von Zeit zu Zeit seinen Vater ansehend, sich des Lächelns nicht enthalten konnte. Die Krone, welche man sehr hatte füttern müssen, stand wie ein übergreifendes Dach vom Kopf ab. Aber gerade der alt gewordene Goethe, der Geheime Rat des Herzogs von Weimar und zum Olympier stilisierte Dichterfürst Deutschlands, legt im gleichen Atemzug Zeugnis ab vom Fortleben jener Vorstellungen, die von einem besonderen Verhältnis des Herrschers zum Numinosen künden. Noch als er an dem 1811 erschienenen ersten Teil seiner Dichtung und Wahrheit verwebenden Memoiren arbeitete, als nunmehr Sechzigjähriger konnte er sich an die religiöse Atmosphäre erinnern, die er als junger Zuschauer bei den Feierlichkeiten anläßlich der Krönung Josefs II. gespürt hatte, noch annähernd ein halbes Jahrhundert später sprach er von dem unendlichen Reiz, den die politisch-religiöse Feierlichkeit auf ihn ausgeübt hatte20. Die Krönung wurde - wenn auch kaum von Goethe selbst - offenbar immer noch von vielen ebenso wie etwa 1726 von dem Juristen und Staatsrechtslehrer Jacob Carl Spener21 als ein solennes und respectiue heiliges Geschaeffte begriffen. 1792 ist zwar im 1806 untergegangenen Reich zum letzten Mal dieses ,heilige Geschäft' vollzogen und ein gewählter Kaiser gesalbt und gekrönt worden, aber noch bei der Reichsgründung von 1871 diskutierte man - freilich mit negativem Ergebnis - sowohl in katholischen als auch in nationalliberalen Kreisen die Möglichkeit einer Krönung des künftigen deutschen Kaisers preußisch-protestantischer Herkunft unter Ver-

17

Vgl. ebd. S. 114. Zitiert nach Viktor BIBL, Kaiser Josef Π. Ein Vorkämpfer der Grossdeutschen Idee, Wien 1943, S. 41. 19 Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke 10 [Artemis-Ausgabe], Zürich 1977, S. 219-228, das Zitat findet sich auf S. 223 f. 20 Ebd. S. 222. 21 Teutsches Ius Publicum oder des heil. Roemisch=Teutschen Reichs vollstaendige Staats=Rechts= Lehre V, Franckfurt und Leipzig 1726, S. 4 (§Π). 18

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wendung der aus dem Mittelalter überkommenen Reichskleinodien22. Das ungarische Krönungszeremoniell fur den seit 1804 existierenden Kaiser von Österreich aber, der ja zugleich auch König von Ungarn war, bewahrte immerhin Reste des spirituellen Brauches23, und die Königin von England ist noch 1953 nach altem Ritus gesalbt und gekrönt worden24.

I

Was sich im Lichte der Aufklärung und unter dem Einfluß kühler Rationalität seit dem 18. Jahrhundert allmählich auflöste, die Vorstellung von einer eigentümlichen Heiligkeit der Monarchie, stand in einer Jahrhunderte alten Tradition. Zu allen Zeiten und an allen Orten wurden die Herrscher mit dem Numinosen in Verbindung gebracht - sei es, daß sie selbst als Götter betrachtet wurden, sei es, daß sie als Söhne, Nachkommen, Schützlinge oder Stellvertreter eines Gottes galten, sei es, daß sie in einer besonderen Verantwortung gegenüber einer göttlichen Person oder transzendenten Macht standen25. Der Bezug zum Divinen mag mehr oder weniger stark ausgeprägt gewesen sein, vorhanden jedoch war er im Grunde immer: bei Naturvölkern ebenso wie in hochstehenden Kulturen, bei ,Primitiven' und ,Wilden' ebenso wie bei den Eliten entwickelter Zivilisationen. Den Herrscher umgab daher eine eigentümliche sakrale Aura, und mancherorts wurden ihm sogar übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben. Titus Flavius Vespasianus etwa (69-79), Begründer der flavischen Kaiserdynastie nach dem mit dem Namen Neros verbundenen unrühmlichen Ende des julisch-claudischen Herrscherhauses und Überwinder der Wirren des antiken Dreikaiseijahres, soll 22

Vgl. Theodor SCHIEDER, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat (= Wiss. Abh. d. Arbeitsgemeinschaft f. Forschung des Landes NRW 20), Köln 1961, S. 154-158. 23 Vgl. etwa Egon Cäsar Conte CORTI / Hans SOKOL, Franz Joseph, Graz 1960, S. 167 f., sowie Heinrich MARCZALI, Ungarisches Verfassungsrecht (= Das öffentliche Recht der Gegenwart 15), Tübingen 1911, S. 55 ff., bes. 57, und Otto de HABSBOURG (Habsburg), Le couronnement du roi Charles IV de Hongrie ä Budapest en 1916, in: Le sacrederois (wie Anm. 15), S. 305-311, bes. 308 f. 24 Vgl. zum engüschen Brauch Percy Ernst SCHRAMM, Geschichte des englischen Königtums im Lichte der Krönung, Weimar 1937 [ND Darmstadt 1970], der den Gegenstand seiner Forschung am 12. Mai 1937 bei der Krönung Georges VI. (1936-1952) selbst vor Augen geführt bekam (vgl. ebd. S. XXI); zur Krönung von Georges VI. Tochter Elisabeth Π. am 3. Juni 1953 vgl. Kurt KLUXEN, Geschichte Englands. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 21976, S. 834; Edward SHILS and Michael YOUNG, The Meaning of the Coronation, in: Ε. Shils, Center and Periphery. Essays in Macrosociology (= Selected Papers of E. Shils Π), Chicago and London 1975, S. 135-152, bes. 141, sowie The Times Coronation Supplement June 1953 („The Queen takes possession of her kingdom"), S. 13 ff. 25 Auf Einzelnachweise muß hier verzichtet werden, vgl. aber neben den übrigen Beiträgen in diesem Band auch Franz-Reiner ERKENS, Moderne und Mittelalter oder Von der Relevanz des praktisch Untauglichen. Ein Plädoyer für das historische Interesse an älteren Epochen, in: ders. (Hg.), Karl der Große in Renaissance und Moderne (wie Anm. 8), S. 95-122, bes. 114-120.

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nach seiner Erhöhung zum Imperator die Fähigkeit besessen haben, Kranke zu heilen. Als er, aus einem Geschlecht von dunkler Herkunft stammend26, noch keine Majestätsautorität besaß27 und bald nach seiner Proklamation zum Kaiser in Alexandria auf dem Tribunal saß, da näherten sich ihm, wie Sueton berichtet28, ein Blinder und ein Lahmer mit der Bitte um Heilung von ihren Gebrechen. Serapis, so erklärten sie, der ägyptische Heilgott, habe ihnen in einem Traumbild Heilung verheißen, falls der Kaiser die Augen des Blinden mit seinem Speichel benetze und das kranke Bein des Lahmen mit seinem Fuß berühre. Und so sei es geschehen, als Vespasian, zunächst voller Skepsis über dieses Ansinnen, auf Drängen seiner Umgebung die erbetenen Handlungen ausführte. Unverkennbar diente dieser inszenierte Akt der göttlichen Legitimierung eines neuen princeps aus einer gens obscura. Tacitus, der dieselbe Geschichte mit leichten Abwandlungen, aber deutlich größerer Skepsis aufgrund von Augenzeugenberichten ebenfalls beschreibt29, läßt daher auch die Ärzte, bei denen sich der zögernde und die Sache eigentlich als lächerlich empfindende Vespasian vor dem eigenen Tätigwerden nach den Erfolgsaussichten seines Handelns erkundigt haben soll, davon sprechen, daß ein Heilungserfolg mit medizinischen Mitteln nicht ausgeschlossen sei und daß - und dies ist nun das Entscheidende - die Götter ihn, den Kaiser, vielleicht zu ihrem Werkzeug machen wollten. Der Erfolg als Gesundheit spendender Herrscher ließ Vespasian mithin als diuino ministerio principem electum30, als Gehilfe und damit als Schützling der Götter erscheinen. Wenn nun auch die Nachrichten über herrscherliche Heilkräfte bis in das europäische Hochmittelalter hinein spärlich bleiben - nur über den römischen Kaiser Hadrian (117138)31, den Merowingerkönig Guntram (561-584)32, den westfränkisch-französischen König Robert II., den Frommen (996-1031)33, aus dem Hause der Kapetinger und den angelsächsischen König Eduard den Bekenner (1041/42-1066)34 liegen entsprechende Berichte vor - , so kann es doch keine Zweifel daran geben, daß sich von der römischen

26

Suet., Vesp. 11: gens Flaua, obscura ilia quidem ac sine ullis maiorum imaginibus. Suet., Vesp. VII 4: Auctoritas et quasi maiestas quaedem ut scilicet inopinato et adhuc nouo principi deerat. 28 Vesp. VII 5-6. Vgl. dazu und zum folgenden Gabriele ZIETHEN, Heilung und römischer Kaiserkult, in: Sudhoffs Archiv 78,1994, S. 171-191, bes. 181-184, sowie Siegfried MORENZ, Vespasian, Heiland der Kranken. Persönliche Frömmigkeit im antiken Herrscherkult?, in: Würzburger Jahrbücher für die 27

A l t e r t u m s k u n d e 4 , 1 9 4 9 / 5 0 , S. 3 7 0 - 3 7 8 . 29

Hist. IV 81. Tac., Hist. IV 81,6. 31 Vita Hadriani 25, M , ed. Ernst HOHL, Scriptores Historiae Augustae. Vol. I., Leipzig 1965, S. 26. 32 Gregorii ep. Turon. Libri historiarum decern IX 21, ed. Bruno KRUSCH, MGH SS rer. Merov. I, Hannover 21937-1951, S. 441 f. 33 Epitoma Vitae regis Roberti pii des Helgaud, ed. Recueil des historiens des Gaules et de la France X, Paris 1760, S. 115; ed. Robert-Henri BAUTIER / Gillette LABOR γ, Vie de Robert le Pieux. Epitoma vitae regis Rotberti pii (= Sources d'histoire medievale 1), Paris 1965, S. 128 (cap. 27). 34 Vgl. etwa Willelmi Malmesbiriensis monachi De gestis regum Anglorum libri quinque. Vol. I., ed. by William STUBBS, Rolls Series, London 1887, S. 272 f. (Lib. II, § 222), sowie BLOCH (wie Anm. 13) S. 8 0 ff. 30

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Kaiserzeit an eine lange nachwirkende Tradition entwickelte 35 , die das sakrale Herrschaftsverständnis im abendländischen Europa prägte. Heilkräfte als Zeichen göttlicher Legitimierung, wie sie die Könige Frankreichs seit dem Hochmittelalter 36 , wie sie aber auch die ,rois thaumaturges' Englands 37 und vielleicht Kastiliens 38 für sich beanspruchten, sind nur ein - zwar überaus eindrucksvoller, im übrigen aber keinesfalls zwingend notwendiger - Bestandteil der herrscherlichen Sakralität. Diese konnte sich vielmehr ganz unterschiedlich äußern und fand ihren Ausdruck etwa auch in der priesterlichen Stellung der Könige, die gerade im frühen Mittelalter besonders stark ausgeprägt war39 und sich, nach dem in den einzelnen Königreichen mit unterschiedlichem Erfolg unternommenen Versuch einer Verdrängung aus dieser Position durch den Kampf der Kirche und des Papsttums um Unabhängigkeit von den säkularen Gewalten 40 , im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Frankreich41 und England42 erneut konsolidierte und selbst im Reich eine schwache Renaissance erfuhr, als unter Karl IV. (1346-1378) der ,kaiserliche' (auch von einem ,künftigen' Kaiser geübte) Brauch aufkam, bei der Christmette das Weihnachtsevangelium zu verlesen, und es im 15. Jahrhundert gelegentlich vorkam, daß ein neu gewählter König bei der Krönungsmesse das Evangelium von den heiligen drei Königen vortrug43. Der Ausruf Victor Hugos 44 , veranlaßt durch 35

Vgl. dazu etwa ERKENS, Der Herrscher als gotes drüt (wie Anm. 1), S. 1 5 - 1 9 (und die hier verzeichnete Literatur). 36 Vgl. dazu die ausfuhrliche Darstellung von M . BLOCH (wie Anm. 1 3 ) sowie Jacques LEGOFF, La genese du miracle royal, in: Marc Bloch aujourd'hui. Histoire comparee et Sciences sociales. Textes reunis et presentes par Hartmut Atsma et Andre Borguiere (= Recherches d'histoire et sciences sociales 4 1 ) , Paris 1 9 9 0 , S. 1 4 7 - 1 5 6 , und Joachim EHLERS, Der wundertätige König in der monarchischen Theorie des Früh- und Hochmittelalters, in: Paul-Joachim Heinig u. a. (Hgg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (= Hist. Forschungen 67), Berlin 2000, S. 3 - 1 9 . 37 Vgl. ebd. sowie Frank BARLOW, The King's Evil, in: ders., The Norman Conquest and Beyond (= History Series Vol. 17), Bodmin 1983, S. 23^7 [erstmals 1980, in: English Historical Review 95, S. 3-27], 38

V g l . BLOCH ( w i e A n m . 13) S. 181 f.

39

Vgl. dazu ERKENS, Der Herrscher als gotes drüt (wie Anm. 1), S. 2 1 - 2 4 , sowie Egon BOSHOF, Königtum und Königsherrschaft im 10. und 11. Jahrhundert (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 27), M ü n c h e n 2 1 9 9 7 , S. 1 0 9 - 1 2 2 . 40

Vgl. dazu etwa Libelli Honorii Augustodunensis presbyteri et scholastici III. Summa Gloria c. 9, ed. Julius DIETERICH, MGH LdL 3, Hannover 1897, S. 63-80, hier: 69, sowie BLOCH (wie Anm. 13) S. 211-215; Bernhard TÖPFER, Tendenzen zur Entsakralisierung der Herrscherwürde in der Zeit des Investiturstreites, in: Jb. für Geschichte des Feudalismus 6, 1986, S. 163-171; BOSHOF (wie Anm. 39) S. 123 ff. und allg. Wilfried HARTMANN, Der Investiturstreit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 21), München 1993, sowie prinzipiell auch FrantiSek GRAUS, Mittelalterliche Vorbehalte gegen die Sakralisierung der Königsmacht, in: Marc Bloch aujourd'hui (wie Anm. 36) S. 115-123. 41 Vgl. dazu Percy Ernst SCHRAMM, Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. bis 16. Jahrhundert. Ein Kapitel aus der Geschichte des abendländischen Staates, 2 Bde., Darmstadt 2

1 9 6 0 , 1 , S. 2 5 2 - 2 5 4 .

42

Vgl. SCHRAMM, Geschichte des englischen Königtums (wie Anm. 24), S. 138 f. Vgl. Hermann HEIMPEL, Königlicher Weihnachtsdienst im späteren Mittelalter, in: DA 39, 1983, S. 131-206, sowie DERS., Königlicher Weihnachtsdienst auf den Konzilien von Konstanz und Basel, in:

43

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Karls X. Krönung: „Le voilä Pretre et Roi!", war im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts daher keinesfalls nur eine Reminiszenz an ferne, längst untergegangene Jahrhunderte, sondern bedeutete das Anknüpfen an eine Tradition, die erst durchschnitten worden war, als man Ludwig XVI. den Kopf vom Rumpf trennte, und die im 15. Jahrhundert aufgefrischt worden war, als etwa der Reimser Erzbischof Jean Juvenal des Ursins gegenüber dem König erklärte45: vous η 'etes pas simplement personne laye, maisprelat ecclesiastique (was 1493 vor dem Pariser Parlament, dem obersten Gerichtshof, ähnlich auch von dem Advokaten Olivier verkündet worden ist 46 und bis zum Ende des ancien regime galt 47 ). Das angeführte Beispiel des römischen Kaisers Vespasian markiert keinesfalls den Beginn einer europäischen Entwicklung, sondern signalisiert allenfalls die Intensivierung von Tendenzen, die den römischen Herrscher als sakral oder gar divin erscheinen lassen 48 , seit der Begründung des Prinzipats durch Augustus 49 immer deutlicher sichtbar wurden, sich bis zur Spätantike und in der Zeit des sog. Dominats voll entfalteten, von Konstantin dem Großen und seinen Nachfolgern schließlich in christlicher Umgestaltung adaptiert wurden 50 und wirkmächtig sowohl die Herrschergeschichte von Byzanz 51 Norbert Kamp / Joachim Wollasch (Hgg.), Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters, Berlin / New York 1982, S. 388^11, und DERS., Königliche Evangeliumslesung bei königlicher Krönung, in: Hubert Mordek (Hg.), Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift für Friedrich Kempf zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag und fünfzigjährigen Doktoijubiläum, Sigmaringen 1983, S. 447-459. 44 Vgl. Anm. 3. 45 Zitiert nach SCHRAMM, Der König von Frankreich (wie Anm. 41), S. 254, und BLOCH (wie Anm. 13) S. 238 f. mit Anm. 58 bzw. in der frz. Ausgabe von 1924: S. 213 Anm. 1. Vgl. auch die Denkschrift des Jean Juvenal des Ursins für Karl VII. von 1452, ed. Noel VALOIS, Histoire de la Pragmatique Sanction de Bourges sous Charles VH (= Archives de l'histoire religieuse de la France IV), Paris 1906, S. 206-250 [Nr. 84], hier: 216: ... comme chef et la premiere personne ecclesiastique, appeles vos preslas ... Vgl. aber auch die Worte, die Jean Gerson 1390 an Karl VI. richtete: Roy tres crestien, roy par miracle consacre, roy espirituel et sacerdotal..., zitiert nach der frz. Ausgabe von BLOCH (wie Anm. 13) S. 213 mit Anm. 2 [dt. Ausgabe: S. 239 mit Anm. 19], 46

47

V g l . BLOCH ( w i e A n m . 1 3 ) S. 1 7 1 m i t A n m . 1 0 4 : le roy η 'est pas pur

lay.

Vgl. dazu allg. BLOCH (wie Anm. 1 3 ) sowie SCHRAMM, Der König von Frankreich (wie Anm. 4 1 ) , S. 2 5 4 , und Andre LEGUAI, Fondements et problemes du pouvoir royal en France (autour de 1 4 0 0 ) , in: Reinhard Schneider (Hg.), Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich (= Vorträge und Forschungen 32), Sigmaringen 1987, S. 41-58, bes. 49 f. 48 Vgl. dazu Andreas ALFÖLDI, Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiserhof, in: ders., Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiseireiche, Darmstadt 1970, S. 1-118 [erstmals 1934, in: Mitteilungen des Deutschen Archaeologischen Instituts, Römische Abt., 49, S. 1 - 1 1 8 ] , sowie Manfred CLAUSS, Deus praesens. Der römische Kaiser als Gott, in: Klio 7 8 , 1 9 9 6 , S. 4 0 C M 3 3 , und DERS. , Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Stuttgart / Leipzig 1 9 9 9 . 49 Vgl. dazu die knappe, den Forschungsstand resümierende, aber äußerst instruktive Darstellung von Werner ECK, Augustus und seine Zeit, München 1998, zur Sakralisierung bzw. Divinisierung bes. S. 42 f., 62 und 115. 50 Vgl. Otto TREITINGER, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, Jena 1 9 3 8 [ND Darmstadt 1 9 5 6 u. ö.], und Friedrich HEILER, Fortleben und Wandlungen

Sakral legitimierte Heirschaft im Wechsel der Zeiten und Räume

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als auch der abendländischen Königreiche prägten 52 . Die politischen Handlungen Roms waren zwar schon immer in einen, besonders bei wichtigen Entscheidungen etwa durch Vogel- und Eingeweideschau zu beachtenden religiösen Rahmen eingebunden 53 , auch kannte man natürlich den charismatisch begabten Führer, der - wie Julius Caesar 54 durch persönliche Leistung 55 , aber auch durch seine Herkunft aus einem Geschlecht göttlichen Ursprungs (bei den Juliern war es die Venus Genetrix 56 ) sowie durch den besonderen Schutz der Götter (verwiesen sei nur auf Caesars sprichwörtliches Glück 57 ) ausgezeichnet war, aber grundsätzlich war man in republikanischen Zeiten zurückhaltend geblieben bei der Sakralisierung von Menschen. Erst die Spätphase der Republik 58

des antiken Gottkönigtums im Christentum, in: La regalitä sacra. Contributi al tema dell'VÜ congresso intemazionale di storia delle religioni (Roma, Aprile 1955), Leiden 1959, S. 543-580. 51 Vgl. dazu etwa Joh. B. AUFHAUSER, Die sakrale Kaiseridee in Byzanz, in: La regalitä sacra (wie Anm. 5 0 ) , S. 5 3 1 - 5 4 2 , sowie Klaus-Peter MATSCHKE (in diesem Band). 52 Vgl. ERKENS, Der Herrscher als gotes drüt (wie Anm. 1), S. 16-24. 53 Dazu vgl. Jochen BLEICKEN, Die Verfassung der Römischen Republik. Grundlagen und Entwicklung (= UTB 4 6 0 ) , Paderborn u. a. 7 1 9 9 5 , S. 1 7 1 - 1 7 9 , sowie Klaus BRINGMANN, Imperium und Sacerdotium. Bemerkungen zu ihrem ungeklärten Verhältnis in der Spätantike, in: Peter Kneißl / Volker Losemann (Hgg.), Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption. Festschrift für Karl Christ zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1988, S. 61-72, bes. 61 ff. - Zur Bestellung etwa des römischen Königs der Frühzeit nach dem Willen der Götter vgl. Wolfgang KUNKEL, Zum römischen Königtum, in: ders., Kleine Schriften, Weimar 1974, S. 345-366 [erstmals 1959, in: Ius et Lex. Festgabe zum 70. Geburtstag von Max Gutzwiller, S. 1-22], bes. 361; zur Sakralität des Königs vgl. bes. 363. 54 Vgl. Mattias GELZER, Caesar. Der Politiker und Staatsmann, Wiesbaden 1 9 6 0 , und Christian MEIER, Caesar, Berlin 1982. - Allg. vgl. dazu und zum folgenden auch Christoph R. HATSCHER, Charisma und Res Publica. Max Webers Herrschaftssoziologie und die Römische Republik (= Historia. Einzelschriften 136), Stuttgart 2000. 55

Vgl. dazu bes. Christian MEIER, Die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar, in: ders., Die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar? Drei biographische Skizzen, Frankfurt/M. 1980, S. 17100, und DERS., Caesars Bürgerkrieg, in: ders., Entstehung des Begriffs ,Demokratie'. Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 70-150. 56 Vgl. dazu etwa Martin JEHNE, Der Staat des Dictators Caesar (= Passauer Hist. Forschungen 3), Köln / Wien 1987, S. 180 und 200, und - etwa zur Bedeutung der Herkunft griechischer und hellenistischer Könige von Herakles - Ulrich HUTTNER, Die politische Rolle der Heraklesgestalt im griechischen Herrschertum (= Historia. Einzelschriften 112), Stuttgart 1997, sowie DERS., Hercules und Augustus, in: Chiron 27, 1997, S. 369-391, etwa 389, der ebd. aber besonders hervorhebt, wie bedeutend die Divinisierung Caesars für die politische Stellung seines Adoptivsohnes Augustus gewesen ist. 57 Vgl. dazu GELZER, Caesar (wie Anm. 5 4 ) , S. 2 1 0 und 2 1 7 , grundsätzlich aber auch Gregor WEBER, Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike, in: HZ 270,2000, S. 99-117, bes. 107. 58 Vgl. dazu etwa für Caesar JEHNE (wie Anm. 5 6 ) S. 1 6 3 - 1 8 5 und 2 1 7 ff., für Pompejus Matthias GELZER, Pompeius, München 1 9 7 3 [erstmals 1 9 4 9 ] , S. 8 2 - 9 9 und 109 ff., fur Sulla Arthur KEAVENEY, Sulla and the Gods, in: Carl Deroux (Hg.), Studies in Latin Literature and Roman Historie ΠΙ (= Coll. Latomus 180), Brüssel 1983, S. 44-79, bes. 45-50 (zu Sullas Glück), 56-70 (zu Sullas Verhältnis zu einigen Göttern, vor allem zu Apollo und zur Venus Victrix), 73 (Sulla als pater patriae und salus), sowie CLAUSS (wie Anm. 4 8 ) S. 4 0 3 - 4 0 6 .

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und natürlich die Kaiserzeit59 brachten hier einen Wandel, der den Vorstellungen von Herrschaft und ihrer Legitimität unter Rückgriff auf hellenistische Traditionen auch Elemente der altorientalischen Ideenwelt beimengte60 (weswegen es sicherlich kein Zufall war, daß man Vespasians kaiserliche Heilkraft im ägyptischen Alexandria entdeckte). Diese Elemente wurden durch die im 4. Jahrhundert einsetzende Verchristlichung der Herrschaft und die damit wirksam werdenden alttestamentlichen Vorbilder weiter verstärkt und konnten schließlich eine eigentümliche Kraft entfalten, die das Bewußtsein der Menschen von den sakralen Bezügen annähernd jeglicher Herrschaft entscheidend prägte. Diese Wirkung beschränkt sich keinesfalls nur auf die Zeit des Mittelalters. Allein das französische Beispiel belegt ein bis in die Moderne hinein andauerndes Nachwirken dieser besonderen Vorstellungswelt. Natürlich hat es, man braucht ja nur an die Aufklärung und ihre politischen Konsequenzen zu denken, in der Neuzeit auch andere Strömungen, andere Denkrichtungen gegeben, um Herrschaft zu legitimieren61, und diese sind am Ende ja auch sehr erfolgreich gewesen. Trotzdem hielten sich die traditionellen Ansichten über die sakrale Dimension von Herrschaft und ihren Trägern, verblaßten sie nur langsam zu Relikten aus einer vergangenen Zeit und kehrten oft sogar in verwandelter Gestalt wieder - gleichsam als pervertierte Wiedergänger. Blicken wir nur auf die Verhältnisse im Reich, so zeigt sich eine große Bandbreite an Aussagen, die letztlich alle einen sakralen Wurzelgrund besitzen: Dei imago eminentissima est princeps - „Der Fürst ist das herausragendste Bild Gottes", heißt es 1629 auf katholischer Seite62, er sei ein Mittler zwischen Gott und den Menschen und erscheine erhöht durch seine Stellvertreterschaft Gottes; und 1711 wird in Bayern erklärt63: Der Allmechtige Erschaffer der Erde, welcher von sich selbsten und durch seine ainzige Handt nach seinem gefallen kunte die Welt regieren, hat iedoch solche gewalt denen fürsten mitgethaillet, so er gleichsam als Verweser seiner Macht und Herrlichkeit auf-

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Vgl. hierzu neben der in Anm. 48, 50 und 60 angegebenen Literatur auch Maria R[ADNOTI]ALFÖLDI, Bild und Bildersprache der römischen Kaiser. Beispiele und Analysen (= Kulturgeschichte der antiken Welt 81), Mainz 1999, S. 42-82 und 190-205. 60 Vgl. Wilhelm ENBLIN, Gottkaiser und Kaiser von Gottes Gnaden (= SBB d. bayer. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Abt., 1943, H. 6), München 1943, und Frank W. WALBANK, Könige als Götter. Überlegungen zum Herrscherkult von Alexander bis Augustus, in: Chiron 17,1987, S. 365-382. 61 Dazu vgl. etwa Horst DREITZEL, Monarchiebegriff in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, 2 Bde., Köln / Weimar / Wien 1991, sowie Paul Kleber MONOD, The Power of Kings. Monarchy and Religion in Europe. 15891715, New Haven / London 1999. 62 Vgl. dazu und zum folgenden Adam CONTZEN, S.J., Politicorum libri decern, Köln 2 1 6 2 9 , Epistola dedicatoria (S. 1): ... Dei imago eminentissima est Princeps, qui immensam numinis maiestatem, media quadam, inter Deum et homines maiestate repr^sentat; quocirca Deus etiam dicitur, quia Dei vicariate sublimis est, et sacrosanctus. 63 Mundus christiano bavaro politicus, zit. nach Eberhard STRAUB, Zum Herrscherideal im 17. Jahrhundert vornehmlich nach dem „ M u n d u s christiano Bavaro Politicus", in: Zs. für bayerische Landesgeschichte 32, 1969, S. 193-221, hier: 196.

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gestelet... Auf evangelischer Seite wurde 1584 verkündet64: Bonus Princeps est Minister et Vicarius Dei in terris; und noch 1775 wird auf Luthers Lehre verwiesen65: Ein frommer Regent soll mit Ehren die drey göttliche Amt und Nahmen haben, daß er hilffet, nehret und rettet, und darum ein Heyland, Vater, Retter heissen; und Martin Luther selbst hat in seiner Auslegung des 82. Psalms erklärt, Gott wil sie lassen Götter sein über menschen. Sakrosankte66 Ebenbilder Gottes, Gottes Amtleute und Statthalter auf Erden, ja, Götter über Menschen, so lauten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert die Auskünfte, seien sie nun katholischen oder evangelischen Ursprungs, über die Könige, Fürsten und Regenten - und die angeführten Beispiele ließen sich leicht vermehren67. Kann es da noch überraschen, wenn Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen zwischen 1821 und 1831 gehaltenen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion" feststellt68: „Im allgemeinen ist die Religion und die Grundlage des Staates eines und dasselbe; sie sind an und für sich identisch". Diese Einheit ist für den Philosophen vor allem „im allgemeinen dem Prinzip nach, aber in abstrakter Weise ... in den protestantischen Staaten"69 verwirklicht, da es in diesen - anders als in den katholischen Staatswesen70 - keinen Dualismus von Staatsfuhrung und eigenständiger Priesterhierarchie gibt, aber auch weil „der Protestantismus fordert, daß der Mensch nur glaube, was er wisse, daß sein Gewissen als ein Heiliges unantastbar sein solle; ,.."71. Die zu summepiskopalen Höhen72 gesteigerte Stellung der Regenten evangelischer Konfession, „die Gesetze, die Obrigkeit, die Staatsverfassimg" werden dabei nach Vorstellung der Menschen, wie Hegel eigens betont73, von Gott her abgeleitet und dadurch „autorisiert". Lassen wir die philosophischen und politischen Implikationen der Lehre des preußischen Staatsphilosophen' beiseite, so belegen dessen Ausführungen vor allem eine für Hegels Zeit - die Zeit der Krönung Karls X. von Frankreich - immer noch verbreitete 64

Johannes SCHUWARDT, Regententaffell darinnen wolgegründeter christlicher Bericht von der Obrigkeit Standt / Namen / Ampt / Glück / Tugenden / Lastern / Nutz / Schaden / Belohnung und Straffen, Leipzig 1584, S. 28. 65 Johannes GERHARD, Loci theologici, tom. 13, Tübingen 1775, S. 239 (Sternchenfußnote zu § ΧΧΙΠ.). Das folgende Lutherzitat findet sich in D. Maitin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe 31,1, Weimar 1913, S. 182-218 (Der 82. Psalm ausgelegt), hier: 191. 66 Vgl. Anm. 62. 67 Vgl. dazu DREITZEL (wie Anm. 6 1 ) Bd. 2 , S. 4 8 6 - 5 2 8 . 68 G. W. F. HEGEL, Werke 16 (= stw 616), Frankfurt/M. 1995, S. 236. 69 Ebd. S. 242. 70 Vgl. ebd. S. 241. 71 Ebd. S. 242. 72 Zum Summepiskopat vgl. Johannes HECKEL, Die Entstehung des brandenburgisch-preußischen Summepiskopates, in: ders., Das blinde, undeutliche Wort .Kirche'. Gesammelte Aufsätze. Hg. von Siegfried Grundmann, Köln 1964, S. 371-386 [erstmals 1924, in: ZRG KA 13, S. 266-283]; Wilhelm MAURER, Die Entstehung des Landeskirchentums in der Reformation, in: ders., Die Kirche und ihr Recht. Gesammelte Aufsätze zum evangelischen Kirchenrecht. Hg. von Gerhard Müller und Gottfried Seebass, Tübingen 1976, S. 135-144 [erstmals 1966, in: Walter Peter Fuchs (Hg.), Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, S. 69-78], 73 Werke 16 (wie Anm. 68) S. 237.

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Vorstellung von der göttlichen Sachwalter- und Stellvertreterschaft der Fürsten. Natürlich, es wurde bereits gesagt, gab es längst auch schon andere Herrschaftstheorien, aber diese hatten sich noch nicht ausschließlich durchgesetzt; und der kritische Rationalismus konnte dem fürstlichen Gottesgnadentum um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert sogar positive Seiten abgewinnen, erklärte Immanuel Kant doch 1795 in seinem Beitrag „Zum ewigen Frieden"74: „Man hat die hohen Benennungen, die einem Beherrscher oft beigelegt werden (die eines göttlichen Gesalbten, eines Verwesers des göttlichen Willens auf Erden und Stellvertreter desselben), als grobe, schwindligmachende Schmeicheleien oft getadelt: aber mich dünkt, ohne Grund. - Weit gefehlt, daß sie den Landesherrn sollten hochmütig machen, so müssen sie ihn vielmehr in seiner Seele demütigen, wenn er Verstand hat (welchen man doch voraussetzen muß), und es bedenkt, daß er ein Amt übernommen habe, was für einen Menschen zu groß ist, nämlich das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen zu verwalten, und diesem Augapfel Gottes irgend worin zu nahe getreten zu sein jederzeit in Besorgnis stehen muß". Inwieweit diese aus didaktischem Bemühen entsprungene und keineswegs voraussetzungslose75 Deutung des neuzeitlichen Gottesgnadentums als eines verpflichtenden Amtsauftrages im Dienste Gottes zum Wohle der Allgemeinheit bei Fürsten und Untertanen auf fruchtbaren Boden fiel und weitere Beachtung fand, sei hier dahingestellt. Für die sakrale Legitimierung von Herrschaft an der Schwelle zur Moderne erscheint nämlich etwas anderes bedeutsam: der Umstand, daß auch der große Aufklärer und kritische Philosoph den „Beherrscher" - wenn auch auf besondere, die Herrscherverantwortung betonende Weise - in unmittelbare Beziehung zu Gott rückt. Selbst wenn dabei nur an einen abstrakten ,Gott der Philosophen' 76 gedacht gewesen sein sollte, konnte dieser doch von den Lesern, soweit sie nicht in besonderem Maße philosophisch gebildet oder weitgehend areligiös waren, in traditionellem Sinne verstanden werden. Wie sehr jedenfalls die der Legitimation dienenden sakralen Vorstellungen von Herrschaft auch noch nach 1800 im Bewußtsein breiterer Bevölkerungsschichten verwurzelt waren, lehren zahlreiche Äußerungen der unterschiedlichen, gleichsam als säkulare oder politische Religionen77 in Erscheinung tretenden ,Weltanschauungen', auf die sich die 74

Ed. Wilhelm WEISCHEDEL (= Immanuel Kant. Werkausgabe VI), Frankfurt/M. 1964 = 1977, S. 207. Vgl. dazu etwa DREITZEL (wie Anm. 61) S. 492 und 510-515. 76 Vgl. dazu Wilhelm WEISCHEDEL, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bde., Darmstadt 31975 [ND in einem Band: Darmstadt 1998], zu Kant etwa S. 201-206, sowie Immanuel KANT, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1973, S. 672 (wo das „höchste Wesen" als „fehlerfreies Ideal" charakterisiert wird), und HEGEL, Werke 16 (wie Anm. 68), S. 92-101. 77 Vgl. dazu etwa Hans MAIER, Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg / Basel / Wien 1995; DERS. (Hg.), ,Totali tarismus' und .Politische Religionen'. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn / München / Wien / Zürich 1996 (darin vor allem die Beiträge von Dietmar HERZ, Die politischen Religionen im Werk Eric Voegelins, S. 191-209; Hans MAIER, „Totalitarismus" und „Politische Religionen". Zwei Konzepte des Diktaturvergleichs, S. 233-250; Michael ROHRWASSER, Religions- und kirchenähnliche Strukturen im Kommunismus und Nationalsozialismus und die Rolle des Schriftstellers, S. 383-400); Hans MAIER / Michael SCHÄFER (Hgg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. Π, Paderborn / München / Wien / 75

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großen diktatorischen Regime des 20. Jahrhunderts beriefen. Diese Systeme mit totalitärem Anspruch überhöhten sich gleichsam pseudoreligiös und stilisierten ihren jeweiligen Führer zur charismatischen Heilsgestalt, indem sie auf den überlieferten Fundus sakraler und herrschaftlicher Repräsentation zurückgrifFen. Hitler etwa konnte als von Gott gesandter „Vollstrecker göttlichen Geschichtswirkens" 78 , als „Meldegänger Gottes" 79 und schließlich gar als Adressat eines Gebetes erscheinen 80 . Lenin wurde gemäß der russischen Vorstellung von der Unverweslichkeit des Heiligenkörpers wie ein Religionsstifter einbalsamiert und zur Verehrung in einem eigenen Mausoleum ausgestellt81. Mussolini schließlich, der Duce, wurde um 1929 in die Akklamationsgesänge der auf antike Gebräuche zurückgehenden laudes regiae82 einbezogen und dabei nach der einleitenden Anrufung Christi {Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat!) als dritter Segenswunschempfanger nach dem Papst Pius XI. und dem König Viktor Emanuel III. genannt 83 : Duci Benito Mussolini italicae gentis gloriae pax, vita et salus perpetual Dergleichen findet sich nicht nur in Europa! Auch Mao Tse-tung (Mao Zedong) rückte als Schöpfer der kommunistisch geprägten Volksrepublik China in das Zentrum

Zürich 1997, und Hermann LÜBBE (Hg.), Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts (= Schriften der Kath. Akad. in Bayern 152), Düsseldorf 1995 (darin vor allem die Beiträge von Hermann LÜBBE, Totalitäre Rechtgläubigkeit. Das Heil und der Terror, S. 15-34, und Hans MAIER, „Politische Religionen". Ein Konzept des Diktaturenvergleichs, S. 94-112), sowie (auch zum folgenden) ERKENS, Moderne und Mittelalter (wie Anm. 25), S. 115 ff. - Zur Deutung des Nationalsozialismus als einer ,politischen Religion' vgl. auch schon Lucie VARGA, Die Entstehung des Nationalsozialismus. Sozialhistorische Anmerkungen, in: dies., Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936-1939. Hg. von Peter Schöttler (= stw 892), Frankfurt/M. 1991, S. 115-137, bes. 116, 121 ff., 130, 133 [frz. 1937, in: Annales 9, S. 529-546], sowie dazu ebd. S. 53-57, aber auch Klaus HILDEBRAND, Nichts Neues über Hitler. Ian Kershaws zünftige Biographie über den deutschen Diktator, in: HZ 270, 2000, S. 389-397, bes. 393, sowie Hermann August WINKLER, Der lange Weg nach Westen Π. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, München 2000, etwa S. 1-7; Michael BURLEIGH, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt/M. 2000, S. 15-37, und Wolfgang HARDTWIG, Political Religion in Modern Germany: Reflections on Nationalism, Socialism, and National Socialism, in: Bulletin of the German Historical Institute, Washington, D.C., 28,2001,S. 3-27. 78 So der thüringische Pfarrer Julius Leutheuser, zitiert nach Peter MERSEBURGER, Mythos Weimar. Zwischen Geist und Macht, Stuttgart 31999, S. 338. 79 Vgl. Romano GUARDINI, Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik, in: ders., Unterscheidung des Christlichen. Gesammelte Studien 1923-1963, Bd. 2: Aus dem Bereich der Theologie (= Romano Guardini Werke. Hg. von Franz Henrich), Mainz / Paderborn 31994, S. 155-204, bes. 95 f. [erstmals 1946], sowie MAIER, Politische Religionen (wie Anm. 77), S. 33. 80

81

V g l . GUARDINI ( w i e A n m . 7 9 ) S. 198.

Vgl. MAIER, Politische Reügionen (wie Anm. 77), S. 14 f., und Arnold ANGENENDT, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 328 f. 82 Dazu vgl. Ernst H. KANTOROWICZ, Laudes Regiae. Α Study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship, Berkeley and Los Angeles 1946. 83 Ebd. S. 186.

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eines Sonnenkultes und wurde dabei gleichsam als Gott verehrt84. Daß es auch in Asien, mit den Ausstrahlungszentren China und Indien, eine reiche, bis heute nachwirkende Vielfalt an sakralen Herrschaftsformen gab, braucht an dieser Stelle wohl nicht eigens ausgeführt zu werden85. Wesentlicher erscheint in diesem Zusammenhang vielmehr die Tatsache eines nicht nur gebrochenen, sondern mancherorts auch ungebrochenen Fortlebens von sakralen Herrschaftsvorstellungen. Erinnert sei nur an den Dalai Lama, dessen Verehrung als Bodhisattva Avalokitesvara durch die vom Glauben an die Reinkarnation bewegten Buddhisten Tibets auch nach einem mittlerweile mehr als vierzig Jahre andauernden Aufenthalt im Exil kaum nachgelassen hat und an dessen charismatischer Erscheinung ebenso wie an dem unerschütterlichen Festhalten der Tibeter an überkommenen Glaubensinhalten bislang alle Bemühungen der chinesischen Unterdrücker um Beseitigung oder zumindest Zurückdrängung des Lamaismus gescheitert sind86. In Nepal dagegen, um ein weiteres, diesmal aber hinduistisches Beispiel anzuführen, wurde am 24. Februar 1975 der König Blrendra in traditionellen Formen zum Herrscher geweiht87, zum bira (Held), bikram(a) (Tapferer), shäha (König) und deva (Gott = König), was ihm eine besondere Heiligkeit verlieh, die für ihn noch im vorletzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in politisch schwieriger Situation hilfreich war und ihm den Thron erhielt, ihn aber nicht vor dem Mordanschlag bewahrte, der aus der eigenen Familie heraus gegen ihn gefuhrt worden ist und dem er am 1. Juni 2001 zum Opfer fiel88.

84

Vgl. Li Zmsui, Ich war Maos Leibarzt. Die persönlichen Erinnerungen des Dr. Li Zhisui an den Großen Vorsitzenden, Bergisch Gladbach 1994, S. 23 f., und MAIER, Politische Religionen (wie Anm. 77), S. 15. 85 Vgl. dazu ERKENS, Moderne und Mittelalter (wie Anm. 25), S. 117 ff. (und die hier verzeichnete Literatur), aber etwa auch Clifford GEERTZ, Negara. The Theatre State in Nineteenth-Century Bali, Princeton 1980, bes. S. 102 und 124-129, sowie dazu Burkhard SCHNEPEL, Die Dschungelkönige. Ethnohistorische Aspekte von Politik und Ritual in Südorissa/Indien (= Beiträge zur Südasienforschung. Südasien-Institut Universität Heidelberg, Bd. 177), Stuttgart 1997, S. 66 f. und 281. 86 Vgl. Heinrich HACKMANN, Der Buddhismus [bearbeitet von Ernst VON WALDSCHMIDT und Franz BERNHARD), in: Carl Clemen (Hg.), Die Religionen der Erde. Ihr Wesen und ihre Geschichte III, München 1966, S. 56-101, bes. 88 ff. und 95 ff, sowie Charles BELL, The Religion of Tibet, Oxford 1968 [1. Aufl. 1931], S. 107-110, 115, 129, 135, 160 f., 190, und Michael VON BRÜCK, Religion und Politik im Tibetischen Buddhismus, München 1999, bes. das 2. Kapitel „Religion und Politik". 87 Vgl. Mahes Raj PANT, Pusyaratha. The Royal Chariot of Coronation, in: Journal of the Nepal Research Centre 1 (Humanities), 1977, S. 110-116, bes. 116, sowie Michael WITZEL, The Coronation Rituals of Nepal. With special reference to the coronation of King Blrendra (1978) (= Nepalica 4/20, ed. by Niels Gutschow and Axel Michaels: Heritage of the Kathmandu Valley. Proceedings of an International Conference in Lübeck, June 1985), St. Augustin 1987. 88 Vgl. Bert VAN DEN HOEK, Does Divinity Protect the King? Ritual and Politics in Nepal, in: Contributions to Nepalese Studies 17, 2, 1990, S. 147-155. - Zu den königlichen Epitheta vgl. Bernhard KÖLVER (in diesem Band).

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II

Das epochenübergreifende und weltweite, bis heute in unterschiedlicher Art und Weise nicht nur nachwirkende, sondern in manchen Ländern auch immer noch wirksame Phänomen sakraler Herrscher- und Herrschaftslegitimierung wirft eine Reihe von Fragen auf und ist fur den Historiker daher von höchstem Interesse. Deswegen hat es auch schon häufig die Aufmerksamkeit der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen auf sich gezogen; eine vergleichende Betrachtung jedoch wurde dabei nur selten vorgenommen und blieb, wenn sie überhaupt versucht wurde, meist in Ansätzen stecken. Die Vielfalt der Erscheinung und ihr globales Auftreten in den unterschiedlichsten Kultur-, Sprachund Traditionszusammenhängen überfordern ja zwangsläufig die Fähigkeiten eines einzelnen Wissenschaftlers und erfordern das interdisziplinäre Gespräch, das aber bekanntlich nicht immer leicht zu fuhren ist und den einzelnen Gesprächsteilnehmer bei Auskünften über den Zugang eines fremden Faches zu einer bestimmten Problemkonstellation letztlich immer abhängig hält von dem jeweiligen Gesprächspartner. Da es aber bei der Fachgrenzen überschreitenden Erörterung sakraler Herrschaftsphänome nicht hauptsächlich tun deren rein additive Erfassung gehen kann, sondern weil allein eine das Gesamtphänomen in den Blick nehmende, die aus den verschiedenen Bereichen zusammengetragenen Befunde integrierende und zu einer prinzipiellen Interpretation gerinnende Erklärung der Zweck des Bemühens sein muß, erscheint eine gemeinsame Anstrengung dennoch notwendig - und erfolgversprechend. Sie sollte dabei - unter Beachtung der deutlichen Unterschiede und spürbaren Wandlungen - zu einer Gesamtdeutung des herrschaftslegitimierenden Sakralitätsphänomens gelangen, zu einer Synthese, die hinter den verschiedenen Erscheinungsformen herrscherlicher Sakralität ein vielleicht vorhandenes und der Erscheinungsvielfalt zugrunde liegendes gemeinsames Muster erkennen läßt. Dazu ist es freilich nötig, eine Differenz aufzuheben, die von christlich geprägten Historikern ansonsten häufig betont wird: den angeblichen Unterschied von christlichen und heidnischen Vorstellungen über die sakrale Fundierung von Herrschaft. Die Forderung, von der Praxis religionsgeschichtlicher Phänomenologie, die alle Arten „autochthon-paganer", „pagan-antiker" und „christlicher Elemente" unter dem Begriff der Sakralität vereinigt, abzurücken und statt dessen „die bibl(isch)-christl(ich) geprägten [Formen] wegen wesentl(icher) struktureller Verschiedenheit als sakral-theokrat(isch)" zu bezeichnen89, mag aus heuristischen Gründen bei der Betrachtung der mittelalterlichen Verhältnisse sinnvoll sein, bei der Erfassimg einer weltweiten und epochenübergreifenden Erscheinung jedoch ist sie eher hinderlich, denn die christlich fundierte Herrschersakralität stellt unter globaler Perspektive ja nichts anderes dar, als die spezielle Ausformung eines allgemeinen Phänomens.

89

Vgl. H(ans) H(ubert) ANTON, Sakralität, in: Lexikon des Mittelalters 7, 1995, S. 1263-1266 (die Zitate finden sich auf S. 1263 f.).

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Auch die von Max Weber aufgestellte Typologie der legitimen Herrschaftsformen 90 , die prinzipiell drei Arten von Herrschaft (nämlich die rationale, traditionale und charismatische) unterscheidet, hilft bei diesem Blickwinkel nur bedingt weiter, weil sie die idealtypischen Erscheinungsformen zwar benennt, aber natürlich keine Erklärung fur die einzelnen historischen Entwicklungen und ihre vielfaltigen Verknüpfungen untereinander (oder für deren Fehlen) bieten kann91. Selbstverständlich war Max Weber bewußt, wie wenig die von ihm beschriebenen Herrschaftstypen in der historischen Wirklichkeit in ungetrübter Reinheit vorkommen92 und daß die charismatische Herrschaft etwa, die zunächst allein durch die charismatische Heiligkeit oder die vorbildliche Heldenkraft ihres Trägers begründet wurde und ausschließlich von dessen Erfolg abhing93, schließlich dauerhaft werden konnte und zu ihrer Fortexistenz keinen Träger eines persönlichen Charismas mehr benötigte94. Bei diesem Prozeß näherte sie sich zwangsläufig der traditionalen Herrschaft an95, die in starkem Maße auf der Heiligkeit von Traditionen beruht96. Da mithin Elemente der Heiligkeit und des Sakralen in allen drei Typen des Weberschen Klassifizierungssystems vorkommen, selbst bei der Form rationaler Herrschaft97, trägt dieses System nur wenig zum historischen Verständnis des Phänomens sakraler Herrschaftslegitimierung bei. Deren Wesen dürfte vielmehr besser erfaßt werden, wenn man von allgemeinen und äußerst wirksamen religiösen Grundvorstellungen ausgeht. „Im allgemeinen ist die Religion und die Grundlage des Staates eins und dasselbe; sie sind an und fur sich identisch", hat ja im frühen 19. Jahrhundert bereits Hegel bemerkt98, der natürlich auch schon darauf hinwies, daß „die Verehrung Gottes oder der Götter" befestigend und erhaltend für „die Individuen, die Familien, Staaten" wirksam zu werden vermag99, weswegen die Religion als etwas Nützliches für „Individuen, Regierungen, Staaten" eben auch als ein Mittel zum Zweck betrachtet werden kann100. Auch Eduard Meyer betont diesen Zusammenhang im ersten, den 'Elementen der Anthropologie' gewidmeten Teilband seiner großen „Geschichte des Altertums"101: „Je größer die Kulturgüter sind, desto fester klammert man sich an die Götter, denen man sie verdankt, desto zu90 Vgl. dazu Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Fünfte, revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1972 u. ö., bes. 1. Teil Kap. ΠΙ: „Die Typen der Herrschaft" und 2. Teü Kap. IX: „Soziologie der Herrschaft", sowie DERS., Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 71988, S. 475-488. 91 Vgl. dazu und zum folgenden ERKENS, Moderne und Mittelalter (wie Anm. 25), S. 120. 92

Vgl. WEBER, Wirtschaft (wie Anm. 90), S. 124 (ΠΙ 1 § 2, 3.2).

93

Vgl. ebd. (ΠΙ 1 § 2, 3) sowie S. 140 ff. (ΠΙ4 §10). Vgl. ebd. S. 142 ff. (ΙΠ 5 § 11) und 661-681 (IX § 2). Vgl. ebd. S. 662. Vgl. ebd. S. 124 (HI 1 § 2 , 2 ) und 130 (ΙΠ 3 § 6). Vgl. ebd. S. 143. Vgl. Anm. 68.

94 95 96 97 98 99

G. W. F. HEGEL, Werke 16 (wie Anm. 68), S. 103.

100

Vgl. ebd. S. 104. Eduard MEYER, Geschichte des Altertums 11: Einleitung. Elemente der Anthropologie, Darmstadt 6 1953, S. 133 f. 101

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versichtlicher hofft man zugleich durch gesteigerte Religionsübung ihren Bestand zu sichern; wer sich gegen die traditionelle Ordnung auflehnt, empört sich damit gegen den Willen der Götter. Daher erscheint die Religion als die festeste Stütze der bestehenden Staatsordnung, sei sie eine unumschränkte Monarchie, sei sie das Regiment eines bevorrechteten Standes, sei sie eine auf Grund der Gleichberechtigung aller Vollfreien aufgebaute freie Verfassung. Daher die enge Verbindung zwischen Religion und Recht: die Götter beschirmen es nicht nur, ..., sondern sie offenbaren auch ihren Dienern, Priestern und Sehern die richtigen Grundsätze der Rechtsordnung". Diese enge Beziehung von 'Staat' und Religion fand ihren Ausdruck nicht zuletzt in der Vorstellung, „daß der Bestand der Kultur, des Staats, der Moral auf der Religion und dem Gottesglauben beruhe, daß sie zusammenstürzen und dem Chaos ... erliegen müßten, wenn die Religion angetastet oder gar umgestoßen werde"102. Das freilich ist ein Ursache-Wirkungsverhältnis, das Eduard Meyer nicht akzeptiert - denn: „Staat und Gesellschaft, Recht und Moral sind" - nach seiner Ansicht - „selbständige Gewalten, die ebenso wie alle materielle Kultur eine von der Religion völlig unabhängige Grundlage haben und unverändert ohne sie fortbestehen können, wenn sie auch ... mit ihr in Wechselwirkung stehen; ihre Verknüpfung mit der Religion beruht nur darauf, daß sie zu den Komponenten der bestehenden Welt gehören, und darum wie diese alle als Schöpfung der Götter gelten. Nicht die Religion an sich stützt den Staat, sondern vielmehr dieser die Religion, weil ihm dieser Glaube nützlich ist; ,.."103. Ob ein so eindeutiges Verhältnis zwischen Religion und herrschaftlicher Ordnung, wie Eduard Meyer es annimmt, aber wirklich bestanden hat, darf mit gleichem Fug und Recht bezweifelt werden wie die sinnvolle Anwendung des an modernen Verhältnissen gewonnenen Staatsbegriffs auf die vormodernen Staatswesen104. Allein die Herleitung von Herrschaft, ihrer Ordnung und gelegentlich auch ihres Trägers aus der Sphäre des Übernatürlich-Numinosen105 zeigt die Bedeutung religiöser Vorstellungen als Wurzelgrund menschlicher Ordnungswelten; und dieses, auf mythischem Denken106 beruhende Bewußtsein vom göttlichen Ursprung ist in der historischen Wirklichkeit zweifellos von größerer Wirkung gewesen als jede aus modern-laizistischem Staatsverständnis abgeleitete (und der Realität unter Umständen nahekommende, aber von den Miterlebenden nicht geteilte) Vorstellung von „Staat und Gesellschaft, Recht und Moral" als Ordnungsbegriffe, die auf „von der Religion völlig unabhängige[r] Grundlage" beruhen107. Daß nämlich das historische Bewußtsein, daß die überlieferte Vorstellung von ge102

Ebd. S. 134 f. Ebd. S. 135. 104 Vgl. dazu schon die Einwände, die E. Meyer (ebd. S. 11 f.) diskutiert und verwirft, aber auch Stefan BREUER, Der archaische Staat. Zur Soziologie charismatischer Herrschaft, Berlin 1990, in der Einleitung zu seinen Ausführungen, in denen er selbst freilich am Staatsbegriff festhält. Roman 2 HERZOG, Staaten der Frühzeit. Ursprünge und Herrschaftsformen, München 1988 [ 1998], akzeptiert, trotz ebenfalls vorhandenen Problembewußtseins, zu rasch den Begriff 'Staat' für die frühen Herrschaftsbildungen und Reiche. 105 Vgl. dazu etwa E. MEYER (wie Anm. 101) 11, S. 106 f., 126 f., 133 ff. 106 Zu diesem Begriff vgl. ebd. S. 87-93. 107 Vgl. Anm. 103. 103

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schichtlichen Zusammenhängen - sei sie nun 'richtig' oder nicht - eine äußerst wirkmächtige Rolle bei historischen Prozessen spielt, hat Jan Assmann mit Bezug auf Maurice Halbwachs 108 ja gerade am Beispiel früher Hochkulturen und an deren 'kulturellem Gedächtnis' demonstriert und dabei nicht zuletzt auf die Religion verwiesen, „als das bei weitem wirkungsvollste Mittel, einer ethnischen Identität Permanenz zu verleihen"109. Darin allein aber erschöpft sich die Rolle der Religion keineswegs. Vielmehr wird man von allgemeinen und in allen Lebensbereichen wirksamen religiösen Grundvorstellungen ausgehen dürfen110 und deswegen eben auch von der ,Geburt' „fast alle[r] großen sozialen Institutionen aus der Religion" 111 , mithin von einem religiösen Gesamtzusammenhang, in den die Entwicklung und Ausprägimg sakraler Herrschaftsvorstellungen ebenfalls eingeordnet und von dem her sie verstanden und gedeutet werden müssen. Daß solche Vorstellungen offenbar allen menschlichen Gemeinwesen kohärent sind - entweder von Anfang an oder doch mindestens seit einer frühen Stufe ihrer Entwicklung - zeigen sowohl die weltweite Verbreitung als auch die entsprechenden Erscheinungen bei den sog. Naturvölkern112. Die Ausprägungen reichen dabei von primitiven Formen der magischen Naturbeherrschung durch entsprechend begabte Personen 113 , denen sich aufgrund ihrer 'übernatürlichen' Fähigkeiten der Aufstieg an die politische Spitze eines Personenverbandes eröffnete, über den Schamanismus im weitesten Sinne 114 bis hin zu den beschriebenen Formen mittelalterlicher Sakralität115, antiker 108 Vgl. Maurice HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (= stw 5 3 8 ) , Frankfurt/M. 1 9 8 5 [frz. 1 9 2 5 ] ; DERS., Das kollektive Gedächtnis (= FW 9 8 0 ) , Frankfurt/M. 1 9 8 5 [frz. 1 9 5 0 ] , 109 Vgl. Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999 [erste Auflage 1997], zur Bedeutung besonders der Religion S. 160. 110 Vgl. dazu Emile DÜRKHEIM, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 21998 [frz. 31994, 11912]; Mircea ELIADE, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Frankfurt/M. 31994 [frz. 1949], sowie Günter Dux, Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion, in: Internat. Jb. f. Religionssoziologie 8,1973, S. 7-67. 111

112

DÜRKHEIM ( w i e A n m . 1 1 0 ) S. 5 6 1 .

Vgl. dazu etwa Horst NACHTIGALL, Das sakrale Königtum bei Naturvölkern und die Entstehung früher Hochkulturen, in: Zs. f. Ethnologie 8 3 , 1 9 5 8 , S. 3 4 - 4 4 , sowie Geo WIDENGREN, Religionsphänomenologie, Berlin 1 9 6 9 , S. 3 6 0 - 3 9 3 . 113 Vgl. dazu James George FRAZER, Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker, Reinbek 1989 u. ö. [engl. 1922], S. 120-131. - Zur (die hier behandelte Problematik jedoch nicht tangierende) Kritik an Frazers Magiebegriff vgl. etwa Nicole BELMONT, Superstition et religion populaire dans les societes occidentales, in: La fonction symbolique. Essais d'anthropologic reunis par Michel Izard et Pierre Smith (= Bibliotheque des sciences humaines), Paris 1979, S. 53-70, bes. 64 f. 114 Vgl. dazu Mircea ELIADE, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik (= stw 126), Frankfurt/M. 1975 [frz. 1951, dt. 1957], der den allgemeinen - hier beibehaltenen - Schamanenbegriff zu Recht zugunsten eines spezifischen kritisiert (vgl. S. 13 ff., 461), der schamanische Mechanismen aber eben auch in archaischen Kulturen feststellt (vgl. Kap. XI: „Schamanische Lehren und Techniken bei den Indogermanen" sowie Horst KIRCHNER, Ein archäologischer Beitrag zur Urgeschichte des Schamanismus, in: Anthropos 47, 1952, S. 244-286) und zudem die Verbindimg des Schamanen, Medizinmanns und Zauberers zum Göttlichen eigens betont (vgl. S. 465); vgl. auch Mircea ELIADE, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart 5, 3 1986, S. 1387 (s. v. Schamanismus), sowie allg. Klaus E. MÜLLER, Schamanismus. Heiler - Geister - Rituale (= Beck'sche Reihe 2072), München 1997.

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Divinität 116 und altägyptischer Herrschergöttlichkeit117. Magisch-charismatische Fähigkeiten konnten in einfacheren Vorstellungswelten - etwa in Australien118 und Afrika 119 , wo sich im übrigen am Beispiel von Tenkodogo in Burkina Faso 120 oder auch des Sudan das Nachwirken sakralen Herrschaftsverständisses in breiteren Bevölkerungsschichten noch heute leicht nachweisen läßt121 - für ihren Besitzer zwar auch bedrohlich werden, dann nämlich, wenn die übernatürliche Begabung versagte oder im Verlauf eines normalen Alterungsprozesses schwächer zu werden drohte und man daher den nicht mehr das Heil garantierenden Herrscher tötete; aber in der Regel wirkten die sakralen Bezüge, in die die Herrscher gestellt waren, herrschaftsstabilisierend, weswegen die großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts und ihre Helfer ja auch mit pseudoreligiösem Gestus auf entsprechende Relikte zurückzugreifen suchten. In diesem Zusammenhang gewinnt schließlich auch eine apodiktische Feststellung des tiefblickenden, aber wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus zu Recht umstrittenen Carl Schmitt 122 ein besonderes Gewicht, die markante Aussage nämlich, mit der der bekannte Staatsrechtlehrer das „Politische Theologie" genannte dritte Kapitel seiner 115

Vgl. oben bei Anm. 32-47. Vgl. dazu Anm. 48 und 60. 117 Vgl. dazu E[lke] BL[UMENTHAL], Königsideologie, in: Lexikon der Ägyptologie 3, Wiesbaden 1980, S. 526-531, sowie DIES, (in diesem Band) und die entsprechenden Passagen bei Jan ASSMANN, Ägypten. Eine Sinngeschichte, Fankfurt/M. 1999 [erstmals München 1996], 118 Vgl. dazu und zum folgenden DÜRKHEIM (wie Anm. 110) S. 93. 119 Vgl. dazu und zum folgenden FRAZER (wie Anm. 113) S. 123-126 sowie S. 387^100 (aber auch DERS. in der dritten Auflage der umfänglicheren englischen Ausgabe von 1911: The Golden Bough. Part I: The Magic Art and the Evolution of Kings, Vol. I, S. 352 ff., wo auch die Belege verzeichnet sind) und Adolf FRIEDRICH, Afrikanische Priestertümer. Vorstudien zu einer Untersuchung (= Studien zur Kulturkunde 6), Stuttgart 1939, S. 19 f. und 15 ff.; Leo FROBENIUS, Erythräa. Länder und Zeiten des heiligen Königsmordes, Berlin / Zürich 1931, S. 223-229; Eike HABERLAND, Das heilige Königtum, in: Burghard Freudenfeld (Hg ), Völkerkunde, München 1960, S. 77-89, bes. 86 ff.; Edwin M. LOEB, Die Institution des sakralen Königtums, in: Paideuma 10, 1964, S. 102-114; Michael W. YOUNG, The divine kingship of the Jukun: A re-evaluation of some theories, in: Africa 36/1, 1966, S. 135-152; Gillian FEELEY-HARNIK, Issues in divine kingship, in: Annual Review of Anthropology 1985, S. 273-313; James H. VAUGHAN, A Reconsideration of Divine Kingship, in: Explorations in African Systems of Thought. Ed. by Ivan Karp and Charles S. Bird, Washington, D. C. und London 2 1992, S. 120-142 [1. Aufl. 1980]; Α. ADLER, Royaute, in: Pierre Bonte / Michel Izard (Hgg.), Dictionnaire de l'ethnologie et de 1'anthropologic, Paris 1991, S. 636-639, sowie allg. auch R. E. BRADBURY, The kingdom of Benin, in: ders., Benin Studies. Edited, with an Introduction, by Peter Morton-Williams, London / New York / Ibadan 1973, S. 44-75, bes. 74 f. [erstmals 1967, in: Daryll Forde and P. M. Kaberry (Hgg.), West African Kingdoms in the Nineteenth Century, S. 1-35], 116

120

Vgl. Ute RITZ-MÜLLER, Kingship and cosmological order: The royal court of Tenkodogo, in: Studies in geography, ethnology and linguistics of the West African Savannah (= Berichte des SFB 268 „Kulturentwicklung und Sprachgeschichte im Naturraum Westafrikanische Savanne" Bd. 4), Frankfurt/M. 1994, S. 111-130. 121 Vgl. Bernhard STRECK, Fröhliche Wissenschaft Ethnologie. Eine Einführung, Wuppertal 1 9 9 7 , S. 111 f. 122 Vgl. dazu etwa Golo MANN, Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in Frankreich. Hg. von Hans-Martin Gauger und Wolfgang Mertz, Frankfurt/M. 1999, S. 120-129.

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1922 erstmals erschienenen Broschüre gleichen Titels eröffnet 123 : „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe". Wegen dieser Behauptung nämlich und der in ihrem Anschluß von Schmitt behandelten „Politisierung theologischer Begriffe" 124 sowie wegen des Hinweises auf die - schon erwähnte 125 - gottgleiche Stellung neuzeitlicher Fürsten 126 , aber auch auf die entsprechende Rolle der Menschheit, die in die Position Gottes einrückt 127 , und damit auf die Bedeutung des „Volkes" als Souverän in demokratischen Gemeinwesen lassen sich die säkularisierten Vorstellungen sakral legitimierter Herrschaft in gewissem Sinne bis in die politische Vorstellungswelt moderner Demokratien hinein 28 verfolgen. Weitere Grenzen können einem historischen Untersuchungsfeld kaum mehr gesteckt werden.

123

Carl SCHMITT, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 71996, S.

43. 124

Vgl. ebd. S. 51, dazu siehe jetzt aber auch die eine gegenläufige Bewegung mitbedenkenden Ausführungen von Jan ASSMANN, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München / Wien 2000, vor allem die „Einführung: ,Politische Theologie' - Redefinition eines Begriffs". 125 Vgl. Anm. 61-67. 126

127

V g l . SCHMITT ( w i e A n m . 1 2 3 ) S. 51 ff.

Vgl. ebd. S. 53 f. - Zum Souveränitätsbegriff des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit vgl. Helmut QUARISCH, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 38), Berlin 1986. 128 Vgl. dazu etwa Carl SCHMITT, Politische Theologie Π. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 41996 [1. Aufl. 1970], aber auch die Vorstellungen von einer „Zivilreligion", wie sie hauptsächlich, aber nicht ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Amerika vertreten werden: Hermann LÜBBE, Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität, in: Norbert Achterberg / Werner Krawietz (Hgg.), Legitimation des modernen Staates (= Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 15), Wiesbaden 1981, S. 40-64; DERS., Religion nach der Aufklärung, Graz / Wien / Köln 1986, S. 306-327 (sowie dazu Herbert SCHEIT, „Zivilreligion" - Liberalitätsgarant des Staates? Eine Auseinandersetzung mit Hermann Lübbe, in: Politische Vierteljahrsschrift. Zs. d. Dt. Vereinigung für Polit. Wiss. 25 [Heft 3], 1984, S. 339-348), und Niklas LUHMANN, Grundwerte als Zivilreligion. Zur wissenschaftlichen Karriere eines Themas, in: Heinz Kleger / Alois Müller (Hgg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa (= Religion. Wissen. Kultur 3), München 1986, S. 175-194 [erstmals 1978, in: Archivo di Filosofia, S. 51-71],

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III Bei diesem weiten Horizont vermag man zahlreiche Detailprobleme in den Blick zu nehmen, ohne die großen Perspektiven zu verlieren. Diese erfassen zumindest vier Bereiche, die umschreibbar sind mit den Begriffen: Wandlungen, Analogien, Beeinflussungen und Unabhängigkeit. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, sollen diese im folgenden durch wenige Beispiele charakterisiert werden:

a) Wandlungen Der sog. Investiturstreit129 gilt als 'Wendezeit des Mittelalters'130, sein früher Höhepunkt in Canossa als eine 'Wende', durch die das mittelalterliche Königtum in einen Prozeß der Entsakralisierung eintrat131 (der freilich erst nach vielen Jahrhunderten zu einem Abschluß kam und im England und Frankreich der 'rois thaumaturges' völlig anders verlief als im 'Heiligen Römischen Reich'132). Während etwa die Sakralität des französischen Königs erst seit dem hohen Mittelalter durch die Entfaltung der sog. 'religion royale'133 zur vollen Ausgestaltung gelangte, müssen für die hoch- und spätmittelalterlichen Kaiser erst noch alle Belege fur die Reste ihrer ursprünglichen 'Heiligkeit' zusammengesucht werden, um den eingetretenen Wandel voll erfassen und genau beschreiben zu können. Hierfür ist zwar schon einiges geschehen134, muß aber auch noch 129

Zu diesem Begriff vgl. Rudolf SCHIEFFER, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den deutschen König (= Schriften der M G H 28), Stuttgart 1981, S. 1-6, zur Sache neuestens Werner GOEZ, Kirchenreform und Investiturstreit. 910-1122, Stuttgart / Berlin / Köln 2000. 130 Dazu vgl. etwa ERKENS, Moderne und Mittelalter (wie Anm. 25), S. 108 ff. 131 Vgl. dazu neben der in Anm. 40 angegebenen Literatur vor allem auch die Studie von Anton MAYER-PFANNHOLZ, Die Wende von Canossa. Eine Studie zum Sacrum Imperium, in: Hellmut Kämpf (Hg.), Canossa als Wende. Ausgewählte Aufsätze zur neueren Forschung (= Wege der Forschung 12), Darmstadt 31976, S. 1-26 [erstmals 1932/33, in: Hochland 30, S. 385-404], sowie GOEZ (wie Anm. 128) S. 191, der zu Recht daraufhinweist, daß die „Fastensynode des Jahres 1076 mit der erstmaligen Absetzung und Exkommunikation eines gesalbten und gekrönten christlichen Königs durch den Papst" „einen der größten Wendepunkte in der Geschichte des Mittelalter" bildete. Sinnfällig wird der Erfolg des Papstes allerdings erst 1077 durch den Bußakt von Canossa, der Konsequenz der Barmung des Vorjahres. 132 Zum Begriff Sacrum Imperium Romanum vgl. Gottfried KOCH, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium. Studien zur ideologischen Herrschaftsbegrilndung der deutschen Zentralgewalt im 11. und 12. Jahrhundert (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 20), Berlin (Ost) 1972, S. 260-279, sowie Heinrich APPELT, Die Kaiseridee Friedrich Barbarossas, in: Gunther Wolf (Hg.), Friedrich Barbarossa (= Wege der Forschung 390), Darmstadt 1975, S. 208-244 [erstmals 1967, in: SBB d. Österr. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 252,4, S. 3-32], bes. 218-225. 133 Zu dieser vgl. SCHRAMM, Der König von Frankreich I (wie Anm. 41), S. 4, 241, 257, 266, 270, und Carlrichard BRÜHL, Deutschland - Frankreich. Die Geburt zweier Völker, Köln 21995, S. 59 f. 134 Vgl. etwa Anm. 43,131 und 141 sowie Bernd SCHÜTTE (in diesem Band).

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vieles geleistet werden. So bleibt ζ. B. in diesem Zusammenhang nach der vielfach betonten Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts durch die späten Salier und ihre Nachfolger zu fragen. Diese Rezeption diente den Herrschern zweifellos dazu, die seit dem Gang nach Canossa auf dem Feld der Sakralität eingetretenen Legitimationsverluste zu kompensieren, und führte schließlich zu der Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie135. Darüber hinaus aber ist zu untersuchen, inwieweit im hohen und späten Mittelalter durch diese Adaption des antik-römischen Kaiserrechtes auch Elemente der kaiserlichen 'Heiligkeit' spätantiken Zuschnitts zur sakralen Fundierung der Kaiserwürde übernommen werden konnten. Friedrich II. jedenfalls, der allerdings auch in der Tradition der süditalischen Normannenherrscher stand136, orientierte sich im 13. Jahrhundert an entsprechenden Vorbildern137. Außerdem zeigt sich gerade im Imperium, dessen Charakter als Wahlreich seit dem 12. Jahrhundert unbestritten feststand , wie sehr hier trotz aller Entsakralisierungstendenzen die traditionelle Vorstellung von der Wahl als einer Willensentscheidung Gottes fortbestand und ihren Ausdruck etwa in der Heilig-Geist-Messe fand 139 , die spätestens seit 1314 vor der Königswahl gesungen wurde140, um durch die - auch schon bei früheren Königswahlen übliche, aber wohl in 135 Vgl. dazu die ältere Studien aufnehmende und fortsetzende Untersuchung von Tilman STRUVE, Die Salier und das römische Recht. Ansätze zur Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie in der Zeit des Investiturstreites (= Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse der Akad. d. Wiss. in Mainz, Jg. 1999 Nr. 5), Stuttgart 1999. 136 Vgl. dazu etwa Hubert HOUBEN, Roger I von Sizilien. Herrscher zwischen Orient und Okzident, Darmstadt 1997, S. 120-135; Antonio MARONGIU, Lo spirito della monarchia normanna nell'allocuzione di Ruggero II ai suoi grandi, in: Atti del Congresso intemazionale di Diritto romano e di Storia del diritto, a cura di Guiscardo Moschetti, Vol. IV, Milano 1953, S. 313-327, sowie Wolfgang STÜRNER, Rerum necessitas und divina provisio. Zur Interpretation des Prooemiums der Konstitutionen von Melfi (1231), in: DA 39,1983, S. 467-554, bes. 478 f. 137 Vgl. etwa Ernst KANTOROWICZ, Friedrich der Zweite, 2 Bde., Düsseldorf / München 1973 [= 41936; Ergänzungsband 1931], sowie die entsprechenden Beiträge in: Gunther WOLF (Hg.), Stupor Mundi. Zur Geschichte Friedrichs II. von Hohenstaufen (= Wege der Forschung 101), Darmstadt 1966, und - in knapper Zusammenfassung - Hans Martin SCHALLER, Kaiser Friedrich Π. Verwandter der Welt (= Persönlichkeit und Geschichte 34), Göttingen 21971, sowie DERS., Die Kaiseridee Friedrichs II., in: ders., Stauferzeit. Ausgewählte Aufsätze (= Schriften der MGH 38), Hannover 1993, S. 53-83 [erstmals 1974 in: Probleme um Friedrich II., hg. von Josef Fleckenstein (= Vorträge und Forschungen 16), S. 109-134], und Wolfgang SEEGRON, Kirche, Papst und Kaiser nach den Anschauungen Kaiser Friedrichs Π., in: HZ 207, 1968, S. M l , bes. 8 f., 26-32; Wolfgang STURNER, Friedrich Π. Teil 2: Der Kaiser. 1220-1250, Darmstadt 2000, etwa S. 194 ff. und 471 f., aber auch (wegen wichtiger Einsichten) Hans-Joachim SCHMIDT, Vollgewalt, Souveränität und Staat. Konzepte der Herrschaft von Kaiser Friedrich II., in: Heinig u. a. (Hgg.), Reich (wie Anm. 36), S. 21-51, bes. 24 f. und 46. 138 Vgl. dazu etwa die Erklärung Friedrich Barbarossas gegenüber Papst Hadrian IV. von 1158, ed. Ludwig WEILAND, MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum I, Hannover 1893, S. 233 Nr. 167: Cumque per electionem principum a solo deo regnum et imperium nostrum sit, ... 139 Vgl. Winfried DOTZAUER, Anrufung und Messe zum Heiligen Geist bei Königswahl und Reichstagen in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 33, 1981, S. lM4,bes. 16-35. 140 Vgl. neben den Belegen, die in der in Anm. 139 und 141 angegebenen Literatur angeführt werden, vor allem auch die entsprechende Bestimmung Karls IV. in der Goldenen Bulle von 1356, ed. Wolf-

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einfacheren Formen vorgenommene - Herbeiflehung und Mitwirkung des Heiligen Geistes fur die wichtige Entscheidung gerüstet zu sein. Der neue König empfing dadurch geradezu eine Art 'Wahlheiligkeit' 41. Wandel als ein prägendes und daher von der Forschung immer Aufmerksamkeit heischendes Element der Geschichte vollzog sich natürlich immer und überall. Die Sakralität etwa des mesopotamischen und altägyptischen Herrschertums war daher selbstverständlich auch von ihm betroffen 142 und bedarf deshalb einer besonderen Betrachtung vor allem hinsichtlich der Kräfte und Ideen, die dabei wirksam wurden - und dies nicht zuletzt unter dem Aspekt der Vergleichbarkeit: Inwieweit ζ. B. läßt sich die bis weit in die Neuzeit hinein hinziehende Entsakralisierung des frühmittelalterlichen Königtums in Parallele setzen zu der Entwicklung der Vorstellung vom Pharao143 als einem Herrscher, dessen ursprüngliche „identitäre Göttlichkeit" sich schließlich zu einer rein „repräsentativein)" wandelte, der zunächst als Gott und schließlich als Gottessohn und Stellvertreter Gottes auf Erden galt? Mit dieser Frage wird zugleich schon der Bereich der Analogien berührt.

gang D. FRITZ, MGH Fontes iuris Germanici antiqui XI, Weimar 1972, S. 53 (Π 1): Postquam autem sepedicti electores seu nurtcii civitatem Frankenfordensem ingressi fuerint, statim sequenti die diluculo in ecclesia sancti Bartholomei apostoli ibidem in omnium ipsorum presentia missam de sancto spiritu faciant decantari, ad finem ut ipse sanctus spiritus corda ipsorum illustret et eorum sensibus lumen sue virtutis infundat,... 141 Vgl. dazu Ernst SCHUBERT, Königswahl und Königtum im spätmittelalterlichen Reich, in: Zs. f. hist. Forschung 4, 1977, S. 257-338, bes. 260-264; Roland PAULER, Wahlheiligkeit, in. Karl Rudolph Schnith / Roland Pauler (Hgg.), Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag (= Münchener Historische Studien, Abt. Mittelalterliche Geschichte 5), Kallmünz 1993, S. 461-477, und allg. Wilhelm KÖLMEL, „A deo sed per homines". Zur Begründung der Staatsgewalt im Ordnungsverständnis des Mittelalters, in: Franziskanische Studien 48, 1966 (= Festgabe fur Valens Heynck, O.F.M.), S. 308-335. Emst SCHUBERT, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Inst. für Geschichte 63), Göttingen 1979, S. 35^12, notiert darüber hinaus noch weitere Hinweise auf den sakralen Gehalt im spätmittelalterlichen Königsgedanken. 142 Für den Alten Orient vgl. etwa Walther SALLABERGER (in diesem Band) sowie Claus WILCKE (in diesem Band) und Wolfgang RÖLLIG, Zum „Sakralen Königtum" im Alten Orient, in: Burkhard Gladigow (Hg.), Staat und Religion, Düsseldorf 1981, S. 114-125, sowie Wolfgang FAUTH, Diener der Götter - Liebling der Götter. Der altorientalische Herrscher als Schützling höherer Mächte, in: Saeculum 39, 1988, S. 217-246; für Ägypten vgl. die folgende Anm. sowie für beide Regionen Henri FRANKFORT, Kingship and the Gods. Α Study of Ancient Near Eastern Religion as the Integration of Society and Nature, Chicago 1948 [ND 1955], 143 Vgl. dazu ASSMANN, Ägypten (wie Anm. 1 1 7 ) , etwa S. 1 3 6 f.; DERS.,Politik zwischen Ritual und Dogma. Spielräume politischen Handelns im pharaonischen Ägypten, in: Saeculum 35, 1984, S. 9 7 - 1 1 4 , bes. 9 9 - 1 0 3 , sowie Rolf GUNDLACH, Der Pharao - eine Hieroglyphe Gottes. Zur „Göttlichkeit" des ägyptischen Königs, in: Dieter Zeller (Hg.), Menschwerdung Gottes - Vergöttlichung von Menschen (= Novum Testamentum et Orbis Antiquus 7), Freiburg/Schweiz und Göttingen 1988, S. 1 3 - 3 5 , und - in knapper Zusammenfassung - BL[UMENTHAL] (wie Anm. 1 1 7 ) S. 5 3 0 .

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b) Analogien Analogien, Vergleichbarkeiten oder Ähnlichkeiten lassen sich unter dem Aspekt der Herrschersakralität ohne Mühe zu allen Zeiten und in allen Räumen der Erde finden. Sie müssen natürlich vorrangig unter strukturellen Gesichtspunkten betrachtet werden dann nämlich lassen sich beispielsweise miteinander vergleichen: die mesopotamische Einschätzung der Bedeutung des sakralen Königs für den Wohlstand des Landes144, die frühmittelalterliche (in der wirkmächtigen145, aber fälschlicherweise Cyprian zugeschriebenen Abhandlung146 'de duodecim abusivis saeculi'147 ebenso wie in der buddhistischen Herrscherlehre 'aus der Angereihten Sammlung'148 geäußerte) Vorstellung von der Tugendhaftigkeit des Herrschers als Voraussetzung für das Wohlergehen des Volkes149 sowie der besonders, aber nicht nur in Afrika bezeugte Glaube an einen Zusammenhang150 zwischen den übernatürlichen Herrscherkräften und der Fruchtbarkeit des Landes. c) Beeinflussungen Die angesprochenen Analogien und Ähnlichkeiten fuhren von selbst zu der Frage nach (einseitigen) Abhängigkeiten und (wechselseitigen) Beeinflussungen. Daß es solche gab, ist unübersehbar. Gerade die europäische Entwicklung151 legt deutliches Zeugnis für sie ab: Unverkennbar wurde die christliche Idee vom sakral legitimierten Herrscher ja durch mächtige Traditionsströme gespeist, die durch mindestens zwei verschiedene Strombette flössen. Beide Stränge beginnen in der altorientalischen und altägyptischen Frühzeit. Der eine setzt sich über das Alte Testament und die jüdisch-christliche Ge144

Vgl. etwa FAUTH (wie Anm. 142) S. 217 f. und RÖLLIG (wie Anm. 142) S. 122 f. - Zu entsprechenden römischen Vorstellungen vgl. CLAUSS, Kaiser und Gott (wie Anm. 48), S. 342-346. 145 Vgl. dazu etwa die folgende Anm. sowie Martina BLATTMANN, ΈΊΗ Unglück fur sein Volk'. Der Zusammenhang zwischen Fehlverhalten des Königs und Volkswohl in Quellen des 7.-12. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 30, 1996, S. 80-102. 146 Zu dieser vgl. Hans Hubert ANTON, Pseudo-Cyprian. De duodecim abusivis saeculi und sein Einfluß auf den Kontinent, insbesondere auf die karolingischen Fürstenspiegel, in: Heinz Löwe (Hg.), Die Iren und Europa im frühen Mittelalter Π, Stuttgart 1982, S. 568-617. 147 Hg. von Siegmund HELLMANN, Pseudo-Cyprianus de ΧΠ abusivis saeculi (= Texte und Untersuchungen der altchristlichen Literatur 34), Leipzig 1910, S. 32-60, bes. 52 (Norms abusionis gradus est rex iniquus). 148 Anguttara-Nikäya, Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Sammlung. Neue Ausgabe in fünf Bänden, Bd. 2. Aus dem Päli übersetzt von Nyanatiloka [d. i. Anton Gueth], Freiburg 51993, S. 75 f. (IV 70). 149 Vgl. dazu etwa ERKENS, Moderne und Mittelalter (wie Anm. 25), S. 118 f. mit Anm. 154. 150 Vgl. Anm. 118 und 119. 151 Zu Beeinflussungen im allgemeinen Sinne vgl. etwa Eduard MEYER, Geschichte des Altertums I 2, Darmstadt 71954, S. 838-845 (§§ 541-545), sowie Siegfried MORENZ, Die Begegnung Europas mit Ägypten (= SBB d. Sachs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, Philol.-hist. Kl. 113, 5), Berlin 1968.

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dankenwelt fort152, der andere findet seinen Weg über den Hellenismus und die römische Kaiserzeit153; beide vereinigen sich in der christlichen Spätantike und gewinnen so fur die folgenden Jahrhunderte eine mächtige Prägekraft. Vergleichbares läßt sich aber auch für den asiatischen Raum feststellen, wo, wie bereits erwähnt154, Indien und China zu äußerst wirksamen Ausstrahlungszentren sakraler Herrschaftsvorstellungen wurden. Weitere Zusammenhänge solcher Art lassen sich ohne Zweifel aufweisen und detailliert beschreiben. Letztlich stellt sich damit aber auch die Frage, ob alle registrierbaren Vorstellungen über Herrschersakralität miteinander zusammenhängen, ja, ob sie möglicherweise nicht nur miteinander verwoben sind, sondern vielleicht sogar einen gemeinsamen Ursprung besitzen. d) Unabhängigkeit Dies ist jedoch eher unwahrscheinlich. Wenn darüber angesichts der Menge des Materials und seiner Zerstreutheit über den ganzen Globus auch kein stringenter Beweis geführt werden kann, so hat es doch den Anschein, als ob es mehrere, nicht zusammenhängende Wurzeln bei der Entwicklung des sakralherrschaftlichen Gedankenguts gegeben habe. Man wird zumindest einen altorientalisch/altägyptisch-christlich-europäischen und - davon unabhängig - einen chinesisch-asiatischen Ideenkreis annehmen dürfen. Daneben sind aber auch noch die verschiedenen Bereiche der sogenannten Naturvölker in Afrika und Australien155 und der gesamte amerikanische Raum156 zu stellen, während über die mögliche Eigenständigkeit157 des indischen Kosmos sakralherrscherlicher Vorstellungen nichts Sicheres gesagt werden kann.

IV Mit dieser Bemerkung wird abschließend ein weiterer, freilich nicht (oder noch nicht?) zufriedenstellend beantwortbarer Fragenkomplex deutlich: Wenn für das vielgestaltige und teilweise durch ein- oder gegenseitige Beeinflussung entstandene, epochenübergreifende und weltumspannende Netz sakralherrschaftlichen Gedankenguts kein gemeinsamer Anfang festgestellt werden kann, wenn dieses Netz von verschiedenen Enden her Gestalt annahm, wenn es mehrere oder gar viele Wurzeln für diesen Ideenkosmos gibt: 152

Vgl. dazu etwa ERKENS, Der Herrscher als gotes drüt (wie ANM. 1), S. 6-12. Vgl. Anm. 50 und 60 sowie Alfons M. SCHNEIDER, Das byzantinische Zeremoniell und der alte Orient, in: Jb. f. kleinasiatische Forschung 2, 1952, S. 154-166. 154 Vgl. Anm. 85. 155 Vgl. Anm. 118 und 119. 156 Vgl. dazu etwa NACHTIGALL (wie Anm. 1 1 2 ) S. 3 8 4 1 . 157 Daß es zur Zeit Alexanders des Großen und seiner seleukidischen Nachfolger Berührungen gab und damit wohl auch Einflüsse, kann natürlich nicht überraschen; vgl. dazu Helmut HUMBACH, Herrscher, Gott und Gottessohn im Iran und in angrenzenden Ländern: in: Zeller (Hg.), Menschwerdung Gottes (wie Anm. 142), S. 89-114, bes. 94-98. 153

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wie ist es dann zu erklären, daß es diese Ideenwelt - wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung - praktisch zu allen Zeiten und wahrscheinlich bei allen Völkern gegeben hat? Eine sichere Antwort auf diese Frage kann es wohl nicht geben; aber zweifellos ist die Vermutung erlaubt, sie sei im Bereich der menschlichen Natur zu suchen. Wenn auch noch vieles unsicher und undeutlich ist und diese Unklarheit zunächst eine verstärkte Forschungsanstrengung herausfordert, so zeichnet sich doch die Möglichkeit ab, daß die beschriebene, weltweite und zeitenüberdauernde Erscheinung sakral legitimierter Herrschaft nicht nur ein ethnologisches Phänomen ist, sondern ebenfalls eine anthropologische Konstante darstellt158.

158

Der Begriff ,Sakralkönigtum' ist einer eindringlichen Kritik unterzogen worden durch Jens Ivo Das „Wesen" der Monarchie? Kritische Anmerkungen zum „Sakralkönigtum" in der Geschichtswissenschaft, in: MAJESTAS 7, 1999, S. 3-39, der vor allem von den Verhältnissen im frühneuzeitlichen Frankreich ausgeht und eine zu unscharfe Definition der Wortbedeutung bemängelt (vgl. dazu auch DERS., Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den französischen König in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts [= Pariser Historische Studien 52], Bonn 2000, S. 240250). Hier kann nicht der Ort sein, sich mit dieser grundsätzlichen Kritik auseinanderzusetzen, die viele richtige Einzelbeobachtungen enthält, in ihrer weitgehenden Ablehnung der Sakralität als eines (möglichen) Wesenszuges von Herrschaft aber wohl zu weit geht: Die unterschiedlichen Äußerungen in den Quellen aus allen Epochen und Kulturräumen legen jedenfalls eine andere Deutung nahe und zeigen ein weltweites Phänomen, das nicht allein durch einen engen Begriff von ,Sakralkönigum' gefaßt werden kann, sondern das als Vielfalt von (im einzelnen noch zu beschreibenden) differenzierten Formen sakraler Herrschaftslegitimierung begriffen werden muß. ENGELS,

BERNHARD STRECK

Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell

„Wenn der König von Serendib auf seinem weißen Elefanten ausreitet, so ruft der vor ihm sitzende Hofmarschall mit lauter Stimme: Worauf der hinter Seiner Majestät hockende erste Kammerdiener ruft: Und der Chor des Volkes antwortet: Gelobt sei, der da lebt und nie stirbt." (Wilhelm Raabe 1868 Abu Telfan S. 202) Solch doppelzüngige laudes regiae einschließlich der hintersinnigen Ergebenheitsbekundungen seitens der Untertanenschaft waren im monarchistischen Europa des 19. Jahrhunderts nur noch von außerhalb der Zivilisationsgrenzen zu vernehmen. Die eigenen Könige waren durch Aufklärung und Revolutionen verrationalisiert worden; umso verklärter erschienen die Bilder aus den alten und fernen Reichen. Romantik wie Neoromantik wußten diesen fremden Zauber zu kultivieren, und in der Spielart des 20. Jahrhunderts dominierte ganz eindeutig die Faszination des Schreckens. Stefan Georges Gedichtzyklus Algabal ist dafür ein unübertroffenes Zeugnis: 1 „Sieh ich bin zart wie eine apfelblüte und friedenfroher denn ein neues lamm. Doch liegen eisen stein und feuerschwamm gefährlich in erschüttertem gemüte. Hernieder steig ich eine marmortreppe. Ein leichnam ohne haupt inmitten ruht. Dort sickert meines teuren bruders blut. Ich raffe leise nur die pupurschleppe." 1

Stefan George 1892 Algabal (1983 1:52; vgl. die Literaturliste im Anhang)

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Bernhard Streck

Der Gott auf Erden und beides heidnisch ist das Urbild des Sakralkönigtums, dem manche Dichter der beiden letzten Jahrhunderte sich ebenso sehnsüchtig entfremdet fühlten wie viele Denker der Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Im 18. Jahrhundert hatten sich aus der eben gebannten Türkengefahr noch reale Erfahrungen fur die Konstruktion des „Orientalischen Despotismus" verwerten lassen. Das 100 Jahre nach Montesquieu und Hegel entdeckte Sakralkönigtum mit seinen Charakteristika Regizid, Inzest und ritueller Anarchie konstituierte sich aus Übersee, aus Kolonialeroberungen und Konfrontationen mit dem „ganz anderen", das entlastende Phantasien freisetzt. Die Blickrichtung zum Ursprung wird in der Geistesgeschichte „Archaismus" genannt2 und steht in schroffem Gegensatz zur Zukunftshoffnung, die die Moderne von den eschatologischen Religionen geerbt hat. Entsprechend denunziatorisch klingt das Adjektiv „archaistisch", weil in ihm der Vorwurf enthalten ist, Heil, statt vom Ende, vom Anfang zu erwarten. Die hier im Titel gewählte Formulierung „archaistisches Modell" impliziert keine Diffamierung, sondern möchte vielmehr terminologisch festhalten, daß das empathische Interesse an fremder Monarchie die Lust am Zurückschauen voraussetzt. Evolutionisten und Futuristen interessieren sich nicht für sakrale Herrschaftslegitimation, wohl aber Historiker und Ethnologen. Für letztere ist der Heilige Herrscher nicht einmal nur eine Gestalt der Vergangenheit, sondern ein Zeitgenosse. Wie in den Geschichtswissenschaften gibt es auch in der Ethnologie mehrere Strömungen, die die Fragen von Macht, Staat und Politik ohne das Adjektiv „sakral" behandeln. Auch Max Webers Staatslehre vermeidet dieses Wort, auch wenn seine „bürokratische Herrschaft" sicher auch als „Entzauberung" der „traditionalen Herrschaft" begriffen werden muß3. Es war Carl Schmitt, der in seiner „Politischen Theologie" 1922 die Überlappung von Herrschaft und Religion auch für die Gegenwart reklamierte und damit den Boden bereitete für eine neue Diskussion zwischen den Zeiten und Kulturen. Trotzdem ist auch heute noch eine gewisse Scheu spürbar, Herrschaft heilig zu nennen, bzw. ζ. B. in seiner „Heiligkeit", dem Bischof von Rom, einen Herrscher zu sehen. Um eben diesen Konnex in einer Zeit zu verdeutlichen, die sich an eine bis zur Berührungslosigkeit grenzende Ausdifferenzierung von Religion und Politik gewöhnt hat, wurde das Modell „Sakralkönigtum" geschaffen, dessen Baumaterial fast ausnahmslos „anderen" Zeiten und Räumen entstammt, dessen Klebematerial aber die neuzeitliche Sehnsucht nach geschlossenen Welten geliefert haben dürfte. Wenn im Folgenden die wichtigsten Varianten der Theorie vom Heiligen Königtum innerhalb der Ethnologie vorgestellt werden, darf nicht vergessen werden, daß die große Tradition des Evolutionismus sowie die weitverbreitete funktionalistische Ethnologie auf dieses Konzept nicht angewiesen war. Auch wo letztere sich mit historischen Perspektiven verband, etwa bei Richard Thurnwald (1869-1954), dominierte die sog. Überlagerungstheorie, meist mit rassistischen Annahmen verbunden, die Überlegungen zum Ursprung des Staates. Im klassischen Strukturfunktionalismus von Dürkheim (1858-1917) und Radcliffe-Brown (1881-1955) war aus anderen, eben rationalistischen 2

R. FABER 1 9 9 0

3

M. WEBER 1921 (1976)

Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell

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Überlegungen heraus kein Platz für „Heilige Herrschaft", wenn diese mehr sein wollte als bloße Ideologie oder Masquerade. Insofern gehört das hier thematisierte Modell eher einer Minderheit im Fach an. Einerseits zählt diese zu den weniger anschlußfahigen Strömungen innerhalb des sozial- und geschichtswissenschaftlichen Diskurses, andererseits gelangen hier Einsichten in das Wesen des nichtmodernen Staates, die nicht dieselbe Ratlosigkeit zurücklassen, mit der die Politologie manchen zeitgeschichtlichen und zeitgenössischen Ereignissen gegenüber ausgesetzt ist.

Gottestod auf Erden James George Frazer (1854-1941) gilt zwar mit gutem Recht als Evolutionist, der alle Kulturen der Welt in die drei hintereinander geschalteten Phasen der Magie, der Religion und der Wissenschaft zu pressen wußte, andrerseits entpuppte er sich in seinem Hauptwerk „The Golden Bough"4 als Archaist mit echt britischem Doppelleben. Ausgerechnet die groß angelegte Untersuchung Wilhelm Mannhardts (1831-1880), mit der dieser Grimm-Schüler und Volkskundler das deutsche Landleben an der Wende zur Industrialisierung und Kapitalisierung als noch von heidnischem Brauchtum voll beweisen wollte5, wurde ihm - neben vielen außereuropäischen Sekundärquellen - zur empirischen Basis seiner Rekonstruktion des Sakralkönigtums, in dessen Zentrum der sterbende Herrscher stehe. Er ist die Zentralfigur der magischen Welt, angefüllt mit Zauberkräften, die seine Umgebung ebenso anziehen wie abschrecken. In seiner Person vereinigen sich Gottheit, Priester und König zu einer geradezu kosmischen Macht. Nicht nur das zweideutige Adjektiv sacer im Sinne von heilig und verdammt ist hier am Platz, dasselbe gilt für den aus dem Polynesischen stammenden Begriff tabu. Der Heilige König ist in Frazers Darstellung tabu, schon im Leben den Lebenden entrückt, und seine Kraft wirkt weit über den Tod hinaus. Wie viele synthetisierende Ethnologen vermengt Frazer antike mit ethnographischen Quellen: die Priester der Eleusinischen Mysterien hatten ebenso Tabu-Namen wie die großen Gottheiten oder die Sakralkönige und ihre Namenslosigkeit nahm in bestimmter Weise ihren Tod vorweg. Denn der unnatürliche Tod ist für Frazer der Kern des Sakralen Königtums und verdankt sich dessen Bindung an die archaische Pflanzer- oder Vegetationsreligion. Hier muß, wie Mannhardt mit seinem umfangreichen Material nachgewiesen hat, alljährlich die Pflanzengottheit in der Ernte sterben. Auf Dorfebene wird das von einem jungen Paar vorgelebt; auf Staatsebene ist es der König, der für das Gemeinwohl geopfert wird. Frazer unterschied zwei Todespraktiken: Im einen Fall wird der König umgebracht, wenn er Zeichen von Schwäche zeigt; denn diese Kraftquelle, von der das Wohl aller Menschen, Tiere und Pflanzen abhängt, darf nicht schwach werden oder gar versiegen. Nur wenn der König noch im Vollbesitz seiner Kräfte ist, können diese auf seinen Nachfolger übergehen. Die Art und Weise seiner Beseitigung ist für die gewöhnlichen Leute genauso ein Geheimnis wie sein ganzes Leben ein einziges Tabu war. Die Unter4

J. G . FRAZER 1 9 1 1 , 1 9 2 2

5

W . MANNHARDT 1 8 7 5 / 7 7 ;

dazu kritisch I.

WEBER-KELLERMANN 1 9 6 5

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Bernhard Streck

tanen interessieren aber auch keine Details des Regizids, sondern allein dessen Wirksamkeit, und diese ist untrennbar verbunden mit dem Glauben an die sterbende Gottheit und die Kraft, die durch ihren Tod frei wird. Die zweite Art des Todes ist eine regelhafte, die nach einer bestimmten Zeit fällig wird. Hier wird auf kosmische Vorbilder verwiesen; es sind vorgeschriebene Lebensphasen von 12 (Quilacare/Südindien), von 9 (Uppsala/Schweden), von 8 (Sparta/Griechenland) oder von drei Jahren wie bei den westafrikanischen Yoruba überliefert; in Babylon aber soll der König alle Jahre im Sacaea-Fest gestorben sein, wobei er in späteren Zeiten durch einen Stellvertreter, in der Zerfallszeit durch einen zum Tode Verurteilten ersetzt werden konnte. Letzterer durfte nach dem Zeugnis des Berosus 5 Tage König spielen mit sämtlichen Privilegien, danach wurde er gequält und gepfählt. Frazer schloß aus dem vielen Material, das er zu diesem Thema aufhäufen konnte, daß Menschenopfer in der Regel Königsopfer seien und diese letztlich Gottesopfer. Auch die Erstlingsopfer, wie sie aus vielen Teilen der Welt, Tiere, Pflanzen oder auch Kinder betreffend berichtet wurden, gehören zu diesem Vorstellungskreis, der in Zentraleuropa - nach Mannhardts Deutung - in den Verbrennungen des Pfingstls, des Baumgeistes, des Maikönigs oder des Graskönigs seine Parallelen findet bzw. im Erschaffen, Herumführen und „Schlachten" des Strohbären wiederholt wird. Immer wird der Gottheit durch ihre Tötung zum Weiterleben verholfen; das archaische Denken will Erneuerung nach dem Vorbild der Natur mit ihrem Wintertod oder der Schlangenhäutung. Im oben erwähnten Entwicklungsschema beginnt der Mensch auf religiöser Stufe die geschundene und getötete Gottheit anzubeten, auf wissenschaftlicher Stufe hat er sich von beidem, dem mechanisch-magischen Darstellen wie der anbetenden Frömmigkeit emanzipiert und steht dem Erbe der Vergangenheit mehr oder weniger fassungslos gegenüber. Diese Verständnissperre zeigt sich vielleicht auch darin, daß trotz der Stimmigkeit von Frazers grandioser Rekonstruktion andere Ethnologen andere Akzente setzten. In der anglophonen Welt ist Frazers aber unumstrittene Autorität geblieben, weil es ihm gelungen ist, Neugier und Überheblichkeit des Wissenschaftlers in eine Balance zu bringen und mit seinem eigenen Werk die zugestandenermaßen etwas schrullige Frühzeit einer ansonsten der Aufklärung verpflichteten Disziplin vorzufuhren. Viele Empiriker draußen in den Kolonien versuchten zunächst Frazer zu bestätigen6, die spätere Generation wagte dann ideologiekritische Reduktionen7, und heute scheint, wie Wrigley 1996 am Beispiel Buganda bewiesen hat, Frazer neue Aktualität bekommen zu haben und das Sakralkönigtum, zumindest als Zerfallsstadium8, wieder ernsthaft diskutabel geworden zu sein.

6

Ζ. B. J. ROSCOE 1911 oder R .

S. RATTRAY

1923

7

Ζ . Β . Ε. E . EVANS-PRITCHARD 1 9 4 8 , L. MAIR 1 9 7 7

8

V g l . M . ROWLANDS 1 9 9 3

Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell

37

Die Mondkönige Die deutsche Entsprechung zur Frazer ist Leo Frobenius (1873-1938), der sich von ersterem aber durch eigene Empirie und Selbstbefreiung von evolutionistischen Denkzwängen positiv abhob. Dafür mußte er auf einen vergleichbaren Erfolg verzichten und in der internationalen „Anthropology" ist Frobenius nahezu unbekannt. Im Deutschland der 30er Jahre konnte die von ihm begründete Kulturmorphologie aber aufblühen, um in der Nachkriegszeit - etwa bis zum Tod seines Nachfolgers Adolf Ellegard Jensens (1899-1965) - die profilierteste Richtung der deutschsprachigen Ethnologie auszumachen. Die kulturhistorischen Rekonstruktionen der Frobenius-Schule betrafen Gestaltungen („paideumata"), die in Erschütterungen und Geburtszeiten entstanden, zur Reife aufblühten und schließlich in mehr oder weniger langen Zerfallsperioden vertrockneten. Auch das Sakralkönigtum, wo immer es sich geographisch nachweisen lasse, unterliege diesem biomorphen Schicksalslauf. Frobenius, ein Autodidakt, Feuergeist und glühender Monarchist, hatte sich noch vor seiner empirischen Phase 1904-1916 mit dem Sakralkönigtum auseinandergesetzt9. Zunächst war für ihn als Panbabylonisten das solare Weltbild die Brücke zum frühen Königtum. Nach seinen Afrikaexpeditionen aber schien ihm der Mond das Schicksalsgestirn archaischer Herrscher zu sein, wie es sein Hauptwerk zum Thema, „Erythräa. Länder und Zeiten des heiligen Königsmordes" (1931) beschreibt. Auf jeden Fall setzt sich der frühe Staat durch seinen Gestirnsdienst, d. h. seine Aufgabe, den Kosmos abzubilden, von früheren „paideumata" ab, etwa dem Dienst an der Pflanze oder am Tier, wie es Agrar- bzw. Jägergesellschaften vorführen. Ausdruck von Ergriffenheit ist für Frobenius der Schlüssel zum Verständnis jeder Kultur; der Auslöser für die Ergriffenheit wechselt aber und damit auch die Bemühungen um Ausdruck - oder wie heute wieder öfters argumentiert wird - die Mimesis10 als weniger bewußte, dafür umso hingebungsvollere Nachahmung der Fremdheit und erlittenen Überlegenheit. Schon 1913 - in seinem berühmt gewordenen Expeditionsbericht „Unter den unsträflichen Äthiopen" - unterschied Frobenius den kultischen vom rächenden Königsmord. Letzteren, bei dem sich die enttäuschten und betrogenen Bauern für den ausgebliebenen d. h. zurückgehaltenen Regen am Regenpriester schadlos halten, fand er weiter verbreitet als den echten ursprünglichen - Zeichen für „das Hinschwinden des theokratischen Sakraltodes"11. Der nun blieb der kulturmorphologischen Rekonstruktionsarbeit vorbehalten, die solange durchzuhalten hatte, bis jenes „Lebensgefuhl" sichtbar würde, „dessen Bedürfnis nach schauerlicher Dramatik wir kaum noch verstehen können"12.

9

L . FROBENIUS 1 9 0 4

10

Vgl. F . W. KRAMER 1987 oderM.

11

L . FROBENIUS 1 9 1 3 : 5 0 5

12

L. FROBENIUS 1 9 3 1 , KRAMER 1 9 8 7

12

L . FROBENIUS 1 9 1 3 : 5 0 5

12

L. FROBENIUS 1 9 3 1 : 2 2 1

TAUSSIG

oder M .

1997 TAUSSIG 1 9 9 7

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Das Material für seine Rekonstruktion hatte Frobenius ganz besonders in der Gegend um Simbabwe, den rätselhaften Großsteinbauten zwischen Sambesi und Limpopo, gesammelt. Hier waren die Informanten erstaunlich gesprächig über den dynastischen Inzest, den intrafamiliären Regizid, das heilige Beilager und den sakralen Charakter des ganzen Staatswesens. Nicht nur der Herrscher selbst als menschgewordener Mond, auch seine Mutter, seine Schwester und seine Töchter förderten durch ihr oft schamlos geschildertes Treiben die Fruchtbarkeit des Landes. „Ein alter Mann sagte mir, die Scheiden der Musarre [Königstöchter, B. S.] dürften nicht trocken werden"13. Eingebunden in dieses kosmologische Konzept mußten die Mädchen auch die Konsequenzen ertragen: „Wurde die Trockenzeit trotz aller solcher Bemühungen dennoch gefahrlich, so wurde eine von ihnen im Simbabwetal lebendig begraben"14. Die kosmische Beglaubigung sah Frobenius im Parallelschicksal von Mond und Abendstern, aber auch in der umfassenden Inszenierung des Chaos als Regenerationsphase zwischen zwei Regierungen. Die „rituelle Anarchie" hatte in der deutschen Kulturmorphologie einen ähnlich hohen Stellenwert wie die „regulierte Anarchie" im Strukturfunktionalismus15. Hier waren es die Selbstregulierungskräfte der akephalen Gesellschaft, die ein Königtum überflüssig machten, dort die Selbstheilungskräfte, die die Sakralkönigtümer durch ihren Rückfall in die Wildheit als Regeneration aktivierten. Der Regizid leitete im klassischen Fall des Heiligen Königtums das rituelle Chaos ein: Die Staats- und Herdfeuer erloschen, der Hofstaat folgte dem toten Herrscher, Verbrechen blieben ungeahndet, die Kämpfe um die Nachfolge wurden ohne Hemmungen gefuhrt, unterlegene Parteien verließen das Land und gründeten anderswo Kopien des altbewährten Musters. Die kollektive Erfahrung dieser schrecklichen, königslosen Zeit ließ die Einsetzimg des neuen Herrschers als erlösende Wiederholung der Schöpfung erscheinen. Die Kulturmorphologie von Frobenius arbeitete an ihrem Modell des Sakralkönigtums mit dem archaischen und von Nietzsche neu erinnerten Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Hierin begegnen sich Frazer und Frobenius; was aber für ersteren Ausdruck eines überholten magischen Entwicklungszustandes ist, bedeutet für Frobenius zeitlose Gültigkeit kosmischer Gesetze, denen sich der Mensch anpassen kann oder die er - sicher nicht ungestraft - vergessen kann. Frobenius glaubte an eine Wiedergeburt aus den Trümmern, die er überall, ganz besonders auf seinen Afrika-Expeditionen vorfand. Für Frazer gab es keine Zukunft des Vegetationskultes. Die Missionare haben ihn überwunden, so wie diese selbst von den Wissenschaftlern ersetzt werden würden. Frobenius hat eine große Schar fähiger Nachfolger beeindruckt, die seinen Gedanken zum Heiligen Königtum sich weiter verpflichtet fühlten und entsprechend empirisch arbeiteten. Erwähnt seien nur Adolf Friedrich (1939), Robert Heine-Geldern (1942), Eckart von Sydow (1943), Kunz Dittmer (1961), Edwin Loeb (1964) oder Eike Haberland (1965). Zuletzt hat sich Hermann Baumann in einem resümierenden Aufsatz 13

L. FROBENIUS a.a.O.: 120

14

L.

15

V g l . C h . SIGRIST 1 9 6 7

FROBENIUS

a.a.O. :203

Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell

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über die Verbindung des sakralen Königtums mit Rundplastik, Eisentechnik, Stammespluralismus und Kastenordnung geäußert und dabei nochmals die charakteristischen Merkmale zusammengefaßt:16 „Der König sitzt hinter einem Vorhang, verhüllt sein Haupt oder verbirgt sich vor dem Volk; er ißt allein; sein Speichel wird verwahrt. Er darf die Erde nicht berühren oder sein Blut darf nicht vergossen werden. Als Königsinsignien gelten die Trommel, das Löwen- oder Leopardenfell, der Thron, die . Der König hat enge Beziehung zum Rind, zum Mond, zu einem heiligen Staatsfeuer. Der König wird bei Schwächung oder nach einer bestimmten Zeit getötet. Der Tod wird verheimlicht; Anarchie folgt ihm. Dem toten König folgen Menschen in die Unterwelt. Er wird Löwe oder Leopard; er wird nachtodlich verehrt. Königin, Königsmutter und Königsschwester haben wichtige Ämter, Residenzen. Der Staat ist vierteilig, es gibt vier Hauptämter. Bei der Krönung gibt es Riten der Krönung und der Wiedergeburt: Der König erhält einen neuen Namen. Ein Ritualkampf findet statt. Er besteigt einen Hügel. Er schießt nach vier Richtungen. Er verteilt Feldfiüchte (eröfihet Feldbauarbeiten)."

Das Studium des Sakralkönigtums in Afrika als einer zeitgenössischen Erscheinung setzte sich auch nach der Kolonialzeit trotz aller Zeichen eines rapiden Wandels fort, denn noch ist die Richtung dieses Wandels offen. Geprägt von der Spätphase der Frankfurter Kulturmorphologie forschen heute etwa Dierk Lange in Bayreuth über die Neujahrsfeste des (noch) nicht oder unvollständig missionierten Afrika als Einsetzungsrituale nach Tod und Chaos17 oder Ute Ritz-Müller in Essen über das voll funktionierende Mossi-Reich Tenkodogo in Burkina Faso18. Dieses verbirgt sich wie in alten Zeiten durch viele Schleier der Geheimhaltung und Fehlinformation vor unberufenen Blicken und objektiven Analysen. Aus diesen und ähnlichen Gründen ist auch der Regizid, der bei Frazer und Frobenius im Zentrum ihres Modells stand, heute noch ein Mysterium und fur Skeptiker schlicht nicht beweisbar.

Die Geburt aus dem Tod Zu den herausragenden Vertretern der Theorie vom Heiligen Königtum gehört auch der belgische Ethnologe Α. M. Hocart (1883-1939), der auf den Salomonen-Inseln, auf Fidji und auf Ceylon Feldforschungen durchgeführt hat. Noch bevor er 1934 EvansPritchard auf den Soziologie-Lehrstuhl der Kairo-Universität gefolgt war, hatte er seine

16

H . BAUMANN 1 9 6 9 : 1 1 / 2

17

D . LANGE 1 9 9 9

18

U . RITZ-MÜLLER 1 9 9 4 , 1 9 9 5 , 1 9 9 7 , 1 9 9 8

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Interpretation zum Sakralkönigtum publiziert19, die dann 1936 wesentlich erweitert wurde. Im Kern seiner Argumentation steht die Geburt des Staates aus der Religion, verdichtet in der Person des Königs als Oberpriester und Selbstopferer. In einer eigentümlichen Verbindung zwischen kontinentaler Lebensphilosophie und britischem Pragmatismus kreisen Hocarts Gedanken über Religion und Ritual um das eine Thema des Lebens, dem alle wesentlichen Kulturaktivitäten untergeordnet werden: Was Leben gibt, ist gut und erstrebenswert; darüberhinaus hat es Fülle zu sein und nicht Mangel. Deswegen steht das lebenvermehrende Ritual am Anfang jeder kulturellen Einrichtung, so auch der Regierung und des Staates. Mit der Ansiedlung um ein Heiligtum beginnt die Stadt, reformulierte Hocart Fustel de Coulanges (1864) und leitete daraus die Funktion des Königs als Ritualorganisator ab, der ersten funktionellen Arbeitsteilung, die die Koordination zwischen selbständigen Sozialeinheiten erlaubte. Deren Häupter werden zu Ratgebern des primus inter pares, der seinerseits ins Übermenschliche hineinwächst. In diesem Zustand des materiell verstandenen Sakralkönigtums als einer Veranstaltung zur Produktion von Wohlstand verharrte die Menschheit nach Hocart, bis etwa um 500 eine ethische Wende sich bemerkbar machte, die Gesundheit und Reichtum sekundär erscheinen ließ. Nach der partikularistischen Frühphase und der vitalistischen Staatsarchaik war damit eine dritte Epoche eröffnet „in which everything is moralized"20. Das Sakralkönigtum dominiert in Hocarts Evolutionismus die zweite Phase, deren Ritualismus im Dienst des Lebens und der Fülle steht. Dieses „Staatsziel" wird von Hocart als rationale Strategie verteidigt, womit er sich gegen Frazers „magisches Denken" und Levy-Bruhls „primitive Mentalität"21 wandte22: „Temples are just as utilitarian as dams and canals, since they are necessary to prosperity; dams and canals are as ritual as temples, since they are part of the same social system of seeking welfare. If we call reservoirs , it is because we believe in their efficacy; we do not call temples so because we do not believe in their efficacy for crops. What we think has nothing to do with the matter, but only what the people we are studying think."

Damit bekennt sich Hocart voll zur Priorität der lokalen Exegese; im Ritual reklamierte Identitäten sind als solche zu werten und nicht als substitutioneile oder symbolische Repräsentationen zu übersetzen. In seinem Hauptwerk „Kings and Councillors" (1936), aber auch in dem posthum herausgegebenen „Social Origins" (1954) behandelt Hocart sehr eingehend die Problematik von Identität und Äquivalenz sowie das Prinzip der rituellen Eignung für die erforderliche Imitation23: , A stone and a tree are inert; an animal will only within narrow limits behave as may be required; it is in human form that a god is most active and best able to carry out the actions prescribed by ritual theory."

" A . M . HOCART 1 9 2 7 20

A . M . HOCART 1 9 5 2 / 7 0 : 8 1

21

L. LEVY-BRUHL 1 9 1 0

22

A . M . HOCART 1 9 3 6 / 7 0 : 2 1 7

23

A . M . HOCART 1 9 5 4 : 3 4

Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell

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In der Zeit, die Hocart im Blick hat, ist der König viel mehr Ritualfiihrer als Regent. Diese entscheidende Aufgabe endet keineswegs mit seinem Tod; ein sakraler König steht lebendig oder tot immer im Mittelpunkt des Rituals. Und es waren - dies ist die Kernthese Hocarts - in der Regel tote Könige, die das Ritual gestiftet oder begründet haben. Die Ritualgemeinde ist immer Trauergemeinde, ihr Haupt ist ein toter König, der einen sterbenden und wiederauferstehenden Gott - häufig die Sonne selbst in ihrem Wechselzustand - darstellt. Erst nach der oben angesprochenen ethischen Wende wird die Gottheit so erhaben, daß sie vom König nicht mehr dargestellt werden kann, sondern dieser sie allenfalls noch symbolisiert. Davor aber ist der König in seiner Leibhaftigkeit Zentrum des Universums, der Natur und aller Regelhaftigkeiten. Seine „Tugend" liegt in der Genauigkeit der Naturimitation. Erst später - Hocart nennt das englische Mittelalter - übertrifft seine Funktion als Richter und Gesetzgeber diese archaische Naturbindung: „He is no longer sky, sun, or bull, except in metaphor and emblem; he is only the authority of Right" Hocarts Theorie vom toten und deswegen lebendigen König impliziert eine Fülle von Gedanken, die über den Horizont von Frazer und Frobenius hinausreichen. Dazu gehören vor allem Deutungen, die das tote oder überholte Sakralkönigtum auch in späteren Zeiten lebendig erscheinen lassen. So zeige etwa das Herrscherbild auf der Münze den Ursprung des Geldes im Kult um den toten König, der auch noch der modernen Welt die Untrennbarkeit von Religion und Politik bewahre und beweise25. Diese Skepsis gegenüber den Prozessen von Abstraktion, Rationalisierung und Individualisierung reiht Hocart - trotz seines ausgeprägten Evolutionismus - ein unter die Archaisten, denen die heilige Frühzeit der profanen Jetztzeit überlegen erschien, trotz (oder wegen) ihrer schaurigen Qualitäten. Hocart glaubte, daß die Krönung des Königs ursprünglich seine Opferung war, weil der Regizid des Monarchen Macht nicht beendete, sondern begründete und der Staat lange Zeit aus Reliquienkult und Erinnerungsfeiern bestand.

Der Stellvertreter Hocarts Perspektive ist überdeutlich von der Überlieferung der Gemeinde des gekreuzigten und wiederauferstandenen Gottes geprägt; auch die unzähligen Beispiele von Gruppierungen um das Grab eines Heiligen sowohl aus dem christlichen wie aus dem islamischen Bereich drängen sich hier eher als Illustration auf als die Elgabals, die über ihre höchst lebendige Willkür und Unberechenbarkeit Herrschaft ausübten, oder die afrikanischen Potentaten, deren Prestige eng mit der Zahl ihrer Frauen und Kinder verbunden war. Eine ebenfalls aus der abendländischen Erfahrung abzuleitende Hypothese des Sakralkönigtum hat Rene Girard geliefert, ftir den die stellvertretende Selbstopferung des Königs das Wesen des archaischen Staates ausmachte. Dieses allerdings setzt voraus ein sehr biblisch anmutendes Sündenbewußtsein mit entsprechendem Verlangen nach Reinigung. Wie im Neuen Testament vorgemacht tut das im alten Staat 24 25

Α. M. Hoc ART 1954:154 Α. M. HOCART 1925:70

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einer für alle. Während für Hocart die Hoffnung auf Wiederkehr des toten Königs die Gemeinde zusammenhält, freut diese sich in Girards Modellvariation über den Sündenbock, der alle Schuld auf sich geladen hat und mit dieser tatsächlich verschwindet. Der Ansatz Girards, den er zum ersten Mal in „La violence et le sacre" 1972 entwickelt hat, greift die schon von Robertson Smith (1889) fruchtbar gemachte Idee von der Gemeinschaftsstiftung durch Opfer wieder auf. Während nun aber in dem allseits bekannten Ritual der Eucharistie der Gewaltaspekt nahezu gänzlich von dem Komplex Unschuld-Opfer-Sünde überdeckt ist, denkt Girard vor allem an die reinigende Kraft der Gewalt, die die Gemeinde dem auserwählten Opfer antut. Wer sich für diese Rolle eignet, wird nach Kriterien und Graden der Alterität entschieden. Es sind in erster Linie Andersartige, die ausgegrenzt, abgestoßen oder ermordet werden. Ihre Beseitigimg stiftet Gemeinsamkeit, die „Urtötung" - Girard beruft sich ausdrücklich auf Adolf Ellegard Jensen26 - ist Voraussetzung und Beginn der Kultur. Die meisten Mythologien kennen dieses Motiv des Einzelnen, der stirbt, damit alle anderen leben können. Der Sündenbock war für Girard die Erfindung der Zivilisation. König Ödipus bekommt hier ein anderes Profil als in der Psychoanalyse: er geht freiwillig ins Exil, um sein Reich zu befreien. Im Neuen Testament wird der Sündenbock Lamm Gottes, und das Mysterium des unschuldigen Leides zugunsten von allen wird demonstrativ entlarvt, obwohl auch der Erlöser seinerseits mit dem Austreibungsschema arbeitet und mit dem Geiste Gottes andere Geister veijagt. Im Mittelalter spielen die Juden kollektiv die Rolle des Sündenbocks, und in vielen interethnischen Konflikten wird der jeweils andere dafür hergenommen. „Wir sehen uns einem Spiel numerischer Konkurrenz gegenüber, in dem jeder den anderen austreibt, ..,"27. Im Gegensatz zur Gewalt der Moderne transportieren die Mythen Girards Muster noch eindeutiger. Die Götter selbst opfern sich, bei den Azteken nach de Sahaguns Aufzeichnung Tecuciztecatl und Nanauatzin, und stiften damit die kosmische Ordnung. Sie monopolisieren Plagen und entziehen diese der Allgemeinheit. Meist sind es die passiven Götter, die zu einer derartigen Rolle ausersehen werden. Das Leiden dieser Götter aber setzt sich fort im Leiden der auserwählten Menschen, an deren Spitze in der alten Welt die Könige stehen. Was später die Helden im Mythos und auf der Bühne oder die Märtyrer in der Arena oder im Kampf leisten, war in der Rolle des Sakralkönigs lange Zeit rituelle Wirklichkeit gewesen. Für Girard erfüllt auch der „Rex Judaeorum" am Kreuz dieses Schicksal des Selbstopferers, und in jeder Sonntagsmesse wird diese Wahrheit wiederholt, daß es ein einzelner sein muß, der die vielen erlöst und für ihr Überleben sich opfert. Girard erkennt im Sakralkönig die zum Selbstopfer bereite Erlöserfigur, die früher oder später der Menge gibt, was diese unbedingt braucht: das Opfer, das umso größer erscheint, je weiter es sich von der verdienten Strafe entfernt. Was Frobenius oben den rächenden Regizid genannt hat, paßt nicht in das Girardsche Muster oder es stellt ein Verfallsstadium dar. Es geht beim Sündenbock nicht um Rache oder um Beseitigung des tatsächlich Bösen, auch wenn der Sakralkönig in seiner irritierenden Position zum 26

R. GIRARD 1 9 7 2 : 1 3 3 ff.

27

R . GIRARD 1 9 8 2 / 9 8 : 2 6 5

Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell

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Elgabal wird und Grausamkeit kultiviert. Zwar atmet die Menge nach dem Tyrannenmord mit gutem Recht auf, Girard bewegt sich aber auf einer älteren Kulturschicht, wo in jeder Gruppe einer ausgemacht werden muß, der das unvermeidliche Übel auf sich zieht. So wie die aztekischen Götter einen der ihren ausgucken, der sich ins Weltenfeuer stürzen soll, und schließlich sich auf den „zurückhaltendsten", wie es in der Übersetzung heißt, einigen, geht es Girard nicht um einen „asiatischen Despoten", sondern um einen „herrlichen Dulder", der die Gemeinschaftsaufgabe als Einzelner zu schultern bereit ist. Diese Figur, die stark an die „Dema-Gottheit" von Paul Wirz und Adolf E. Jensen erinnert, ist von anderen Ethnologen mit noch größerer Anschaulichkeit des Materials, als es dem Mythologen Girard vergönnt war, beschrieben worden. Luc de Heusch stilisierte aus zentralafrikanischen Kontexten einen „roi ivre" (1972) oder Simon Simonse schildert aus seinen südsudanesischen Aufzeichnungen den Typus des „King of Desaster" (1992), der als Anlaufstelle des Unheils die Normalen und ihre Funktionsträger entlastet. Immer ist es die Rolle des Stellvertreters, der die Leiden auf sich konzentriert, um sie für die anderen zu verdünnen oder zu beseitigen. Girards König wird wie Christus „ohne Ursache gehaßt"; dieses „sunder warumbe", wie in der Deutschen Mystik die erhabene Zwecklosigkeit genannt wurde, wirkt heiligend und erhebt den Herrscher unter die Götter.

Der Selbstdarsteller Als neueste und (post)modernste Version des Modells Sakralkönigtum soll noch an Clifford Geertz' Theaterstaat erinnert werden, das er an balinesischem Material entwickelt hat. Einerseits gehört diese Arbeit in das noch junge Spannungsfeld zwischen Ethnologie und Theaterwissenschaft, in dem sich die Grenzen zwischen Ritual und Bühne verwischen und in Schechners Performanztheorie eine synthetische Betrachtungsweise gefunden wurde, die nicht mehr nach dem Ursprung oder der Herkunft fragt, sondern sich mit der Wirkung gesellschaftlicher Ereignisse begnügt. Andrerseits ergab sich aus dieser eher aesthetischen Perspektive des Staatsrituals wieder eine überraschende Nähe zu expressionistischen Deutungen, wie wir sie oben im Falle von Frobenius kennengelernt haben. Kultur zeigt sich als Ausdruck; das ist ihr Anliegen und so muß sie beschrieben werden. Geertz geht es um Staatsinszenierungen, die das Königreich herstellen und darstellen. Wie in nichtethnologischen Behandlungen des archaischen Staates leicht verkannt wird, stellt dieser kein Territorialgebilde mit fester Fläche und definierten Grenzen dar, sondern muß eher als Machtzentrum verstanden werden, dessen Strahlkraft nach außen hin abnimmt. So ist in Geertz' Beispiel der Königshof von Negara das Herz und der Motor des Staates. Das dortige Hofzeremoniell bildet nichts ab, schon gar keine Sozialstruktur, sondern dient sich selbst, als Herzschlag des Reiches. Der sakrale Staat Negara besteht aus Zeremonien und Etiketten, die peinlich genau eingehalten werden müssen. Der Grund dafür ist nicht ihre Funktion als Superstruktur über Klassen- oder Kasten-

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Scheidungen, wie es die Schulpolitologie lehrt. Dieser hält Geertz entgegen: "Power served pomp, not pomp power" 8. In dieser poststrukturalistischen, postmodernen, ganz sicher postfunktionalistischen Perspektive wird das „nur Symbolische" zur Realität, so wie es auch die anderen Modellvarianten vom Sakralkönigtum auf verschiedene Weise herauszuarbeiten versuchten. Während aber bei Frazer, Frobenius, Hocart und Girard der archaische Staat vom Glauben an ihn lebte, scheint Geertz' Negara sich ganz aus der Anschauung zu speisen. Doch muß das kein Widerspruch sein. Gerade die Kulturmorphologen haben immer wieder betont, daß archaische Religion von der Darstellung lebt und dramatische Veranschaulichungen braucht. Insofern ist der „Theaterkönig" von Negara vielleicht nur ungeschickt benannt, weil er Konnotationen in Richtung Operettenfigur auslöst. In Wirklichkeit ist die Staatsveranstaltung aber opera seria, an der alle Akteure in heiligem Ernst beteiligt sind, auch wenn fur Außenstehende die Geste und die Applikation am meisten ins Auge fallen mögen. Negara im 19. Jahrhundert war Sakralkönigtum in einer Nische des holländischen Inselindien: „It was a theatre state in which the kings and princes were the impresarios, the priests the directors, and the peasants the supporting cast, stage crew, and audience"29. Das Bild, mit dem Geertz Negara rekonstruiert, widerspricht wenig den bisher behandelten Modellen des Sakralkönigtums, und doch hat diese Analyse einen Sturm der Entrüstung unter den Sozialwissenschaftlern entfacht, für die der Staat viel zu ernst ist, als daß er mit Theatermetaphern beschrieben werden dürfte. Auch Anhänger der politischen Theologie von Jacob Taubes wie ζ. B. Burkhard Schnepel haben mit ihrem eigenen Material, in diesem Fall aus den Dschungelkönigtümern Orissas, Geertz' Theaterstaat auf die Füße zurückzustellen versucht. In diesen Fällen wird von Ritualpolitik gesprochen, von Legitimierungsbestrebungen, von Konfliktstrategien und Machtbalancen - alles ernsthafte Aspekte einer sozialen Realität, die Ungleichheit zu formulieren und zu zementieren hat, bzw. sich gegen die Gefräßigkeit der „großen" Politik behaupten muß. Diese „Hintergründe" der politischen Szene läßt Geertz' Bild vom Theaterstaat unbeleuchtet, das sich allein mit den „performances" begnügt und diese als Gemeinschaftswerk von Herrscher und Untertanen zu beiderseitigen Ergötzung begreift. Vielleicht möchte Geertz, der an anderen Stellen ein sehr feines Gespür für Machtkonstellationen und Kulturpolitik bewiesen hat, diese „Hintergründe" überhaupt nicht negieren, sondern nur ihre Relevanz für das Schauspiel bestreiten, aus dem der Negara-Staat im wesentlichen besteht. Wirklichkeit ist in der Ethnologie immer Wirksamkeit, und es sind die Hofetiketten und aufwendigen Zeremonien, die auf Beteiligte wie Unbeteiligte wirken, nicht die politischen Hintergründe, die die Journalisten und Politologen sich erschließen. Hocart hatte im obigen Zitat den lokalen Glauben als oberste Instanz ethnologischer Analysen reklamiert; Geertz könnte ergänzen, daß dazu auch die lokale Blendung gehört, die immer von expressiver Kultur ausgeht und die im Falle des Theaterstaats besonders glanzvoll ausfallt. 28

C . GEERTZ 1 9 8 0 : 1 3

29

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Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell

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Jan Vansina schreibt in einer neueren Veröffentlichung über zwei Seiten des Sakralkönigtums als Kunstwerk, von denen nur die eine Mysterium war:30 „The ideology was not just expressed in such often hidden icons. It was acted out, i.e., performed for all to see and participate to the extent that even the exercise of government can be perceived as a lavish performance or a great play. It had its setting: usually the capital, its props: costumes, finery, emblems, and sometimes masks, its actors: the kings and courtiers, its plots: the many liturgies of rituals, court meetings, rites of passage, and its scripts: the conventions of oratory, the praise names, songs, and recitations of great deeds. The play had its music: the royal orchestra and its ballet; in many kingdoms, solo dances by the king were considered signs of the vitality of the kingdom. Although anthropologists have long been aware of the similarly theatrical nature of the precolonial kingdom of Bali, this aspect of rule in tropical African kingdoms has not yet been closely examined."

Auch Burkhard Schnepel wendet sich in seiner Analyse der Dschungelkönige, die alle von der großen Durga abhängen und deswegen auch Göttinnen rauben, gegen ein Verständnis von „bloßer Symbolik". Die Ritualhandlungen seien im Gegenteil für viele „Betroffenen" „mehr als nur real", womit sich Jacob Taubes Etymologie des „Surrealismus" anbietet. Die Ritualistik und die Drapierungen des Sakralkönigtums sind surreal im Sinne einer übergeordneten Realität. Damit sind politologische Fragen des Machtausgleichs, der Herrschaftsstabilisierung oder der Abschreckungsjustiz nicht neutralisiert, aber sie werden im Verständnis und der Sicht der Akteure überblendet vom Staatsdrama, in dem der sakrale Herrscher als Gott unter den Menschen weilt. Was die verschiedenen Fassungen des Modells vom Sakralkönigtum eint, ist das Verständnis von dieser Figur als einer sterbenden Gottheit, die der Theaterkönig von Negara ebenso zu spielen hatte wie der „vor seinen Weibern und Trabanten" tanzende Münsa der Mangbattu, den Schweinfurth 1870 besuchte und abzeichnete31. Staatstheater als Welttheater, das mehr kosmischen Bezügen verpflichtet ist als den Niederungen des täglichen Machterhalts, diente auch anderen neueren Studien als Anregung. Stanley Tambiah (1977) verwendete das Mandala-Modell für den Sakralstaat Südostasiens, in dem das Kraftzentrum punktsymmetrisch auf seine Umgebung wirkt und dort Satelliten-Zentren wiederum nach demselben Muster generiert. Tambiah spricht von „galaktischer" Politik, die dieses gestaffelte System von Zentren, Peripherien und Subzentren erhält. Wolters (1982) vergleicht es mit der segmentären Anordnung, weil jedes Subsystem wie das System aussieht und seinerseits wieder in strukturell ähnliche Untereinheiten zerfallt. Die Übereinstimmung von Mikro- und Makrokosmos gehört aber zu den Wesenheiten des Sakralkönigtum; insofern ist der galaktische Vergleich treffend: es sind kleine Welten, die eine größere Welt zusammen ergeben und diese kreist schließlich um eine noch größere. Immer aber steht ein Herrscher im Mittelpunkt einer Entourage, für die er ebensoviel darstellt, wie er von ihr nimmt. Geertz' Verdienst für die Weiterentwicklung des Modells Sakralkönigtum ist das neue Verständnis von Ritual; das komplexe Verhältnis von Zentrum und Peripherie ist auf seine Aktualisierung und Verdichtung im Ritual angewiesen. Es gibt keine Kultur, es sei denn, man macht sie, d.h. man stellt sie dar oder aus. Das ist der tiefere Sinn in 30

J. VANSINA 1 9 9 2 : 2 5

31

G . SCHWEINFURTH 1 9 1 8 ( 1 9 8 6 )

Bernhard Streck

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der Metapher vom Theaterstaat, die keineswegs den substantiellen Unterschied zum Kunsttheater mit seiner konsensuellen Täuschung32 übersieht. Geertz geht es um die „Schau" im Sakralkönigtum, die jede Religion braucht, also auch der Glaube an den Gott auf Erden. Wie die Götter vom Opfer der Menschen leben, so lebt der Sakralkönig vom Hof- und Staatsritual. Was Erik Hornung fur das Alte Ägypten gezeigt hat, daß der Erhalt und die Legitimation des Reiches über Festlichkeiten hergestellt wurde33, gilt auch für alle kleineren Vorläufer oder Kopien dieses Staatstypus und hat sich übrigens weit in die Säkularisierungsphase hinein erhalten. Auch zur neuzeitlichen „Zivilreligion"34 gehört ein ausgeprägtes Staatstheater, dessen wissenschaftliche Wahrnehmung die „reale" Machtpolitik nicht notwendigerweise übersehen muß.

Schluß Die fünf Varianten des Modells Sakralkönigtum haben unterschiedliche Facetten dieses kulturhistorisch so interessanten Gebildes beleuchtet. Die Kategorisierung unter den Begriff archaistisch sollte einerseits zum Ausdruck bringen, daß weitgehend Einigkeit darüber besteht, daß es sich um eine historische Formation handelt, andrerseits aber auch in Rechnung stellen, daß alle, die mit oder an dem Modell arbeiteten, das mit großer Empathie taten und trotz ihrer teilweisen evolutionistischen Grundannahmen diffamierende oder pejorative Akzentuierungen dieses altertümlichen Phänomens vermieden. Es bleibt zum Schluß noch die Frage der Reichweite des Modells zu stellen, da der außereuropäische Staat im dominanten Diskurs längst von Politologie, Soziologie und Ökonomie vereinnahmt zu sein scheint und die Perspektive der Ethnologie, von der Gegenwart aus Spuren in die Vergangenheit zu suchen, eher hinderlich als förderlich empfunden wird. Ethnologische Studien zur Frage der Macht in heutigen Kontexten heben im allgemeinen die Vielschichtigkeit der Verhältnisse hervor. Untersuchungen wie die von Peter Skalnik in Ghana (1983, 1986) konnten zeigen, daß die von den Politologen beklagte Schwäche des postkolonialen Staats eine Menge Freiraum bietet für „traditionale" Herrschaftsformen insbesondere auf unteren Ebenen; zugleich machten Analysen wie die von Christina Göhring (1980) ebenfalls in Ghana deutlich, daß auch die offizielle Staatskultur auf auratische Elemente traditionaler Herrschaft gerne zurückgreift und insbesondere die Charismatiker zu Beginn der postkolonialen Ära auch in den Formen das Ende der Fremdherrschaft betonen wollten. Es ist also ein vielschichtiges Bild, das der außereuropäische bzw. nichtwestliche Staat heute bietet; trotz der Macht globalisierender Tendenzen und nivellierender Industriekultur sind erstaunliche Kontinuitäten und Weiterentwicklungen lokaler Herrschaftsformen beobachtet worden. Historiker wie Christopher Wrigley (1996) sehen heute eher die Kontinuität zwischen mythischen Vorlagen, historischen Formen und postkolonialen Anpassungen als den 32

Vgl. D.

33

E . HORNUNG 1 9 6 6

34

V g l . Th. HAASE 1 9 9 9

ZILLIGES

2000

Das Sakralkönigtum als archaistisches Modell

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Bruch, wie es die koloniale Darstellung und die postkoloniale Analyse zunächst gerne wollte. Für Wrigley ist der Herrscher immer in Gefahr, aus seiner Rolle zu fallen und zum Tyrannen zu werden: „we pay the price when our puppets take the opportunity to become our masters"35. Das Sakralkönigtum mit seiner peinlich festgelegten Vermummung des Herrschers war auch eine Vorkehrung gegen Tyrannei. Andrerseits war der alte Staat und ist der neue teuer. Die „Politics of the Belly"36 meint diese Gefräßigkeit, die die alten und neuen Herrscher gemeinsam haben. In dieser Raubtierrolle bleibt der König und sein Gefolge den Untertanen fremd, eine Naturgewalt, deren Ende begrüßt werden muß. Die Putschhäufigkeit des postkolonialen Staates erinnert an den Regizid, die regelmäßigen Plünderungen an die rituelle Anarchie, die Herrschaft der „Warlords" an die Diadochenkämpfe, da außerhalb des christlichen Abendlandes die Thronfolge nie ganz festlag. Es soll zum Schluß aber auch nicht verschwiegen bleiben, daß im Zuge des Konstruktivismus und Dekonstruktivismus selbstverständlich auch das Modell vom Sakralkönigtum Schaden erleiden mußte. Hatten in den 60er Jahren schon die Ethnohistoriker für eine Entmythologisierung und Historisierung der außereuropäischen Herrschaft plädiert37, wurden in den 80er Jahren viele liebgewordene Kategorien der historischen und ethnologischen Analyse als „Erfindungen" und interessengeleitete Manipulationen entlarvt38, was auch am Modell des Sakralkönigtum nicht spurlos vorbeigehen konnte39. Die obigen Ausführungen über die Vielgestaltigkeit des Modells dürften deutlich gemacht haben, daß es letztlich perspektivische Fragen sind, die über den Nutzen eines derart komplexen Konzeptes entscheiden, und daß einem so rätselhaften Phänomen wie dem Heiligen Königtum wohl nur mit kongenialen Modellen beizukommen ist.

35

C h . WRIGLEY 1 9 9 6 : 2 4 7

36

J.-F. BAYART 1 9 8 9

37

V g l . J. VANSINA 1 9 6 6

38

Vgl.

39

V g l . J. H . VAUGHAN 1 9 8 4 , E. SCHILDKROUT/C. A . KEIM

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ELKE BLUMENTHAL

Die Göttlichkeit des Pharao Sakralität von Herrschaft und Herrschaftslegitimierung ·· im alten Ägypten Vorbemerkung Der Untertitel meines Vortrage bezeichnet den Aspekt, unter dem das Thema des Haupttitels behandelt wird. Es wird also nur über die Göttlichkeit des Pharao als Staatsdoktrin gesprochen, nicht etwa über die Sicht der Untertanen auf ihren König. Um des komparatistischen Ansatzes willen, unter dem die Leipziger Arbeitsgruppe angetreten ist, muß ich es mir versagen, Detailfragen zur Sprache zu bringen, sondern werde mich auf die Darstellung der ägyptischen Grundpositionen konzentrieren. Dabei werde ich von einem gemeinsamen Fragespiegel ausgehen und mich vorwiegend im Allgemeinen und Grundsätzlichen bewegen, aber dennoch versuchen, Reflexion und Abstraktion mit ausgewähltem Quellenmaterial anzureichern. Auf die Gefahr hin, zu stark zu vereinfachen und Sicherheiten vorzutäuschen, habe ich auf eine fachinterne Diskussion verzichtet und anstelle eines ausführlichen Anmerkungsapparats aktuelle Sekundärliteratur angegeben.

1. Ägypten als klassisches Land des Gottkönigtums Zur Klärung der Terminologie sei zwischen Göttlichkeit und Sakralität bzw. Gottkönigtum und Sakralkönigtum unterschieden. Unter Göttlichkeit des Herrschers verstehe ich seine volle Identität mit den Göttern. Sakralität des Königtums ist weniger; sie meint eine wie auch immer geartete religiöse Begründung einer prinzipiell menschlichen Herrschaft. Allerdings - jeder König ist empirisch ein Mensch. Seine Göttlichkeit muß also erwiesen und bewiesen werden, in seinem Verhältnis zu den Göttern, in seinem Handeln und in der Art, wie er behandelt wird. Befragt man die ägyptischen Quellen danach, so ergibt sich, daß der Pharao nicht als volle Gottheit angesehen wurde, daß er aber zu der Sphäre der Götter gehörte und sich dadurch kategorial von den übrigen Menschen unterschied. Er war gottähnlich, jedoch nicht Gott. Da dies Konzept in Ägypten konse-

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Elke Blumenthal

quenter als in den meisten anderen Kulturen des Altertums durchgehalten wurde, wird im folgenden nicht von Sakralität und Sakralkönigtum, sondern weiterhin von Göttlichkeit und Gottkönigtum gesprochen. Aus der Fülle der Möglichkeiten, dies zu veranschaulichen, sei nur das Beispiel der Stele des Königs Schlange herausgegriffen (Abb. 1 [im Anhang]). Seit ältester Zeit trägt jeder Pharao den Titel „Horas", der ihn mit dem gleichnamigen falkengestaltigen Weltund Himmelsgott gleichsetzt. Allerdings wird diesem Titel immer der Personenname des jeweiligen Herrschers angefugt, im vorliegenden Fall zu der Verbindung „Horns: Schlange". Damit ist der König als eine spezielle Ausprägung dieses Gottes gekennzeichnet und dazu als seine irdische Verkörperung. Denn sein Name ist in eine kombinierte Ansicht seines Palastes aus Fassade und Hof eingeschrieben; der Falke dagegen befindet sich ober- bzw. außerhalb davon. Das bedeutet auch, daß die abgeleitete, untergeordnete Göttlichkeit des Pharao, die wahrscheinlich in ihm angelegt ist, erst dann zur Entfaltung kommt, wenn er sein Amt antritt und ausübt. Tatsächlich wird der Horustitel nicht schon bei der Geburt, sondern erst bei der Krönung verliehen. Die christologische Frage nach Wesensg\t\cbhe\ t oder -ähnlichkeit mit der Gottheit stellte sich daher in Ägypten nicht.

2. Die Geschichtlichkeit der ägyptischen Königstheologie Die ägyptische Staatspyramide mit dem Pharao als Spitze bildete sich zu Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr. heraus. Sie bestand als politische Formation bis zur Eingliederung Ägyptens in das Imperium Romanum im Jahre 30 v. Chr. und als ideologische Fiktion noch unter den römischen Kaisern. Mehr noch als der lange Zeitraum lassen schwerwiegende historische Ereignisse vermuten, daß die Theologie des Königtums Veränderungen unterlag: die sog. „Zwischenzeiten" partikularer Herrschaft bei geschwächter oder außer Kraft gesetzter Zentralgewalt (1. Zwischenzeit ca. 2145 bis 2020; 2. Zwischenzeit 1794 bis 1550; 3. Zwischenzeit 1070 bis 736) und die ausländischen Dynastien auf dem Pharaonenthron, deren Herrschaftsausübung sich freilich im einzelnen deutlich voneinander unterschied: Hyksos, d. h. Semiten (15 /16. Dyn. 1648 bis 1539), Libyer (21. bis 24. Dyn. 1070 bis 712), Kuschiten, d. h. Nubier (25. Dyn. 746 bis 655), Perser (27. Dyn. 525 bis 401, 31. Dyn. 342 bis 332), Ptolemäer, d. h. Makedonen (332 bis 30). Die Stabilität der ägyptischen Königstheologie äußert sich darin, daß alle Fremdherrscher sich ihr unterworfen haben, wenn auch in unterschiedlichem Grade. Ihre Stärke beruht auf der Unveränderlichkeit ihrer Grundpositionen. Nichts wird aufgegeben, Neuerungen werden dem Bestehenden hinzugefügt oder lassen sich an Umwertungen und Umakzentuierungen ablesen. Der einzige radikale Traditionsbruch, die monotheistische Revolution des Echnaton von Amarna (1351 bis 1334), scheitert rasch und wird dann rigoros aus der geschichtlichen Erinnerung gestrichen. Dennoch sind gewisse Entwicklungstendenzen unverkennbar. Sie laufen im wesentlichen darauf hinaus, daß die anfanglich dominante Göttlichkeit der Könige zugunsten immer unumschränkterer Vormacht der Götter zurücktritt (Abb. 2 und 3).

Die Göttlichkeit des Pharao

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Zwei Pole dieser Generallinie treten dem Ägyptenreisenden bis heute am Beispiel der Monumentalarchitektur vor Augen. Wie die Pyramiden von Giza eindrucksvoll belegen, wurde im 3. Jahrtausend v. Chr. der Einsatz der gesellschaftlichen Energien fast ausschließlich an Grab und Totenkult des göttlichen Pharao gewendet; hier fand auch der Staatskult für die Götter des Landes statt. Am Ende des 1. Jahrtausends konzentrierte sich die Bautätigkeit (sieht man von dem hellenistischen Alexandria „bei" Ägypten ab) auf riesige Anlagen von Göttertempeln - eine der am besten erhaltenen ist der Horustempel in Edfu. In ihnen amtierte der König als Priester; als Empfanger kultischer Handlungen agierte er in Götterrollen.

3. Kulturreligion und Königtum Wie in allen frühen Zivilisationen war die Religion in Ägypten nicht ein Sektor des gesellschaftlichen Bewußtseins unter anderen, sondern Grundlage und prägende Instanz für das Zusammenleben der Gemeinschaft. In einer solchen „Kulturreligion"1 gibt es keine prinzipielle Unterscheidung zwischen Staat und Tempel, Sakral und Profan, Glauben und Wissen, Religiosität und Irreligiosität. Jede Abweichung wäre der Ausstieg aus der ägyptischen Identität. Um in der Fülle ihrer kulturellen Erscheinungen dem Gehalt der ägyptischen Religion näherzukommen, differenziere ich zwischen Zentrum und Peripherie. Im Zentrum stehen - im Sinne des „engeren" Religionsbegriffs der Bekenntnis- oder Offenbarungsreligionen2 - der Umgang mit der göttlichen Wirklichkeit und die Vorstellungen von ihr, an der Peripherie Institutionen wie Recht, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Erziehung, die auf dies Zentrum bezogen, aber nicht mit ihm identisch sind. Das Zentrum der ägyptischen Religion war mit den Göttern, den Toten und dem König besetzt. Sie waren Gegenstand je verschiedener Kulte und gedanklicher Systeme, an denen - in dem Rahmen, den der strukturelle Traditionalismus erlaubte - unablässig gearbeitet wurde. Der (lebende) König nahm insofern eine Sonderstellung ein, als er am unteren Ende der Göttlichkeitshierarchie stand und als einziger nicht nur Empfanger, sondern zugleich Akteur von Kulthandlungen war. Mit den rituellen Akten, die nicht von, sondern an ihm vollzogen wurden, wurde seine göttliche Herrscherkraft bewirkt, erhalten und stabilisiert - bei seiner Krönung, in jeder Nacht, zu Beginn eines jeden neuen Jahres, am Ende einer Amtsperiode und schließlich am Ende seines irdischen Lebens. Die meisten von ihnen wurden nicht als irdische Weihehandlungen zelebriert, sondern als göttliche Interaktion: Der König bewegte sich als Gott unter Göttern. Kultempfanger war der Pharao aber auch auf der irdischen Ebene, wo der Verkehr mit ihm durch rituelle Verhaltensmuster geregelt war. Von dem Hofzeremoniell sind 1

Dazu J. ASSMANN, Maat. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990, S. 17-24. 2 Zur Bekernitnisreligion vgl. ASSMANN (wie ANM. 1), zur Offenbarungsreligion S. MORENZ, Gott und Mensch im Alten Ägypten, Leipzig 21984, S. 26^4.

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Elke Blumenthal

zwar keine Ritualbücher erhalten, doch gibt es Anhaltspunkte dafür, daß es seiner Göttlichkeit Rechnung trug. So wurde das Auftreten des Königs in stereotypen Beschreibungen von Hofsitzungen durch das Verbum „erscheinen" ausgedrückt, das meistens den Aufgang des Sonnengottes bezeichnet. Dadurch wurde der Pharao an diesen Gott angenähert und trug im gleichen Zusammenhang das Gottesappellativum netjer „Gott", das sonst in Texten offizieller Theologie auf ihn nicht angewendet wurde3. Dazu wurden ihm Hymnen gesungen, die seine Göttlichkeit preisen. Akteur im Kult war der König vor allem, weil er als Priester der Götter fungierte (s. Abschnitt 7). Dazu gehörten nicht nur der tägliche Kultbild- und Opferdienst und ein aufwendiger Festkult, sondern auch sein politisches, im wesentlichen militärisches Handeln ist in den offiziellen Quellen als Ritus im Dienst der Götter dargestellt (s. Abschnitt 6).

4. Die Quellen der Königstheologie Nach einer Systematik, die Jan Assmann auf die gesamte ägyptische Geschichtsüberlieferung anzuwenden versucht hat4, sind auch die Quellen zum Königtum in drei Kategorien zu unterteilen: Erstens die „Spuren", unabsichtlich hinterlassen oder wenigstens in anderer Absicht als der, das Königtum zu propagieren. Als eine solche Spur ist der archäologische Befund zu interpretieren, daß im Vergleich zu der großen Menge von Tempeln und Gräbern nur eine verschwindend kleine Zahl von Königspalästen erhalten geblieben ist (Abb. 4). Das bedeutet nicht, daß es sie nicht gegeben hätte. Doch waren die Wohnhäuser der Pharaonen ebenso wie die ihrer Untertanen gewöhnlich nicht aus Stein, sondern aus vergänglichen Lehmziegeln gebaut, und dieser Unterschied zu den steinernen Wohnungen der Götter und Toten macht die mangelnde Ewigkeitsdimension und damit auch eine mindere Göttlichkeit des Königs zu seinen Lebzeiten anschaulich. Assmanns zweite, die weitaus umfangreichste Gruppe der Quellen sind die „Botschaften". Sie sind überwiegend in bildlicher oder textlicher Form überliefert: bedeutungshaltige Eigennamen, Titulaturen, Epitheta der Könige, Statuen, Reliefs und Memorialinschriften, Ritualbücher usw., ebenso Tempelbauten bzw. An- und Umbauten, die die Pietät ihrer königlichen Stifter bekunden. Dabei handelt es sich durchweg um Zeugnisse sakraler Provenienz; Dokumente der regierungsamtlichen Tätigkeit der Pharaonen haben sich nur sporadisch und meist in der Stilisierung von Memorialtexten erhalten, dienten also gleichfalls mehr der Selbstdarstellung des Herrschers als den praktischen Zwecken, die ihnen zugrundelagen. Die Botschaft, die von diesen Quellen ausgeht, ist die Botschaft des Gottkönigtums. Texte mit anderem Darstellungsinteresse, etwa Beamtenbiographien oder die Schöne 3

Vgl. E. BLUMENTHAL, Untersuchungen zum ägyptischen Königtum des Mittleren Reiches. Bd. 1. Die Phraseologie, Berlin 1970, S. 43 f. (A 5.18-19, 21), S. 95 (B 6.3) (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Kl., 61,1). 4 J. ASSMANN, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München / Wien 1996.

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Literatur, spiegeln die offizielle Theologie oder (wertfrei verstanden) Ideologie in unterschiedlichen Brechungen wider. Hier tritt neben der göttlichen eher die menschliche, manchmal auch die allzumenschliche Seite des Herrschers in Erscheinung. Wir allerdings beschränken uns auf die staatsoffiziellen Quellen, die die Setzungen der Kulturreligion am authentischsten übermitteln. Diese Setzungen sind nirgends dogmatisch und systematisch, etwa als Theorie des Königtums, niedergelegt. Vielmehr sind sie flexibel und passen sich in Auswahl und Formulierung den jeweils verschiedenartigen Funktionszusammenhängen an, in denen sie aufgezeichnet sind. Da die königlichen Bilder und Inschriften in der Regel auf Tempelwänden angebracht und die Statuen und Stelen des Pharao im Tempelbezirk aufgestellt waren, konnten sie nur von einer auserlesenen Priesterschaft wahrgenommen werden, und so war die Selbstdarstellung des Königtums nicht als Propaganda für eine große Öffentlichkeit und wohl nicht in erster Linie fiir die wenigen Kleriker, sondern vorrangig fur die Götter bestimmt. Doch auch hier war sie mehr als nur Demonstration. Nach ägyptischer Überzeugung besaßen Bild und Schrift die magische Kraft, das Wiedergegebene in Realität umzusetzen, und zwar für alle Ewigkeit. So überwölbten sie die irdische Wirklichkeit mit einer zweiten, die den Postulaten der Ideologie vollkommen entsprach. Die Dekoration einer Truhe aus dem sensationellen Grabfund des Tutancha'mun (Abb. 5) zeigt den Pharao im Kampf gegen die Feinde Ägyptens: Löwen und andere Wüstentiere auf dem Deckel, Nubier (Neger) und Asiaten auf den Langseiten. Wir wissen nicht, ob der zarte junge Mann, der nach neunjähriger Herrschaft mit etwa neunzehn Jahren starb, tatsächlich seine sportlichen Kräfte auf der Jagd unter Beweis stellen mußte. Doch wissen wir, daß er selbst keine Kriege gefuhrt hat. Gleichwohl ist er den Forderungen, die ihm sein Amt auferlegte, dank der Realität schaffenden Macht der Bilder gerecht geworden. Die göttlichen Vögel, die über den Szenen schweben, signalisieren, daß hier heilige Handlungen stattfinden. Auch die „Erinnerungen", die dritte Quellengruppe der Assmann'sehen Nomenklatur, sind relevant für das Königsbild, weil sie die Vergangenheit im Spiegel der jeweiligen Gegenwart auffangen und Aufschlüsse über beide, vor allem aber über die jüngere Epoche geben. Doch müssen sie hier, wo es um Grundlagen geht, außer acht bleiben.

5. Das Verhältnis des Königs zu den Göttern In Abschnitt 1 war die eingeschränkte Form der Göttlichkeit des Königs damit begründet worden, daß er nicht mit dem Himmelsgott identifiziert, sondern nur als sein irdischer Repräsentant tituliert wurde. Weitere Titel und viele Epitheta bezeichnen ihn als Sohn des Sonnengottes und anderer Götter und als ihr Abbild. Damit ist einerseits eine Zugehörigkeit zu den Göttern ausgedrückt, die ausschließlich ihm zukam, mehr noch, die Götter wurden in ihm greifbar, offenbarten sich in ihm. Andererseits war er ihnen jedoch stets untergeordnet. Das geht auch aus Memorialinschriften und Tempelreliefs hervor. Diesen Zeugnissen zufolge empfing er ihre Befehle und die Mitteilung ihres Willens und legte ihnen Rechenschaft über seine Taten ab. In seiner priesterlichen

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Funktion stand er den Göttern zwar unmittelbar gegenüber, aber als ihr Diener (Abschnitt 7). Der strukturelle Mangel an göttlicher Autonomie des Königs hat sich im Laufe der Zeit gegenüber den Anfangen im frühen 3. Jahrtausend ständig verstärkt. Diese Entwicklung hat wiederum Gegenreaktionen hervorgerufen, die unter Ramses II. ihren Höhepunkt erreichten. Jetzt beanspruchte der Pharao schon zu Lebzeiten eine Gleichrangigkeit mit den Göttern, die ihm sonst allenfalls im Tode zukam. Am offensichtlichsten drückt sich diese sekundäre Vergottung des regierenden Königs darin aus, daß er sich im Tempelkult wie eine vollbürtige Gottheit verehren ließ, bezeichnenderweise zuerst an den Grenzen seines Imperiums, wo ein solcher Machterweis besonders erforderlich und vielleicht als Neuerung leichter einzuführen war. Die Gruppenstatue im Allerheiligsten des Großen Felsentempel von Abu Simbel (Abb. 6) zeigt Ramses als Gleichen unter Gleichen zwischen den Staatsgöttern Amun, Re und Ptah. Der Kult, den er ihnen - der Idee nach der allein zugelassene Priester darbrachte, brachte er somit zugleich seiner eigenen Statue dar. Daß die traditionelle Göttlichkeit des Gottkönigs als eine Göttlichkeit minderen Ranges galt, wird nirgends so deutlich wie an solchen massiven Versuchen, die Differenz zu den Göttern zu überwinden.

6. Göttlichkeit und Legitimation Die Göttlichkeit des Pharao begründete seine Legitimität als Herrscher. Andere Qualifikationen, ζ. B. Herkunft oder Leistung, mögen ursprünglich eine größere Bedeutung besessen haben; in unseren Quellen treten sie allenfalls unterstützend hinzu. Die Göttlichkeit wurde dem König bei der Krönung übertragen, oder besser: rituell aktiviert. Sie bestimmte sein Verhältnis zu den Göttern als das ihres irdischen Repräsentanten, Sohnes, Bildes, Erwählten, Erben usw., d. h. sie war im Hinblick auf seine herrscherliche Funktion definiert. Ausdrücklich verliehen die Götter ihm ihr Amt, ihre Throne, lange Regierungsjahre und den Herrschaftsbereich Ägypten, dazu Segen, Stärke und Siege, um sein Land der göttlichen Weltordnung gemäß zu fuhren und zu schützen. Ein einzigartiger Text, der in mehreren Tempeln des 2. Jahrtausends das Wirken des jeweiligen Königs für den Sonnengott Re kommentiert, umreißt den Zusammenhang von göttlicher Berufung und Ausübung des Amtes in aller Kürze: Re hat den König eingesetzt auf der Erde der Lebenden für immer und ewig; (und so ist er tätig) beim Rechtsprechen den Menschen, beim Zufriedenstellen der Götter, beim Entstehenlassen der Wahrheit, beim Vernichten der Sünde;

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er gibt den Göttern Opfersgeisen, Totenopfer den Verklärten .

In diesen lapidaren Sätzen ist aufgeschrieben und zugleich magisch festgeschrieben, daß der Pharao erfüllte, womit er beauftragt war. Aus dem traditionellen Pflichtenkanon eines jeden Königs sind zwei Hauptpositionen genannt: der Kult fur Götter und Tote und die Gewährleistung von Recht und Wahrheit (im Ägyptischen derselbe Begriff) im Lande. Als drittes wäre Ägyptens Verteidigung vor äußeren Feinden hinzuzufügen. Die Darstellung dieses Themas auf der Truhe des Tutanchamun ist aufschlußreich nicht nur wegen der überragenden Position des siegreichen königlichen Kriegers im Kontrast zu den ungeordneten Haufen der teils noch zappelnden, teils bereits niedergemetzelten Gegner. Es kommt hinzu, daß dies der Standardtyp für königliche Jagd- und Kampfszenen überhaupt ist und daß auch die Opferdienste und kulturellen Taten des Pharao wie Gründungen, Bauten, Erschließungen von Brunnen in ebenso stereotyper Phraseologie wiedergegeben wurden. Die Bilder ebenso wie die Texte sind nach feststehenden Mustern formuliert und weit vom wirklichen Geschehen abgehoben. Sie sind in den Tempeln aufgezeichnet, und dort sind Kriegs- und Jagd-, Stiftungs-, Weihe- und andere Kultszenen in ihrer Funktion wechselseitig austauschbar. So kann als sicher gelten, daß das gesamte Handeln des Gottkönigs als gottesdienstliches Ritual verstanden wurde und daß er demnach „Geschichte als Fest" zelebrierte6 - zumindest auf der Ebene der Staatsideologie.

7. Das Priestertum des Königs Die Voraussetzung für das Priestertum des Königs war seine Göttlichkeit, denn prinzipiell war kein Sterblicher zum Verkehr mit den Göttern berechtigt. Das ist den Darstellungen zu entnehmen, in denen ausschließlich der König bei der Ausübung des Kultes gezeigt wird. In der Praxis war es unabdingbar, daß die zahllosen Gottesdienste in den zahllosen Tempeln des Landes von einer großen Priesterschaft versehen wurden. Aber sie taten es an seiner Statt; der Priesterstand besaß keine eigene religiöse Dignität, und im täglichen Kultbildritual, dort, wo der Offiziant der Gottheit unmittelbar gegenübertrat, mußte er sich als Delegierter des Königs ausweisen: Der König ist es, der mich sendet, den Gott zu schauen .

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J. ASSMANN, Der König als Sonnenpriester, Glückstadt 1970 (Abhandlungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo, 7). 6 E. HORNUNG, Geschichte als Fest, Darmstadt 1966. 7 „Spruch für das Ansehen des Gottes" aus dem täglichen Kultbildritual: H. KEES, Aegypten, Tübingen 2 1928, S. 36 (Religionsgeschichtliches Lesebuch, hrsg. von A. Bertholet).

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Ein Relief von einer Kapelle Ptolemaios' I. (Abb. 7), das sich heute in Hildesheim befindet, zeigt den König vor dem falkenköpfigen Gott Horns mit einem Myrrhengefäß in Sphinxgestalt. Es ist eine typische Ritualszene, wie sie tausendfach auf den Wänden sakraler Gebäude und auf heiligen Gegenständen abgebildet wurde. Bemerkenswert ist aber, daß der Makedone, der Nachfolger Alexanders des Großen auf dem Pharaonenthron, das traditionelle Schema ohne Abstriche übernommen hat. Der Herrscher steht vor einer Gottheit, auf gleicher Ebene und in gleicher Größe mit ihr, und bringt ihr eine Opfergabe dar: Speisen und Getränke, um sie zu nähren, Stoffe, sie zu bekleiden, Weihrauch, Salben und Myrrhen zur Reinigung, die Hieroglyphe „Feld" als Symbol fur Landschenkungen. Nach dem uralten Kultprinzip des do ut des antwortet der Gott dem stummen Tun seines Gegenübers, und zwar mit einer kleinen Rede, in der er dem Geber die Gegengabe mit der Vollmacht seines schöpferischen Wortes zuspricht. Auf dem Hildesheimer Relief geschieht das mit den Worten: Hiermitgebe ich dir alle Länder in Frieden. und Hiermit gebe ich dir Kraft und Sieg. Anderswo schenkt er Leben, Heil, Gesundheit, Freude, Dauer, Macht, Herrschaft oder Fruchtbarkeit und legt dem Pharao seine Feinde unter die Sohlen. Dabei geht es nur scheinbar um den König als Person. Alles, was ihm verliehen wird, dient der Ausübung seines Amtes. Die Herrschaft, der Staat ist in ihm personalisiert; erst nachdem die Institution bereits über tausend Jahre bestanden hatte, bildete die Sprache das abstrakte Substantiv „Königtum" 8 , und ein Wort für „Staat", unabhängig von diesem Amt, hat es nie gegeben. Szenen dieser Art bezeichnen die Schaltstelle zwischen Himmel und Erde. Auf der einen Seite die Gottheit, die durch den König der - ägyptischen - Menschheit mit der Herrschaft ein Ordnungssystem und alle dazu nötigen Segnungen verleiht. Auf der anderen Seite der Pharao als Repräsentant seiner Gesellschaft, beim Zufriedenstellen der Götter, als ihr Diener; es gehört wohl zur Umwertungsgeschichte des Königtums, daß das nomen ipsum, der Priestertitel „Gottesdiener", erst nach der Mitte des 2. Jahrtausends auf den König angewendet wurde 9 , obwohl der Pharao schon tausend Jahre zuvor solche Opferhandlungen zelebriert hatte. Opfergaben und regelmäßige Opferstiftungen, tägliche Kultbildpflege, Bauwerke, Feste mit großen Umzügen und hymnische Anbetung sind das, was die Götter brauchen. Besonders der Sonnengott Re, dessen Tages- und Nachtlauf der königliche Priester Stunde um Stunde verbal, d. h. mit dem Rezitieren von Hymnen, mitvollzog, war auf diese Mitwirkung angewiesen. Das Weltgleichgewicht hing davon ab, daß beide, Gott und Mensch, füreinander handelten. 8

Vgl. BLUMENTHAL (wie Anm. 3) S. 28 f. (A 2.5-15). Vgl. A. ERMAN/ H. GRAPOW, Wörterbuch der ägyptischen Sprache, Bd. 3, 2. Neudruck Berlin 1957, S. 89/3; S. MORENZ, Die Heraufkunft des transzendenten Gottes in Ägypten, Berlin 1960, S. 57 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Kl. 109,2). 9

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Indessen darf die scheinbare Partnerschaft von Gott und König in den Tempelbildern nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie durchaus nicht gleichen Ranges waren; die Gaben hatten unterschiedlichen Wert, und das Reden war allein der Gottheit vorbehalten. Aus göttlicher Perspektive blieb der Pharao Sohn, Same, Abkömmling, Abbild, also gottähnlich. In der Sicht der Untertanen gehörte er zur Welt der Götter, ging er mit ihnen um, war er voll ihrer Mächtigkeit, kaum von ihnen unterschieden, also göttlich und jedenfalls weit abgehoben von seinem Volk, von den Menschen10.

10

Als weiterfuhrende Literatur vgl.: D. O'CONNOR / D. SILVERMAN (Hrsg.), Ancient Egyptian Kingship, Leiden / New York / Köln 1995 (Probleme der Ägyptologie, 9); R. GUNDLACH, Der Pharao und sein Staat, Darmstadt 1998; J. ASSMANN, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München / Wien 2000.

CLAUS WILCKE

Vom göttlichen Wesen des Königtums und seinem Ursprung im Himmel

Einige Vorbemerkungen: Wenn Altorientalisten vom „König" sprechen, übersetzen sie damit ein Wort einer der altorientalischen Sprachen. Wir ziehen hier sumerische und akkadische Quellen heran. „König" heißt auf sumerisch l u g a l und auf akkadisch sarrum und, nur assyrisch, rubä'um. Dem Wort Sarrum entspricht im Ugaritischen und anderen westsemitischen Sprachen malku, das im Hebräischen als mäläk erscheint, dieses wiederum übersetzt die Septuaginta mit basileus, was die Vulgata mit rex wiedergibt. Daraus wurde über Vulgärlatein und Altfranzösisch roi und ζ. B. im Spanischen rey. Beides entspricht dem deutschen Wort „König", mit dem Luther das rex der Vulgata übersetzt, und verwandten Wörtern anderer germanischer Sprachen. Was ein „König", „Koning", „kong" oder „king", ein „roi", ein , / e " oder „rey" ist, das wissen wir ziemlich genau. So benannte Amtsträger gibt es ja heute in Belgien, den Niederlanden, in Spanien, England, Dänemark und Schweden; auch Deutschland kennt Königliche Hoheiten. Wir erinnern uns dann aber vielleicht an Louis XIV., Henry VIII., August den Starken oder an Friedrich den Großen, die als „roi", „king" oder „Könige" ganz andere Rollen in Staat und Gesellschaft einnahmen. Wenn ca. drei Jahrhunderte so radikale Veränderungen bringen, was ist da bei ca. vier Jahrtausenden zu erwarten? Sind die angeführten Beispiele des 2. Jt. n. Chr. solchen des 1. vor oder nach Christus vergleichbar, reges wie Tarquinius Superbus oder Vercingetorix dem rex und basileus Herodes dem Großen, den man im Volke wohl als malkä bezeichnete, dem mäläk Salomon, dem assyrischen sarru Assurbanipal, einem babylonischen sarrum wie Hammurapi von Babylon oder gar sumerischen l u g a l wie Mesalim von Kis, E'anatum und Irikagina von Lagas oder Ur-Namma und Sulgi von Ur aus dem 3. Jt.? Sie alle haben das jeweils höchste Amt in Gemeinwesen unterschiedlicher Verfassung inne und, wie besonders die modernen Beispiele zeigen, unabhängig von dem Grad tatsächlicher, legislativer Rechte und exekutiver Gewalt. Eine solche Beschreibung schlösse aber auch den Pontifex Maximus im Vatikan und ζ. B. gewählte Staatspräsidenten und Häuptlinge von Stammesgesellschaften ein. Andere Merkmale wie ζ. B. mögliche Erblichkeit und eine über den Konsens der Beherrschten hinausgehende Verankerung im Bereich des Metaphysischen kommen offenbar hinzu, doch fällt es schwer, sie zu konkretisieren und ihre jeweils generelle Notwendigkeit zu postulieren.

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Versuchen wir einen anderen Weg der Annäherung. Etymologisch ist sumerisches l u g a l ein "großer" (gal) „Mensch" (Iii)1. Dasselbe bedeutet das assyrische rubä'um assyrische Herrscher bezeichneten sich selbst auch gern als uklu „Aufseher". Das Wort sarrum ist wurzelverwandt mit westsemitischen Wörtern für "Oberhaupt", "Anführer" oder "Fürst"2. Die Wortbedeutungen sind allesamt unergiebig für die Suche nach einem numinosen Wesenszug der Herrscher. Kontexte zeigen uns den l u g a l als Territorialherrscher3 und als Gebieter über Personen und Sachen. In dieser letzten Funktion kann jedermann erscheinen, der Herr, d. h., Eigentümer einer Person oder Sache ist. L u g a l ist also sowohl ein Herrscherwie auch ein Rechtstitel. Von diesen interessiert uns hier nur der erste, und auch nur dieser erste wird im Akkadischen mit sarrum wiedergegeben. L u g a l und sarrum „König" kann jemand wiederum über Personen und über ein Land sein. Das Sumerische kennt zwei weitere Herrschertitel, en und e n s i . k . Der erste, e n , wird in erster Linie in religiösem Kontext verwandt: en einer Gottheit ist ihr „Hoher Priester", ihre „Hohe Priesterin". Im 3. Jahrtausend wird der Titel auch auf Städte und ein Land bezogen: ζ. B. en von Uruk, en von Sumer, und qualifiziert dann den König. Ob sich dann kultische Aufgaben des Herrschers in diesem Titel ausdrücken, ist nicht zu erkennen. Herrschaft über Personen kann en nicht ausdrücken. Die territoriale Funktion geht im späten 3. Jt. verloren und lebt dann nur noch in der Epik fort. Der Titel e n s i . k scheint bei selbständigen Herrschern nur auf wenige Staaten beschränkt und kann dort mit l u g a l wechseln; ich übersetzte es hier mit „Fürst"4. E n s i . k wird dann zum Titel ziviler Provinzgouverneure der goßen Territorialstaaten des ausgehenden 3. Jt. Danach lebt es nur noch als Wort für einen Verwaltungsbeamten in der Landwirtschaft fort, eine Bedeutung, die ihm mutatis mutandis von Anbeginn an eigen ist; denn die e n s i . k von Lagas im 25. und 24. Jhd. v. Chr. zeigen deutlich, daß nicht sie die eigentlichen Herren ihres Gebietes sind, sondern der Gott Nin-girsu.k mit seiner Frau Ba'u, denen sie als Vögte dienen. Dieselbe Erscheinung begegnet uns, wenn im mittelassyrischen Krönungsritual5 etwa aus dem 12. Jhd. v. Chr. und im „Krönungs-

1

Einen Versuch der Bedeutungsbestimmung und eine Auseinandersetzung mit neuerer Literatur zu Königtum und Herrschertiteln bietet W. HEIMPEL, „ H e r r e n t u m und Königtum im vor- und frühgeschichtlichen Alten Orient". In: Zeitschr. für Assyriologie und Vorderasiatische Archäologie (ZA) 82 (1992) S. 4-21. 2 U. RÜTERSWÖRDEN, Die Beamten der israelitischen Zeit (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 117. 1965). 3 Zu altmesopotamischen Herrschertiteln s. D. O. EDZARD, Herrscher. In: Reallexikon der Assyriologie und der Vorderasiatischen Archäologie 4/4-5 (1975) S. 335-342. 4 Die Möglichkeit, daß der Gebrauch dieses Titels die Zugehörigkeit zu einem von einem lugal geführten Bundesstaaat oder Staatenbund signalisiert, ist aber nicht auszuschließen; s. sofort die Rolle des Mesalim von Kis. 5 K. F. MÜLLER, Das assyrische Ritual. Teil I: Texte zum assyrischen Königsritual (Mitt. der Vorderasiatisch-Ägyptischen Gesellschaft 41/3. Leipzig 1937) S. 9129; der Ruf „Assur ist König" vielleicht schon im frühen 2. Jt. bei König Irisum von Assur: K. BALKAN, B . LANDSBERGER, Die Inschrift des assyrischen Königs Irisum, gefunden in Kültepe 1948. In: Belleten 14 Nr. 54 (1950) S. 226: 35; s. auch R. BORGER, Einleitung in die assyrischen Königsinschriften 1. Teil: Das zweite Jahrtausend vor

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hymnus" Assurbanipals6 im 7. Jhd. der Ruf erklingt: „Assur ist König, Assur ist König!". Dem entspricht, daß assyrische Könige sich seit alters gern mit dem aus e n s i . k entlehnten iss(i)akku als Vögte des Gottes und des Staates Assur zu erkennen geben, und wir sehen ein wesentliches Motiv im Selbstverständnis altmesopotamischer Herrscher, denen man so gern Despotismus nachsagt. Damit sind wir auch mitten in unserem Thema. Der früheste Text, der uns dergleichen vor Augen fuhrt, ist der im 26. Jhd. v. Chr. liegende Beginn der Geschichte des Grenzkonflikts zwischen den Staaten Lagas und Umma, wie sie der e n s i . k Enmetena von Lagas (ca. 2400 v. Chr.) berichtet7: (Gott) Enlil, König (i. e. lugal) aller Länder, der Vater aller Götter, hat mit seinem, rechtlich verbindlichen Worte (den Göttern) Nin-girsu.k und Sara eine Grenze gezogen. Mesalim, König (i. e. l u g a l ) von Kis, hat auf das Wort des (Richtergottes) Istaran hin die Feldmeßleine daraufgeschlagen und hat dort Stele(n) errichtet. Gis, der Fürst (ensi.k) von Umma hat es zu einer alle Worte übersteigenden (d. h. unaussprechlichen) Sache gemacht, die Stele(n) herausgerissen und ist in die Steppe von Lagas gekommen. (Gott) Nin-girsu.k, der Krieger des (Gottes) Enlil, schlug seinem rechtlich verbindlichen Worte gemäß eine Schlacht mit Umma, hat dem Worte (des Gottes) Enlil gemäß sein Kampfnetz auf es herabgeschlagen und seine (= Ummas) Leichenhügel in der Steppe errichtet. E'anatum, Fürst von Lagas, Onkel von Enmetena, dem Fürsten von Lagas, hat mit En'akale, dem Fürsten von Umma, die Grenze gezogen ...

Das Königtum existiert in der Welt der Götter ebenso wie in der der Menschen, und beide Sphären sind unmittelbar aufeinander bezogen. Das Handeln des Göttervaters und Länderkönigs Enlil unter den streitenden, ihre Territorien vertretenden Göttern spiegelt sich auf der Erde im Handeln menschlicher Repräsentanten eines nicht näher definierten, deutlich überregionalen Königtums und von für ihre Länder handelnden Fürsten.

Christus (Handbuch der Orientalistik. I. Abteilung, Ergänzungsband 5. Leiden/Köln 1961) zum Siegel des Silulu. 6 A. LIVINGSTONE, Court Poetry and Literary Miscellania (State Archives of Assyria 3. Helsinki 1989) S. 26-27 Nr. 11,15. Der Text enthält auch einen Passus über rituelles Geschehen. 7 H. STEIBLE, Die Altsumerischen Bau- und Weihinschriften. Teil I: Inschriften aus Lagaä (Freiburger Altorientalische Studien 5/1. Wiesbaden 1 9 8 2 ) S. 2 3 0 - 2 3 3 i 1 - 4 2 ; J. S. COOPER, Presargonic Inscriptions (Sumerian and Akkadian Royal Inscriptions, Vol. I = The American Oriental Society, Translation Series I. New Haven 1986) S. 54 f.: La 5.1 i. - Die verschiedenen Handlungsebenen hebe ich durch den Wechsel des Schrifttyps hervor: kursiv: himmlisches Geschehen in der Welt der Götter; gerade: irdisches Geschehen unter Menschen. (Übersetzung, wie alle Übersetzungen altor. Texte in diesem Aufsatz: C.W.).

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Der Text wechselt zwischen diesen Handlungsebenen hin und her, bevor er im weiteren historischen Bericht in der Welt der Menschen bleibt, um dann ganz zum Schluß wieder die Götter als Garanten der eingangs genannten, durch mehrere Generationen hindurch wieder und wieder erstrittenen Grenzlinie anzurufen. Das Königtum im Himmel übt Enlil aus, der „König aller Länder". Andere Texte erklären den Himmelsgott An zum König der Götter. Das im 17. Jhd. v. Chr. aufgezeichnete AtramhasTs-Epos entwirft das Bild einer göttlichen Regierungsmannschaft mit An als König, Enlil als mäliku „Berater" und Ninurta als guzalü „Sesselträger" 8 . Dabei ist mäliku wieder verwandt mit dem westsemitischen (also ugaritischen, hebräischen, arabischen etc.) Wort für „König" und meint - das macht das Epos sehr deutlich - den Meinungsfiihrer und Leiter der Götterversammlung, eine Art Parlamentspräsident und Ministerpräsident in einer Person. Der „Sesselträger" vertritt wohl die Exekutive. Nach der Erschaffung der Menschen bedurfte deren Welt ebenfalls einer solchen Herrschaftsform, und so ließen die Götter das Königtum vom Himmel herabkommen. Mit den Worten: „Als das Königtum vom Himmel herabkam"

setzt die „Sumerische Königsliste 9 " gleich zweimal ein. „Als das Königtum vom Himmel herabkam, wurde Kis die (Stadt) des Königtums"

war der ursprüngliche Beginn. Das Königtum wandert von Stadt zu Stadt; in der durch fakultative Glieder ergänzten, regelhaften Abfolge Kis, Uruk, Ur. Später stellte man einen Abschnitt über die Zeit vor der Sintflut voran; der fing mit den Worten an: , A l s das Königtum vom Himmel herabkam, wurde Eridu die (Stadt) des Königtums".

Vor den alten Einleitungsworten hieß es dann: „Als die Sintflut darüber hinweggegangen war."

Auch das vorsintflutliche Königtum wanderte von einer Stadt und ihrer Dynastie zur nächsten, mußte aber nach der Sintflut erneut herabkommen. Der „überaus Weise" das heißt Atram-hasls - Zi-114-sü-fa, der letzte König von Suruppag, hatte zwar die Sintflut überlebt. Ihn, den weil vorsintflutlich noch Unsterblichen, hatten die Götter freilich - das erzählt das Gilgames-Epos, das ihn Utanapistl nennt - an einen fernen Ort entrückt. 8

Dazu C. WILCKE, Weltuntergang als Anfang. Theologische, anthropologische, politisch-historische und ästhetische Ebenen der Interpretation der Sintflutgeschichte im babylonischen Atra-hasIs-Epos. In: A. Jones (Hg.), Weltende (Wiesbaden 1999) S. 63-112. 9 Th. JACOBSEN, The Sumerian King List (Assyriological Studies 11. Chicago 1939); letzte Zusammenstellung von Quellen und Literatur: Cl.-A. VINCENTE, The Tall Leilän Recension of the Sumerian K i n g L i s t . In: Z A 8 5 ( 1 9 9 5 ) S. 2 3 4 - 2 7 0 .

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Die veröffentlichten Textzeugen der „Sumerischen Königsliste" stammen aus dem 18. Jhd.; ich glaube aber, die Entstehung des Werks (oder seine nachhaltige Umgestaltung) im 24. Jhd. v. Chr, d. h. unter der Dynastie von Akkade, im frühesten der großen Territorialstaaten, plausibel machen zu können10. Diese historiographische Komposition dient danach auch der Legitimation seitdem herrschender Dynastien, derer von Ur und Isin, und wurde - ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechend - immer wieder umgeschrieben und erweitert, so vor allem unter den Königen Ur-Namma (2112-2095) und Sulgi (2094-2047) von Ur. Herrscher von Lagas kennt sie nicht. Dort, in Lagas, polemisiert ein eigenes Werk aus der Zeit des e n s i . k Gudea11, an der Wende vom 22. zum 21. Jhd., gegen die „Königsliste" und damit gegen die Könige Ur-Namma und Sulgi von Ur. Es kennt nur Lagas-Herrscher und erweist das Vogt-Amt des e n s i . k als älter und damit ehrwürdiger als das des l u g a l : Es sei vor dem Königtum geschaffen worden12. Diese Herrscherliste interessiert sich nicht für die Regelmäßigkeit wiederholter Wanderungen des Königsamtes von Kis über Uruk nach Ur; ihr ist am kulturellen Fortschritt, vor allem in der Landwirtschaft, gelegen. Das Mythologem vom aus dem Himmel herabkommenden Königtum, das in der Stadt Kis als erstes Wohnung nimmt, findet sich wieder im einleitenden Abschnitt des Etana-Epos13. Etana war der erste König von Kis. Auch die frühesten Abschriften des Etana-Epos datieren in das 18. Jhd. v. Chr. Über Siegelbilder aus der Zeit der Dynastie von Akkade mit dem Etana-Motiv, dem auf einem Adler himmelwärts fliegenden Mann, können wir auch seine Fabel bereits fur das 24. Jhd. nachweisen. Es sagt deutlich, daß es vor Etana noch keinen König gab, daß die Königsinsignien sich im Himmel bei An befanden und die Stadt zur Abwehr eines „Starken" oder „Mächtigen" fest verschlossen war, daß Istar, die Stadtgöttin von Kis, aber nach einem Könige suchte. Auch das Streitgedicht von Dattelpalme und Tamariske erzählt in Versionen aus dem 18. und dem 12. Jhd. vom durch die Götter in der Stadt Kis etablierten Königtum. Drei unterschiedliche Literaturwerke mit ihren divergierenden Versionen und die Gegenliste

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C. WILCKE, Gestaltetes Altertum in Antiker Gegenwart. Königslisten und Historiographie des älteren Mesopotamien. In: D. Kuhn, H. Stahl (Hg.), Die Gegenwart des Altertums (Heidelberg 2001) S. 93-116. 11 E. SOLLBERGER, The Rulers of Lagas. In: Journal of Cuneiform Studies (JCS) 21 (1967) S. 279-291. - Der in einer Abschrift des 18. Jhd.s vorliegende Text endet mit Gudea; darum die Datierung in seine Zeit. Die historische Verläßlichkeit (fur die Reihe der letzten Herrscher) ist inzwischen deutlicher geworden; s. T. MAEDA, Two Rulers by the Name Urningirsu. In: Acta Sumerologica (Japonica: ASJ) 10 (1988) S. 19-35; s. auch C. WILCKE, Schrift und Literatur. In: Β. Hrouda (Hg.), Der Alte Orient (Gütersloh 1991) S. 270-297 (speziell S. 283). 12 Kol. i 6-10 des Textes: U4 A n - n e E n - l i l - l e , n a m - l ü - u i 8 m u - b i sa4-a-ta, ü n a m - e n s i i n - g [ a r - r ] a - t a , n a m - l u g a l aga GISG[AL x-A]N, a n - t [ a n u ] - u b - t a - e - [ a - b a ] „Als (die Götter) An und Enlil die Menschheit benannt hatten und das Vogt(=ensi .k)-Amt eingesetzt worden war, Königtum, Krone, Thron und... vom Himmel noch nicht herabgekommen waren,..." 13 Neueste Edition: M. HAUL, Das Etana-Epos (Göttinger Arbeitshefte zur Altorientalischen Literatur 1. Göttingen 2000) S. 106 f.

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aus Lagas stimmen damit darin überein, daß das Königtum eine Gabe der Götter für die Menschen sei14. Es bleibt aber in der Verfügungsgewalt der Götter, die einer Stadt das Königtum entziehen und es einer anderen übertragen können. Das läßt vor allem die „Klage um die Zerstörung von Ur und Sumer" den Gott Enlil deutlich aussprechen15: Das Endurteil, das Wort der Versammlung anzufechten, das gibt es nicht. Das von An und Enlil gesprochene Wort erfahrt keine Änderung. Ur wurde das Königtum gegeben, eine dauernde Amtszeit wurde ihm nicht gegeben. Seit in fernen Tagen das Land gegründet wurde, bis hin zu den Grenzen des zahlreichen Volkes - wer ist es, der eine königliche Amtszeit sah, die (die gesetzte Zeit) überdauerte?

*

Die Art und Weise, in der das Königtum jeweils einem Menschen zuteil wurde, beschreiben unsere Quellen vor allem als Erwerb physischer Divinität durch göttliche Geburt und als göttliche Wahl vermittels der Opferschau und der im Kult realisierten Segnung durch die Schicksalsbestimmung. Das dritte und beginnende zweite Jahrtausend kleideten dies in die mythologische Aussage von göttlicher Zeugung und Geburt und von einem Wahlakt und seiner Bestätigung im Kreise der Götter - im Falle von Ibbi-Su'en, dem letzten König der 3. Dynastie von Ur, spiegelt sich das auch in Abrechnungen der staatlichen Kultusbürokratie. Enmetena von Lagas (ca. 2400 v. Chr.) beschreibt seine Wahl mit den Worten16: [Als (Gott) Nin-girsu ihn beru]fen? und aus 3.600 (60 2 ) Menschen heraus seine [Hand] ergriffen hatte.

Irikagina von Lagas (ca. 2350 v. Chr.) steigert das zu17: Als (Gott) Nin-girsu.k, der Kieger Enlils, Iri-kagina das Königtum von Lagas verliehen hatte, aus 36.000 (602X10) Menschen heraus seine Hand ergriffen hatte, da hat er die Bestimmungen von früher abgeschafft.

14

WILCKE ( w i e A n m .

10).

P. MICHALOWSKI, The Lamentation over Ur and Sumer (Mesopotamian Civilizations 1. Winona Lake 1989) S. 58 f., Ζ. 364-368. 16 Η. STEIBLE (wie Anm. 7), S. 248 Ent. 32 i l"-3". Das Wort sär, als Ziffer 3.600, bedeutet auch „unzählige". 17 H. STEIBLE (wie Anm. 7), S . 298 Ukg 4 vii 29-viii 9 = 5 vi 12-22. 15

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In der Betonung seiner Wahl können wir das Legitimationsbedürfeis eines Usurpators vermuten, doch fehlen bei Enmetena Hinweise auf eine nicht reibungslose, die Legitimation durch göttliche Wahl erfordernde Thronfolge vom Vater auf den Sohn. Bei Irikagina steht die Aussage im Bericht über eine königliche Rechtssetzung. Von UrNamma von Ur über Lipit-Estar von Isin bis zu Hammurapi von Babylon wird die göttliche Wahl des Herrschers ein Leitmotiv der Prologe der Gesetze sein. Aber auch andere Könige, die nicht als Gesetzgeber hervortraten, stellen ihre göttliche Auswahl heraus. Gudea von Lagas erlangte die Herrschaft als einer mehrerer Schwiegersöhne seines Vorgängers Ur-Ba'u. Er steigert Irikaginas Aussage noch einmal, die sich damit endgültig als ein Topos erweist18: Als Nin-girsu.k seinen beständigen Blick auf die Stadt gerichtet und Gudea zum beständigen Hirten des Landes erwählt hatte, seine Hand aus 216.000 (603) Menschen ergriffen hatte, da reinigte er die Stadt...

Und König Ur-Namma (2112-2095 v. Chr.), der als Bruder Utu-hegals von Uruk die Königsherrschaft von Uruk nach Ur, in die Stadt des Mondgottes Nanna brachte, beginnt sein Gesetzeswerk mit den Worten19: Als (die Götter) An und Enlil dem (Gott) Nanna das Königtum von Ur gegeben hatten, da hat er nach Ur-Namma, dem von der (Göttin) Ninsuna geborenen Kind, seinem geliebten Haussklaven, wegen dessen Rechtschaffenheit, wegen seiner Gerechtigkeit verlangt und ihm das Königtum von Ur gegeben.

Und in einem Paukenlied Ur-Namma's lesen wir20: Enlil, der Wortgewa[ltige ...], der Herr, der große Fürstlichkeit ...[...], Nunnamnir, des Himmels und der Erde König, [der ...], erwählte ihn im Volke, den rechten Hirten Urnafmma]. Der Große Berg Enlil wählte ihn aus seinem zahllosen Volke aus.

18 D. O. EDZARD, Gudea and his Dynasty (The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Early Periods 3/1. Toronto 1997) S. 32 Statue Β iii 6-11. 19 S. J. J. FINKELSTEIN, The Laws of Urnammu. In: JCS 22 (1969) S. 66-82. Ich lese i 31-ii 2: u 4 A n n e , E n - l i l - l e , ' ' N a n n a - a r , ' n a m - l u g a T Uri5 k l -ma, ' m u - n a ' - s ü m - m u - u s - a , U4-ba Ur-dNamma{-ke4}, dumu tu-da, 'Slin-sun-ka, ' a m a ' - a - t u , ki-ag-ga-ni-ir, n i | s i - s ä - n e - e s , [ n i ] g - g [ i - n a ] - n e - e s , a [ l m u - n ] a - ' n i - d u n " , [ n a m - l u ] g a l , [ U ] r [ i s 'ma], [hu]-mu-fna-süm], 20 Ε . FLÜCKIGER-HAWKER, Urnamma of Ur in Sumerian Literary Tradition (Orbis Biblicus et Orientalis 1 6 6 . Fribourg/Göttingen 1 9 9 6 ) S. 1 8 8 Urnamma Β 1 - 5 ; s. auch J. KLEIN, Building and Dedication Hymns in Sumerian Literature. In: AS J 11 ( 1 9 8 9 ) S. 2 7 - 6 7 , besonders S. 4 4 - 6 2 .

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*

Die physische Zeugung und Geburt des Herrschers durch Gott und Göttin begegnet uns erstmals bei E'anatum von Lagas im 25. Jhd. v. Chr. E'anatums fragmentarischer Bericht über die Vorgeschichte des Grenzstreites mit dem Nachbarstaat Umma mündet ein in die Schilderung seiner eigenen Zeugung durch den Gott Nin-girsu und die Göttin Ba'u, seiner Geburt, der Namensgebung durch die Göttin Inana, und der Nährung durch eine göttliche Amme 21 : [Da zeujgte [N]in-[gir]su.k E'[an]atum. [Ba'u gebar ihn. Die Mutter] B[a'u] freute sich über [ihr Kind], Inana.k geleitete es. ,E'ana-Inana-Ibgalkaka-atum' (,Für-das-E'ana-der-Inana-vom-IbgalTempel-ist-er-bestens-geeignet') gab sie ihm zum Namen. Sie setzte ihn auf das rechte Knie der (Muttergöttin) Nin-hursaga.k. Nin-hursaga.k [reichte ihm] ihre rechte Brust. Über den von Ningirsu.k gezeugten E'anatum freute sich Nin-girsu.k. Der Text fahrt fort mit weiterem göttlichem Handeln am neugeborenen König. UrNamma von Ur sagt in einem Preislied 22 : Nachdem mein Same in den lauteren Mutterleib hineingebracht war, hat (der Mondgott) Su'en zum Bestaunen mich, seinen Liebling, für den (Mondgott) Nanna zu seiner Wonne gemacht. (Gott) Enlil hat für ein sonnengleiches Erscheinen mich mit einem guten Namen benannt. (Die Muttergöttin) Nintu stellte mich zum Gebären hin. Aus dem Leib meiner Mutter, (der Göttin) Ninsuna, kam mir ein schön bestimmtes Schicksal hervor. An mir, Ur-Namma, hat das Gebiet von Sumer und Akkad eine Schutzgottheit gewonnen. Ich bin die Beglückung des Landes, mein Lebensodem gebiert es wirklich. Und wenige Verse später23 nennt Ur-Namma das kultische Geschehen bei seiner Auswahl: Enlil bestimmte mich an einem ihm genehmen Tage durch die Opfeischau. In Sumer rief er das verbindliche Wort, ließ mich mich für ihn erheben. Weite Weisheit zusätzlich zur Einsicht, die ich besitze, gab König [An] in meine Hand, so daß ich der Ankerpfahl Sumers bin. Bei Ur-Namma's Sohn Sulgi finden wir das legitimatorische Argument göttlicher Geburt durch Ninsuna wieder verknüpft mit dem der Wahl. Er stellt sich im Lied Sulgi Α vor 24 : 21

C. WILCKE, Familiengründung im Alten Babylonien. In: E. W . Müller (Hg.), Geschlechtsreife und Legitimation zur Zeugung (Veröff. des „Instituts für Historische Antropologie e.V." 3. Kindheit Jugend Familie 1. Freiburg/München 1 9 8 5 ) S. 2 1 3 - 3 1 7 , besonders S. 2 9 8 - 3 0 2 . Siehe jetzt auch M. STOL, Birth in Babylonia and the Bible. Its Mediterranian Setting (Cuneiform Monographs 14. Groningen 2000) S. 83 mit Anm. 243 (wo Wilckes Textrekonstruktion unberücksichtigt bleibt). 22 E . FLÜCKIGER-HAWKER, Urnamma (wie Anm. 2 0 ) S. 2 1 2 f.: Urnamma C 4 3 ^ 4 7 . 23

Z. 58-62.

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Ich, der König, bin vom Mutterleib an ein Krieger, Ich, Sulgi, bin vom Moment meiner Geburt an ein starker Mann, Ein Löwe mit gelbglänzenden Augen, den ein Drache gebar, bin ich, Der König der vier Himmelsecken und -kanten bin ich, Der Hüter, der Hirte der Schwarzköpfigen bin ich, Der Angesehene, der Gott aller Länder bin ich. Das Kind, geboren von (Göttin) Ninsuna bin ich, Der vom lauteren (Gott) An ans Herz Gerufene bin ich, Der, dem von (Gott) Enlil das Schicksal bestimmt ist, bin ich, Sulgi, gehebt von (Göttin) Ninlil, bin ich, Liebevoll gepflegt von (Göttin) Nintu bin ich, Mit Weisheit begabt von (Gott) Enki bin ich, Der König, gestärkt von (Gott) Nanna, bin ich, Der Löwe, dem das Maul geöffnet ist von (Gott) Utu, bin ich, Sulgi, als Wonne gefunden von (Göttin) Inana bin ich. Die sehr bruchstückhaft überlieferte Dichtung „Sulgi P 25 " liest sich w i e das Libretto zu einer szenischen Aufiuhrung und läßt Hörer und Leser am höchst lebendig geschilderten mythischen Geschehen unmittelbar nach der göttlichen Geburt von König Sulgi teilnehmen; Fragment a setzt am Ende eines Gesprächs zwischen Lugalbanda und Ninsuna, den göttlichen Eltern Sulgis, ein. Die Sprache ist reich an Metaphern, der König erscheint im Bilde des (noch unbekannten) m e s - B a u m e s 2 6 und einer kraftstrotzenden, alle anderen Bäume überragenden Zeder. Die Geburt selbst wird mit dem Hervorbrechen des Schößlings aus der Erde metaphorisch umschrieben: (Frgm. a) 1'

24

„....

2'

...

3'

[Sei]nem [...] schmeichelte ich, [..]

J. KLEIN, Three Shulgi Hymns. Sumerian Royal Hymns Glorifying King Sulgi of Ur (Ramat Gan 1981) S. 182-203, Sulgi A 1-15. 25 Edition: J. KLEIN, The Royal Hymns of Shulgi, King of Ur: Man's Quest for Immortal Fame (Transactions of the American Philosophical Society 71/7, 1981) S. 21-42; s. auch C. WILCKE, Zum Königtum in der Ur m-Zeit. In: P. Garelli (Hg.), Le Palais et la Royaute (Paris 1974) S. 177-232, besonders S. 195 Anm. 78. 26 The Chicago Assyrian Dictionary, M/2 (Chicago/Glückstadt 1977) S. 34: „An unidentified large tree that is never imported, whose wood is used frequently for furniture; it has no fruit or medically used product."

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[Als] ich an seinen [Stamm?] richtig Hand anlegte, Da war er eine saftige Zeder, inmitten von Zypressen gepflanzt, Und dein Vater, der lautere (Himmelsgott) An ließ die Zweige funkeln." Da trat meine Herrin für ein Wort des An hin, Trat Ninsuna gemeinsam mit ihrem Ehemann Lugalbanda ein27, Damit er ihr Gebet gnädig annehme. Zum lauteren An ging sie geradewegs in den Ubsukinna-Hof: „Du, mein Vater An, König der Götter, Im weiten Lande habe ich ihn erwählt. In dem dort wie Mutterschafe zahlreichen Volk Hat Sulgi für mich den Nacken unter ihren Häuptern herausragen lassen28, er ist fürwahr ihr guter Hirte. 15' Er ist mein m e s - Baum mit glitzernden Zweigen, hat mir das Erdreich durchbrochen, 16' Als mein üppig grünender B[aum?] steht mein Kind? fur mich da29. 17' Er ist mein (fest) verwurzelter [...], hat für mich einen massiven Stamm bekommen. 18' Me[in... ] ist in den Ziegelbauwerken von Sumer strahlend erschienen. ... (etc.) (nach einer Textlücke) 1" [...], dem [...] von Ur, 2" [... ] schenke das Königsamt!"

4' 5' 6' 7' 8' 9' 10' 11' 12' 13' 14'

Frgm. b beginnt mitten in der Antwort des Gottes An: 1' 2' 3' 4' 5' 6' 7' 8' 9' 10'

„Die Wurzeln haben die Erde gefunden. Du hast bei diesem lauteren Wort mit mir dagestanden. Auf dem großen, erhabenen Söller von Ur Soll der mit dem fiir die Rede passend gewordenen Verstand30, Sulgi, der König mit der schönen Amtszeit, Für dich die königlichen Riten, die ich, An, festgesetzt habe, vollkommen vollziehen! Die Regeln der Götter soll er für dich ordentlich ausführen! Vollmond-Dinge und Fest-Dinge soll er für Dich als Opfer darbringen! Du aber sollst mir seine Gebete bringen! Üppigkeit, die die Erde durchbrach wie Gras, mein Baum ist er bestimmt!"

11' Da faßte meine von den Worten An's erfreute Herrin, 12' Die (Göttin) Ninsuna, Sulgi, den König von Ur, 13' An seinem rechten Handgelenk 27

Die einzige Quelle, Text A = Ni. 4420, Photo bei KLEIN, The Royal Hymns (wie Anm. 25) S. 31 (s. auch S. 34 Anm. 194), ist wegen einer undeutlichen Schreiberkorrektur epigraphisch unsicher. Ich lese: d N i n - s ü n - n a n i t a - d a m ' - a - n i kü L u g a l - b ä n - d a < - d a > n a m - b a - d a - a n - s u n s 28 Lesung: Sul-gi gü sag-ba m a - n i - ' s i T . 29 Lesung: [gi]s ma-dam-guio ' d u m u ' " - g u i o m a - a - g u b . 30 Lesung in Text B, Photo bei J. KLEIN, The Royal Hymns (wie Anm. 25) S. 33, 4: dima inim-e ba-ab-du7-a-e.

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14' und brachte ihn froh in ihren 'erhabenen Palast' hinein. 15' Ließ ihn auf dem erhabenen, vom lauteren An aufgestellten Podium [Platz nehmen] 16' Und schmeichelte ihm an ihrer lauteren Mutterbrust: 17' 18' 19' 20' 21' 22' 23' 24' 25' 26' 27' 28' 29' 30' 31' 32' 33' 34' 35' 36' 37' 38' 39' 40' 41' 42' 43' 44'

31

„Hirte Sulgi, ich bin dein großes (hölzernes)..., mein Herz aus... -Edelmetall, wird deinetwegen erfreut. Mein Vater, der [lautere] An, ist dein [Her]r(?). Du bist ein überragender Vertreter [des Königtums], [...] hat dir ein Preislied auf deinen königlichen Namen gesungen. Sulgi, du bist das lautere, von mir geborene Kalb, Du bist der wohltuende Same Lugalbandas, Den ich in meinem lauteren Schoß habe heranwachsen lassen. An meiner lauteren Mutterbrust habe ich dir das Schicksal bestimmt, Ich, die ich über schöne, mir zugeteilte Dinge verfuge, Habe es vom lauteren ... her laut erschallen lassen31, Ich, die Herrin, die lautere Ninsuna, die Mutter des Königtums. Die beständige Frau, die mit dem schönen Haupt und Äußeren, die für das Herrin-Amt taugt, Ich, j a ich, bin, Sulgi, deine ... Ich habe mich mit meinem... Zeremonialgewand bekleidet. Du, der du auf meinen lauteren Knien ... gespielt hast, Bist der für die Gerechtigkeit geborene Hirte. Auf mein lauteres Wort hast du dein Vertrauen gesetzt, So daß dein lauterer Name für den Mund tauglich wurde, Damit er die Leiber der großen Götter (gleichsam) mit feinem Öl salbe. Das Richter-Szepter hat An dir gegeben, auf daß du das Haupt himmelwärts erhebest! Dein leiblicher Vater, der lautere Lugalbanda, Hat dir den Namen gegeben »Junger Mann, den An unter den Göttern kennt32«, Auf daß das Volk dich' als den Stierhäuptigen33 in Besitz(?) nehme. Mit der königlichen Krone hat er dich geschmückt, Auf daß er mit dem ewigen Szepter deinen Lebensodem reinigen möge34. (Die Göttin) Gestinana, die Schwester des Königs, Die mit dem Honigmund unter den Göttern,

Lesung in Text Β (wie Anm. 30) Z. 27: BAR k ü - ' t a " [ m ] u l - m a - a l h e - m i - [ z a ] In „Sulgi F" ist es die Göttin Nin-hursaga.k, die (als Geburtshelferin) dem neugeborenen Sulgi diesen Namen gibt; s. J. KLEIN, The Royal Hymns (wie Anm. 25) S. 26. Die Namensgebung durch Geburtshelferin und Vater sehen wir schon im 25. Jhd. bei E'anatum von Lagas; s. C. WILCKE, Familiengründung (wie Anm. 21) S. 302. 33 Lesung in Text Β (wie Anm. 30) Z. 40: sag gU4 g ä l - s e ü g - e bi-in-dui2-dui2. Das Herrscherepitheton sag gU4 gal „mit einem Stierkopf versehen" findet sich auch bei Lugalzagesi; C. WILCKE, Orthographie, Grammatik und literarische Form. Beobachtungen zu der Vaseninschrift Lugalzaggesis (SAKI 152-156). In: Tz. Abusch et al., Lingering over Words (Fs. W. L. Moran. Harvard Semitic Studies 37. Atlanta 1990) S. 455-504, speziell S. 489, Anm. 72, ist entsprechend zu korrigieren. 34 Die Aussage ist mir unverständlich. 32

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Claus Wilcke

45' 46' 47 48' 49' 50' 51' 52' 53' 54' 55' 56' 57 58'

Soll in deinem fürs Wohlgefühl erbauten Palast Die Freude über dich nicht aufhören lassen, Soll für Deine schönen Gebete dastehen, Soll bei der Fürbitte für dich kein Ende finden! Ich, die Herrin [habe] die lautere Wohnung [...] Meine Mutter (die Göttin) Uras, die [Götterherrin], Mein Vater An, der Göt[ter]könig, ...[...] ...[...] Das Königtum, das aus ferner Zeit, Piaben sie ...] Das versammelte Volk [gaben sie i]n meine Hände. Die Anuna(götter), alle großen Götter, Standen zusammen mit mir dort, wo das Schicksal bestimmt wurde. Das Hirtenamt Sulgis, das ewige, gaben sie für [dich bekannt]."

59' Sulgi [trat] geradewegs zu An hin35. 60' Der ließ ihn dem Lande wie den aufgehenden (Sonnengott) Utu erscheinen. 61' Einen Thron für eine gefestigte Regierangszeit stellte man ihm hin. 62' Der Hirte [fällte] gerechte Urteile, 63' [Traf] gerechte [Entscheidungen. 64' Für [Sulg]i [...] die königliche] Krone, 65' Große [...] [Rest abgebrochen] Die Dichtung „Sulgi F ' besingt die Aufgaben, für die seine Mutter Ninsuna König Sulg i geboren hat - das Sorgen für reiche Erträge, für den Kult und für das Recht bevor der Text in eine wieder lebhafte, metaphernreiche, in Reden und Gegenreden gehaltene Erzählung von der göttlichen Wahl und Investitur des Königs eintritt36. Auf die in „Sulgi P" geschilderten Ereignisse nimmt vielleicht Z. 30 knapp Bezug: 1 2 3 4 5

In die Gerstespeicher des Landes Gerste zu füllen, In den Magazinen des Landes die Dinge zahlreich zu machen, Die Feindländer und das Böse abzuwenden, Darum hat den Krieger seine Mutter geboren, Ninsuna. Darum hat Sulgi seine Mutter geboren, Ninsuna.

6 7

In Brunnen und in Schlangengewässern, die es auf den Feldern gibt, Den Kanalinspektor Fische und Vögel fangen zu lassen, ihre Eier sammeln zu lassen, Die Fische und Vögel, die da Seite an Seite leben, Im altem und jungem Schilfrohr, wo die Netze gespannt sind.

8 9 35

Lesung in Z. 59: S u l - g i si-sä A n - r a b [ a - g u b ] . Siehe C. WILCKE, Zum Königtum (wie Anm. 25) S. 184 f.; 196, Anm. 79-80 (Z. 61-72; 81-86); 201, Anm. 131 (Z. 1-19); 215 (Z. 20-31). 36

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10 Sobald die lauteren (= silberhellen) Kühe den (Sternen?) des jugendlichen (Mondgottes) Su'en, den Kälbern, die Euter bieten, 11 Sobald die... Kühe, die des (Mondgottes) Nanna, Milch produzieren wie Wasser, 12 Auf daß gebackene Eier, in weißen Schüsseln 13 Die verschiedenen Fettsorten, die verschiedenen Milcharten 14 (Gott) Nanna als Jahresgabe zu seinem Vater Enlil aus den lauteren Hürden hineinbringe, 15 Sobald er das Schiff der Erstlingsgaben dorthin gelangen läßt, 16 (All dies) zu Enlil nach Nippur zu bringen, 17 In den Hof des (Enlil-Tempels) Ekur die Erstlingsgaben gelangen zu lassen, 18 Darum hat den Krieger seine Mutter geboren, Ninsuna. 19 Darum hat Sulgi seine Mutter geboren, Ninsuna. 20 Die Gerechtigkeit kein Ende nehmen zu lassen, 21 Das Böse, auch wenn es kein riesiger Stein ist, im Grundwasser festzuhalten, 22 Einen den anderen als Mietling nicht nehmen zu lassen, 23 Hat im wohlgebauten Palast von Sumer 24 Auf des lange Tage währenden Podiums lazurfarbenem Thronsessel Sulgi sich niedergelassen. 25 26 27 28 29

Daß der König als (Richtergott) Iätaran für die aus Sumer Stammenden Die Urteile für das Land falle, die Entscheidungen für das Land treffe, Daß unsere Stadt Ur ihr Haupt erhebe, Darum hat den Krieger seine Mutter geboren, Ninsuna. Darum hat Sulgi seine Mutter geboren, Ninsuna.

Der Text fahrt fort: 30 Damals entschied An für Sumer das Geschick, rief es dem Volke zu, 31 (Der Mondgott) Aäimbabbar trat erfreut zur Versammlung heraus.

Nach einem schlecht erhaltenen Abschnitt ist davon die Rede, wie das Erscheinen des neuen Königs Gedeihen im Kosmos bewirkt37: 37

Z. 44-60 sind in den in Anm. 36 genannten Textumschriften noch nicht enthalten. Quellen: Texte und Materialien der Frau Professor Hilprecht-Sammlung vorderasiatischer Altertümer im Eigentum der Friedrich Schiller Universität Jena. Neue Folge IV Nr. 11, 44-60; dazu C. WILCKE, Kollationen ... Jena (ASAW 65/4. Berlin 1976) S. 50-52: (44) u^ kalam-ma e-a am-si am sag ba-ab-[il] (45) za mah kur kus-de r x ta an kü "1 sü-rä (46) sul Utu u^-di kur-kur-ra-ke4 rsi mu-na-an-sä-e" (47) kur ki tag-ga ki nig da[gal-l]a-ba (48) U4 nam-hi kalam-e üs-sa-ba (49) an-ne ki-'e' ubur-bi biib- r sif-ud (50)ab-gim i-se kur-kii4-ba mu-zi (51) ke4 mah 114 he-gäl-la ki he-eb-RU (52) he-

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Claus Wücke

44 Das für das Land aufgegangene Licht, der Elephant, der Wildstier [erhob] das Haupt. 45 Der gewaltige, das Bergland zerschneidende Stein ... 46 Während der jugendliche (Sonnengott) Utu, der Wächter aller Bergländer, geradewegs zu ihm kam. 47 Im festgegründeten Bergland, auf der w[eit]en Erde, 48 Als dem Lande Überfluß ganz nahe war, 49 Ließ der Himmel bis auf die Erde herab seine Zitzen hängen. Wie das Meer erhoben sich (die Wasser) da in ihrer alles niederwälzenden Woge. 51 Als gewaltige Matte fiel der Tag des Überflusses auf die Erde. 52 Überfluß und Frühjahresflut hat er das Tor geöffnet. 53 Himmel und Erde schrien zugleich, 54 Als das Bergland daraufhin reine Pflanzen wachsen ließ und 55 Die Steppe überall für die im Überfluß sprießenden Kräuter die Erde öffnete und 56 Das Getier und die Rinder und Schafe des Gebirges damit heranzog. 57 Der Krieger im Besitz allen großen Überflusses 58 Ließ das (Lied) seiner Erhabenheit ertönen: 59 „Den Preis meiner übergroßen, gewaltigen Macht soll das Lied nennen! 60 (Die Göttin) Gestinana hat es liebevoll verfaßt."38 61 Als er zum Königtum erhoben wurde, 62 Erschien er strahlend wie ein ein guter m e s - Baum, mit frischem Wasser gewässert, 63 Auf daß er am lauteren Wasserlauf die glitzernden Zweige ausbreite. 64 Seinen glitzernden Zweigen bestimmte (der Sonnengott) Utu das Schicksal: 65 „Er ist ein guter m e s - Baum, trägt lautere Blüten. 66 Sulgi, der gute Hirte Sumers, wird weithin Überfluß schaffen." 67 68 69 70

Das lautere Kalb, das die gute Kuh großgezogen hat, Das fürs Kriegertum mit guter Milch ernährt wurde und noch wird, Der König von Ur stellte sich stiergleich auf seine Füße. Mit seiner Kraft setzte er gegen das Feindland gerichtet die Füße auf den Boden. ku

gäl a-estub 6 gäl-'la bf-taka* (53) an-ki-e dili im-si-'rtT-sa* (54) kur-re ύ sikil im-si-mü-mü (55) eden-'edaT-ne ύ-Sim he-gäl-la-ka ki mu-dar-dar-re (56) maä-anäe gU4 udu hur-sag-gä imta-bülug-e (57)ur-sag he-gäl gal-gal-la-ke4 (58) nam-mah-na-ka sä mu-dui ι (KAxMIN) (59) zämi ä mah gal-gal-la-ka sir-re hu-mu-pa-de (60) Gestin-an-na-ke4 mi-e -es mu-dun. 38 Z. 60-61 bilden den im weiteren Verlauf des Textes mehrfach wiederkehrenden Refrain; s. C. WILCKE, Formale Gesichtspunkte in der sumerischen Literatur. In: St. Lieberman (Hg.), Sumerological Studies in Honor of Thorkild Jacobsen (Assyriological Studies 20. Chicago 1976) S. 205-316, speziell S. 215. Sprecher des Refrains ist der König selbst. Die Quelle D (Ni 4564) sagt „werde ich im Liede nennen".

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Zum (Mondgott) Nanna trat er ein. Die (kultischen) Amtsmächte wiederherzustellen, sagte er froh zu, Sodaß der Herr, der Enkel des lauteren (Himmelsgottes) An39, Indem er den Weg zum Heiligtum hier, nach Nippur, nahm, Mit (dieser Nachricht) in das Ziegelbauwerk des Ekur eintrat, Wo die Anuna(-Götter) ihn umschmeichelten. Der Herr Asimbabbar (= Mondgott), der am Himmel das Licht ausbreitet, Der erstgeborene Sohn Enlils, der mit allen großen Amtsmächten, die Wonne des Ekur, 79 Den anzuschauen etwas Erfreuliches ist, 80 Grüßte Enlil auf dem reinen Podium740: 81 „Mein Vater, Enlil, dessen Ausspruch man nicht anficht, 82 Vater der Götter, einen Wiederhersteller der (kultischen) Amtsmächte 83 Habe ich in meiner Stadt ausgewählt, in Ur habe ich ihm das Schicksal bestimmt, 84 Den gerechten König habe ich an mein lauteres Herz gerufen41. 85 Dem Könige, Sulgi, dem guten Hirten, dem mit Wonne Angetanen, 86 Bestimme Du das Schicksal, auf daß er mir das Fremdland beuge!" 87 88 89 90

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(Gott) Enlil antwortete dem (Gott) Asimbabbar42: „Asimbabbar43, des Menschen, den du ans Heiz gerufen hast, Kraft soll in Himmel und Erde das Bergland wie ein ... beugen! Der gute Hirte Sulgi soll das aufsässige Land zerstören!

Z. 73-80: Quellen: Texte und Materialien (wie Anm. 37) Nr. 11, 73-80; Textes Cuneiformes du Louvre 16 (Paris 1930) 86, 5-12: (73) en dumu-KA An kü-ga (74) e§-e Nibru^-äe glri im-ma-abdabs-be |75) sig4 E-kur-ra-ka im-ma-da-an-ku4-ku4(-ü) (76) A-nun(-na)-ke4-ne mi mu-ni-e(/i)-ne (77) en As-im-babbar(-e) an kü-ga U4 sü(/sui3)- sü(/sui3) (78) dumu sag En-lil-lä me |al-galla-kam(/ka) hi-li E-kur-ra-ke4 (79)(digir) u^ di-da-ni nig dui0-ga-äm (80) [bär]a sikil-la En-lilra(/lä-ka) silim-se mu-na-ni-ib-be. 40 Variante: Grüßte auf Enlils reinem Podium. 41 Variante: meinem ans Herz Gerufenen, dem gerechten König. 42 Z. 87-96: Quellen: Texte und Materialien (wie Anm. 37) Nr. 11, 87; Textes Cuneiformes (wie Anm. 39) Nr. 86, 19-29; St. Langdon, Historical and Religious Texts (The Babylonian Expedition of the University of Pennsylvania. Series A. Cuneiform Texts 31. München 1914) Nr.. 24 i 1-14 (Dazu S. N. KRAMER, in: Journal of the American Oriental Society 60 (1940) S. 243); S. N. KRAMER, Sumerian Literary Texts from Nippur in the Museum of the Ancient Orient at Istanbul (Annual of the American Schools of Oriental Research 23. New Haven 1944) Nr. 78 ii' 1-7: (87) dEn-lil-le dAs-im-babbar-ra mu-na-ni-ib-gU-gu (88) (en) As-im-babbar 1ύ sä-g[e pä-da-za] (89) ne-ne(-e) an-ki-a kur Y gim he(/he)-ni-ib-gurum-e (90) sipa zi Sul-gi-re ki-bala he-gul-|ul-e (91) dima nig-si-sa iri-ni-a hu-mu(-ü)-da-an-gäl (92) sä-ge dun-ga dNanna-ke4 kur-gal En-lil-le sag-ga ba-ni-gLt (93) Nibru '-ta sig4 Uri -ma-se(/ka) im-ma-da-an-ku4-ku4 (94) sä-ge pä-da-ni-ir gü mu-na-de (95) d En-lil-le ä-gäl kalam-ma-ka su mu-ra-ni-in-du7 sä-ge bi-pä-de(-en) (96) dumu 'Vim-sün-ka lugal sipa Sul-gi gidri-zu mu-'x-xV 43 Variante: Herr, Asimbabbar.

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91 Verstand und Gerechtigkeit soll es deinetwegen in seiner Stadt geben!" 92 Auf die Gedanken von (Gott) Nanna hat der 'Große Berg' Enlil Schönes geantwortet. 93 Von Nippur her (kommend) trat er ins Ziegelbauwerk von Ur ein, 94 Rief dem an sein Herz Gerufenen zu: 95 „Enlil hat dir die Befehlsgewalt über das Land vollkommen gemacht, hat dich ans Herz berufen, 96 Kind von (Göttin) Ninsuna, König, Hirte Sulgi, dein Szepter hat er [...] (Der Rest der Rede ist für eine Ubersetzung zu schlecht erhalten)

Die beiden Sulgi-Texte erzählen vom Geschehen im Reich der Götter, an dem der König teilhat. Der Eindruck, hier werde ein Kultdrama wiedergegeben, drängt sich auf. Auch wenn die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß den mythischen Ereignissen keine sie direkt spiegelnden, menschlichen Handlungen gegenüberstanden, vermute ich doch, daß diese Mythen nicht nur vom göttlichen König handeln und daß ihr Geschehen nicht nur in der Vorstellungswelt des Erzählers und seiner Zuhörer und Leser stattfand. Die Enlil-Stadt Nippur, Uruk, als Stadt der Götter An und Inana, und die Hauptstadt Ur, der Sitz des Mondgottes, (in dieser Abfolge) sind durch Wirtschaftsurkunden als Krönungsorte von Sulgi's Urenkel Ibbi-Su'en bezeugt44. W A L T H E R S A L L A B E R G E R bemerkt dazu45: „Von den Feierlichkeiten vermitteln uns die Urkunden nur einen winzig kleinen Ausschnitt: sie verbuchen das fur die begleitenden Opfer ausgegebene Vieh und vermerken die Opferempfanger. Dennoch gewinnen wir hier einen unmittelbaren Einblick in ein ganz zentrales Ereignis der Manifestation des Königtums. Vielleicht zeigt sich hier auch am deutlichsten die religiöse Grundlage des Königtums, das sich nämlich zwar an erster Stelle, aber nicht ausschließlich auf das religiöse Zentrum Nippur beruft, indem der Herkunftsort der Dynastie Uruk, der Regierungssitz Ur und mit Nutur ein Kultzentrum der näheren Umgebung einbezogen werden."

In wesentlichen Etappen denselben Weg nimmt Sulgi in „Sulgi X" von Nippur kommend über Uruk - hier aber gilt der Besuch der Göttin Inana - dann Larsa, die Stadt des Sonnengottes Utu, und Enegi (EN. DIM. GIG1"), wo der Unterweltsgott Ninazu residiert, nach Ur zum Mondgott Nanna und empfängt jeweils Segnungen (Schicksalsentscheidungen) der Götter. In „Sulgi D" hatte er dieselben Gottheiten (neben anderen) bei seinem Aufbruch zum Feldzug gegen die Gutäer aufgesucht und ihre Unterstützung

44 E . SOLLBERGER, Remarks on Ibblsin's Reign. In: JCS 7 ( 1 9 5 3 ) S. 4 8 - 5 0 ; DERS., Selected Texts from American Collections. In: JCS 10 ( 1 9 5 6 ) S. 1 1 - 3 1 (Nr. 4 - 5 auf S. 18 ff; 2 8 . ) ; W . SALLABERGER, Der Kultische Kalender der Ur HI-Zeit (Untersuchungen zur Assyriologie und zur Vorderasiatischen Archäologie 7. Berlin 1993) Teil 1, S. 113 mit Anm. 509. 45 W. SALLABERGER/Aa. WESTENHOLZ, Mesopotamien. Akkade-Zeit und Ur Iii-Zeit (Orbis Biblicus et Orientalis 160/3. Freiburg/Göttingen 1999) S. 172 f.

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erhalten46. Dieser Weg ist weitgehend durch die geographischen Gegebenheiten vorgegeben - die Stationen liegen an dem von Nippur nach Ur fuhrenden antiken Euphratlauf aber es sind deutlich mehr Haltepunkte als bei den Krönungsfeierlichkeiten. Von den beiden wichtigen Ereignissen der mythischen Schilderung der Investitur ist die Geburt in Uruk verankert, wo der mythische König und Vater von Sulgi, Lugalbanda, einst herrschte und wo die Dynastie auch ihre Wurzeln hat. Das Wahlgeschehen konzentriert sich einerseits auf Nippur, wo die göttliche Ratsversammlung unter Enlils Leitung tagt, und andererseits auf die politische Hauptstadt Ur, wo der Stadtgott den zukünftigen König gefunden hat, den er in Nippur dann präsentiert und wohin er mit der Zustimmung Enlils zurückkehrt. Eben diese Städte sind die in den Wirtschaftsurkunden genannten Krönungsorte. Darum können die mythischen Berichte Vorstellungen vom kultischen Geschehen vermitteln47. Die Erwähnung von Opfern im Heiligtum von Nutur hängen vielleicht mit der Rolle der dort verehrten Göttin Nin-hursaga.k als Geburtshelferin und Namensgeberin zusammen (s. o., Anm. 32), falls sie auch bei Ibbi-Su'en diese Aufgaben erfüllte. Andere Herrscher sind wesentlich zurückhaltender, wenn sie denn überhaupt ihre göttliche Abstammung herausstellen und sich nicht nur als Geschöpf, wörtlich „Werk der Hände" der Götter erklären48. Gudea von Lagas verweist auf seine göttliche Geburt ζ. B. lediglich im Gebet an seine göttliche Mutter Gatumdu 49 . Die Vorstellung von der göttlichen Abstammung scheint bei ihm und bei den Königen von Ur auch nach Sulgi trotzdem so bedeutsam, daß - selbst wenn sie sie selten aussprechen - keiner, auch die Enkel, Ur- und Ur-urEnkel Ur-Namma's nicht, jemals seinen leiblichen Vater namentlich nennt. Nur der Hinweis scheint gestattet, man sei von königlichem Geblüt 50 . 46

J. KLEIN, Three Sulgi Hymns (wie Anm. 24). W. SALLABERGER, in: W. Sallaberger/Aa. Westenholz, Mesopotamien (wie Anm. 45) S. 144 f. mit Anm. 79-81 zweifelt an der Zuordnung von „Sulgi P" und „F" und anderen (sogenannten) „Königshymnen" - ich ziehe die Bezeichnung „Königsepen" vor - zum Regierungsanfang des Herrschers und denkt (explizit zu „Sulgi R", wo das unstreitig ist), „an jährliche Wiederkunft im Fest" und an die „regelmäßig wiederholte Erneuerung der Macht des Königs", was er implizit auf andere „Hymnen" überträgt. Selbst wenn man die Kompositionen über Geburt und Wahl in die Erneuerungsriten einbeziehen will - mangels eindeutiger Quellen dazu stehen der Phantasie Tür und Tor offen - muß es ebenso wie bei der Weihung des Schiffes in „Sulgi R" ein erstes Ereignis gegeben haben, das Anlaß zur Dichtung gab und das unter Nutzung der „Hymne" als Festlegende rituell wiederholt wurde. Daß die in „Sulgi D" und „X" (s. o.) geschilderten Ereignisse nicht mit denen aus „Sulgi P" und „F" identisch sind, ist evident. 48 A. W. SJÖBERG, Die göttliche Abstammung der sumerisch-babylonischen Herrscher. In: Orientalia Suecana 21 (1971) S. 87-112. Siehe jetzt auch M. STOL, Birth (wie Anm. 21) S. 83 ff 49 D. O. EDZARD, Gudea and his Dynasty (wie Anm. 18) S. 70 Cyl. A iii 6-8: ama n u - t u k u - m e a m a - g u i o z e - m e , a n u - t u k u - m e a - g u i o z e - m e , a-guio s ä - g a su b a - n i - d u n unuö -a i - t u - e „Ich bin ein Mutterloser - du bist meine Mutter. Ich bin ein Vaterloser - du bist mein Vater. Du hast mich gezeugt, hast mich im Heiligtum geboren". 50 Ζ. B. „Sulgi B" 11: l u g a l a ( / e ) l u g a l - e ( / a ) r u ( / r i ) - a n i n - e t u - d a - m e - e n „Ein König, Same, den ein König gezeugt hat, den eine Königin geboren hat, bin ich." Siehe G. CASTELLINO, Two Sulgi Hymns (Studi Semitici 42. Rom 1972) S. 30. 47

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Ich habe die Sulgi-Texte so ausfuhrlich zitiert, um zu verdeutlichen, wie sich das königliche Selbstverständnis artikuliert. Der physische Charakter der Divinität des Herrschers kommt überaus klar zur Sprache und zeigt uns den König auch sozial als göttliches Wesen. Er kommt in der Welt der Götter zur Welt und bewegt sich in ihr unter ihnen. Nach seinem Tode ist Sulgi zum Himmel aufgefahren; eine Wirtschaftsurkunde verbucht Ausgaben aus diesem Anlaß51. Über den Dynastiegründer Isbi-Erra voii Isin wird dasselbe ausgesagt52. Sulgi's Aufgaben liegen vor allem in den Bereichen der Sicherung des Lebensunterhaltes des Landes, in der reichhaltigen Versorgung der Götter - hier zuvörderst des Götterherrschers Enlil - und in der Rechtsprechung. All dies wird unter dem Begriff der Wiederherstellung der „kultischen Amtsmächte" subsummiert. Diese Mächte, sumerisch me, akkadisch parsu, sind der grundlegende Ordnungsbegriff der altorientalischen Religion. Es ist die göttliche Wirkmächtigkeit, die sich in den ihren Funktionen gemäßen Ämtern der Götter und den sie repräsentierenden Zeichen erweist. Ihnen entsprechen die Ämter der Menschenwelt, besonders im Kult, und ihre jeweiligen Insignien. Ohne sie ist die Welt in Unordnung. Wir haben gesehen, die Abwehr äußerer Feinde, im wesentlichen als Rebellion gegen den zentralen Träger der Ordnungsmacht, den König, verstanden, kommt im Aufgabenkatalog Sulgi's zwar vor. Nach UrNamma's gewaltsamem Ende mußte er wohl zunächst gegen „Gutäer" genannte Feinde antreten. Weit wichtiger aber erscheint der Rechtsfriede im Inneren des Landes. Das Hauptgewicht liegt deutlich in der Pflege der Götter. Der Herrscher ist ja auch - besonders altsumerische und neusumerische Quellen zeigen es - vornehmlich mit kultischen Aufgaben befaßt. Die Wirtschaftsurkunden erweisen ihn und seine Familie als unermüdliche Lieferanten und Darbringer von Opfern für die Götter im alltäglichen und im Festeskult und als beständige Spender von kostbaren Weihegaben fur die Götter überall im Lande. In der Ur ΙΙΙ-Zeit haben die Könige eine gigantische Verwaltungsmaschinerie geschaffen, um den Kult zu versorgen, besonders den der für das Reich wichtigsten Hauptgottheiten der Zentren des Landes (Götter sind hier ja Landesherren) einen Verwaltungsapparat, dessen Archive für die Tieropfer im antiken Puzris-Dagan (Tall Drehim) zentriert waren, während lokale Archive auch über unblutige Opfer Auskunft geben53. Der Vorrang des Kultes auf der Agenda der Könige manifestiert sich auch in ihren Jahresnamen. WALTHER SALLABERGERS Beobachtung, daß kultischen Ereignissen bei der Benennung der Jahre der Vorrang gebührt und daß die ersten Jahre eines Herrschers überwiegend nach Taten fur den Kult benannt werden, kriegerische Ereignisse erst dann Erwähnung finden, wenn ein König lange genug regiert hat, um die wichtigsten Götter mit Weihungen versorgt zu haben, dokumentiert diese den modernen, an der Ereignisgeschichte interessierten Historiker vielfach frustrierende antike Weltsicht eindring31

C. WILCKE, König Sulgi's Himmelfahrt (Münchner Beiträge zur Völkerkunde 1. München 1988) S.

245-255. 52

P. STEINKELLER, Isbi-Erra's Himmelfahrt. In: Notes Assyriologiques Brieves Utilitaires 1992, Nr. 4 mit der Folgerung: „the tradition of Himmelfahrt was not limited to Sulgi but... it pertained equally to all other deified Ur ΙΠ rulers". 53 W. SALLABERGER, Der Kultische Kalender (wie Anm. 44).

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lieh54. Eine königliche Aufgabe, den eigenen Herrschaftsbereich zu erweitern, wie sie der Imperativ mätka rapgis „Erweitere Dein Land" im mittelassyrischen Krönungsritual55 verdeutlicht, kennt Sulgi's Aufgabenkatalog am Ende des 3. Jt.s nicht. Sulgi und seine Nachkommen auf dem Thron, ebenso die nachfolgende Dynastie von Isin, genossen zu Lebzeiten göttliche Ehren, wurden beopfert, und man schrieb ihre Namen mit dem Gottesdeterminativ. Sulgi's Vater Ur-Namma blieb das noch vorenthalten, auch wenn er in Siegelbildern die Stelle einer Gottheit einnehmen kann56. Vorher war schon einmal ein König zu Lebzeiten zum Gott geworden. König Naräm-Su'en von Akkade berichtet, die Bevölkerung seiner Stadt habe von den großen Göttern des Landes erbeten, ihn als Gott ihrer Stadt verehren zu dürfen, weil er in großer Not deren Grundlagen gefestigt und in einem Jahre neun siegreiche Schlachten geschlagen habe57. Zum Schutzgott seiner Stadt geworden, ließ er sich dann auch mit der Hörnerkrone, dem Symbol der Göttlichkeit - aber nur mit einem Hörnerpaar - darstellen58. Ganz anders die anschließenden, mit der von Isin ζ. T. gleichzeitigen, aus amurritisch-nomadischen Wurzeln hervorgegangenen Dynastien, wie die von Babylon und Larsa in der 2. Hälfte des 2. Jt.s, die keine sichtbaren Zeichen von Divinität hinterlassen haben: Würde uns nicht im 13. Jhd. v. Chr. im fernen Assyrien das Mythologem von der göttlichen Zeugung und Geburt wiederbegegnen, wir müßten vermuten, man hätte es zugunsten der Selbstbezeichnung als Geschöpf („Werk der Hände") einer Gottheit längst aufgegeben. Das Epos über Tukulti-Ninurta I. von Assyrien besingt aber den

54

W . SALLABERGER/Aa. WESTENHOLZ, M e s o p o t a m i e n ( w i e A n m . 4 5 ) S. 140 f f ; 1 6 3 f.

55

K. F. MÜLLER, Das assyrische Ritual (wie Anm. 5) S. 12-13 ii 34-35: ina esarte hatti-ka mät-ka rappis „Mit deinem geraden Szepter erweitere Dein Land!" und vgl. im ,JCrönungshymnus" Assurbanipals, A. LIVINGSTONE (wie Anm 6) Nr. 11,3: ina sepe-ka mät-ka ruppis „Weite zu deinen Füßen Dein Land aus!" und 17: hattu iSirtu ana ruppuS mäte u ni.fi-[.fu] liddinünii-Su „Ein gerades Szepter zur Erweiterung des Landes und seines Volkes mögen (die Götter) ihm geben!" Andere Könige von Assyrien berufen sich auf diesen Auftrag; so z. B. Tiglathpileser I (1114-1076): Α. K. GRAYSON, Assyrian Rulers of the Early First Millennium B.C. I (The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Assyrian Periods 2. Toronto 1991) S. 13 Nr. 1 i 46-49\ AsSur ilänu rabütu ..., sa ... misir mätisunu ruppusa iqbüni... „Assur (und) die großen Götter ..., die ... die Grenze ihres Landes zu erweitern, mir befohlen hatten,... ". 56 Ζ. B. auf dem Siegel des Provinzgouvemeurs ( e n s i . k ) HaShamer von Iäkun-Su'en, E. STROMMENGER/M. HIRMER, Fünf Jahrtausende Mesopotamien (München 1962) S. 128 oben = W. ORTHMANN, Der Alte Orient (Propyläen Kunstgeschichte 18. Berlin 1975), Abb. 139a. Die Darstellung des vergöttlichten Königs Ibbi-Su'en auf Siegeln unterscheidet sich nicht von der Urnamma's. Beide Könige tragen keine (Götter kennzeichnende) Hörnerkrone; lediglich die Art des Stuhles ist anders; siehe ζ. B. D. COLLON, First Impressions. Cylinder Seals in the Ancient Near East (London 1987/1993) Nr. 118; E. PORADA, Corpus of Ancient Near Eastern Seals in American Collections 1. The Collection of the Pierpont Morgan Library (Washington D.C., 1948) Nr. 292; W. ORTHMANN, Der Alte Orient, Abb. 139g. Das König Sü-Su'en gewidmete Siegel ORTHMANN, Der Alte Orient Nr. 139 f. zeigt aber eine Figur mit Hörnerkrone auf dem Stuhl. 57 D. FRAYNE, Sargonic and Gutian Periods (The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Early Periods 2. Toronto 1993) 113 f. Naräm-Sin 10. 58

Ε . STROMMENGER/Μ. HIRMER, F ü n f J a h r t a u s e n d e ( w i e A n m . 5 6 ) A b b . 1 2 2 - 1 2 3 = W . ORTHMANN,

Der Alte Orient (wie Anm. 56) Abb. 104.

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Herrscher nach Vergleichen mit dem Wettergott Adad und dem Kriegsgott Ninurta mit den Worten59: Durch Bestimmung des (Weisheitsgottes) Nudimmud ist er gezählt unter das ,Fleisch' der Götter nach seinen Gliedern. Durch die Entscheidung des Herrn aller Länder gelangte sein Same durch eine göttliche Scheide zum Mutterleib. Er hat die ewige Statur Enlils, lauschend dem Munde der Menschen, dem Rat des Landes. Als ihn der Herr der Länder an die Spitze der Soldaten stellte, priesen ihn die Lippen. Wie ein leiblicher Vater erhöhte ihn Enlil nach seinem Erstgeborenen ...

Hier wird dem Körper60 des König materielle (fleischliche) Göttlichkeit zugesprochen, und wenn der Same, mit dem er gezeugt wurde, durch eine göttliche Scheide in den Mutterleib gelangte (wörtlich durch die „Röhre des Mutterleibs der Götter61"), dann kann nur auf eine göttliche Mutter geschlossen werden. Aber wie wurde der Wandel in der Natur des Herrschers zur Divinität bewirkt? Die göttliche Geburt scheint ja nur eine mythologische Metapher zu sein, auch wenn die lebhaften Schilderungen der Texte um Sulgi von Ur und vorher schon bei E'anatum von Lagas an ein als Kultdrama ablaufendes Ritual denken lassen. Das fragmentarische mittelassyrische Krönungsritual zeigt uns eine andere kultische Inszenierung der Königskrönung. Gegen Ende dieses Rituals wird der König zum Thron getragen und auf ihm niedergesetzt. Dort thront oder sitzt er aber nicht, vielmehr kauert62 er, während Lobpreisungen gesungen werden und die Hofbeamten Geschenke für den König darbringen, von denen das erste sogleich vor dem Gott Assur niedergelegt wird. Später bekommt es der Assurpriester. Dann geben die Hofbeamten ihre Amtszeichen ab und verlassen ihre vorgeschriebenen Standorte. Erst jetzt befiehlt der König, daß ein jeder von ihnen sein Amtszeichen und seinen Standort wieder einnehmen solle63. Das Kauern des Königs symbolisiert vielleicht eine embryonale Haltung, die Auflösung und Wiedereinsetzung des Hofstaates markiert liminales Geschehen. Der König 59

P. B. MACHINIST, The Epic of Tukulti-Ninurta I: Α Study in Middle Assyrian Literature (Diss. Yale, 1978) S. 68 f. i 16"-20". 60 Mit der Ubersetzung „nach seinen Gliedern" folge ich dem Chicago Assyrian Dictionary M/2 (Chicago/Glückstadt 1977) S. 88 s. v. mimtu 2a (s. auch ibid. 97 s..v. mmu 3 „shape, figure, good looks") hinsichtlich des mi-na-a-su. 61 ina ra-a-at sassür iläni. 62 K. F. MÜLLER, Das Assyrische Ritual (wie Anm. 5) S. 14 iii 4: ka-mu-üs. W. Sallaberger weist mich freundlich darauf hin, daß im Neuassyrischen kammusu (D-Stamm, Stativ) „sich aufhalten" bedeutet. Die Ableitung von kamäsu „einsammeln" (so das Chicago Assyrian Dictionary) oder von kamäsu „sich beugen, knien" (so das Akkadische Handwörterbuch) ist unklar. Soweit ich sehe, bezeichnet es aber nie das „Sitzen auf etwas", wofür uSäbu verwandt wird. Darum ist ein D-Stamm als Intensivstamm zu „sich beugen, knien" (das Chicago Assyrian Dictionary übersetzt „to squat") mir wahrscheinlich. A. Zgoll danke ich für den Hinweis auf den Gebrauch von babylonischem und assyrischem ku(/a)mmusu für das Kauern bei der Inkubation und die Hockerstellung von Toten (dann stürbe der Nicht-König) und auf den Zusammenhang mit ugaritischem qms „sich einrollen, wälzen". 63 K. F. MÜLLER, Das Assyrische Ritual (wie Anm. 5) S. 14f. iii 5-14.

Vom göttlichen Wesen des Königtums und seinem Ursprung im Himmel

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überschreitet mit der Aufforderung, die Ämter wieder einzunehmen, die Schwelle zu seiner neuen Natur, einer Geburt vergleichbar 64 . Die Königen zugeschriebene Teilhabe am Bereich des Numinosen ist ein universelles Phänomen. Die bis ins 3. Jt. v. Chr. zurückreichenden altorientalischen Zeugnisse dafür können, müssen aber nicht notwendig über das alte Israel und die hellenistische Welt überlieferte Vorläufer der europäischen Ausformungen dieser Erscheinimg sein. Deutlich scheint mir aber, daß bereits die frühesten Beispiele aus Lagas kurz nach der Mitte des 3. Jt. v. Chr. in den Denkfiguren vom König als Vogt der Stadtgottheit und von seiner göttlichen Zeugung und Geburt - einer Form mythischer Verankerung des Herrschers in der göttlichen Seinssphäre, die auch das moderne Japan noch kennt - einen hohen Grad von Reflexion und rationaler Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Besonderen königlicher Existenz aufweisen.

64 M . STOL, Birth (wie Anm 2 1 ) S. 8 4 kommt zu dem gleichen Ergebnis aufgrund nicht spezifischer Aussagen in Hymnen auf die Muttergöttin (unter den Namen Ninmah und Nintu), daß sie den König gebäre, und aufgrund seines J. KLEINS Interpretation folgenden Verständnisses des Adab-TrommelLiedes „Sulgi G" (The Coronation and Consecration of Sulgi in the Ekur (Sulgi G). In: M. Cogan, I. Eph'al, Ah, Assyria ... Studies in Assyrian History ... presented to Hayim Tadmor [Jerusalem 1991] S. 2 9 2 - 3 1 3 ) . Ob der sehr schwierige Text von einer Geburt des Königs im Enliltempel Ekur in Nippur handelt und nicht vielmehr in stark verdichtender Sprache und quasi teleskopischer Sicht räumlich und zeitlich getrennte Ereignisse zusammenzieht, ist mir sehr fraglich; s. A. ZGOLL, Der Rechtsfall der Enhedu-Ana im Lied nin-me-sara (Alter Orient und Altes Testament 246. Münster 1997) S. 102 mit Anm. 435. Es geht um Enlils Segnungen für Sulgi als Gegengabe für überbrachte Opfergaben. Stols Ansicht, es handele sich um eine zu dem Zweck erfundene Legende, um angesichts des unzeitigen Todes seines Vaters Umamma Sulgi's Anspruch auf den Thron zu rechtfertigen, greift m. E. zu kurz. Der Umstand, daß die Kombination von göttlicher Geburt und Wahl sich ebenso bei Umamma und auch bei Gudea von Lagaä findet, und der höchst komplexe Ablauf des Geschehens in „Sulgi P" und „F" sprechen m. E. gegen eine Legende und für institutionalisiertes, rituelles Geschehen.

WALTHER SALLABERGER

Den Göttern nahe - und fern den Menschen? Formen der Sakralität des altmesopotamischen Herrschers

Die Sakralität des mesopotamischen Herrschers Denkt man an altorientalische Herrscher Mesopotamiens, so stehen einem vielleicht die triumphierenden Könige Assyriens, Hammurapi von Babylon mit seiner Gesetzesstele oder Sargon von Akkad, Begründer des sogenannten ersten Weltreichs, vor Augen. Bei allen Unterschieden stehen diese Herrscher in ein und derselben Kulturtradition, die wesentlich durch den Gebrauch der Keilschrift und die verehrten Götter bestimmt ist. Auch das Königtum weist bei verallgemeinernder Sicht Gemeinsamkeiten auf. So steht der König allein an der Spitze der Gesellschaft; er vertritt sie vor den Göttern, deren Segen dem König und damit wieder dem ganzen Land gilt. Als Vermittler zwischen eigentlich menschlicher und göttlicher Sphäre zeichnet den König so eine besondere Nähe zu den Göttern aus und macht ihn auch zum Objekt von menschlicher Verehrung. Das Amt des Königs wird durch göttliche Anerkennung legitimiert, und der göttliche Auftrag bestimmt die Handlungen des Herrschers gegenüber seinem Land. Diese religiös determinierte Fundierung des Königtums ist gemeint, wenn ich von dessen Sakralität spreche, nicht jedoch ein bestimmter, durch mehrere Merkmale definierter ,Typus' eines Herrschers.

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Walther Sallaberger

Zu Methode und Fragestellung Es mangelt nicht an assyriologischen Arbeiten zum mesopotamischen Königtum1. Dabei folgte man in der wissenschaftlichen Beschreibung meist der Selbstdarstellung des Königs in seinen Texten, den Inschriften von der identifizierenden Titulatur bis zu Bauund Dedikationsinschriften und den Hymnen2. Aber solche Texte geben eigentlich nicht eine Gestalt des Herrschers wieder, sondern sie konstruieren selbst dieses Herrscherbild. Die reiche Textevidenz erlaubt es, dem Bild des Herrschers immer neue Schattierungen hinzuzufügen, doch gelingt allein so noch keine Einordnung in die umgebende Kultur Mesopotamiens. Denn die göttliche Zuwendimg kann jeder erfahren, nicht nur der König. So ist etwa die Metapher vom „Geschöpf der Gottheit nicht auf den König beschränkt, sondern sie begegnet ebenso bei der idealtypischen Beschreibung des Wahrsagers oder als Wunsch in altbabylonischen Briefen. Steht der König an der Spitze der Gesellschaft und durchdringt Religion sämtliche Lebensbereiche mesopotamischer Kultur, so muß die Rolle des Königs auch in religiöser Hinsicht ausgezeichnet sein. Um die Charakteristika des Königtums erkennen zu können, frage ich also im folgenden nach Besonderheiten und Unterschieden. Im ersten Teil betrifft dies die Repräsentation der Sakralität des Königs: Welche Symbole, welche Insignien kennzeichnen am markantesten die religiöse Fundierung des Königtums und kommen dabei dem König allein zu? Im zweiten Teil soll ein kontrastiver Vergleich zwischen dem Frühen Mesopotamien und Assyrien helfen, die jeweiligen Ausprägungen königlicher Sakralität präziser zu erfassen. Die Einzelbeobachtungen sollen abschließend zu einem Beschreibungsmodell königlicher Sakralität führen, das das Verhältnis des Königs zu den Göttern als Reflex gesellschaftlicher Hierarchie sieht.

1

Hier können nur einige wenige wichtige Arbeiten angeführt werden. Allgemein: Rene LABAT, Le caractere religieux de la royaute (Paris 1939); Marie-Joseph SEUX, Epithetes royales akkadiennes et sumeriennes (Paris 1967); Paul GARELLI (Hg.), Le palais et la royaute. XIXe Rencontre Assyriologique internationale (Paris 1974); Wolfgang RÖLLIG, Zum ,Sakralen Königtum' im Alten Orient, in: B. GLADIGOW (Hg.), Staat und Religion (Tübingen 1981) 114-125; J. Nicholas POSTGATE, Royal ideology and state administration in Sumer and Akkad, in: J. M. SASSON (Hg.), Civilizations of the ancient Near East (New York u. a. 1995) 395-411. Für sumerische Texte ζ. Β. Willem Η. Ph. RÖMER, ,Königshymnen' der Isinzeit und Königsinvestitur, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Ges., Suppl. 1 (1969), 130-147; Esther FLÜCKIGER-HAWKER, Urnamma of Ur in Sumerian literary tradition. Orbis biblicus et orientalis 166 (Freiburg Schweiz u. a. 1999), sowie der Beitrag von Claus WILCKE im vorliegenden Band; für Assyrien s. Stefan M. MAUL, Der assyrische König - Hüter der Weltordnung, in: K. WATANABE (Hg.), Priests and officials in the ancient Near East (Heidelberg 1999) 201-214. - Abkürzungen: CAD = Chicago Assyrian Dictionary (Chicago 1956 ff) SAA = State Archives of Assyria (Helsinki 1987 ff.) 2 Bildliche Darstellungen des Königs werden in diesem Beitrag in der Regel nicht berücksichtigt.

Den Göttern nahe - und fem den Menschen

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I. Zur besonderen' Sakralität des Herrschers In der keilschriftlichen Literatur werden öfters allgemein die drei Seinskategorien Mensch - König - Gott aufgezählt - der König wäre hier ein ,eigenes Wesen' zwischen Menschen und Göttern. Hier spiegelt sich die Stellung des Königs als alleinige Spitze der Gesellschaft, die den Göttern untergeordnet ist. Dieser Rang des Königs bringt nicht nur die Nähe zu den Göttern mit sich, sondern kann auch eine Sonderrolle im religiösen System bedingen. Ein Beispiel dafür bieten die Omina und Orakel, die Vorzeichen der Götter, die in umfangreichen Kompendien niedergelegt sind. Zwar sind sie nicht ausschließlich fur den König bestimmt, viele ominöse Erscheinungen gelten ebenso dem Einzelnen, jeder Händler kann ζ. B. vor seiner Reise ein Leberorakel befragen. Einige Arten von Omina sind jedoch in ihrer Wirksamkeit auf den König allein beschränkt. So gelten insbesondere die Konstellationen von Mond (Sin) und Sonne (Samas) als Zeichen, die den König betreffen. Größte Gefahr droht dem König bei einer Eklipse. Für kurze Zeit wird ein Ersatzkönig eingesetzt, der das Unheil auf sich ziehen soll; und erst wenn dieser beseitigt ist und seine Insignien verbrannt sind, kann der eigentliche König aus seiner zwischenzeitlich angenommenen Rolle als „Bauer" wieder auf den Thron zurückkehren3. Das Amt und die Insignien bestimmen also, wer den Göttern gegenüber als König gilt. Die königlichen Insignien Als königliche Insignien begegnen in Texten in der Regel Krone, Thron, Szepter, seltener Waffen und Gewand. Hier stellt sich die Frage nach der symbolischen Bedeutung der Insignien und welche die religiöse Fundierung des Königtums repräsentiert. Erwartungsgemäß werden aus der Sicht des Königs alle Insignien von den Göttern verliehen, übergeben, gefestigt. Auf einfacher ikonischer Ebene heben sie alle den König aus der Masse der Menschen heraus. Der jeweilige Symbolgehalt läßt sich aufgrund expliziter Aussagen in den Texten und durch Vergleiche relativ leicht feststellen4. Während das Gewand zu selten bezeugt 3

Simo PARPOLA, Letters from Assyrian scholars to the kings Asarhaddon and Assurbanipal, Part Π. Alter Orient und Altes Testament 5/2 (Kevelaer u.a. 1983) ΧΧΠ-ΧΧΧΠ; S. XXTV zur Krönung des Ersatzkönigs, wobei außer im sog. „Chronicle of Early Kings" nicht gesagt wird, welche Insignien der Ersatzkönig erhält. 4 Für den folgenden Überblick stütze ich mich auf Belege in den Wörterbüchern und die in den Anmerkungen genannte Literatur zum Königtum. Zu den Insignien sind zudem folgende Übersichten hilfreich: R. CAPLICE/W. HEIMPEL, S. V. Investitur, Reallexikon der Assyriologie 5 (Berlin u. a. 197680) 139-144 (dabei S. 142 f. Übersicht der Götter); J. KRECHER, S. V. Insignien ibid. 109-114 (dort S. 111 zu Stab = Hirtengerät); Ursula MAGEN, Assyrische Königsdarstellungen - Aspekte der Herrschaft. Baghdader Forschungen 9 (Mainz 1986) 21: Zuordnung von Insignien zu Arten der Herrschaft; Szepter mit reutu „Hirtentum" verbunden, agü „Krone" mit v. a. belütu „Herrschaft", auch sarrütu „Kö-

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ist5, ist die kriegerische Funktion der Waffen unschwer zu erraten. Das „Szepter" als „Stab" (sumerisch gidru, akkadisch hattum) steht für den Aspekt des Königs als Hirte seines Volkes, das er leitet; außer auf entsprechende Textpassagen kann man auch auf den Stab des Aufsehers im nicht-königlichen Bereich verweisen. Der „Stuhl" (gu-za, kussü), wobei wir beim König und Göttern das Wort meist als „Thron" übersetzen, bedeutet den Amtssitz. Die Götter verleihen den Thron nicht, sie „festigen sein Fundament"6. Er steht auch fur die ererbte Tradition des Amtes, besteigt doch der König den „Thron seines Vaters". Bestätigt wird diese Deutung durch ein anderes Vorkommen des Stuhles als Amtszeichen, den „Stuhl des Richteramtes".

Die Krone als Symbol der Sakralität des Königtums In der „Krone" (aga, agü) schließlich kommt fundamental der sakrale Aspekt des Königtums zum Tragen. Mit der Übersetzung „Krone" wollen wir die Funktion dieser in der Regel textilen Kopfbedeckung kennzeichnen, die im Frühen Mesopotamien als runde Breitrandkappe, beim assyrischen König als polosartiger Fez ausgebildet ist. Auch im Alten Orient wird das Einsetzen des Königs in sein Amt in Text und Bild zur „Krönung" verkürzt, etwa in Urkundenvermerken der Ur Iii-Zeit 7 oder in einer singulären neuassyrischen bildlichen Darstellung der Krönung8. Die religiöse Rolle der Krone beruht weniger darauf, daß sie gerne der Himmelsgott Anu übergibt9, sind doch alle Insignien göttlichen Ursprungs; bedeutsam ist allerdings, daß hier der höchste Gott handelt. Inschriften und Hymnen heben die Krone als Zeichen des Königtums hervor. Die Krone läßt sich auch außerhalb des Königtums als Amtszeichen belegen: sie schmückt bezeichnenderweise in Babylonien den/die Hohepriester/in10, was die vorgeschlagene Deutung als Zeichen sakraler Amtsmacht unterstützt und bestätigt.

nigtum" und nur indirekt mit reutu „Hirtentum". - Das Thema bedarf einer gründlicheren Ausarbeitung, die hier nicht geleistet werden kann. 5 In der Ikonographie spielt das Gewand eine viel wichtigere Rolle, man denke an den Typus des „Gottkönigs als Krieger" (Frühes Mesopotamien) oder das assyrische Königsgewand. 6 Belege aus sumerischen Königshymnen bei FLÜCKIGER-HAWKER (wie Anm. 1 ) 5 1 . 7 In der Wendung „als (König) Ibbi-Suen die Krone empfangen hat"; s. Angaben bei Walther SALLABERGER, Ur ΠΙ-Zeit, in: P. ATTINGER/M. WÄFLER (Hg ), Annäherungen 3. Orbis biblicus et orientalis 160/3 (Freiburg/Schweiz u. a. 1999) 172. 8 Ursula SEIDL/H. BORN, Schutzwaffen aus Assyrien und Urartu, Sammlung Axel Guttmann 4 (Mainz 1995), bes. Abb. 22. 9 Vgl. den Mythos von der Erschaffung des Königs Vorderasiatische Schriftdenkmäler 2 4 , 9 2 : 3 8 ' , sog. Krönungshymne Assurbanipals SAA 3, 11 Rs. 5; vgl. Riekele BORGER, Die Inschriften Esarhaddons, Königs von Asssyrien (Graz 1 9 5 6 ) , 8 1 Rs. 1; s. CAD A/l 1 5 4 f.; die Krone verleiht auch Ellil, der in seiner Rolle Anu vergleichbar ist, bzw. der Mondgott Sin. Zu Anu und der Krone beim assyrischen König vgl. Simo PARPOLA, The Assyrian Tree of Life, in: Journal of Near Eastern studies 5 2 ( 1 9 9 3 ) 1 8 0 Anm. 7 5 und 7 7 . 10 Mit weiterer Literatur dazu Walther SALLABERGER, Eine reiche Bestattung im neusumerischen Ur, in: Journal of cuneiform studies 47 (1995) 19.

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Ein wichtiges Zeugnis liefert ein Ritual zur Investitur des Königs anläßlich der Krönung oder der Wiedereinsetzung im Rahmen eines Festaktes, das die Insignien und die dabei zu rezitierenden Beschwörungen überliefert11. Der Thron wird göttlich verfertigt, kultisch gereinigt und seiner Bestimmung übergeben. Bei der Krone werden jedoch neben ihrer überirdisch-himmlischen Erscheinung (Hörnerkrone, Schreckensglanz) ihre Funktionen fur den König beschrieben: das Land soll Ertrag bringen, die Götter Sin und Samas sollen an den Seiten des Königs stehen, Schutzgott und Genius in seinem Körper12. Im assyrischen Krönungsritual nimmt der König aus dem Assurtempel die Krone Assurs und die Waffen seiner Gemahlin Mullissu. Der folgende Text ist zu lückenhaft, um zu entscheiden, ob die im folgenden Kultlied angesprochenen kulllu, „Kronbinden", von der Assur-Krone stammen oder angesichts dieser Krone auf das Haupt des Königs gesetzt werden. Es heißt im Lied13: „Die Kronbinden deines Hauptes ja, Assur und Mullissu, die Herren deiner Kronbinden, mögen sie dir für 100 Jahre aufsetzen! Heil deinem Fuß im (Tempel Assurs) Ekur und deinen Händen vor deinem Gott Assur! Heil deinem Priestertum und dem Priestertum deiner Söhne vor deinem Gott Assur! Mit deinem geraden Szepter erweitere das Land! Auf Befehle rasches Hören und Einwilligen, Recht und Frieden möge dir Assur geben!"

Mit der Krone ist der assyrische König also, wie der Text explizit sagt, für seine zentrale kultische Aufgabe eingesetzt: den Priesterdienst Assurs (und dessen Gemahlin Mullissu) zu versehen, in dessen Tempel ein- und auszugehen (Gedeihen des „Fußes" im Tempel) und den Gott in Ritual und Gebet zu ehren (Gedeihen der „Hand"). Das Szepter verpflichtet dagegen zum Hirtenamt über die Menschen. Die Sonderrolle der Krone wird auch aus dem assyrischen Königskult deutlich. Der „Herr Krone", die vergöttlichte Krone des Götterherrschers Assur, die mit dem Gott in 11 Angelika BERLEJUNG, Die Macht der Insignien. Überlegungen zu einem Ritual der Investitur des Königs und dessen königsideologischen Implikationen, in: Ugarit-Forschungen 28 (1996) 1-35. 12 BERLEJUNG (wie Anm. 11)21-23, zum Thron, der genauso wie der des göttlichen Kultbildes behandelt wird; S. 23-26 zur Krone, die nun anders als die des Kultbildes beschrieben wird; zum Text vgl. unten S. 10. Zur Rolle der Krone vgl. (jeweils ohne Vergleich der Funktionen der Insignien): BERLEJUNG a. O. 26 (mit der Krone war der König „der irdischen Welt gleichsam enthoben und in einen zwischenweltlichen Bereich eingetreten"); MAUL (wie Anm. 1)213 („Wenn sich der assyrische König, dem Volke auf dem Vorhof des Assur-Tempels angetan mit der Krone des Gottes Assur zeigte, wurde den Assyrern deutlich, daß hier der ,Schreckensglanz' Assurs mit der Gestalt des Königs verschmolz"); MENZEL (wie Anm. 14) 58 („ist sie [sc. die Krone - WaSa] (auch) Sinnbild des göttlichen Ursprungs der assyrischen Kömgsmacht?"); PARPOLA (wie Anm. 9) 180 Anm. 75. 77. Zu Kopfbinde und Fez beim neuassyrischen König s. MAGEN (wie Anm. 4) 25 f. Einschlägig ist meines Erachtens auch der Befund der sumerischen Hymne Ur-Namma D, wo die Krone in der Ur-Version aufscheint (Z. 16'), in der Nippur-Version aber durch das „Königtum" zwei Zeilen zuvor gleichsam ersetzt ist; s.

FLÜCKIGER-HAWKER ( w i e A n m . 1) 2 4 6 f. 13

Karl Friedrich MÜLLER, Das assyrische Königsritual. Mitteilungen der Vorderasiatisch-Ägyptischen Gesellschaft 41/3 (Leipzig 1937) 64 f. ii 30-36.

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der Zella thront, darf offensichtlich nur vom König, nicht vom Priester behandelt werden, und im Kult setzt sich der König beim Auszug aus dem Assurtempel diese Krone Assurs auf14: der Gott ist der König, der Herrscher handelt in seinem Namen. Nur am Rande sei angemerkt, daß die Krone in der Antike und über sie hinaus als Zeichen der Göttlichkeit bzw. besonderen Verbundenheit mit Gott galt15.

II. Ein kontrastiver Vergleich des Königstums im Frühen Mesopotamien und in Assyrien Arbeiten zum altorientalischen Königtum und seiner Ideologie setzen sich meistens mit einer der beiden folgenden Perioden auseinander (vgl. Anm. 1): 1) mit dem „Frühen Mesopotamien"16, das meint das südliche Mesopotamien, die Landschaft Babylonien, im späten III. und frühen II. Jahrtausend, mit den sumerischen Königshymnen und sumerischen und akkadischen Inschriften als wichtigsten Quellen 2) mit Assyrien in mittel- und neuassyrischer Zeit (15. Jh. bis 609)17 mit ausfuhrlichen Inschriften unterschiedlicher Art Gerade das Frühe Mesopotamien zeichnet sich dabei durch stärkere politische Brüche aus, die ebenso die ideologische Fundierung des Königtums betreffen. Den Stadtstaaten des babylonischen Südens in präsargonischer Zeit, die nicht nur kulturell, sondern auch politisch lose unter dem König von Kis miteinander verbunden sind, folgt das Reich von Akkade (2334-2154) mit dessen Begründer Sargon (2334-2279) und mit seinem Enkel Naräm-Suen (2254-2218) als erstem vergöttlichten König. Das wieder in Einzelstaaten zerfallene Land wird unter den Königen der III. Dynastie von Ur („Ur III", 2112-2004) geeint, die sich ideologisch an den Akkade-Königen orientieren. Das Erbe des Königtums Sumers fuhren die Herrscher der Stadt Isin (2017-1794) weiter, doch werden auch die übrigen Nachfolgestaaten durch Ur III geprägt. Mit den Königen von Babylon („Babylon I", 1894-1595) und ihrem herausragenden Herrscher Hammurapi (1792-1750) endet die Zeit des „Frühen Mesopotamien", wobei zu den Gemeinsamkeiten mit Ur III etwa die Titulatur, Aufgaben des Königtums (Stichwort Gesetzgebung) oder die Königshymnen in sumerischer Sprache zählen. In diesem Überblick wird also 14 Brigitte MENZEL, Assyrische Tempel. Studia Pohl s. m. 10 (Rome 1981), Band Π, 57* Anm. 698 mit Hinweisen zu allen Stellen; zum König Band 1,173. Zu den Ritualen in Assur s. nun Stefan M . MAUL, Frühjahrsfeierlichkeiten in Asäur, in: A R. GEORGE/I.L. FINKEL (Hg.), Wisdom, gods and literature. Studies [...] W.G. Lambert (Winona Lake 2000) 389-420, bes. 393 f. und 398. 15 Jürgen STROTHMANN, S. V. Herrscher, Der Neue Pauly 14 (Stuttgart/Weimar 2000) 380. 16 Begriff in Anlehnung an das treffende englische „Early Mesopotamia", dem nicht zuletzt J. Nicholas POSTGATES gleichnamige Monographie von 1 9 9 2 gilt. 17 Die Angaben von Daten verstehen sich als „v. Chr.". Die absoluten Zahlen folgen der Mittleren Chronologie und der von J. A. BRINKMANN, in: A. L. OPPENHEIM, Ancient Mesopotamia (Chicago 1977 2 ) 335-347, gebotenen Rekonstruktion.

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die auch durch eine gute Quellenlage ausgezeichnete Ur III-Dynastie im Zentrum stehen, die eine von Akkade begonnene Königsideologie vollendet und die die folgenden Jahrhunderte prägt. Der folgende Vergleich soll die Bandbreite altorientalischen Königtums unter dem Gesichtspunkt der Sakralität aufzeigen. Ich kann hier freilich nur einige prominente Aspekte herausgreifen, die durch den Kontrast vielleicht profilierter hervortreten. Die einleitend genannten allgemeinen Charakteristika altorientalischen Königtums werden dabei vorausgesetzt. 1) Verhältnis der Götter zum König Die Götter betrauen den König mit seinem Amt, sie wählen ihn aus. Im Frühen Mesopotamien wie in Assyrien ist der Herrscher Kind der Götter, von ihnen großgezogen, sie verleihen ihm die Insignien der Herrschaft18. Doch sind Unterschiede zu bemerken: In sumerischen Texten präsentiert sich der Herrscher als leibliches Kind der Götter, von ihnen gezeugt und gestillt19. Er ist der Geliebte und Gemahl der Göttin Istar/Inanna; und die Darstellung dieses Verhältnisses in Hymnen führte zur Vorstellung von einer die Fruchtbarkeit des Landes begründenden „Heiligen Hochzeit"20. In Assyrien sorgen die Götter wie Vater und Mutter um den König21; er ist Geschöpf der Götter im Mutterleib, ohne von ihnen gezeugt zu sein22; er wird von verschiedenen Göttern „geliebt"23, doch geht er kein Liebesverhältnis mit ihnen ein. 2) König vor den Göttern im Kult Der König vertritt sein Volk gegenüber den Göttern, er baut und unterhält die Heiligtümer des Landes. Auch die Rolle im Kult in den zentralen Heiligtümern des Landes gleicht sich: In neusumerischer Zeit, zu Ende des III. Jahrtausends, besorgen höchste Kultbeamte die Versorgung als Beauftragte {maskim) des Königs, wenn dieser nicht selbst die Opfer vollzieht24. Vergleichbar übernimmt in der kultischen Hauptstadt Assur 18 Für die Wahl und Gotteskindschaft im Frühen Mesopotamien s. den Beitrag von WILCKE in diesem Band, sowie RÖMER und FLÜCKIGER-HAWKER 4 2 ff. (beide wie Anm. 1); für assyrische Belege s. ζ. B. SEUX (wie Anm. 1) 2 9 2 Anm. 1 5 4 , 2 3 4 Anm. 6 , s.v. märu usw., oder S. 19 die Verweise zu den einzelnen Stichwörtern. 19

FLÜCKIGER-HAWKER ( w i e A n m . 1 ) 4 6 f. A ) .

20

Zusammenfassung und Hinweise auf wichtige Literatur bei SALLABERGER (wie Anm. 7 ) 1 5 5 f., wo dafür plädiert wird, in der Ur ΠΙ-Zeit die "Heilige Hochzeit" als Beschreibung eines mythischen Verhältnisses, nicht eine rituelle Erzählung aufzufassen; eine etwas andere Meinung vertritt Piotr STEINKELLER, On rulers, priests and sacred marriage: tracing the evolution of early Sumerian kingship, in: WAT ANABE (Hg., wie Anm. 1) 1 0 3 - 1 3 7 . - Die „Heilige Hochzeit" mag in der Isin-Zeit entsprechend den übrigen politisch-religiösen Umbrüchen anders konzipiert worden sein. 21 SEUX (wie Anm. 1) 2 3 4 Anm. 6 ; vgl. auch im Beitrag von WILCKE den Hinweis auf das TukultiNinurta-Epos. 22

SEUX a. O. 2 9 2 A n m . 1 5 4 .

23

SEUX a. O. 19.

24

Die grundlegenden Erkenntnisse von S. OH'E führt Waither SALLABERGER, Der kultische Kalender der Ur ΠΙ-Zeit (Berlin u. a. 1993) 17 f., 30, weiter.

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der König bei Anwesenheit die Aufgaben des höchsten Priesters (sangü) 25 . Das bedeutet also, daß die Priester im Namen des Königs ihren Pflichten nachkommen 26 . Ist damit der König immer auch ein Priester? Dem assyrischen König kommt häufig das Epitheton „reiner" oder „erhabener Priester" (sangü) zu, er übt das Priesteramt aus (sangütu)21. Im Frühen Babylonien sind dagegen priesterliche Ämter in der königlichen Titulatur selten, vereinzelt begegnen „Reinigungspriester" (isib 28 ) oder der lu2-mah29, nur die Herrscher von Akkade sind regelmäßig „Salbungspriester" (päSisum) von An 30 . Im Gegensatz zum späteren Assyrien nimmt man also spezifische priesterliche Funktionen in die Titulatur auf, ohne daß damit der König gleichsam als höchster Priester fungiert. Das Amt des Hohepristers oder der Hohepriesterin (sumerisch en) an den wichtigsten Heiligtümern erfüllen oft Söhne oder Töchter des Königs 31 .

MENZEL (wie Anm. 14) I, 172-174. - Der angebliche Unterschied zwischen dem assyrischen und babylonischen König, vgl. ζ. B. MAUL (wie Anm. 1)213, daß der babylonische König nur mit Priester, der assyrische ohne diesen agiere, scheint mir nicht so sicher zu sein. Denn gerade beim Verleihen der Insignien handelt im assyrischen Krönungsritual (s. Anm. 13) der Priester, zudem zeigen die einschlägigen babylonischen und assyrischen Ritualtexte eine unterschiedliche Ausrichtung auf Priester bzw. König, was die Darstellung beeinflussen muß. 26 Vgl. auch aus dem Frühen Mesopotamien die Siegelinschriften von Kultpersonal mit Widmung an den König. 27 SEUX (wie Anm. 1) s. v.; CAD S/1, 382. Einzelne Ausnahmen aus dem Frühen Mesopotamien sind im altakkadischen Nippur der „Stadtfürst" (ensi2) Lugalnigzu als sagga des Enlil; vgl. auch den sagga von Isin neben dem König im Eid ζ. B. bei Dietz Otto EDZARD, Sumerische Rechtsurkunden des ΙΠ. Jahrtausends (München 1968) Nr. 85a:2. - Zum sagga Ningirsus im frühdynastischen Lagas s. Josef BAUER, Der vorsargonische Abschnitt der mesopotamischen Geschichte, in: P. ATTINGER/M. WÄFLER (Hg.), Annäherungen 1. Orbis biblicus et orientalis 160/1 (Freiburg/Schweiz u. a. 1998) 474 (nicht Sohn des Stadtfürsten; der dort besprochene Brief betrifft aber nicht den späteren Herrscher Enentarzi, wie die Neubearbeitung von Burkhart K I E N A S T / K o n r a d VOLK, Die sumerischen und akkadischen Briefe des ΙΠ. Jahrtausends [...] (Stuttgart 1995) 25-29, zeigt). 28 SEUX (wie Anm. 1) s. v.: Lugalzagesi (präsargonisch), Su-Suen (Ur ΠΙ) und Lipit-Estar (Isin) sind isib von An, letzterer auch in Kes (Nintur), Ur-Ninurta (von Isin) in Eridu. 29 SEUX a. O. 420 s. v. lu2: Lugalzagesi. 30 Zum päsisu (so statt pasTsu) s. Alfonso ARCHI, Eblaita: päsisu ,colui che e addetto alPunzione; sacerdote purificatore; cameriere al servizio di una persona', in: Vicino Oriente 10 (1996) 37-71. Was kann dann der Titel bei Sargon bedeuten? Spielt er auf die gleichsam priesterliche Macht an, Untertanen in ihrem Amt einzusetzen? Belege s. SEUX a. O. s. w. paiiiu und ,gudd" (letzteres auch bei SuSuen). 31 Dieses Priesteramt ist, wie jüngst endgültig klargestellt wurde, vom alten Herrschertitel „en der Stadt Uruk" zu trennen: STEINKELLER (wie Anm. 20) 116-118. Die Priester- und die Herrscherbezeichnung en lassen sich aber nicht immer klar auseinander halten, denn die Gleichung sumerisch en = akkadisch enum (d. i. der Priestertitel) von Uruk ist durch die Inschriften Lipit-Estars belegt; vgl. auch ANam von Uruk als „en von Inanna"; altbabylonische Königsinschriften nach Douglas R. FRAYNE, Royal inscriptions of Mesopotamia, early periods 4: Old Babylonian period (Toronto 1990). 25

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3) König als Stellvertreter

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Gottes

Der assyrische König ist nicht nur Priester, er ist vor allem „Stadtfurst" (issiakku) seines Landesgottes Assur und „Statthalter" (saknu) des alten Götterherrschers Enlil. Den als „Stadtfurst" übersetzten Titel trägt im Frühen Mesopotamien üblicherweise der Herrscher eines Stadtstaates. Und nur zu Beginn des betrachteten Zeitraums sehen sich manchmal die Herrscher als „Stadtfursten" des Gottes Enlil oder des Stadtgottes32. Eine solche Bezeichnung „Stadtfurst" fehlt für die späteren Könige von Akkade und die Könige der Ur III-Dynastie des späten III. Jahrtausends. In dieser Zeit ist der „Stadtfurst" der vom König abhängige Gouverneur einer Provinz; der König aber ist zu dieser Zeit vergöttlicht (worauf gleich einzugehen ist). Besonders spannend ist nun die Situation nach dem Ende der Dritten Dynastie von Ur, wenn die einzelnen Provinzen wieder selbständig werden: denn an zwei Orten, in Esnunna und in Assur, bezeichnet sich der Herrscher weiterhin als „Stadtfurst" (issiakkum); der übergeordnete „König" (lugal, sarrum) jedoch ist nicht mehr der Ur III-König, sondern der Stadtgott33. Das daraus bald entwickelte Verständnis des Königs als expliziter „Stellvertreter Gottes" sollte fur Assyrien charakteristisch bleiben und das assyrische Königtum bis zu seinem Ende prägen. 4) Königsvergöttlichung Gesellschaft

und die gleichsam

göttliche

Rolle des Königs in der

Die Vergöttlichung des Königs ist ein besonderes Phänomen des späten III. und frühen II. Jahrtausends. Augenfälligstes Kennzeichen ist die Schreibung des Personennamens mit dem Gottesdeterminativ. Wie diese in der Schrift markierte „Deifizierung" allerdings sprachlich realisiert wurde, bleibt uns unbekannt34. 32

Lugalzagesi (präsargonisch Umma) ist sagina „General" Utus, vgl. SEUX (wie Anm. 1) 447 f.; zum Titel ensi2 eines Gottes s. SEUX a. O. 399 f.; Hermann BEHRENs/Horst STEELE, Glossar zu den altsumerischen Bau- und Weihinschriften (Wiesbaden 1983) 115, 117: „mächtiger Stadtfürst" (ensi2 kalaga) Enlils ist Lugalzagesi, dieser auch ensi2 gal Enlils, letzter Titel ebenso im präsargonischen Mari und bei Sargon von Akkad; ensi2 gal Ningirsus sind einige Stadtfürsten von Girsu (Enanatum I und Π sowie Enmetena); ensi2 Utus: Warad-Sin von Larsa (s. SEUX). STEINKELLER (wie Anm. 20) 116, sieht im Titel ensi2 das Verhältnis gegenüber der Gottheit, in lugal „König" das zu den Untertanen dargestellt. Wendet man dies für die Ur ΙΠ-Zeit an, so könnte man allgemeiner ensi2 als Bezeichnung gegenüber dem übergeordneten Herrscher verstehen. 33 Für Assur s. Hannes D. GALTER, Textanalyse assyrischer Königsinschriften. Die Puzur-As§ur-Dynastie, in: State Archives of Assyria Bulletin 12 (1998) 12 f., mit weiteren Hinweisen auch zur Entwicklung von Assur = Stadt zu Assur = Gott; für Esnunna s. bei FRAYNE (wie Anm. 31) im Abschnitt E4.5.: Kirikiri (2.1), Usur-awassu (5.1), Azüzum (6.2 und 3), Ur-NinMAR.KI (7.2), immer handelt es sich um das Siegel des Stadtfürsten; vgl. dagegen das Siegel Ibäl-pi-El II., der sich nun „König" nennt (ib. 20.3); das Siegel Ipiq-Adads I. (9.2) ist schon nicht mehr Tispak gewidmet, er ist aber noch ensi2. [Anmerkung: Die erste Zahl der Inschriftensigel gibt die Stelle in der Abfolge der altbabylonischen Herrscher von ESnunna an, die zweite bezeichnet die Inschrift], 34 Für einen Versuch s. Aage WESTENHOLZ, The Old Akkadian period. History and culture, in: ATTINGER/WÄFLER (Hg., wie Anm. 7) 47: Hum NarämSuen „Gott Ν.". Beachte in diesem Sinne auch die verstorbenen Könige von Ebla, vor deren Namen das Logogramm DIGIR „Gott" (in einem eigenen

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In dieser Form beanspruchen göttlichen Status zuerst Naräm-Suen von Akkade, dann die Ur III-Könige und einige Herrscher ihrer Nachfolgestaaten, voran der direkte Erbe Isin. Der göttliche Status selbst ist in seiner theologischen Dimension nicht so schwer zu fassen: Die aufgezeigte familiengleiche Nähe des Herrschers zu den Göttern und seine Funktion als Vermittler heben ihn über die Menschen hinaus, und als „Gott des Landes" fungieren auch Könige des Frühen Mesopotamien, deren Namen nicht mit dem Gottesdeterminativ geschrieben wird35. Ein König wird mit seinem Regierungsantritt zum Gott, nicht die jeweilige Person, sondern das Amt ist also göttlich. Administrative Texte lehren uns zudem, daß eigentlich der „Genius" (lamma) des Königs verehrt wird, wenn der göttliche König gemeint ist36. Diese ausfuhrlichere Variante kennen wir zwar nur aus einigen wenigen Ur IIIOpferurkunden aus einer Provinz (Umma), doch zeigt dies, daß eine besondere schützende göttliche Macht die königliche Göttlichkeit begründet. Damit sind wir nicht mehr so weit entfernt von den Aussagen eines im I. Jahrtausend auch in Assyrien überlieferten Rituals zur Investitur des Königs, daß mit Übernahme der Krone als Insignie zwar Sonnen- und Mondgott zur Rechten und Linken Platz nehmen sollten, aber „Guter Schutzgott" (sedu) und „Guter Genius (lamassu) von Herrschaft und Königtum im Leib des Königs beständig seien"37. Der neuassyrische König galt in den Augen seiner Gelehrten zudem als „Abbild des Sonnengottes", „Abbild des Gottes" oder „Abbild des Herrn" (Bei)38. Der vergöttlichte Herrscher des Frühen Mesopotamien wird zum Objekt kultischer Verehrung, doch erlaubt die Schreibung des Königsnamens allein keine scharfe Abgrenzimg. Zuerst sind Opfer bei den königlichen Statuen zu nennen, die in deutlich bescheidenerem Umfange auch früher und später im Frühen Mesopotamien sowie in Assyrien belegt sind39. Die verstorbenen Herrscher werden im gesamten Alten Orient Fach!) gesetzt wird; s. insbesondere Alfonso ARCHI, Archivi reali di Ebla. Testi, VII (Roma 1988) Nr. 150. 35

So Ur-Namma (Ur ΙΠ) und als letzter Hammurapi. Zu diesem Befund in Ur ΙΠ-Urkunden aus Umma s. SALLABERGER (wie Anm. 24) 85. (Der Vorschlag von Gebhard SELZ, ,The holy drum, the spear, and the harp' [...], in: I. L. FINKEL/M. J. GELLER (Hg.), Sumerian gods and their representations (Groningen 1997) 181, die Frage des „Genius" durch einen Verweis auf die Rolle der Kultstatue zu lösen, bedeutet meines Erachtens einen Rückschritt: daß die Statue die Opfer erhält, steht nicht zur Debatte, fraglich ist das Konzept, das sich in dieser Statue konkretisiert). Der bei SALLABERGER a. O. angestellte Vergleich mit dem römischen Genius (insbes. des Kaisers) kann fur sich beanspruchen, daß lamassu ebenso wie genius die ,Lebenskraft' des Mannes bedeutet (s. die Wörterbücher). 37 BERLEJUNG (wie Anm. 11) 24:53-56 (K4906+). 38 PARPOLA (wie Anm. 9) 168 Anm. 33; vgl. SAA 10 196,207,125. 39 Einige Beispiele: Zu den Opfern bei den Ur ΙΠ-Königen s. SALLABERGER (Anm. 24) passim; zur Verehrung der frühdynastischen Herrschergemahlin vgl. Gebhard SELZ, Eine Kultstatue der Herrschergemahlin Sasa. Ein Beitrag zum Problem der Vergöttlichung, Acta Sumerologica 14 (1992) 245268; zu Opfern für altbabylonische Königsstatuen in Nippur s. R. Marcel SIGRIST, Les sattukku dans l'Esumesa. Bibliotheca Mesopotamica 11 (Malibu 1984) 149 (alan „Statue" von König NN); zu Assyrien (und einzelnen Belegen anderer Epochen) Steven CoLE/Peter MACHINIST, Letters from Assyrian and Babylonian priests [...]. SAA 13 (Helsinki 1998) XIV f. 36

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kultisch verehrt, man denke etwa an die monatlichen Opfer beim ,Heros' Gudea in der Provinz Girsu oder bei den Ur III-Königen oder an die königliche Begräbnisstätte, den Alten Palast der Stadt Assur als bet Sarräni „Haus der Könige". Verkörperte der König nun übernatürliche Macht, so war es nur folgerichtig, daß der Königsname als theophores Element in die Namengebung Eingang fand. Solche Namen sind bei königlichen Beamten am häufigsten anzutreffen, aber nicht allein auf sie beschränkt. Auch hier findet man Beispiele von der altsumerischen bis zur späten altbabylonischen Zeit, also weit über den Zeitraum der eigentlichen Königsvergöttlichung hinaus. In Assyrien (und im späten Babylonien) hingegen erscheint in Namen das Element sarru „König". Daß auf dem Königtum die gesellschaftliche Ordnung beruht, begründet letzten Endes die Anrufung des Königs (neben Göttern) im Eid vor allem in Rechtsurkunden; dabei wird im Frühen Mesopotamien der König oft - nicht immer - namentlich angeführt, nicht jedoch in Assyrien (ade Sa sarri). Der Vergleich zwischen dem Frühen Mesopotamien und Assyrien zeigt also bemerkenswert konstant einen wesentlichen Unterschied: Im Frühen Mesopotamien wird bei der Statue, bei Personennamen, oft beim Eid der jeweilige König als Vertreter seines Amtes namentlich genannt, in Assyrien dagegen erscheint in all diesen Fällen das Appellativum Sarru „König". Hier ist also das Amtsprinzip konsequenter in die entsprechende Begrifflichkeit eingegangen, der jeweilige Herrscher tritt hier nicht namentlich auf. Am weitesten ausgebaut ist der Kult der vergöttlichten Herrscher offensichtlich in der Ur Iii-Zeit40. Es gibt jährliche Herrscherfeste, die sich eher durch ihren Volksfestcharakter als durch einen aufwendigen Ritus auszeichnen. Nach diesen Festen sind zudem Monate des Kalenders benannt (ζ. B. „Monat Sulgi-Fest"). Des weiteren kennen wir Tempel der vergöttlichten Könige mit ihren Besitzungen und ihrem Personal. Der älteste Beleg für solche Königstempel ist ein so erstaunliches und einzigartiges Dokument, daß es hier zitiert sei. Es handelt sich um die Inschrift auf einer Statuenbasis von Naräm-Suen von Akkade, also des ersten Herrschers, dessen Namen mit dem Gottesdeterminativ geschrieben wurde41: „Naräm-Suen, der Mächtige, der König von Akkade, hat, als die vier Weltgegenden insgesamt gegen ihn rebellierten, durch die Liebe, die Istar ihm erwiesen hat, neun Schlachten in einem Jahr siegreich bestanden und die Könige, die sich gegen ihn erhoben hatten, gefangen genommen.

40

SALLABERGER (wie Anm. 7) passim, (wie Anm. 24) bes. 153 f., 170 f. - Thomas RICHTER, Untersuchungen zu den lokalen Panthea Süd- und Mittelbabyloniens. Alter Orient und Altes Testament 257 d i (Münster 1999) 200 f., meint, dass Inanna I$-bi-er3-ra auf Kult beim göttlichen König hinweise; hier wird man aber den Namen einer Statue annehmen dürfen; vgl. entsprechend zu einer Statue von SuSuen Douglas R. FRAYNE, Royal inscriptions of Mesopotamia, early periods 3/2: Ur ΠΙ period (Toronto 1997) 292 f. (mit Lit.). 41 Neueste Edition (mit Lit.): Douglas R. FRAYNE, Royal inscriptions of Mesopotamia, early periods 2 (Toronto 1993) 113 f. (E2.1.4.10).

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Weil er in dieser Not die Basis seiner Stadt gefestigt hatte, haben (die Bürger) seiner Stadt ihn zum Gott ihrer Stadt sich erbeten bei Istar in E'anna, bei Enlil in Nippur, bei Dagän in Tuttul, bei Nirihursaga in Kes, bei Enki in Eridu, bei Suen in Ur, bei Samas in Sippar, bei Nergal in Kutha [d. h. bei den großen Göttern des Landes in ihren Heiligtümern] und sie haben in Akkade seinen [sc. Naräm-Suens] Tempel errichtet."

Die Funktion der Königsvergöttlichung in der Gesellschaft tritt damit offen zu Tage: Das Reich, das auseinanderzubrechen gedroht hatte, findet in der Gestalt des göttlichen Herrschers und seines Tempels einen neuen geistig-religiösen Identifikationspunkt in der politischen Hauptstadt, eine gemeinsame Mitte. Bezeichnenderweise lebt der Königskult im überregionalen Reich der Ur III-Könige ebenso wieder auf und erreicht da mit Volksfesten, mit Tempeln in den Städten und Provinzen und Königsstatuen im ganzen Reich und in den Häusern hoher Beamter seinen Höhepunkt. Die ehemaligen Stadtstaaten behalten ihre Götterkreise, einzig der Königskult stellt in religiöser Hinsicht die Verbindung zum Reich dar42. Und nach dem Ende von Ur III? Die Könige von Isin schreiben sich noch mit dem Gottesdeterminativ, doch kennen wir nun keine Feste und Tempel ihres Kultes mehr. Jetzt orientiert sich der staatliche Kult auf ein gemeinsames Zentrum, nämlich den Götterherrscher Enlil in seiner Stadt Nippur43. Vergleichbar setzten ja, wie schon erwähnt, die assyrischen Herrscher als Statthalter auf ihren König, den Gott Assur, als Nationalgott. Offenbar fuhrt also das Ende von Ur III auch zu einem Ende der relativ kurzlebigen umfassenden Göttlichkeit des Herrschers (mit vollständigem Kult einschließlich Festen und Tempeln). Das Erbe dieser Zeit läßt sich in zwei unterschiedlichen Traditionen erkennen: In der einen wird der göttliche König von Ur durch den jeweiligen Stadtgott ersetzt, unter dem der „Stadtfürst" steht (Beispiele Assur, Esnunna), in der anderen lebt zwar die Königsvergöttlichung noch in der Namenschreibung fort, doch fehlt der ausgeprägte Königskult (Beispiel Isin). Die Königs Vergöttlichung ist demnach kein einheitliches Phänomen, sondern weist je nach Gesichtspunkt verschiedene Facetten auf, wie diese zusammenfassende Übersicht noch einmal verdeutlichen soll: a) Schreibung des Namens mit Gottesdeterminativ: seit Naräm-Sin von Akkade, Ur III, Isin und Herrscher anderer frühaltbabylonischer Dynastien b) Opfer bei königlichen Statuen: nicht an a) gebunden, ζ. B. auch präsargonisch, vgl. assyrisch salam sarri „Statue des Königs" 42 Die Verbindungen der Provinzen mit dem Kult in den Zentren Nippur und Ur sind Vorstufen zum Modell der Isin-Zeit; doch im Unterschied zu Isin gibt es unter den Ur III-Königen noch mehrere Zentren. 43 Dieser markante Wandel in der religiösen Rolle von Nippur ist dargestellt in: Waither SALLABERGER, Nippur als religiöses Zentrum Mesopotamiens im historischen Wandel, in: G. WILHELM (Hg.), Die orientalische Stadt. Kontinuität, Wandel, Bruch (Saarbrücken 1997) 147-168.

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c) Königsname als theophores Element in Personennamen: nicht an a) gebunden (da etwa auch Babylon I), assyrisch stattdessen Sarrum „König" d) Kult des vergöttlichten Königs: Tempel (Naräm-Suen von Akkade, Ur III-Könige), Königsfeste (Ur III), Monatsnamen (Ur III), also gegenüber a) mit eingeschränkter Verbreitung

Versuch einer Synthese: Göttlichkeit des Herrschers und soziale Nähe zu den Untertanen In wenigen Stichworten seien noch einmal die Eckdaten zusammengefaßt (markante Unterschiede sind durch Kursivierung hervorgehoben): Thema

Frühes Mesopotamien

Assyrien

1) Verhältnis der Götter

Kind, gezeugt, gestillt,

zum König

Geliebter, usw.

Kind, geliebt, usw.

2) König vor den Göt-

Opferherr

Opferherr

tern im Kult

kultische Aufgaben

kultische Aufgaben

vereinzelt priesterliche

„Priester" (sangü) im Titel

Funktionen 3) König als Stellver-

(nicht in Titulatur)

„Stadtfiirst" (issiakku) von Gott Assur

treter Gottes 4) Königsvergöttlichung a. Auftreten

a. Akkade- bis Isin-Zeit

a. (nicht in Assyrien)

b. Zur Charakterisierung

b. (göttlicher) „Genius"

b. (vgl. „Schutzgott" und

des Königs (Ur III)

„Genius" „im Leib des Königs", König als Abbild Gottes)

Läßt dieser hier knapp skizzierte Befund eine allgemeine Tendenz erkennen? Betrachtet man, in welcher Art die soziale Nähe des Königs zum Gott dargestellt wird 44 , so scheint eine Antwort möglich. Im Frühen Mesopotamien steht der Herrscher den Göttern sehr nahe, wie die Metaphern der Liebe und Geburt deutlich zeigen, er ist selbst göttlich; der neuassyrische König hingegen stellt sein nach wie vor zentrales Verhältnis zu den Göttern deutlich distanzierter dar, er ist ihr Stellvertreter und Priester oder das Abbild eines Gottes45. 44

Es geht hier, das sei ausdrücklich betont, um die (sprachliche) Darstellung des Verhältnisses der Untertanen zum Herrscher bzw. (dessen) zur Gottheit, nicht um das ,tatsächliche' gesellschaftliche Verhältnis. Ohne Zweifel muß auch dieses Thema, das hier nur als Hypothese entworfen werden kann, gründlich ausgearbeitet werden. 45 Zu dieser Interpretation hat mich der Beitrag zum altägyptischen Königtum von Elke BLUMENTHAL angeregt.

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Diesen Punkt wollen wir noch einen Schritt weiterdenken. Der König vermittelt, wie oft gesagt, zwischen der Welt der Menschen und der der Götter. Wenn sich seine Nähe zu den Göttern ändert, wie sieht dann das Verhältnis zu den Menschen aus? Hier lassen sich leider nur wenige Hinweise in den Texten finden. Die Anrede in Briefen an den König ist ein erster Punkt: In altbabylonischer Zeit (und wohl auch Ur III) spricht man den Herrscher „mein Herr" an, so wie andere Übergeordnete auch; der König ist hier also nicht besonders gekennzeichnet. In neuassyrischer Zeit dagegen schreibt man „an den König, meinen Herrn", der Titel in der Anrede legt den Adressaten schon eindeutig fest. Unterschiede zeigt auch der Empfang beim König: Wenngleich nicht jeder zur Audienz bei König Hammurapi vorgelassen wird, so können sich dort bei Audienzen und in geheimer Sitzung mit den fremden Gesandten Gespräche entwickeln, während man vor den assyrischen König offensichtlich mit bedecktem Gesicht tritt46. Wenn ich solche Beispiele richtig deute, so wird in Assyrien auch der Abstand zwischen König und seinen Untertanen größer gesehen/dargestellt als im Frühen Mesopotamien. Damit kommen wir zu folgendem Schluß: Menschen und Götter stehen nicht immer in einem ,festen Abstand', wobei der König einmal näher bei den Menschen, einmal näher bei den Göttern eingeordnet würde. Nein, die hierarchischen Verhältnisse entsprechen sich: Eine größere Nähe zum König entspricht dessen Einbindung in die Götterwelt im Frühen Mesopotamien, die größere Distanz der Spätzeit dagegen äußert sich ebenfalls in beiden Hierarchie-Verhältnissen vom Untertan zum König und von ihm zur Gottheit47. Nicht unerwartet wird also das Verhältnis zu den Göttern entsprechend der sozialen Hierarchie gestaltet; für unsere Vorstellung vom sakralen Königtum bleibt dieser Schluß dennoch wichtig. Ein Modell zur sozialen Nähe zwischen Gott - König - Menschen:

Typ Frühes Mesopotamien

Gott t König

Typ Assyrien Gott Τ t König t

Τ

Τ

Menschen

Menschen

46

Empfang bei Hammurapi: Dominique CHARPIN, Hammu-rabi de Babylone et Mari. Nouvelles sources, nouvelles perspectives, in: J. RENGER (Hg ), Babylon (Saarbrücken 1 9 9 9 ) 1 1 1 - 1 3 0 , bes. 1 1 3 - 1 2 1 ; bedecktes Gesicht am assyrischen Hof: Simo PARPOLA, The murderer of Sennacherib, in: Β . ALSTER (Hg.), Death in Mesopotamia. Mesopotamia 8 (Copenhagen 1 9 8 0 ) 1 7 1 - 1 8 2 , hier 1 7 2 und 1 7 6 Anm. 12. 47

Einschränkend ist daran zu erinnern, daß in der (späten) Akkad- und Ur EU-Zeit, als der König die größte Gottähnlichkeit erreicht, der König als ,zusätzliche' Instanz über dem ,gewohnten' lokalen (nun abhängigen) Stadtfiirsten steht.

RÜDIGER LUX

Der König als Tempelbauer Anmerkungen zur sakralen Legitimation von Herrschaft im Alten Testament

Der Konnex von Herrschaft und Heiligkeit stellt kein Arkanum dar, sondern ist wesentlich auf Öffentlichkeit und Visualisierung hin angelegt. Daß der jeweilige Herrscher in einer besonderen Beziehimg zur Gottheit stand, das sollte vor aller Welt sichtbar werden. Diese Visualisierung konnte in unterschiedlicher Weise durch priesterliche Kleidung und Funktionen oder anläßlich von öffentlichen Riten und Festen erfolgen. Vor allem aber war es die sakrale Bautätigkeit, mit der Herrscher aller Zeiten ihre hervorgehobene Gottesbeziehung dokumentierten. Vom Alten Orient bis in die Neuzeit hinein haben Kaiser, Könige und Fürsten ihrer Herrschaft von Gottes Gnaden in steinernen Monumentalbauten eine äußerliche Gestalt gegeben. Ob der Berliner Dom als Hof- und Grabkirche der Hohenzollern oder die zahlreichen Patronatskirchen selbst in kleinsten Dörfern, immer betätigten sich Herrscher nicht nur als Bauherren von Palästen, sondern auch von Tempeln, Kirchen und Kapellen. C H R I S T O P H U E H L I N G E R subsumiert dieses Phänomen für den Alten Orient unter den Begriff der „figurative policy", worunter er jegliche Form „königlichstaatlicher Tätigkeit" versteht, die „in prägnanter Weise die Aspekte der Sichtbarkeit, Symbolik und Öffentlichkeit" repräsentiert. Er stellt fest: „Altorientalische Propaganda operiert nicht nur im Medium von Texten, sondern auch vermittelt durch Architektur (sogen, public buildings), Infrastruktur - und Bildern (von Miniatur- bis Monumentalkunst)"1. In diesem Rahmen ist das Motiv des Königs als Tempelbauer in der altorientalischen Ikonographie und Epigraphie fest verankert und hat eine lange Traditionsgeschichte. Immer wieder ist davon die Rede, daß die Könige des Zweistromlandes und Ägyptens nicht nur die Errichtung oder Wiederherstellung von Tempeln anordneten, sondern sich - wenn auch nur symbolisch - an den Arbeiten selbst beteiligten. Zu den Standardmotiven vom 3. Jt. v. Chr. bis zum Neubabylonischen Reich gehört ζ. B. die Darstellung des

1

Chr. UEHLINGER, Figurative policy, Propaganda und Prophetie, in: Vetus Testamentum-Supplements (VT.S 66), 1997, S. 297-349, Zit. 299.

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Königs als Ziegelkorbträger2. Er ist sich nicht zu schade, selbst die niedrigste Arbeit für seinen Gott zu verrichten. Entsprechende Figurinen ließen die Könige von sich anfertigen und in die Tempelfundamente einbringen3.

2

Vgl. O. KEEL, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament, Neukirchen 1977, S. 248 f. 3 Siehe ζ. B. die Inschrift Nabopolassars (626-605 v. Chr.) der Etemenanki, den Zikkurat des Marduktempels Esagila in Babylon erneuerte. Der Vorgang wurde in einer Inschrift in vierfacher Ausfertigung festgehalten, die jeweils an den vier Seiten des Tempelturmes als Depositum angebracht war. Darin heißt es: 121 Als auf Befehl von 22Nabu und Marduk, 23die mein Königtum lieben, 24und mit der Waffe, dem mächtigen Rohr(pfeil) 25des ehrfurchtgebietenden Erra, 26der meine Hasser immer wieder niederblitzt, 27ich den Subaräer schlug, 28und sein Land umwandelte 29in Ruinenhügel und Ödland, 30 damals 38befahl mir der Herr Marduk, 30Etemenankis, 31des Stufenturms von Babylon, 34Fundament, 32 das vor meiner Zeit 33sehr baufällig gemacht (und) eingesürzt war, 34in der Tiefe des Untergrundes 35 fest zu begründen 36und seine Spitze mit dem Himmel 37wetteifern zu lassen. Es folgt eine ausfuhrliche Beschreibung der Vorbereitung und Durchführung der Baumaßnahmen Nabopolassars, die schließlich in seine eigene Beteiligung an den Arbeiten einmündet: II57Ein Bildnis von mir als König, 58 der den Ziegelkorb trägt, 39stellte ich her und 61stellte es 60auf den Grundstein. 62Für Marduk, meinen Herrn, 63beugte ich den Nacken. 64Das gute Gewand, meine königliche Bekleidung, III'rollte ich ein, und 2Ziegel und Lehm 4trug ich 3auf meinem Haupte. 5Ziegelkörbe 6beschlug ich 5mit Gold und Silber. 78Nebukadnezar, 9~10den Erstgeborenen "Liebling meines Herzens, 15ließ ich 12Lehm mit Beimischung von 13 Wein, öl und Hartholz ,4zusammen mit meinen Handwerkern 15tragen. (Texte aus der Umwelt des Alten Testamentes [TUAT] II, S. 491 ff.) 2

4

Abbildung nach O. KEEL (Anm. 2), S. 249.

Der König als Tempelbauer

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Auch die Pharaonen Ägyptens dokumentierten auf den Tempelwänden deren Baugeschichte, an der sie symbolisch im Zusammenwirken mit den Göttern teilhatten. Sie legten die Ausmaße fest, füllten die Fundamentgräben, formten den Eckstein und beteiligten sich - auch hier wieder symbolisch - auf vielfaltige Weise an den Arbeiten.

Abb. 2: Tempel in Edfu: Der Pharao füllt in Gegenwart des Gottes Horns den Fundamentgraben mit reinem Sand5. Dabei wird das Motiv des Königs als Tempelbauer häufig mit anderen Motiven der Königsideologie kombiniert. So kann der Auftrag zum Tempelbau dem König im Traum von einer Gottheit erteilt werden6, aber auch dem selbständigen Entschluß des Königs entspringen7. Nicht selten wird ein Konnex zwischen dem König als Tempelbauer und siegreichem Kriegsherrn hergestellt, wobei dann die Errichtung des Heiligtums als Zeichen des Dankes für den errungenen Sieg figuriert8. Immer wieder wird 5

Nach O. KEEL (wie Anm. 2), S. 250. Ebd. weitere Motive zum Pharao als Tempelbauer. Vgl. dazu A. S. KAPELRUD, Temple Building, a Task for Gods and Kings, in: Orientalia 32,1963, 5662, der u. a. den Traum im Tempelhymnus Gudeas mit dem Salomos in 1 Könige 3,2-15 vergleicht. Kritisch dazu O. KEEL ( Anm. 2), S. 249. Für die Verbindung des Tempelbaumotivs mit dem Traummotiv lassen sich allerdings auch andere altorientalische Belege benennen. Vgl. ζ. B. den Bericht Nabonids über den Wiederaufbau des Echulchul in Harran: 16(Gleich) zu Anfang meines ewigen Königtums ließen sie mich 17einen Traum 16sehen. lsMarduk, der große Herr, und Sin, die Leuchte von Himmel und Erde, 19standen beide da. Marduk sprach zu mir: 20 'Nabonid, König von Babylon, mit deinen Wagenpferden 2'transportiere Ziegel, Echulchul baue und 22laß 21den großen Herrn Sin 22darin seine Wohnung nehmen!' (TUAT II, S. 494). 7 So nach O . KEEL (Anm. 2 ) , S. 2 4 9 . Siehe dort vor allem die ägyptischen Beispiele. 8 Vgl. die Inschrift Nabopolassars in Anm. 3. 6

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schließlich mit dem Tempelbau die Bitte an die Gottheit verbunden, den Thron und die Dynastie des Königs auf einem ähnlich festen Fundament zu gründen und ihm ewige Dauer zu verleihen9. In welcher Weise hatte das biblische Israel an diesem Vorstellungskomplex Anteil? Israel selbst betrat als ein Spätling die Bühne des Alten Orients. Während seine Nachbarn am Nil und im Zweistromland teilweise schon auf eine zweitausendjährige oder noch längere Erfahrimg mit dem Königtum zurückblicken konnten, stand diese Institution in Israel von Anfang an und bleibend unter einem erhöhten Legitimationsdruck. So blieb denn auch das Königtum in der Geschichte Israels und des jüdischen Volkes mit seiner gut vierhundertjährigen Dauer von Saul (ca. 1012-1004 v. Chr.) bis zum letzten König Judas, Zedekija (597-587 v. Chr.), - im Vergleich zu seinen Nachbarn - eher eine Episode. Das Ende des realen Königtums, der davidischen Dynastie von Jerusalem, bedeutete aber nicht das Ende der Hoffnungen, die sich mit dieser Institution im Laufe der Geschichte verbunden haben. Sie wanderte gleichsam aus in einen eschatologischen Messianismus. Diese Erwartung eines künftigen idealen Heilskönigs auf dem Throne Davids war jedoch alles andere als eine Entpolitisierung und Entweltlichung einer irdischen Institution. Vielmehr bildete sie ein unaufgebbares und bleibendes politisches Korrektiv gegenüber allen realen Unheilserfahrungen, die das jüdische Volk in seiner Geschichte mit dem eigenen und fremden Königtümern machen mußte. Aus der Fülle der Aspekte dieses altisraelitischen Königtums soll hier nur einer herausgegriffen werden, um an ihm exemplarisch die sakrale Selbstinszenierung dieser Institution zu veranschaulichen: Der König als Tempelbauer. Zuvor noch ein Hinweis zur Quellenlage. Die literarische Hauptquelle für die Rekonstruktion des altisraelitischen Königtums bleibt fur uns nach wie vor die Hebräische Bibel, insbesondere das Deuteronomistische Geschichtswerk (DtrG: Deuteronomium bis 2Könige), das Chronistische Geschichtswerk (ChrG: Esra - 2Chronik) und die Prophetenbücher, sowie einige Psalmen. Bei allen diesen Texten handelt es sich nicht um Geschichtsschreibung im neuzeitlichen Sinne, auch nicht um Autorenliteratur, die sich jeweils einem Verfasser verdankt, sondern um Traditionsliteratur, die im Zuge einer langen, oft Jahrhunderte andauernden Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte ihre schließlich kanonisierte Gestalt annahm10. Es versteht sich von selbst, daß die Interessen der Trägergruppen, die diese Texte pflegten, überlieferten und bearbeiteten, mit in 9

So heißt es am Ende der Bauinschrift Nabopolassars: 38Herr Marduk, 40schaue 39meine Taten freudig an, und 41auf dein erhabenes Wort hin, 43das unveränderlich ist, 46möge 44dieses Werk, 45 meiner Hände Arbeit, 46alt werden bis in Ewigkeit! 47 Wie die Ziegel von Etemenanki 48fest sind auf ewig, 49gründe das Fundament meines Thrones fest 50bis in ferne Tage! (TUAT Π, S. 493). In Ägypten gehört es vom Mittleren Reich an zu den Pflichten und Tugenden des Pharao, für den Bau und die Erhaltung von Tempeln Sorge zu tragen. In einer Bauinschrift des Atum-Tempels in Heliopolis ist zu lesen: Seht, meine Majestät beschließt ein Bauwerk, und erinnert sich einer Tat als etwas heilswirksames für die Zukunft. Zitiert nach J. ASSMANN, Ägypten. Eine Sinngeschichte, Darmstadt 1996, S. 75. 10 Vgl. zu dem fundamentalen Unterschied von Autoren- und Traditionsliteratur Chr. DOHMEN, Die Bibel und ihre Auslegung, München 1998, 11 ff. 39

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die Texte eingingen. Die Texte liefern uns also nicht die Geschichte Israels, sondern Bilder, die sich Israel von seiner Geschichte machte und die schließlich normativ geworden sind. D. h. allerdings nicht, daß die Texte ohne jeglichen Quellenwert wären. In sie gingen durchaus authentische Erinnerungen ein und oft griffen ihre Autoren auf sehr altes Quellenmaterial zurück, das auch benannt wird (vgl. Numeri 21,14; Josua 10,13; 1 Chronik 9,1). Es bedarf also einer sorgfaltigen Quellenanalyse des Historikers, um den jeweiligen Quellenwert der Texte zu ermitteln. Neben die Texte treten die Steine und sonstigen materiellen Hinterlassenschaften, die der Spaten der Ausgräber ans Tageslicht gebracht hat. Sie nötigen uns in mancherlei Hinsicht, die Bilder, die sich Israel von seiner Geschichte machte, erheblich zu retouchieren. Insofern hilft uns aber auch die Archäologie das Profil der biblischen Texte als Tendenzschriften besser zu verstehen.

1. Saul und die Anfänge Nach dem Bild also, das sich Israel im DtrG von seiner Geschichte machte, fiel das Königtum nicht vom Himmel. Es konnte sich auf keinerlei mythische Fundierung berufen wie in Ägypten und Mesopotamien.11 Es galt daher nicht als eine in der mythischen Urzeit verankerte, gleichsam ewig währende Institution12, sondern als „Errungenschaft" der Geschichte. D. h. allerdings nicht, daß das altisraelitische Königtum ohne jegliche religiöse Legitimation auskam. Vielmehr hatte JHWH den König in einer konkreten geschichtlichen Stunde, aber eben nicht von Urzeit an erwählt (lSamuel 10,24; 16,8-10; 2Samuel 6,21; lKönige 8,16) und salben lassen (lSamuel 10,1; 16,12). Das war in der Sicht des DtrG jedoch nur ein Zugeständnis an das Drängen des Volkes (lSamuel 8,19). Denn das vehemente Volksbegehren nach einem König wurde durchaus negativ als gleichzeitige Verwerfung der Herrschaft (des Königs) JHWHs beurteilt (Richter 8,22f.; lSamuel 8,7; 10,19). Daß - wie wir aus den sogenannten Königspsalmen wissen - andere, vor allem kultisch geprägte Trägerkreise, auch ganz anders und in großer Nähe zu zentralen Aussagen der altorientalischen Königsideologie von der religiösen Legitimation des israelitischen Königs reden konnten, ist ein Sachverhalt, von dem noch zu sprechen sein wird. Die theologischen Probleme, die das DtrG mit dem Königtum hatte, werden schon daran deutlich, daß nach ihm die ersten Versuche der Etablierung dieser Institution scheiterten (Richter 8,22f.; 9). Diese kritische Einstellung des DtrG zur Einfuhrung des Königtums in Israel hat wahrscheinlich zwei Ursachen. Einmal könnte sich darin eine Erinnerung an die Probleme erhalten haben, die die vormonarchische, segmentär strukturierte Gesellschaft der Sippen und Stämme Israels mit der Etablierung ei-

11

Vgl. dazu B. JANOWSKI, Königtum II, Neues Bibellexikon (NBL) Π, S. 517. Als solche begegnet es ζ. B. in der Sumerischen Königsliste. Vgl. schon deren Beginn: I 'Als das KönigftumJ vom Himmel heruntergekommen war, 2war das Königtum [Erijdu. 3 Eridu (wurde) Alulim König; 4Er regierte 28800 Jahre ... (TUAT I, S. 330). 12

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ner zentralisierten Staatsgewalt in der frühen Eisenzeit in Palästina hatten.13 Bildeten doch die im palästinischen Bergland zur Seßhaftigkeit übergegangenen bäuerlichen und halbnomadischen Bevölkerungsgruppen eine Art „Kontrastgesellschaft" zu den kanaanäischen Stadtstaaten in den Ebenen. Andererseits spiegeln sich in der kritischen Reserve gegen das Königtum wohl auch konkrete Negativerfahrungen, die man in seiner späteren Geschichte mit dieser Institution gemacht hatte, und die nach dem Konzept des DtrG fast zwangsläufig zum Untergang einer Institution fuhren mußte, die bereits von allem Anfang an eine Notgeburt war.14 Der erste, der nach den fehlgegangenen Versuchen in Israel die „Königskrone" errang, war der Benjaminit Saul aus Gibea, einem Dorf auf dem mittelpalästinischen Gebirge, ca. 5 km nördlich von Jerusalem. Saul kam aus einem wahrscheinlich nicht unbedeutenden Bauerngeschlecht (vgl. 1 Samuel 9,1; 21,8). Von einer üppigen Hofhaltung und Bemühungen, sich eine seiner Königswürde angemessene Residenz auszubauen, erfahren wir allerdings nichts. Vielmehr treffen wir, nachdem zuvor erzählt wurde, daß Saul durch ein Losverfahren zum König über Israel ermittelt worden sei (1 Samuel 10,17-27), eben diesen frischgebackenen König unmittelbar danach wieder bei seiner bäuerlichen Arbeit hinter den Rindern auf dem Felde an (lSamuel 11,5). Wahrscheinlich beschränkte sich sein Königtum weithin auf gelegentliche militärische Aktionen vor allem gegen die Philister (lSamuel 10,26; 11,1-11; 13; 15,1-9), gegen die er schließlich auch in der Schlacht von Gilboa fiel (lSamuel 31). Daß man sein Königtum als eine Art Heereskönigtum bezeichnen kann, legen lSamuel 9,16; 10,1 nahe. Dort wird Saul zunächst (noch) nicht zum mcelcek, sondern zum nagid gesalbt. Der Titel kann mit der „Erhöhte" oder „Anfuhrer" wiedergegeben werden und hat gerade in den Saul betreffenden Texten eine deutliche militärische Konnotation15. Figurative policy war offensichtlich noch kein Thema fur Saul. Falls man das „Gibea Sauls" (lSamuel 15,34) mit dem Teil el-Fül identifizieren darf, dann könnte sich Saul dort allenfalls eine bescheidene Zitadelle errichtet haben. Entsprechende Baustrukturen aus dem 11.-10. Jh. v. Chr. wurden unter einer Festung aus dem 8.-7. Jh. v. Chr. durch Paul W. LAPP freigelegt16. Ob es sich dabei allerdings um die Zitadelle Sauls handelt oder um eine Befestigungsanlage der Philister, das ist unter den Experten eine vollkommen offene Frage.

13

Vgl. dazu R. NEU, Von der Anarchie zum Staat. Entwicklungsgeschichte Israels vom Nomadentum zur Monarchie im Spiegel der Ethnosoziologie, Neukirchen 1992; Chr. SIGRIST/R. N E U (Hg.), Die Entstehung des Königtums. Ethnologische Texte zum Alten Testament Bd. 2, Neukirchen 1997. 14 Zur Königskritik in Juda und Israel siehe vor allem F. CRÜSEMANN, Der Widerstand gegen das Königtum. Die antiköniglichen Texte des Alten Testaments und der Kampf um den frühen israelitischen Staat, Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament (WMANT) 49, Neukirchen 1978, und A. MOENIKES, Die grundsätzliche Ablehnung des Königtums in der Hebräischen Bibel, Bonner Biblische Beiträge (BBB) 99, Weinheim 1995. 15 Siehe dazu G . F. HASEL, ngd, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament (ThWAT) V , S. 188-201. 16 Vgl. dazu N. L. LAPP, Tell el-Fül, in: The New Encyclopedia of Archaeological Excavations in the Holy Land (NEAEHL) 2, S. 445^48.

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17

Nach NEAEHL 2 (wie Anm. 16), S. 446.

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Daß sich Saul darum bemühte, ein geordnetes Staatswesen aufzubauen mit einer eigenen Rechtssprechung und nennenswerten Verwaltung, lassen die Texte nicht erkennen. Und für seine religiöse Praxis gilt wohl das Dictum W A L T E R D I E T R I C H S : „Offenbar denkt man ihn sich als einen, der am religiösen Leben seines Stammes, seines Volkes beteiligt ist, der aber keine eigene kultische Rolle zu spielen hat"18. Als Tempelbauer betätigt er sich nicht, vielmehr treffen wir ihn in 1 Samuel 22,6 mit der Lanze in der Hand in Gibea unter der Tamariske des dortigen Höhen(heiligtums)19 an, einem Kultort unter freiem Himmel20.

2. David in Jerusalem Der Charakter dieses Heeres- und Stammeskönigtums Sauls21 änderte sich unter seinem Nachfolger David (ca. 1004 - 965 v. Chr.) erheblich. Davids Aufstieg vom Hütejungen zum König eines Territorialstaates vollzog sich in mehreren Etappen. Nach einer Phase als Stammeskönig über Juda, während der er in Hebron residierte (2Samuel 2,1-4), gelingt es ihm schließlich auch, die Königswürde über die Nordstämme Israels zu erringen (2Samuel 5,1-5), mit denen er einen Königsvertrag abschloß. Mit der Eroberung des jebusitischen Stadtstaates von Jerusalem schließlich schuf er sich eine persönliche Residenz, die genau auf der Grenze zwischen den Süd- und den Nordstämmen Israels lag, und ihm die Möglichkeit bot, seinem Königtum ein repräsentativeres Gepräge zu geben. Trotzdem hat man sich auch Davids Hofhaltung noch als recht bescheiden zu denken. Die von David eroberte Jebusiterstadt umfaßte lediglich das Gebiet eines Bergrückens im Südosten der Stadt in der bescheidenen Ausdehnung von ca. 450 χ 150 m.

18

W. DIETRICH, Die frühe Königszeit in Israel, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 182 f. Die Septuaginta (LXX) interpretiert hier das baramah wohl zutreffend durch έν Βαμα. Eine Textänderung in Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) ist nicht erforderlich. Durch die Determination der Nomina 'cescel und ramah wird der besondere, wohl kultische Charakter von Tamariske und Höhe unterstrichen. Vgl. H. J. STOEBE, Das erste Buch Samuel, Kommentar zum Alten Testament (ΚΑΤ), Gütersloh 1973, S. 409. 20 Nach M. NIEMANN (Herrschaft, Königtum und Staat. Skizzen zur soziokulturellen Entwicklung im monarchischen Israel, Forschungen zum Alten Testament [FAT 6], Tübingen 1993, S. 193) plante Saul in Gibeon (nicht Gibea!) mit seinem bekannten Höhenheiligtum (lKönige 3,4) den Ausbau seiner Residenz. Falls solche Pläne überhaupt bestanden, so kamen sie nicht mehr zur Ausführung. Jedenfalls kommt auch NIEMANN ZU dem eindeutigen Ergebnis, daß Saul in kultpolitischen Fragen kaum in irgendeiner Weise aktiv geworden sei. 21 So auch die Charakterisierung durch M. WEIPPERT, Königtum I, in: Neues Bibel Lexikon (NBL) 2, S. 514: „Sein K.(önigtum) war allerdings rudimentärer Art (weshalb manche es als Häuptlingsherrschaft / chiefdom auffassen), wohl weil Zeit und Mittel zur Konsolidierung fehlten ..." 19

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Abb. 4: Plan der Davidsstadt. Der Erzähler weiß zu berichten: Und David ließ sich nieder in der Bergfeste (bamm'zudah) und nannte ihren Namen Davidsstadt und baute ringsum vom Millo (hammilllo') und (stadt-) einwärts (wabaftah) . Und David wurde größer und größer, und JHWH, der Gott Zebaoth, war mit ihm. Chiram aber, der König von Tyros, schickte Arbeiter mit Zedernholz, Zimmerleute und Steinmetze, und sie bauten David einen Palast. (2Samuel 5,9-11) 22

Die Lesung der LXX και τόν οίκον αυτού stellt ein Mißverständnis des hebräischen bjth dar.

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Der Abschnitt faßt vier Maßnahmen zusammen, die Davids Etablierung in Jerusalem als seiner persönlichen Residenz unterstreichen: 1. Er wählt die durch ihre natürliche Lage gut zu sichernde Bergfeste Jerusalem als Wohnort. 2. Er gibt der Stadt seinen Namen „Davidsstadt" und unterstreicht damit seinen Anspruch auf sie als Königsresidenz und persönlichen Besitz. 3. Er führt erste Baumaßnahmen durch, die wahrscheinlich der Sicherung der Befestigungsanlagen dienten23. 4. Für die Errichtung seines persönlichen Palastes24 läßt er sich Spezialisten aus Tyros kommen. Mit David beginnt also für Israel das, was CHRISTOPH U E H L I N G E R figurative policy genannt hat: die bewußte Auswahl einer Residenzstadt, ihr Ausbau zur militärischen Festung und eine durch Palastbau öffentlich demonstrierte Hofhaltung. Daß David für den Palastbau (wahrscheinlich an der Stelle der spätbronzezeitlichen jebusitischen Akropolis) auf den Transfer von ausländischem Personal, Know-how und Material angewiesen war, macht nur zu deutlich, in welchem Maße sich die im stadium nascendi befindliche Monarchie in Israel nicht nur militärisch herausgefordert fühlte, sondern auch eine kulturelle und ökonomische Transformation einleitete. Das Bedürfnis nach Repräsentation und öffentlicher Inszenierung beschränkte sich nicht mehr wie bei Saul auf gelegentliche militärische Aktionen. Es trachtete vielmehr danach, sich durch entsprechende Baumaßnahmen dauerhafte Strukturen zu schaffen. Zur Ausgestaltung Jerusalems als Residenzstadt der jungen israelitischen Monarchie gehörten auch einige Kultmaßnahmen, die ganz deutlich der Legitimation und Absicherung des davidischen Königtums dienten. Die wichtigste davon war die Überfuhrung der Lade nach Jerusalem. Dabei handelte es sich um ein ursprünglich im Tempel von Schilo aufbewahrtes transportables Kultobjekt (lSamuel 3,3; 4,3ff). Das hebräische Wort '"rön (Lade) bezeichnet einen Kasten. An ihm waren seitlich zwei Tragestangen angebracht. Da dieses Kultobjekt in der Frühzeit vor allem in militärischen Kontexten im Rahmen der Traditionen vom „Heiligen Krieg" begegnet (Numeri 10,35f.; lSamuel 4,1-11), hat man es sich wohl als eine Art Kriegspalladium vorzustellen, das für die mittelpalästinischen Stämme Benjamin und Ephraim, die im Einzugsbereich des Heiligtums von Schilo siedelten, von hohem Symbolwert war25. In ihm konzentrierte sich die

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Zum bislang nicht eindeutig geklärten Problem des Millo und seiner Zuweisung an David oder Salomo siehe H.-J. STOEBE, Das Zweite Buch Samuelis, (ΚΑΤ), Gütersloh 1994, S. 169 ff.; M. GÖRG, Millo, in: NBL 2, S. 814; E. OTTO, Jerusalem - die Geschichte der Heiligen Stadt, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980, S. 49, und K. BIEBERSTEIN/H. BLOEDHORN, Jerusalem. Grundzüge der Baugeschichte vom Chalkolitikum bis zur Frühzeit der osmanischen Herrschaft, in: Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients (BTAVO) 100/1, Bd.l, Wiesbaden 1994, S. 61 ff. H. WEIPPERT (Palästina in vorhellenistischer Zeit, München 1988, S. 457) sieht in 2Samuel 5,9 einen Vorgriff auf die Baumaßnahmen Salomos. Vgl. 1 Könige 9,24; 11,17. 24 Zur möglichen Lage des archäologisch (noch) nicht nachweisbaren Palastes siehe Nehemia 12,37 und die präzisen Ausführungen von K. BIEBERSTEIN/H. BLOEDHORN (Anm. 23), S. 64. 25

Siehe zur Ladetradition E. REUTER/M. GÖRG, Lade, in: NBL 2, 574-578; R. SCHMITT, Zelt und Lade als Thema alttestamentlicher Wissenschaft, Gütersloh 1972, und die knappe Zusammenfassung bei O. KEEL, Fern von Jerusalem. Frühe Jerusalemer Kulttraditionen und ihre Träger und Trägerinnen, in: F. HAHN U. a. (Hg.), Zion Ort der Begegnung, Festschrift L. KLEIN, (BBB) 90, Bodenheim 1993, S. 4395 0 2 , bes. 4 6 3 ff.

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Präsenz und Mächtigkeit der durch die Lade symbolisierten Gottheit26. Ob es sich dabei um eine Art Thronpodest für diese unsichtbare Gottheit handelte27, bleibt offen28. Dieses Kultobjekt der mittelpalästinischen Stämme überführte David in einer Staatsaktion nach Jerusalem (2Samuel 6). Wahrscheinlich wollte er damit gerade die Nordstämme Israels auch kultisch stärker an die neue Residenzstadt Jerusalem anbinden. Der Ladekult, der bisher nur von tribaler Bedeutung war, avancierte zum königlichen Staatskult. Damit diente er der Integration von kultischen Traditionen der mittel- und nordpalästinischen Stämme in diejenigen der Südstämme, des Hauses Juda, aus dem David kam. Neben dieser integrativen Funktion für die unterschiedlichen Stammestraditionen bekam die Lade aber durch diesen Akt der Überfuhrung in die Residenz des Königs auch einen legitimatorischen Charakter. David präsentierte sich als Hüter der heiligen Traditionen nicht nur des eigenen Stammes, sondern auch der Nordstämme. So wie er ihren kultischen Traditionen öffentlich huldigte, so konnte er von ihnen als Gegenleistung Loyalität erwarten. Die Überfuhrung der Lade war also ein Kultakt von höchster Symbolkraft, der der Reichseinigung und der Absicherung eines Königtums diente, das - im Gegensatz zu Saul - deutlich an der Zusammenfuhrung tribaler Strukturen interessiert war. Dieser symbolische Akt der Ladeprozession nach Jerusalem, der Volksfestcharakter annahm (2Samuel 6,19), machte allerdings auch aus David noch keinen Tempelbauer. Sicherlich hatte bereits der vordavidische Stadtstaat Jerusalem einen jebusitischen Stadttempel, in dem der Stadtgott Schalim verehrt wurde29. Dieser in der Forschung immer wieder postulierte jebusitische Tempel wird allerdings von David nicht tangiert. Offensichtlich respektierte er die kultischen Traditionen der eingesessenen jebusitischen Bevölkerung. Und so ließ er die Lade in ein eigenes von ihm errichtetes Zeltheiligtum (2Samuel 6,17) in der Nähe seiner Residenz, oder sogar in den Palastbezirk selbst (2Chronik 8,11) überfuhren30. Auf diese Weise rücken das altisraelitische Stammesheiligtum und das davidische Königtum enger zusammen. 26

Daß dies nicht von Anfang an JHWH, der Gott Israels gewesen sein muß, wird u. a. von W. ZWICKEL, Der Salomonische Tempel, Mainz 1999, S. 105 ff., vermutet, der an eine Verbindung mit dem kanaanäisch-syrischen Göttervater El denkt. 27 So ζ. Β. M. METZGER, Königsthron und Gottesthron, Alter Orient und Altes Testament (AOAT) 1 5 / 1 , Neukirchen 1 9 8 5 , 3 5 2 ff. und W . ZWICKEL (Anm. 2 6 ) , S. 1 0 6 . 28 Siehe die Kritik an der Verbindung der Lade mit Thronvorstellungen bei B. JANOWSKI, Keruben und Zion. Thesen zur Entstehung der Zionstradition, in: ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Neukirchen 1993, S. 2 4 7 - 2 8 0 , bes. 2 4 2 ff. 29 Die wahrscheinlichste Deutung des Namens Jerusalem ist immer noch „Gründung des (Gottes) Schalim". Vgl. M . KÜCHLER, Jerusalem, in: NBL 2 , S. 2 9 5 ; E. OTTO (wie Anm. 2 3 ) , S. 4 0 ; W . ZWICKEL ( w i e A n m . 2 6 ) , S. 1 5 f. 30

Daß sich das Zeltheiligtum für die Lade außerhalb des befestigten Jerusalem an der Gihonquelle befand, wie W. ZWICKEL (wie Anm. 26, S. 21 f.) vermutet, ist wenig wahrscheinlich. Die von ihm dafür angeführten Belegstellen (2Samuel 6,17; lKönige l,33f.39.50-53; 2,28-30) können die Beweislast kaum tragen. Die Verbindung, die im Zusammenhang der Salbung Salomos zum König zwischen dem Zeltheiligtum JHWHs und der Gihonquelle in lKönige l,33f.39 hergestellt wird, läßt sich auch anders erklären. V.39 sagt ja in keiner Weise aus, daß das Zelt, aus dem der Priester Zadok das Salbhorn holte, auch an der Gihonquelle lag. 2Samuel 6,17 geht davon aus, daß es sich ganz in der Nähe

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Offensichtlich haben sich spätere Generationen die Frage gestellt, warum der in höchstem Ansehen stehende König David es bei diesem Zeltheiligtum fur JHWH beließ und dem Gott Israels in der neuen Residenz keinen Tempel baute31. Dachte er nur an sich und seinen Palast? Noch die aus dem 3. Jh. v. Chr. stammenden Chronikbücher legen allergrößten Wert darauf zu betonen, daß David seinerseits bereits alles zur Vorbereitung für den Tempelbau getan habe (IChronik 21f.; 28-29). Die Texte sind ganz offensichtlich darum bemüht, jeden Eindruck zu unterdrücken, daß dies ein Versäumnis Davids gewesen sei. Auf diese Frage nach dem nichtgebauten JHWH-Tempel gibt 2Samuel 7, die bekannte Nathansweissagung (vgl. IChronik 17,1-15), eine ganze Reihe von Antworten. Der Text weist eine überaus komplizierte Wachstumsgeschichte auf und ist mehrfach überarbeitet worden32. In seiner jetzt vorliegenden Gestalt teilt er uns mit, David habe einen solchen Tempelbau zwar beabsichtigt (V.l-3), Gott selbst aber habe ihn daran gehindert (V.6f.). Der Hofprophet Nathan teilt, nachdem er dem Unternehmen zunächst uneingeschränkt zustimmte (V.3), David ein nächtlich empfangenes JHWH-Wort mit (V.4), das durch die Frage eröffnet wird: Du willst mir ein Haus bauen, damit ich (darin) wohne? (V.5)

Und die Antwort, die ihm auf dieses Vorhaben zuteil wird: JHWH läßt dir künden, daß er, JHWH, dir ein Haus (Dynastie) errichtet.

(V.llb)

Frage und Antwort lassen eine kritische Distanz der Autoren zum Tempelbauprojekt (Davids) erkennen. Der Gott Israels hat es nicht nötig, daß der König ihm einen Tempel baut, vielmehr ist er selbst es, der dem König ein Haus im Sinne einer Dynastie (V.16) errichtet. Das Tempelbauprojekt soll schließlich seinem Sohn Salomo vorbehalten bleiben (V.13)33. Die Art und Weise, in der sich die biblischen Autoren mit der Frage auseinandersetzen, warum David keinen JHWH-Tempel gebaut hat, lassen eines deutlich erkennen: Auch ihnen war offensichtlich inzwischen der für den Alten Orient selbstverständliche Konnex zwischen Königtum und Tempelbau vollkommen vertraut. Das wird schon daran deutlich, daß in 2 Samuel 7 ganz ähnliche Motivkombinationen begegnen wie in den altorientalischen Tempelbauinschriften (der König als Tempelbauer und

der Residenz Davids oder in dieser selbst befand Denn Michal konnte David aus dem Palastfenster bei der Überführung der Lade bestens beobachten. Und nach 2Chronik 8,11 hatte die Lade (mit dem Zelt?) im Hause Davids, das er sich gebaut hatte, ihren vorläufigen Platz gefunden. 31 Zwar ist in 2Samuel 12,20 davon die Rede, daß David in das „Haus JHWHs", also den Tempel, ging. Dabei handelt es sich aber entweder um das Ladeheiligtum (so u. a. G. W. AHLSTRÖM, Der Prophet Nathan und der Tempelbau, [VT XI], 1961, S. 113-127, bes. S. 126) oder um einen echten A n a c h r o n i s m u s . V g l . H.-J. STOEBE ( w i e A n m . 2 3 ) , S. 2 9 9 f. 32

Zur komplizierten Entstehungs- und Redaktionsgeschichte von 2Samuel 7 vgl. G. HENTSCHEL, Gott, König und Tempel, Erfurter Theologische Studien (EThSt 22), Leipzig 1992. 33 V. 13 wird häufig als späterer Zusatz zur durch Nathan vermittelten Gottesrede betrachtet. Wenn dies zutrifft, dann erhält die Ablehnung des Tempelbaus in 2Samuel 7,1-17 noch grundsätzlicheren Charakter. 2Chronik 28,3 begründet das Verbot JHWHs an David, den Tempel zu bauen, damit, daß David ein Krieger sei, der Blut vergossen habe. Aus diesem Grunde fehlte ihm die fur solch ein Unternehmen notwendige kultische Reinheit.

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erfolgreicher Krieger [V.l]; das Traummotiv [V.4]; die Dynastiezusage [V.11.16])34. Dabei ist aber nicht zu übersehen, daß die Funktion der Motive in der biblischen Überlieferung teilweise in ihr Gegenteil verkehrt wird. So dient die nächtliche Offenbarung an den Hofpropheten Nathan nicht dazu, den Tempelbau in Gang zu bringen, sondern diesen zu verhindern.35 Und die Dynastiezusage ergeht an David nicht als Gegenleistung für den Tempelbau, sondern für den Verzicht darauf. Hier kommt ganz offensichtlich eine späte Sicht zum Zuge, die den Konnex von Königtum und Tempelbau kritisch beurteilt und über die noch zu sprechen ist. Wahrscheinlich stammt sie aus der Zeit des Exils oder gar erst der frühnachexilischen Epoche, in der die Fragen des Wiederaufbaus des durch die Babylonier zerstörten Jerusalemer Tempels und der Wiedererrichtung der davidischen Dynastie einer kontroversen Debatte ausgesetzt waren.

3. Salomo der Tempelbauer Der erste König in Israel, der ganz offensichtlich ein Gespür dafür entwickelte, daß die Bautätigkeit ein politischer und religiöser Faktor von Gewicht ist, war Salomo. Er hat Jerusalem durch die Errichtung eines Palast- und Tempelbezirkes nach Norden erheblich erweitert.

34

Auf diese Gemeinsamkeiten machen auch T. ISHIDA, The Royal Dynasties in Ancient Israel. A Study of the Formation and Development of Royal-Dynastic Ideology, Beihefte zur Zeitschrift ftlr die alttestamentliche Wissenschaft (BZAW 142), Berlin/New York 1977, S. 85ff„ E. KUTSCH, Die Dynastie von Gottes Gnaden, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK) 58, 1961, S. 137-153, und G. HENTSCHEL, (wie Anm. 32), S. 42 ff. aufmerksam. 35

So auch O. KEEL (wie Anm. 2), S. 249. Vgl. zu den Baumaßnahmen Salomos vor allem H. WEIPPERT, Palästina in vorhellenistischer Zeit, S. 457^76. 36

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Daß die Baumaßnahmen Salomos innerhalb der Salomoüberlieferung (1 Könige 1-11) im Zentrum stehen (Kap. 6-8) läßt bereits erkennen, welches Gewicht die Erzähler diesem Geschehen verliehen haben. Schon die Kombination von Palast und Tempel macht deutlich, daß der Tempelbau unter Salomo für das Selbstverständnis der davidischen Dynastie zu einem Ereignis von höchster Bedeutung avancierte.

I äußerer Palasthof II Innerer Palasthof III Tempelhof Α Säulen- und Eingangshalle Β Audlenzhalle C Libanonwaldhaus D Privatgemächer Β Tempel Abb. 6: Rekonstruktion des Palast- und Tempelareals Salomos37. Der Tempel wurde damit nicht nur die persönliche Hauskapelle des Königs, sondern Staatsheiligtum38. In der Forschung ist es nach wie vor umstritten, ob der Tempel Salo37

Nach K. Galling, Biblisch-historisches Handwörterbuch (BHH) Π, S. 827. Siehe auch die ausführliche Darstellung des Tempels Salomos von Th. A. Busink, Der Tempel von Jerusalem von Salomo bis Herodes, Bd. I, Leiden 1970.

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mos einen Vorgängerbau hatte39, den Salomo lediglich übernahm und ausbaute, oder ob es sich um einen vollkommenen Neubau handelte40. Wie immer auch diese Frage zu beantworten ist, die Beschreibung des Tempels und seiner Ausstattung läßt deutlich erkennen, daß in ihm nicht nur genuin israelitische Traditionen Gestalt annahmen, sondern auch kanaanäisches und jebusitisches Erbe weiterlebte. In seiner Grundform entsprach der Tempel dem Typ des in der Regel dreigeteilten syrischen Langhaustempels,

41

Abb. 7: Rekonstruktion des Salomonischen Tempels

Dabei ist allerdings zu beachten, daß die Palastanlagen von ihrer Größe her und auch von ihrer Bauzeit her den Tempel stark dominierten. Das DtrG hat allein durch seine tempelorientierte Darstellung der Bautätigkeit Salomos den Tempel erheblich aufgewertet. Siehe zu den Größenverhältnissen O . KEEL ( w i e A n m . 2 5 ) , S. 4 7 8 . 39

So vor allem die These von K . RUPPRECHT, Der Tempel von Jerusalem - Gründung Salomos oder jebusitisches Erbe?, (BZAW 144), Berlin/New York, 1977. 40 Siehe die Darstellung der Diskussion bei W. ZWICKEL, (wie Anm. 26), S. 29 ff. 41 Nach H. WEIPPERT (wie Anm. 23), S. 463.

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bestehend aus einer Vorhalle ('ulam), der Tempelhalle (hekal) und dem Allerheiligsten (tfbir). Die sakrale Inszenierung der Herrschaft Salomos und seiner Nachfolger kam von nun an nicht nur durch das räumliche Nebeneinander von Palast und Tempel zum Ausdruck, sondern durch vielfältige Bezüge, von denen hier nur einer näher zu betrachten ist, die Throntheologie. Das Herz der Macht, gleichsam ihr energetisches Zentrum, bildet der Thron des Königs. Von ihm aus regiert er sein Reich. Unter der Aufzählung der Schätze und Reichtümer Salomos begegnet eine Beschreibung des Thrones Qkisse), der in der dafür eigens gebauten Thronhalle (lKönige 7,7: ''ulam hakkisse') errichtet worden war42: Dann ließ der König einen großen Thron aus Elfenbein anfertigen und mit Feingold überziehen. Sechs Stufen waren an dem Thron, Stierköpfe hatte der Thron oben rückwärts, auf beiden Seiten waren am Sitz Armlehnen, und neben den Armlehnen standen zwei Löwen. Auf den sechs Stufen standen zu beiden Seiten zwölf Löwen. So etwas ist noch nie für irgendein Königreich angefertigt worden. (lKönige 10,18-20)

Das abschließende Urteil über den Thron Salomos erging wohl ad majorem regis Denn wir kennen durchaus vergleichbare Vorbilder für den Löwenthron Salomos aus Ägypten.

gloriam.

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Zum Thron Salomos siehe vor allem M. METZGER (wie Anm. 27), Bd. I, S. 297 ff.; DERS., Der Thron als Manifestation der Herrschermacht in der Ikonographie des Vorderen Orients und im Alten Testament, in: T. RENDTORFF (Hg.), Charisma und Institution, Gütersloh 1985, S. 250-295. 43 Nach M . METZGER (wie Anm. 27), Bd.n, S. 77, Abb. 268.

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Die Löwen fungieren dabei wohl als schützende Wächtertiere, die das Böse vom König und seinem Reich fernhalten und auf magische Weise den Einbruch chaotischer Mächte verhindern sollen. Die Kostbarkeit des Materials, aus dem der Löwenthron Salomos gefertigt war, und die Tatsache, daß er gleichsam zum Staatsschatz gehörte, unterstreicht die einzigartige Bedeutung des Thrones fur die königliche Selbstdarstellung und Inszenierung der Macht. Gleichsam in Entsprechung zum Thron des Königs ließ Salomo im Allerheiligsten des neu erbauten Tempels einen überdimensionalen Kerubenthron für JHWH errichten. So, wie er bei seinem eigenen Thron wohl an ägyptische Vorbilder anknüpfte, so nahm er mit dem Kerubenthron JHWHs wahrscheinlich jebusitische Traditionen auf, die bereits im vorisraelitischen Jerusalemer Stadtkult eine Rolle spielten44. Vieles spricht dafür, daß das mit JHWH verbundene Gottesepitheton der „Kerubenthroner" (joseb hakkerubim) ursprünglich im Jerusalemer Stadtkult beheimatet war. Bei den Keruben handelt es sich um Sphingen, Mischwesen, bestehend aus einem Löwenkörper, Menschenkopf und Flügeln 5. Dabei war das Kerubenpaar im cfbir des Tempels parallel angeordnet, so daß sich die beiden inneren Flügel berührten und wohl den Thronsitz für die unsichtbar auf ihnen thronende Gottheit bildeten. Vergleichbare Kerubenthrone für Könige sind uns aus Ägypten, aber auch aus dem syrischen Raum bekannt.

44

Das wurde vor allem von B . JANOWSKI (wie Anm. 28), S. 251 ff. herausgearbeitet. Siehe dazu aber auch O. KEEL (wie Anm. 25), S. 482 ff. 45 Siehe dazu O. KEEL, Jahwe-Visionen und Siegelkunst. Eine neue Darstellung der Majestätsschilderungen in Jes 6, Ez 1 und 10 und Sach 4, Stuttgarter Bibelstudien (SBS) 84/85, Stuttgart 1977, S. 15-45.

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A

eg Ε

Abb. 9: Kerabenthrone auf einer Elfenbeingravour aus Megiddo, 13.-12. Jh. v. Chr., und dem südlichen Libanon, 7. Jh. v. Chr.46. Der Löwenthron Salomos und der diesen bei weitem noch überragende Kerubenthron seines Gottes JHWH standen wohl nicht beziehungslos im Tempel- und Palastbezirk auf dem Zionsberg. Vielmehr visualisieren sie eindrücklich den Gesamtkomplex von Herrschaft und Heiligkeit. So, wie der irdische Herrscher von seinem Thron aus das Land regiert und den chaotischen Mächten Einhalt gebietet, so thront der unsichtbare Gottkönig JHWH auf dem Tempelthron und regiert von ihm aus die Völkerwelt. Damit läßt sich auf dem Weg von Saul zu Salomo eine zunehmende Sakralisienmg von Herrschaft und deren Visualisierung durch figurative policy feststellen. Diese wachsende Sakralisierung von Herrschaft geht mit ihrer Internationalisierung einher. Über die sich festigende Institution des Königtums in Jerusalem gewinnen auch Strukturen der altorientalischen Königsideologie im religiösen Symbolsystem Israels zunehmend an Boden. So können schließlich in den sogenannten Königspsalmen (Psalm 2; 18; 20; 21; 45; 72; 89; 101; 110) wesentliche Mythologeme der altorientalischen Königsideologie in die Glaubenswelt Israels übernommen werden: Sohnschaft und Zeu46

Nach W. ZWICKEL (wie Anm. 26), S. 102 f.

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gung (als Adoption zu deuten?) durch die Gottheit (Psalm 2,7), Erstgeborener Gottes (Psalm 89,28), Einsetzung zur Rechten Gottes (Psalm 110,1)47. Das hat sicherlich zwei Ursachen. Einmal sind ohne Zweifel die wachsenden internationalen Verflechtungen des sich konstituierenden davidisch-salomonischen Reiches dafür verantwortlich. Kulturkontakte fuhren auch zur Anreicherung religiöser Vorstellungswelten. Zum anderen - und das ist wahrscheinlich noch bedeutsamer - betraten David und Salomo mit Jerusalem kein religiöses Niemandsland. Ein Teil der religiösen Topoi der altorientalischen Königsideologie lag im jebusitischen Stadtstaat, der, wie wir wissen, über eine lange Erfahrung mit der Institution des Königtums verfugte, für die sich neu etablierenden Herrscher bereits bereit und bedurfte lediglich der Aktivierung48. Wenn es zutrifft, daß David mit Zadok (2Samuel 15,24; 17,15) neben dem nach Jerusalem mitgebrachten Oberpriester Abjatar, auch den Oberpriester des Jerusalemer Jebusiterheiligtums in seine Dienste übernahm49, dann liegt es auf der Hand, wie es zur Ausbildung und zunehmenden Sakralisierung des Königtums in Jerusalem kam. Eines muß allerdings am Ende dieses Abschnittes festgehalten werden: Bei alledem handelte es sich fast ausschließlich um eine Jerusalemer Angelegenheit. Der „Königskult" mit Palast- und Tempelbau war wohl ein typischer Residenz- und Hauptstadtkult. Neben ihm existierten ganz sicherlich vielfaltige Lokalkulte und Formen der privaten Frömmigkeit, auf die David und Salomo weder durch eine entsprechende Baupolitik, noch durch andere kultorganisatorische Maßnahmen Einfluß nahmen50.

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Siehe dazu J. H. EATON, Kingship and the Psalms, Studies in Biblical Theology (SBT) 32, 2 1986, und O . LORETZ, Die Königspsalmen, Ugaritisch-biblische Literatur (UBL) 6, Altenberge/Münster 1988. Zum Königtum Gottes in den Psalmen siehe J. JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen. Israels Begegnung mit dem kanaanäischen Mythos in den Jahwe-König-Psalmen, Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments (FRLANT) 141, Göttingen 1987 und B. JANOWSKI, Das Königtum Gottes in den Psalmen. Bemerkungen zu einem neuen Gesamtentwurf, in: ders., Gottes Gegenwart in Israel, Neukirchen 1993, S. 148-213. 48 Zum vordavidischen Jerusalem siehe F. STOLZ, Strukturen und Figuren im Kult von Jerusalem. Studien zur altorientalischen, vor- und frühisraelitischen Religion, (BZAW 118), Berlin/New York 1 9 7 0 ; O. KEEL ( w i e A n m . 2 5 ) , S. 4 4 2 - 4 6 2 ; E. OTTO ( w i e A n m . 2 3 ) , S . 3 8 ff. 49

Die Herkunft Zadoks ist nicht mehr mit Sicherheit aufzuklären. Κ. D. SCHUNCK, Benjamin. Untersuchungen zur Entstehung eines israelitischen Stammes, (BZAW 86), Berlin 1963, S. 114 ff. S. 131 ff, J. BLENKINSOPP, Gibeon and Israel. The Role of Gibeon and the Gibeonites in the Political and Religious History of Early Israel, Cambridge 1972, S. 53 ff. und Μ . NIEMANN (wie Anm. 20), S. 193, plädieren nach IChronik 12,29; 16,39 für eine Herkunft Zadoks aus Gibeon. Danach habe David ihn nach Jerusalem mitgebracht. R. ALBERTZ, Reügionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bd.1, Altes Testament Deutsch Ergänzungsband (ATD Erg.) 8/1, Göttingen 1992, S. 194 f., O. KEEL (wie Anm. 25), S. 470 ff. u. a. begründen mit guten Argumenten die Verwurzelung Zadoks in Jerusalem. 50 Hier haben die Untersuchungen M. NIEMANNS (Herrschaft, Königtum und Staat [wie Anm. 2 0 ] , S. 202) zu einem recht klaren Ergebnis geführt. Er stellt fest, „daß bis in die Spätzeit der Monarchie königlich-kultorganisatorisches Engagement im Südreich sich von Anfang an zunächst und vor allem auf Etablierung und Ausbau eines königlichen legitimierenden Kultes in der Residenz konzentrierte."

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4. Kult und Königtum im Nordreich Israel Nach dem Tode Salomos zerbrach das Reich in das Nordreich Israel und das Südreich Juda (926 v. Chr.). Die Eigeninteressen der im davidisch-salomonischen Großreich fortbestehenden Stammesstrukturen brachten die Wiederbelebung alter Spannungen mit sich, die schließlich den Bruch herbeiführten (1 König 12,1-25). Nun gab es plötzlich zwei Könige in Israel, den Davididen Rehabeam (926-910 v. Chr.) in Jerusalem und Juda und den ehemaligen Fronvogt Salomos (1 Könige 11,26-40), Jerobeam I. (927-907 v. Chr.), für die Nordstämme. Doppelkönigtümer stellen die Frage der Legitimation des jeweiligen Königs und der Identifikation mit ihm in besonderer Schärfe. Rehabeam verfugte mit Jerusalem über alle äußeren Voraussetzungen für die politische und religiöse Fundierung seiner Königswürde. Dem Nordreich fehlte hingegen eine vergleichbare Residenz mit einem entsprechenden Heiligtum als Identifikationszentrum fur die Nordstämme. So mußten die ersten israelitischen Könige mit wechselnden Hauptstädten auskommen (Sichern, Pnuel, Tirza), bis schließlich Omri (882-871 v. Chr.) um 880 v. Chr. Samaria als Residenz erwarb und ausbaute. Jerobeam I. jedoch hatte unmittelbar nach der Reichsteilung erkannt, daß das Projekt der Eigenstaatlichkeit des Nordreiches nur dann Erfolg haben könnte, wenn er den Nordstämmen religiöse Identifikationszentren anzubieten hätte, die eine wirksame Konkurrenz zu Jerusalem darstellten (1 Könige 12,26f.). So gehörte zu seinen ersten Regierungsmaßnahmen der Ausbau der beiden altisraelitischen Stammesheiligtümer Bethel und Dan, die gleichsam die Süd- und die Nordgrenze des Nordreiches markierten. In ihnen ließ er zwei goldene Stierbilder aufstellen, die wahrscheinlich als Postamenttiere für den unsichtbar auf ihnen stehenden Gott JHWH vorzustellen sind (lKönige 12,28-33). Entsprechende Götterfigurinen mit den dazugehörenden Postamenttieren sind im kanaanäischen, phönizischen und syrischen Raum mehrfach nachgewiesen.

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Abb. 10: Stier mit stehender Gottheit aus Byblos51. Dabei konnte dann auch das entsprechende Attributtier die Gottheit selbst vertreten.

Abb. 11: Bronzestier aus dem Heiligtumsbezirk von Dotan52. Die fur diese Stierbilder ausgebauten Heiligtümer werden als miqdaS mcelcek (Königsheiligtum) bezeichnet (Arnos 7,13). Daran wird deutlich, daß Jerobeam diese ursprünglich lokalen Heiligtümer durch seinen Ausbau zu Reichsheiligtümern erhob. Sie dienten selbstverständlich der Legitimierung und Sicherung des eigenständigen nordisraeliti51

Nach S. SCHROER, In Israel gab es Bilder. Nachrichten von darstellender Kunst im Alten Testament, Orbis Biblicus et Orientalis (OBO) 74, Freiburg/Göttingen 1987, S. 546. 52 Nach S. SCHROER (wie ANM. 51), S. 524.

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sehen Königtums. Das ist in der Auseinandersetzung zwischen dem Propheten Arnos und dem Betheler Oberpriester Amazja (Arnos 7,10-17) klar erkennbar. Wer im Königsheiligtum gegen den israelitischen König weissagte, wie Arnos gegen Jerobeam II. (787-747 v. Chr.), zettelt Aufruhr im Lande an. Jedoch hat Jerobeam I. als „Tempelbauer" mit der Einrichtung der beiden Heiligtümer von Bethel und Dan nicht ausschließlich persönliche und königliche Interessen verfolgt. Die Tatsache, daß er diese Heiligtümer gerade nicht in einer der Residenzen des Nordreiches einrichtete53, sondern auf ihrer Nord- und Südgrenze, spricht dafür, daß diese eine limitische Funktion gegenüber den Nachbarn bekamen54. JHWH, der Gott der Grenzheiligtümer, sollte eben nicht nur den persönlichen Machtanspruch des Königs, sondern auch die Grenzen des Reiches sichern. Fortan gehörte sowohl in Juda wie im Nordreich Israel der Bau, die Instandhaltung und Unterhaltung der Staatsheiligtümer zu den vornehmsten Aufgaben des Königs (2Könige 12,5f.; 16,1 Off.; 22,3ff.). In ihm spiegelte sich die wechselseitige Fürsorge zwischen der Gottheit und dem jeweiligen König. Dies galt bis zum Untergang des Nordreiches Israel unter dem Ansturm der Assyrer 722 v. Chr. und des Südreiches Juda, das mit Jerusalem und seinem Tempel 587 v. Chr. den Babyloniern zum Opfer fiel.

5. Ausblick Nach dem Siegeszug des Perserkönigs Kyros II. und seiner kampflosen Einnahme Babylons 539 v. Chr. kam es zum Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels55, nicht aber zur von bestimmten Kreisen erhofften Wiedererrichtung der davidischen Dynastie. Dabei gab es Befürworter (Haggai, Sachaqa) und Gegner (Tritojesaja) dieser Projekte. Die Gegner, die ζ. B. in Jesaja 66, lf. das Wort nehmen, können darauf verweisen, daß der Tempelbau nicht die häufig mit ihm erhofften Wirkungen hatte. Er konnte weder der davidischen Dynastie, noch der Residenzstadt Jerusalem, noch dem in ihr errichteten Zionsheiligtum selbst Unverletzlichkeit und Dauer garantieren.: So spricht JHWH: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße. Was für ein Haus wolltet ihr mir bauen, und welcher Art ist der Ort meiner Ruhestatt? Hat doch alles dies meine Hand gemacht, alles dies ist mir zu eigen, spricht JHWH. (Jesaja 66,1 f.) 53

Auch das spätere Samaria war fur die Nordreichsbevölkerung kultisch - wenn überhaupt - eher von marginaler Bedeutung. 54 M. N I E M A N N (wie Anm. 20), S. 216, charakterisiert die Funktion der beiden Heiligtümer von Bethel und Dan zutreffend: „Durch diese gezielte kultorganisatorische Umgrenzung des Nordreichsgebietes und Abgrenzung von Juda bzw. Jerusalem werden die beiden Hauptfunktionen der königlichen Kultorganisation im Nordreich erkennbar: Abgrenzung von Juda/Jerusalem und Integration der verschiedenen Bewohnergruppen des im Vergleich zu Juda viel größeren und geomorphologisch wie gruppenmäßig stärker gegliederten Gebietes." 55 Siehe dazu I. WILLI-PLEIN, Warum mußte der Zweite Tempel gebaut werden?, in: B. E G O / A . L A N G E / P . PILHOFER, Gemeinde ohne Tempel - Community without Temple, Wissenschaftliche Untersuchung zum Neuen Testament (WUNT) 118, Tübingen, S. 57-74.

Der König als Tempelbauer

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So gewinnt die theologische Kritik an dem bekannten Konnex von Königtum und Tempelbau grundsätzliche Bedeutung56. Aus dieser Zeit stammt wahrscheinlich auch diejenige Bearbeitungsschicht von 2Samuel 7,57 die den beabsichtigten Tempelbau Davids mit dem Argumenten ablehnt, JHWH, der Gott Israels, habe bisher kein Haus gebraucht und benötige das auch in Zukunft nicht (V.7) und nicht der König sei es, der etwas für die Gottheit tun kann, um aus diesem Tun dann gleichsam seine sakrale Legitimation herzuleiten, sondern Gott tue etwas für den König. Er baue ihm ein Haus, eine Dynastie (V.ll). Gott, der Schöpfer, hat das Handeln des Menschen nicht nötig, der irdische König bleibt dagegen auf das alleinige Handeln Gottes angewiesen. Es ist allerdings nicht uninteressant, daß es auch weiterhin in der persischen Provinz Jehud andere Stimmen gab, die nach wie vor damit rechneten, daß es mit dem Neubau des Tempels auch zur Wiederbelebung der davidischen Dynastie käme. So ist es wohl kein Zufall, daß die Propheten Sachaija und vor allem Haggai geradezu elektrisiert davon waren, daß die entscheidende Person fur die Wiedererrichtung des Tempels von Jerusalem, Serubbabel, nach IChronik 3,19 ein Enkel des vorletzten davidischen Königs Joj achin war. So hoffte Haggai, daß mit dem Wiedererstehen des Tempels auch Serubbabel zum neuen König von Jerusalem erwählt würde (Haggai 2,20-23) 8. Jedoch hat sich diese Hoffnung nur zum Teil erfüllt. Der Tempel wurde erneut errichtet und 515 v. Chr. geweiht, nicht aber das Königtum. Was aus Serubbabel wurde, wissen wir nicht. Die entscheidende Figur neben ihm, die die Geschicke in der Provinz Jehud in die Hand nahm, war der Hohepriester Joschua. Mit ihm wurde das Hohepriestertum zu einer zentralen Institution für das Judentum in der Zeit des Zweiten Tempels. Jedoch gab dieses die Hoffnung auf einen König niemals auf. Nach Sachaija 6,9-14 erhält der Prophet den Auftrag, den Hohenpriester Joschua mit einer aus Gold und Silber gefertigten Krone zu krönen. Neben Joschua wird aber noch ein anderer erwähnt. Er trägt die Ehrenbezeichnung: „Sproß" (aus Davids Geschlecht, Serubbabel?), er wird den Tempel erbauen und auf seinem königlichen Thron neben dem Thron des Hohenpriesters sitzen. Offensichtlich strebte Sachaija eine Art Dyarchie an. Danach trug Joschua, der Hohepriester, also nur stellvertretend für den königlichen Tempelbauer die Königskrone, bis zu dem Tage, an dem der erhoffte Sproß selbst sie würde übernehmen können. Solange sollte sie im Tempel als ein Erinnerungszeichen (sikkaron) deponiert bleiben. An dieser Vision wird noch einmal in geradezu klassischer Weise deutlich, wie der Tempelbau zur sakralen Legitimation nicht nur des realen, historischen, sondern auch des künftigen messianischen Königtums beitrug. Die Krone für ihn lag im Tempel bereit. Und wer den Tempel baute, galt als legitimer Anwärter auf sie. Wenn man daher Jahrhunderte später nach Markus 14,58; 15,29; Matthäus 26,61 Jesus den Vorwurf machte, er habe gesagt, daß er den Tempel in drei Tagen niederreißen 56

Dazu M. ALBANI, „ W O sollte ein Haus sein, das ihr mir bauen könntet? (Jes 66,1) - Schöpfung als Tempel JHWHs, in: B . E G O / A . LANGE/P. PILHOFER, Gemeinde ohne Tempel - Community without Temple, (WUNT) 118, Tübingen, S. 37-56. 57 Siehe zur literaturhistorischen Einordnung der Redaktionen von 2Samuel 7 G . HENTSCHEL (wie Anm. 32). 58 Vgl. dazu K.-M. BEYSE, Serubbabel und die Königserwartungen der Propheten Haggai und Sacharja, Berlin 1971.

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und wieder aufbauen könne, dann verbirgt sich hinter dieser Anklage mehr als nur der Vorwurf des Größenwahns und der Blasphemie. Wer so etwas von sich behauptete, der griff nach der Krone des messianischen Königs und mußte aus diesem Grunde sterben.

HANS-ULRICH CAIN

Kaiser und Gott auf römischen Fora

Der sakrale Aspekt von Herrschaft ist im Bereich der griechisch-römischen Antike ein geläufiges Phänomen. Es dürfte wohl kaum einen hellenistischen König oder römischen Kaiser gegeben haben, der sich durch seine besondere Nähe zu den Göttern nicht von den Menschen abgehoben hätte. Impliziert diese Götternähe der Könige und Kaiser einerseits unendliche Distanz zwischen Herrschern und Menschen, gründet sie andererseits gerade in der unmittelbar greifbaren und spürbaren Präsenz der Herrscher mitten unter den Menschen. Gegenüber den alten, überkommenen Göttern haben lebendige Herrscher zweifellos den Vorteil, tatsächlich gegenwärtig zu sein. Als öffentliche Personen par excellence stellen sie ihre Qualitäten und Leistungen zu Gunsten der Menschen ständig unter Beweis, sei es durch militärische Erfolge, sei es durch Wohltaten auf dem zivilen und kulturellen Sektor1. Aufgrund ihrer überragenden Position, ihrer nahezu unbegrenzten Machtfiille und Wirkungskräfte wurden die römischen Kaiser selbst wie Gottheiten verehrt. Dies hat der Althistoriker Manfred Clauss in seinem kürzlich erschienenen Buch über den Herrscherkult im lateinischen Westen des Römischen Reichs zugespitzt formuliert. Gottheit sei, wer Gott oder Staatsgott (deus / divus) genannt oder mit anderen Gottheiten zusammen verehrt wird, wer ein Opfer, einen Priester, einen Tempel oder heiligen Hain, einen Altar oder eine Weihinschrift erhält - kurzum, wer kultisch verehrt wird2. Archäologische Studien der beiden letzten Jahrzehnte haben ergeben, daß die beherrschenden Zentren der römischen Städte oftmals nicht mehr die alten Göttertempel gewesen seien, sondern die neu errichteten Tempel und Kultbezirke zu Ehren der Kaiser3. Die zentralen 1

Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den ich außer in Leipzig und Aachen an den Archäologischen Seminaren in Köln, Frankfurt a. M. und Tübingen gehalten habe. Für Kritik, nützliche Hinweise und Verbesserungen danke ich insbesondere Johannes EINGARTNER, Ingeborg KADER, Rudolf KÄNEL, Felix PIRSON, Paul ZANKER und meiner Frau Petra CAIN. Bei der Herstellung der Abbildungsvorlagen halfen Friederike FLESS und Leander SEIGE. Der Vortragstext wurde weitgehend beibehalten und durch die Nachweise in den Anmerkungen ergänzt. 2 M. CLAUSS, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich (1999) 35 f. und passim. 3 Η. HÄNLEIN-SCHÄEER, Veneratio Augusti. Eine Studie zu den Tempeln des ersten römischen Kaisers (1985) 26 ff., 36 f. P. GROS - M. TORELLI, Storia dell'urbanistica. II mondo romano (1988) 265 ff. M.

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Plätze, die sog. Fora römischer Städte hätten seit dem späten 1. Jh. v. Chr. infolge des politischen Friedens und allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs also nicht nur ein neues architektonisches Gesicht erhalten, vor allem habe sich auch ein inhaltlicher Wandel im Charakter dieser Plätze vollzogen, eher sogar ein deutlicher Bruch mit traditionellen religiösen oder besser: religionspolitischen Normen. In republikanischer Zeit hatte der Tempel der kapitolinischen Trias „Jupiter, Juno und Minerva" zumeist den zentralen Platz beherrscht4. Jupiter Optimus Maximus war der höchste Stadtgott Roms und, nach diesem Vorbild, auch aller anderen römischen Städte und ihrer Bürger. In dem Tempel und durch den Kult des höchsten römischen Gottes konnte jeder Bürger seine Identität, die Zugehörigkeit zur römischen Bürgergemeinde, dokumentiert sehen5. Mit Beginn der Kaiserzeit habe sich diese Situation grundlegend verändert. Von nun an sei es das wichtigste Anliegen der Honoratiorenfamilien als städtischen Entscheidungsträgern gewesen, die überlegene Macht des Kaisers zu preisen, und das heißt, im Anschluß an die Person des Kaisers, des praesens divus, eine neue Identität zu finden6. Nahezu alle bekannten Fora wurden im Verlauf des 1. Jahrhunderts n. Chr. durch zahlreiche Bauwerke, ihren Bildschmuck und ihre Inschriften aus ζ. T. vergoldeten Buchstaben sowie durch zahllose Ehrenstatuen neu gestaltet7. Fast überall läßt sich beobachten, daß der Ausbau der Fora nicht von vornherein und streng einem übergeordneten, allgemein verbindlichen Prinzip folgte. Nicht zu leugnen ist aber die Tatsache, daß am Ende der architektonischen Ausgestaltung so gut wie immer eine geschlossene Gesamtanlage des Stadtzentrums stand8. Der Zugang zum Platz war zumeist so PFANNER, Modelle römischer Stadtentwicklung am Beispiel Hispaniens und der westlichen Provinzen in: W. TRILLMICH - P. ZANKER (Hrsg.), Stadtbild und Ideologie. Die Monumentalisierung hispanischer Städte zwischen Republik und Kaiserzeit, Kolloquium Madrid 19.-23.10.1987, Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., N. F. 103, 1990, 90 ff. D. FISHWICK, The Imperial Cult in the Latin West. Studies in the Ruler Cult of the Western Provinces of the Roman Empire 2,1 (1991) 518-525. Ch. WITSCHEL, Zur kultischen Verehrung von Kaiserbildnissen auf dem Forum und zum Problem der "aedis Augusti" in: Standorte. Kontext und Funktion antiker Skulptur, Aussstelllungskatalog der Abguss-Sammlung antiker Plastik der FU Berlin, hg. ν. K. STEMMER (1995) 361-367 mit profunden Literaturangaben. 4 Zur urbanistischen Anlage früher römischer Koloniestädte entlang der tyrrhenischen Küste H. v. HESBERG, Zur Plangestaltung der Coloniae Maritimae, Römische Mitteilungen 9 2 , 1 9 8 5 , 1 2 7 ff. 5 Diese Rolle des Jupiter Optimus Maximus behandelt J. R. FEARS, The Cult of Jupiter and Roman Imperial Ideology in: H . TEMPORINI - W. HAASE (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt Π 17,1 (1981)7-141. 6 P. ZANKER, Augustus und die Macht der Bilder ( 1 9 8 7 ) 3 1 2 ff. DERS., Pompeji. Stadtbilder als Spiegel von Gesellschaft und Herrschaftsform, Trierer Winckelmannsprogramme 9 ( 1 9 8 7 ) 3 1 - 3 3 . 7 M . TODD, Forum and Capitolium in the Early Empire in: F. GREW - Ε. HOBLEY (Hrsg.), Roman Urban Topography in Britain and the Western Empire ( 1 9 8 5 ) 5 6 ff. P. ZANKER, Augustus (wie Anm. 6) 304 ff. ausführlich zum historischen Kontext. 8 M. TRUNK, Römische Tempel in den Rhein- und westlichen Donauprovinzen (1991) 96-99. H.-J. Schalles, Forum und zentraler Tempel im 2. Jh. n. Chr. in: H.-J. SCHALLES - H. v. HESBERG - P. ZANKER (Hrsg.), Die römische Stadt im 2. Jh. n. Chr. Der Funktionswandel des öffentlichen Raums, Kolloquium in Xanten 2.-4.5.1990 (1992) 183 ff. P. ZANKER, Veränderungen im öffentlichen Raum

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geregelt, daß sich der Besucherverkehr an optisch wirkungsvollen Prospekten und Fassaden orientierte. Der Blick war immer auf herausragende Ehrenstatuen und Gebäude mit einem bestimmten religiösen und politischen Charakter ausgerichtet. Dabei ist oder sei die Tendenz unübersehbar, an den Fora hauptsächlich das Kaiserhaus durch Ehrenmonumente und neue Tempel zu verherrlichen, und damit auch an Altären kultisch zu verehren. Altäre spielen deshalb eine eigene Rolle, weil sie den Charakter eines Gebäudes, Bezirks oder Platzes entscheidend prägen. Sie sind der Ort, an dem die Kulthandlungen stattfinden, wo die Teilnahme einer Gottheit oder göttlichen Kraft am Opfervorgang wirklich gesichert ist, wo ihre Gegenwart und Wirkungskraft erzwingbar scheinen. Altäre haben mithin die Eigenschaft, besondere inhaltliche Akzente in der Bedeutungsskala der Gebäude an einem Platz, hier also am Forum, zu setzen. Dieser Aspekt scheint mir bislang nicht ausreichend, jedenfalls nicht konsequent beachtet zu sein, obgleich er für die Beurteilung der neuen städtebaulichen und religionspolitischen Situation von Belang ist. Ich werde im folgenden danach fragen, was Tempel und Altar als sichtbare religiöse Zeichen in den Stadtzentren aussagen oder, andersherum, welche konkreten religionspolitischen Vorstellungen sich für die Bürger mit einem Altar auf dem Forum verbinden konnten. Daß es sich lohnt, Funktion und Bedeutimg gerade der Altäre zu thematisieren, wird rasch deutlich, wenn man ein gut bekanntes, über Jahrhunderte gewachsenes griechisches Stadtzentrum, die Agora von Athen, und das stadtrömische Zentrum, das Forum Romanum und die Kaiserfora, miteinander vergleicht. Auf den beiden Plänen (Abb. 1 und 3 [im Anhang]) sind die Altäre jeweils rot markiert, so daß der wesentliche Unterschied sofort ins Auge fallt: in Rom die äußerst sparsame Einrichtung solcher Kultstätten, dagegen ihre Akkumulation in Athen, dessen kaiserzeitliche Phase der Plan (Abb. 1) wiedergibt. Hier, in Athen, wurden in dem Areal zwischen Kolonos Agoraios im Westen und Panathenäenstraße im Osten zahlreiche Altäre gefunden, die teils isoliert auf dem Platz stehen, teils unmittelbar auf ein Gebäude bezogen sind. Abb. 2 zeigt die Situation im Modell, von Ost nach West gesehen9. Soweit die Funktion der Altäre noch bestimmbar ist, hatten sie für das politische Selbstverständnis der Bürger Athens große Bedeutung. Der Zwölfgötteraltar bezeichnet das eigentliche Zentrum der Stadt, von dem sämtliche Entfernungen gemessen wurden. Er liegt im Schnittpunkt der wichtigsten Straßen, war allgemein als Asylplatz anerkannt und galt als ein Ort, an dem öffentliche Eide gespro-

der italischen Städte der Kaiserzeit in: L'Italie d'Auguste ä Diocletien, Actes du colloque international ... Rom 25.-28.3.1992 (1994) 259 ff., wo auch auf die unterschiedliche Entwicklung in Italien und den westlichen Provinzen hingewiesen ist. 9 Η. A. THOMPSON, Buildings on the West Side of the Agora, Hesperia 6, 1937, 1 ff. mit Abb. Η. Α. THOMPSON - R. Ε . WYCHERLEY, The Agora of Athens. The History, Shape and Uses of an Ancient City Center, The Athenian Agora 14 (1972). J. M. CAMP, Die Agora von Athen. Ausgrabungen im Heizen des klassischen Athen (1989). H. KNELL, Athen im 4. Jahrhundert v. Chr. - eine Stadt verändert ihr Gesicht. Archäologisch-kulturgeschichtliche Betrachtungen (2000) 63 ff. mit Abb.

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chen wurden10. Weiter im Süden steht ein Altar des Zeus, wahrscheinlich mit dem Beinamen Agoraios, wie er auf den Marktplätzen vieler griechischer Städte verehrt wurde11. Die meisten Altäre liegen aber direkt vor den Amtsgebäuden auf der Westseite der Agora: im Süden vor dem Metroon, das als Hauptstaatsarchiv diente12; dann vor dem Tempel des Apollon Patroos mit dem angegliederten Schrein der Phratriengötter Zeus und Athena, also zwei Sakralbauten, die seit dem 4. Jahrhundert die demokratisch verfaßte Staatsform der Athener symbolisierten13; schließlich vor der Stoa des Zeus Soter bzw. Eleutherios, des „Freiheitsgottes"14, und vor der Stoa Basileios, einem der prominentesten Amtslokale politischen, juristischen und sakralrechtlichen Charakters15. An seinem Altar fanden erstrangige Staatsakte wie die Vereidigung der höchsten Beamten statt, hier leisteten auch die öffentlichen Schiedsrichter und Zeugen ihren feierlichen Schwur vor einem Prozeß. Es ist evident, daß diese Altäre für die politische Organisation Athens eine hervorragende Rolle spielten. Jeder Ort, an dem politisch relevante Entscheidungen getroffen oder der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurden, ist durch einen Altar geheiligt. Die kultischen Riten sind nicht nur fur einzelne soziale Gruppen der Polisgemeinschaft bindend, sondern allgemein und grundsätzlich fur jeden Athener verpflichtend. Man kann sagen, daß jeder wichtige öffentliche Akt auch durch eine öffentliche Kulthandlung sanktioniert wird. Die einzelnen Altäre werden damit als sichtbare religiöse Zeichen verständlich, an denen die Bürger ihre Zugehörigkeit zur Polisgemeinschaft immer wieder erfahren und nahezu fortwährend öffentlich demonstrieren. Das Phänomen erweist sich als ein religiöser, kultischer Vorgang, den die Bürger einer griechischen Stadt offenbar als vitale Notwendigkeit ihrer politischen und sozialen Existenz begriffen. Jederzeit ließ sich auch ein bestimmter Kultplatz im Sinne eines besonders wichtigen, fur das Identitätsgefuhl des Demos aussagekräftigen Denkmals aus diesem Ensemble herausheben. Nach Plutarch habe Lykurg, in den Jahren 338-324 v. Chr. Athens höch10

R. E. WYCHERLEY, Literary and Epigraphical Testimonia, The Athenian Agora 3 (1957) 119 ff. Nr. 363 ff. L. M. GADBERY, The Sanctuary of the Twelve Gods in the Athenian Agora: A Revised View, Hesperia 6 1 , 1 9 9 2 , 4 4 7 ff. 11 THOMPSON - WYCHERLEY, The Agora of Athens (wie Anm. 9) 160 ff. 12

H. A. THOMPSON, The Annex to the Stoa of Zeus in the Athenian Agora, Hesperia 35, 1966, 177 mit Anm. 9. 13 Β. HINTZEN-BOHLEN, Die Kulturpolitik des Eubulos und des Lykurg. Die Denkmäler- und Bauprojekte in Athen zwischen 355 und 322 v. Chr. (1997) 45 ff., 48 ff. Zum historischen Kontext zuletzt H. KNELL, Überlegungen zur öffentlichen Architektur des IV. Jahrhunderts in Athen in: W. EDER (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr. Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? Akten eines Symposiums 3.-7.8.1992 in Bellaggio (1995) 479 ff. und DERS., Athen im 4. Jahrhundert v. Chr. (wie Anm. 9) 80 ff, 91-93. 14

THOMPSON, Buildings (wie Anm. 9) 10 ff. THOMPSON - WYCHERLEY, The Agora of Athens (wie

Anm. 9) 96. J. TRAVLOS, Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen (1971) 527. 15 G. KUHN, Untersuchungen zur Funktion der Säulenhalle in archaischer und klassischer Zeit, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 100, 1985, 200-226. T. LESLIE SHEAR, jr., Ίσονόμους τ' 'Αθήνας εποιησάτην: The Agora and the Democracy in: The Archaeology of Athens and Attica under the Democracy, Proceedings of an International Conference ... held at the American School of Classical Studies at Athens 4.-6.12.1992 (1994)242 ff. mit Abb.

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ster Finanzbeamter, vor der Volksversammlung beantragt, einen Bürger namens Neoptolemos öffentlich zu bekränzen und durch eine Bildnisstatue zu ehren, weil dieser auf Veranlassung des delphischen Orakels den Altar des Apollon auf der Agora habe vergolden lassen16. Seither muß der betreffende Altar vor dem Tempel des Apollon Patroos wie ein optischer Magnet gewirkt und den zentral gelegenen Kultplatz als ein weithin sichtbares Symbol der demokratischen Polisordnung markiert haben. In augusteischer Zeit kamen zu den bestehenden Altären zwei weitere hinzu, einer vor der Ostfront des Arestempels, den Augustus in Acharnai abtragen und mitten auf der Agora von Athen wiederaufbauen ließ 7, und ein anderer, neu errichteter vor der Stoa des Zeus Eleutherios, die gleichzeitig durch zwei rückwärtige Räume erweitert wurde18. Epigraphische Zeugnisse weisen darauf hin, daß die Zeus-Stoa seither auch dem Kaiserkult geweiht war. Höchstwahrscheinlich verehrten die Athener an dieser Stelle nun Augustus zusammen mit Dea Roma als Retter Athens. Das stünde jedenfalls in guter hellenistischer Tradition, da die Athener bereits früher verschiedene Machthaber und Könige zu Befreiern ihrer Stadt erklärten und als neue Schutzgötter akzeptierten19. Ganz anders als in Athen verhält es sich seit augusteischer Zeit im Stadtzentrum von Rom, d. h. im Bereich des Forum Romanum und der unmittelbar nördlich anschließenden Kaiserfora (Abb. 3 und 4). Das Areal dieser Kaiserfora beziehe ich deshalb in meine Überlegungen ein, weil sie der literarischen Überlieferung zufolge einen Teil der Funktionen übernehmen sollten, die ursprünglich auf das Forum Romanum beschränkt waren20. Ihre Hauptaufgabe war es, das Forum Romanum zu entlasten, weshalb vor allem Gerichtsverhandlungen in ihre weitläufigen Hallen verlegt wurden. Im Vergleich zu Athens Agora kann man auf einen Blick feststellen, daß außer an zwei Stellen kein einziger Altar im gesamten Bereich dieser Fora nachweisbar ist21. Obwohl am Forum Romanum insgesamt fünf (auf dem Plan grün markierte) Tempel stehen, die sämtlich wichtigen Staatsgottheiten geweiht sind oder, wie im Fall des Di-

16 PLUTARCH, Moralia 843 F; s. WYCHERLEY, Literary and Epigraphical Testimonia (wie Anm. 10) 52 Nr. 113 und KNELL, Athen im 4. Jahrhundert v. Chr. (wie Anm. 9) 87 f. 17 Th. SCHÄFER, Spolia et signa: Baupolitik und Reichskultur nach dem Parthererfolg des Augustus, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Phil.-hist. Kl. (1998) Nr. 2, 92 ff. 18 THOMPSON, The Annex to the Stoa of Zeus (wie Anm. 12) 171 ff. HÄNLEIN-SCHÄFER, Veneratio Augusti (wie Anm. 3) 159 f. Kat. Nr. A 21 Taf. 29. s. auch S. WALKER, Athens under Augustus in: Μ. C. HOFF - S. I. ROTROFF (Hrsg.), The Romanization of Athens, Proceedings of an Intern. Conference held at Lincoln, Nebraska, April 1 9 9 6 ( 1 9 9 7 ) 6 9 - 7 2 . 19 Hierzu Ch. HABICHT, Gottmenschentum und griechische Städte, 2. Aufl., Zetemata 14 (1970) 44 ff. 20 S. dazu WITSCHEL in: Standorte (wie Anm. 9 ) 3 3 2 ff. mit Hinweisen. Das Thema verfolgt I. KÖB in ihrer jüngst abgeschlossenen Kölner Dissertation wie bereits in ihrer Münchner Magisterarbeit von 1993, die ich seinerzeit freundlicherweise konsultieren durfte. 21 Die Literatur zu den Fora ist bequem erreichbar über J. C. ANDERSON, jr., The Historical Topography of the Imperial Fora, Collection Latomus 182 (1984). L. RICHARDSON, jr., A New Topographical Dictionary of Ancient Rome (1992) 158 ff. Lexicon Topographicum Urbis Romae 2, hg. v. Ε. M. STEINBY (1995) 289 ff. A. VISCOGLIOSI, I Fori Imperiali nei disegni d'architettura del primo Cinquecento. Ricerche sull'architettura e l'urbanistica di Roma (2000).

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vus Julius- und des Vespasianstempels, mit dem Herrscherkult zusammenhängen22, befindet sich auf diesem Platz seit der Regierung des Augustus offenbar nur noch ein, bzw. gar kein sichtbarer Altar mehr (Abb. 4). Von möglichen Altären des Castor-, Saturn- und Concordiatempels kamen bei Ausgrabungen keine Reste zum Vorschein23, und von einer ara, die Livia zusammen mit anderen Gegenständen in den Concordiatempel gestiftet haben soll, ist nicht überliefert, ob sie im Inneren des Gebäudes oder außerhalb vor der Tempelfront gestanden hat24. Vor dem Podiumstempel der Venus Genetrix auf dem Caesarforum war sicher keine ara errichtet25, und daß vor den Tempeln der Minerva und des Janus auf dem Forum Transitorium des Domitian bzw. Nerva Altäre gestanden hätten, läßt sich durch die bekannten Renaissanceskizzen gerade nicht belegen und keinesfalls durch Fragmente der Forma Urbis oder den archäologischen Befund erhärten26. Wie die konkrete Situation auf dem Trajansforum aussah, konnte durch die neuen Ausgrabungen noch nicht geklärt werden. Es scheint aber festzustehen, daß der Tempel des vergöttlichten Trajan nicht, wie bisher angenommen, in direkter Nachbarschaft der Trajansäule gelegen haben kann27. Die zwei einzigen, wirklich bezeugten Altäre befinden sich daher am Mars Ultor-Tempel des Augustusforums und vor dem Tempel des Divus Julius, des vergöttlichten Caesar, an der östlichen Schmalseite des Forum Romanum. Von diesem Rundaltar haben sich Reste erhalten, die noch heute hinter der Frontmauer des Tempelpodiums versteckt liegen (Abb. 6). Der literarischen Überlieferung zufolge bezeichnet der Altar wohl genau die Stelle, an der die Römer Caesars Leichnam verbrannten28. Einen ersten Altar, den die aufgebrachte Volksmenge hier im Jahre 44 spontan zu Caesars Ehren errichtete, ließ der Konsul Dolabella sofort entfernen, doch mußte ihn Augustus auf öffentlichen Druck wieder herstellen. Im Podium des 29 v. Chr. 22 Divus Julius-Tempel: E. NASH, Bildlexikon zur Topographie des antiken Rom 1 (1961) 512 ff. P. ZANKER, Forum Romanum. Die Neugestaltung durch Augustus (1972) 12 ff. Vespasianstempel: NASH, Bildlexikon 2 (1962) 501 ff. R. H. DARWALL-SMITH, Emperors and Architecture: Α Study of Flavian Rome, Collection Latomus 231 (1996) 154 ff. 23 S. SANDE - J. ZAHLE, Der Tempel der Dioskuren auf dem Forum Romanum, in: Kaiser Augustus und die verlorene Republik, Ausstellungskatalog Berlin ( 1 9 8 8 ) 2 1 3 ff. P. PENSABENE, Tempio di Satumo, architettura e decorazione ( 1 9 8 4 ) . C. GASPARRI, Aedes Concordiae Augustae ( 1 9 7 9 ) . 24

25

OVID, Fasti 1649.

C. M . AMICI, II foro di Cesare ( 1 9 9 1 ) . VISCOGLIOSI, I Fori Imperiali (wie Anm. 2 1 ) 2 1 ff. mit Abb. 26 H. BAUER, Kaiserfora und Janustempel, Römische Mitteilungen 84, 1977, 301 ff. DERS., Der Urplan des Forum Transitorium in: Bathron. Festschrift fur Η. DRERUP, hg. v. H . BUSING - F. HILLER ( 1 9 8 8 ) 41 ff. E. LA ROCCA, Das Forum Transitorium. Neues zu Bauplanung und Realisierung, Antike Welt 28 Η. 1 , 1 9 9 8 , 1 ff. VISCOGLIOSI, I Fori Imperiali (wie Anm. 2 1 ) 6 3 ff. mit Abb. 27 R. MENEGHINI, L'architettura del Foro di Traiano attraverso i ritrovamenti archeologici piü recenti, Römische Mitteilungen 1 0 5 , 1 9 9 8 , 1 2 7 ff Taf. 2 7 ff. E. LA ROCCA, II Foro di Traiano ed i fori tripartiti, ebenda 149 ff. Taf. 32 ff. 28 M. MONTAGNA PASQUINUCCI, L'altare del tempio del Divo Giulio, Athenaeum Ν. S. 52, 1974, 144 ff. Abb. 1-6 mit den betreffenden Schriftquellen. Zu den Gold- und Silbermünzen des Jahres 36 v. Chr., auf denen der gelobte Tempel samt Kultbild und Altar erscheint, s. F. PRAYON, Projektierte Bauten auf römischen Münzen in: Praestant Interna. Festschrift für U. Hausmann, hg. v. B. v. FREYTAG gen. Löringhoff- D. MANNSPERGER - F. PRAYON (1982) 322 Taf. 71,6.

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dedizierten Tempels ließ er deshalb eine halbrunde Nische aussparen, in der er den neuen Altar regelrecht zur Schau stellte. Der Tempel des Divus Julius war in diesem Augenblick nicht bloß außergewöhnliches Ehrenmonument, sondern ein würdiger Sakralbau mit Kultbild und allgemein akzeptierter, vom Volk sogar geforderter Kultstiftung. Sorgfaltige Grabungen an diesem Ort haben gezeigt, daß der Altar und sein Kult aber nur von sehr kurzer Dauer waren. Noch unter Augustus wurde offenbar die Nische zugemauert, wie es auch die Skizzen veranschaulichen (Abb. 5: oben im Grundriß, unten in einer perspektivischen Ansicht)29. Dabei überlagert diese nachträglich eingezogene Tuffmauer rücksichtslos das untere Sockelprofil des Altars. Nach den Untersuchungen von Marinella Montagna Pasquinucci ist diese Baumaßnahme aufgrund des gewählten Materials, nämlich gelbem Tuffstein, und der Stilformen des aus lunensischem Marmor bestehenden Stufenprofils, das den gesamten Tempel umgibt, in die augusteische Epoche zu datieren. Augustus selbst müßte es also gewesen sein, der den Altar vor dem Divus Julius-Tempel für immer verschließen ließ. Die Kultstätte hatte aufgehört, als sichtbarer religiöser Ort zu existieren, und man kann bezweifeln, daß seither vor diesem Tempel noch aufwendige Kulthandlungen stattgefunden haben. Die veraltete, in Details korrekturbedürftige Rekonstruktionszeichnung gibt diese neue Situation an der östlichen Seite des Forum Romanum wieder (Abb. 7)30. Sie zeigt den Tempel ohne Altar inmitten zweier Portiken bzw. Bögen, von denen der südliche am ehesten mit dem Partherbogen zu identifizieren ist, der nördliche dagegen wohl zu Ehren der Prinzen Gaius und Lucius Caesar errichtet wurde. Zu welchem Zeitpunkt und weshalb Augustus angeordnet hat, den Altar zu verbergen, ist allerdings nicht überliefert und insofern Gegenstand der Interpretation. Das trifft in gleicher Weise für den zweiten Altar auf den Treppenstufen vor der Front des Mars Ultor-Tempels zu (Abb. 8 Modell). Die jüngste Untersuchung des Tempelpodiums ergab, daß dieser Altar nicht von Anfang an geplant war31. Genaue Beobachtungen am opus caementitium-Kem lassen vielmehr erkennen, daß er mit Sicherheit nachträglich auf die Treppe gesetzt wurde (Abb. 9). Diese beiden Befunde sind die einzigen, wirklich greifbaren Beweise für die Existenz von Altären im gesamten Areal der stadtrömischen Fora. Nimmt man diese Situation ernst und geht davon aus, daß sie auch der Realität des kaiserzeitlichen Rom entspricht, ergibt sich folgendes: Im Gegensatz zu Athen und anderen Städten des griechischen Ostens32 ist in Rom seit augusteischer Zeit fast ausnahmslos auf Altäre vor den wichtigsten Amtsgebäuden und 29

MONTAGNA PASQUINUCCI,

ebenda

150

ff. mit Abb.

5-6.

Danach

F. COARELLI, D

foro Romano

2.

Periodo repubblicano e augusteo (1985) 231-233 mit Abb. 42-44. 30

COARELLI, II foro Romano 2 (wie vorige Anm.) 2 6 9 ff. Abb. 6 8 . Zu den Korrekturen s. auch E. NEDERGAARD, Zur Problematik der Augustusbögen auf dem Forum Romanum, in: Kaiser Augustus ( w i e A n m . 2 3 ) 2 2 4 ff. A b b . 1 1 7 - 1 3 0 . 31

J. GANZERT, Der Mars-Ultor-Tempel auf dem Augustusforum in Rom (1996) 97, 238 f. mit Auf-

nahmen des alten und neuen Modells Taf. 6,1; 7-9 und des heutigen Zustands Taf. 13; 15,2; 28-29. 32 Daß die Agora von Athen mit ihrer Vielzahl von Altären kein vereinzeltes Beispiel ist, zeigen etwa die Befunde von Kassope in Westgriechenland, wo auf der Agora neben einem größeren Altar des

130

Hans-Ulrich Cain

Tempeln im Stadtzentrum verzichtet worden. Dies veranschaulicht nochmals der Gesamtplan der römischen Fora, auf dem der Mars Ultor-Tempel und das Kapitol rot markiert sind. Ältere Altarstiftungen, die ich an dieser Stelle übergehen kann die sich in republikanischer Zeit aber nachweislich noch auf dem Forum befanden 3, waren seither nicht mehr sichtbar. Sie waren entweder unter dem Pflasterbelag verschwunden, oder - so der Altar vor dem Divus Julius-Tempel - vermauert34. Die Tatsache, daß Augustus diesen Altar zu Beginn seiner Machtausübung aufstellen mußte, kurze Zeit darauf aber den Blicken wieder entziehen ließ, weist auf die religionspolitische Brisanz solcher Altarstiftungen. Darauf deutet auch der Altar des Mars Ultor-Tempels, eines Bauvorhabens, das zu den vordringlichen Projekten des Kaisers zählte und dessen Fertigstellung er angeblich kaum erwarten konnte. Beide Altäre hängen immittelbar mit Augustus bzw. einem seiner Bauvorhaben zusammen. Deshalb liegt der Gedanke nahe, daß sie fur die Religionspolitik des Prinzeps eine besondere Rolle spielten. Aus dem archäologischen Befund gibt es zwar keinen Hinweis, wann der Altar des Mars UltorTempels gesetzt wurde, aber es spricht auch kein Indiz gegen eine Datierung in die augusteische Epoche. Die Planänderung kann also ohne weiteres innerhalb der Bauzeit des Augustusforums, zwischen 19 - 2 v. Chr., wünschenswert geworden sein. Diese ara ist offenbar der einzige sichtbare, dauerhafte Altar auf den stadtrömischen Fora bis in die Spätantike hinein geblieben. Wenn die Beobachtimg richtig ist, muß man sich fragen, warum in der Hauptstadt des Römischen Reichs auf den Fora nur noch ein einziger Altar den Ort eines offiziellen Stadt- bzw. Staatskultes markiert, und weshalb ausgerechnet der des Mars Ultor? Ich bin mir natürlich dessen bewußt, daß meine Interpretation des Befundes auf ein enormes Hindernis stößt. Man wird einwenden, daß der heutige Erhaltungszustand des Areals vor den meisten anderen Forumstempeln gar keine konkrete Aussage mehr erlaubt, denn in fast allen Fällen ist gerade der Treppen- und Altarbereich dieser Bauwerke zerstört. Es braucht darum nicht zu verwundern, daß dort keine Altäre mehr auffindbar sind, die doch jederzeit vorhanden gewesen sein können. Aus diesem Dilemma hilft wohl nur ein Vergleich mit anderen römischen Städten, die den stadtrömischen Befund bestätigen oder widerlegen müßten. Methodisch erscheint dieser Schritt gerechtfertigt, weil viele Städte im Westen des römischen Kaiserreichs ungeachtet ihrer Zeus Soter drei kleinere Altäre stehen, und von Pergamon in Kleinasien, wo sich auf der oberen Agora zunächst zwei, später drei Altäre gegenüber dem hellenistischen Zeustempel befanden. Zu Kassope s. W. HOEPFNER - E. L. SCHWANDNER (Hrsg.), Haus und Stadt im klassischen Griechenland, 2. stark Überarb. Aufl. (1994) 124-126 Abb. 100-102, zu Pergamon s. K. RHEIDT, Die Obere Agora. Zur Entwicklung des hellenistischen Stadtzentrums von Pergamon, Istanbuler Mitteilungen 42, 1992, 252 ff., 265 Abb. 9. W. RADT, Pergamon. Geschichte und Bauten einer antiken Metropole (1999) 91 Abb. 39 c-e. 33 Dazu F. COARELLI, II foro Romano 1. Periodo arcaico (1983) 161 ff. mit den kritischen Bemerkungen von F. E. BROWN, Gnomon 56, 1984, 382. Β. FRISCHER, Mormmenta et Arae Honoris Virtutisque Causa: Evidence of Memorials for Roman Civic Heroes, Bullettino della Commissione Archeologica Comunale di Roma 88,1982-83 (1984), 51 ff. 34 Zu den verschiedenen Pflasterungen des Forumsplatzes s. C. F. GIULIANI - P. VERDUCHI, L'area centrale del foro Romano (1987). COARELLI, II foro Romano 2 (wie Anm. 29) 212 ff.

Kaiser lind Gott auf römischen Fora

131

jeweiligen Rechtsstellung gleichfalls ein Forum mit Sakral- und Verwaltungsgebäuden besaßen - also nicht nur die coloniae, die nach der bekannten Notiz des Gellius aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. ohnehin kleine Abbilder der Hauptstadt Rom waren 35 . Meine vergleichende Analyse basiert auf zahlreichen, in den letzten Jahren veröffentlichten Studien, die alte und neue Grabungsbefunde römischer Fora übersichtlich vorgelegt haben 36 . Dabei sind allerdings Städte des griechischen Ostens, in denen alte Traditionen ähnlich wie in Athen fortbestehen, auszuklammern 37 . Das Ergebnis des Vergleichs nehme ich hier vorweg: In der Tat ist zu beobachten, daß während des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. überall die Tendenz bestand, das Forum von jeglichen Altären freizuhalten - mit einer Ausnahme, nämlich dem Kapitol, dem Tempel des Jupiter Optimus Maximus. Nur an wenigen signifikanten Beispielen will ich das verdeutlichen. Die römischen Fora von Äugst {Augusta Raurica) und Saint Bertrand-de-Comminges (Lugdunum Convenarum) sind nach dem gleichen, oft wiederholten Planschema konzi-

16,13,8-9: effigies parvae simulacraque Romae. Tempil e santuari, Enciclopedia classica ΠΙ 7 (1970) 116 ff. (Nordafnka). I. M . BARTON, Capitoline Temples in Italy and the Provinces (especially Africa), in: Η. TEMPORINI (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt Π 12,1 (1982) 259 ff. MINISTERIO DE LA CULTURA (Hrsg.), Los foros Romanos de las provincias occidentales (1987). TRILLMICH - ZANKER (Hrsg.), Stadtbild und Ideologie (wie Anm. 3). La cittä nell'Itaha settentrionale in etä romana. Morfologie, strutture e funzionamento dei centri urbani delle Regiones X e XI, Atti del convegno Trieste 13.15.3.1987 (1990). W. ECK - H. GALSTERER (Hrsg.), Die Stadt in Oberitalien und in den nordwestlichen Provinzen des Römischen Reichs, Kolloquium Köln 18.-20.5.1989 (1991). H.-J. SCHALLES - H. v. HESBERG - P. ZANKER (Hrsg.), Die römische Stadt im 2. Jh. n. Chr. Der Funktionswandel des öffentlichen Raumes, Kolloquium Xanten 2.^1.5.1990 (1992). M . MIRABELLA ROBERTI (Hrsg.), «Forum et Basilica» in Aquileia e nella Cisalpina romana, Antichitä altoadriatiche 42, 1995. P. GROS, L'architecture romaine du debut du ΠΙ6 siecle av. J.-C. ä la frn du Haut-Empire 1. Les monuments publics (1996) 207-235 (Fora). X. DUPR£ I RAVENTÖS, Π foro nelle province ispaniche in: Hispania Romana da terra di conquista a provincia dell'impero, hg. v. J. ARCE - S. ENSOLI - E . L A ROCCA, Ausstellungskatalog Rom, Palazzo delle Esposizioni (1997) 156 ff. W. E. MIERSE, Temples and Towns in Roman Iberia. The Social and Architectural Dynamics of Sanctuary Designs from the Third Century Β. C. to the Third Century A. D. (1999). 35

36

GELLIUS

P.

ROMANELLI,

37 Wie die Situation in den römischen Koloniestädten des griechischen Ostens tatsächlich aussah, wäre nur durch gezielte Grabungen zu klären. Zur Problematik vgl. etwa das gut publizierte, aber umstrittene Beispiel von Korinth {Colonia Laus Iulia Corinthiensis), wo der sog. Tempel Ε gem zum Kapitol der Stadt deklariert wird: C. K. WILLIAMS, Π, The Refounding of Corinth: some Roman Religious Attitudes, in: S. MACREADY - F. H. THOMPSON (Hrsg.), Roman Architecture in the Greek World ( 1 9 8 7 ) 2 6 ff. Ch. BÖRKER, Forum und Capitolium von Korinth. Zur Planung einer römischen Kolonie in Griechenland, in: Das antike Rom und der Osten, Festschrift für Klaus PARLASCA, hg. v. Ch. BÖRKER - M. DONDERER ( 1 9 9 0 ) 1 ff. Μ. E. HOSKINS-WALBANK, Evidence for the Imperial Cult in Julio-Claudian Corinth, in: Subject and Ruler: The Cult of the Ruling Power in Classical Antiquity, Papers presented at a conference held in The University of Alberta 13.-15.4.1994 to celebrate the 65TH anniversary of Duncan FISHWICK, hg. v. A. SMALL, 17. Suppl. Journal of Roman Archaeology ( 1 9 9 6 ) 2 0 1 ff. J. BERGEMANN, Die römische Kolonie Butrint und die Romanisierung Griechenlands ( 1 9 9 8 )

76-85.

132

Hans-Ulrich Cain

piert, wobei gegenüber dem Kapitol eine Basilika liegt (Abb. 10-12)38. Auf den gut ausgegrabenen Fora ist nur vor dem (rot markierten) Jupitertempel ein Altar bezeugt, während der übrige, von Säulenhallen umgebene Platz entweder freigeblieben ist oder einige Sockel für Ehrenstatuen aufweist, - nächst vergleichbar dem Forum im nordafrikanischen Djemila (Cuicul; Abb. 13)39. Hier nimmt der Jupitertempel mit seinem quadratischen Altar die östliche Hälfte der nördlichen Schmalseite ein, westlich davon liegt das Macellinn, die zentrale Markthalle der Stadt. Von den zahlreichen Sockeln in der Mitte und entlang den Rändern des Forumsplatzes hat sich nicht ein einziger als Altar identifizieren lassen. Durchwegs hat man es hier mit beschrifteten Statuenbasen zu tun, auf denen Standbilder zu Ehren des Kaiserhauses und städtischer Honoratioren aufgestellt waren. Für das Forum von Saint Bertrand (Abb. 12) ist bezeichnend, daß der Jupitertempel in einem eigenen Bezirk und mit dem Rücken zum Forum steht. Diese Eigenart muß nicht befremden, da sie bei einer ganzen Reihe anderer Fora in ähnlicher Weise vorkommt. In Cosa, einer frühen Kolonie nördlich von Rom, wurde das Kapitol genauso wie in der Hauptstadt außerhalb des eigentlichen Zentrums auf der höchsten Erhebung der Stadt erbaut40. Wiederum scheint aber das Forum von Altären freigeblieben zu sein (Abb. 14); ein kleiner (grün markierter) Tempel an der nördlichen Seite ist durch eine Balustrade vom eigentlichen Platz getrennt, so daß der Altar nicht direkt auf dem Forum, sondern abseits in einem eigenen heiligen Bezirk steht. Im hispanischen Ampurias bietet sich das gleiche Bild wie in Äugst und Saint Bertrand-de-Comminges (Abb. 15-16)41. Vom 2. Jahrhundert v. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. befindet sich hier nur vor dem Kapitol ein Altar, wie es auch eine perspektivische Rekonstruktion der republikanischen Phase gegen oder um 100 v. Chr. zeigt (Abb. 15). Zwei kleinere, höchstwahrscheinlich dem Kaiserkult gewidmete Tempel augusteischer Zeit haben dagegen nachweislich nie eine ara erhalten. Das Kapitol der Stadt steht als platzbeherrschender Podiumstempel an der N-Seite des Forums und war ursprünglich nur über eine zentrale Treppenanlage zu betreten. In einer cäsarisch-frühaugusteischen Phase kamen zwei weitere, kleinere Treppen zu Seiten des Pronaos

38

H . DRERUP, Zur Plangestaltung römischer Fora, in: P. ZANKER (Hrsg.), Hellenismus in Mittelitalien 2, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Kl., 3. F. Nr. 97/Π (1976) 398 ff. Abb. 1 b-c. TRUNK, Römische Tempel (wie Anm. 8) 46 ff., 87 ff. zu Äugst, 249: F 27 Abb. 199 zu St. Bertrand. Zum jüngsten Vorschlag, den Augster Forumstempel nicht als Kapitol der Stadt, sondern vielmehr als Kaiserkulttempel zu deuten, s. unten mit Anm. 59 ff. 39 G. ZIMMER, Locus datus decreto decurionum. Zur Statuenaufstellung zweier Forumsanlagen im römischen Afrika, Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., N. F. Nr. 102(1989) 17 ff. Abb. 5. 40 F . E. BROWN, Cosa. The Making of a Roman Town ( 1 9 8 0 ) 31 ff, bes. 3 9 ff. Abb. 4 4 . 41 R. MAR - J. Ruiz DE ARBULO, El foro de Ampurias y las transformaciones augusteas de los foros de la Tarraconense in: TRILLMICH - ZANKER (Hrsg.), Stadtbild und Ideologie (wie Anm. 3) 145 ff. Abb. 51. TRUNK, Römische Tempel (wie Anm. 8) 243: F 4 Abb. 183. A. NÜNNERICH-ASMUS, Basilika und Portikus. Die Architektur der Säulenhallen als Ausdruck gewandelter Urbanität in später Republik und früher Kaiserzeit (1994) 219-221 Kat. Nr. 37 mit Abb. R. MAR - J. Ruiz DE ARBULO, Ampurias Romana. Historia, Arquitectura y Arqueologia (1996) 282 ff, 294 ff. mit Abb.

Kaiser und Gott auf römischen Fora

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hinzu. Zugleich errichtete man in Höhe des Altars eine durchlaufende Schranke, die den freien Zugang in das Tempelareal verhinderte und dadurch die hervorgehobene Position des Kapitols auch optisch verstärken half (Abb. 16 Mitte und 15). Erst aus mittelaugusteischer Zeit stammen die beiden kleinen Zwillingstempel, die die Schranke im Westen und Osten abschließen und deren Fassadenfronten exakt mit dem zentralen Altar fluchten (Abb. 15 unten). Wenn diese beiden Sacella tatsächlich dem Kaiserkult gewidmet waren, aber niemals einen eigenen Altar erhielten, kommt dem Befund eine wichtige Aussage für den religionspolitischen Charakter eines römischen Forums zu. Er entspricht offensichtlich der Situation in vielen anderen Städten, die den Kaiser oder Mitglieder des Kaiserhauses ebenfalls durch derartige Tempel ehrten. Ein solches Beispiel ist etwa das gut ausgegrabene und publizierte Forum der Stadt Baelo (Bolonia) im südlichen Hispanien (Abb. 17: Plan)42. Dem bekannten Planschema entsprechend, liegt im Süden des freien Fonunsplatzes eine geräumige Basilica (Nr. 10 auf dem Plan), im Norden das erhöhte Tempelareal der kapitolinischen Trias mit dem einzigen steinernen Altar vor dem mittleren Tempel (Nr. 1 im Plan; Buchstabe Α markiert den Altar). Abseits davon befindet sich im Nordosten das sog. Isis-Heiligtum der Stadt (mit Nr. 2 bezeichnet). Es ist von einer eigens errichteten Mauer umgeben, so daß Isistempel samt Altar auch hier deutlich vom Forumsbereich abgeschieden sind. Die Tempelgruppe (Nr. 1) muß den Blick eines jeden Forumsbesuchers sofort auf sich gezogen haben, da sie auf einer mehrere Meter hohen Terrasse steht. Die Situation ist anhand eines perspektivischen Rekonstruktionsversuchs, der allerdings nur die Terrassenmauer und die drei Tempel berücksichtigt, gut nachvollziehbar (Abb. 18). Vom Platz ist die Terrasse nur über zwei seitliche Treppen erreichbar, zwischen denen eine zentrale Tribüne mit dahinter liegendem Nymphäum (T und F auf dem Plan) und zwei kleinere Ädikulen (E und E ) piaziert sind. Wie in Ampurias könnten diese beiden Sacella dem Kaiserkult gedient haben. Jedenfalls erwähnen die Ausgräber eine Togastatue, die in Raum Ε gefunden wurde, aber leider ohne das Porträt erhalten ist43. In unserem Zusammenhang ist es wichtig, daß vor diesen Sacella keine Reste eines dauerhaften, steinernen Altars vorhanden sind, sondern ausschließlich vor dem Tempel des Jupiter auf der höher gelegenen Terrasse. Den Kultbildern der kapitolinischen Trias war hier jeweils ein eigener Sakralbau zugedacht, wobei Jupiter als wichtigste Gottheit im mittleren Tempel verehrt worden sein muß. Vor seinen Tempel wurde auch der Altar gesetzt, dessen zentrale Position jedermann die herausragende Stellung des höchsten römischen Staatsgottes angezeigt hat. Daß den Göttern der kapitolinischen Trias (Jupiter, Juno und Minerva) in Baelo drei separate, aber eng beieinander stehende Tempel gebaut waren, ist sicher eine Besonderheit im Stadtbild einer römischen Kolonie oder eines Munizipiums. Die Ausgräber nahmen sogar an, daß der langrechteckige Altar 42

TRUNK, Römische Tempel (wie Anm. 8) 250: F 29 Abb. 201. NÜNNERICH-ASMUS, Basilika und Portikus (wie vorige Anm.) 221-223 Kat. Nr. 38 mit Abb. P. SILLIERES, Baelo Claudia. Une cite romaine de Betique (1995) 85 ff. Abb. 33 ff 43 SILIERES, Baelo Claudia 95 f., wo auch darauf hingewiesen ist, daß sich im zentralen Tempel Β gleichfalls eine fragmentarische Togastatue gefunden hat, s. ebenda Abb. 40. Möglicherweise wurden hier also im kapitolinischen Tempel Angehörige des Kaiserhauses im Sinne von synnaoi theoi mitverehrt.

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nicht nur eine, sondern drei nebeneinander liegende Opferstätten hatte. Denn es haben sich in der Nähe verstreut die Fragmente von zwei Altarbekrönungen mit den typischen Pulvini gefunden44. Geht man davon aus, daß ursprünglich drei solche Altarbekrönungen existierten, die auch tatsächlich auf den Sockel des Altars gehörten, ergäbe sich folgendes Bild: Jede der drei Gottheiten hätte zwar eine eigene Opferstätte besessen, aber bezeichnenderweise auf einem einzigen und gemeinsamen Altar. Das bedeutet, daß die Trias auch nur einen gemeinsamen Kult hatte und daß die Kulthandlungen gleichzeitig und parallel immittelbar vor dem Tempel des Jupiter Optimus Maximus stattfanden. Sollte diese Rekonstruktion durch die Ausgräber wirklich zutreffen, böte die hispanische Stadt Baelo eine interessante Variante zum Thema, würde im übrigen aber das bisher gewonnene Bild bestätigen. Ein weiteres Beispiel ist das Forum der unter Caesar gegründeten, römischen Koloniestadt Pola an der istrischen Küste. Der jüngste Rekonstruktionsvorschlag ist durch den bisherigen Grabungsbefund zwar nicht wirklich gesichert, aber in Analogie zu den Forumsanlagen des nahe gelegenen Nesazio (Nesactium) und Parenzo plausibel vorgetragen45. Demnach flankierten hier höchstwahrscheinlich zwei kleinere Tempel unmittelbar das große Kapitol im Zentrum der nördlichen Forumseite. Abb. 19 zeigt einen Plan der frühkaiserzeitlichen Bauphase, von der heute nur noch der westliche Tempel sichtbar ist, während das zu vermutende Kapitol und der östliche Bau durch den neuzeitlichen Munizipalpalast überbaut sind. Nach Günter Fischers kürzlich publizierten Untersuchungen stammt der Tempel der kapitolinischen Trias aus den Jahren nach der Koloniegründung um 40 v. Chr., der inschriftlich gesicherte Roma und Augustus-Tempel im Westen aus der Zeit zwischen 2 v. - 14 n. Chr. und der sog. Osttempel aus dem frühen 1. Jahrhundert n. Chr. Auf einem gemeinsamen Podium hätte sich die Tempelgruppe dem Betrachter damals als einheitlicher, optisch geschlossener Architekturkomplex dargeboten. Wenn der bislang bekannte Grabungs- und Rekonstruktionsbefund Vertrauen verdient, stand vor dem Roma und Augustus-Tempel kein dauerhafter, aus Stein errichteter Altar. Nimmt man das auch fur den Osttempel an, der das exakte Pendant zum Roma-Augustus-Tempel ist, ergibt sich eine Rekonstruktion der drei Tempelfassaden, wie sie in Abb. 20 zu sehen ist. Nur vor dem Kapitol dürfte sich dann auch in Pola ein Altar befunden haben, der höchstwahrscheinlich in die Treppenstufen integriert war. Dem Vorschlag von G. Fischer folgend, kann man vermuten, daß auch der Osttempel dem Kaiserkult gewidmet war, - ob Caius und Lucius Caesar, der Fortuna oder Concordia Augusta, spielt dabei keine Rolle. Wie in Ampurias und Baelo wären die 44

Ebenda 91 f. mit Abb. 39. G. FISCHER, Das römische Pola. Eine archäologische Stadtgeschichte, Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., N. F. Nr. 110 (1996) 70 ff. Abb. 13 ff. Taf. 15 f. mit kritischer Stellungnahme von M . VERZAR-BASS, Gnomon 72, 2000, 70 ff., die zu Recht auf den hypothetischen Charakter der Rekonstruktion hinweist, s. auch R. MATIJASIC, Breve nota sui templi forensi di Nesazio e Pola in: La cittä nell'Italia settentrionale (wie Anm. 36) 635 ff. DERS., Foro e Campidglio di Nesactium (Nesazio) in: M . MIRABELLA ROBERTI (Hrsg.), «Forum et Basilica» in Aquileia e nella Cisalpina Romana, Antichitä Altoadriatiche 42, 1995, 121 ff. G. BODON, II complesso templare nell'area forense di Nesactium, Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts in Wien 65, 1996,121 ff. 45

Kaiser und Gott auf römischen Fora

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Tempel des Kaiserkultes zwar an zentraler Stelle errichtet, dem des kapitolinischen Jupiter aber deutlich untergeordnet worden. Dies geschah nicht allein durch ihre geringere Größe und Säulenzahl, sondern vor allem auch wegen des fehlenden Altars vor ihren Fronten. Ein Zugang zum Podium war nur über die Treppenstufen vor dem dominierenden Kapitol möglich, dessen besondere religionsgeschichtliche Rolle wiederum der einzige dauerhafte Altar am gesamten Forum betont haben dürfte. - Im folgenden werde ich versuchen, die vorgetragene These noch durch drei weitere sichere Befunde zu untermauern, zwei davon aus Mittelitalien und einen aus Nordafrika. Ein eindeutiges Beispiel ist das Forum von Ostia, das zunächst in der frühen Kaiserzeit (Abb. 21) und dann nochmals unter der Regierung Hadrians umgestaltet wurde (Abb. 22)46. Bis in das 1. Jh. n. Chr. befanden sich nördlich der west-östlich verlaufenden Hauptstraße zwei, eher wohl nur ein Tempel, dem eine geräumige Halle gegenüberlag47. Wie in anderen römischen Koloniestädten mit fast identischem Planschema darf man in diesem (wieder rot markierten) Tempel das republikanische Kapitol erkennen. Ein richtiger Forumsplatz wird in Ostia jedoch erst in nachaugusteischer Zeit angelegt, gleichzeitig entsteht gegenüber dem Kapitol ein neuer, prachtvoller Tempel, der dem Augustus und der Dea Roma geweiht wird48. Es ist der erste Marmortempel in Ostia, der aufgrund seiner Dimensionen und kostbaren Dekoration den republikanischen Jupitertempel bei weitem in den Schatten gestellt haben muß. Vor seinem hohen Podium, das nur über seitliche Treppen zu erreichen war, fanden die Ausgräber keinerlei Reste eines Altars, wie er vor dem alten Kapitolstempel an der nördlichen Schmalseite angenommen werden muß. Diese Situation bleibt in Ostia über ein Jahrhundert unverändert bestehen. Als dann unter Hadrian anstelle des alten Kapitols ein gewaltiger, noch prächtigerer Marmortempel gebaut und dem Jupiter Optimus Maximus dediziert wird, fehlt der Altar selbstverständlich nicht49. Seine Reste haben sich vor der imposanten Treppenanlage des Tempelpodiums erhalten, und die Rekonstruktionszeichnung vermag einen guten Eindruck von der ganzen Platzarchitektur des 2. Jahrhunderts n. Chr. zu geben (Abb. 23). In anderen Städten, deren Kapitolstempel wie in Rom und Cosa nachweislich außerhalb der Fora stehen, kann man feststellen, daß die Plätze offenbar gar keinen Altar erhielten. Beispielhaft zeigen das der Plan und eine Ansicht des Forums von Timgad (Thamugadi) in Nordafrika, einer von Kaiser Trajan gegründeten Koloniestadt (Abb. 46

G. CALZA (Hrsg.), Scavi di Ostia I. Topografia generale (1953) 97 ff. Abb. 29-30 (republikanische und frühkaiserzeitliche Phase). 47 Dazu s. v. HESBERG, Coloniae Maritimae (wie Anm. 4) 133 f. mit Abb. 1 f. 48 HÄNLEIN-SCHÄFER, Veneratio Augusti (wie Anm. 3 ) 1 3 0 ff. Kat. Nr. A 4 Taf. 2 - 8 . P. ZANKER, Augustus und die Macht der Bilder ( 1 9 8 7 ) 3 0 7 mit Abb. 242. 49 CALZA, Scavi di Ostia I (wie Anm. 46) 129 ff. Abb. 32. Zusammenfassend zuletzt V. KOCKEL, Ostia im 2. Jh. n. Chr. Beobachtungen zum Wandel eines Stadtbilds in: SCHALLES - v. HESBERG - ZANKER, Die römische Stadt im 2. Jahrhundert n. Chr. (wie Anm. 36) 99 ff, bes. 112 ff. Abb. 66. - Kein Sacrarium oder Altarbezirk, sondern vielmehr ein Nymphäum ist der kleine Rundbau mitten auf dem hadrianischen Forum von Ostia, wie zuletzt Andrea SCHMÖLDER in ihrer Münchner Magisterarbeit „Öffentliche Brunnen und Nymphäen in Ostia. Studie zur Wasserversorgung einer römischen Stadt" von 1996 schlüssig zeigen konnte.

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24)50. An der Westseite des Platzes steht zwar ein Tempel, dessen Podium wieder über eine seitliche Treppe begehbar ist, doch hat sich auch hier keine ara gefunden. Statt dessen sind überall, auch über den Ecken des Tempelpodiums, Statuenbasen postiert, die alle inschriftlich als solche bezeichnet sind. Sehr wahrscheinlich war der Tempel dem Kaiser Trajan bzw. seinem Genius geweiht, da die Basen (Nr. 13 und 14) auf dem Podium Statuen der Victoria Parthica trugen und eine benachbarte Ädikula (Nr. 15 auf dem Plan) der Fortuna Augusta dediziert war. Das bisher gewonnene Bild läßt sich durch einen Blick auf das Forum in Pompeji abrunden, das wegen seiner günstigen Fundsituation und intensiven Erforschung besonders aussagekräftig ist (Abb. 25-26). Bekanntlich wird auch dieses Forum im Lauf des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu einem städtischen Zentrum mit repräsentativer Architektur ausgebaut51. In der frühen Kaiserzeit werden prächtige Säulenhallen errichtet, die den frisch gepflasterten Platz nach außen abriegeln und den ungehinderten Durchgangsverkehr fernhalten. Was den architektonischen Einschnitt besonders deutlich kennzeichnet, sind zahlreiche Tempel, Ädikulen und sakrale Bezirke, die einflußreiche Mitglieder der Honoratiorenschicht jetzt dem Kaiserkult zu widmen beginnen. Fast die gesamte östliche Langseite des Platzes wird in wenigen Jahrzehnten von Kaiserkultstätten vereinnahmt (die auf dem Plan grün umrandet sind)52. Vor den Magistratsgebäuden im Süden stellt man gewaltige (hier blau markierte) Ehrenmonumente auf, die Mitgliedern des Kaiserhauses reserviert sind. Ihnen entsprechen auf der gegenüberliegenden Seite zwei Reiterstandbilder auf hohen Sockeln zuseiten der Treppe des Jupitertempels sowie die beiden Ehrenbögen, die das Forum an dieser Stelle repräsentativ abschließen. Kürzlich nahm man sogar an, in der Platzmitte sei ein riesiger Altar für den Kult des Divus Augustus, des vergöttlichten Kaisers, gesetzt worden, der zudem nicht auf das Kapitol, sondern direkt auf die Kaiserkultstätten an der östlichen Forumseite orientiert worden •53 sei . Die Deutung dieses zentralen Sockels als Altar ist m. E. aber nicht akzeptabel, da er sich in seiner Machart von sämtlichen, in Pompeji gefundenen Altären deutlich unterscheidet (Abb. 28)54. Die Dimensionen und die Bauweise des erhaltenen Sockelkerns entsprechen vielmehr genau denen der großen Statuenbasen an der Südseite des Forums. Sie bestehen alle aus dem gleichen Kern vergossener Bruchsteine, wobei die Ecken oder Schmalseiten durch abwechselnde Tuffstein- und Ziegellagen verstärkt sind. Die Maße des zentralen Sockels betragen 4,20 m in der Länge, 2,10 m in der Tiefe und mindestens 1,50 m in der Höhe; wahrscheinlich war der Sockel ursprünglich noch 50

ZIMMER, LOCUS

51

Zusammenfassend ZANKER, Pompeji (wie Anm. 6) 26 ff., 32-33 mit Abb. 12. = DERS., Pompeji.

datus decreto decurionum (wie Anm. 39) 38 ff. Abb. 16 Taf. 2 a.

Stadtbild und Wohngeschmack (1995) 88 ff, 110 ff. 52 S. J. DOBBINS, The Imperial Cult Building in the Forum at Pompeii, in: Subject and Ruler (wie Anm. 37) 99 ff. A. SMALL, The Shrine of the Imperial Family in the Macellum at Pompeii, ebenda 115 ff. Κ. WALLAT, Die Ostseite des Forums von Pompeji (1997). 53 ZANKER, Pompeji (wie Anm. 6) 33 = P. ZANKER, Pompeji. Stadtbild und Wohngeschmack (1995) 115. 54

Die Altäre sind sorgfaltig beschrieben von E. PERNICE, Hellenistische Tische, Zisternenmündungen, Beckenuntersätze, Altäre und Truhen, Die hellenistische Kunst in Pompeji 5 (1932) 55 ff.

Kaiser und Gott auf römischen Fora

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höher, da seine Oberseite nicht antik erhalten, sondern modern zementiert ist. Der ehemals verputzte oder mit Marmor verkleidete Sockel kann also gleichfalls nur eine Basis für ein Standbild, wohl eine Reiterstatue, gewesen sein, die an dieser zentralen Position gewiß einen Kaiser, eben Augustus, dargestellt haben wird. An der Tatsache, daß bei der architektonischen Neugestaltung des Forums die Kaiser und das Kaiserhaus panegyrisch in den Mittelpunkt gestellt wurden, kann man nicht zweifeln. Die monumentalen Kaiserstatuen müssen die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, und dies sowohl bei festlichen Anlässen, wenn eine große Menschenmenge anläßlich der Kulthandlungen auf den Platz strömte, wie auch sonst beim alltäglichen Forumsbetrieb. Gleich der Situation in vielen anderen Städten wirkt das gesamte Platzensemble wie eine Art Temenos, wie ein großes geschlossenes Heiligtum, in dem eine dominierende Rolle des Kaiserlobs außer Frage steht. Dennoch - auch in Pompeji existiert ein dauerhafter Altar nur auf der Treppe zum Tempel des kapitolinischen Jupiter, wie ein bekanntes Reliefbild aus dem Haus des Caecilius Jucundus (Abb. 27) bestätigt, das bereits August Mau zur Rekonstruktion des Kapitols und der gesamten Nordseite des Forums diente55. Der Kaiserkult spielte sich hingegen abseits des öffentlichen Platzes, hinter den Säulenhallen in eigenen geschlossenen Bezirken ab. Soweit das Material zu dieser gesamten Problematik überschaubar ist, gibt es dazu m. W. nur eine einzige unbestreitbare Ausnahme, nämlich einen Altar mit Weihinschrift in der von Caesar gegründeten Kolonie Narbo Martins (Narbonne)56. In Zeile 4-6 und Zeilel2-13 der Inschrift auf der Vorderseite heißt es, daß dem numen Augusti - also der Macht oder der Kraft des Augustus, nicht seiner Person selbst - tatsächlich eine ara auf dem Forum der Stadt gesetzt wurde. Pieps Narbonensium aram Narbone in foro posuit, steht deutlich in Zeile 12-13 zu lesen. Wie Peter Kneißl, der die Votivinschrift offenbar zuletzt ausführlich kommentiert hat, betont, handelt es sich bei dieser Weihung um ein außergewöhnliches Denkmal57. Die Plebs der Kolonie dedizierte den Altar, weil Augustus iudicia plebis decurionibus coniunxit (Zeile 30-31), d. h. einen Streitfall zwischen der Plebs und den Decurionen, den Amtsträgern aus der vermögenden Ritterschaft, schlichtete. Über den Anlaß für den Streitfall informiert die Inschrift leider nicht; er scheint jedoch so schwerwiegend gewesen zu sein, daß es die Vertreter der Plebs für nötig und opportun erachteten, die ara numinis Augusti direkt auf das Forum zu stiften. Natürlich ist nicht auszuschließen, daß sich ein ähnlicher Fall in anderen römischen Städten wiederholt hat. Ein zweites, unmittelbar vergleichbares Beispiel ist mir bislang aber weder aus der literarischen noch aus der epigraphischen Überlieferung bekannt geworden58. In jüngster Zeit hat man indes versucht, einige Reste vergoldeter Bronze55

A. MAU, Pompeji in Leben und Kunst, 2. Auflage (1908) 57 ff. mit Abb. 23. H. ESCHEBACH, Pompeji (1978) Abb. 3. Th. KRAUS - L. v. MATT, Lebendiges Pompeji (1977) 19 Abb. 9. 56 CIL 12, 4333 (= ELS 112). FISHWICK, The Imperial Cult (wie Anm. 3) 519. Zum Forum von Narbonne s. TRUNK, Römische Tempel (wie Anm. 8) 250: F 30 Abb. 202. 57 P. KNEISSL, Entstehung und Bedeutung der Augustalität. Zur Inschrift der ara Narbonensis (CIL ΧΠ 4333), Chiron 10,1980,291 ff. 58 Ein in seiner konkreten Funktion nicht näher bezeichneter Sockel („Cippus") aus rotem Veroneser Marmor mit der Inschrift „NVMIN]/ AVG · SACR/ CN · AVILLIVS · Q · F/ VT · VIR · AVG" (CIL

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buchstaben aus dem Schutthügel des Augster Tempelareals zu einer Weihinschrift für Roma und Augustus zu ergänzen59. Die Buchstabenfragmente passen in ihrer Größe offenbar gut zu zwei Bruchstücken eines Architravs, deren negative Inschriftspuren die Worte [ROM]A[E] E[T] AVGVS[T]0 zulassen könnten. Da die beiden Steinblöcke aber als Spolien im Fundament des spätrömischen Castrums verbaut waren, ist ihre postulierte Zugehörigkeit zum Augster Forumstempel nicht nachweisbar. Eine mögliche Herkunft von den Portiken des Forums oder einem anderen, ehemals benachbarten Repräsentationsbau wäre wohl jederzeit und ohne weiteres denkbar60. Ich halte es deshalb für legitim, diesen Tempel, dessen aufgehendes Mauerwerk im übrigen nicht bekannt ist, weiterhin als das Kapitol der Stadt anzusehen. Die Reliefdekoration des dazu gehörigen Altars zeigt Jupiters Adler mit Blitzbündel im Eichenkranz. Dieses emblematische Bild impliziert ohne den unzweifelhaften Bezug auf einen Kaiser, wie er mittels eines Bildnisses, eines unmißverständlichen Attributs oder einer inschriftlichen Namensnennung herstellbar gewesen wäre, eben nicht notwendigerweise einen Herrscherkult an der ara dieses Tempels61. Es erscheint mir darum gerechtfertigt, aus allen vorgeführten Befunden die eine Folgerung zu ziehen: Trotz überbordender Ehrungen des Kaiserhauses durch öffentliche Statuen und Tempelbauten sind die römischen Städte seit der frühen Kaiserzeit bestrebt, im Stadtzentrum den Kult des Jupiter Optimus Maximus als ihren Hauptkult zu respektieren. Das geschah offenkundig dadurch, daß nur sein Tempel am Forum auch mit dem sichtbaren religiösen Zeichen eines fest stehenden Altars ausgezeichnet wurde. Dieser Respekt vor dem höchsten Schutzgott Roms, d. h. aller römischen Bürger, wurde auch dann als bindend empfunden, wenn das Kapitol abseits des Forums gebaut war. In solchen Fäl11, 1161) stand auf dem Forum von Velleia, s. dazu S. DE MARIA, Iscrizioni e monumenti nei fori della Cisalpina romana: Brixia, Aquileia, Veleia, Iulium Comicum, Melanges de 1' Ecole fran^aise de Rome 100 Η. 1, 1988, 53 mit Abb. 15. - Schwierig zu interpretieren ist eine Basis („ara", „Tribunal") vor der Nordmauer des Forums von Assisi, deren jüngster Rekonstruktionsvorschlag als Sockel für zwölf metallene Turibula sehr hypothetisch bleiben muß, s. dazu P. GROS - D . THEODORESCU, L'„autel" du Forum d'Assise, Melanges de l'Ecole Franfaise de Rome 99 Η. 2, 1987, 693 ff. mit Abb. NÜNNERICH-ASMUS, Basilika und Portikus (wie Anm. 41) 163 f. Kat. Nr. 6 Abb. 90 u. 93. 59 P.-A. SCHWARZ, Neue Erkenntnisse zum Forums-Altar und zum Forums-Tempel in Augusta Raurica (Äugst BL), Jahresberichte aus Äugst und Kaiseraugst 12 (1991), 161 ff, bes. 181 ff. Μ. A. SPEIDEL, Goldene Lettern in Äugst, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 95 (1993), 179 ff. K. KOB (Hrsg.), Out of Rome. Augusta Raurica/Aquincum, Ausstellungskatalog Budapest - Äugst (1994) 111-113 (C. NEUKOM-RADTKE), 271-273 (St. G. SCHMID). St. G. SCHMIE», Die Bauinschrift eines Bades und der Kaiserkult in Augusta Raurica - Bemerkungen zu CIL ΧΙΠ 5266, CIL ΧΠΙ 5274 und CIL ΧΠΙ 5275 in: P.-A. SCHWARZ - L. BERGER (Hrsg.), Tituli Rauracenses 1. Testimonien und Aufsätze. Zu den Namen und ausgewählten Inschriften von Äugst und Kaiseraugst, Forschungen in Äugst 29 (2000), 95 ff, bes. 100-103 („Der Kaiserkult in Augusta Raurica"). Die Kenntnis dieser zuletzt erschienenen Arbeiten verdanke ich dem freundlichen Hinweis von R. KANEL. 60 Zu entsprechenden Bauten an römischen Fora s. NÜNNERICH-ASMUS, Basilika und Portikus (wie Anm. 41) 74 ff, 99 ff. mit Abb. 61 Ν. HIMMELMANN-WILDSCHÜTZ, Römische Adler in: K. ROSEN (Hrsg.), Macht und Kultur im Rom der Kaiserzeit (1994) 65 ff, bes. 68-71 weist auf die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten des Emblems in unterschiedlichem Kontext hin.

Kaiser und Gott auf römischen Fora

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len scheint es eine Art Konsens, eine selbstverständliche Übereinkunft in römischen Städten gegeben zu haben, die Fora generell von Altären freizuhalten. Ohne gesetzlichen Zwang, aus eigenem Antrieb achteten die städtischen Führungsschichten bei ihrer regen Bautätigkeit auf die Einhaltung dieser Regel. Gleichgültig, welche anderen Kulthandlungen auf den Fora auch immer stattgefunden haben mögen62, die freiwillige Beschränkung auf die Präsenz des einen sichtbaren Altars vor dem Kapitol zeigt, daß man ihn als ein Monument mit eigener, distinktiver Qualität ernst nahm. Im Alltag der städtischen Lebens- und Erfahrungswelt erfüllte er somit eine deiktische Aufgabe. Wie ein Symbol der civitas Romana führte er den Bürgern aller Regionen und Provinzen (zumindest im Westen) ihre Zugehörigkeit zur römischen Bürgergemeinde konkret vor Augen. Die Situation in vielen römischen Städten scheint demnach das Ergebnis zu bestätigen, das sich zuvor unter Vorbehalt für das ausgedehnte Forumsareal der Hauptstadt Rom formulieren ließ. Das römische Kapitol steht in herrschaftlicher Höhe über dem Stadtzentrum. Die Kultstatue des zwischen Juno und Minerva thronenden Jupiter ist nicht erhalten, aber durch Reflexe in der Bildkunst einigermaßen brauchbar überliefert. Ein Beispiel ist der erst 1994 entdeckte Neufund, der die Kultbildgruppe im verkleinerten Maßstab von 120 χ 90 χ 60 cm wiedergibt (Abb. 29): in der Mitte auf gemeinsamem Thron Jupiter mit dem Blitzbündel in der rechten Hand und dem (leider weggebrochenen) Adler neben seinem rechten Fuß, zu seiner Linken Juno mit dem Pfau und zur Rechten Minerva mit der Eule63. Diese in einer römischen Villa bei Guidonia nahe Rom gefundene Marmorkopie dürfte aus dem späteren 2. Jahrhundert n. Chr. stammen. Sie gibt eine gute Vorstellung von den kolossalen Kultstatuen, die bislang hauptsächlich von Münz- und Gemmenbildern bekannt waren. Jupiter Optimus Maximus galt in Rom als der traditionelle custos imperii, der göttliche Beschützer der staatlichen Ordnung schlechthin64. Er bewachte Staatsakte, bei denen die römische Position in auswärtigen Angelegenheiten festgelegt wurde, und selbstverständlich war er der Gott, zu dem die siegreichen Feldherrn heimkehrten, in dessen Tempel sie die Triumphinsignien, Szepter und Kranz, zurücklegten und vor dessen Tempel sie das größte aller öffentlichen Dankesopfer vollzogen. Seit republikanischer Zeit verkörperte er die göttliche Kraft, die den militärischen Erfolg, die Sicherheit der staatlichen Ordnung und die Prosperität Roms und seiner Bürger gewährleistete. Vor diesem Hintergrund findet wohl auch der einzige, seit Augustus auf den stadtrömischen Fora noch vorhandene Altar am Mars Ultor-Tempel seine Erklärung. 62

Temporär begrenzte Kulthandlungen müssen vor und natürlich in sämtlichen Tempeln und Ädikulen wie auch vor vielen Ehrenstatuen vollzogen worden sein. Dabei sind die von bildlichen Darstellungen bekannten, tragbaren Klappaltäre bzw. beweglichen Dreifußgestelle zum Opfern benutzt worden. Zu diesen Geräten s. K. SCHWENDEMANN, Der Dreifuß. Ein formen- und religionsgeschichtlicher Versuch, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 36 (1921), 98-185. U. KLATT, Römische Klapptische, Kölner Jahrbuch 28 (1995), 349-573 mit Abb. Α. V. SIEBERT, Instrumenta Sacra. Untersuchungen zu römischen Opfer-, Kult- und Priestergeräten, Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 44 (1999) 93 fT. 63 Farbtafel in: Antike Welt 25, 1994, H. 2 auf S. 213. Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC) V M (1997) 465 Nr. 479 mit Abb. s. v. Zeus/ Iuppiter (A. COSTANTINI). 64 FEARS, The Cult of Jupiter (wie Anm. 5).

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Um dem neuen Kaiserforum zu besonderer Ehrwürdigkeit und politischer Bedeutsamkeit zu verhelfen, ließ der Prinzeps einige wichtige Funktionen vom kapitolinischen Tempel auf den des Mars Ultor übertragen. Wie Dio Cassius und Sueton in Auszügen aus dem Tempelstatut, der lex templi, berichten, sollte ζ. B. der Senat nun an dieser Stelle über Krieg und Frieden beraten, sollten die Provinzstatthalter von hier aus zu ihrem auswärtigen Kommando aufbrechen und die siegreichen Feldherrn jetzt in diesem Tempel ihre Triumphinsignien niederlegen65. Alle diese Vorgänge mußten ohne Zweifel durch öffentliche Opfer sanktioniert werden, weshalb ein Altar unverzichtbar war66. Deshalb dürfte Augustus noch während der Bauzeit seines Forums entschieden haben, diesen Altar auf die Treppe des Mars Ultor-Tempels zu setzen. Tempel und Altar gaben seinem eigenen neuen Forum den Anstrich höchster Autorität. Jeder, der diesen Platz betrat, mußte gerade auch wegen des Altars spüren, daß dieses Forum ein zentraler, identitätsstiftender Raum in der römischen Hauptstadt sein sollte. Aber jeder muß ebenso gut gewußt haben, daß es nur von Jupiter Optimus Maximus geliehene Funktionen waren, die die neue Kultstätte darin zu einer Filiale des Kapitolstempels machten. Die Forschung sieht in der Übertragung dieser Funktionen zumeist einen Hinweis darauf, daß Augustus bewußt die alten republikanischen Qualitäten des kapitolinischen Jupiter zugunsten seines persönlichen Schutzgottes Mars Ultor habe schmälern wollen67. Wenn das stimmte, wäre diesem Vorhaben auf Dauer kein Erfolg beschieden gewesen, wie auch das beschriebene Phänomen von Tempel und Altar auf römischen Fora zeigt. Bei den städtischen Führungsschichten hatte sich überall die Tendenz durchgesetzt, auf dem zentralen Platz nur noch den kapitolinischen Jupiter an einem festen Altar kultisch zu verehren und dadurch ihre Zugehörigkeit zur römischen Bürgergemeinde demonstrativ zu verkünden. In Rom wäre es jedenfalls Augustus gewesen, der die historische Grundlage für die Funktion von Tempel und Altar im Stadtzentrum endgültig festlegte. Denn auf seine Veranlassung war hier eine religionspolitische Situation entstanden, an der offenbar kein einziger seiner Nachfolger etwas veränderte. An der zentralen Bedeutimg des Jupiter Optimus Maximus muß es gelegen haben, daß

65

66

SUETON, A u g u s t u s 29,2. D i o CASSIUS 5 5 , 1 0 , 2 - 5 .

E. La Rocca, Ära Reditus Claudii. Linguaggio figurativo e simbologia nell'etä di Claudio, in: La Storia, la Letteratura e FArte a Roma da Tiberio a Domiziano, Atti del Convegno Mantova Teatro Accademico 4.-7.10.1990, Accademia Nazionale Virgiliana (1992) 75 ff., wo auch Quellen zur nachaugusteischen Geschichte der lex templi bzw. der Nutzung des Altars für offizielle Opfer- und Kulthandlungen zusammengestellt sind. 67 FEARS, The Cult of Jupiter (wie Anm. 5) 60-66. J. H. CROON, Die Ideologie des Marskultes unter dem Principat und ihre Vorgeschichte in: H. TEMPORINI - W. HAASE (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 17,1 (1981) 246 ff., bes. 259 ff. M. BONNEFOND, Transferts de fonctions et mutation ideologique: le Capitole et le Forum d'Auguste in: L'Urbs. Espace urbain et histoire (Ier siecle av. J.-C. - IIP siecle ap. J.-C.), Actes du colloque international Rom 8.-12.5.1985 (1987) 251 ff. M. SIEBLER, Studien zum augusteischen Mars Ultor (1988) 169 ff. - Gegen diesen Interpretationsversuch wenden sich zuletzt R. M. SCHNEIDER, Augustus und der frühe römische Triumph, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 105 (1990), 192 Anm. 122 und SCHÄFER, Spolia et signa (wie Anm. 17) 5 6 Anm. 4 5 .

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auch dieses Forumsareal von sämtlichen Altären befreit wurde, die nichts mit kultischen Funktionen des höchsten Staatsgottes zu tun hatten. Bis in die Spätantike gab es wohl zu keiner Zeit einen Anlaß, die zentralen herrscherlichen Qualitäten des kapitolinischen Jupiter in Zweifel zu ziehen. Sinnvoll konnte es nur erscheinen, daß dieser Jupiter immerfort als dtvumque hominumque pater rex6% respektiert wurde und damit als die prominenteste sakrale Identifikationsfigur im Imperium Romanum, also fur alle römischen Bürger und die Person des Kaisers, unantastbar blieb. Den Nachfolgern des Augustus war es ein dringliches Anliegen, vor allem die Nähe zu diesem Jupiter Optimus Maximus herzustellen und in der Öffentlichkeit möglichst wirksam zu inszenieren, sich mit ihm in Wort und Bild vergleichen zu lassen, seinen herrscherlichen Habitus in Politik und Kunst aber auch aktiv zu adaptieren und nicht zuletzt gegenüber seinem zentralen Tempel zu wohnen.69 Den direkten Bezug zwischen dem Palast des Kaisers und dem Tempel des Jupiter Optimus Maximus mußte jeder Besucher und jeder römische Bürger wahrnehmen, der sich, nach einer Vorschrift des Augustus nunmehr in die feierliche Toga gekleidet70, zwischen Kapitol und Palatin auf den römischen Fora bewegte. Die kaiserzeitliche Prachtarchitektur hatte auch die Aufgabe, solche inhaltlichen Zusammenhänge optisch wirkungsvoll zu unterstützen und damit unmittelbar erleben zu lassen.

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ENNIUS, ann. v. 5 8 0 .

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Zum Kontext s. etwa C. MADERNA, Juppiter, Diomedes und Merkur als Vorbilder für römische Bildnisstatuen (1988) 32-49 mit Literaturhinweisen. A. WINTERLING, Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisierung des römischen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (1999). 70

D a z u SUETON, A u g u s t u s 4 0 ; vgl. D i o CASSIUS 5 4 , 3 , 1 u n d Frag. 145,2.

KLAUS-PETER MATSCHKE

Sakralität und Priestertum des byzantinischen Kaisers

Zu* Beginn des 14. Jahrhunderts, im Herbst 1303 oder 1304, schreibt Athanasios, durch Gottes Gnade Erzbischof von Konstantinopel, dem Neuen Rom, und ökumenischer Patriarch, an seinen großmächtigen, von Gott gekrönten und von Gott gelenkten Herrn, den heiligen Kaiser Andronikos II., einen mahnenden und zugleich aufmunternden Brief, in dem er ihn angesichts der krisenhaften Lage seines Reiches, der Bedrohung durch zahlreiche äußere Feinde, an den von seinem Vorgänger, dem Kaiser Konstantin, übernommenen göttlichen Auftrag erinnert. Durch seinen Sieg im Zeichen des heiligen Kreuzes sei dem ersten christlichen Kaiser ein Großteil der bewohnten Erde unterstellt worden, und wenn seine Frömmigkeit, Gottesfurcht und Gesetzestreue von seinen Nachfolgern bewahrt worden wären, dann wäre ihnen nicht nur der noch verbliebene Rest der Erde zugefallen, sondern die menschliche Bosheit wäre auch ganz und gar von der Welt verschwunden. Da sie aber nicht bereit waren, zuerst auf die Herrlichkeit und Gerechtigkeit Gottes zu achten, weil sie in ihrer Selbstüberschätzung und Selbstüberhebimg sogar vergaßen, daß sie menschliche Wesen waren, und gegen den rebellierten, der sie zu Kaisern gemacht hatte, sei das Reich, das alle anderen Reiche der Erde an Macht übertraf, inzwischen stark zusammengeschrumpft und die von Gott verheißene und in Aussicht gestellte Blüte bis an das Weltende verlorengegangen. Noch sei es aber nicht zu spät, denn wenn der Kaiser als Diener Gottes (διάκονος Θεού) sein Schwert gegen die Übeltäter führe und sein Volk im wahrhaften Glauben erziehe, dann warte nicht die Hölle, sondern das Himmelreich auf sie1. Zwischen dem Sieg Kaiser Konstantins an der Milvischen Brücke im Herbst 312 und diesem Brief an seinen, wenn ich richtig gezählt habe, 83. Nachfolger liegt fast ein komplettes byzantinisches Jahrtausend, und das Schreiben dokumentiert ein über 1000 Jahre praktisch ungebrochenes Selbstverständnis dieses Reiches und seiner Träger: die Heiligkeit des von Gott gewollten Kaisers, der universale Anspruch und die eschatologische Dimension des von ihm beherrschten Reiches, die Kontinuität dieses Kaiser* Ich bedanke mich bei Julia Schmidt-Funke und Sebastian Kolditz für ihre sachbezüglichen Ratschläge und für ihre Hilfe bei der Einrichtung des Vortrages fur den Druck. 1 The Correspondence of Athanasius I Patriarch of Constantinople, ed. und trad. A.-M. MAFFRY TALBOT, Washington 1975, Nr. 110, S. 270 ff., bes. 274.

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turns, das mit Konstantin beginnt und zumindest jeden einigermaßen erfolgreichen Kaiser zu einem neuen Konstantin macht und sie alle, gleichgültig wie sie an die Macht gekommen sind, durch offenes Votum, versteckte Intrige oder brutalen Mord, als Söhne von Kaisern oder von Bauern, mit dem πατρι κατά πνεΰμαε dem geistlichen Vater Konstantin verbindet 2 . Für den kürzlich verstorbenen Münchner Byzantinisten HansGeorg Beck war das eine Idee wie aus einem Guß mit einem ungeheuren Potential zur Legitimierung des Herrschers und zur Ausübung von Herrschaft 3 , und nicht zuletzt dieser Herrschaftsideologie war es sicherlich zu verdanken, daß es zu dem von ihm so faszinierend beschriebenen byzantinischen Jahrtausend überhaupt kommen konnte und gekommen ist.

1. Sakralität und Priestertum des christlichen Kaisers der Römer / Rhomäer / Byzantiner Wichtigster Ausgangspunkt und immer wieder bemühter Bezugspunkt der byzantinischen Kaisergeschichte ist der schon erwähnte Sieg Kaiser Konstantins an der Milvischen Brücke unter den Mauern Roms über seinen Rivalen Maxentius, der auf der Flucht im Tiber ertrank und dem Sieger den Weg freimachte aus der von Diocletian eingerichteten Tetrarchie zunächst zur Diarchie mit Licinius und seit 324 zur Alleinherrschaft über das Römische Weltreich. Dieser Erfolg war fur den Usurpator Konstantin, dessen Herrschaft nicht durch die tetrarchische Ordnung abgesichert war, sondern von Beginn auf ihre Beseitigung abzielte, ganz besonders wichtig, denn der Sieg über Gegner und Feinde bildete seit jeher Grundlage und Legitimation jeglicher Herrschaft, und er war zugleich der Beweis für eine besonders enge Beziehung des siegreichen Herrschers zu seiner Gottheit4. Zum Instrument seines Aufstiegswillens und Garanten seines Siegeswillens hatte Konstantin noch während seiner Zeit in Gallien den Sol invictus des in Asien beheimateten, aber spätestens seit dem zweiten Jahrhundert im Römischen Reich weit verbreiteten Mithraskultes ausgewählt und sich selbst als Erscheinung dieses Gottes, als unbesiegbaren göttlichen Herrscher darstellen und im Kaiserkult verehren lassen5. In Erwartung der Schlacht gegen Maxentius und in der Anspannung über ihren ungewissen Ausgang soll Konstantin in einem Schlaf- und Wachtraum plötzlich eine Vision zuteil geworden sein in der Form eines über der Sonne liegenden flammenden Kreuzes, verbunden mit der Inschrift: τούτω ν ί κ α / in hoc signo vincas / dadurch, in diesem Zeichen, kannst, sollst, wirst Du siegen!6 Diese eindeutige Konstel2

Ebd., Nr. 112, S. 286; vgl. auch Nr. 82, S. 216 und Kommentar S. 408. H.-G. BECK, Das byzantinische Jahrtausend, München 1978, S. 80. 4 R. LEEB, Konstantin und Christus. Die Verchristlichung der imperialen Repräsentation unter Konstantin dem Großen als Spiegel seiner Kirchenpolitik und seines Selbstverständnisses als christlicher Kaiser (= Arbeiten zur Kirchengeschichte, 58), Berlin 1992, S. 24. 5 Ebd., S. 9 f. 6 Eusebius, Werke, 1. Bd., 1. Teil: Ober das Leben des Kaisers Konstantin, hg. von F. WINKELMANN, Berlin 2 1991,1,28,2, S. 30. 3

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lation zwischen Kreuz und Sonne habe ihn veranlaßt, mit einem gleichartigen Feldzeichen in den Kampf zu ziehen, und der glänzende Sieg habe seine Entscheidung gerechtfertigt. Die Siegestheologie wird also zum entscheidenden Vehikel der religiösen Umorientierung / Neuorientierung Konstantins, sie macht auch sichtbar, worum es ihm vor allem anderen ging: Sieg als Mittel zum Erwerb und zum Ausbau von Herrschaft, Sieg aber auch als Voraussetzung für eine Pax Augusta, einen Kaiserfrieden, der diese Herrschaft auf Dauer sichert und garantiert. Schon bei der Wahl des Sol invictus zu seinem comes war Konstantin mit Bedacht und Geschick verfahren. Mit der Hinwendung zum Gott der Christen wollte er sich auch fur die bisher verfolgte, aber trotz aller Repressalien weiter wachsende Anhängerschaft der neuen Religion als Kaiser akzeptabel machen und das nach Möglichkeit, ohne seinen bisherigen Anhang zu verprellen. Er erreichte sein Ziel, indem er sich in der Folgezeit nicht mehr als Sol invictus, sondern als semper victor feiern ließ, indem er sich als im traditionellen Sinn kultbarer Herrscher zurücknahm, seine Herrschertitulatur vom Geruch heidnischer Religiosität reinigte und die Sieghaftigkeit zum Attribut seines Kaisertums machte7, ganz im Sinne des späteren Schlachtrufes byzantinischer Soldaten: σταυρός νενίκηκεν, das Kreuz hat gesiegt, ist immer Sieger/8 Für Christen, denen die Sonne als ein Zeichen ihres Gottes auch nicht völlig fremd war und denen die Verehrung des Sol schon immer erträglicher gewesen war als die Anbetung anderer Götter, war diese ins Christliche gewendete Siegestheologie durchaus akzeptabel, fur die Nichtchristen bewegte sich Konstantin dagegen trotz aller Veränderungen und Nuancierungen seiner Herrscherpropaganda wahrscheinlich im großen und ganzen durchaus noch weiter in traditionellen Bahnen. Im Interesse einer erneuerten Pax Augusta war Konstantin augenscheinlich auch bereit, seine Vorstellungen von der Existenz einer summa divinitas im Sinne der so erfolgreichen christlichen Religion zu modifizieren bzw. zu konkretisieren. Von seinem Kaisertum durch göttliche Erwählung und göttliche Vorsehung war Konstantin von Anfang an überzeugt. Durch den Sieg an der Milvischen Brücke hatte der Christengott unmißverständlich zu erkennen gegeben, daß Konstantin der von ihm gewollte Kaiser war, das war gut für Konstantin, und es war gut für den Christengott. Auch die Vorstellung eines Kaisertums έκ θεοΰ, von Gottes Gnaden, die auf den Herrscher als deus praesens verzichtete, aber zugleich seine Gottähnlichkeit sicherstellte, weil auch die von Gott nur verliehene Macht schlechterdings übermenschlich war, sakrale Züge trug, war bereits im spätantiken Denken vorgeprägt und Konstantin keineswegs fremd, erleichterte ihm die Hinwendung zum Gott der Christen. Die Schlacht an der Milvischen Brücke unter dem Zeichen des Kreuzes aber bringt Konstantin nicht nur den Sieg, sie macht ihn auch selbst zum Christen, und zwar zu einem Christen, der eine Taufe gar nicht mehr nötig hat, weil sich ihm die summa divinitas direkt und persönlich offenbart hat, der nicht missioniert werden muß, kein Katechumenat braucht, sondern der selbst Verantwortung für das Christenvolk trägt und zur Verbreitung des Christentums aufgerufen ist, der nicht in die von den Gläubigen ge7

8

LEEB (wie Aran. 4), S. 122 f.

H. HUNGER, Reich der Neuen Mitte. Der christliche Geist der byzantinischen Kultur, Graz / Wien / Köln 1965, S. 191.

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schaffene Kirchenorganisation eingeordnet ist, sondern außerhalb und über ihr steht, der aber Entscheidungen für die Kirche zu treffen hat9. Schließlich wird Konstantin durch seinen Sieg an der Milvischen Brücke auch zum Begründer eines neuen Bundes zwischen Gott und seinem Volk, so wie Moses, der als Begründer des alten Bundes mit seinem Volk das Rote Meer durchschritten hatte, um ins gelobte Land zu gelangen10. Durch das Ereignis von 312 wird also nicht nur das Verhältnis des Kaisers zu Gott neu bestimmt, sondern auch sein Verhältnis zu den Dienern dieses Gottes und nicht zuletzt seine Beziehung zu seinem, zu Gottes Volk. Natürlich ist die sog. Konstantinische Wende nicht die Sache eines Augenblicks11, braucht die Verchristlichung des römischen Kaisertums Zeit. Sie kann an Entwicklungen anknüpfen, die schon lange vor 312 eingesetzt hatten. Es muß aber noch eine komplizierte und langwierige Arbeit geleistet werden, um das sich wandelnde Kaisertum in allen Bereichen des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens wirklich manifest und dauerhaft präsent zu machen. Zu beobachten sind ganz deutliche Spuren des Experimentierens, des Auswählens zwischen verschiedenen Argumentationsketten und Modellvorstellungen zur Interpretation dieses Kaisertums und des Ausprobierens von verschiedenen Formen seiner Repräsentation. Das zeigt sich schon beim Umgang mit dem Sieg an der Milvischen Brücke, der für die Byzantiner mehr als 1000 Jahre lang zum Schlüsselereignis hochstilisiert wurde. Der anonyme Lobredner, der ein Jahr später das Ereignis erstmals feiert, sieht sich noch vor die Frage gestellt, wer denn dieser Gott überhaupt war, der den Angriffswillen des princeps antrieb, während ihm seine Generäle und seine //arws/j/ces/Zukunftsdeuter zur Vorsicht rieten. Zwei Jahre später weiß dann der Rhetor und Literat Lactantius, daß Konstantin von einer göttlichen Vision inspiriert seinen Soldaten den Befehl gegeben hatte, auf ihren Schildern das Christogramm anzubringen. Und das Lichtkreuz, das schließlich das Rennen in der offiziellen Reichspropaganda machte, erscheint sogar erst in der vom Bischof und Kirchenhistoriker Eusebius verfaßten Vita Constantini nach dem Tode des Kaisers, und es stellt sich für Rudolf Leeb in seinem Buch „Konstantin und Christus" dar als eine wohl auch fiir die Christen in seinem Reich akzeptable Synthese zwischen früher Sol-Symbolik und der vom Christentum übernommenen Kreuzessymbolik12. Besonders kompliziert war die genaue Bestimmung der Stellung des Kaisers zum Gott der Christen nicht zuletzt deshalb, weil der christliche Glaube zu Beginn des 4. Jahrhunderts noch sehr unfertig war, weil seine dogmatische Ausformulierung noch längst nicht abgeschlossen war, weil speziell die sogenannten christologischen Streitigkeiten, in denen es um eine kanonische Auffassung zur Trinität und besonders zu Chri9

BECK ( w i e A n m . 3 ) , S. 9 3 .

10

E. v. IVANKA, Rhomäerreich und Gottesvolk. Das Glaubens-, Staats- und Volksbewußtsein der Byzantiner und seine Auswirkung auf die ostkirchliche-osteuropäische Geisteshaltung, München 1968, bes. S. 49 ff. 11 Das wird auch von K. BRINGMANN, Die Konstantinische Wende, in: Historische Zeitschrift 260, 1995, S. 2147, nicht in Frage gestellt, der nachzuweisen versucht, daß Konstantin sich tatsächlich seit 313 als Christ sieht und von den Christen als einer der Ihren angesehen werden will. 12

LEEB ( w i e A n m . 4 ) , S. 1 2 9 ff.

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stus innerhalb dieser göttlichen Dreieinigkeit ging, genau genommen noch nicht einmal richtig begonnen hatten. Die Rechtshistorikerin Maria Theres Fögen schreibt in ihrem Beitrag zu Pipers „Handbuch der politischen Ideen", daß durch die Entscheidung des von Konstantin einberufenen und geleiteten Konzils von Nikaia 325 für die Gottesgleichheit Christi die Position des gottähnlichen, aber Gott Untertanen und ihm zu Gehorsam verpflichteten Gottesgeschöpfes fur den christlichen Herrscher Konstantin frei wurde13. Vielleicht könnte man umgekehrt sogar formulieren, daß er sich durch diese Entscheidung des Nicänums I selbst diesen Rang gleich nach Gott und vor allen Menschen freigemacht hat14. Gelöst waren alle diesbezüglichen Probleme damit noch längst nicht, nicht für Konstantin und nicht für seine Nachfolger. Besonders zwei Eckpfeiler in dem 324 aufgelegten Bauprogramm für seine Hauptstadt Konstantinopel glaubt die neuere Forschung dafür dingfest machen zu können, daß es Konstantin schwer gefallen ist, von verschiedenen traditionellen Elementen der Kaiservorstellung Abschied zu nehmen, und daß er möglichst viel von ihnen in sein neues Herrschafitskonzept übernehmen wollte. Da ist zunächst die Anlage eines Kapitals an exponierter Stelle der Stadt nach dem Vorbild Roms, die für sich genommen zwar noch nicht unbedingt ein Beweis für das Verharren Konstantins im überkommenen Heidentum war15, die aber zumindest anfanglich eine Statue mit einer Strahlenkrone zum Mittelpunkt hatte, die also sehr wahrscheinlich Konstantin als Christos-Helios darstellte, womit der Kaiser nach Paul Speck praktisch zu einem Constantinus Capitolinus wurde16. Ein zweites Indiz für dieses Bemühen um Gottes- und Christusgleichheit könnte die Gestaltung seiner Grabeskirche sein. Zwar tendiert die Forschimg in jüngster Zeit immer mehr dahin, daß es sich bei diesem Bau nicht um ein alleinstehendes Rundmausoleum gehandelt hat, das schon für sich eine Divinisation des Herrschers vorausgesetzt hätte17, sondern daß Konstantin sich als Grablege einen neuartigen Kreuzbau errichten ließ, einen Zentralbau mit Apsiden, der ein Kreuz integrierte; sein Sarkophag im Schnittpunkt dieses Kreuzes, umgeben von den Denkmälern/Kenotaphien der zwölf Apostel, aber deutlich von ihnen abgehoben, aus ihnen herausgehoben, könnte jedoch sowohl als Zeichen für Christusähnlichkeit als 13

Μ. TH. FÖGEN, Das politische Denken der Byzantiner, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hg. von I. FETSCHER/ H. MÜNKLER, Bd. 2 , München / Zürich 1 9 9 3 , S. 4 1 - 8 5 , bes. 4 4 . 14 Das setzt allerdings voraus, daß Konstantin zum Zeitpunkt des Konzils bereits selbst von seinem Anspruch auf Christusgleichheit abgerückt war, was die Forschung (s. weiter unten) eher skeptisch beurteilt. Auf jeden Fall scheint mir ein Zusammenhang zwischen christologischen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen um die Sakralität des verchristlichten Kaisertums nicht völlig ausgeschlossen zu sein. 15 C. MANGO, Le developpement urbain de Constantinople (IV^-VT siecles), Paris 1984, S. 35. 16 P. SPECK, Urbs, quam deo donavimus. Konstantins des Großen Konzept für Konstantinopel, in: Boreas. Münstersche Beiträge ftir Archäologie 18, 1995, S. 143-173, bes. 150. Der Autor bezeichnet Konstantins Konzept als zutiefst heidnisch, weil er sich von seinen kaiserlichen Vorgängern zwar durch eine andere Religion, aber nicht durch eine andere Einstellung zur Religion unterscheidet. Zugleich betont er aber auch, daß er das eigentlich heidnische Kapitol nicht nur usurpiert, sondern auch verändert. 17 C. MANGO, Constantin's Mausoleum and the Translation of Relics, in: Byzantinische Zeitschrift 83, 1990, S. 51-62: ein ursprünglicher Rundbau als Beleg für den Anspruch auf Christusgleicheit.

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auch als Hinweis auf angestrebte Christus-/Gottesgleichheit gedeutet werden18. Und als Indiz für diese Tendenz wird schließlich auch die Hagia Sophia angeführt, die nach der Auffassung verschiedener Spezialisten ursprünglich als Palastaula für die Weisheit des christusähnlichen/-gleichen Kaisers gebaut wurde, ehe sie dann seit etwa 360 von der Person Konstantins getrennt und als Kirche der Hagia Sophia ausschließlich Christus geweiht wurde19. Damit deutet sich an, daß es gegen bestimmte Elemente des Kaisertums Konstantins Einwände und Widerstände gegeben haben könnte, nach seinem Tod oder sogar noch zu seinen Lebzeiten, nach seinem Tod auch durch die Liquidierung des konstantinischen Kapitols und durch die Umgestaltung der Apostelkirche, und noch kurz vor seinem Ableben durch seine Taufe, die nach P. Speck der erste Schritt zur Reduzierung des Kaisers auf ein für die Kirche akzeptables Normalmaß war20, der zumindest seinem körperlichen Wesen nach einem jeden anderen Menschen gleicht, in der Vollmacht seiner Würde aber Gott ähnelt und damit höher steht als jedes menschliche Wesen, wie es Agapetos Diakonos später in seinem für Kaiser Justinian geschriebenen Fürstenspiegel ausdrückt, der apostelgleich, aber nicht gottgleich und damit auch nicht christusgleich ist, der aber durch die μ ί μ η σ η τοΰ θεού, die Nachahmung Christi gottähnlich wird, seine spezifische Sakralität erhält, und für das Volk21, das manche dieser feinen Unterscheidungen nicht so recht nachvollziehen konnte, war der Kaiser wohl auch von höherer Natur als alle anderen Menschen22. Auseinandersetzungen zeichnen sich nicht nur um die spezifische Sakralität des Kaisers, seine Sonderstellung zu Gott ab, sondern auch um sein Priestertum, um seine Sonderstellung gegenüber der christlichen Hierarchie. Den heidnischen Titel eines pontifex maximus haben die römischen Kaiser bis zum Jahr 380 behalten. Aber schon Konstantin erhält von seinem Biographen Eusebius auch den Titel eines επίσκοπος κοινός bzw. eines επίσκοπος των εκτός 23 , und das deutet direkt und vielleicht noch eher indirekt darauf hin, daß der Kaiser mehr war bzw. mehr wurde als ein einfacher Bischof, daß er Verantwortung für das Ganze der Kirche trug, für alle Christen, aber auch für alle Nichtchristen seines Reiches24, daß er aufgerufen war, eine Verchristlichung seines Reiches auch durch die Christianisierung aller seiner Untertanen, der Menschen dies18

LEEB (wie Anm. 4), S. 115: ursprünglicher Zentralbau in Kreuzesform als Christusmartyrion und Kaisermausoleum, der aber nicht Christusgleichheit, sondern nur Christusähnlichkeit zum Ausdruck bringen soll. SPECK (wie Anm. 15), S. 144 f.: späterer Anbau an das ursprüngliche Mausoleum, der den Wechsel von Christusgleicheit zu Christusähnlichkeit signalisiert. 19 Vgl. P. SPECK, Die Beiträge stehen zur weiteren klärenden Diskussion in: Rechtshistorisches Journal 3, 1984, S. 24-35, bes. 30, in Auseinandersetzung mit H. G. THÜMMEL, Hagia Sophia, Besonderheiten der byzantinischen Feudalentwicklung, hg. von H. KÖPSTEIN, Berlin 1983, S. 199-125. 20

21

SPECK ( w i e A n m . 15), S. 144.

Agapetos Diakonos, Der Fürstenspiegel für Kaiser Justinianos, hg. von R. RIEDINGER, Athen 1995, S. 38/39 22 Vgl. O. TREITINGER, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, Darmstadt 21956, S. 42, Anm. 48 (S. 43). 23 Eusebius (wie Anm. 6), 1,41, S. 38 f.; IV, 24, S. 128. 24 G. DAGRON, Empereur et pretre. Etude sur le „cesaropapisme" byzantine, Paris 1996, S. 141 ff.: „Constantin quasi-eveque".

Sakralität und Priestertum des byzantinischen Herrschers

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seits und jenseits der Grenzen seines Reiches zu betreiben25. Abgeleitet wurde dieses Priestertum vielleicht auch von der Apostelgleichheit des Kaisers, von der Gleichheit mit den Jüngern Christi, die seine Botschaft zuerst verkündet hatten, von ihm selbst eingesetzt und berufen und durch die Ausgießung des heiligen Geistes dazu befähigt worden waren. Es kommen also viele Elemente zusammen, die die Sakralität und das Priestertum des verchristlichten bzw. sich verchristlichenden römischen Kaisers bestimmen, und nicht alle Elemente passen zusammen. Wie Gilbert Dagron in seinem grundlegenden Werk über Kaiser und Priester in Byzanz aber erst vor kurzem überzeugend nachgewiesen hat, wird dieses Kaisertum nicht durch eine Kohärenz von Ideen geprägt, sondern durch die Mobilisierung und Überlagerung von Modellen, und diese Modelle wurden von Anfang an ganz besonders aus dem Alten Testament bezogen. In Byzanz hat das Alte Testament nach den Worten Dagrons konstitutionellen Wert26, es hat den gleichen normativen Charakter für den Bereich der Politik wie das Neue Testament für den Bereich der gesellschaftlichen Moral. Die Geschichte der alttestamentlichen Könige bildet den Rahmen, an dem sich das Bild des byzantinischen Kaisertums formte. War der rätselhafte Herrscher von Salem, Melchisedek (Gen. 14,18), gleichzeitig Herrscher und Priester und Moses sogar Prophet, Priester und König, so behalten David und der Stamm Juda vor allem die Königsfunktion, während Aaron und dem Stamm Levi das Priesteramt verliehen ist. Die Evangelisten und frühen Christen waren noch schwankend, in welchen dieser Stämme Christus eingeordnet, welchem dieser Stämme er zugeordnet werden konnte, aber schon Sextus Julius Africanus wies ihn in der Mitte des 3. Jahrhunderts beiden Stämmen zu. Wenn aber Christus Priester- und Königsamt in sich vereinte, dann mußte das auch fur seinen Imitator auf Erden, den christlichen Kaiser, gültig sein. Zugleich wird sichtbar, daß nicht nur der christliche Kaiser Herrscher mit priesterlicher Dimension ist und sein kann, sondern daß er Glied in einer langen Kette von Herrschern ist, die von Melchisedek zu David, von David zu Augustus und von Augustus zu Konstantin wissentlich oder unwissentlich ihre Rolle in der Heilsgeschichte spielen, so daß ein guter, ein idealer Kaiser ganz einfach auch Priester sein mußte27. In diesem Sinne wird das große Thema kaiserlicher Sakralität und kaiserlichen Priestertums in der langen byzantinischen Geschichte immer wieder erneut aufgegriffen, konkretisiert und variiert und sogar problematisiert, im Sinne dieser grundsätzlichen Einheit wird diese Problematik aber auch immer wieder gelöst und entschieden.

25

H.-G. BECK, Christliche Mission und politische Propaganda im byzantinischen Reich, Settimane di studio del Centra italiano dei studi sull' alto medioevo XIV, Spoleto 1967, S. 649-674. 26 DAGRON (wie Anm. 2 4 ) , S. 7 0 ; vgl. auch die Rezensionen zu dieser Arbeit von J. W . BARKER, in: Speculum 7 3 , 1 9 9 8 , S. 4 9 4 ^ 9 7 , undM. TH. FÖGEN, in. Rechtshistorisches Journal 1 5 , 1 9 9 6 , S. 37-44. 27

DAGRON ( w i e A n m . 2 4 ) , S. 3 1 5 .

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2. Sakralität und Priestertum des byzantinischen Kaisers in der Kaiserstadt Konstantinopel und im Kaiserzeremoniell des Hofes Sakralität und Priestertum des byzantinischen Kaisers in den byzanztypischen Zügen lassen sich an vielen materiellen und ideellen Zeugnissen dieses Kaisertums ablesen und festmachen, an seinem Urkundenwesen und an seinen Münzemissionen, ganz besonders aber an der von ihm geschaffenen und gestalteten Kaiserstadt und an dem Zeremoniell, dessen Subjekt und Objekt der Kaiser war und das sich in seiner Hauptstadt, an seinem Hofe konzentrierte. Die von Kaiser Konstantin im Jahre 324 als neue Kaiserresidenz ausgewählte und 330 als Konstantinsstadt/Konstantinopolis eingeweihte ehemalige Provinzstadt am Goldenen Horn war durchaus nicht von Anfang an eine christliche Metropole und als solche ein bewußtes Gegenstück zum heidnischen Rom, sondern besonders in seinen städtischen/staatlichen Repräsentationsbauten noch sehr stark am traditionellen Zentrum des römischen Weltreiches orientiert28. Daß Konstantin und seine Nachfolger dabei nicht immer das richtige Gespür und eine glückliche Hand hatten, das habe ich schon am Beispiel des Kapitols angedeutet. Auch bei der Einrichtung eines konstantinopolitanischen Senats und der Errichtung der für ihn benötigten Räumlichkeiten lief nicht alles so wie ursprünglich gedacht und geplant. Das erste Amtsgebäude befand sich am forum Konstantins, wurde aber kaum genutzt und stand im 10. Jahrhundert nachweislich leer. Das zweite Senatsgebäude wurde am Augustaion-Platz in unmittelbarer Nähe des Kaiserpalastes errichtet, und es diente zunächst tatsächlich für die Zusammenkünfte der Senatsmitglieder, wurde dann aber in erster Linie für Audienzen, aber auch als Schule und als Gericht genutzt29. Die neue Metropole eines christlichen Autokrators brauchte grundsätzlich und auf lange Sicht weder ein kultisches Zentrum von der Art des römischen Kapitols noch ein politisches Zentrum von der Art des römischen Senats. Zu den zentralen baulichen Symbolen der Kaiserideologie und zugleich zu den wichtigsten Schauplätzen des Kaiserkultes wurden für eine lange, nicht fur die ganze Zeit der Palastbezirk, die Hagia Sophia und das Hippodrom, der Palast als die irdische Wohnstätte des heiligen Kaisers, die Kirche als der Ort des Dialogs dieses Kaisers mit seinem Gott und des gemeinsamen Gottesdienstes mit den bestellten Dienern dieses Gottes und die Rennbahn als der wichtigste Ort des kaiserlichen Dialogs mit seinem Volk, das stellvertretend für das ganze Reichsvolk das Volk von Konstantinopel ist, alle drei Schauplätze des heilsgeschichtlichen Dramas in enger Nachbarschaft zueinander,

28

Das gezeigt zu haben ist das Verdienst von G. DAGRON, Naissance d'une capitale. Constantinople et ses institutions 330 ä 451, Paris 1974. 29 A. BERGER, Die Senate von Konstantinopel, in: Boreas. Münstersche Beiträge zur Archäologie 18, 1995, S. 131-142; bes. 134, weist daraufhin, daß sich der Senat räumlich wie politisch offenbar nie aus der Umgebung des Kaiserpalastes gelöst hat.

Sakralität und Priestertum des byzantinischen Herrschers

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aber auch deutlich getrennt voneinander30, sowohl Kirche als auch Rennbahn für den Kaiser leicht und auf nur von ihm begehbaren Wegen erreichbar und mit nur für ihn reservierten Kaisersitzen und Aufenthaltsräumen ausgestattet, die als solche noch zum Palast gehörten, trotzdem waren aber weder Kirche noch Rennbahn einfacher Annex des Palastes, sondern eigenständige Institutionen mit selbständig handelnden personellen Gruppen. Als Sitz des Kaisers ist auch sein Palast heilig, wird er zum sacrum palatium bzw. θείον παλάτιον 31 . Nach Eusebius baute sich Konstantin seinen Palast, als ob es sich um eine Kirche handelte32, wobei dieses quasi bzw. ώσπερ nach Dagron eine ganz bewußte byzanztypische Unschärfe darstellt, die Analogien assoziieren und Identitäten vermeiden soll33. In dem wichtigsten und vornehmsten Raum ließ schon Konstantin an der Decke das Leidenssymbol des Erlösers anbringen, unter diesem Zeichen thronte der Kaiser, genau unter diesem Kreuz wurde er nach seinem Tod aufgebahrt, bevor er im Zentrum des Kreuzes der von ihm erbauten kirchlichen Grabstätte beigesetzt wurde34. Der später Chrysotriklinos genannte Thronsaal ähnelte in Aufbau und Ausrichtung einer Kirche. Über dem kaiserlichen Thron befand sich ein Bild von Christus Pantokrator auf seinem göttlichen Thron35. In der Apsis der Magnaura befand sich dagegen wahrscheinlich der von Konstantin Porphyrogennetos beschriebene Thron aus zwei Sesseln, einem rechten, östlich piazierten goldenen Sessel, auf dem der Kaiser an gewöhnlichen Tagen in einer seidenen Staatsrobe, dem Skaramangion, Platz nahm, und einem mit Purpur bedeckten Sessel auf der linken Seite, auf der er an Sonn- und Feiertagen in einem goldgestreiften Sagion, einem kürzeren hemdartigen Kleid, zu sitzen pflegte. Seine Erklärung findet das eigenartige Gebahren darin, daß der rechte Sitz als Thron Christi an Festtagen für den Gottessohn als dem ewigen König freibleiben mußte, während sein Nachahmer und irdischer Stellvertreter an Werktagen als zeitlicher Herrscher von diesem Thron aus sein Reich regieren konnte; und das war nicht nur allegorisch, sondern durchaus real gemeint, ging aus von der unsichtbaren Anwesenheit Gottes auf einem sichtbaren Thron36. Dieser Thron stand nicht wie der Thron Jahwes separat vom Thron Salomos in dem von Salomon erbauten Tempel37, sondern er stand im byzantinischen Kaiserpalast als sichtbarer Ausdruck gemeinsamer Herrschaft von Christus und christlichem Kaiser. Und um den Charakter dieser Herrschaft optisch noch deutlicher zu machen, konnte der Thron durch eine besondere Hydraulik nach oben bis unter die Decke des Thronsaales verlagert und der Herrscher auf diese Weise den anwesenden Untertanen oder fremden Besuchern entrückt werden. Dem Zweck der Entrückung des 30 Α. M. SCHNEIDER, Die Hagia Sophia zu Konstantinopel, Berlin 1939, S. 7; H. HUNGER, Der Kaiserpalast in Konstantinopel, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 36,1986, S. 1-11. 31

V g l . TREITINGER ( w i e A n m . 2 2 ) , S. 51.

32

Eusebius (wie Aran. 6), S. 145. 33 DAGRON (wie Anm. 24), S. 141 ff. Vgl.

34

FÖGEN (wie

Anm.

26),

S. 42 f. S. auch weiter oben Anm. 24.

LEEB ( w i e A n m . 4 ) , S. 1 1 2 f.

35

HUNGER ( w i e A n m . 3 0 ) , S . 4 .

36

TREITINGER

(wie Anm. 2 2 ) , S. 3 2 ff.; R. GUILLAND, Le Grand Palais sacre de Byzance. Le palais de la Magnaure, in: Epeteris Hetaireias Byzantinon Spudon 27,1957, S. 63-74. 37 Vgl. den Beitrag von Rüdiger Lux in diesem Band.

152

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Herrschers dienten auch vielfaltige Vorhänge {vela), hinter denen der Kaiser als aufmerksamer Zeuge die Beratungen seiner Würdenträger verfolgen konnte oder hinter denen das Volk von Empfangen ausgeschlossen wurde und sich nur durch den zeremoniellen Ruf nach einem langen Leben des Herrschers, das polychronion, bemerkbar machen konnte. Bei den regelmäßigen Morgenempfängen erfolgten die Emennungen und Beförderungen seiner Beamten durch den Kaiser, und zwar im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes durch meine von Gott stammende Majestät, wie es in der üblichen Ernennungsformel hieß. Und in einer anschließenden predigtartigen Ansprache ermahnte der Kaiser die Investierten oder Promovierten, sich bewußt zu sein, daß sie ihre Ämter und Würden aus den Händen Gottes erhalten hätten38. In der Fähigkeit zu erheben, aber auch fallen zu lassen, zu schenken und zu nehmen oder zurückzufordern zeigte sich die Allmacht des Kaisers ähnlich der Allmacht Gottes; sie beeinträchtigte die Ausbildung fester hierarchischer Strukturen, setzte an die Stelle einer autonomen Bürokratie, eines verfaßten Adels und berechtigter Stände einen sich ständig erneuernden, in ungerichteter Entwicklung befindlichen labilen Hof39, machte alle Untertanen zu δούλοι, auch seine Höflinge, seine Beamten und Militärs, verhinderte zugleich aber auch den Auf- und Ausbau schützender Barrieren zwischen Kaiser und Untertanen, auch zwischen dem Kaiser, seinen Konkurrenten und ihrem Anhang, machten sein Kaisertum omnipotent und labil zugleich. Und es ist durchaus kein Zufall, sondern ganz folgerichtig, daß der byzantinische Verbrauch an Kaisern sehr viel höher gewesen ist als in benachbarten Reichen für vergleichbare Zeiträume. Unterstützt wurde die zeremonielle Separierung des Kaisers, seine Entrückung in eine sakrale Sphäre auch durch verschiedene kaiserliche Reservate. Auf die Rolle des kaiserlichen Purpurs fur die Selbstdarstellung und Selbsterhöhung wurde schon bei der Thronbeschreibung verwiesen. Sie reichte von Purpurschuhen bis zu Purpurtinte. Die Verwendung von roter Schreibflüssigkeit ohne kaiserliche Qualifikation war ein Kapitalverbrechen, und schon Tintenfarben, die sich dem Rot nur ganz vorsichtig näherten, konnten als Indizien für versteckte Illoyalität oder sogar geplante Usurpation gedeutet werden. Und in diesen Zusammenhang gehört auch die Purpurgeburt kaiserlicher Kinder, die eigentlich eine Porphyrgeburt war, weil sie in dem mit Porphyr ausgekleideten kaiserlichen Gebärzimmer/Gebärsaal im Kaiserpalast erfolgte, die dem Porphyrogennetos und auch der Porphyrogennete zwar niemals einen normierten Anspruch auf die Kaisernachfolge, wohl aber gewisse Chancen dazu in die Hand gab40. Denn das Entscheidende war nicht kaiserliche Geburt, nicht Nominierung durch Heer, Senat und/oder Volk, sondern göttlicher Wille oder wenigstens göttliche Zulassung, und das Handeln dieser sog. Kürfaktoren bzw. Wahlgruppen erfolgte nur durch göttliche Inspiration, nicht durch autonomen Willen41. Keine mittelalterliche Gesellschaft ist nach meiner Kenntnis so intensiv und permanent mit der Suche nach offenen und versteckten 38

HUNGER ( w i e A n m . 7 ) , S. 186 f.

39

FÖGEN ( w i e A n m . 12), S. 58.

Vgl. G. DAGRON, Nes dans le poupre, in: Travaux et Memoires 12, 1994, S. 105-142; R.-J. LILIE, Byzanz. Kaiser und Reich, Köln / Weimar / Wien 1994, S. 88 f. 40

41

FÖGEN ( w i e A n m . 12), S. 81 f.

Sakralität und Priestertum des byzantinischen HeiTschers

153

Hinweisen auf die Person künftiger Herrscher beschäftigt gewesen. Beteiligt daran waren Kleriker und Laien, vornehme und einfache Leute, berechnende Intriganten, liebende Mütter, graue Eminenzen. Kaiserliche Prinzen brauchten sie ebenso wie geschickte Usurpatoren. Und wenn man bedenkt, daß solche Vorhersagen wohl nur dann überliefert wurden, wenn sie später auch eintraten, daß es äußerst gefahrlich war, solche Vorhersagen öffentlich zu machen, noch bevor sie eingetroffen waren, daß es sicherlich mehr falsche als wahre Voraussagen gab, dann kann man vielleicht ermessen, wie offen jede Kaisernachfolge war oder zumindest sein konnte, wie schwierig es war, Geburt oder andere Formen der Qualifizierung zu Herrschaft anstelle von Charisma bzw. unabhängig von göttlicher Qualifizierung und Auswahl durchzusetzen. Die Zuordnung der Hagia Sophia als Aula zu seinem Palast hatte Kaiser Konstantin, wie schon angedeutet, nicht durchsetzen können, sie wird in der Folgezeit als Kirche der heiligen Weisheit Christi zur Hauptkirche der ostkirchlichen Welt, die den Weltherrschaftsanspruch Christi mit den imperialen Ansprüchen seines kaiserlichen Vikars auf alle Völker der Welt42 in dem noch zu Beginn des 14. Jahrhunderts von Patriarch Athanasios geäußerten Sinn verband. Zwischen Palast und Kirche gab es einen nur dem Kaiser bzw. der kaiserlichen Familie vorbehaltenen Weg, einen mystikos kochlias zum sog. metatorion, einer Art Miniaturpalast mit zwei Etagen im südöstlichen Teil der großen Kirche, wo der Kaiser für sich allein beten, aber auch bei anstrengenden und langen kirchlichen Liturgien etwas ausruhen und gegebenenfalls und den Vorschriften entsprechend seine Kleidung wechseln konnte und wo er auch gewissermaßen auf eigenem Terrain mit dem Patriarchen zusammentreffen und vertrauliche Gespräche fuhren konnte43. Sein offizieller Weg zu den großen Kirchenfesten führte ihn jedoch durch die Chalke, das repräsentative Eingangstor des Palastes, und durch die Stadt, d. h. über den Augustaion genannten öffentlichen Platz in verschiedenen Etappen vorbei an den Tribünen des Stadtvolkes mit ihren verschiedenen Faktionen und ihren Führern, die ihn akklamierten und denen er dankte, zum Vestibül des Narthex der Großen Kirche. Hier legte der Kaiser seine Krone ab, denn es kam ihm nicht zu, dieses Zeichen seiner weltlichen Herrschaft auch dort zu tragen, wo Christus mit seiner Dornenkrone regierte, und zugleich wollte er damit auf das Ende der Welt verweisen, an dem der irdische Kaiser seine Krone in Jerusalem niederlegen und Christus endgültig die Macht übernehmen werde. Dann schritt er mit seinem Gefolge durch die Horaia Porta, die Schöne Pforte, über der im 10. Jahrhundert ein Mosaik angebracht wurde, auf dem die Kaiser Konstantin und Justinian (Modelle) ihre(r) Stadt und ihre(r) Kirche der Gottesmutter als Weihgeschenk überreichten. Im Narthex wurde er vom Patriarchen mit seinem Klerus empfangen und nach dem Durchschreiten dieser Vorhalle in einer kurzen propompe wurde die Kaiserpforte erreicht, über deren mittlerem Eingang sich ein Mosaik befand, das einen Kaiser in büßender Haltung vor Christus, flankiert von der Gottesmutter und dem Erzengel Michael zeigte, vor dem sich Kaiser und Patriarch gleichzeitig verneigten als Zeichen der Devotion und der Unterwerfung des kaiserlichen servus Dei vor Christus, dem rex regnantium. Nach dem Eintritt durch die Kaiserpforte schritten Kaiser und Patriarch Seite an Seite durch den ganzen Kirchenraum bis zur Heiligen Pforte, die 42

K. ONASCH, Liturgie und Kunst der Ostkirche in Stichworten, Leipzig 1981, S. 376.

43

DAGRON ( w i e A n m . 2 4 ) , S. 4 0 .

154

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der Patriarch als Herr des Kirchenrituals zuerst allein durchschritt, um dann den Kaiser zum Altar zu fuhren, ihm die liturgischen Gefäße und Reliquien zu zeigen, ihm das Altartuch zum Kuß hinzureichen und ihn schließlich zum heiligen Kreuz in der Apsis des Altars zu geleiten und dabei beweihräuchern zu lassen. Das alles ist nach Dagron keine Frage der Rechte des Kaisers in der Kirche und auch nicht seiner Beziehungen zum Patriarchen, sondern Ausdruck des selbstverständlichen priesterlichen Charakters des Kaisertums. Kaiser und Patriarch zeigen sich in vollständiger Harmonie und Ebenbürtigkeit in der Großen Kirche des Reiches und in ihrem Allerheiligsten44. Palastzeremoniell und Kirchenliturgie verbinden sich zu einer ganz spezifischen Einheit, anders als im Palast und zugleich ähnlich wie im Palast. Natürlich ist das Verhältnis zwischen Kaiser und Patriarch nicht konfliktfrei. Auch in Byzanz stehen Kaiser vor verschlossener Kirchentür, weigern sich Patriarchen, einen Kaiser zu empfangen wegen unkanonischer Eheschließung, wie Leon VI., und sogar wegen brutalen Mordes, wie Johannes Tzimiskes, aber der Konflikt/Dissens endet in der Regel mit der Erfüllung patriarchaler Bußauflagen, und auch der vor Christus auf den Knien liegende Kaiser steht ganz in alttestamtlicher Tradition, zeigt sich als Sinnbild des Herrschers in der Nachfolge König Davids, und für Dagron ist die kaiserliche Sünde sogar eine brauchbare Gelegenheit zur Reuebekundimg, denn Reue ist konstitutiv für die Herrscherlegitimierung, sie schädigt die Position des Kaisers nicht, sondern bestätigt sie45. Zu einer deutlichen Infragestellung der Stellung des Kaisers kommt es wohl erst durch die Patriarchen Photios in der Mitte des 9. Jahrhunderts und Kerularios in der Mitte des 11. Jahrhunderts. Der eine bezieht sich bei seinen Bemühungen um die Aufwertung des Patriarchen zum Abbild Christi geschickt auf die altjüdische Tradition, die viel eher und länger durch Priester als durch Könige geprägt worden sei, der andere bemüht für sein regale dominium interessanterweise die sog. Konstantinische Schenkung, die nach seiner Überzeugung nicht nur dem Papst in Rom, sondern auch den östlichen Patriarchen kaiserliche Herrschaftsinsignien überlassen haben soll46. Aber beide patriarchalen Vorstöße blieben Episode, zu einem wirklichen Ringen zwischen Regnum und Sacerdotium auf dem Hintergrund der Zweigewaltenlehre des Gelasius aus der Mitte des 5. Jahrhunderts ist es in Byzanz nicht gekommen47. Der Weg in das Hippodrom war für den Kaiser noch kürzer als der in die Hagia Sophia. Der Kaiser erreichte über einen ebenfalls mystikos kochlias genannten Gang direkt die Kaiserloge, das kathisma, bestehend aus drei Etagen, das ebenso wie das metatorion noch als Teil des Kaiserpalastes verstanden wurde48. Im Hippodrom fanden die traditionellen und sehr populären Wagenrennen statt, organisiert von verschiedenen Rennställen und assistiert von verschiedenen Fanclubs, die sich unter den Fahnen ihrer Renn44

Ebd., S. 117; G. MAJESKA, The Emperor and His Church, in: Byzantine Court Culture from 829 to

1204, ed. Η. MAGUIRE, Washington 1997, S. 1-11. 45

DAGRON ( w i e A n m . 2 4 ) , S. 4 0 .

46

Die Geschichte des Christentums, Bd. 4, Freiburg / Basel / Wien 1994, die von G. DAGRON verfaßten Kapitel 3, S. 210 ff., und Kapitel 5, S. 352 ff. 47 Vgl. die neueste Untersuchung von M. Th. FÖGEN, Kaiser unter Kirchenbann im östlichen und westlichen Mittelalter, in: Rechtshistorisches Journal 16,1997, S. 527-549. 48

DAGRON ( w i e A n m . 2 9 ) , S. 1 1 2 .

Sakralität und Priestertum des byzantinischen Herrschers

155

Ställe sammelten. Die zuschauenden Kaiser überreichten nicht nur den Gewinnern der Rennen ihre Siegerkränze, sie outeten sich selbst aus politischem Kalkül oder persönlichem Antrieb oder aus beidem als Fans des einen oder anderen Rennstalls und der bei ihnen unter Vertrag stehenden Wagenlenker, verschiedentlich nahmen sie sogar selbst als Rennfahrer an den Rennen teil49, übersprangen damit die Schranken zwischen Palast und Hippodrom und machten sich mit dem Volk gemein oder zumindest mit denen, die das Volk unterhielten. Ob sie auch in diesem Fall semper victor waren und sein mußten, ist eine schwierige Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. Bei seinem Erscheinen in der Kaiserloge wurde der Herrscher ebenso wie in der Kirche mit einem dreifachen hagios und mit der Victor-Akklamation begrüßt und durch eine geschickte Regie und die Wahl des richtigen Zeitpunktes mit der aufgehenden Sonne in Beziehung gesetzt, wie das auch in dem Ruf άνάτειλον, d. h. „komme zum Vorschein, erhebe dich (wie die Sonne)", zum Ausdruck kommt50. Das ist also praktizierte und repetierte Siegestheologie ganz in der von Konstantin hergestellten Synthese von vorchristlichen mit christlichen Vorstellungen. Daneben wurden auch noch andere Akklamationen angestimmt, von einem Vertreter der Zirkusparteien auf der Handorgel intoniert und vom Volk dreimal wiederholt, besonders Glück- und Segenswünsche fur den Kaiser und seine Familie und immer wieder Wünsche fur ein langes (kaiserliches) Leben, die polychronia, die noch heute Teil der orthodoxen Liturgie sind und beim Einzug der Hierarchen vom Chor angestimmt und dargebracht werden. Das von Konstantin übernommene Hippodrom sollte aus der Sicht des Kaisers nicht nur ein Ort der Volksbelustigung und der Spielleidenschaft sein, sondern es wurde von ihm auch als Stätte institutionalisierter Begegnimg zwischen Kaiser und Volk konzipiert51, indem er den Stadtbewohnern besondere Rechte der Akklamation (ευφημία) gewährte und ihnen damit einen gewissen, wenn auch beschränkten Spielraum für politische Betätigung, bezeichnet mit dem Verb πολιτεύεσθαι, einräumte52. Schon seit Anfang des 5. Jahrhunderts äußerte sich das Volk im Hippodrom zur Auswahl und zur Amtsführung von Stadtgouverneuren und auch anderen staatlichen Beamten. Ende des 5. Jahrhunderts wandelte sich das Recht der Akklamation zu einer Art Zustimmungsrecht des Volkes zu den vom Senat benannten Kandidaten für den Kaiserthron, und dieses Recht weitete sich zeitweilig sogar zum Recht der δυσφημία, der Forderung nach Absetzung des Kaisers aus53, und die demonstrative Ablehnung Kaiser Justinians während des Nika-Aufstandes von 532, verbunden mit der F/c/o/--Akklamation für das im Hippodrom versammelte Volk mit den polychronia für die christusliebenden Blauen und Grünen (Zirkusparteien), ist sogar dahingehend gedeutet worden, daß für einen

49

A. CAMERON, Circus Factions, Oxford 1976. HUNGER (wie Anm. 7), S. 100 ff. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf S. 103 auch auf das schon in den volkstümlichen Akritenliedern auftauchende Wort βασιλεύω = (auf die Sonne bezogen) untergehen und zugleich Kaiser sein, wobei das tertium comparationis die purpurrote Glut der untergehenden Sonne ist, die bei Byzantinern sofort die Assoziation Sonne-Kaiser bewirkte. 51 F. TINNEFELD, Die frühbyzantinische Gesellschaft, München 1977, S. 183. 52 G. L. KURBATOV, Istorija Vizantii, Moskau 1984, S. 42. 50

53

BECK ( w i e A n m . 3 ) , S. 5 9 .

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kurzen Augenblick in der langen byzantinischen Geschichte die Kaiserinstitution als solche und nicht nur die Person eines einzelnen Kaisers in Frage gestellt wurde54. Sei dem, wie ihm sei: Auf jeden Fall war das Volk im Hippodrom, anders als im Palast und auf dem Weg in die Kirche nicht nur Staffage, sondern es konnte dem Kaiser unbequem und sogar gefährlich werden55. Andererseits war das Hippodrom aber wie kaum eine andere byzantinische Institution geeignet, dem Volk der Hauptstadt die Basisvorstellungen dieses Kaisertums zu vermitteln und durch ständige Wiederholungen und Neuinszenierungen in den Köpfen der Menschen, bei Jung und Alt zu befestigen56, und zu diesen Basisvorstellungen gehörte eben ganz besonders die Sakralität des Herrschers und auch sein Priestertum. Der Kaiser erschien seinem Volk aber nicht nur im Palast, in der Kirche und im Hippodrom, er erschien den Bewohnern seiner Hauptstadt auch nach einem geglückten oder mißglückten Feldzug, und der reditus imperatoris nach einem militärischen Sieg gestaltete sich ebenfalls zu einer Demonstration sakraler Macht, war spezieller Ausdruck kaiserlicher Siegestheologie. Der traditionelle Einzug des siegreichen Kaisers begann schon weit außerhalb der Stadt, er nahm seinen Weg durch das Goldene Tor im Südwesten der Stadt und er endete nach vielen Zwischenstationen mit einem Gebet in der Hagia Sophia, mit Segenswünschen des Kaisers von seinem Thron im Palast und/oder mit Wagenrennen im Hippodrom. Diese Einzüge waren klassisches politisches Theater, sie wurden aber auch immer wieder dazu benutzt, die Abhängigkeit dieser Siege von göttlichem Beistand zu demonstrieren. Als dem Kaiser Johannes Tzimiskes nach seinem Sieg über die Bulgaren 971 von den Einwohnern seiner Hauptstadt für den festlichen Einzug ein mit Gold verzierter und von Schimmeln gezogener Triumphwagen zum Geschenk gemacht wird, weigert er sich, den Wagen selbst zu benutzen, und läßt dafür eine von ihm erbeutete Theotokos-lkone in die Stadt fahren, während er gekrönt und bekränzt hinterherreitet. Kaiser Johannes II. Komnenos ließ 1133 nach einem wichtigen Sieg in Kleinasien eine Gottesmutter-Ikone, die er vielleicht auf seinem Feldzug mit sich geführt hatte, die aber vielleicht auch extra für diesen Zweck aus der Stadt herbeigeschafft worden war, ebenfalls auf einem eigentlich für ihn vorbereiteten Triumphwagen in die Stadt einziehen und ging selbst mit einem Kreuz und der Akakia in den Händen zu Fuß vor dem Wagen her, und sein Sohn Manuel I. wiederholte 1167 diese Art des zeremoniellen Schauspiels, nur daß er selbst wieder ein Pferd benutzte. Die Haltung des byzantinischen Kaisers, der im Rahmen eines solchen reditus seinen Triumphwagen an die wahre Siegerin, die Theotokos abtritt, um selbst bescheiden zu Pferd oder sogar zu Fuß dem Prunkgefahrt zu folgen oder ihm voranzugehen, das sollte dem Volk das Kaisertum aus Gott, von Gottes Gnaden im Augenblick höchsten Triumphs sinnfällig vor Augen fuhren 57 . Die Theotokos war seit den Perser- und Avaren54

55

TINNEFELD ( w i e A n m . 5 2 ) , S. 199.

K.-P. MATSCHKE, Bemerkungen zum Parteienproblem in Byzanz, in: Volk und Herrschaft im frühen Byzanz. Methodische und quellenkritische Probleme, hg. von F. WINKELMANN, Berlin 1991, S. 70 ff. 56 H. HUNGER, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner Bd. 1, München 1978, S. 70 ff.; DERS., Ideologie und Systemstabilisierung im byzantinischen Staat, in: Acta antiqua 27,1979, S. 267. 57 H . HUNGER, Reditus Imperatoris, in: Fest und Alltag in Byzanz, hg. von G . PRINZING / D . SIMON, München 1990, S. 17-35; 179-184.

Sakralität und Priestertum des byzantinischen Herrschers

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kriegen zu Beginn des 7. Jahrhunderts in den besonderen Rang eines hauptstädtischen Paladiums gerückt58. Sie war bis zum Reichsende die übernatürliche Beschützerin Konstantinopels; und die dunkle Wolke, die kurz vor dem Fall über der Hauptstadt lag und dem //fl/om-Historiker Kritobulos zufolge den Abzug dieses göttlichen Schutzes anzeigte59, müßte folgerichtig von der Theotokos in Bewegung gesetzt worden sein.

3. Sakralität und Priestertum im byzantinischen Kaiseralltag Außerhalb von Repräsentation und Zeremoniell sind Spuren und Erscheinungsformen byzantinischer Herrschersakralität sehr viel seltener und schwerer auszumachen, sie sind für das Verständnis der Herrschaftsideologie und politischen Theologie dieses Reiches aber kaum weniger instruktiv, und sie sollen deshalb hier nicht ganz außer acht gelassen werden. Kaiser Nikephoros, der im Jahre 802 die fromme Kaiserin Eirene vom byzantinischen Thron verdrängte und 811 gegen den Bulgarenkhan Krum Schlacht, Leben und Kopf verlor, gilt in der historischen Forschung als ein besonders rücksichtsloser und skrupelloser Bedrücker anderer Völker und seiner eigenen Untertanen. Dieses Bild geht vor allem auf den Historiker Theophanes zurück, der ihn in seiner Weltchronik als unersättlichen Ahab, Phalaris und Midas bezeichnet und sorgfaltig zehn Missetaten auflistet, die die Habgier und Bosheit dieses Kaisers belegen sollen. Zur Erheiterung seiner Leser und als weiteres Beispiel für den Charakter dieses Kaisers schließt Theophanes dann folgende Geschichte an: Es gab einen Wachszieher auf dem Forum, der es durch eigenen Fleiß zu Wohlstand gebracht hatte. Den ließ der Unersättliche holen und sagte: Lege deine Hand an mein Haupt und schwöre mir, wieviel Geld du besitzt! Eine Zeitlang weigerte er sich dies zu tun, denn er sei dessen unwürdig, doch als der Kaiser ihn zwang, gab er an, daß er 100 Pfund besitze. Sogleich befahl ihm der Kaiser, sie zu bringen, indem er sagte: Wozu das Zögern? Frühstücke mit mir und bringe die 100 Goldstücke! Dann geh und gib dich damit zufrieden!60 Um diese Geschichte zu verstehen, muß man wissen, daß more grecorum schon in byzantinischer Zeit geschworen wurde, indem man die Hand auf das heilige Kreuzes58

59

H . HUNGER ( w i e A n m . 7), S. 1 9 2 f.

Critobuli Imbriotae Historiae, ed. D. R. REINSCH (= Corpus Fontium Historiae Byzantinae, 27) Berlin / New York 1983, S. 59; dt. Übersetzung von REINSCH, Mehmet II. erobert Konstantinopel (= Byzantinische Geschichtsschreiber, hg. von J. KÖDER, 1 7 ) , Graz / Wien / Köln 1986, S. 104. Schon am Tag zuvor war es bei einer Prozession mit der Ikone der Gottesmutter zu einem Zwischenfall gekommen, als das Bild zu Boden stürzte und kaum weder aufzurichten war, ebd. S. 58 bzw. 103, was die Teilnehmer und Zuschauer in Furcht und Schrecken versetzte und von ihnen als schlechtes Omen gedeutet wurde. 60 Theophanis Chronographia, ed. C. DE BOOR, Bd. 1, Hildesheim 2 1963, S. 487 f.; dt. Übersetzung von L. BREYER, Bilderstreit und Arabersturm in Byzanz (= Byzantinische Geschichtsschreiber, hg. von E. v. IVANKA, 6), Graz / Wien / Köln 1957, S. 154.

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holz oder an eine Ikone legte. Die Aufforderung/der Befehl des Nikephoros könnte also implizieren, daß das kaiserliche Haupt so heilig wie andere christliche und vorchristliche Kultgegenstände ist, daß es den Charakter einer christlichen Ikone bzw. eines sakralen Kaiserbildes hat61. Dem in die Enge getriebenen und durch ein einträgliches Handwerk reich gewordenen Mann hilft der Verweis auf seine Unwürdigkeit wenig, und er wird sich auch über die hohe Ehre eines gemeinsamen Mahles mit dem Herrscher, der in der Regel von seiner Umgebung separiert speiste, nicht so recht haben freuen können. Daß diese Geschichte byzantinische Gemüter erheitern konnte und sie noch mehr als alle vorher genannten Missetaten von der Geldgier des Kaisers überzeugen mußte, der sogar seine sakrale Würde in den Dienst seiner Gier nach schnödem Mammon stellt, das ist sehr gut vorstellbar. Ganz anders ein Ratschlag, den der Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos Mitte des 10. Jahrhunderts in seiner berühmten Lehrschrift De administrando imperio seinem Sohn Romanos als voraussichtlich und dann auch tatsächlich nachfolgendem Kaiser gab. Ursache fur diese Belehrung sind die häufigen Forderungen und Wünsche fremder Völker und Herrscher, fur geleistete Dienste und gewährte Hilfe mit kaiserlichen Gewändern und Kronen beschenkt zu werden. Auf dieses Ansinnen soll der Sohn später antworten: Die genannten Gewänder und Kronen sind nicht von Menschen hergestellt, nicht von menschlichen Künsten ersonnen und geschaffen, sondern wie wir aus einer alten Geschichte in geheimen Schriften geschrieben finden, hat Gott, als er den einstigen Konstantin den Großen zum Kaiser machte, ihm durch einen Engel diese Gewänder und Kronen geschickt und ihm aufgetragen, sie im Altarraum und auf dem Altar der Hagia Sophia niederzulegen und sie nicht täglich, sondern nur an den großen Herrenfesten zu tragen. Auf dem Altar dieser Kirche finde sich auch ein von Konstantin geschriebener Fluch, der dem Kaiser, der diese göttlichen Anweisungen verletze und sogar einige dieser heiligen Gegenstände verschenke, den Ausschluß aus der Kirche androhe. Und es gebe sogar ein warnendes Beispiel, den Kaiser Leon IV., der sich außerhalb eines solchen Herrenfestes und ohne Zustimmung des Patriarchen eine in der Hagia Sophia deponierte Krone aufgesetzt habe und sofort durch eine bösartige Geschwulst am Kopf aus dem Leben geschieden sei62. 61

Eine genauere Auslotung dieser Geschichte auch auf dem Hintergrund des Bilderstreites muß hier unterbleiben. Zu verweisen ist auf ein Gesetz des Kaisers Michael Π. (820-829), daß nur bei Gott (also nicht bei den Heiligen) geschworen werden darf: Regesten der Kaiserurkunden des oströmsichen Reiches, bearb. v. F. DÖLGER, Bd. 1, München / Berlin 1924, Nr. 416, S. 50. Von seiner Vorgängerin Irene läßt sich Kaiser Nikephoros beim heiügen Kreuzesholz schwören, daß sie ihm nichts von den kaiserlichen Schätzen verheimliche: Theophanis chronographia (wie Anm. 60), S. 477 f.; BREYER, Bilderstreit (wie Anm. 60), S. 140 f.; Nicetae Choniatae Historia, ed. J. L. VANDIETEN, Bd. 1, Berlin 1975, S. 132; dt. Übersetzung F. GRABLER, Die Krone der Komnenen (= Byzantinische Geschichtsschreiber, ed. E. v. IVANKA, 7), Graz / Wien / Köln 1958, S. 174, erwähnt den Schwur des Unterfeldherrn Branas beim Haupte des Kaisers (?) Manuel I., durch den er die Wahrheit über das Verhalten des Hauptfeldherrn Gabras im Feldzug gegen die Ungarn offenlegen muß. Zur Heiligkeit des Kaisers und einzelner kaiserlicher Körperteile vgl. TREITINGER (wie Anm. 22), S. 41 f., 58. 62

Constantin Porphyrogennetos, De administrando imperio, ed. / trad. G. MORAVCSIK / R . J. H. JEN(= Corpus Fontium Historiae Byzantinae, 1), Washington 1967; dt. Übersetzung K. BELKE / P.

KINS

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Belegbar ist nur die Geschichte Kaiser Leons, denn nach Theophanes soll er sich tatsächlich eine wertvolle Krone aus der Hagia Sophia ebendort aufgesetzt haben und sechs Tage danach in der genannten Weise gestorben sein63. Sein Sakrileg bestand aber anders als in der Lehrschrift beschrieben offenbar darin, daß er eine der Kirche überlassene wertvolle Votivkrone an sich genommen und sie noch dazu in der Kirche selbst getragen hatte. Die für den kaiserlichen Gebrauch bestimmten Kronen wurden nicht in der Hagia Sophia, sondern in der kaiserlichen Schatzkammer, seine Prunkgewänder im privaten kaiserlichen Bestiarion aufbewahrt64. Die ganze Geschichte ist also nichts anderes als eine pia fraus, eine diplomatische Lüge ad majorem gloriam des sakralen Kaisertums, das nicht nur seinen imperialen Auftrag, sondern auch seine imperialen Insignien von Gott direkt und auf übernatürlichem Wege erhalten hat, dessen imperiale Kleidung wie eine Altardecke auf dem Hauptaltar der Hagia Sophia ausgebreitet ist und ihren Träger auch damit nahe an einen Priester heranrückt. Die letzte Geschichte handelt nicht nur von einem Kaiser, sie wird auch von einem Kaiser erzählt. Johannes Kantakuzenos reißt nach dem Tod von Andronikos III. im Jahre 1341 das Kaisertum an sich, legt dabei aber Wert auf den Umstand, daß ihn schon sein Vorgänger zur Annahme des Mitkaisertums gedrängt habe. Er habe die ganze Reichsverwaltung, alle Regierungsgeschäfte unter sich gehabt und ebenso wie der Kaiser selbst mit roter Tinte unterschrieben. Auf gemeinsamen Feldzügen durfte er die Bettdecke des Kaisers benutzen und sich sogar auf das Bett des Kaisers legen, was ohne ausdrückliche Erlaubnis nicht einmal ein Sohn und Mitkaiser tun könne, schließlich sei es ihm sogar erlaubt gewesen, die kaiserlichen Hausschuhe zu tragen, kurz und gut, er durfte sich in jeder Hinsicht wie ein Kaiser benehmen, das habe der Kaiser gewollt und die Kaiserin gewußt, und er erfülle praktisch mit seiner Krönung nur das Vermächtnis seines kaiserlichen Freundes65. Auch diese Geschichte spricht für sich. Während der tiefere Sinn der ganzen Kaiserideologie und -theologie im kaiserlichen Zeremoniell und der kaiserlichen Repräsentation nur sehr ungenau zu erkennen und nur sehr schwer zu entschlüsseln ist, zeigen sich die Absichten der Subjekte und Objekte dieser Alltagsgeschichten sehr viel deutlicher und direkter. Die Attribute kaiserlicher Sakralität und Mystik werden ganz bewußt und ohne Skrupel eingesetzt, um bestimmte Ziele zu erreichen und Absichten im Vor- und Nachhinein zu begründen. Hier merkt man die Absicht, und man ist verstimmt oder auch angetan und vielleicht sogar begeistert. Dabei sind die Ziele und Absichten durchaus denen gleich oder ähnlich, um die es in der Repräsentation und im Zeremoniell letztendlich geht: um die Durchsetzung von Herrschaftswillen gegenüber den Reichsuntertanen, um die Begründung der universalen Sonderstellung des byzantinischen Kaisertums, um die Legitimierung von Usurpation. Deutlich wird, daß es sich SOUSTAL, Die Byzantiner und ihre Nachbarn (= Byzantinische Geschichtsschreiber, hg. von J. Köder, 29) Wien 1995, S. 90 ff. (Text leicht gekürzt und verändert.) 63 Theophanis Chronographia (wie Anm. 60), S. 453; BREYER, Bilderstreit (wie Anm. 60), S. 107. 64 Vgl. BELKE / SOUSTAL, Die Byzantiner (wie Anm. 62), S. 91, Anm. 96. 65 Joannis Cantacuzeni eximperatoris Historiarum libri IV, ed. L. SCHOPEN, Bd. 1, Bonn 1831, S. 3 6 9 f.; dt. Übersetzung G. FATOUROS / T . KRISCHER, Johannes Kantakuzenos, Geschichte 2 . Teil (= Bibliothek der griechischen Literatur, 21), Stuttgart 1986, S. 39 f.

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auch bei diesem Kaisertum um Herrschaft in dieser Welt und um Herrscher von dieser Welt handelt, ungeachtet ihrer vielfaltigen Anbindung an eine andere, jenseitige Welt bzw. gerade dadurch, daß ganz profane Absichten an transzendente Kräfte angebunden werdetswnd daß die beabsichtige Sublimierung zwar in der Regel, aber durchaus nicht immer gelingt.

4. Zum Problem der Entsakralisierung und Enthieratisierung des byzantinischen Kaisertums In den bisherigen Aussprachen zu verschiedenen Formen der Sakralität von Herrschaft ist immer wieder auch nach Erscheinungen und Indizien fur eine vorsichtige oder auch entschiedene Infragestellung der vorgeführten Konstrukte, nach mehr oder weniger deutlichen Ansätzen für eine Entsakralisierung und Enthieratisierung bei den jeweiligen Herrschaftstypen und in den entsprechenden Kulturkreisen gefragt worden. Wenn man sich an den eingangs zitierten Brief des Patriarchen Athanasios aus dem beginnenden 14. Jahrhundert erinnert, dann scheint für Byzanz Skepsis angebracht zu sein. Belegfalle wie die des genannten Patriarchen lassen sich durchaus vermehren und noch weiter an das Reichsende heranführen. So belehrt der Patriarch Antonios noch ganz am Ende dieses Jahrhunderts den Moskauer Großfürsten Vasilij Dimitrievic, der kurz zuvor noch erklärt hatte, es gebe für ihn zwar noch eine gemeinsame orthodoxe Kirche, aber keinen Kaiser mehr, dahingehend, daß diese Kirche ohne Kaiser ganz einfach undenkbar sei, daß sich zwar schon seit geraumer Zeit Herrscher ganz unterschiedlicher Couleur und Legitimation den Kaisertitel zugelegt hätten, daß aber weiterhin nur ein einziger ökumenischer Kaiser existiere, der legitime Nachfahre des Kaisers Konstantin66. Deshalb ist es natürlich ganz besonders auffällig und bemerkenswert, wenn Kaiser Manuel II., dem das Plädoyer des Patriarchen Antonios konkret galt, nur wenige Jahre später einem seiner Höflinge erklärte, das Reich der Rhomäer brauche keinen Kaiser mehr, sondern nur noch einen Verwalter, einen οικονόμος 67 . Veranlaßt war diese Aussage ganz offenbar durch das Bewußtsein völliger politischer und wirtschaftlicher Kraftlosigkeit des Reiches. Die traumatische Erfahrung, nicht mehr wie ein Kaiser schenken zu können und seinen Vater nur mit äußerster Kraftanstrengung aus venezianischer Schuldhaft herausbekommen zu haben, war sicherlich nur ein kleines Teilstück auf dem bitteren Weg zu dieser Erkenntnis. Dazu kam auch eine mehr oder weniger erfolglose Bettelreise an die Höfe westeuropäischer Könige und italienischer Stadtherren und noch vieles mehr, das ihn mit der Nase darauf stoßen mußte, daß für das traditionelle byzantinische Kaisertum in einer

66

F. MIKLOSICH /1. MÜLLER, Acta et diplomata graeca medii aevi, Bd. 2, Neudruck: Aalen 1967, S. 191; vgl. H.-G. BECK, Res publica romana, München 1970, S. 37. 67 Georgios Sphrantzes, Memorii, ed. V. GRECU, Bukarest 1966, S. 320; dt. Übersetzung E. v. IVANKA, Die letzten Tage von Konstantinopel (= Byzantinische Geschichtsschreiber, hg. von E. v. IVANKA, 1) Graz / Wien / Köln 1954, S. 19.

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veränderten Welt kaum noch Platz war68. Elemente einer Entsakralisierung des byzantinischen Kaisertums zeigen sich aber schon viel früher, sogar schon zu einem Zeitpunkt, als mit dem Reich noch alles in Ordnung zu sein schien. Dazu gehört ein Prozeß der Verrechtlichung sakraler Herrschaft, den Franz-Reiner Erkens in seiner einleitenden Vorlesun| für das abendländische Kaisertum des späten Mittelalters konstatiert und gedeutet hat . In Byzanz zeigt sich dieses Phänomen darin, daß sich spätbyzantinische Herrscher ihre Rechte in der Kirche bzw. gegenüber der Kirche, die zuvor keiner normativen Begründung bedurften, ausdrücklich benennen und verbriefen lassen70, d. h. der Kaiser verliert sein sakrales Charisma, er ist nicht mehr Kaiser und Priester in der Nachfolge Melchisedeks, sondern er wird zu einem einfachen Diener der Kirche Christi, erhält bei seiner Krönung sogar eine bestimmte kirchliche Funktion auf einem noch dazu möglichst niedrigen Niveau, die ihm bestimmte Aufgaben in der Liturgie zuweist, ihn zum Mitglied des geistlichen Standes macht71. Während die Heiligkeit des Kaisers Andronikos II. für seinen Patriarchen Athanasios außerhalb jeden Zweifels stand, hatte schon einer seiner Vorgänger dem Vater des Kaisers, Michael VIII., die αγιος-Anrede demonstrativ vorenthalten, damit allerdings auch scharfe Reaktionen und entschiedene Gegenmaßnahmen des Herrschers heraufbeschworen72. Wie ist es aber zu verstehen, daß Athanasios in seinen Briefen den Kaiser und seine Familie ständig an ihren Kirchenbesuch und an ihr Erscheinen zu wichtigen kirchlichen Festen erinnern, sie dazu ermahnen muß? Doch wohl nur so, daß in der Spätzeit, wenn auch noch nicht alles, so doch eine ganze Menge von dem traditionellen kaiserlichen Zeremoniell, das die kaiserliche Präsenz zu ganz bestimmten religiösen Festen in ganz bestimmten Kirchen festschrieb, weggebrochen war, daß die kaiserliche Frömmigkeit und ihre Darstellung im Besuch des Gottesdienstes inzwischen sehr viel stärker zu seiner Privatsache geworden war, als sie das ehemals sein konnte73. Und in der weiteren Verfolgung dieser Entwicklung wurde es schließlich sogar möglich, daß der Kaiser der Rhomäer

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Vgl. K . - P . MATSCHKE, Bemerkungen zu „Stadtbürgertum" und „stadtbürgerlichem Geist" in Byzanz, in: Jahrbuch fur Geschichte des Feudalismus 8, 1984, S. 265-285, bes. 281 f. 69 Vgl. seinen einleitenden Beitrag in diesem Band. 70 V . LAURENT, Les droits de L'empereur en matiere ecclesiastique, in: Revue des Etudes Byzantines 13, 1955, S. 5-20; vgl. BECK, Res publica (wie Anm. 67), S. 36. 71

Vgl. Joannis Cantacuzeni Historiarum libri (wie Anm. 66), Bd. 1, S. 200; FATOUROS / KRISCHER, Johannes Kantakuzenos (wie Anm. 65), S. 139 und 274, Anm. 274; DAGRON (wie Anm. 24), S. 289. 72 Georges Pachymeres, Relations historiques, ed. / trad. A. F A I L L E R / V. LAURENT, Bd. 2, Paris 1984, S. 639. In den panegyrischen Schriften der Zeit wird Michael aber noch ganz traditionell als geheiligt vom Mutterleibe an bezeichnet, als Herrscher, der die Gottebenbildlichkeit ohne alle Makel bewahrt und damit alle menschliche Natur hinter sich gelassen hat, vgl. L. PREVIALE, Un panegirico inedito per Michaele Paleologo, in: Byzantinische Zeitschrift 42, 1943/49, S. 15-45; dt. Übersetzung H.-G. BECK, Leben in Byzanz. Ein Lesebuch, München 1991, S. 90 f. 73 Das Kaiserbegräbnis verliert schon im 11. Jahrhundert seinen offiziellen Charakter und wird zu einer privaten Angelegenheit, vgl. F . TINNEFELD, Rituelle und politische Aspekte des Kaisertodes im späten Byzanz, in: Der Tod des Mächtigen. Kult und Kultur des Todes spätmittelalterlicher Herrscher, hg. von L. KOLMER, Paderborn / München / Wien / Zürich 1997, S. 217-128, bes. 221.

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aus politischen Gründen zum römischen Bekenntnis übertrat, ohne daß ihm sein Volk und die orthodoxe Hierarchie folgten74. Ein ganz besonderes und noch immer längst nicht ausreichend aufgehelltes Kapitel dieser Entsakralisierung (bzw. veränderten Sakralität) ist irgendwie paradoxerweise die Salbung byzantinischer Herrscher. Byzantinische Kaiser galten über weite Strecken der Reichsgeschichte als Gesalbte des Herrn, ohne daß sie sich bei ihrer Krönung einer formellen Salbung unterziehen mußten. Nach Gilbert Dagron ist die Salbung im Alten Testament kein Sakrament, sondern ein Ritus, der die Anwesenheit Gottes anzeigt75. Salbung wurde ganz spirituell verstanden als Übertragimg von Gottes Geist und Kraft auf den von ihm erwählten Kaiser. Die Salbung westlicher Herrscher bei ihrer Krönung empfanden die Byzantiner deshalb als befremdlich76. Während der Lateinerherrschaft in Konstantinopel im frühen 13. Jahrhundert scheinen sie dann allerdings selbst zu diesem Ritual der Kaisereinsetzung übergegangen zu sein, offenbar deshalb, weil sie sich davon eine zusätzliche Legitimierung für ihr gefährdetes Kaisertum versprachen77. Damit revidierten und eliminierten sie aber zugleich systematisch die alttestamentlichen Bezüge und gaben der Kaisersalbung eine ausschließlich christologische Interpretation. Die byzantinische Kaisersalbung ist nicht mehr die des israelischen Königs Saul, sondern die des Erlösers Christi in der Taufe. Der Kaiser ist nicht mehr ein neuer David, sondern ein Nachahmer Christi und seiner Kirche Untertan. Der große Wurf der byzantinischen Kaisersakralität wird also gerade dort zurückgenommen und ausgehöhlt, wo die kaiserliche Sakralität eine ganz neue und zusätzliche Dimension zu bekommen scheint. Genug der Beispiele, Argumente, Hypothesen fur die Sakralität und das Priestertum des byzantinischen Kaisers und für ihre Abschwächimg (nicht Auflösung!) gegen Ende des tausendjährigen Byzanz. Daß sie auch in den allerletzten Jahrzehnten noch präsent war, scheint eine Episode zu belegen, die ich am Ende meiner Vorlesung noch kurz erwähnen möchte. Als sich der burgundische Gesandte Bertrandon de la Brocquiere Anfang der 30er Jahre des 15. Jahrhunderts in Konstantinopel aufhielt, läßt sich der byzantinische Kaiser Johannes VIII. bei ihm erkundigen, ob es wahr sei, daß der Herzog Philipp der Gute die Pucelle Jeanne d'Arc gefangen gesetzt habe, den Griechen erscheine das unmöglich und

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G. OSTROGORSKY, Geschichte des byzantinischen Staates, München 1996, S. 470; BECK (wie Anm. 3), S. 102; R. RADIC, Vreme Jovana V Paleologa (1332-1391), Belgrad 1993, S. 349. 75

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DAGRON ( w i e A n m . 2 4 ) , S. 2 7 9 .

Vgl. Theophanis Chronographia (wie Anm. 60), S. 472 f.; BREYER, Bilderstreit (wie Anm. 61), S. 133; dazu F. DÖLGER, Byzanz und die europäische Staatenwelt, Ettal 1953, S. 296 f.; P. CLASSEN, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz, Sigmaringen 1988, S. 84; vgl. auch die fur den Druck vorgesehene Magisterarbeit von S. KOLDITZ, Aspekte der Kaiservorstellung und der diplomatischen Beziehungen zwischen Byzanz und dem lateinischen Westen im Frühen Mittelalter (Ms.), Leipzig 2000, S. 58. 77 G. OSTROGORSKY, Zur byzantinischen Geschichte. Ausgewählte kleine Schriften, Darmstadt 1973, S. 1 4 2 - 1 5 2 ; DERS., Evoljucija vizantijskogo obijada koronovanija, Bizantija, Juznye slavjane i Drevnaja Rus', Zapadnaja Evropa, Aufsatzsammlung zu Ehren von V. N. LAZAREV, Moskau 1973, S. 3342; D. M. NICOL, The Unction of Emperors in Late Byzantine Coronation Ritual, in: Byzantine and Modern Greek Studies 2 , 1 9 7 6 , S. 3 7 - 5 2 .

Sakralität und Priestertum des byzantinischen Herrschers

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erstaunlich78. Was hat einen Kaiser im fernen Byzanz und sein Volk am Schicksal der Jungfrau von Orleans so sehr interessiert? War es ihr erfolgreicher Einsatz für eine religion royale, die in Byzanz am Schwinden war, ihre gesellschaftliche Potenz und Effizienz verloren hatte, während sie sie in Frankreich gerade auf eine neue Weise gewann 79 ? War es das Interesse eines gealterten und müde gewordenen Systems sakraler Herrschaft an der erneuerten Form einer solchen Herrschaft, mochte sie sowohl räumlich als auch sachlich noch so weit entfernt sein? Die Frage beschäftigt mich nicht erst seit heute80, aber eine befriedigende Antwort habe ich bisher noch nicht gefunden.

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Le Voyage d'Outremer de Bertrandon de la Bocquiere, ed. CH. SCHEFER, Paris 1892, S. 165 f.; vgl. dazu Α. A. VASILIEV, La Guerre de Cent Ans et Jeanne d'Arc dans la tradition byzantine, in: Byzantion 3,1926, S. 241-250; D. CH. STATHAKOPOULOS, „Eine gewisse in ihrer Erscheinung nicht gewöhnliche Frau". Die Kenntnisse von Jeanne d'Arc in Byzanz und Südosteuropa, in: Biblos 47/2, 1998, S. 197202. 79 Daß die Ereignisse im europäischen Südosten auch für Jeanne d'Arc und ihre Leute präsent waren, deutet ein Brief der Pucelle vom 17. Juli 1429 (dem Tag der Krönung Karls VII. in der Kathedrale von Reims) an Philipp den Guten von Burgund an, in dem sie den Herzog im Namen ihres himmlischen Herrn auffordert, mit Frankreich und seinem königlichen lieutenant de Dieu Frieden zu schließen und gegen die Sarazenen zu ziehen, wenn er unbdingt Krieg fuhren wolle, in: De brieven van Jeanne d'Arc, ed. J. M . VAN WINTER / D. TH. ENKLAAR, Groningen / Djakarta 1954, S. 10 ff.; Vgl. S. TANZ, Jeanne d'Arc - Spätmittelalterliche Mentalitäten im Spiegel eines Weltbildes, Weimar 1991, S. 175 f. 80 K.-P. MATSCHKE, Die Schlacht bei Ankara und das Schicksal von Byzanz, Weimar 1981, S. 265 f.; DERS., Thessalonike und die Zeloten. Bemerkungen zu einem Schlüsselereignis der spätbyzantinischen Stadt- und Reichsgeschichte, in. Byzantinoslavica 55/1, 1994, S. 19^13.

BERND SCHÜTTE

Herrschaftslegitimierung im Wandel Die letzten Jahre Kaiser Heinrichs IV. im Spiegel seiner Urkunden

Wenn man nach dem „Haus- und Herrschaftsverständnis der Salier" und nach ihrer „Herrschaftslegitimation" fragt1, bietet sich ein Blick in die Urkunden der Kaiser geradezu an, da man nicht nur von den Arengen eine entsprechende Antwort erwarten darf2. Dies gilt wohl besonders für die Regierungszeit Kaiser Heinrichs IV. (1056 bis 1106), von dem darüber hinaus noch eine nennenswerte Zahl von Briefen überliefert ist, denn in der bekanntlich mit dem Begriff ,Investiturstreit' nur unzureichend umschriebenen Auseinandersetzung zwischen Heinrich IV., seinem gleichnamigen Sohn und Nachfolger und den Päpsten ging es letztlich um die grundsätzliche Frage nach der rechten Zuordnung von weltlicher und geistlicher Gewalt. Während die frühmittelalterliche Welt keine scharfe Trennung beider Sphären gekannt hatte, setzte in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ein zusehends heftigerer Prozeß ein, der auf eine Differenzierung beider Gewalten hinauslief und dabei die ideellen Grundlagen der Königsherrschaft im ostfränkisch-deutschen Reich berührte, denn der sakrale, auf eine eigenständige Begründimg ausgerichtete Charakter des Königtums - und damit seine Legitimation wurde nunmehr in Frage gestellt 3 . 11

So K. SCHMID, Zum Haus- und Herrschaftsverständnis der Salier, in: Die Salier und das Reich 1: Salier, Adel und Reichsverfassung, hg. von St. Weinfurter, Sigmaringen 1991, S. 21-54, und St. WEINFURTER, Herrschaftslegitimation und Königsautorität im Wandel: Die Saher und ihr Dom zu Speyer, in: ebd. S. 5596. Vgl. grundlegend H. FICHTENAU, Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 18), Graz / Köln 1957, neuerdings M. GROTEN, Die Arengen der Urkunden Kaiser Heinrichs IV. und König Philipps I. von Frankreich im Vergleich, in: Archiv fur Diplomatik 41,1995, S. 49-72; B. MERTA, Recht und Propaganda in Narrationes karolingischer Herrscherurkunden, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. von A. Scharer / G. Scheibelreiter (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32), Wien / München 1994, S. 141-157, zeigt, daß auch andere Bestandteile des Kontextes einer Urkunde für vergleichbare Fragestellungen herangezogen werden können. 3:1 Grundlegend ist G. TELUENBACH, Liberias. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites (= Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 7), Stuttgart 1936; vgl. weiter DERS., Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert (= Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch 2/F 1), Göttingen 1988, und zum Sakralcharakter des Königtums (in Auswahl) E. EWIG, Zum christlichen

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Bernd Schütte

Schon beim Ausbruch des Streites zwischen Papst Gregor VII. und Heinrich IV. wurde in den im Jahre 1076 verfaßten Urkunden und Briefen die Möglichkeit genutzt, das herrscherliche Eigenverständnis des Königs zu demonstrieren. In diesen Schriftstücken, die zum Teil von Gottschalk von Aachen, dem wohl bedeutendsten Notar des Saliers, stammen, wurde Heinrich in eine Traditionslinie mit Karl dem Großen gestellt, unter Hinweis auf die von Christus herrührende Salbung der sakrale Ursprung der Königsherrschaft betont und die Zwei-Schwerter-Lehre entwickelt, die in Fortfuhrung der Gelasianischen Zweigewaltenlehre die von der Geistlichkeit unabhängige Autorität der weltlichen Herrschaft beweisen sollte 4 . Mit diesen Gedanken suchte man im Umfeld Heinrichs IV. einer Entwicklung zu begegnen, die letzten Endes auf eine „Entsakralisierung der Herrscherwürde" hinauslief 5 . Trägt man nämlich die Aussagen Papst Gregors VII. und seiner Anhänger zusammen, dann zeigt sich trotz mancher vermittelnden Ansicht unterm Strich, daß Königsherrschaft nun nicht mehr als von Gott eingesetzt, sondern unter Hinweis auf den sündhaften Ursprung der Herrschaft von Menschen über Menschen als Teufelswerk angesehen wurde, der Lenkung durch das Priestertum bedurfte und daher diesem untergeordnet war, was eben eine Neugewichtung des Verhältnisses von Königtum und Geistlichkeit

Königsgedanken im Friihmittelalter, in: DERS., Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952-1973) 1, hg. von H. Atsma, (= Beihefte der Francia 3/1), Zürich / München 1976, S. 3-71 (erstmals 1956), G. KOCH, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium. Studien zur ideologischen Herrschaftsbegründung der deutschen Zentralgewalt im 11. und 12. Jahrhundert (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 20), Ost-Berlin 1972, Η. K. SCHULZE, Königsherrschaft und Königsmythos. Herrscher und Volk im politischen Denken des Hochmittelalters, in: Festschrift für Berent Schwineköper. Zu seinem siebzigsten Geburtstag, hg. von H. Maurer / H. Patze, Sigmaringen 1982, S. 177-186, T. STRUVE, Die Stellung des Königtums in der politischen Theorie der Saherzeit, in: Die Saher und das Reich 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, hg. von St. Weinfurter, Sigmaringen 1991, S. 217-244, St. WEINFURTER, Idee und Funktion des „Sakralkönigtums" bei den ottonischen und salischen Herrschern (10. und 11. Jahrhundert), in: Legitimation und Funktion des Herrschers. Vom ägyptischen Pharao zum neuzeitlichen Diktator, hg. von R. Gundlach / H. Weber (= Schriften der Mainzer philosophischen Fakultätsgesellschaft 13), Stuttgart 1992, S. 99-127, und unten Anm. 5, sowie zu Heinrich IV. als neueste Gesamtdarstellung I. S. ROBINSON, Henry IV of Germany 10561106, Cambridge 1999. 4) Die Urkunden Heinrichs IV., bearb. von D. VON GLADISS / A. GAWLK, MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6, Berlin u. a. 1941/1978, Nr. 283 [künftig zitiert als D ΗIV mit Nr.], Die Briefe Heinrichs IV., hg. von C. ERDMANN, MGH Deutsches Mittelalter 1, Leipzig 1937, Nr. 10-13 (S. 12-20); vgl. zur Gesamtdeutung Chr. SCHNEIDER, Prophetisches Sacerdotium und heilsgeschichtliches Regnum im Dialog 1073-1077. Zur Geschichte Gregors VII. und Heinrichs IV. (= Miinstersche Mittelalter-Schriften 9), München 1972, S. 146 ff., zur Zwei-Gewalten-Lehre noch unten Anm. 32, zu Gottschalk zusammenfassend und mit weiteren Hinweisen R. SCHIEFFER, Gottschalk von Aachen, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 3,21981, Sp. 186-189, darüber hinaus GROTEN, Arengen (wie Anm. 2) S. 58-63, zu Gregor VII. neuerdings Η. E. J. COWDREY, Pope Gregory VII 1973-1085, Oxford 1998, sowie zu der allmählich eskalierenden Auseinandersetzung zwischen Papst und König T. STRUVE, Gregor VH. und Heinrich IV. Stationen einer Auseinandersetzung, in: Studi Gregoriani 14,1991, S. 29-60. 5) Vgl. B. TÖPFER, Tendenzen zur Entsakralisierung der Herrscherwürde in der Zeit des Investiturstreites, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 6,1982, S. 163-171.

Herrschaftslegitimiemng im Wandel

167

bedeutete 6 . Der gregorianisch gesinnte Publizist Manegold von Lautenbach unterschied gegen Ende des 11. Jahrhunderts beispielsweise zwischen dem Amt und seinem Inhaber und konnte, da er demzufolge den Idoneitätsgedanken herauszustellen in der Lage war, den König in einem recht groben Bild mit einem porcarius, einem Schweinehirten, vergleichen, der seine anvertraute Herde entweder mästen oder verhungern lassen konnte 7 .

*

Neben Gottschalk von Aachen gab es noch weitere Notare Heinrichs IV., die die herrscherlichen Verlautbarungen nutzten, um das salische Eigenverständnis zu demonstrieren. Anders als bei Otto III. und Heinrich II. wurde freilich nicht untersucht, ob sich in den Diplomen und Briefen Heinrichs IV. Eigendiktat erkennen lasse 8 . Aber selbst wenn der ebenso wie seine eben erwähnten Vorgänger lateinkundige Salier den Wortlaut der in seinem Namen ausgestellten Urkunden und Briefe nicht persönlich beeinflußt haben sollte, dann geben die zu Pergament gebrachten Worte dennoch Gedanken wieder, die in der unmittelbaren Umgebung des Herrschers eine Rolle spielten und somit auf das „geistige Klima" einer vergleichsweise kleinen Gruppe schließen lassen 9 .

65

Vgl. TÖPFER, Tendenzen (wie Anm. 5) S. 163 ff., W. STÜRNER, Peccatum und potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 11), Sigmaringen 1987, S. 123 ff., STRUVE, Stellung (wie Anm. 3) S. 219-228, B. TÖPFER, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatslehre (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45), Stuttgart 1999, S. 123 ff, zu Gregor VII. TÖPFER, Tendenzen (wie Anm. 5) S. 166-169, STÜRNER (wie zuvor) S. 132-135, R. SCHIEFFER, Gregor VII. und die Könige Europas, in: Studi Gregoriani 13, 1989, S. 189-211, hier S. 194 ff, STRUVE (wie zuvor) S. 221 f., W. STÜRNER, Gregors VII. Sicht vom Ursprung der herrscherlichen Gewalt, in: Studi Gregoriani 14, 1991, S. 61-67, St. BEULERTZ, Gregor VE. als „Publizist". Zur Wirkung des Schreibens Reg. Vm, 21, in: Archivum Historiae Pontificiae 32,1994, S. 7-29, TÖPFER, Urzustand (wie zuvor) S. 124129. 75 Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum liber, hg. von K. FRANCKE, in: MGH Ldl 1, Hannover 1891, S. 300-430, hier Kap. 30 (S. 365); vgl. zum Autor W. HARTMANN, Manegold von Lautenbach, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 5,21985, Sp. 1214-1218, weiter I. S. ROBINSON, Authority and Resistance in the Investiture Contest. The Polemical Literature of the Late Eleventh Century, Manchester 1978, S. 124 ff, STÜRNER, Peccatum (wie Anm. 6) S. 138-141, und STRUVE, Stellung (wie Anm. 3) S. 224-226. 8) Vgl. Η. HOFFMANN, Eigendiktat in den Urkunden Ottos ΙΠ. und Heinrichs Π., in: Deutsches Archiv 44, 1988, S. 390-423; siehe zu Heinrich IV. unten Aran. 65. 9) Vgl. zur Bildung Heinrichs IV. T. STRUVE, Heinrich TV. Die Behauptung einer Persönlichkeit im Zeichen der Krise, in: Frühmittelalterliche Studien 21, 1987, S. 318-345, hier S. 338 f., G. TELLENBACH, Der Charakter Kaiser Heinrichs IV. Zugleich ein Versuch über die Erkennbarkeit menschlicher Individualität im hohen Mittelalter, in: Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum iunfundsechzigsten Geburtstag, hg. von G. Althoff u. a., Sigmaringen 1988, S. 345-367, hier S. 346 f., sowie zu dem „geistigefn] Klima" GRÖTEN, Arengen (wie Anm. 2) S. 51 f., darüber hinaus noch TELLENBACH (wie zuvor) S. 360-363.

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Diesem Kreis gehörte zeitweise auch ein namentlich unbekannter Notar an, der im Gefolge des italienischen Kanzlers, des literarisch hochgebildeten Bischofs Oger von Ivrea, im Jahre 1090 zum Hof Heinrichs IV. stieß10. Zu dieser Zeit schickte Heinrich IV., der im März 1090 an der Spitze eines Heeres von Deutschland nach Italien aufgebrochen war, sich an, im Kampf mit seinen Gegnern eine endgültige Entscheidung herbeizufuhren. Nach ersten militärischen Erfolgen wandte sich jedoch das Kriegsglück gegen den Kaiser. Als zudem 1093 Heinrichs Sohn Konrad, der zum Nachfolger des Vaters bestimmte und bereits 1087 erhobene römische König, in das gegnerische Lager übertrat, 1094 Praxedis, die zweite Gemahlin des Kaisers, ihrem Stiefsohn nach einem schweren Zerwürfnis mit Heinrich folgte, sich nördlich der Alpen immer mehr Große von diesem lossagten und der Rückzug nach Deutschland versperrt wurde, war der Salier in auswegloser Lage: Isoliert und in seinem Aktionsradius auf das heutige Venetien in Nordostitalien beschränkt, soll er einer zeitgenössischen Quelle zufolge sogar an Selbstmord gedacht haben". Erst im Mai 1097 konnte der Kaiser nach Deutschland zurückkehren12. Gleichwohl verfugte Heinrich IV. mit dem in Begleitung Ogers von Ivrea am Hof erschienenen Notar über einen Mann, der die in Italien ausgestellten Urkunden nutzte, um auf hohem Niveau das herrscherliche Eigenverständnis des Saliers zu formulieren. Überhaupt ruhte auf den Schultern des im Folgenden Oger Α genannten Notars die Hauptlast der italienischen Urkundengeschäfte, denn er war mehr oder weniger zweifelsfrei an der Ausstellung von 17 von insgesamt 34 (im Wortlaut erhaltenen) Verfii10)

Vgl. zu Oger von Ivrea, der von 1074 oder 1075 bis 1094 als Bischof und von 1088 bzw. 1090 bis 1093 als italienischer Kanzler nachweisbar ist, Anselm der Peripatetiker nebst anderen Beitragen (!) zur Literaturgeschichte Italiens im elften Jahrhundert, hg. von E. DÜMMLER, Halle/S. 1872, S. 88 ff., G. SCHWARTZ, Die Besetzung der Bistümer Reichsitaliens unter den sächsischen und salischen Kaisem mit den Listen der Bischöfe 951-1122, Leipzig / Berlin 1913, S. 118 f., A. GAWLK, Bischof Adalbero von Trient und Bischof Oger von Ivrea als Leiter der italienischen Kanzlei unter Kaiser Heinrich IV., in: Deutsches Archiv 26, 1970, S. 208-219, hier S. 212 ff., MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6 (wie Anm. 4) S. LXXVII f. 1093 wurde Oger, vermutlich auf einer Gesandtschaft nach Deutschland, gefangengenommen und eine gewisse Zeit in Haft gehalten; vgl. G. MEYER VON KNONAU, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V. 4: 1085 bis 1096 (= Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Leipzig 1903, S. 401 mit Anm. 19. 10 Bemold von St. Blasien, Chronicon, hg. von G. H. PERTZ, in: MGH SS 5, Hannover 1844, S. 385-467, hier z. J. 1093 (S. 456); vgl. zum Autor I. S. ROBINSON, Bemold von St. Blasien, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 1, 21978, Sp. 795-798, zur Stelle DERS., Henry IV (wie Anm. 3) S. 288 f., sowie zu den angesprochenen Fakten MEYER VON KNONAU, Jahrbücher 4 (wie Anm. 10) S. 276 ff, T. STRUVE, Mathilde von Tuszien-Canossa und Heinrich IV. Der Wandel ihrer Beziehungen vor dem Hintergrund des Investiturstreites, in: Historisches Jahrbuch 115,1995, S. 41-84, hier S. 67 ff, ROBINSON, Henry IV (wie Anm. 3) S. 275 ff, zu Konrad E. GOEZ, Der Thronerbe als Rivale: König Konrad, Kaiser Heinrichs IV. älterer Sohn, in: Historisches Jahrbuch 116, 1996, S. 1-49, zu Praxedis, die auch Eupraxia oder Adelheid genannt wurde, H. LORENZ, Bertha und Praxedis, die beiden Gemahlinnen Heinrichs IV., phil. Diss. Halle-Wittenberg 1911, S. 58 ff. n> Vgl. G. MEYER VON KNONAU, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V. 5: 1097 bis 1106 (= Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Leipzig 1904, S. 1 ff., STRUVE, Mathilde (wie Anm. 11) S. 80 f , ROBINSON, Heray IV (wie Anm. 3) S. 294 ff.

Herrschaftslegitimierung im Wandel

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gungen beteiligt: Erstmals trat er am 10. April 1090 in Verona in Aktion, wo er die erste nach dem Zug Heinrichs IV. über die Alpen erhaltene Urkunde formulierte und schrieb, und letztmals begegnet er uns am 5. Juni 1095 in Mantua; dort verfaßte er in einem nur kopial überlieferten Stück für St. Felix und Fortunatas bei Vicenza die Arenga 13 . Das Ausscheiden des Notars aus der Kanzlei hing möglicherweise mit dem vielleicht in diesem Jahr erfolgten Tod des Bischofs Oger zusammen 14 . Aus dem Kreis der kaiserlichen Notare kann man in Italien neben Oger Α noch Gottschalk von Aachen ausmachen, von dem - wenn auch nur zum Teil - insgesamt drei Stücke für zwei deutsche und einen italienischen Empfanger stammen15. Gottschalk ist auch noch später für Heinrich IV. ebenso tätig gewesen wie ein sonst unbekannter Kanzleiangehöriger, der 1093 erstmals faßbar ist und den Kaiser 1097 von Italien nach Deutschland begleitete (Oger B) 16 . Vier Diplome für ausschließlich deutsche Empfänger verfaßte (und mundierte) ein ebenfalls sonst nicht bekannter und anschließend nicht weiter in Erscheinung getretener Notar, der dem Umfeld Humberts, des deutschen Kanzlers und späteren Erzbischofs von Hamburg-Bremen, zuzuweisen ist (Humbert A) 1 7

13)

Vgl. zu Oger Α bereits B. SCHMEIDLER, Kaiser Heinrich IV. und seine Helfer im Investiturstreit. Stilkritische und sachkritische Untersuchungen, Leipzig 1927, S. 208-224, der dem Notar noch (zu Unrecht) einige Briefe Heinrichs IV. zuschrieb (vgl. dazu C. ERDMANN, Untersuchungen zu den Briefen Heinrichs IV., in: Archiv für Urkundenforschung 16, 1939, S. 184-253), sowie MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6 (wie Anm. 4) S. LXXX f., KOCH, Sacrum Imperium (wie Arrm. 3) S. 52-54 u. ö., GROTEN, Arengen (wie Anm. 2) S. 63 f., T. STOUVE, Die Salier und das römische Recht. Ansätze zur Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie in der Zeit des Investiturstreites (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1999 Nr. 5), Stuttgart 1999, S. 11 f. Seine Mitwirkung läßt sich erkennen bei DD ΗIV 413,414, 417,421,422,423,427,430, (f) 434 a, 435,436,437,438,442,443,447 (?), 448; hinzu kommt noch die Vorlage von D ΗIV f 428. D ΗIV 447 wird im Folgenden nicht als Werk des Oger Α betrachtet (vgl. die Vorrede). Unter den insgesamt erhaltenen Stücken befinden sich drei Placita (DD Η IV 415, 419, 444), drei unvollzogene beziehungsweise unbesiegelte Originale (DD Η IV 442, 445, 447) sowie ein „verstümmeltes Originaldiplom" (D Η IV 435); vgl. die Übersicht MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6 (wie Anm. 4) S. 764 f. Hier und im Folgenden sind stets die „Nachträge und Berichtigungen" ebd. S. 709-752 heranzuziehen. 14)

Vgl. MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6 (wie Anm. 4) S. LXXVII f. mit Anm. 280. DD ΗIV 418 (Schrift und Diktat) für Eichstätt, (H) 439 (Schrift und Diktat) für Klingenmünster, 448 (möglicherweise Schrift, Teile des Diktates) für St. Felix und Fortunatas bei Vicenza; vgl. zu seiner weiteren Tätigkeit im Umfeld Heinrichs IV. MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6 (wie Anm. 4) S. 765 f. (zu Adalbero C). 16) Vgl. MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6 (wie Anm. 4) S. 765 f, S. LXXXI. 17) DD Η IV 424 (Schrift und Diktat) für Brixen, 426 (Schrift und Diktat) für Speyer, 431 (Teile der Schrift, Diktat) für St. Gallen, 432 (kopial überliefert, Diktat) für Aquileja; vgl. MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6 (wie Anm. 4) S. 764 f., S. XLIV, zu Humbert Κ. REINECKE, Hammaburgensis sive Bremensis eccl. (Hamburg-Bremen), in: Series episcoporum ecclesiae catholicae occidentalis ab initio usque ad annum MCXCVIII 5/2: Archiepiscopatus Hammaburgensis sive Bremensis, hg. von St. Weinfürter / O. Engels, Stuttgart 1984, S. 4-52, hier S. 37 f. 15)

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Wendet man den Blick auf die Arengen der in Italien ausgestellten Urkunden, stellt man fest, daß fünf Arengen den jeweiligen Vorurkunden entnommen wurden18. Gottschalk verfaßte eine Arenga, die, ausgehend von einem Bibelzitat, das Rechtsgeschäft begründet19, und Humbert Α zwei, die wörtlich fast gleichlautend sind und die ,fragilitas humana' thematisieren20. Zwei Arengen sind kanzleifremder Herkunft: Eine ,Kurzarenga' motiviert die Verfügung mit der Sorge um das Seelenheil des Ausstellers, seiner Vorfahren und Vorgänger2 , eine etwas längere geht erneut von einem Bibelzitat aus und betont die Pflicht der christiani imperatores, sich im umfassenden Sinne um die Kirchen zu kümmern22. Oger Α verfaßte hingegen 13 Arengen, die ihn zunächst als gewandten lateinischen Stilisten erweisen, denn er beherrschte souverän die Schmuckformen der Kunstprosa. Neben Stellungsfiguren wie dem Parallelismus und dem Chiasmus lassen sich die verschiedenen Arten der Iteratio und Dilatatio ebenso verzeichnen wie der Cursus23. Ein besonderes Augenmerk verdienen zudem die einige Male benutzten Körperteilmetaphern24. Manches in den von Oger Α verfaßten Arengen ist natürlich konventionell. So läßt sich beispielsweise mehrfach der Lohngedanke verzeichnen, dem zufolge fromme Werke, zu denen ein Gunsterweis für einen geistlichen Empfanger zweifelsohne gehörte, von Gott entsprechend vergolten werden25. Auf gleicher Ebene bewegen sich die oftmals hervorgehobenen Herrschertugenden und -pflichten wie iustitia, aequitas und pietas, wie die Wahrung des Rechts und der Einheit des Reiches und der Schutz der

18)

DD ΗIV 422, ( f ) 439,445,446,450. D ΗIV 418; vgl. zur Sache T. BRÜSCH, Die Brunonen, ihre Grafschaften und die sächsische Geschichte. Herrschaftsbildung und Adelsbewußtsein im 11. Jahrhundert (= Historische Studien 459), Husum 2000, S. 137-139. 20) DD ΗIV 424,426, noch einmal aufgegriffen in der Nanatio von D ΗIV 431; vgl. FICHTENAU, Arenga 19)

(wie ANM. 2) S. 126 ff, GROTEN, Arengen (wie Anm. 2) S. 55 f. 20 D Η I V 429; vgl. FICHTENAU, Arenga (wie Anm. 2) S. 144. 22)

D ΗIV 447; vgl. FICHTENAU, Arenga (wie Anm. 2) S. 76-78. DD Η IV 413, 414, 421, 423, 427, 430, ( f ) 434 a, 436, 437, 442, 443, 448 sowie die Vorlage von D ΗIV 428. Es soll hier nicht gezeigt werden, daß Oger Α ,seinen Arbusow' beherrschte; vgl. allg. H. FICHTENAU, Rhetorische Elemente in der ottonisch-salischen Herrscherurkunde, in: DERS., Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte Aufsätze 2: Urkundenforschung, Stuttgart 1977, S. 126-156 (erstmals 1960), zum Cursus noch O. GUYOTIEANNIN U. a., Diplomatique medievale (= L'Atelier du medieviste 2), Turnhout 1993, S. 96-99. 24 ' DD ΗIV 414: sub oculis divine contemplationis, brachiis pietatis... amplectamur, viscera misericordiq (nach biblischem Vorbild; vgl. Lc 1,78 und Col 3,12. Die biblischen Bücher sind abgekürzt und werden zitiert nach Bibla sacra iuxta vulgatam versionem 1-2, hg. von R. WEBER, Stuttgart 1969), 1" 428 (Vorlage): inviolandz protectionis invisibili dextra adsimus, supemi imperatoris oculos qffendamus, 437: piis auribus exaudientes; vgl. zur Entwicklungsgeschichte E. R. CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern / München 91978, S. 146-148, weiter FICHTENAU, Arenga (wie Anm. 2) S. 42^15. 25) DD Η IV 414, 423, 427 u. ö.; vgl. FICHTENAU, Arenga (wie Anm. 2) S. 137-147, GROTEN, Arengen (wie Anm. 2)S. 52 f. 23)

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Kirche 26 . Diese Aspekte lassen sich aber nicht immer streng oder gar systematisch voneinander trennen, sondern sind oft miteinander verwoben. Bemerkenswert ist freilich, wie oft Oger Α Bibelzitate benutzt, um sowohl rhetorisch als auch logisch bestimmte Aussagen aus ihnen abzuleiten oder bereits getroffene Aussagen mit den Worten der Hl. Schrift zusammenzufassen 2 7 . V o n hier ist es nicht mehr weit zu den ,Predigtarengen', in denen das geistliche, bisweilen sogar erbauliche Element überwiegt 28 . Darüber hinaus ist auffällig, mit welcher Intensität Oger Α die Stellung des Königund Kaisertums betont 29 . Das läßt sich wohl nur vor dem Hintergrund der allgemeinen, eingangs skizzierten politischen Situation verstehen. So heißt es beispielsweise in einer Urkunde aus dem Jahre 1091, der Salier sei von Gott geheiligt oder gesegnet 3 0 . Oger Α benutzte das biblische und auch in den im 10. Jahrhundert schriftlich fixierten Krönungsordines bezeugte Wort sanctiflcare, das, so weit zu sehen ist, in den Herrscherarengen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts nur noch einmal und eher indirekt auf Heinrichs gleichnamigen Vater und unmittelbaren Vor-

2 Die Herausgeber wiesen Anleihen nach in DD Η I V 413: 1 Pt 2,15, Ps 25,8; 414: Prv 21,30, Ps 1,6, Ps 36,39; 421: Io 3,8,1 Pt 2,14, Rm 13,4 (siehe zu 2 Tm 3,1 und Mt 3,12 unten Anm. 37); 423: Ex 20,12, Ex 21,17,2 Cor 9,7,1 Cor 3,8; 427: Ps 25,8, Ex 20,12; 430:2 Cor 9,7; ( f ) 434 a: Prv 1,25, Prv 3,21, Rm 13,4, 1 Pt 2,14 (vgl. zu S. 581 Anm. 1 Arengenverzeichnis zu den Königs- und Kaiserlirkunden von den Merowingern bis Heinrich VI., zusammengestellt von F. HAUSMANN / A. GAWLK [MGH Hilfsmittel 9], München 1987, S. 348 Nr. 2034); 437: Eccl 32,24, Ps 98,4, Ps 25,8; 448: Ps 25,8, Lc 12,48 (vgl. zu S. 605 Anm. 2 FICHTENAU, Arenga [wie Anm. 2] S. 60, Arengen Verzeichnis [wie zuvor] S. 282 Nr. 1628, sowie HOFFMANN, Eigendiktat [wie Anm. 8] S. 416 Anm. 42). Das verhältnismäßig seltene Vorkommen von Bibelzitaten erwähnt HOFFMANN (wie zuvor) S. 397, aber ohne weitere Hinweise; vgl. auch FICHTENAU (wie zuvor) S. 124 f., S. 144 f., der zudem ebd. S. 136 u. ö. sinngemäß nach dem Register S. 243 den Begriff,gelehrte Arengen' verwendet. Zum Vergleich: Gottschalk von Aachen verfaßte wohl 49 Arengen, von denen lediglich 12 (24 %) aus der Bibel schöpfen. Trotz der geringeren Zahl an Urkunden sind es bei Oger Α immerhin 75 %. GROTEN,

2S)

Zu den ,Predigtarengen' vgl. FICHTENAU, Arenga (wie Anm. 2 ) S. 19 u. ö., GROTEN, Arengen (wie Anm. 2) S. 59, S. 63. 29 ) · DD Η IV 413: ... bonos usus, qui pro lege habentur, amplectamur et in omnibus maxime circa ecclesiastica beneficia sincere veritatis inviolabiliter teneamus iusticiam, ... que ad secularem pertinent equitatem, constanter atque viriliter teneamus, 414: Quoniam imperialis celsitudo sub oculis divine contemplationis quam nichil latet, seculare regimen tocius mundi optinet, maximo debet equitatis pollere, ut in his, qu% ad imperialem dignitatem pertinent, iuxta quod merentur, provide reddat omnibus, quibus preminet, 421: unten nach Anm 33, ( f ) 434 a: Quoniam nostram novimus esse salutem et Romani decus imperii iuxta sententiam apostoli, negotia nostri regni, in his maxime que ad sanct% sublimationem pertinent aecclesiq, rationabiliter et aequa lance disponere, ne culpari possimus ab aliquo nescio neglecta nostrae maiestatis dignitate et ne rationis evidentia conferat sapientibus, nos secundum veritatem sanctarum scripturarum reprehendere; siehe unten Anm. 32. 30) D Η I V 448: Quanto maiores potentiores et ditiores inter cqteros mortales deus nos esse voluit etfecit et ordinavit, tanto humilius studiosius et largius debemus domum eius, in qua per gratiam ipsius sanctificamur, diligere decorare atque sublimare ...; vgl. zur Datierung in das Jahr 1091 GAWLK, Adalbero von Trient (wie Anm. 10) S. 208 ff.

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gänger bezogen wurde und zweifelsohne auf die Herrschersalbung zielt31. Sehr oft ist zudem in den Arengen der italienischen Jahre Heinrichs IV. die Rede davon, daß der Kaiser über den ceteri mortales stehe, die herrscherliche Gewalt unmittelbar von Gott stamme und das seculare regimen tocius mundi innehabe. Insbesondere die letztgenannten Worte verweisen auf die Gelasianische Zweigewaltenlehre, die nach Vorstellung der Anhänger Heinrichs IV. den unabhängigen Charakter der weltlichen von der geistlichen Gewalt betonte32. Am deutlichsten hat Oger Α diese Vorstellungen wohl in einer Urkunde fur die Bewohner Mantuas formuliert, die vermutlich ausgestellt wurde, als der Kaiser nach einer mehrere Monate dauernden Belagerung der canusinischen Stadt am 13. April 1091 das Osterfest im Kreise der Bürger feiern konnte. In diesem Zusammenhang setzte Heinrich einen neuen, ihm genehmen Oberhirten ein, nachdem Bischof Ubald, einer seiner oberitalienischen Widersacher, geflohen war33. 31)

Das ergab eine Durchsicht des Arengenverzeichnisses (wie Anm. 27); die Arenga der Urkunde Heinrichs ΙΠ. ist ebd. S. 235 f. Nr. 1369 verzeichnet (Die Urkunden Heinrichs ΙΠ., hg. von H. BRESSLAU / P. KEHR, MGH DD regum et imperatorum Germaniae 5, Berlin 1926/1931, Nr. 371). Das Wort sanctificare (und die verwandten Bildungen) sind nach den einschlägigen Auskunftsmitteln klassisch nicht bezeugt; vgl. zu Belegen aus der patristischen Literatur A. BLAISE, Dictionnaire latin-fran^ais des auteurs Chretiens, Tumhout 1993 (erstmals 1954), S. 735 f., mit Hinweisen auf einige Bibelstellen, darüber hinaus etwa Nm 6,2:... vir sive mulier cum fecerit votum ut sanctificentur et se voluerint Domino consecrare, oder 6,11: ... sanctificabitque caput eius in die illo; Le pontifical romano-germanique du dixieme siecle. Le texte 1, hg. von C. VOGEL / R. ELZE (= Studi e testi 226), Cittä del Vaticano 1963, S. 252 (Salbung des neuen Königs mit dem oleum sanctificatum), S. 266 (nach der Kaiserkrönung folgt ein Gebet mit der Wendung: et super te Christi sanctificatiofloreat,der Ordo ist auch zu finden in Ordines coronationis imperialis, hg. von R. ELZE, MGH Fontes iuris 9, Hannover 1960, S. 5); vgl. zu den Ordines im Überblick Η. H. ANTON, Ordo (Ordines) ΠΙ: Krönungsordines, in: Lexikon des Mittelalters 6, 1993, Sp. 1439-1441, sowie zur Salbung A. ANGENENDT, Rex et Sacerdos. Zur Genese der Königssalbung, in: Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte desfrüherenMittelalters, hg. von N. Kamp / J. Wollasch, Berlin / New York 1982, S. 100-118, A. Th. HACK, Zur Herkunft der karolingischen Königssalbung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110, 1999, S. 170-190, im weiteren Zusammenhang F. KERN, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht imfrüherenMittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, 2. Aufl. von R. BUCHNER, Darmstadt 1954, S. 46 ff. 32) DD Η IV 423: ... sanctam dei aecclesiam ..., ut earn more christianissimo, in quantum maior ceteris mortalibuspotestas nobis a deo largita est..., 448: oben Anm. 30,414: oben Anm. 29; vgl. L. KNABE, Die gelasianische Zweigewaltentheorie bis zum Ende des Investiturstreits (= Historische Studien 292), Berlin

1936, STRUVE, Stellung (wie Anm. 3) S. 220 f., GROTEN, Arengen (wie Anm. 2) S. 63 f. 33)

D Η IV 421; datiert ist dieses nur kopial überlieferte Stück mit dem Inkarnationsjahr 1091, dem dreizehnten Indiktionsjahr sowie dem 28. und neunten Herrscheqahr als König und Kaiser, das Tagesdatum fehlt (vgl. die Vorrede). Während das 28. Königsjahr in der Tat heillos verderbt ist, kann das angeführte achte Kaiserjahr ohne weiteres zutreffen, wenn die Urkunde nach dem 31. März 1091 ausgestellt wurde, da Heinrich am 31. März 1084 gekrönt wurde. Darüber hinaus ist auch das angegebene dreizehnte Indiktionsjahr falsch, da das Inkarnationsjahr 1091 bei Bedanischer Indiktion, die in den Urkunden Heinrichs IV. auch sonst zu beobachten ist, bis zum Wechsel am 24. September richtig das 14. beziehungsweise 15. Indiktionsjahr erfordert (vgl. DD ΗIV 415,426,450,480,488,491). In einer am 23. Mai 1091 von Oger Α ausgestellten, im Original überlieferten Urkunde, hat er das Indiktionsjahr mit 14 jedoch zutreffend berechnet (D ΗIV 423: Anno dominicζ incamationis millesimo nonagesimo I, indictione

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Die Arenga umfaßt immerhin 16 Druckzeilen und ist deswegen von besonderem Aussagewert, weil der entsprechenden Vorurkunde Heinrichs III. lediglich der dispositive Teil entnommen wurde, nicht jedoch die Arenga selbst34. Der Text lautet wie folgt: Spiritus sancti gracia, qui ubi vult spiral, oportet nos semper omnium nostrorum fldelium merita equa racione pensare et, quamvis sit laboriosum, tarnen omnibus atque singulis iuxta quod pro nostro student fideliter laborare servicio, debita remunerationis premia scienter ordinäre. Preclarum quippe Romemi decus imperii statusque rei publice miseram ac detestabilem his maxime periculosis temporibus ruinam pateretur, nisi a nobis utrumque multifario nisu prudentis consilii atque fere continuo bellicosi laboris exercitio sustineretur regeretur atque defenderetur. Hec autem periculosi temporis instantia continuique, quibus agitamur, labores propter iusticiam, quam tuemur, fldeles ab infidelibus, amicos ab inimicis tamquam granum α paleis nos edocent discernere: et utrique in presenti rei publice defensione, quam tueri conamur, manifeste merentur, quam nunc et postmodum digni sunt et a deo et a nobis retributionem aeeipere. Cum vero apostolo dicente: Rex non sine causa sed ad vindictam malefactorum laudemque bonorum portat gladium, bonis dare laudem et immensem remunerationem, malefactores autem digna punire vindicta, honori regio felix est ac eternum consilium. Igitur evidenter cognoscentes omnes unanimiter Mantuanos nostram fideliter, prout debent, fidelitatem servare, eorum dignis postulationibus dignum duximus condescendere.

XIIII hoc actum est Xkal. iunii; in dei nomine feliciter; regni vero domni Henrici serenissimi imperatoris XXXVIII, imperii autem VIII, mit den Hinweisen, daß bei der Indiktionsangabe „die letzte I mit heller Tinte nachgetragen" sei [S. 568 Var. r] und bei der Angabe der Königsjahre „die dritte X auf Rasui" stehe [ebd. Var. s]). Der Fehler geht in D Η IV 421 daher wohl zu Lasten des Kopisten, denn ein in römische Zahlzeichen geschriebenes XTV läßt sich leicht in ΧΙΠ verlesen; vgl. dazu H. BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 2, Berlin 3/21958, S. 442. Die Verfugung zugunsten der Bewohner Mantuas wurde daher höchstwahrscheinlich nach dem 31. Mäiz und vor dem 24. September 1091 ausgefertigt, doch kann man den Zeitraum noch weiter eingrenzen. In erzählenden Quellen wird nämlich erwähnt, daß sich die Bürger nach mehrmonatiger Belagerung in der Nacht vom 10. auf den 11. April 1091 ergeben hätten und Heinrich in ihrem Kreis am 13. April das Osterfest gefeiert habe. Da er den Bürgern verschiedene Rechte bestätigte, wird man die Urkunde mit dem Osteraufenthalt in Verbindung bringen dürfen; vgl. MEYER VON KNONAU, Jahrbücher 4 (wie Anm. 10) S. 333 f , SCHWARTZ, Besetzung (wie Anm. 10) S. 54 f., sowie T. STRUVE, Heinrich IV. und die fideles cives der städtischen Kommunen Oberitaliens, in: Deutsches Archiv 53, 1997, S. 497-553, hier S. 530-538, der bei Wege auch auf die hier verfolgten Fragen eingeht. 34) Urkunden Heinrichs ΠΙ. (wie Anm. 31) Nr. 356: Si petitionibus fidelium nostrorum iustis et racionabilibus annuimus et necessitates iniustas violentasque oppressiones secundum imperialis excellentie debitum sublevamus, a deo omnium bonorum recompensatore meritam retributionem feliciter adepturos fore speramus. Diese Arenga bot auch das Vorbild für diejenige einer einschlägigen Urkunde der Markgräfin Mathilde von Tuszien und ihres Gemahls Weif; vgl. Die Urkunden und Briefe der Markgräfin Mathilde von Tuszien, hg. von E. GOEZ / W. GOEZ, MGH Laienfürsten- und Dynastenurkunden der Kaiserzeit 2, Hannover 1998, Nr. 43. In der Vorrede betonen die Herausgeber, daß in D Η IV 421 „auf Grund der politischen Situation und Parteistellung ... selbstverständlich ... kein Bezug auf Nr. 43 genommen" worden sei.

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Auffallig ist zunächst, wie deutlich in der Arenga auf das eigentliche Rechtsgeschäft und die unmittelbar vorangegangenen militärischen Auseinandersetzungen verwiesen wird, da in den Arengen der hochmittelalterlichen Königsurkunden sonst im allgemeinen nur formelhaft ein aktueller tagespolitischer Bezug beziehungsweise Bezug zum Rechtsgeschäft zu erkennen ist35. Die Einnahme Mantuas war denn auch der erste große militärische Erfolg Heinrichs IV. in Oberitalien, der hinreichend Anlaß geben konnte, in gehobener Sprache und gedankenreich das salische Eigenverständnis zu demonstrieren. Weiter sind die drei vom Herausgeber nachgewiesenen Bibelzitate bemerkenswert, da die Notare sonst eher selten von der Hl. Schrift Gebrauch machten, während Oger A dafür offensichtlich eine Vorliebe hatte36. Der Kreis der Vorbildstellen läßt sich aber noch erweitern, da die Wendimg hec autem periculosi temporis instantia fast wörtlich dem 2. Timotheusbrief entnommen ist und das Wort granum α paleis ... discernere auf das Matthäus-Evangelium zurückgeht und von der Kirchenväterliteratur in zahlreichen Variationen angeführt wurde37. Während dem einleitenden Vers aus dem Johannes-Evangelium zumindest inhaltlich kein weiteres Gewicht beizumessen ist, da er lediglich die rhetorische Funktion eines locus de maiore ad minus erfüllt38, ruht der ganze Gedankengang auf der Kombination von Wendungen aus dem Römerbrief und dem 1. Petrusbrief, die in ihrer Gedankenfuhrung identisch sind und die Rolle der von Gott abgeleiteten weltlichen Gewalt umreißen: In Römer 13,4 ist davon die Rede, daß die weltliche Gewalt zur Rache an dem Übeltäter nicht ohne Grund das Schwert führe, und bei Petrus, daß man den vom König zur Bestrafung der Übeltäter und zum Lob der Guten entsandten Hauptleuten Untertan sein solle. Die Verse sind freilich aus ihrem Zusammenhang gerissen, der aber den bibelkundigen Zeitgenossen zweifelsohne bekannt gewesen ist. Insbesondere Römer 13,1-7 thematisiert die unmittelbar von Gott eingesetzte Obrigkeit, der jedermann Untertan zu sein habe, der sich niemand widersetzen dürfe und die als Gottes Dienerin mit dem Schwert die Bösen richte39. 35)

Vgl. FICHTENAU, Arenga (wie Aran. 2) S. 82 ff. Siehe oben Anm. 27; Io 3,8: Spiritus ubi vult spirat, Rm 13,4: (potestas = Dei minister) non enim sine causa gladium portat, 1 Pt 2,13 f.: subiecti estote omni humanae creaturae propter Dominum sive regi quasi praecellenti / sive ducibus tamquam ab eo missis ad vindictam malefactorum laudem vero bonorum. 37) 2 Tm 3,1: hoc autem scito quod in novissimis diebus instabunt tempora periculosa, Mt 3,12: Cuius ventilabrum in manu sua et permundabit aream suam et congregabit triticum suum in horreum paleas autem conburet igni inextinguibili (vgl. auch Mt 13,30 und Lc 3,17); Belege aus der Patristik sind zusammengestellt im Thesaurus Linguae Latinae 6/2,1925-1934, Sp. 2195 Z. 60 ff. 38) Vgl. FICHTENAU, Arenga (wie Anm. 2) S. 73 f., DERS., Rhetorische Elemente (wie Anm. 23) S. 131, S. 138 mit Hinweis auf die Vorhebe dieses rhetorischen Mittels bei Gottschalk von Aachen. 39) Rm 13,1-7: omnis anima potestatibus sublimioribus subdita est non est enim potestas nisi a Deo quae autem sunt a Deo ordinatae sunt / itaque qui resistit potestati Dei ordinationi resistit qui autem resistunt ipsi sibi damnationem adquirunt / nam principes non sunt timori boni operis sed mali vis autem timere potestatem bonum fac et habebis laudem ex ilia/Dei enim minister est tibi in bonum si autem male feceris time non enim sine causa gladium portat Dei enim minister est vindex in iram ei qui malum agit / ideo necessitate subditi estote non solum propter iram sed et propter conscientiam / ideo enim et tributa praestatis ministri enim Dei sunt in hoc ipsum servientes / reddite omnibus debita cui tributum tributum cui vectigal vectigal cui timorem timorem cui honorem honorem; 1 Pt 2,13 f.: oben Anm. 36. 365

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Diese fur die Begründung der weltlichen Herrschaft grundlegenden Sätze wurden beispielsweise in einem recht breit überlieferten Paulinenkommentar, der dem 4. Jahrhundert entstammt und dessen Verfasser als Ambrosiaster bezeichnet wird, wie folgt gedeutet: Weil nämlich, so der Kommentator, das künftige Urteil bei Gott liege und dieser nicht wolle, daß jemand sein Seelenheil verliere, habe er weltliche Gewalten eingesetzt, damit sie gleichsam wie paedagogi durch terror allen verdeutlichten, was zu tun und zu lassen sei, um nicht der ewigen Verdammnis anheimzufallen40. Zu Recht stellte Werner Affeldt daher fest, daß der Ambrosiaster die „Aufgabe" der weltlichen Gewalt „im christlichen Leben" fest umrissen habe und dabei betone, daß sie „ein Faktor der Heilsgeschichte" sei41. Die gedanklichen Parallelen zu der von Oger A formulierten Arenga liegen deutlich auf der Hand, und auch anderorts kam der Notar auf diese Vorstellungen unter Anfuhrung der genannten Bibelstellen noch zurück42, zumal sie an die ebenfalls biblisch begründete Zwei-Schwerter-Lehre erinnern43. Die aktuelle Situation, die gehobene, biblisch geprägte Sprache, die Betonimg der Herrschertugenden, die kraftvolle Hervorhebung despreclarum ... Romani decus imperii, die neben anderen Wendungen aus den von Oger Α verfaßten Urkunden vielleicht sogar erstmals deutlich faßbar auf römisch-rechtlich begründete Staatsvorstellungen weist44, die Umschreibung der Herrscheraufgaben und die Charakterisierung der von

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Ambrosiaster Commentarius in epistulas Paulinas 1: In epistulam ad Romanos, hg. von H. J. VOGELS, CSEL 81/1, Wien 1966, zu Rm 13,4 rec. α, β (S. 418, S. 420): Dei enim minister est tibi in bono, manifestum est ideo rectores datos, ne malum fiat. Si autem malum feceris, time, nan enim sine causa gladium portat. hoc est: ideo comminatur, ut sifuerit contemptus, vindicet. Dei enim minister est, vindex in iram in eum, qui male agit. quoniam futurum judicium dens statuit et nullum perire vult, in illi (hoc in) saeculo rectores ordinavit, ut terrore interposito hominibus velut paedagogi sint, erudientes illos quae servent, ne in poenam futuri iudicii incidant (incidant fiituri iudicii); fast gleichlautend rec. γ (S. 419, S. 421). Vgl. zum Autor im Uberblick W. GEERLINGS, Ambrosiaster, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, hg. von S. Döpp / W. Geerlings, Freiburg/B. u. a. 21999, S. 12 f., sowie zur Überlieferung F. STEGMÜLLER, Repertorium biblicum medii aevi 2, Madrid 1950, S. 90-92, 8, Madrid 1976, S. 289-291. M. HACKELSPERGER, Bibel und mittelalterlicher Reichsgedanke. Studien und Beiträge zum Gebrauch der Bibel im Streit zwischen Kaisertum und Papsttum zur Zeit der Salier, phil. Diss. München 1932 = Bottrop 1934, erörtert im weiteren Rahmen den Einsatz von Bibelzitaten und biblisch geprägten Vorstellungen in den Quellen des Investiturstreites. 41)

Vgl. W . AFFELDT, Die weltliche Gewalt in der Paulus-Exegese. Rom. 13,1-7 in den Römerbriefkommentaren der lateinischen Kirche bis zum Ende des 13. Jahrhunderts (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 22), Göttingen 1969, S. 53 ff., hier S. 82. 42) Siehe oben Anm. 27. 43) Siehe oben Anm. 4. 441 Vgl. KOCH, Sacrum Imperium (wie Anm. 3) S. 53 f., grundlegend jetzt STRUVE, Recht (wie Anm. 12). Einige Belege aus den von Oger Α verfaßten Diplomen stellte bereits A. GAWLIK, Analekten zu den Urkunden Heinrichs IV., in: Deutsches Archiv 31,1975, S. 370419, hier S. 391 Anm. 99, zusammen; vgl. auch GROTEN, Arengen (wie Anm. 2) S. 63 f. mit Anm. 72 und 73. Die Arenga von D ΗIV 421 erinnert in ihrer Gedankenfiihrung auch an das Prooemium der Institutiones Justinians I. (zitiert nach Corpus iuris civilis 1: Institutiones, hg. von P. KRÜGER, Digesta, hg. von Th. MOMMSEN / P. KRÜGER, Berlin 141922, S. XXI): Imperatoriam maiestatem non solum armis decoratam, sed etiam legibus oportet esse armatam, ut utrumque tempus et bellorum et pads recte possit gubemari et princeps Romanus victor existat non solum

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Gott unmittelbar herrührenden weltlichen Gewalt machen diese Arenga zu einem wichtigen Manifest der salischen Herrschaftspropaganda, die dadurch wirken konnte, daß, wie aus anderen Quellen bekannt ist, Urkunden oftmals vor einem großen Publikum, bisweilen sogar im Gottesdienst, verlesen wurden 45 . Oger Α bewegt sich bei diesem Bemühen mit seinen Gedanken durchaus im Rahmen der übrigen königlich gesinnten Publizistik des Investiturstreites, in der Römer 13 naturgemäß eine große Rolle spielte. Schon 1073, also kurz vor dem Ausbruch des Streites mit Gregor VII., bemühte Heinrich IV. in einem Brief an den Papst Römer IS,^ 46 . Das Brixener Synodaldekret von 1080, das die Absetzung dieses Papstes verfugte, stellte Römer 13,4 und 1. Petrus 2,13 und 14 in den Mittelpunkt der Argumentation 47 , die falschen Investiturprivilegien fuhren diese Verse ebenso an 48 wie der unbekannte Autor des Liber de unitate ecclesiae conservanda, der die Rechte des Königtums verteidigt 49 oder der ebenfalls salierfreundliche Benzo von Alba 50 .

in hostilibus proeliis, sed etiam per legitimes tmmites calumniantium iniquitates expellens, et fiat tarn iuris religiosissimus quam victis hostibus triumphator. 45) Vgl. J. FICKER, Beiträge zur Urkundenlehre 1, Innsbruck 1877, S. 110-112 § 73, 2, Innsbruck 1878, S. 100-107 § 247-250, FICHTENAU, Arenga (wie Anm. 2) S. 19 mit Anm. 47, dort der Hinweis auf J. STUDTMANN, Die Pönformel der mittelalterlichen Urkunden, in: Archiv für Urkundenforschung 12, 1932, S. 251-374, hier S. 333 ff., sowie BRESSLAU, Urkundenlehre 2 (wie Anm. 33) S. 160 Anm. 5. Einen literarischen Beleg bietet auch H. WOLTER, Die Synoden im Reichsgebiet und in Reichsitalien von 916 bis 1056 (= Konziliengeschichte. Reihe A: Darstellungen), Paderborn u. a. 1988, S. 171 f. mit Anm. 318. FICHTENAU, Arenga (wie Anm. 2) S. 86, bemerkt, daß in den Arengen vergleichsweise selten„in wirklich freier Form ,Reichspropaganda'" betrieben worden sei; in solchen Fällen sei "die Arenga dem politischen Manifest" vergleichbar, vgl. auch DERS., Monarchische Propaganda in Urkunden, in: DERS., Beiträge (wie Anm. 23) S. 18-36 (erstmals 1956/1957), hier S. 32 ff. Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 4) Nr. 5 (S. 8): Quippe nobis a deo date potestatis vindicem non sine causa gladium portavimus, nec tarn in reos, ut iustum fuit, iudiciaria ilium semper censura evaginavimus, vgl. zu diesem Stück SCHNEIDER, Sacerdotium (wie Anm. 4) S. 5 7 ff. Weitere Belege bieten KOCH, Sacrum Imperium (wie Anm. 3) S. 65 f., STÜRNER, Peccatum (wie Anm. 6) S. 125 ff, STRUVE, Stellung (wie Anm. 3) S. 228 f. Anm. 66, und P. MILLOTAT, Transpersonale Staatsvorstellungen in den Beziehungen zwischen Kirchen und Königtum der ausgehenden Salierzeit (= Historische Forschungen 25), Rheinfelden u. a. 1989, S. 370-373. 47) Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 4), Anhang C (S. 70):... cum vas electionis Paulus testetur principem nan sine causa gladium ferre, et Petrus apostolorum primus non solum regem precellere, verum duces ab eo mittendos clamet esse, ad vindictam videlicet malorum, ad laudem vero bonorum, vgl. zur Sache ROBINSON, Henry IV (wie Anm. 3) S. 194 ff. 481

Die falschen Investiturprivilegien, hg. von C. MÄRTL, MGH Fontes iuris 13, Hannover 1986: „Maius" Z. 226 ff (S. 193 f.); vgl. zur Sache die Einleitung zur Edition ebd. S. 7 ff. 49) Liber de unitate ecclesiae conservanda, hg. von W. SCHWENKENBECHER, in: MGH Ldl 2, Hannover 1892, S. 173-284, hier Kap. 3 (S. 187): Rm 13,1-4, Kap. 5 (S. 190): 1 Pt 2,13-17 und Rm 13,1, u. ö.; vgl. zu diesem Text im Überblick T. STRUVE, Liber de unitate ecclesiae conservanda, in: Lexikon des Mittelalters 5,1991, Sp. 1948 f. 30) Benzo von Alba, Ad Heinricum IV. imperatorem libri VH, hg. von H. SEYFEERT, MGH SS rer. Germ. 65, Hannover 1996, Stellenregister S. 671 f.; vgl. zu diesem Werk die Einleitung zur Edition ebd. S. 1 ff

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*

Mit der Rückkehr Heinrichs IV. nach Deutschland im April/Mai 1097 konnte dieses hohe, von Oger Α repräsentierte Niveau nicht mehr gehalten werden, nicht zuletzt deswegen, weil sich die Kanzlei aufgelöst hatte: Während nämlich an den in Italien ausgestellten Stücken ganz überwiegend Angehörige der salischen Kanzlei beteiligt waren, läßt sich in der folgenden Zeit nur für zwei Urkunden zweifelsfrei erweisen, daß sie reine Kanzleiprodukte sind. Die Mehrzahl der Verfugungen stammt dagegen von den Empfängern selbst oder von Gelegenheitsnotaren51. Es wurden zwar auch weiterhin Arengen zu Pergament gebracht, doch entbehren sie jedweder grundlegenden, eigenständig formulierten Überlegungen zur Stellung des König- und Kaisertums52. Statt dessen häufen sich in den Arengen und in den dispositiven Teilen der Diplome in auffälliger Weise Belege dafür, wie Heinrich IV. nun um sein eigenes Seelenheil, aber auch das seiner Vorfahren und Angehörigen bemüht war - und man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man dieses Bemühen einem ganz persönlichen Bedürfnis des Kaisers zuschreibt53. Sieht man nämlich von dem Seelenheilpassus für den Aussteller, also Heinrich IV., ab, dann werden in den in Italien ausgestellten Stücken nur dreimal kumulativ die parentes des Kaisers erwähnt54, einmal wird allein Heinrichs verstorbener ersten Gemahlin Bertha gedacht55 und einmal in einer Urkunde für die salische Grablege Speyer Heinrichs III., Berthas, Giselas und Konrads, der Großeltern väterlicherseits, darüber hinaus eines früh hingeschiedenen Bruders sowie der ebenfalls bereits toten Kinder56. Die in Deutschland ausgefertigten Verfügungen bieten dagegen ein völlig anderes Bild, denn in fast der Hälfte der Urkunden wird nicht nur des engeren familiären Um51) Vgl. die Ubersicht MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6 (wie Anm. 4) S. 764-766 (reine Kanzleiprodukte sind nach der Rückkehr nach Deutschland DD Η IV 455 und 458), zur Auflösung der Kanzlei ebd S. XLIV ff. 52) Arengen in DD Η IV 455 (Gottschalk), 460 (nach der Vorurkunde), 462 (nach der Vorurkunde), 463 (vom Empfanger), 464 (.Speyerer Notar'), 466 (,Speyerer Notar'), 470 a (unbekannt), 475 (,Speyerer Notar'), 479 (nach der Vorurkunde), 480 (nach der Vorurkunde, unbekannt), 486 (Gottschalk ?), 488 (,Speyerer Notar'), 489 (,Speyerer Notar'); D Η IV 468 bietet eine gewisse Ausnahme (Notum esse volumus ... nos monarchiam imperii nostri patema successione a deo nobis collati huius modi auspiciis perficere voluisse, ut Christi gloria sub nostro principatu florescens honorem obtineat debitum et vigor religionis corroboretur pace ecclesiarum.), doch stammen diese Worte bis auf imperii, i bei nostri und die Vorsilbe per bei petficere aus der Vorurkunde; vgl. KOCH, Sacrum Imperium (wie Anm. 3) S. 54 mit Anm. 191, GROTEN, Arengen (wie Anm. 2) S. 51, sowie zum ,Speyerer Notar' unten mit Anm. 63. 53) Vgl. hierzu und zum Folgenden grundlegend K. SCHMID, Die Sorge der Salier um ihre Memoria. Zeugnisse, Erwägungen und Fragen, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. von K. Schmid / J. Wollasch (= Münstersche Mittelalter-Schriften 48), München 1984, S. 666-726, darüber hinaus im weiteren Sinne STRUVE, Behauptung (wie Anm. 9) S.

318 ff, und TELLENBACH, Charakter (wie Anm. 9) S. 345 ff. 54)

DD ΗIV 413 (fur St. Zeno/Verona, Diktat: Oger A), 418 (für Eichstätt, Diktat: Gottschalk), 429 (fur St. Leo und Marinus/Pavia, Diktat: kanzleifremd). 55) D ΗIV 424 (fur Brixen, Diktat: Humbert A). 56) D ΗIV 426 (Diktat: Humbert A).

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feldes gedacht, sondern es werden ganz konkret für bestimmte Tage Gebetsverpflichtungen und sozial-karitative Leistungen der Urkundenempfanger festgelegt57. Ein treffendes Beispiel bietet ein am 3. August 1101 für die Benediktinerabtei Prüm ausgestelltes Diplom, das Gottschalk von Aachen verfaßt hat: Heinrich IV. urkundet hier nicht allein zugunsten seines eigenen Seelenheils, sondern auch für das remedium animq seiner Eltern und Großeltern väterlicherseits sowie das seiner ersten Gemahlin Bertha und schließlich für den Bestand seiner kaiserlichen Herrschaft und der Königsherrschaft Heinrichs V. Zu Lebzeiten des Kaisers sollten der Abt, seine Nachfolger und die Brüder täglich für ihn beten, an den Ordinationstagen zum König- und Kaisertum jedoch auch Messen lesen, fünfzig Arme speisen und selbst auch in den Genuß eines Mahles gelangen. Nach dem Tod Heinrichs IV. sollte sein Jahrtag mit Messen, Gebeten, einer Speisung für die Mönche und 300 Arme sowie mit der Einkleidung von dreißig Bedürftigen begangen werden. Ahnliche Bestimmungen wurden für Heinrich V. getroffen, und zur rechten Orientierung der Prümer Benediktiner wurden die Tagesdaten der Ordinationen mit angegeben58. Dieser intensive Niederschlag der Seelensorge eines Herrschers in seinen Diplomen ist in der ostfränkisch-deutschen Zeit höchst auffällig59 Damit im Zusammenhang steht die sehr deutlich faßbare Marienverehrung des Kaisers, wie sie uns besonders in den Urkunden für die Speyerer Bischofskirche entgegentritt, die ein Marienpatrozinium hatte, Grablege der salischen Könige war und deren Umbau Heinrich IV. ins Werk gesetzt hat60. Er selbst bat kurz vor seinem Tod um ein Grab in der mittelrheinischen

57)

Außer für Heinrich selbst und außer fur die nur kumulativ erwähnten parentes und fideles: DD Η IV 454 (für St. Georgenberg), 463 (für Kremsmünster), 465 (für St. Maximin), 468 (für Lobbes), 470 a (für St. Jakob/Lüttich), 471 (für Prüm), 473 (für Weissenburg), 474 (für Speyer), 475 (für Speyer), 477 (für Lorsch), 479 (für Bamberg), 480 (für Speyer), 486 (für Mondsee); Festlegung von Gebetsleistungen sowie sozial-karitativen Leistungen in DD Η IV 454, 465, 470 a, 471, 475, 490, allein D 463 ist ohne Terminangabe. D ΗIV 466 (für Speyer) bezieht sich auf D ΗIV 10; vgl. zum Diktat MGH DD regum et imperatorum Germanie 6 (wie Anm. 4) S. 765 f. sowie die Vorreden zu den einzelnen Stücken. 58) D ΗIV 471; aus der Narratio geht hervor, daß die Urkunde das Urteil eines Fürstengerichtes wiedergibt. Abt Wolfram von Prüm soll den Kaiser um die schriftliche Fixierung der Leistungen in dem Diplom gebeten haben. Zu Prüm - das Benediktinerkloster besaß ein Salvator- und Marienpatrozinium - hatte Heinrich IV. nach einer Durchsicht von Th. VOGTHERR, Die Reichsabteien der Benediktiner und das Königtum im hohen Mittelalter (900-1125) (= Mittelalter-Forschungen 5), Stuttgart 2000, abgesehen von DD ΗIV 1,471 und (t ?) 476 keine erkennbaren näheren Beziehungen; vgl. zu D ΗIV 471 ebd. S. 138 f. Den sozial-karitativen Leistungen entsprechen einschlägige Bemerkungen der Vita Heinrici IV. imperatoris, hg. von W. EBERHARD, MGH SS rer. Germ. [58.], Hannover 31899, hier Kap. 1 (S. 10 f.) oder Kap. 13 (S. 43); vgl. dazu SCHMID, Sorge (wie Anm. 53) S. 706 ff. 59)

Vgl. SCHMID, Sorge (wie Anm. 53) S. 671 ff, S. 706 ff, bes. S. 710, VOGTHERR, Reichsabteien (wie

Anm. 58) S. 220-229; man wird zwischen einfachen Gebetsklauseln und dem hier verzeichneten Befund unterscheiden müssen. Vgl. zur Entwicklung von Seelenheüpassus und Gedenkstiftung W. WAGNER, Das Gebetsgedenken der Liudolfinger im Spiegel der Königs- und Kaiserurkunden von Heinrich I. bis zu Otto ΙΠ., in: Archiv für Diplomatik 40,1994, S. 1-78. 60) Vgl. DD ΗIV 454,458,464,466,474,475,489, dazu C. EHLERS, Metropolis Germaniae. Studien zur Bedeutung Speyers für das Königtum (751-1250) (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für

Herrschaftslegitimierung im Wandel

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Kathedrale61. Maria, heißt es beispielsweise in einer Urkunde von 1102 für Speyer, habe den Kaiser sehr oft aus vielen und großen Gefahren befreit, womit gewiß ganz konkret auch auf die Schlacht an der weißen Elster im Jahre 1080 Bezug genommen wird, denn vor diesem Treffen mit seinen deutschen Gegnern stellte Heinrich ebenfalls für Speyer eine Verfugimg aus, in der er seiner innigen Marienverehrung tiefen Ausdruck verlieh62. Die Speyerer Urkunde von 1102 stammt ebenso wie die übrigen Verfugungen dieser Jahre fur das mittelrheinische Domstift von einem Notar des 1104 gestorbenen Bischofs Johannes von Speyer. Dieser Notar, der noch ein Diplom für Lorsch verfaßte, erweiterte die Apprecatio in Christi nomine feliciter amen um die Befestigungsformel ad salutiferam memoriam Heinrici tercii Romanorum imperatoris. Diese für das Eschatokoll einer Königsurkunde auffällige Wendung zeigt einmal mehr den engen persönlichen Bezug Heinrichs IV. zur Bischofskirche, denn es ist nur schwer vorstellbar, daß es sich um einen dem Salier lediglich angetragenen Seelenheilpassus handelt63.

Wenn man angesichts der eingangs gestellten Frage versucht, diesen Befund zusammenzufassen, kann man vielleicht folgendes Fazit ziehen: Als Heinrich IV. auf dem Gipfel seiner Macht 1090 siegesgewiß nach Italien zog, fand er in Oger Α einen Mann, der die salische Herrschafts- und Legitimationspropaganda, die vornehmlich auf die sakrale Stellung des König- und Kaisertums abzielte, in den Arengen der von ihm verfaßten Urkunden noch einmal einem Höhepunkt entgegenfuhrte. Nach den zermürbenden Jahren der Isolation in Oberitalien nach Deutschland zurückgekehrt, scheint es nicht mehr gelungen zu sein, eine arbeitsfähige Kanzlei aufzubauen, was auch auf die schwindende Integrationskraft der salischen Zentralgewalt hindeutet64. Die wenigen Arengen der in Deutschland ausgestellten Urkunden sind konventionell. Statt dessen verdichtet sich angesichts der Narrationes und Dispositiones der kaiserlichen Verfugungen der Eindruck, daß die Sorge des Saliers um sein Seelenheil ganz in den Vordergrund tritt. Erinnert man in diesem Zusammenhang noch daran, daß in einer für St. Maximin einen Tag nach der Annunciatio Mariae 1101 in Speyer ausgestellten Verfugung gleich zweimal darauf verwiesen wird, daß Heinrich von schwerer Krankheit Geschichte 125), Göttingen 1996, S. 98 ff., und E.-D. HEHL, Maria und das ottonisch-salische Königtum. Urkunden, Liturgie, Bilder, in: Historisches Jahrbuch 117,1997, S. 271-310. 61) Vgl. EHLERS, Metropolis (wie Anm. 60) S. 118 mit Anm. 210. 61> DD Η IV 474: ... quoniam beata dei genitrix virgo Maria de multis et magnis tribulacionibus nos sepissime liberavit... und... summam sperrt semper et depresenti nostri honoris statu et de felici future vite gaudio in beate Marie virginis intercessione habuimus ..., 325; vgl. EHLERS, Metropolis (wie Anm. 60) S. 102 f., S. 361, S. 364 f., sowie zum Fortleben der Speyerer Memoria Heinrichs IV. ebd. S. 368 f. 63) Vgl. SCHMID, Sorge (wie Anm. 53) S. 678 f., zum Speyerer Notar P. ACHT, Studien zum Urkundenwesen der Speyerer Bischöfe im 12. und im Anfang des 13. Jahrhunderts (Speyer in seinem Verhältnis zur Reichskanzlei), in: Archiv fiir Urkundenforschung 14,1936, S. 262-306, hier S. 263-287. 64) Siehe oben Anm. 51.

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Bernd Schütte

genesen sei, läßt sich die aktuelle Lebenssituation des Kaisers schlaglichtartig beleuchten65. Die angesprochenen umfangreichen Seelgerätbestimmungen könnten aber darüber hinaus einen Wandel im salischen Herrschaftsverständnis zeigen: Während nämlich die Arengen der italienischen Jahre den Rang des Königtums im allgemeinen betonen, heben die deutschen Urkunden die Kontinuität der salischen Herrschaft hervor und lassen die propagandistischen Aspekte der Memoria in dynastischer Hinsicht erkennen, zumal auch - wie im Diplom Nummer 471 - Heinrich V. in die Gebetsverpflichtungen miteinbezogen wird 66 . Als Heinrich V. sich im Dezember 1104 vom Vater losgesagt hatte, ließ dieser in den danach ergangenen Urkunden schließlich nur noch seiner selbst gedenken 67 .

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D Η IV 465: Sed divina misericordia nos exterius gravi corporis molestia corripientq ... und Gravi igitur corporis qgritudine libemti... . Die Urkunde für St. Maximin ist in Speyer einen Tag nach der Annunciatio Mariae ausgestellt, der Verfasser gilt als unbekannt; HOFFMANN, Eigendiktat (wie Anm. 8) S. 411 Anm. 36, bemerkt, daß untersucht werden müsse, ob Eigendiktat vorliege. Vgl. auch SCHMID, Sorge (wie Anm. 53) S. 678, der ebd. Anm. 73 darauf verweist, daß nunmehr des öfteren auch die stabilitas regwi-Formel erscheine, die nach ROBINSON, Henry IV (wie Anm. 3) S. 174, auch im Zusammenhang der Ereignisse des kritischen Jahres 1077 in Herrscherurkunden Verwendung gefunden habe; vgl. dazu auch J. VOGEL, Gregor VII. und Heinrich IV. nach Canossa. Zeugnisse ihres Selbstverständnisses (= Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 9), Berlin / New York 1983, S. 83-86. - Der möglicherweise zu erhebende Einwand, daß sich in diesem Befund lediglich der weltliche und geistliche Empfangerkreis widerspiegeln könnten, wird dadurch entkräftet, daß sich herrschaftslegitimierende Aspekte selbstverständlich auch in Urkunden für geistliche Empfänger finden; vgl. aus dem Kreis der angesprochenen Verfugungen DD ΗIV 283, 413, 414 usw. Weltliche Empfinger eigneten sich naturgemäß weniger für zu erbringende Memorialleistungen; vgl. M. BORGOLTE, Die Stiftungsurkunden Heinrichs Π. Eine Studie zum Handlungsspielraum des letzten Liudolfingers, in: Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, hg. von K. R. Schnith / R. Pauler (= Münchener Historische Studien. Abteilung mittelalterliche Geschichte 5), Kallmünz 1993, S. 231-250, hier S. 237. 661

Einen in gewisser Weise vergleichbaren Befund erhob am Beispiel Heinrichs ΠΙ. ROBINSON, Henry IV (wie Anm. 3) S. 23. 67) Vgl. DD ΗIV 489^91, zu den Fakten ROBINSON, Henry IV (wie Anm. 3) S. 321 ff., zum Hintergrund St. WEINFURTER, Reformidee und Königtum im spätsalischen Reich. Überlegungen zu einer Neubewertung Kaiser Heinrichs V., in: Reformidee und Reformpolitik im spätsalisch-frühstaufischen Reich, hg. von St. Weinfurter (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 68), Mainz 1992, S. M5. Die in dieser Zeit ausgestellten Briefe des Kaisers (Briefe Heinrichs IV. [wie Anm. 4] Nr. 34^2 [S. 43-64]) thematisieren im wesentlichen das erlittene Unrecht und widerfahrene Unglück; vgl. KOCH, Sacrum Imperium (wie Anm. 3) S. 54 f., STRUVE, Behauptung (wie Anm. 9) S. 334 f., TELLENBACH, Charakter (wie Anm. 9) S. 362 ff.

BERNHARD KÖLVER ( f )

Der König: Herr von allem

Der ausgreifende Titel soll vor allem anzeigen, daß im hinduistischen Staat der König das Gemeinwesen dominiert: Das gilt zweifellos für die Sozialordnung und soll, wie man früher meinte, auch für den Landbesitz Geltung besessen haben. Der König, so heißt es selbst noch in der großen Manu-Übersetzung von Georg BÜHLER1, sei der Oberherr des Landes gewesen. Das entsprechende Sanskritwort ist adhipati und ist mit ,Oberherr' so schlecht nicht übersetzt. Nim gebe ich aber zusammen mit einem nepälischen Kollegen eine Sammlung traditioneller Rechtsdokumente heraus, u. a. auch Verkaufs- und Kaufurkunden, die eindeutig zeigen, daß auch die Majestät den normalen Gesetzen unterworfen war - auch und gerade bei Grundstücksgeschäften. , Oberherr' ist trotzdem zutreffend, denn es bedeutet etwa: der ,Herr, der der Oberste ist'. Der König ist nämlich zweifellos der Herr über Leben und Tod gewesen, wie schon die aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. stammenden Inschriften des „Kaisers" (wie man hierzulande üblicherweise sagt) Asoka, der das einzige indische Großreich vor 1947 beherrschte, mit schöner Deutlichkeit zeigen. Diese Inschriften sind eine der wenigen erhaltenen Quellen zur altindischen Geschichte. Und hier lesen wir in Girnär (zitiert nach der alten Übersetzimg, die der Hallenser Indologe HULTZSCH2 veröffentlich hat): A hundred thousand people in number were those who were slain there (and) many times as many those who died. [...] slaughter, death, and deportation of people: this is considered very painful and deplorable by Devänämpriya, d. h. ,den Göttern lieb', was ein Selbst-Epithet des Kaisers ist. Während eines meiner Aufenthalte in Nepal, dem hinduistischen Königreich am Südrand des Himalaya mit etwa 20 Millionen Einwohnern, starb der alte König Mahendra. Für die Inthronisation seines Nachfolgers, Birendra Bir Vikram Säha Deva, mußten daher 1975 die Texte für die Zeremonien zusammengestellt werden. Mit deren Ausarbeitung wurde ein mir persönlich gut bekannter und reputierlicher Pandit betraut, der Chef des nepälischen Nationalarchivs, das in Wahrheit aber die bei weitem größte Handschriftenbibliothek des Landes ist. Da die aus alter Zeit stammenden hinduisti1

Text: The Manusmrti with the commentary (...), Bombay 1946. Übersetzung: The laws of MANU, transl. by Georg BÜHLER, Oxford 1886. 2 The Inscriptions of Asoka, newly edited by Ε. HULTZSCH, Reprint, Delhi/Varanasi 1969.

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Bernhard Kölver

sehen Rituale sehr umfangreich sind, hatte ich damals das Vergnügen, den nepalischen Pandit bei der Auswahl der relevanten Stücke einer uralten Tradition zu beraten. Die kam also vor einem Vierteljahrhundert bislang zum letzten Mal bei einer Krönung zur Geltung und begründete fur den neuen Herrscher eine besondere Sakralität, die im übrigen auch schon durch den Namen zum Ausdruck kommt - denn Birendra Blr Vikram Säha Deva heißt: ,König der Helden, Held, Tapferer, Säha (ein iranischer Titel), Gott'. Natürlich mußte 1975 das überlieferte umfängliche Ritual mit allen seinen Vorschriften gekürzt werden, schon allein der wenig ausdauernden ausländischen Gäste wegen; aber was hier zur Anschauung kam, stand dennoch in der ungebrochenen Kontinuität eines Jahrhunderte alten Brauches: der hinduistischen Königsweihe, um die es im folgenden gehen soll. Die Königsweihe3 heißt auf Sanskrit räjasüya: ,Königliche Libation', könnte man sagen, und bezeichnet das zentrale Ereignis der Weihe, die symbolisch zu verstehen ist und die Welt in ihren verschiedenen Bestandteilen für den neuen König nach und nach neu erschafft. Albrecht W E B E R 4 , einer der indologischen Urväter (1825-1901) hat diesen Prozeß sehr schön und klar beschrieben. Die Welt wird also neu erschaffen für den neuen König. Wie geht das? Weitgehend mit symbolischen Mitteln: Da werden der Reihe nach die Himmelsrichtungen, die Metren, die Melodien des Opfers und ihre Gottheiten, die Herrschaft und heiligen Objekte (die „Formulierung", d. h. brahman), Herrschaft, Volk, Kraft und Glanz erschaffen. Fünf Schritte soll der Kandidat tun in jede Richtung: Wo er zuletzt stehen bleibt, bringt ihm dies die Frucht, langes Leben, ungefährdete Herrschaft usw. Der König stellt dabei gewissermaßen die belebte und sich erhebende Himmelssäule dar. Sie war das Instrument, das in der alten Vorstellung Himmel und Erde auseinanderhielt. Man kann sich daher leicht die kosmische Katastrophe vorstellen, die sich ergab, wenn ein Land ohne König war5. Schon allein des-

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Die Quellen sind im 3. Band des Dharmakosa (Dharmakosa. Räjamtikändam 1-7, WAI 1935-1973), dem Band Räjariiti 'Richtiges Verhalten für einen König', vollständig gesammelt. Daneben gibt es eine einbändige englische Zusammenfassung und analytische Darstellung von J. H. C. HEESTERMAN, The Ancient Indian Royal Consecration, Den Haag 1957. 4 A. WEBER, Über die Königsweihe, den räjasüya (=Abh. d. kgl. Akad. d. Wiss.), Berlin 1893. 5 Es ist im Lauf der letzten Jahrzehnte eine Reihe neuer theoretischer Modelle zur Struktur indischer Staaten aufgekommen. Am folgenreichsten war wohl das Modell des amerikanischen Ethnologen Clifford GEERTZ (Negara. The Theatre State is the Centre, Princeton 1980), der an Material aus Bali den Staat als Theater begriff. Bali ist bis 1905, d. h. bis zur holländischen Eroberung, ein hinduistischer Staat gewesen. Staat als Theater, d. h. mit festgelegten Rollen, polarisiert: Der König steht seinen Untertanen gegenüber. Ein Modell, das sich am Vorbild eines Theaters gut fassen läßt. Nun ist eine rituelle und zeremonielle Inszenierung sehr wohl ein Kennzeichen indischer Staaten. Das Problem liegt dabei einfach in der Kommunikation: Schließlich hat man es mit einer weitgehend illiteraten Bevölkerung zu tun. Die operettenhafte Inszenierung jedoch zum Grundsatz eines Staates zu erheben und zum primum movens zu machen, geht aber wohl doch nicht an: Es läßt die Unmasse an Entscheidungen außer acht, die der König zu treffen hatte, um seine Macht zu erhalten. Ich werde daher den Ansatz von GEERTZ nicht weiter verfolgen, obwohl er die ethnologische Literatur bis heute beschäftigt (dazu vgl. auch Burkhart SCHNEPEL, Der Raub der Götter. Rituelle Inszenierungen von Macht und Autorität in Orissa [unpubliziert]).

Der König: Herr von allem

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halb konnte ein Land nicht auf einen König verzichten. H E E S T E R M A N hat die Katastrophe ausgemalt6, die eintreten mußte beim Wegfall des Königtums. Wichtig ist das symbolische Denken, das sich durch das ganze Ritual hindurchzieht: Wenn Indra bei der rituellen Wiederholung eines vedischen Mythos über Namuci siegt, dann soll das eine Analogie sein zum Geburtsprozeß, durch den man sich der Überreste der irdischen Existenz entledigt. Die Königsweihe hebt damit den Herrscher über die allgemeinmenschliche Lebensform hinaus. Wenn der künftige König rasiert werden muß im Verlauf der Zeremonie, dann ist dies womöglich eine Analogie zum Sommer, in dessen sengender Hitze alles verdorrt. Dabei gibt es auch eine negative Symbolik: Zu dieser braucht man zwei goldene Scheiben, denn ,als (der rigvedische Hochgott) Varuna, die personifizierte 'wahre Rede', gesalbt wurde, nahmen die Götter seine Lebenskraft' 7 : Das Zwischenlegen der Goldscheibe wird dem König die seine erhalten. Es folgt die Salbung, durch die dem König - ähnlich dem Namenswechsel der Päpste seit dem frühen Mittelalter - ein neuer Name verliehen wird. Wesentlich dabei ist die Genealogie, die zum Ausdruck gebracht wird in der Form: ,Ν.Ν., der Abkömmling des N.N., Sohn des N.N., Onkel des N.N., durch die königliche Oblation'. Das ist durchaus eine Art Wiedergeburt - zumal die Vorstellung gilt8, daß der sterbende König [also der Vater des zu Weihenden] (...) alle seine geistigen und physischen Fähigkeiten auf seinen Sohn (verlegt), der so seines Vaters Existenz fortführt. Das klassische Königsweiheritual der Inder detailliert zu beschreiben, ist wegen der umfänglichen Zermonien, die dabei vollzogen werden, kompliziert, obwohl Zusammenstellungen darüber nicht selten sind. Die beste neuere stammt von Wilhelm R A U 9 . Ein etwas klareres und vollständigeres Bild über das Königtum jedoch liefern uns jüngere Quellen, nämlich das Arthasästra des Kautalya: Das ist ein sicher - in einem freilich nicht genau bestimmbaren Kern - vorchristliches Buch, das aber erst vor relativ kurzer Zeit, erst nach der vorletzten Jahrhundertwende, in Südindien aufgetaucht und seither zu einem intensiven Forschungsfeld geworden ist, weil ansonsten alte indische Texte des Genres ,Recht und Staat' im Grund nicht vorhanden sind und Aussagen über ,Recht und Staat' in der Regel mühselig aus anderen Texten zusammengesucht werden müssen. Das Arthasästra aber ist komplett, wenn auch textlich nicht einwandfrei überliefert. Beginnen wir mit einer Übersicht über die hier behandelten Themen10. Am Anfang steht ein Kapitel über die Ausbildung des Königs bzw. des Kronprinzen. Es folgt ein Abschnitt über die Häupter der einzelnen Ministerien, dann über die Richter und ihre Macht. Danach gibt es Ausführungen über die Unterstützung des Verbrechers und schließlich über die Geheimverhandlungen. Alsdann kehrt der Text zum König zurück: Es folgt ein Kapitel über den Kreis der Könige. Das ist ein theoretisch und praktisch

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J. C. HEESTERMAN, The Inner Conflict of Tradition, Delhi 1985, passim. Die "theologische" Ausdeutung des Rituals zieht sich durch die Texte. V g l . A . WEBER ( w i e ANM. 4 ) .

W. RAU, Staat und Gesellschaft im alten Indien, Wiesbaden 1957. 10 Vgl. Das altindische Buch vom Rechts- und Staatsleben, übers, v. J. J. MEYER, Nachdruck Graz 1977

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wichtiger Abschnitt, in dem über Allianzen gehandelt wird11. Es folgen die Prinzipien der Außenpolitik. Dann kommen die Unglücksfälle, die den Staat betreffen können, aber auch den König, denn ein Land ohne König ist dem Verderben geweiht. Danach verweilt das Werk beim König: Es wird gezeigt, wie er sich im Krieg zu verhalten hat, und man erfahrt einiges über den Krieg wie auch über Oligarchien (die es schon im frühen Indien gegeben hat). Dann, sehr wichtig, gibt es Details über den schwächeren König sowie über die Kriegsführung. Ein Themenkreis ist weitgehend ausgespart, den man fur das Verständnis der indischen Realien allerdings dringend braucht: das Kastensystem 12 . Eine zweite Quelle über die hinduistische Herrscherweihe ist anderer Natur. Sie stammt aus Thailand, wo das Königtum ebenfalls hinduistisch ist. Von QUARITCHWALES13 gibt es ein ausfuhrliches Buch, das nicht nur das Zeremoniell der letzten thailändischen Krönimg beschreibt (das war die des Königs Prajädhipok im Jahr 1926). Der trug - ebenso wie der jetzige König Bhümipol < *°päla - einen Sanskritnamen und wurde nach seinem Tod wie alle verflossenen thailändischen Könige vergöttert und deshalb Räma (mit Ordinalzahl) genannt, nach dem altindischen Krieger-Helden, der aufgestiegen ist in den Rang einer Inkarnation des Gottes Visnu oder eines mit diesem als völlig identisch aufgefaßten Gottes. Diese hinduistische Königstradition ist um so bemerkenswerter, als die Sozialstruktur Thailands von der hinduistischen radikal abweicht. Thais sind Buddhisten, und das Kastensystem, das in Indien eine so beherrschende Rolle spielt, ist in Thailand unbe-

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Was behandelt wird, ist das wohlbekannte Prinzip des Kreises: Mein direkter Nachbar ist mein Feind; also werde ich versuchen, eine Allianz mit dessen Nachbarn zustande zu bringen. Es ergibt sich also ein Bündnissystem (1 und 3) gegen (2 und 4). 12 Dieses Stichwort fuhrt in die weiter entfernte indische Vergangenheit zurück, in die Zeit der auf den Subkontinent einwandernden Indo-Arier, also ins 2. Jahrtausend v. Chr. Die Neuankömmlinge waren vermutlich in drei Gruppen geteilt, in: König - Priester - Volk, und standen der Urbevölkerung bzw. älteren Bevölkerungsgruppen gegenüber, über die wir sehr wenig wissen: Überliefert sind Siegel, manchmal ikonographisch interessant und mit späteren Stadien indischer Religion vergleichbar; die Sprache bleibt trotz neuerer Bemühungen unentziffert. Natürlich stellten sich Fragen der Verteilung der drei genannten Gruppen; und vor allem gab es, streng eingehalten, das Verbot der Vermischung zwischen den einzelnen Gruppen. Da liegt der Ursprung des indischen Kastensystems. Dieses zieht sich durch die zahlreichen indischen Rechtsbücher, von dem schon genannten Kaiser Asoka, d. h. dem 3. Jahrhundert v. Chr., bis zur letzten großen Kodifikation, dem nepälischen Muluk-i-Ain von 1850. Es ist sozusagen das Axiom der indischen Gesellschaftsordnung. Der König hat natürlich die Macht, dergleichen, d. h. im Einzelfall, die Gruppenzugehörigkeit aufzuheben, wegen besonderer Leistungen, sagen wir im Krieg: In Nepal ist dies verschiedentlich geschehen, zuletzt etwa im Jahr 1770. Wie aber manifestiert sich das System? Vor allem in Speisegeboten und Regeln fur den sozialen Umgang. Verehrung der Brahmanen und des Königs. Verboten ist, grosso modo, das Essen tierischer Nahrung. Wer sagt einem, welches reinkarnierte Wesen man gerade verzehrt? Ganz wesentlich sind die Speiseregeln. Es liegt ziemlich genau fest, was man essen darf und wann: Die Menüs für die großen Feiern liegen fest, in geradezu unsinnigem Detail. Sehr wichtig ist auch, was man ißt: Man soll, so sagen es schon die Inschriften des alten Königs Asoka, sich vor allem des Fleischgenusses enthalten (Shähbäzgarhi). Das ist eine Regel, an die sich hochgestellte Hindus bis heute halten. Metzger gibt es in den islamisierten Gebieten, sonst jedoch kaum: Es fehlt die Kundschaft. 13

Siamese State Ceremonies, London 1992.

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kannt. Aber der thailändische König hält sich eine Reihe von Ritualspezialisten, die Hindus, Brahmanen, und der alten Traditon ihrer Kaste ergeben sind: Sie haben Verwandte aus altangestammten indischen Familien und sind überall da, wo es sich um heilige Überlieferung handelt, dem überkommenen Ritual vor allem in Fragen von Sitte und Brauch völlig ergeben - und dies nicht zuletzt bei der Frage: Was darf der König, was darf er nicht? Doch haben die thailändischen Könige seit Anfang des letzten Jahrhunderts Neuerungen beherzt durchgesetzt, so daß Majestät etwa heutzutage zu Fuß geht wie wir alle: Die alte Abschottung, die den Königen direkten Kontakt mit den Untertanen verbot, ist gefallen. Man ist zweifellos ein wenig ahistorisch, wenn man die gegenwärtige nepälische und thailändische Tradition zusammenfuhrt: In gewisser Weise jedoch rechtfertigt das gemeinsame historische Erbe dieses Verfahren. So machen denn auch die paar tausend Kilometer Entfernung zwischen Kathmandu und Bangkok nicht allzu viel aus - doch bleibt abzuwarten, ob dies so bleibt und was die Brahmanen nach dem Tod der gegenwärtigen Amtsinhaber machen werden. Wie aber sehen die Königsvorstellungen der Thais aus? Erstes und wichtigstes Kriterium für das Königtum ist die Abkunft. Der neue König muß aus königlichem Geschlecht stammen (wenn das nicht der Fall ist, sind - wie in Indien - längere , Absolutionen' nötig). Natürlich gibt es auch in Thailand Rituale, die den König weit über seine Untertanen stellen. Üblich war bis gegen 1910, daß der König unnahbar war; niemand durfte ihn berühren. Sein Fuß durfte nicht auf die normale Erde treten: also waren Teppiche nötig, wohin auch immer er trat. Wenn er ausfuhr, konnte er durch den Anblick des einfachen Volkes befleckt werden14, was natürlich vermieden werden mußte: also säumten Wände seinen Weg. Die Thais gehen von einer guten hinduistischen Hypothese aus: Der König ist ein Gott, sei es Siva oder Visnu. Das steht schon bei Manu5, dem wichtigsten der alten indischen Rechtsbücher. Zitiert sei dafür nur Manu 8.8: ,Sogar ein König, der ein Kleinkind ist, darf nicht verachtet werden, in der Idee, er sei bloß sterblich, denn er ist eine große Gottheit in menschlicher Form.' ,Er ist Indra [ein Gott] aus zwei Gründen: erstens ist er ein Ksatriya, und zweitens opfert er' 16 . Die Folgerungen aus dieser Vorstellung sind zahlreich: Erstens: Der Körper des Königs ist tabu, ganz besonders das Haupt und Haar17.

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Das sind die alten hinduistischen Berühungsregeln, die natürlich verhindern sollen, daß der Höhere durch den Niedrigeren verunreinigt wird. Man sieht das noch sehr schön an der üblichen hinduistischen Form des Grußes, bei der man sich mit gegeneinander gefalteten Händen gegenübersteht: Was weiß der Grüßende denn, welcher Kaste sein Gegenüber angehört und ob er nicht durch eine direkte Berührung befleckt würde. 15 S. Anm. 3. 16 Dies ist ein Zitat aus einem alten, hochangesehenen Text: slatapathabrähmama 5.3.4.7. 17 Das wird emst beim Haareschneiden: Bis auf Räma IV (1851-1868) wurden Lattenroste aufgestellt, wenn dem König die Haare geschnitten wurden. Reste der diesem Brauch zugrundeliegenden, mit dem (Haupt-)Haar verbundenen Vorstellungen über eine besondere Lebenskraft findet man in Nepal bis

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Zweitens: Der König darf - wie schon erwähnt - die nackte Erde nicht berühren. Drittens: Es ist tabu, sich nach der Gesundheit des Königs zu erkundigen. Viertens: Es gelten für den König vegetarische Nahrungsregeln. Fünftens: Es ist tabu, königliches Blut zu vergießen. Sechstens: Tabu ist der königliche Name (was heute im übrigen nicht mehr gilt, wie der Blick in irgendeine thailändische Tageszeitung lehrt). Tabu sind siebtens Wörter der Gemeinsprache, wenn über den König oder Königliches geredet wird18. Achtens darf, was mit den andauernden Thronwirren der Vergangenheit zu tun haben mag, ein königlicher Prinz, wenn er 13 oder 14 Jahr alt ist, nicht mehr im Haus des Vaters wohnen. Und neuntens schließlich war tabu das Verhalten von Leuten innerhalb und außerhalb des Palastes19. Was sehen wir im Vergleich der beiden Rituale, des thailändischen und des nepalesischen bzw. altindischen Rituals? Wir sehen die Zerstörung eines in sich geschlossenen, im Rahmen seines soziokulturellen Umfeldes ,vernünftigen' Rituals durch Verpflanzung in einen Kulturraum, der andere Voraussetzungen und Axiome hat. Beachtenswert ist dabei manches im ,neuen' Kontext - etwa die Vermeidimg der körperlichen Berührung, die an die gesuchte Isolation der chinesischen Kaiser denken läßt. Aber merkwürdig ist die Lösung schon: Was macht man mit einem Würdenträger, der sich absichtlich und gewollt von seiner Umwelt abschirmt? Natürlich paßt dergleichen nicht mehr in das moderne Thailand, weswegen es zu Angleichungen kam. Auch im modernen Indien war dies nicht anders. Die alten Könige haben hier seit der Unabhängigkeit ihre politische und seit Ende Dezember 1971 auch ihre wirtschaftliche Macht verloren. Die einen, zweifellos die Minderheit, haben sich aus dem traditionellen System gewissermaßen herausgelöst und sich in die neuen Parlamente wählen lassen. (Wählen lassen ist für diesen Vorgang ohne alle Zweifel der richtige Ausdruck: Wer außer ein paar Extremisten wird der Majestät schon die Stimme verweigern?) Der Großteil der früheren Maharadschas begnügt sich heute jedoch mit den traditionellen Formalien: Bei mancher Gelegenheit fuhrt der alte König mit seiner traditionellen Entourage eine Prozession an. Da findet sich der König dann reduziert auf die Funktion, die er ganz am Anfang in Indien hatte: Er dominiert das Ritual.

heute: Um manche Tempel gibt es einen Bezirk, zu dem normale Leute ihr abgeschnittenes Haar hinschaffen. 18 Auch das ist sehr verbreitet, und hat seine direkten Entsprechungen in Nepal. Da heißt ζ. Β. ,gehen' vulgo jänu, vom König jedoch savärijänu. Verhüllungen und Euphemismen sind häufig in der am Hof gebräuchlichen bzw. auf den König Bezug nehmenden Sprache. 19 Seltsamerweise hatte der thailändische König prinzipiell einen Nebenkönig an seiner Seite (vgl. QUARITCH-WALES [wie Anm. 13] Chapter 25: „Temporary Kings"). Das Verhältnis der beiden war nicht durchweg spannungsfrei. Inzwischen (seit Räma V: 1868-1910) wurde der Nebenkönig daher abgeschafft. Sein Palast birgt heute das Nationalmuseum.

HEIKO FRESE

Sakrale „Umbrüche" am Beispiel von Orissa

Eine doppelte Unsicherheit beschleicht mich als Indologen, wenn ich mich in dem vorliegenden Kontext äußere zu einem Thema, das es zwar allemal wert ist, diskutiert zu werden, welches aber in seiner ausgesprochenen Interdisziplinarität etwas voraussetzt, worüber man auf einer Metaebene ebenfalls sprechen sollte: Einmal das Gemeinsame, das Diskussion erst ermöglicht, etwa Perspektiven, Werkzeuge oder Interpretationsansätze, und ich weiß nicht, ob dieser Beitrag solches in adäquater Weise beiträgt. Zudem bewege ich mich als Neuling auf einem Terrain und in einer Region, die andere schon lange und sehr erfolgreich bearbeiten, und so kann das Folgende letztendlich nicht mehr sein als eine Zusammenfassung schon geleisteter Feldforschungen und wohl dokumentierter Ergebnisse unter einem bestimmten Aspekt, mit einigen kleinen, zusätzlichen Gedanken von meiner Seite. Daß dabei das Hauptverdienst denen gebührt, die die angesprochenen Arbeiten geleistet haben1, und hier nur ein winziger Ausschnitt dieses komplexen Feldes angerissen werden kann, bedarf im Grunde kaum einer Erwähnung. Die Leitbegriffe dieses Bandes, ,Sakralität' und ,Herrschaft', bieten Spiel fur eine Vielzahl möglicher (gleichwertiger) Interpretationen. Um die Gefahren einer intuitiven Begriffsverwendung, die der Untersuchung nicht angemessen wäre, zu verringern, erscheint es mir sinnvoll, mein Vorverständnis dieser Termini offenzulegen: Sakral wird im Folgenden all das genannt, was in den Quellen zu der von mir ausgewählten Region Indiens zu den von mir betrachteten Zeiten in irgendeiner Weise die Bezeichnung, das Zeichen des Göttlichen trägt. Herrschaft auf der anderen Seite fand und findet man in Indien in den unterschiedlichsten Qualitäten. So unterscheidet schon Bernhard C O H N in den 60er Jahren vier Ebenen des politischen Systems und damit auch vier Herrscheroder Königstypen. An der Spitze steht der imperiale Herrscher, bei C O H N der oberste Mogul, der über einen Großteil Indiens herrschte und - als wichtiges Kriterium - auch 1

Die vollständigen Titelangaben befindet sich in der Bibliographie am Ende des Aufsatzes. Hauptsächlich Hermann KULKE und Burkhard SCHNEPEL, deren Arbeiten mir als Grundlage gedient haben. Speziell zum indischen Königtum siehe u. a. HOCART 1 9 6 9 , HEESTERMANN 1 9 8 5 , SHULMAN 1 9 8 5 , M A D A N (Ed.) 1 9 8 2 und DIRKS 1 9 8 7 . Interessante Beiträge liefern INDEN 1 9 9 0 , MARGLIN 1 9 8 1 , GALEY 1 9 8 9 .

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Heiko Frese

nach dem Zerfall der tatsächlichen Macht im achtzehnten Jahrhundert noch viele Jahrzehnte lang als Legitimation der Macht kleinerer Herrscher diente. Die sekundäre Ebene bilden die Nachfolgestaaten des sich auflösenden Mogulreiches, deren Autorität eben oft imperialen Ursprungs war. An dritter Stelle steht die regionale Ebene, deren Herrscher ihren Status den Mächten der imperialen oder sekundären Ebene verdankten und sich auch durch diese legitimierten. Viertens folgt die lokale Ebene, auf der sich Grund besitzende Verwandtschaftsgruppen, lokale Steuerbeamte, die politischen Einfluß gewonnen hatten, Abenteurer und tribal chiefs als Herrscher versammeln, und deren Autorität von den Herrschern der sekundären und regionalen Ebenen abhing2. Ob man dieser speziellen Klassifizierung zustimmt oder nicht, es ist kaum zu leugnen, daß im indischen Mittelalter sehr unterschiedliche Qualitäten von Herrschaft und - damit verbunden - auch unterschiedliche Qualitäten von Sakralität existierten. Wichtig ist: Es gibt nicht d e n indischen Herrscher und d a s Weltbild der Inder; die Charakterisierung von Herrschaft ist vom betrachteten Ausschnitt und der Region abhängig ebenso wie von den Kontexten der Beherrschten. Alleinherrschaft ist in Indien sowohl in religiöser als auch in weltlicher Hinsicht schwer denkbar3. Mit Orissa oder Utkal - die Namen sind je nach historischer Epoche auf ein Gebiet im Osten Indiens anwendbar, fur das man als Kerngebiet das Delta der Mahanadi definieren kann - steht eine der heute rückständigsten Regionen Indiens im Zentrum dieses Aufsatzes. An der Küste des bengalischen Meeres liegt dort Puri, die Stadt des Gottes Jagannäth. Der 59 Meter hohe Tempelturm des Gottes diente, ebenso wie der 30 km weiter östlich an der Küste aufragende Turmrest des Sonnentempels von Konarak, Seeleuten über Jahrhunderte als Orientierungshilfe. Als „weiße" und „schwarze Pagode" finden sich beide Tempel bereits auf den frühen europäischen Seekarten eingezeichnet. Seit langer Zeit bildet die Stadt dieses Gottes das Ziel großer, Bengalen und Orissa durchwandernder Pilgerscharen. Nachdem der seit 1135 errichtete Jagannäth-Tempel Ende des 16. Jahrhunderts in den Herrschaftsbereich des ganz Nord- und schließlich Mittelindien erfassenden Mogul-Reiches gefallen war, weitete sich diese Wallfahrt auf das gesamte Indien aus. Der Gott Jagannäth, früher Purusottama, der in diesem Tempel residiert, wird durch eine Holzfigur repräsentiert und traditionell von den Gottheiten Balabhadra und Subhadra (ebenfalls durch Holzfiguren dargestellt) begleitet, die sich im Tempel an seinen Seiten befinden. Neben Puri waren noch die Städte Cuttack, Jajpur und Bhubaneswar (die heutige Hauptstadt des Bundesstaates Orissa) von großer Bedeutung für die Region und besonders für die sogenannten Gajapatis - mit diesem Titel, der soviel wie „Herr der Elefanten" bedeutet, bezeichneten sich die Herrscher Orissas seit dem 13. Jahrhundert. Er hatte sich, wie man aus Inschriften und muslimischen Chroniken entnehmen kann, bereits im 14. Jahrhundert auch außerhalb Orissas durchgesetzt und ist noch heute im Titel der wichtigsten Riten des räjäs von Puri enthalten4. 2

COHN 1 9 9 0 , S. 4 8 3 ^ 9 9 . S i e h e a u c h BERKEMER 1 9 9 3 , S. 1 6 - 1 9 oder SCHNEPEL 1 9 9 7 , S. 2 8 - 3 2 .

3

MICHAELS 1 9 9 8 , S. 3 0 4 - 3 0 9 .

"KULKE 1 9 7 9 , S. 5 8 - 5 9 .

189

Sakrale „Umbrüche" am Beispiel von Orissa

Die Herrschaft der Gajapatis zeichnet sich durch besondere Formen der Beziehung zwischen Herrscher und Gottheit aus, die in der Folge kurz skizziert werden sollen. Auf eine ausfuhrliche Darstellung der historischen Sachverhalte wird verzichtet, weil sie an anderer Stelle schon hervorragend gelungen ist5, der Platz dafür nicht ausreichte und es hier mehr um die Folgerungen daraus gehen soll. Mit der Errichtung des Tempels von Puri im 12. Jahrhundert war Jagannäth zur wichtigsten Gottheit von Zentralorissa aufgestiegen und wurde ein Jahrhundert später unter dem Herrscher Anangabhlma III. (1211-1239) zur alleinigen Reichsgottheit der Herrscher-Dynastie. Im Jahre 1230 bezeichnete sich Anangabhlma III. erstmals ausschließlich als Sohn und Stellvertreter (räuta) des Gottes. Aus den Jahren 1237 und 1239 sind sogar zwei Inschriften erhalten, in denen das Land ausdrücklich unter die Herrschaft der Gottheit (und nicht wie bisher unter die des Königs) gestellt wird und auch die Regierungsjahre als die des Jagannäth gezählt werden. In der Tempelchronik Puris, der Mädalä Pänjl, die auch einen Bericht über Anangabhlmas Taten enthält, heißt es gar: „Anahgabhlma verkündete: ,Unser Name ist (von nun ab als) Purosottama gegeben!' Als er sich in dieser Stadt Cuttack befand, übergab Purosottama alles Jagannätha und blieb dessen Stellvertreter. Anangabhlma und auch Purosottama [Anangabhlmas neuer Name] hatten in ihrem ersten Regierungsjahr keine Krönung. Der Herrscher des Orissa-Reiches, der große Herr Jagannätha, ordnete dies so an. Eine Krönung gab es nicht"6. Somit hatte der Herrscher Jagannäth zum höchsten Herrn und obersten König des Reiches erklärt, unter dessen Oberherrschaft er dann als göttlicher Stellvertreter weiter regierte. KULKE interpretiert das Handeln Anangabhlmas aus dem ideologisch-politischen Zusammenhang: Indem der Herrscher seine neue Stellung auch im fernen Südindien in einer Inschrift verkünden ließ, machte er auf seine herausragende Position unter den Hindu-räy'ös aufmerksam; und durch die Gründimg einer neuen Hauptstadt mit dem Namen „Neu-Benares" erhob er Anspruch auf das Erbe der heiligen Stadt, die wenige Jahrzehnte zuvor von muslimischen Truppen erobert worden war. Nach KULKEs Meinung diente Anangabhlmas Religionspolitik vor allem der „externen" oder „horizontalen" Legitimation seiner Herrschaft, also dessen Rechtfertigung und Sicherung gegenüber anderen hinduistischen räjäs. Ebenso aber beeinflußte seine neue Stellung als göttlicher Stellvertreter auch die „vertikale" oder „interne" Legitimation seiner Herrschaft innerhalb seines eigenen Reiches7. In diesem Zusammenhang sei auch die Existenz eines Jagannäth-Tempe\s in der neuen Hauptstadt zu sehen: Um an der Größe und Macht des Reichsgottes teilzuhaben und den Herrscher vor den Machenschaften und der Macht der Tempelpriester zu schützen, wurde der Kult auf diese Weise auch über die Figur des königlichen Priesters (des räjaguru) ausgeübt8.

5

6

Eben in KULKE

51. 7 8

1979.

Mädalä Pänji, ΙΠ, Ibid., 54. Ibid., 58.

27,

hg. von Α .

B . MOHANTY.

Zitiert nach der Übersetzung von

H . KULKE

in ibid.,

Heiko Frese

190

Anangabhlmas Sohn Narasimha I. (1238-1264), dem es gelang, das Reich erheblich nach Norden auszuweiten, unterzog - neben der Annahme des Titels „Gajapati" - die Ideologie seines Vaters gewissen Veränderungen. Die fur diesen Kontext wichtigste stellt die Tatsache dar, daß er sich als m i l i t ä r i s c h e n Statthalter Jagannäths proklamierte, der seine politischen und militärischen Handlungen nur auf ausdrücklichen Befehl des Gottes durchführte9. Darüber hinaus ist noch von Interesse, daß Narasimha I. der Erbauer des Sonnentempels von Konarak war, des zu seiner Zeit größten Tempels auf dem indischen Subkontinent. Das monumentale Bauwerk, das der gesamtindischen Gottheit Sürya gewidmet war, mag sogar als eine Antwort auf die - in ihrer Größe bis dahin unerreichten - Bauwerke der muslimischen Herrscher des Delhi-Sultanats im Norden Indiens gesehen werden10. Nachdem sich der Kult des Gottes im 13. und 14. Jahrhundert durch die Einverleibung wichtiger shivaitischer, tantrischer, shaktischer und buddhistischer Gottheiten weiterentwickelt hatte11, gewann mit der Machtergreifung Kapilendras (1434-1465) auch dessen Herrschaft eine bis dahin unbekannte Qualität. Der Begründer der SüryavamsaDynastie wurde als direkter A u s e r w ä h l t e r Jagannäths bezeichnet, so daß seine eigenen Aktionen göttlich sanktioniert erschienen, feindliche Handlungen dagegen als Angriffe auf den Gott selbst dargestellt wurden. Deshalb vermochte Kapilendra auch seinen Feinden direkt mit dem Zorn des Gottes zu drohen, sollten sie sich gegen ihn wenden. Darüber hinaus bezeichnete sich Kapilendra erstmals als Diener (sevaka) des Gottes12, mit einem Terminus also, den die räjas von Khurda und Puri bis heute verwenden (sie nennen sich ädya sevaka = erster Diener). Eine Legende deutet darauf hin, daß Kapilendra während des alljährlich stattfindenden Wagenfestes {ratha yäträ) schon den Ritus vollführte, der als cherä pähamrä bekannt ist. Dabei fegt der Gajapati auf dem Wagen, mit dem Jagannäth während des Festes durch die Straßen Puris gezogen wird, die Plattform des Gefährts zu Füßen des Gottes mit einem goldenen Besen - eine im Grunde priesterliche Funktion13. Im Jahr 1568 wurde Orissa, das zu dieser Zeit durch interne Machtkämpfe geschwächt war und in den Jahren zuvor wichtige Provinzen an mächtig gewordene Gegner im Süden verloren hatte, von den afghanischen Truppen des Sultanats von Bengalen erobert. Damit wurden das Gajapati-Königtum und der Jagannäth-Kult, da der Tempel in Puri ausgeraubt und zerstört wurde, gleichzeitig vernichtet. Orissa war nun zunächst Provinz des afghanischen Sultanats der Kararärii-Dynastie Bengalens.

9

Ibid., 6 0 . Siehe hierzu auch BERKEMER

1993,

S.

1 6 8 - 1 7 2 ; ESCHMANN, KULKE

und TRIPATHI

1978,

S.

1 9 0 - 1 9 3 ; DASH 1 9 7 8 , S . 1 6 1 - 1 6 8 ; SCHNEPEL 1 9 9 5 , S. 4 5 . 10

11

KULKE 1 9 7 9 , S. 6 1

ff.

Heute finden sich innerhalb des Tempelkomplexes 1 0 7 Nebenschreine: auch SCHNEPEL 1 9 9 7 , S. 8 1 . 12 Puri-Inschrift aus dem Jahr 1464, Zeile 2-6. TRIPATHI 1962, S. 272. 13

RÖSEL 1 9 8 0 , S . 1 3 - 1 5 ;

siehe

KULKE 1 9 7 9 , S . 7 0 - 7 5 ; D A S H 1 9 7 8 , S . 2 0 9 - 2 2 1 ; SCHNEPEL 1 9 9 7 , S. 8 1 ; SCHNEPEL 1 9 9 5 , S. 4 7 4 8 .

Sakrale „Umbrüche" am Beispiel von Orissa

191

Jedoch gelang es etwa drei Jahrzehnte später einem gewissen Rämacandra, sich unter ungeklärten Umständen zum Herrscher von Khurda, einem kleinen Fürstentum nur wenige Kilometer südlich von Cuttack, zu machen und, von den inzwischen über Orissa herrschenden Moguln toleriert, den Jagannäth-Kult zu erneuern. Im Rahmen dieses naturgemäß recht langwierigen Prozesses vermochte er es, mit der Herstellung neuer Götterfiguren und der Revitalisierung des Tempelapparates, sich selbst zum neuen Gajapati weihen zu lassen. Bei der „Versammlung der Großen des Reiches" sollen die Priester Puris es Rämacandra gestattet haben, ihrem Gott Jagannäth die erste göttliche Opfergabe darzubringen und danach die geweihten Gaben aus seiner Hand entgegengenommen haben. Dadurch akzeptierten sie Rämacandra als ihren und Jagannäths höchsten Opferherren und Patron14. Zudem wurde Rämacandra, indem man ihn als Inkarnation Indradyumnas, des legendären Gründers des Jagannäth-Kultes in mythischer Vorzeit, verehrte, auch die Legitimation der rechten Abstammung zuteil - die er zuvor natürlich nicht hatte vorweisen können. Durch diese Verehrung als „zweiter Indradyumna" und die Weihe durch die Priester von Puri wurde Rämacandra als räjä eines noch zu schaffenden Regionalstaates legitimiert. Auf seinen Verdiensten um die Erneuerung des Kultes ruht im Wesentlichen die Ideologie der frühen Khurda-räy'ös, Nachfolger des mythischen Kultbegründers und der imperialen Gajapatis zu sein. Zusätzlich stärkte Großmogul Akbar den Anspruch Rämacandras auf imperiale Legitimation, indem er ihn mit einer Reihe von Kleinstaaten Zentralorissas belehnte. Diese imperial-sakrale Struktur und ihr Widerspruch zur politischen Realität charakterisierten in den folgenden Jahrhunderten - im Grunde bis zur Erlangung der Unabhängigkeit - die Situation in Puri15. Während der für den Kult unsicheren 150 Jahre, die folgten, wurde der Tempel in Puri wiederholt von muslimischen Truppen geplündert. Jedoch soll es den Priestern immer wieder gelungen sein, rechtzeitig mit der Jagannäth-Figur zu fliehen und diese in Sicherheit zu bringen. Und der Kult überlebte diese Zeit nicht nur, sondern erfuhr unter dem Herrscher Narasimha Deva I. von Khurda, der 1623-1647 regierte, einige wesentliche Veränderungen. Ein entscheidender Schritt war der Bau eines Palastes für die räjäs von Khurda in Puri, in dem Narasimha Deva einen großen Teil seiner Regierungszeit verbrachte und auch seine Nachfolger immer häufiger residierten. Diese Übersiedlung war der Beginn einer immer intensiver werdenden Verflechtung von Hof und Tempel. So übernahm der Hofbrahmane des Herrschers (räjaguru) die sehr wichtige Funktion des höchsten Verwalters und Prüfers des Tempels (bada parlksa). Der Leibarzt Jagannäths und der Leibarzt des Herrschers waren ein und dieselbe Person. Ein Gärtner des Tempels versorgte den Palast mit Blumen. Ein anderer Priester war sowohl für die zeremoniellen Jagdausflüge Jagannäths als auch für die Versorgung des Gajapatis mit Fisch zuständig. Schließlich soll es Narasimha Deva I. sogar gelungen sein, „seine Lieblingsspeise, ein bestimmtes Gemüsecurry (säka), zu einer regulären

14

KULKE 1 9 7 9 , S. 1 2 9 - 3 0 .

15

KULKE 1 9 7 9 , S. 7 6 - 1 3 3 ; SCHNEPEL 1 9 9 7 , S. 8 1 - 8 2 ; SCHNEPEL 1 9 9 5 , S. 4 8 - 5 0 .

Legende siehe GEIB

1975.

Zur Indradyumna-

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192

Opfergabe des Tempels erklären zu lassen, die ihm nun als räja-bhoga [Herrschermahl] aus dem Tempel in den Palast gebracht wurde"16. In dieser Zeit begann der Herrscher auch, sich zu einer Art Hohepriester des Kults zu entwickeln. In den 1955 von der Regierung Orissas zum Gesetz erhobenen „Record of Rights" steht auch heute noch der räja von Puri als „Erster Priester des Tempels" an der Spitze aller Priester Puris17. Noch heute ist sichtbar - und nach allem Dafürhalten hat sich dies alles seit dem 17. Jahrhundert nicht wesentlich geändert - wie der rituelle Tagesablauf von Gajapati und Jagannäth zeitlich aufeinander abgestimmt ist. Ereignisse wie Wecken, Morgentoilette, Frühstück, Mittagessen, Mittagsschlaf, Abendessen, Zubettgehen sind dies ebenso wie etwa die Zeit der Audienz für Besucher und Pilger in Tempel und Palast. Ebenso wichtig ist der Austausch von materiellen Gütern zwischen Palast und Tempel. Die Gaben des Palasts bestehen aus Naturalien für Speisen, verschiedenen Sorten wohlriechender Essenzen, wertvollen Tüchern und Gewändern und manchmal wertvollem Schmuck. Die Leistungen des Tempels umfassen täglich zubereitete Speisen, die zum größeren Teil zu Gunsten des Herrschers an Pilger verkauft werden. Weiterhin bekommt er nahezu von allen Gegenständen wie Kleidern und Blumen, die nach bestimmten Riten von Jagannäths Körper abgenommen werden, einen Anteil (den er ebenfalls verkaufen darf). Noch heute leben die räjas von Puri zu einem guten Teil von den wirtschaftlichen Erträgen, die die engen Verbindungen zum Tempel abwerfen. Mit dem Ausüben der rituellen Reinigungszeremonie am Götterthron (cherä pahamrä, siehe oben) und des „Lichterdienstes" (älati-sevä) sowie des „Wedeldienstes" (cämara-sevä) während der Prozessionen in den Tempel, wo er jeweils eine Lampe vor den Bildern schwenkt und ihnen mit einem Wedel fächelt, übernahm der Gajapati eindeutig priesterliche Funktionen18. Gleichsam „öffentlich" wird dies während des großen Wagenfestes (ratha-yäträ), das einmal im Jahr stattfindet und sicherlich den Höhepunkt des kultischen Geschehens in Puri darstellt. Bei dieser Gelegenheit verlassen die drei Götterfiguren den großen Tempel und werden auf zu Tempeln geweihten, riesigen, vielrädrigen Holzwagen, die ungefähr 15 Meter hoch aufragen und oben mit Tuch überspannt sind, von Hunderten oder gar Tausenden von Pilgern eine etwa drei Kilometer lange Strecke gezogen, um dann in einem kleinen Tempel, der „Sommerresidenz" (dem Gundicä-Tempel), sieben Tage lang zu residieren. Zu Beginn dieses Ereignisses, an dem normalerweise Hunderttausende teilnehmen, vollzieht der Herrscher wiederum die oben genannten Zeremonien: Er fegt, leuchtet und wedelt vor jeder der drei Gottheiten, um schließlich hinter den ersten Wagen zu treten und diesen mit seinem Kopf, geschützt durch ein Kissen, anzuschieben. Erst durch diese Aktion, bei der er selbstverständlich von Pilgern, die vorne an Seilen ziehen, unterstützt wird, ist das Wagenfest eröffnet 19 . Die hier beschriebene priesterliche Funktion der Herrscher Orissas ist nur ein Beispiel für eine Entwicklung, die bis in das 19. Jahrhundert anhielt. Auch bei anderen 16

KULKE 1 9 7 9 , S. 147.

17

Record of Rights, III, 12.

18

KULKE 1 9 7 9 , S. 176.

19

Ibid.,

1 3 4 - 1 7 9 ; SCHNEPEL 1 9 9 7 , S. 8 2 - 8 3 .

Sakrale „Umbrüche" am Beispiel von Orissa

193

wichtigen Festen erwirkten die rajas sich das Recht, diese durch rituelle Reinigungszeremonien zu eröffnen. Die ohnehin schon eingeschränkte Autonomie des Königreichs von Khurda, das in dieser Zeit mit seiner Herrschaft über Puri als Zentrum Orissas bezeichnet werden kann, endete mit der vollständigen Unterwerfung durch die Marathen 1751 und schließlich durch die Briten 1803. Zuvor war es den Gajapatis noch einmal gelungen, sich die Unterstützung anderer Fürstenstaaten zu sichern, indem sie mittels „königlicher Briefe" (chämu chithäu) Privilegien im Jagannäth-Tempel vergaben. Unter der Oberherrschaft der Kolonialmacht erfolgte ein weiterer Paradigmenwechsel, der aus den Herrschern Tempel Verwalter mit einem quasi göttlichen Status machte: Der König galt nun als Gottkönig, als „wandelndes Abbild des Gottes Visnu" (calanti Visnu) und wurde zudem als Pwi-räjä bezeichnet, Titel, die die ungewöhnliche Lage der Herrscher zum Ausdruck bringen: Sie haben keinerlei politische Macht mehr, denn die Herrschaft über Land und Volk wurde ihnen genommen. Was sie kennzeichnet, ist eine enge Verbindimg zu Jagannäth, aber sie sind reduziert auf die Idee einer Ordnung, in der der Herrscher der Beschützer des Landes und des Volkes, der Bewahrer des Dharma20 war. Wird hier also noch eine Grenze gezogen, eine Grenze, die wir sonst so bewußt gezogen zu sehen meinen zwischen König und Gott? Oder verschwinden spätestens im 19. Jahrhundert die klaren Linien, wenn man die oben angesprochene Parallelität des Tagesablaufs beider beobachtet? Die innere Struktur dieser Grenzen hat sich offenbar verändert, der Schritt von einer Seite hinüber auf die andere ist leichter geworden, die gesamte Atmosphäre des Hofes erfüllt von der Stimmung des Dienstes für einen Gott. Tempel und Hof, einst ähnlich aber separiert, haben sich neu definiert als explizite Abbilder voneinander, und die Rollen von Herrscher, Minister und Gottheit finden sich vereint im neu gestalteten, viel umfassender gewordenen Bild des Königs. Der geographische Umfang des Reiches schrumpft, aber seine kulturelle Komplexität, seine bildhaften und verbalen Repräsentationen übersteigen in ihrer Intensität und Extravaganz die Vergangenheit erheblich. Quasi-Divinität, wert der Verehrung, in einem Tempel, der zum Palast geworden ist: die neue königliche Identität wird aus solchen Visionen konstruiert. Die tägliche Routine des Königs ist ein göttlicher, ritualisierter Zirkel; er handelt, wird verstanden als ein lebender Gott. Sowohl Divinität als auch Desillusion sind in der öffentlichen Rolle des Königs verwoben: Nicht nur sind Tempel und Tempelgottheit abhängig von Dienst, Unterstützung und Einmischung des Königs, auch ist Letzterer selbst das Zentrum einer Sphäre, die aus sich selbst heraus sakral ist. Man war gewohnt, den Tempel als Abbild des königlichen Hofs zu sehen mit einer Gottheit, die dem Idiom des Königtums genügt; aber das politische Zentrum der Könige hat die königliche Struktur des sakralen Zentrums reassimiliert und danach den Primat ihrer eigenen Form des Göttlichen pro-

20

Der Dharma hält die Welt zusammen und stützt sie, ist das ewige Gesetz, „die Ordnung im Voll-

z u g " . MICHAELS 1 9 9 8 , S . 3 1 ; HACKER 1 9 5 8 , S . 5 1 2 .

194

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klamiert - nicht die erstarrte, unbewegliche Figur, geschnitten aus Holz oder Stein, sondern die menschliche Reinkarnation, die atmet, begehrt und sich bewegt. Und die auffallend allein, einsam ist. Ein anderer Weg zu beschreiben, was passiert ist, wäre zu sprechen vom Kollaps des alten, dualistischen Modells indischen Königtums - Ksatriya (Krieger) und Brahmane (Priester) zusammengeschlossen in einer spannungsvollen Gemeinschaft der Ungleichen, die Autorität des einen teilweise übertragen in die Anerkennung und Bereitschaft des anderen, königliche Gaben zu akzeptieren. Diese Spannungen wurden hinweggespült, mitsamt der traditionellen Kasten-Ideologie, und statt dessen finden wir hier ein einheitliches Königtum, verkörpert in dem einsamen, individualisierten und zentrierteren Herrscher, dessen Autorität sogar gegenüber seinem persönlichen Gott gestärkt wurde. Und dennoch repräsentiert Königtum hier n i c h t den Versuch einer weitreichenden Autonomisierung der politischen Sphäre oder das Bemühen, eine komplett neue, sicherere Basis fur königliche Autorität zu schaffen. Der Gottkönig sieht immer noch auf zu seinem Oberherrn, um die nötige vertikale Ermächtigimg zu erhalten; er fahrt fort, Brahmanen zu unterstützen. Auf andere Weise ist er überschattet und abhängig von seinen Buchhaltern und Steuerbeamten. Er ist, kurz gesagt, eine prächtige Gestalt, geschaffen für eine grandiose Vorstellung, aber erschreckend verletzlich gegenüber Angriffen sowohl externer als auch interner Mächte, einschließlich der Attacken und Intrigen seiner eigenen Untergebenen. Sein Reichtum, obwohl verschwenderisch, ist auch fragil und kann ihm keine wirkliche Sicherheit erkaufen; der König unternimmt keinen ernsthaften Versuch, die inhärenten Zwänge seiner Machtstruktur zu transzendieren, die weitere Sphäre der Politik und des Staates jenseits des Hofes neu zu ordnen; er ist komplett zu Hause in der machtvollen Illusion, die von seinen eigenen Panegyrikern sowohl genährt als auch bewußt unterminiert wird. Ich möchte nun den Fokus der Betrachtung sakraler Strukturen königlicher Herrschaft in Orissa ein wenig verschieben. Neben den zeitweise imperialen Herrschern über Puri gab es auch stets andere Herrscher in Orissa, solche, die über kleinere Gebiete und weniger Ressourcen verfugten, die sogenannten Kleinkönige oder little kings21. Dies waren regionale Herrscher zwischen oder innerhalb von größeren Reichen, und fur Orissa gilt, daß deren Herrschaftsgebiete entweder im Hinterland oder zumindest nicht in dem als rituelles Zentrum definierten Landesteil lagen. Allerdings bringt eine historische Untersuchimg der Sakralität von Kleinkönigen gleich zwei Probleme mit sich. Zum einen ist die Quellenlage noch erheblich schlechter als für das Kerngebiet Orissas und die Gajapatis. Zweitens werden solche regionalen Herrscher gerne in einem Kontext gesehen, der als „tribal" - oder zumindest „tribaler" - bezeichnet wird, im Gegensatz zur als „hinduistisch" kategorisierten Art ritueller Glaubensvorstellungen und Praktiken der Zentralherrscher. Eine solche Perspektive verfuhrt jedoch sehr leicht dazu, in Essenzen zu denken und erstarrte Muster anzunehmen, während die Wirklichkeit dort, wo fließende Übergänge und prozessurale Struktu-

21

Zu diesem Terminus vgl. COHN 1990; DIRKS 1976,1979,1982,1986,1987; BERKEMER 1993.

Sakrale „Umbrüche" am Beispiel von Orissa

195

ren, Dynamik, Flexibilität und Polyvalenz bestimmend waren (und sind), vernachlässigt wird. Aus diesem Grunde soll die folgende Auswahl von Merkmalen einer tribalen und hinduistischen Form der Religion nur im Sinne einer idealtypischen Gegenüberstellung verstanden werden, „die im Wesentlichen die Art und Weise betreffen, auf der die Gottheiten unter den Menschen als gegenwärtig vorgestellt und verehrt werden. Im Hinduismus (als „Volksreligion") werden Gottheiten durch anthropomorphe, in Tempeln behauste Bildnisse (mürtis) repräsentiert. Die Verehrung dieser Gottheiten, die regionale oder gar pan-indische Geltung besitzen, besteht im Idealfall aus 16 Diensten oder Gaben (upacäras), die während der bis zu fünfmal täglich stattfindenden Gottesverehrung (püjä) von brahmanischen Priestern dargeboten werden. Ein Hauptanliegen hinduistischer Religiosität und Kulte besteht darin, die Gottheiten in diesen Bildnissen zu sehen (darsana) und in der püjä zu verehren. Im Gegensatz dazu werden in tribalen Kulten die jeweiligen Götter und Göttinnen in der Form anikonischer und im Freien befindlicher Natursymbole verehrt. Die Dienste für tribale Gottheiten finden im Vergleich zur hinduistischen Orthopraxie seltener und unregelmäßiger statt, mehr dem aktuellen Bedarf der Gläubigen denn einen routinemäßigen Turnus entsprechend. Sie umfassen als höchste Gabe auch Blutopfer. Am intensivsten wird die Gegenwart tribaler Gottheiten aber nicht in ihren Symbolen erfahren, sondern immer dann, wenn sie von Priestern, Anbetern und anderen religiösen Virtuosen Besitz ergreifen. Die Gottheiten sind dann als in lebenden Menschen zugegen vorgestellt, womit anthropomorphe Bildnisse als Träger der Gottheiten gewissermaßen übertroffen werden"22.

Überaus groß ist die Bedeutung von Gottheiten in Orissa, die als Mutter- oder Erdgöttinnen aufgefaßt werden. Zumeist fungieren Steine, Holzpfahle oder Lehmhügel als deren Bildnisse, die allerdings oftmals in anthropomorphisierter Form erscheinen, d. h. mit angemaltem oder aufgeklebtem Gesicht. Vielfach sind diese Gottheiten mit hinduistischen Elementen versehen oder verbunden, angefangen von der möglichen Existenz einer „Behausung" (ζ. B. ein Palmblattdach), die man im weitesten Sinne als Tempel verstehen kann, bis zu einer gewissen Regelmäßigkeit kultischer Dienste, die von (nicht-brahmanischen) Priestern ausgeübt werden. Wesentlich fiir meinen Kontext ist aber vor allem die große Macht der Göttinnen innerhalb ihres - oft recht eng begrenzten - Territoriums, denn sie gelten als maßgeblich verantwortlich u. a. für das Gedeihen der Ernte, generelles Wohlergehen und Fruchtbarkeit. Dies bedeutet aber auch, daß ihr Zorn furchtbare Folgen haben und Mißernten, Krankheit und Unfruchtbarkeit bewirken kann. Diese Ambivalenz, die eifrigen Verehrern Wohlergehen, weniger eifrigen aber Schreckliches verheißt, ist die Ursache dafür, daß diese Gottheiten immens gefurchtet werden23. An dieser Stelle kommen die Kleinkönige wieder ins Spiel. Es ist überaus wahrscheinlich, daß a l l e Kleinkönige in Orissa eine oder mehrere solche Göttinnen pro22

SCHNEPEL 1 9 9 7 , S . 2 0 6 .

23

Ibid., S. 205-208.

196

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tektionierten. Diese Patronage hatte Einfluß auf eine Reihe von Prozessen oder setzte diese in Gang, Prozesse, die die Beziehungen der Herrscher zu den Gottheiten, aber auch die jeweiligen Kulte betrafen. So bestand Patronage in erster Linie in finanzieller Unterstützung, die den Bau von Behausungen, große Feste und regelmäßige Zeremonien ermöglichte. Landstiftungen sorgten ebenso für den Unterhalt „hauptberuflicher" (nicht-brahmanischer) Priester. Oft wuchs mit diesen Veränderungen der Einflußbereich der Gottheiten, sowohl innerhalb ihrer Territorien (rituelle Anerkennung durch alle gesellschaftlichen Gruppierungen) als auch außerhalb. Dieses Mehr an Verehrern hatte nun wieder ein Anwachsen von Gaben zur Folge, so daß der Tempel reicher wurde und wiederum größere Feste gefeiert werden konnten, bei denen dann die Herrscher oft mitwirkten, indem sie rituelle Handlungen ausführten. Parallel entwickelten sich die Göttinnen zu persönlichen Schutzgöttinnen der Kleinkönige, und es wurde ihnen manchmal sogar das Wohl eines Teils des Reiches übertragen. Daß es dann um den Zugang zu einem Tempel oder wegen des Status als Patron mitunter zum Krieg kam (und Ziel eines Feldzugs die Vernichtung eines Bildnisses war), ist naheliegend24. Bevor gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Jagannäth-Kult Einfluß und Popularität der Göttinnen langsam zurückzudrängen begann, kann man deren politische Bedeutung wohl kaum hoch genug einschätzen. Untrennbar verbunden mit den hinduistischen Herrschern ihrer Region waren sie nicht nur deren Wegbereiterinnen für persönliche und militärische Erfolge, sondern auch ein wichtiger Verbindungspunkt zur Bevölkerung. Ein Herrscher, der Gewalt über ein tribales Territorium erlangte, hatte kaum ein besseres Mittel zur Hand als die Patronage einer indigenen Gottheit, um Zugang zu Vertrauen und Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Man kann sogar sagen, daß die Kleinkönige damit eine unmittelbare Verbindung zur Erde und der in ihr verwurzelten Menschen herstellten, und die Beziehung zwischen Herrscher und Göttin (Land) eheähnliche Strukturen aufwies: beide bildeten eine symbiotische Einheit. Auch wenn die Herrscher sich vermutlich in erster Linie vor der großen Wirksamkeit, die den Göttinnen nachgesagt wurde, fürchteten und sich vor allem selbst vor deren Zorn schützen wollten, war der grundlegend rituelle Charakter erstes Kennzeichen aller politischen Autorität hinduistischer Kleinkönige in Orissa25. Kann man nun an dieser Stelle eine Summe ziehen oder vielleicht eine Quersumme bilden aus den beschriebenen Phänomenen und generell etwas sagen in Bezug auf das Verhältnis von Sakralität von Herrschaft in Orissa in vormoderner Zeit? Fassen wir noch einmal zusammen: Wie eng herrschaftliche und sakrale Strukturen miteinander verwoben waren, wie zwischen Herrscher und Gott keine distanzierte, zweckgerichtete Beziehung bestand, sondern ein komplexes Netz mit sozialen und wirtschaftlichen Komponenten sichtbar wurde, das sich über die Jahrhunderte stetig gewandelt und intensiviert hat, das vermittelt die Geschichte der Gajapatis in unübersehbarer Deutlichkeit. Der herrschaftliche Apparat war durchdrungen von Sakralem, komplexe Sakralität erst möglich durch Herrschaft; der König war göttlich, die Gottheit königlich. Nicht nur in Einleitungen zu In24 25

Ibid., S. 208-216. Ibid., S. 224-227.

Sakrale „Umbrüche" am Beispiel von Orissa

197

Schriften wurde ein Bild der Herrscher erzeugt, welches an „Ikonenhaftigkeit" göttlicher Darstellung nahekam oder entsprach. Ein immer mehr menschliche Attribute erhaltender, persönlicher werdender Gott traf einen immer unpersönlicher werdenden Herrscher, der sich in fast allen Darstellungen hinter Schablonen verbarg. Dies gilt ebenso fiir die Kleinkönige und die lokalen Göttinnen, auch wenn deren öffentliche Repräsentationen in den überlieferten Quellen natürlich weitaus weniger prachtvoll, wenn nicht gar fast unsichtbar sind. Jedoch darf man hier etwas ganz Entscheidendes nicht übersehen: Bei aller Bewegung von Herrscher und Gottheit aufeinander zu, bei aller Mimetik, die Hof und Kult, Palast und Tempel kennzeichnet und das Ziehen einer Grenze zwischen beiden mitunter zur Unmöglichkeit werden läßt, bleiben Herrscher und Gottheit doch letztlich unidentisch und unvereinbar. Oder, um es mit einem Begriff aus dem berühmten Buch von KANTOROWICZ auszudrücken, der „natürliche Körper" der Gottheit, seine permanente Verkörperung ist immer eine hölzerne EfFigie, n i c h t der Gajapati-Herrscher26. Es ist nicht die Substanz des Kleinkönigs, von dem Verehrer der Göttinnen besessen werden; Pilger kommen zu Bildnissen in Tempeln, nicht in den Palast - dort sind sie keine Pilger mehr. Auch wenn die zahllosen Versuche, Herrscher und Gottheit einander anzunähern, betörend sind, eine bestimmte Schwelle überschreiten sie nie, beide verhalten sich wie Parallelen, die sich erst - mathematisch, also abstrakt - im Unendlichen treffen. Trotzdem, noch einmal, steht Herrschaft hier stets im Zeichen des Göttlichen. Wichtig ist: Das Verhalten eines mittelalterlichen Herrschers in der Region Orissa war weder primär politisch noch sakral motiviert, weder herrschte er nur, noch „benötigte" er das Heilige, sondern er hatte es immer schon, indem er herrschte. Aus dem Streben nach „mehr" Göttlichkeit, das aber nie seinen Abschluß findet, weil die letzte Hürde nie genommen werden kann, es in letzter Konsequenz immer wieder scheitert, entsteht eine Dynamik, die die sakralen Strukturen in Orissa weiter und weiter modifiziert. In einem Sinne, der auf die Entwicklung der großen indischen Epen oder bestimmter Chroniken27 anspielt, welche dadurch gekennzeichnet sind, daß sie im Laufe der Zeit immer umfangreicher, immer „mehr" wurden, kann man hier vielleicht von einer „quantitativen" - was ich nicht pejorativ meine - Dialektik sprechen, die ohne Antithese auskommt. Es geht weniger darum, in Frage zu stellen und zu überwinden, als durch Hinzufugen oder Erhöhen fortzuschreiten. Das Prinzip ist nicht Transzendenz, sondern Immanenz. Vielleicht aber - und das ist nun wieder sehr „westlich" formuliert - wäre es insgesamt vorsichtiger, zuerst - oder zuletzt, wie hier - Begriffe wie „Herrschaft" und „Sakralität" zu vermeiden oder zu überwinden und eher über „Korrelate ... von datierten Praktiken, von denen jede zu ihrer Zeit selbstverständlich und die Politik als solche zu sein schien"28, zu sprechen. Doch das ist heute nicht selbstverständlich und schon gar nicht die Politik als solche.

26

V g l . KANTOROWICZ 1 9 9 4 , S. 3 1 - 4 6 ; SCHNEPEL 1 9 9 5 , S . 7 1 - 7 7 .

27

Siehe FRESE (im Druck).

28

VEYNE 1 9 9 2 , S. 6 1 .

198

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ADAM JONES

„I am all the same as God." Königliche Körper und Menschenopfer in drei westafrikanischen Staaten (18.-19. Jahrhundert) Den Satz „I am all the same as God" soll ein Herrscher am unteren Niger im Jahre 1841 geäußert haben. Ich habe das Zitat aus dem „Goldenen Zweig" von Sir James Frazer entnommen, fur den die Aussagen und rituellen Handlungen „heidnischer" Völker als Illustrationen für die These dienten, daß die von ihm als „divine kingship" bezeichneten Institutionen auf eine gedankliche Verwechslung zwischen der vermeintlichen Kontrolle über Gedanken und der entsprechenden Kontrolle über die Natur beruhen1. Der König sei der mächtigste der spezialisierten Medizinmänner gewesen, deren magische Funktionen allmählich durch priesterliche bzw. göttliche Pflichte ersetzt würden. So meinte Frazer, den Ursprung des Königtums in der Magie entdeckt zu haben. Quellenkritisch könnte man im vorliegenden Fall hinzufugen, daß es hilfreich gewesen wäre, wenn uns Frazer etwas über den Kontext und den genauen Wortlaut solcher Aussagen mitgeteilt hätte. Was brachte diesen afrikanischen Herrscher auf den Gedanken, so etwas zu sagen? Was bedeutete für ihn der Begriff „God'l Was beinhaltete die Zusammenstellung „the same as [derselbe wie, dasselbe wie?] God'l Und wenn er sich tatsächlich als Gott vorstellte, wie kam er überhaupt dazu, mit einem neugierigen Europäer über seine Rolle zu plaudern? Handelte es sich wirklich um einen „Gott-König" oder lediglich um ein politisches System mit einigen sakralen Attributen? Wir werden es nie wissen; denn über diesen König besitzen wir kaum weitere Informationen. Für Frazer genügte jedenfalls das Zitat. Doch seien wir ihm gegenüber nicht zu hart. Im Gegensatz zu den meisten in diesem Sammelband vertretenen Disziplinen haben wir für Westafrika vor 1900 kaum „interne" Quellen in dem Sinne, daß sie von Afrikanern in einer afrikanischen Sprache geschrieben wurden. Wir müssen uns vielmehr meist darauf beschränken, die in europäischen Quellen beschriebenen Handlungen und Aussagen zu deuten. Zwar könnte man mündliche Überlieferungen hinzuziehen, aber gerade das, was uns hier interessiert, wird normalerweise in Überlieferungen dermaßen überarbeitet, daß das Wesentliche verlorengeht. (Ob ζ. B. bestimmte Könige körperliche Defekte hatten, werden wir gewiß nicht aus Überlieferungen erfahren.) Eventuell kann man ethnographische Erkenntnisse des Sir James FRAZER, The golden bough: a study in magic and religion. Gekürzte Auflage, London: Macmillan 1963, S. 99 (1. Aufl., 2 Bde., 1890). 1

202

Adam Jones

20. Jahrhunderts ergänzend heranziehen, wie Frazer selbst es fleißig getan hat; aber man muß dabei berücksichtigen, daß afrikanische Gesellschaften um 1900 einen entsakralisierenden Bruch erfuhren, und daß die Herrscher, die im Kontext von Indirect Rule und Christianisierung wieder eingesetzt wurden, nur in beschränktem Maße als Fortsetzung der Tradition ihrer Vorgänger zu betrachten sind. Obwohl die Afrika-Historiker unserer Zeit wesentlich mehr als Frazer über die politische Geschichte vorkolonialer afrikanischer Staaten wissen, wurden die „sakralen Könige" von ihnen kaum thematisiert. Zwar hat man in den 1960er Jahren eine Hypothese diskutiert, nach der sich ein „sudanischer" Staatstyp mit sakralen Dimensionen von Ägypten oder Nubien in andere Teile des Kontinents verbreitet hätte2, aber sie wurde längst aufgegeben. Was bleibt denn von Frazers Ideen in bezug auf Afrika übrig? Im Mittelpunkt stand für ihn die Behauptimg, daß bestimmte Könige keinen natürlichen Tod sterben durften, weil die Fruchtbarkeit der Natur - und daher das Wohlergehen des Kosmos bzw. der Nation - in unmittelbarem Zusammenhang mit dem körperlichen Zustand dieser Könige stand. Frazer entwickelte diese Idee am Beispiel der Shilluk im nilotischen Sudan, deren König aus Mitgliedern des königlichen Klans gewählt und dann durch Inthronisationsriten in ein völlig anderes Wesen transformiert wurde - in die Inkarnation des Geistes Nyikang, der zwar keinen Gott darstellte, aber doch ein Medium zwischen Menschen und dem Höchsten Wesen3. Schon 1948 hat der Sozialanthropologe EvansPritchard hingegen argumentiert, daß derartiges Töten meist - vor allem in einer segmentären Gesellschaft - eher soziopolitische Gründe hatte und sowieso niemals verifizierbar sein kann: Vielmehr sei die Behauptung nur als Indiz des Denkens interessant „this is how the kingship was thought about"4. Einige Ethnologen halten jedoch die Existenz einer Institution des sakralen Königsmordes - d. h. die Tötung des Herrschers aus primär rituellen Gründen - zumindest in Einzelfallen fur wahrscheinlich. Seitdem ist ein weiteres Problem in den Vordergrund gerückt, nämlich die Frage, ob man einen „sakralen" Bereich von anderen Bereichen, darunter auch Herrschaft, aussondern kann. Alte Definitionen des Sakralen, wie etwa „Glaube an übernatürliche Kräfte" oder „Vorstellungen und Bräuche, von denen man meint, sie seien um ihrer selbst willen richtig", lassen sich zumindest für Afrika schwer anwenden. Schließlich sind fast alle Kategorien der Sozialwissenschaften - „Religion", „Politik", „Wirtschaft", „Kultur" - problematisch, sobald wir uns mit dem Denken „exotischer" Gesellschaften befassen. Sie entsprechen zwar der funktionalen Differenzierung u n s e r e s Lebens Religion findet man in der Kirche, Politik im Rathaus, Wirtschaft an der Börse, Kultur im Opernhaus aber sie haben meist kein Äquivalent in einer afrikanischen Sprache.

2

Vgl. OLIVER, Roland / John D. FAGE, Kurze Geschichte Afrikas. München: Wilhelm Goldmann 1963, S. 50-53, 106-107. In den letzten Jahren hat Dieik Lange versucht, anhand einiger ausgewählter Aspekte gewisser westafrikanischer Königtümer Verbindungen zum Alten Orient zu belegen. Sein Ansatz wird jedoch von den meisten Afrika-Historikern nicht ernst genommen. 3 FRAZER, Golden bough (wie Anm. 1), S. 266-269,294-295. 4 Ε. E. EVANS-PRITCHARD, The divine kingship of the Shilluk of the Nilotic Sudan. The Frazer Lecture for 1948. Cambridge.

„I am all the same as God."

203

Eine rigide Grenze zwischen sakralen und anderen Formen sozialen Verhaltens ist in Afrika weitgehend unbekannt. Die Geschichte Afrikas kennt Königtümer mit nur 1.000 Untertanen und andere, die mehr als eine Million Untertanen hatten. Manchmal wird derselbe Begriff auch auf verschiedenen Ebenen benutzt: Der König der Asante ζ. B. ist der Asante-hene, aber ein Asante-Dorf steht ebenfalls unter einem o-hene. Entscheidendes Kriterium ist weder die Anzahl der Untertanen noch die Ebene der politischen Autorität, sondern die Frage, ob dieser Mann - nur selten handelt es sich um eine Frau - die Nation in seiner sakralen Person verkörpert. Es gibt also eine „unsterbliche" Institution, in der die Schlüsselsymbole verkörpert sind, durch die sich die jeweilige Gesellschaft definiert. Da diese Symbole die Totalität der sozialen und physischen Umwelt umfassen, sind sie zugleich positiv und negativ: Der König verkörpert nicht nur die Kräfte der Kreativität (Regen, Gewächse), sondern auch jene der Zerstörung und Gefahr (Blitz, Leopard) und ist zugleich die Quelle von Belohnimg und Strafe5. Ich möchte hier anhand der vorhandenen Literatur6 die drei größten Staaten der westafrikanischen Küstenregion im 18. und 19. Jahrhundert - Benin, Dahomey und Asante miteinander vergleichen. Gelegentlich werde ich auch das Yoruba-Königreich Oyo erwähnen, das nördlich von Benin und Dahomey lag. Die drei Staaten hatten viele Gemeinsamkeiten. Sie befanden sich alle im Regenwald bzw. in dem Regenwald-Feuchtsavannenmosaik; die Bevölkerimg bestand vorwiegend aus Bauern und Bäuerinnen, die Brandrodungsanbau (mit Yams als Hauptnahrungsmittel) praktizierten. Territorialität war in solchen relativ dünn bevölkerten Staaten wesentlich weniger bedeutend als die Kontrolle von Menschen bzw. von personalen Netzwerken. Für afrikanische Verhältnisse kannten diese Staaten eine relativ ausgeprägte soziale Differenzierung, mit „big men", Titelträgern oder Lineage-Ältesten an der Spitze der sozialen Hierarchie und Sklav(inn)en an der Basis. Alle drei waren schon Anfang des 18. Jahrhunderts (Benin schon viel eher) am atlantischen Handel und insbesondere am Sklavenhandel beteiligt. In jedem gab es neben dem Ahnenkult ein Pantheon von Göttern und Naturgottheiten, und man kannte eine Interdependenz zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt, mit Opfern als Hauptmittel, um mit letzterer zu kommunizieren. Sie entwickelten eine militaristische Ideologie bzw. eine „Siegestheologie"7. Dennoch werden wir sehen, daß man hier den Begriff „sakrale Herrschaft", wenn überhaupt, nur mit einer jeweils unterschiedlichen Bedeutung anwenden kann. Im Mittelpunkt sollen zwei Aspekte stehen: der Körper des Herrschers und die Opfer, die in seinem Namen durchgeführt wurden.

5

T. O. BEIDELMANN, Kings and kingship, in: John Middleton (Hg.), Encyclopedia of Africa south of the Sahara. 4 Bde., New York: Charles Scribner's Sons 1997, Π: S. 443-150. 6 Ich habe keine eigene Forschung zu diesen Staaten gemacht. 7 Vgl. den Beitrag von Klaus-Peter MATSCHKE über Byzanz in diesem Band.

204

Adam Jones

1. Benin Fangen wir bei dem ältesten noch sichtbaren Königreich Westafrikas an. Als im Jahre 1897 die Briten Benin (im heutigen Nigeria) eroberten, fanden sie eine Dynastie vor, die vermutlich seit dem 14. Jahrhundert regiert hatte. Nach dem Aussterben einer früheren Dynastie waren die Ältesten von Benin laut mündlichen Überlieferungen zur heiligen Stadt der benachbarten Yoruba gegangen, um von dieser Quelle der rituellen Macht einen neuen Herrscher zu bekommen. Dieser soll das Leben in Benin bald unerträglich gefunden haben und kehrte in seine Heimat zurück, ließ aber einen Sohn zurück, der als Gründer der heutigen Dynastie gilt. Das bedeutet erstens, daß der König väterlicherseits ein Fremder war - er stand „über" Benin, aber war nicht „von" Benin; und zweitens, daß er auf dieser Seite göttliche Vorfahren hatte, denn die frühesten Yoruba-Könige waren Götter8. Eine klare Grenze zwischen Schöpfungsmythen und „Geschichte" gibt es hier nicht. Fast wie im Alten Orient handelte es sich um ein Königtum, das „vom Himmel herabkam". Europäische Besucher des 16. und 17. Jahrhunderts stellten fest, daß dieser König kein normaler Herrscher war, obwohl sie mit ihm durchaus Handelstransaktionen und diplomatische Angelegenheiten besprechen konnten. So schrieb ein Portugiese: Die Könige werden von ihren Untertanen angebetet, die glauben, daß sie aus dem Himmel kommen, und von ihnen mit großer Ehrfiircht reden, in einiger Entfernung und auf den Knien.9 Ein Deutscher bemerkte: Der König ist der öbriste Teuffels beschwöhrer under ihnen; sie halten ihne nahet für einen Gott, dann er ist sehr grosser authoritet bey jedermann, also daß, wann sie einander fluchen, so fluchen sie bei dem König.10 Und ein Franzose schrieb: Der König ist der Gott seines Volkes, das ihn verehrt, sich vor ihm niederwirft und alle sieben Jahre die Kinder in seinem Namen tauft.n Der König sorgte für das Wohl der Nation nicht nur - wie Frazer impliziert - durch Pflege der eigenen körperlichen Kraft (ζ. B. durch Einreibung stärkender Medizin), sondern auch durch Kommunikation mit den eigenen Vorfahren und jenen der Nation. Neben seinen persönlichen Schreinen (z. B. fur die eigene Hand oder den Gewässergott Olokun) betreute er die individuellen Schreine seiner Vorgänger. Man hat seine Rolle mit jener des Oberhauptes einer Staatskirche verglichen, denn er verbrachte wesentlich mehr Zeit bei der Durchführung von Riten als bei den säkularen Aufgaben eines Herrschers, und er mußte auch ständig über alle lokale Riten informiert werden, die in sei8

R. E. BRADBURY, Benin studies, Hg. Peter Morton-Williams. London: Oxford University Press 1973, S. 44-45. 9 Anonymer Pilot (Anfang 16. Jh.), übersetzt in: J. W. BLAKE, Europeans in West Africa 1450-1560. 2 Bde., London: Hakluyt Society 1942,1: S. 150-151. 10 Andreas Josua Ulsheimer (1616) in Adam JONES, German Sources for West African History 15991669. Wiesbaden: Franz Steiner 1983, S. 354. 11 Zitiert in loc. cit., S. 39 Anm. 98.

, J am all the same as God."

205

nem Königreich stattfanden12. Fast immer standen Opfer im Mittelpunkt. Zweimal im Jahr wurden die sakralen Attribute des Königs in aller Öffentlichkeit dramatisiert: 1) Opfer für den „Kopf des Königs: Der Kopf galt als Quelle von allem guten wie bösen Glück. 2) Opfer für die Regalien des Königs und anderer Häuptlinge. In beiden Fällen trugen neben dem König auch andere Personen in der Staatshierarchie zum Erfolg der Rituale bei und zogen daraus ebenfalls mystische Kraft; d. h. der König konnte seine rituellen und mystischen Aufgaben nur mit aktiver Beteiligung verschiedener Kategorien von Häuptlingen erfüllen. So spiegelte sich das komplexe politische System von „ checks and balances " im rituellen Bereich wider13. Die Primogenitur wurde in Benin - fast einmalig in Afrika - zu einem relativ frühen Zeitpunkt eingeführt. Dennoch erfolgte auf den Tod des Königs oft ein erbitterter Kampf zwischen zwei Söhnen, von denen jeder behauptete, der Älteste zu sein. Aber die Macht des Königs basierte nicht nur auf Deszendenz, sondern auch auf dem Besitz der königlichen Korallenperlen, denn alles, was von jemandem gesagt wurde, der diese Perlen trug, erfüllte sich: Schon der Besitz einer einzigen dieser Perlen genügte, um einen Fluch zu äußern, der nicht wieder aufgehoben werden konnte14.

2. Dahomey Das 400 km weiter westlich gelegene Königtum Dahomey entstand vermutlich im späten 17. Jahrhundert, erscheint aber erst Anfang des 18. Jahrhunderts in den Schriftquellen, als Dahomey direkten Zugang zu den europäischen Sklavenhändlern an der Küste des heutigen Benin (nicht zu verwechseln mit Benin!) erkämpfte. Die Dynastie war aus einem Nachbargebiet gekommen und hatte sich mit Gewalt an die Spitze des neuen Staates gebracht. Hier haben wir also kein vom Himmel herabgekommenes Königtum, sondern - wie es Rüdiger Lux in diesem Band für das Alte Israel formuliert - ein historisch gewachsenes. Vor dem Aufstieg Dahomeys hatte die politische Macht in dieser Region vermutlich in den Händen der Priester der zahlreichen Kulte gelegen, und zu Anfang war die Macht des Königs durch einen Rat eingeschränkt, in dem die wichtigsten Lineages und Berufsgruppen vertreten waren15. Im 18. Jahrhundert gelang es jedoch den Königen, mit Hilfe jährlicher Raubzüge und des atlantischen Handels eine Zentralisierung durchzuführen, die in Westafrika keine Parallele hatte. War der König von Dahomey, wie es in einem 1964 erschienenen Buch heißt, ein Gott16? In der Tat finden wir Attribute, die mit sakralen Herrschern verbunden werden: 12

BRADBURY, Benin studies (wie Anm. 8), S. 74, 82-83 BRADBURY, Benin studies, S . 1 4 3 - 1 4 4 ; Paula Girshick BEN-AMOS, The art of Benin. London: British Museum Press 2 1 9 9 5 , 1 0 3 - 1 0 8 . 14 BEN-AMOS, Art of Benin (wie Anm. 13), S. 95-96. 15 Vgl. Edna BAY, Wives of the leopard. Gender, politics, and culture in the kingdom of Dahomey. Charlottesville: University of Virginia Press 1998. 16 Monserrat PALAU MARTI, Le Roi-dieu au Benin. Paris: Berger-Levrault 1964. 13

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Adam Jones

Der König wurde ζ. Β. bei seiner Inthronisierung durch einen Priester des Leopardenkultes mit heiligem Wasser aus dem eroberten Staat Allada gesalbt; er speiste nicht öffentlich; und bei einer Audienz warf man sich vor ihm nieder und behäufte sich mit Staub17 - eine Sitte, die von islamischen Reformern in anderen Teilen Westafrikas kritisiert wurde, weil sie religiöse Verehrung implizierte18. Es wäre jedoch im Falle Dahomeys nicht angebracht, von einer „Staatskirche" wie in Benin zu sprechen. Es durfte zwar kein neuer Schrein ohne Zustimmung des Königs errichtet werden; in neu eroberten Provinzen versuchte man, für die königlichen Kulte eine dominante Stellung zu sichern, in denen der Leopard eine fuhrende Rolle spielte. Aber die große Heterodoxie von Vodun-Kulten wurde geduldet. Manche waren nur in einem Teil des Königreichs bekannt, manche waren neu. Es gibt sogar die Überlieferung, daß eine Ehefrau des Königs, Witwe eines europäischen Sklavenhändlers, eine Form des katholischen Christentums innerhalb seines Palastes praktizierte. Trotz der Tatsache, daß die Legitimität des Staates durchaus anfechtbar war - schließlich handelte es sich mehr oder weniger um Banditen, die sich zu Königen gemacht hatten - , hatte es der König nicht nötig, das religiöse Denken seiner Untertanen stark zu beeinflussen19. Im Gegensatz zu Benin gab es hier keinen Thronprinzen, sondern die Nachfolge immer aus der königlichen Patrilineage - wurde in den Wochen nach dem Tod des Königs, meist durch eine Kraftprobe verschiedener Parteien, geregelt.

3.

Asante

Auch das Königreich Asante im Süden der heutigen Republik Ghana entstand im späten 17. Jahrhundert, in diesem Fall offenbar in Zusammenhang mit der Erschließung des Regenwaldes für die Produktion von Gold, vor allem für den Export. Die Entstehung dieses Königreichs als Föderation vorhandener Staaten wird auf zwei Personen zurückgeführt: auf den Priester Komfo Anokye, der den Goldenen Stuhl aus dem Himmel herunterholte und ewige Gesetze der Asante-Nation verkündete, und auf Osei Tutu, auf dessen Knien dieser Stuhl landete und der zur Zeit der ersten europäischen Berichte um 1700 schon König war. Es folgte eine dramatische militärische Expansion, die gewissermaßen durch den Verkauf von Gold und Sklaven an die Europäer mitfinanziert wurde. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte dieser Staat eine Bürokratie, in der - im Gegensatz zu den meisten afrikanischen Staatsapparaten - Verwandtschaft kaum eine Rolle spielte20. 17

BAY, Wives of the leopard (wie Anm. 15), S. 80. Robin LAW, persönliche Mitteilung. 19 Vgl. Edna BAY, Divine dynasty: J. G. Frazer, sacrifice, and the kingdom of Dahomey. Unveröffentlichter Tagungsbeitrag, African Studies Association annual meeting, November 1999. 20 Ivor WILKS, Asante in the Nineteenth Century: the structure and evolution of a political order. Cambridge: Cambridge University Press 21989. 18

, J am all the same as God."

207

Der Goldene Stuhl, auf dem keiner sitzen durfte, enthielt die Seele der Nation und blieb wichtiger als die Einzelpersonen, die das Amt des Königs innehatten. Die 13 Könige, die im 18. und 19. Jahrhundert herrschten, hatten keine Verfugungsrechte über diesen Stuhl, sondern waren lediglich seine Hüter. In der externen Selbstdarstellung des Staates war der König seine Verkörperung, und manche Beobachter sprachen von einem Despotismus. Der König konnte jedoch durchaus im Rat bzw. Gericht der Hauptstadt Kumase überstimmt werden21. Das Idealbild des Asantehene als „Vorsitzender" dieses Rates konnte bestenfalls in den ersten Jahren einer Herrschaftszeit realisiert werden; denn fast immer verlor er die Unterstützung der Mehrheit jener, die ihn gewählt hatten, und dann mußte er auf Terror zurückgreifen22. Der König bezog seine Macht von den Ahnen, indem er regelmäßigen Kontakt zu den mit Menschenblut „geschwärzten" Stühlen seiner Vorgänger pflegte; und falls er abgesetzt wurde, verlor er eben diesen Kontakt. Um ihre geistige Macht zu behalten, mußten diese schwarzen Stühle jährlich mit neuem Blut gesalbt werden.

4. Königliche Körper Der Körper des Königs steht meist im Mittelpunkt der klassischen Texte über die sakrale Herrschaft. Zum einen verweist man auf körperliche Tabus, die mit der Verkörperung der Fruchtbarkeit zusammenhingen. So sollte ζ. B. der König von Benin keine physischen Bedürfnisse gekannt haben: Er aß und trank nicht, schlief nicht, wusch sich nicht und starb nicht. Wer ohne Euphemismen über so etwas sprach, wurde getötet. Eine ähnliche „Unsichtbarkeit" finden wir bei dem benachbarten Yoruba-Königreich Oyo, dessen Herrscher nur dreimal jährlich in der Öffentlichkeit erschien und auch dann eine „Perlenkrone" trug, die sein Gesicht verdeckte, da es „zu strahlend" für Menschenaugen sei23. In Dahomey wurde 1772 von einer Frau berichtet, die eine ähnliche Tracht - allerdings mit Lederriemen statt Perlenschnüre - trug, weil sie „zu sakral" sei, um gesehen zu werden: Es ist denkbar, daß ihr der König seine eigene rituelle Seklusion „übertragen" hatte, weil diese ihm zu lästig war24. Das königliche Trinken war auch in Dahomey und Asante ritualisiert, aber verheimlicht wurde es nicht. Der König von Dahomey trank zwar in Gegenwart seiner Palastmitbewohner, aber jeder mußte wegschauen, genau wie jeder in der Stadt wegschaute, wenn des Königs Ehefrauen vorbeigingen 5. Für den König von Asante hingegen war das öffentliche Trinken von Palmwein ein wichtiges Ritual, das nicht nur sicht21

T. C. MCCASKIE, State and society in pre-colonial Asante. Cambridge: Cambridge University Press 1995, S. 177,229-230.

22

23

WILKS, A s a n t e ( w i e A n m . 2 0 ) , S. 546.

Robin LAW, The Oyo Empire c. 1600-c. 1836. Oxford: Clarendon Press 1977. Vgl. John PEMBERTON ΠΙ / Funso S. AFOLAYAN, Yoruba sacred kingship: Ά power like that of the gods'. Washington D.C.: Smithsonian Institution Press 1996. 24 BAY, Wives of the leopard (wie Anm. 15), S. 112. 25 BAY, Divine dynasty (wie Anm. 19).

208

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bar war, sondern durch das Schießen von sieben Pfeilen den Nicht-Anwesenden bekanntgemacht wurde26. Möglicherweise kann man von einem allgemeinen Tabu in bezug auf Berührung der Erde durch den Herrscher sprechen, wie wir es aus anderen Teilen der Welt kennen. Es gab Anlässe in Asante und Dahomey, bei denen nur der König Sandalen trug; und wenn der Asante-König irgendwo hinging, trug ein Diener immer ein zweites Paar in der Hand, um die katastrophalen Folgen zu verhindern, die entstehen könnten, wenn das Lederband zerbrach27. Aber das Tabu in bezug auf Berührung der Erde galt nicht nur fur das Königtum, sondern auch für den Goldenen Stuhl oder für ein Mädchen während ihrer Pubertätsriten28. Damit habe ich nur den einen Aspekt des königlichen Körpers behandelt. Frazer hat nämlich darauf hingewiesen, daß in vielen Gesellschaften die politische Macht bei jenen Personen liege, die die Natur - und insbesondere den Regen - beherrschen können, und daß solche Herrscher später verschwinden müssen, wenn sie nicht mehr dieselbe Kraft haben oder wenn ungenügender Regenfall bzw. ein nationales Unglück diese Vermutung nahelegt - der sogenannte „sakrale Königsmord"29. Ob es so etwas in anderen Teilen Afrikas gegeben hat, ist, wie bereits erwähnt, umstritten30. Jedenfalls in den von mir behandelten Fällen gab es keine Parallele dazu; vielleicht hängt dieser Tatbestand damit zusammen, daß der Regen selten ausbleibt. Es gab zwar ein Königreich dieser Region, in dem mehrere Könige rituell ermordet wurden: Im Yoruba-Staat Oyo erhielten allein zwischen 1754 und 1774 vier Herrscher hintereinander von dem Nationalrat ein Geschenk von Papageieneiern und wurden damit aufgefordert, sich durch ihre Ehefrauen erdrosseln zu lassen. Aber während Frazer hier einen typischen Fall vom sakralen Königsmord sah, wissen wir heute, daß es sich um keine alte Institution handelte; daß kein Zusammenhang mit dem Verlust der Virilität bestand; und daß der König nicht als „Gott", sondern als akeji orisa, „second to God", betrachtet wurde31.

5. Menschenopfer Obwohl der sakrale Königsmord als eine Art „Selbstopferung" betrachtet werden kann, spielen Opfer ansonsten meist nur eine periphere Rolle bei der Definition dessen, was eine sakrale Herrschaft ausmachte. Meines Erachtens dürfen sie jedoch nicht außer acht 26

M. D. MCLEOD, The Asante. London: British Museum Publications 1981, S. 54.

27

MCLEOD, Asante (wie Anm. 26), S. 84.

28

Vgl. Peter SARPONG, Girls' nubility rites in Ashanti. Accra: Sedco 1977. FRAZER, Golden bough (wie Anm. 1), S. 264-283. 30 Vgl. Michael W. YOUNG, The divine kingship of the Jukun: A re-evaluation of some theories, in: Africa 36/1 (1966), S. 135-152; Gillian FEELEY-HARNIK, Issues in divine kingship, in: Annual Review of Anthropology 14 (1985), S. 273-313; James H. VAUGHAN, A reconsideration of divine kingship, in: Ivan Karp / Charles S. Bird (Hg.), Explorations in African systems of thought. Washington D.C.: Smithsonian Institution Press 1980, S. 120-142. 31 Robin LAW, persönliche Mitteilung. 29

J am all the same as God."

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gelassen werden; denn, wenn der Herrscher eine besondere Beziehung zum Jenseits hatte, so mußte diese Beziehung durch wiederholte Opferung erhalten bleiben und konnte nicht einfach irgendeinem Priester überlassen werden. In allen drei Staaten bildeten Menschenopfer unter anderem einen unverzichtbaren Teil der jährlichen Riten zum Gedenken an die verstorbenen Könige32. In Benin handelte es sich, wie gesagt, um zwei Tage im Jahr; in Dahomey dauerten die „Customs" drei Monate, da sie neben ihrer Hauptfunktion - Verstärkung der geistigen Kraft des Staates durch Opfer - auch als Gelegenheit für Rechtsentscheidungen, Gesetzgebung und Redistribution von Reichtümern dienten33. In Asante gab es sowohl ein monatliches Fest (alle 42 Tage) als auch ein besonderes jährliches Fest (alle neun Monate)34. Allgemein kann man von einer „sakralen Zeit" sprechen, in der die normalen Grenzen zwischen Dies- und Jenseits sowie zwischen Vergangenheit und Gegenwart gewissermaßen aufgehoben wurden. Menschenopfer werden in Westafrika schon in Quellen aus dem 10. Jahrhundert dokumentiert, aber es gibt Indizien fur eine Zunahme in der Anzahl der Opfer in der Region zwischen Asante und Benin im 18. und 19. Jahrhundert; und diese hing vermutlich mit der politischen Zentralisierung und einer entsprechenden Entwicklung des königlichen Ahnenkultes zusammen. Die häufigste Form war jene, die Jörg Fisch als „Totenfolge" bezeichnet hat: d. h. nach dem Tod einer bedeutenden Person wurden andere getötet, um sie entweder als Geschenke bzw. Boten oder als Diener ins Jenseits zu schicken35. Auch wenn die vorgesehenen „Empfänger" keine Gottheiten waren, kann man hier von Opfern sprechen, denn man erhoffte eine Intervention des Verstorbenen und hatte insofern ein religiöses Ziel. Es gibt Wissenschaftler, die in diesem Zusammenhang lediglich von der „Hinrichtung von Verbrechern" sprechen36. Der König von Dahomey bevorzugte selbst diesen Begriff, nachdem er Mitte des 19. Jahrhunderts unter Druck von Europäern geraten war und gelernt hatte, eine Formulierung zu wählen, die im Einklang mit Vorstellungen der Aufklärung verstanden werden konnte. Eine Untersuchung einzelner Fälle macht jedoch deutlich, daß die Idee von Opferung im Vordergrund stand und in einer Krise auch Menschen geopfert wurden, die im Mittelpunkt des politischen Handelns standen - ζ. B. die Mutter des Königs von Dahomey, die der König 1894 selbst opferte, als französische Truppen heranrückten und ein solches Opfer das einzige Mittel zu sein schien, den verstorbenen Vater zur Intervention zu bewegen37.

32

Vgl. Robin LAW, Human sacrifice in pre-colonial West Africa, in: African Affairs 84 (1985), S. 53-

88. 33 Catherine COQUERY-VIDROVITCH, La Fete des coutumes au Dahomey: historique et essai d'interpretation, in: Annales: E.S.C. 19 (1964), S. 696-716. 34 MCCASKIE, State and society (wie Anm. 21); DERS., Time and the calendar in nineteenth-century Asante: an exploratory essay, in: History in Africa 7 (1980), S. 179-200. 35 Jörg FISCH, Tödliche Rituale: die indische Witwenverbrennung und andere Formen der Totenfolge. Frankfurt a. M.: Campus 1998. 36 Vgl. Ivor WILKS, Forests of Gold. Essays on the Akan and the kingdom of Asante. Athens: Ohio University Press 1993, S. 215-240. 37 BAY, Divine dynasty (wie Anm. 19).

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Damit stellt sich die Frage, an wen geopfert wurde. In allen drei Fällen richtete man Opfer an verstorbene Mitglieder der königlichen Lineage: im Falle Dahomeys ζ. B., erstens an die „monströsen" Geister mißgestalteter Kinder dieser Lineage, die bei der Geburt getötet wurden und damit Gottheiten - aber natürlich nicht Ahnen - wurden, und zweitens an jene verstorbenen Lineage-Mitglieder, die während der jährlichen Feierlichkeiten ihre Nachkommen besessen machten. Insofern könnte man sagen, daß die Könige zwar einen Teil ihrer Kraft aus dem Jenseits nahmen, aber zugleich Menschen blieben; andererseits gehörten sie einer göttlichen Dynastie an und kehrten zu dieser nach ihrem Tod zurück38. Hier darf man nicht vergessen, daß Menschenopfer zwar eine religiöse Handlung darstellten, andererseits aber politische Konnotationen hatten: zum einen, weil sie eine implizite Drohimg an Nachbarn und Feinde des Königtums darstellten, zum anderen, weil in einer Gesellschaft, in der Reichtum an der Anzahl der Abhängigen gemessen wurde, die Opferung vieler Menschen ein prestigehaftes Signal war. Menschenopfer trugen auch dazu bei, die Position des Königs als einzigen „Geber und Nehmer" menschlichen Lebens hervorzuheben.

6. Wieviel Macht? Wenn solche Könige vor allem wegen ihrer Beziehimg zum Jenseits gefürchtet waren, kann man dann auch sagen, daß sie viel persönliche Macht hatten? Hier sehe ich einen gewissen Unterschied zu den in anderen Beiträgen dieses Sammelbandes beschriebenen Fällen. Rituelle Tätigkeiten und Theatralik waren zwar fur die Ausübung der Macht unerläßlich, aber sie konnten auch dazu fuhren, daß der König durch die vielen Tabus, denen er unterlag, gezwungen war, politische Entscheidungen anderen Personen zu überlassen. In West-Zentralafrika gab es Könige, die im 19. Jahrhundert „in die politische Impotenz hineinritualisiert" wurden39; dasselbe gilt vielleicht für den König von Oyo, der sich bei politischen Entscheidungen im 18. Jahrhundert den Vertretern der führenden Lineages mit ihrer Elite-Reitertruppe beugen mußte40. Auch der König von Benin erschien den Briten, die sein Königreich im Jahre 1897 eroberten, im Grunde als jemand, der nicht zur Rechenschaft für die Handlungen seines Staates gezogen werden konnte41. Je mehr Heiligkeit, desto weniger Herrschaft also? Aber vielleicht habe ich den Begriff „sakrale Herrschaft" sowieso zu eng verstanden. Kurz nachdem der am Anfang erwähnte Herrscher am unteren Niger einem Reisenden erklärt hatte, er sei all the same as God, kamen die ersten deutschen Missionare ins Gebiet zwischen Asante und Dahomey. Einer von ihnen erhielt einen Besuch von jemandem, den er als „Fetischpriester" bezeichnete, und der ihm mitteilte: „Gott und ich 38

Loc. cit. Jan VANSINA, Equatorial Africa before the nineteenth century, in: Philip Curtin et al., African history. London 2 1995,213-240, S. 235. 40 Robin LAW, Oyo Empire (wie Anm. 23). 41 BRADBURY, Benin studies (wie Anm. 8), S. 85. 39

„I am all the same as God."

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sind eins; er sagt mir alles"42 - er wollte sich vielleicht als Kollege vorstellen. D. h. nicht nur die berühmten Könige von Asante, Dahomey und Benin beanspruchten eine sakrale Identität: Auch ein bescheidener Priester in einem dezentral organisierten Mikrostaat erhob im Grunde den gleichen Anspruch. Sozialanthropologische Studien des 20. Jahrhunderts haben bewiesen, daß in den „staatenlosen" Gesellschaften nördlich von Asante der Älteste einer Verwandtschaftsgruppe soziopolitische Macht besaß, die letztendlich durch seine Beziehung zum Jenseits begründet war. Bei den Tallensi etwa wurde die väterliche Autorität nicht nur wirtschaftlich untermauert, sondern auch religiös, denn kein Mann, dessen Vater noch lebte, konnte sich den Ahnen mit einem Anliegen nähern. Wurde also ein Lohnarbeiter krank, so mußte er in sein Heimatdorf zurückkehren und den Vater bzw. Vatersbruder bitten, fur ihn die nötigen Opfer zu verrichten43. Mit Ahnen läßt sich nämlich nicht streiten: Sie haben immer recht. Auch ohne Staat gab es also durchaus Personen, die wegen ihrer Nähe zu den Ahnen politische Macht hatten. Insofern waren die sogenannten Herrscher von Asante, Dahomey und Benin nur die auffalligsten Beispiele einer fast universalen Situation, in der die Unterscheidung zwischen Heiligkeit und Herrschaft genauso untauglich ist wie jene zwischen Religion und Politik.44.

7. Schluß Wenn wir einzelne Züge - Opfer, Verheimlichung des Essens und des Schlafs, Verkleidung des Gesichts - hervorheben und alle Herrscher mit diesen Attributen „sakral" nennen, laufen wir Gefahr, den jeweiligen soziopolitischen Kontext zu übersehen. Möglicherweise sollte man ζ. B. eine Unterscheidung machen zwischen „rezenten" Staaten wie Asante oder Dahomey, um 1700 entstanden, die eine Theorie der politischen Macht hatten und daher nach dem Tod eines Herrschers eine Periode ritualisierter Anarchie kannten, und „alten" Staaten wie Benin oder Oyo, welche die Weltschöpfung und die Schaffung der politischen Macht miteinander verbanden und daher keine solche Anarchie praktizierten. Hätte ich die Kavalleriestaaten von Westafrika mit einbezogen, wäre es noch schwieriger gewesen, derartige Verallgemeinerungen zu machen. Daß alle afrikanischen Herrscher ein besonderes Verhältnis zum Jenseits hatten, liegt außer Frage; aber dieses Verhältnis war jeweils unterschiedlicher Art und konnte sich auch im Laufe der Zeit ändern. In keinem der hier skizzierten Fälle wurde der König vollends als Inkarnation eines Gottes betrachtet (außer von Außenstehenden), noch hatte dessen Gesundheit 42

Monatsblatt der Norddeutschen Mission 1848, S. 64, zitiert in: Birgit MEYER, Translating the Devil: religion and modernity among the Ewe in Ghana. Edinburgh: Edinburgh University Press, for the International African Institute 1999, S. 54. 43 Meyer FORTES, Odipus und Hiob in westafrikanischen Religionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966 [engl. Original 1959], S. 63. 44 Vgl. Wyatt MACGAFFEY, Kingship in sub-Saharan Africa, in: Mircea Eliade (Hg.), Encyclopedia of Religion. New York: Free Press 1987, Bd. 8: S. 322-325.

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notwendigerweise Folgen fur die Fruchtbarkeit des Landes bzw. seiner Einwohner. Wenn ein Herrscher also behauptete, er sei all the same as God, so heißt es noch lange nicht, daß er alle Voraussetzungen erfüllte, die Frazer und andere mit dem Begriff „sakraler König" verbunden haben. Fast der einzige Afrikaforscher, der sich in den letzten 40 Jahren Gedanken über die künftige Erforschung des sakralen Königtums gemacht hat, war Bradbury, der in einem Aufsatz von 1967 über Benin auf die Notwendigkeit hinwies, die Interpenetration politischer und mystischer Aspekte des Königtums zu analysieren: „Wir müßten überlegen, wie - in bezug auf Organisation wie auch auf Ideologie - das sakrale Königtum seine vereinigenden Funktionen erfiillte; ζ. B., wie die Verehrung ehemaliger Könige auf kontrapunktuale Weise und auf allen Ebenen des Sozialsystems mit der Verehrung verschiedener Kategorien von Toten verwoben war [...] Wir müßten die Rolle des Königtums in den [vorhandenen] Begriffen in bezug auf die Interaktion der natürlichen mit der sozialen Welt erforschen und zeigen, wie lokale Kulte von Naturgottheiten in das Staatspantheon integriert wurden [...] Man müßte demonstrieren, wie gegenseitige rituelle Verpflichtungen, durch die allgemeine Weltanschauung sanktioniert, dazu beitrugen, störenden Tendenzen bei der Verfolgung politischer Interessen entgegenzuwirken; denn jede politische Rolle implizierte rituelle Rollen [...]"45.

Zwei Jahre später starb Bradbury im Alter von 40 Jahren. Eine Beantwortung der von ihm aufgeworfenen Fragen - auch in bezug auf Asante und Dahomey - bleibt noch aus.

45

BRADBURY, Benin studies (wie Anm. 8), S. 74-75, meine Übersetzung.

JOACHIM-FELIX LEONHARD

Staatsgewalt in Staatsgestalt Massenmedien und Herrschaft im 20. Jahrhundert

Als Joseph Goebbels am 11. März 1945, also gerade einmal sieben Wochen vor dem endgültigen Zusammenbruch und der Kapitulation von Karlshorst, nach Görlitz kam, war ihm nicht nur der Zweck seiner Reise bewußt: Nein, er wußte wohl, was er, vor allem wen er vor sich hatte. Der Propagandaminister, nicht etwa der Führer des NSStaates, war in die Stadt an der Neiße gefahren, um vor Soldaten der Ostfront zu sprechen und damit zu Soldaten, die in den vergangenen Zeiten zunächst das Vorrücken nach Osten und dann das Rückdrängen der Ostfront nach Westen erfahren hatten. Was also sollte der sagen, der die Massen stets demagogisch aufgeheizt hatte, gleich, ob dies im Berliner Sportpalast geschah, gleich, ob die Tiraden in den Wohnzimmern zwischen Flensburg und Konstanz über den Volksempfänger zu hören waren? Oft genug hatte der Propagandaminister Inszenierung von Sprache und Rhetorik praktiziert und die forensische Rede, wie in ein Gefäß, die ideologischen Inhalte des Terrorstaates gegossen. Und stets hatten später die Menschen - als Hörer an den Rundfunkgeräten - eher noch die Stimme im Ohr, wenn sie den Inhalt längst vergessen hatten. Im März 1945 jedoch verband Goebbels in teuflischer Weise Inhalt und Form miteinander durch Inszenierung, Gestaltung und Vorstellung von Herrschaft, Ideologie und Terror. An diesem Tage weckte er, obwohl den Zuhörern von der Ostfront eigentlich die Aussichtslosigkeit bewußt war, sakrale Stimmung, lenkte er, nicht zum ersten, aber bald zum letzten Male, ab von Ratio und Realität und setzte rhetorisch-demagogisch einzig auf den emotional-sakralen Appell: „Die Divisionen", so schreit er in die Mikrophone, „werden in diesen Kampf hineingehen wie in einen Gottesdienst". Der feste Glaube an den Sieg, der Schrei nach Rache wegen der „erschlagenen Kinder und geschändeten Frauen", die Erinnerung an Friedrich den Großen, der Appell an die Affekte, ja an das Irrationale, ,ja, der Feind sei zu schlagen, der Übermacht seines Materials sei die Übermacht unserer Moral entgegenzusetzen" und dann gegen Schluß der Rede: „Der Führer werde auch diese Krise bewältigen"1. 1

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Standort Frankfurt am Main, Archivnummer 2743212. Zum Deutschen Rundfunkarchiv und seinen Beständen vgl. Joachim-Felix LEONHARD (Hg.), Deutsches Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg. Der Neubau des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg für die Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main 2000; DERS., Dokumente des Rundfunks -

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Gottesdienst, Glaube, Moral, Führer - der Propagandaminister adressierte in seiner Rede einzelne Phänomene von Kult, Charisma und Herrschaft, inszenierte Sakralität von Ideologie und Terror. Und da die Rede und ihre Gedanken fur Wochenschau und Rundfunkübertragungen waren, bot er gleichsam audio-visuell in eben der Weise die Choreographie von Herrschaft auf, wie sie allen Diktaturen der Neuzeit im Sinne von Sakralität und Herrschaft in audio-visueller Vermittlung von Ideologie eigen war und ist. Goebbels ist gewiß keine Ausnahme, wenngleich seine demagogische Rhetorik die Zeitgenossen schon deshalb in besonderer Weise angesprochen hat, weil er früh die Wirkung von kultischer Inszenierung von Inhalten bei Parteitagen, Aufmärschen, Fackelzügen, die Prozessionen liturgisch ähneln, opernhafter Dramaturgie folgen sollten, ebenso erkannt hatte, wie er die Kommunikation von Inhalten über die sog. neuen Medien des 20. Jahrhunderts, also über Film, Funk und Fernsehen initiierte - und, wo vorhanden, kanalisierte und verstärkte. Dabei kam es weniger darauf an, was Goebbels, Hitler und andere sprachen, sondern wie sie wirkten: in der Intonation der Stimme am Radiogerät, in der Mimik und Gestik vor Ort - und in der Wochenschau. Niemand hat dies besser analysiert als Charles Chaplin in seiner Persiflage des „Großen Diktators", in der großen Gesten stets unverständliches Wortgestammel unterlegt wird. Sie waren darin nicht unähnlich Mussolini und seinen theatralischen Auftritten, Stalin, Chrustschow, Breshnew und ihren jeweiligen Inszenierungen am 1. Mai oder 17. Oktober auf dem Roten Platz in Moskau, nicht unähnlich Ceaucescu in Bukarest; und auch die eher spröde SED-Diktatur übte Staats-gewalt durch Staats-gestalt, indem sie Öffentlichkeit mit Paraden und anderen Effekten organisierte. Sozialgeschichte und politische Geschichte, nicht nur der Diktaturen des 20. Jahrhunderts, sind, so gesehen, vehement eine Geschichte der Mediatisierung und Medialisierung von Gesellschaften, initiiert durch immer direkter wirkende Kommunikationsformen und Kulturtechniken, die mit dem Eintritt in das digitale Zeitalter neuerlich eine qualitative Veränderung und einen Sprung erlebt, doch in welche Richtung? Wenn das 20. Jahrhundert als eine Zeit der Ausbildung von Massengesellschaften im universell-globalen Verständnis zu bezeichnen ist (in dem sich zugleich auch der Wandel von physischer Industrialisierung und Transport durch Automatisierung zunehmend zu Dienstleistungen und Kommunikation vollzieht), dann haben daran sicher die Medien einen gehörigen Anteil: Das macht das Verhältnis von Sender und Empfanger, Produzent und Rezipient deutlich. Und doch hat sich die zeithistorische Forschung der Annahme, daß Zeitgeschichte eben auch und intensiv als Kommunikations- und Kulturgeschichte des audiovisuellen Medienverhaltens zu betrachten ist, weitgehend verweigert: Sieht man von wenigen Ausnahmen ab, gilt letztendlich nach wie vor Hans Rothfels' Diktum und Präferenz des Prinzips der Schriftlichkeit von Quellenüberlieferung „veritas in actis", aber: Darf eine solch' überkommene Sichtweise weiter wie bisher gelten, die sich im Fehlen von audiovisuellen Quellenkunden und methodologischen Grundüberlegungen von Hilfswissenschaften der Moderne ebenso dokumentiert wie im Fehlen von Lemmata wie „Rundfunk", „Radio", „Fernsehen" in einschlägigen Handbüchern, als ob diese InhaltsverZeichen der Zeit, in: Buchhandelsgeschichte 1995/4, hg. von der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, S. 155-164.

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mittler nicht existierten? Kann man, um ein Beispiel zu nennen, etwa der Aufarbeitung der u. a. durch Kulte und Jugendweihen auch sakral bestimmten Herrschaftsform der SED-Diktatur näherkommen, indem man sich - „veritas in actis" - durch Kilometer von Aktenbeständen und Bibliotheken arbeitet und gleichsam so tut, als handele es sich um eine Zeit, die durch zeitliche und örtliche Distanz so entfernt wie etwa die Reformationszeit ist - und doch vehement in Tönen und Bildern in unserem subjektiven und kollektiven Gedächtnis archiviert ist? Ob in der Kulturgeschichte, der Geschichte des Sports, der Frage der historischen Sozialisation, der Erfahrung von Mentalität und Alltagsgeschichte, die auch Mode und Geschmacksempfinden einbezieht - viel, sehr viel wurde über bewegte Bilder und Töne, über Zeitschriften und Photos vermittelt, audiovisuell, also medial, und nicht selten, vielleicht überraschend fiir das säkulare und profane Umfeld, sakral: Die Massengesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts sind im Wandel zu kommunikationstechnologisch sich entwickelnden Mediengesellschaften, ihre Erforschimg bedeutet die methodische Orientierung auf eine bei weitem breitere Basis von Quellen, heißt nicht zuletzt, Nutzung und Bewertimg audiovisueller Quellen, insbesondere der Radio- und Fernsehgeschichte2. Und diese rundfunkhistorischen Quellen sind in Deutschland wie folgt verteilt: 1. Alle historischen Rundfunkmaterialien aus der Zeit vor 1945, soweit sie vorhanden sind, befinden sich am Standort Frankfurt am Main der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg und sind dort in Katalogen und Datenbanken (auch gedruckten Verzeichnissen) dokumentiert. 2. Alle Rundfunkmaterialien aus der Zeit nach 1945 wurden, soweit sie vorhanden sind und sich auf öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten bzw. private Rundfunkveranstalter beziehen, beim jeweiligen Sender archiviert und dokumentiert, sowie mit Bezug auf die historische Bedeutung zusätzlich bei der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg dokumentiert3. 2

Allgemein vgl. Konrad DUSSEL, Deutsche Rundfunkgeschichte. Eine Einführung, Konstanz 1999; DERS., Quellen zur Programmgeschichte des deutschen Hörfunks und Femsehens, (= Quellensammlung zur Kulturgeschichte 24), Göttingen 1999; Hans BAUSCH (Hg.), Rundfunk in Deutschland, 5 Einzelbände, München 1980. 3 In der Reihe der Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs (Verlag für Berlin Brandenburg, Potsdam) sind erschienen: Bd. 1: „Hier spricht Berlin". Der Neubeginn des Rundfunks in Berlin 1945,1995; Bd. 2: Fernsehen für Kinder. Ein Bestandsverzeichnis, 1995; Bd. 3: Thomas BEUTELSCHMIDT, Sozialistische Audiovision. Zur Geschichte der Medienkultur in der DDR, 1995; Bd. 4: Felicitas MERKEL, Rundfunk und Gewerkschaften in der Weimarer Republik und in der frühen Nachkriegszeit, 1996; Bd. 5: Ansgar DILLER / Wolfgang MÜHL-BENNINGHAUS (Hg.), Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. Edition und Dokumentation ausgewählter Rundfunkquellen, 1998; Bd. 6: Karl Christian FÜHRER, Wirtschaftsgeschichte des Rundfunks in der Weimarer Republik, 1997; Bd. 7: Judenverfolgung und jüdisches Leben unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Band 1: Tondokumente und Rundfunksendungen 1930-1946, 1996; Bd. 8: Judenverfolgung und jüdisches Leben unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Band 2/1 + Band 2/2: Tondokumente und Rundfunksendungen 1947-1990, 1997; Bd. 9: Inventar der Quellen zum deutschsprachigen Rundfunk in der Sowjetunion (1929-1945), 1997; Bd. 10: Susanne POLLERT, Film-

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3. Alle Rundfunkmaterialien, soweit sie vorhanden sind und dem Hörfunk bzw. Fernsehen der D D R entstammen, sind am Standort Potsdam-Babelsberg der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg dokumentiert4. Hörfunk und Fernsehen und ihre technischen Vorläufer Film (als die Bilder laufen lernten mit der Erfindung der Brüder Skladanowsky in Berlin) und Schallaufzeichnimg haben die Gesellschaften geprägt und geformt. Was gäben wir darum, Luthers Rhetorik, aber ebenso Ciceros und Savonarolas Beredsamkeit im Originalton studieren zu können, wo wir versuchen, den heute schriftlich überlieferten, aber ursprünglich gesprochenen Texten und ihrer Wirkung über Satzrhythmus, Metrik und stilistische Untersuchung nahe zu kommen - und aporetisch doch nicht die seinerzeitige Authentizität vermitteln bzw. vergegenwärtigen können. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts aber wissen wir, wie Wilhelm II. zu den Untertanen sprach und den eigenen Herrschaftsanspruch und den Kriegsausbruch im Jahre 1914 mit feierlicher Stimme verkündete, auch wenn wir die Nachsprechung im Deutschen Rundfunkarchiv - nur - auf einem Phonograph vom Jahre 1918 haben, die aber anhand der Sprache und der Stimme des Hohenzollern deutlich macht, wie wenig dieser den tatsächlichen Verlauf des damals ja fast beendeten Ersten Weltkrieges begriffen hatte5. Die Rede Wilhelms II. fand im Hinblick und Femseharchive. Bewahrung und Erschließung audiovisueller Quellen in der Bundesrepublik Deutschland, 1996; Bd. 11: Hans-Ulrich WAGNER, Der gute Wille etwas Neues zu schaffen. Das Hörspielprogramm in Deutschland von 1945 bis 1949,1997; Bd. 12: Bernd Low, Hörspiel 1945-1949. Eine Dokumentation, 1997; Bd. 13: Anja KREUTZ / Uta LÖCHER / Doris ROSENSTEIN, Von „Aha" bis „Visite". Ein Lexikon der Magazinreihen im DDR-Femsehen (1952-1990/91), 1998; Bd. 14: Andreas MEYER (Bearb.), Kriminalhörspiele 1924-1994. Eine Dokumentation, 1998; Bd. 15: Walter ROLLER, Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte 1888-1932, 1998; Bd. 16: DERS. (Bearb.), Tondokumente zur Kultur und Zeitgeschichte 1933-1935. Ein Verzeichnis, 2000; Bd. 22: Steffen JENTER, Alfred Braun - Radiopionier und Reporter in Berlin, 1998; Bd. 23: Christof SCHNEIDER, Nationalsozialismus als Thema im Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks (1945-1948), 1999; Bd. 24: Alexander GREGULETZ (Bearb.), Inventar der Manuskriptbestände des Berliner Rundfunks (19451950), 1999; Bd. 25: Inge MARBOLEK / Adelheid von SALDERN (Hg.), Radiozeiten. Herrschaft, Alltag, Gesellschaft (1924-1960), 1999; Bd. 26: Thomas PENKA, Geisterzerstäuber Rundfunk. Sozialgeschichte des Südfunkprogramms in der Weimarer Republik, 1999; Bd. 27: Hans-Ulrich WAGNER, Günter Eich und der Rundfunk. Essay und Dokumentation, 1999; Bd. 28/1 und Π: Gundolf WINTER / Martina DOBBE / Gerd STEINMÜLLER Die Kunstsendung im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland (1953-1985), Band I: Geschichte - Typologie - Ästhetik, Band Π: Chronologisches Verzeichnis und Register, 2000; Bd. 30: Marion GILLUM / Jörg WYRSCHOWY (Bearb.), Politische Musik in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Verzeichnis der Tondokumente 1933 bis 1945, 2000; Bd. 31: Petra GALLE / Axel SCHUSTER, Archiv- und Sammlungsgut des RIAS Berlin, 2000. 4

Vgl. Joachim-Felix LEONHARD, Der Rundfunk der DDR wird Geschichte und Kulturerbe, in: Dietrich Schwarzkopf (Hg.), Rundfunkpolitik in Deutschland. Wettbewerb und Öffentlichkeit, 2 Bde., München 1999, S. 927-977. 5

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Standort Frankfurt am Main, Rede von Wilhelm Π., Archivnummer 2590010: „An das deutsche Volk! Seit der Reichgründung ist es durch 43 Jahre mein und meiner Vorfahren heißes Bemühen gewesen, der Welt den Frieden zu erhalten und im Frieden unsere kraftvolle Entwicklung zu fördern. Aber die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit. Alle offenkundige und heimliche Feindschaft von Ost und West, von jenseits der See, haben wir bisher ertragen

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auf das Nachsprechen bald Nachahmung, als Philipp Scheidemann am 1 . 9 . 1 9 2 0 seine Ansprache zur Ausrufung der Republik nach-sprach 6 . Seit dem 29. Oktober 1 9 2 3 kamen Inhalte per Rundfunk über den Äther, ohne daß die W o r t e in den W i n d gesprochen waren. Auch trat mit den Sendungen eine neue Qualität gesellschaftlichen Verhaltens ein, indem man j a - wir würden heute sagen: „live" - jemanden sprechen und singen hörte, ohne daß das Gegenüber zu sehen war. In gewisser Weise war dieser Radioempfang ein weiterer Ausdruck der Emanzipation von Raum und Zeit einer sich herausbildenden Massengesellschaft, und folgerichtig bedienten die in der Weimarer Republik agierenden, im übrigen privaten Sendegesellschaften in Information, Kultur und Unterhaltung breite Interessen . W e r freilich annimmt, der Rundfunk der Weimarer Republik sei frei von Einflußnahme durch Herrschaftsstrukturen gewesen, geht fehl, und insofern hatte sogar Joseph Goebbels recht, als er 1 9 3 3 feststellte, daß der Rundfunk ein vorzügliches Instrument

im Bewußtsein unserer Verantwortung und Kraft. Nun aber will man uns demütigen. Man verlangt, daß wir mit verschränkten Armen zusehen, wie unsere Feinde sich zu tückischem Überfall rüsten. Man will nicht dulden, daß wir in entschlossener Treue zu unserem Bundesgenossen stehen, der um sein Ansehen als Großmacht kämpft und mit dessen Erniedrigung auch unsere Macht und Ehre verloren ist. Es muß denn das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfallt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, das unsere Väter sich neu gründeten. Um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens. Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Roß. Und wir werden diesen Kampf bestehen, auch gegen eine Welt von Feinden. Noch nie war Deutschland überwunden, wenn es einig war. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war." 6 Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Standort Frankfurt am Main, Archivnummer 2590010: ,Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre, grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der unglückselige Krieg ist zu Ende, das Morden ist vorbei. Die Folgen des Krieges, Not und Elend, werden noch viele Jahre auf uns lasten. Die Niederlage, die wir unter allen Umständen verhüten wollten, ist uns nicht erspart geblieben. Unsere Verständigungsvorschläge wurden sabotiert. Wir selbst wurden verhöhnt und verleumdet. Feinde des werktätigen Volkes, die wirklichen inneren Feinde, die Deutschlands Zusammenbruch verschuldet haben, sind still und unsichtbar geworden. Das waren die Daheimkrieger, die Eroberungsforderungen bis zum gestrigen Tage ebenso aufrecht erhielten, wie sie den verbissensten Kampf gegen jede Reform der Verfassimg, besonders des schändlichen preußischen Wahlsystems gefuhrt haben. Diese Volksfeinde sind hoffentlich fur immer erledigt. Der Kaiser hat abgedankt, er und seine Freunde sind verschwunden. Über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt. Prinz Max von Baden hat sein Reichskanzleramt dem Abgeordneten Ebert übergeben. Unser Freund wird eine Arbeiterregierung bilden, der alle sozialistischen Parteien angehören werden. Die neue Regierung darf nicht gestört werden in ihrer Arbeit für den Frieden, ihrer Sorge für den Frieden, ihrer Sorge um Arbeit und Brot. Arbeiter und Soldaten! Seid euch der geschichtlichen Bedeutung dieses Tages bewußt: Unerhörtes ist geschehen! Große und unübersehbare Arbeit steht uns bevor. Alles für das Volk, alles durch das Volk. Nichts darf geschehen, was der Arbeiterbewegung zur Unehre gereicht. Seid einig, treu und pflichtbewußt. Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!" Vgl. Joachim-Felix LEONHARD, Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, München 1997. 7

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der Lenkung der Masse sei, eine Idee, die die Parteien der Weimarer Republik den Nationalsozialisten vorgemacht hätten. Goebbels hat freilich diese Massenmedien ebenso instrumentalisiert, wie er alle Formen kultureller Vermittlungen in Reichskammern gleichschaltete und mit kommunikativ-kultischen Formen sakral eine Volks-gemeinschaft von Volks-genossen vorbereitete: der Volks-empfanger als Radiogerät für Propaganda, der Volks-wagen fur Kommunikation und Mobilität. Goebbels hat diese Aufgabe des Rundfunks, nämlich die Menschen „zu hämmern und zu meißeln", bis sie ihm verfallen sind, bereits am 24. April 1933 in einer öffentlichen Rede deutlich gemacht, als er den ersten Parteigenossen in das Amt eines Intendanten (in Köln) einführte 8 . An der nun folgenden Inszenierung einer sakralen Schicksalsgemeinschaft „Deutsches Reich" mit den Vorzeichen nationalsozialistischer Ideologie haben Filme wie „Jud Süß", „Kolberg", vor allem die mit sublimer Ideologie wirkenden Unterhaltungsfilme und Revuen ebenso Anteil gehabt wie die Dokumentationen Leni Riefenstahls, ζ. B. über die Olympischen Spiele von 1936, die Präsentation von Parteitagsveranstaltungen bis hin zu den Sakralbauten der Architektur Albert Speers. Ein eher unscheinbares und doch Weihe assoziierendes Beispiel war die Radioreportage vom Tag der Deutschen Kunst 1938 in München, bei der sich Stil und Inhalt in der sprachlichen Präsentation durch den Reporter Paul Laven 9 , bei dem die Rede von Defilieren ist, freilich als Einheit darstellen 10 . 8

Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Standort Frankfurt am Main, Archivnummer 2632036 (Abstract): (ab 30Ό0) Hauptaufgabe des Rundfunks: „Die Menschen so lange zu hämmern und zu meißeln, bis sie uns verfallen sind." / Bekenntnis zur Tendenz im Rundfunk / Vollendung des deutschen Nationalstaates durch den Nationalsozialismus / Aufgabe des Rundfunks: Gleichschaltung zwischen Regierung und Volk / Dank an die rheinische und die westfälische Bevölkerung / „Wir werden nicht ruhen und nicht rasten, bis wir gestehen könne: Die Sonne ist wieder aufgegangen in Deutschland." (30'25) Heinrich Glasmeier: Erinnert an den Wahlkampf in Lippe, wo Goebbels noch ohne Rundfunk auskommen mußte / Hohe Ehre, zum ersten Mal einen Reichsminister beim WDR begrüßen zu können / Goebbels bleibt der Heimat für immer verbunden / „Wir bleiben Diener des Volkes / Auch für mich als Intendant des WDR gilt der Wahlspruch der SS: Unsere Ehre heißt Treue" / Die geistige Verbundenheit mit den Hörem noch enger gestalten / „Unser Ziel ist die Nationalisierung des Volkes / Sieg Heil auf Hindenburg, Hitler, den gottgesandten Führer und Goebbels" (10'l0). 9 Das Deutsche Rundfunkarchiv konnte im Herbst 2000 den Nachlaß von Paul Laven übernehmen, der als einer der bedeutendsten Rundfunkreporter in der Weimarer-, der NS-Zeit und im Nachkriegsrundfunk gewirkt hat. 10 Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Standort Frankfurt am Main, Archivnummer 2643039 (Abstract): „Der Festzug .Zweitausend Jahre Deutsche Kultur' mit seinen 5.000 Teilnehmern nähert sich dem Odeonsplatz und dem Baldachin des Führers / Prall liegt die Sonne auf dem Odeonsplatz, jetzt, da der Zug beginnt / Fahnengruppen erscheinen / Der Zug wurde durch die Gruppe der Welser und Österreicher erweitert / Das Wappen der Reichskunstkammer wird vorbeigetragen / Ein Wikingerschiff zieht heran als frühes Erzeugnis germanischer Kultur / Da zeigt sich die ganze Musikalität der Formen, die unsere germanische-deutsche Kunst auszeichnet / Frauen der Bronzezeit mit Opfergefaßen ziehen vorüber", (ab 6Ό0): Deutschlandlied / „Es ist kein Zufall, daß gerade ein Schiff diesem Zug voranzieht. Die weltumspannende Weite deutschen Geistes, deutscher Kultur kommt darin zum Ausdruck, die schweifende Sehnsucht, die Deutsche immer in alle Teilen der Welt geführt hat, sodaß es heute kaum ein Land der Erde gibt, in dem nicht Deutsche einmal gearbeitet, gekämpft oder gesiedelt haben / Ausgrabungsfunde germanischer Musikinstrumente / Priester schreiten würdig vorbei /

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Allem lag ein Gesamtentwurf einer Ideologie zugrunde, die sich im Führerkult personifizierte, zentrierte und sakralisierte. Und doch war dieser Sakraleffekt am Anfang schwieriger zu gestalten, als es den Protagonisten in Goebbels Ministerium fur Volksaufklärung und Propaganda lieb bzw. angenehm sein mochte: Maßgeblich und merkwürdigerweise lag die Schwierigkeit beim Bemühen, den Führer nicht etwa nur - wie in den Herrschaftsszenarien früherer Zeiten - an einer Stelle, bei einer Veranstaltung kommunizieren, sondern ihn über das Radio überall sprechen zu lassen, in der Person des eigentlich Handelnden begründet: Ja, Hitler hatte anfangs große Bedenken und Mühe, sich vor ein Mikrophon, wohlgemerkt in einem abgeschlossenen Studio, gleichsam virtuell in Szene zu setzen, da er, wie sonst bei Massenveranstaltungen, die Zuhörer ja nicht vor sich sah, also nicht direkt mit den Zuhörern kommunizierte. Es bedurfte, wie man heute weiß, nicht wenigen Zuredens und einiger Übungen, bis die Brüllstimme des Diktators in eben der „Qualität" über den Äther ging, wie sie die Teilnehmer an Massenveranstaltungen gewohnt waren. Ganz anders, professionell in der Liturgie der Massenveranstaltung, präsentierte sich Hitler dagegen vor der Masse". Wie schwer sich die Propaganda dann wenige Jahre später, also um 1935/1936 mit der Nutzimg einer neuen Kommunikationstechnik, nämlich des von Paul Nipkow rechtzeitig zu den Olympischen Spielen 1936 entwickelten Fernsehens12 tat, ist auf den ersten Blick überraschend - und war es doch nicht. Ein Frauen mit Spindeln, von denen der Schicksalsfaden gesponnen wird", (ab 7'00) Fanfaren, Beifall / „Ein goldenes Hakenkreuz (Sonnensymbol) mit silberner Lilie auf rotem Grund, umgeben von einem leuchtenden Strahlenkranz / So fährt nun das Zeichen an uns vorbei, das schon unseren Ahnen den Sieg des Lichtes über die Finsternis kündete und das nun auch unserer Zeit glückverheißend voranleuchtet / Eine goldfarbene plastische Gruppe, ein offener Streitwagen mit Jüngling folgt", (ab 8'35) „So stehen nun vor unseren Augen die Bilder der germanischen Sagen und Heldenlieder auf / Der Nibelungenhort wird auf einer Bahre getragen, edle Kunst germanischer Goldschmiede" / Fanfaren / „Wieland, der Schmied / Egil und seine Gemahlin, silberweiß bekleidet, reiten auf roten, silbergeschuppten Delphinen / Baldachinträger in roten Mänteln mit kunstvollen Hakenkreuzmustern / Wotan auf einem Thron, danach weibliche Gottheiten / Walküren, die die Gefallenen nach Walhalla begleiten, beschließen den Zug / Aus dem Dunkel des Unbewußten kommen wir nun hinein in die lichtere Wirklichkeit unseres geschichtlichen Daseins" (bis 12Ό0). (ab 46'20) „Jetzt beginnt unsere Zeit, die der Wille und die Kraft des Führers geformt hat / Golden leuchten die Siegeszeichen der neuen Zeit / Monumentalplastik [...]·" 11

Das macht ein frühes Filmdokument vom 10. Februar 1933 deutlich. Zu ihm wird der Auftritt Hitlers im Sportpalast inszeniert und mit choreographischen Mitteln eingeläutet und durchgeführt. Goebbels kündigt Hitler gleichsam wie einen Herold an, wobei Hitler dann aus der Menge heraus durch die enthusiasmierte Masse zur Rednerbtlhnc vorschreitet und dort erst einmal 38 Sekunden schweigend verharrt. Dabei wird die Aufmerksamkeit in wenigen Augenblicken der Stille auf den Redner konzentriert, der schließlich mit allen Mitteln der Demagogie die Atmosphäre anheizt. (Vgl. Bundesarchiv, Filmarchiv bzw. die Sendung des Bayerischen Rundfunks vom 18.10.1983 „Machtergreifung. Machterhalt. Machtverfall. Propaganda durch Rhetorik. Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen" mit Kommentar von Franz Schneider, Archivnummer 37672). Die Kundgebung wurde auch im Rundfunk übertragen und ist als historisches Tondokument überliefert (Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Standort Frankfurt am Main, Archivnummer 2590201). Vgl. auch Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs Bde. 16, 30 und 31 (wie Anm. 3). 12 Vgl. dazu Knut HICKETHIER, Geschichte des deutschen Femsehens, Stuttgart 1998.

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wesentlicher Grund dafür war, daß sich die sakralen Präsentationsformen von Herrschaft eben nicht so einstellten, wie sie erhofft worden waren. Wie die Nationalsozialisten das Radio einsetzten zur Dokumentation von Ubiquität und Omnipotenz des Führers und den Führerkult also gleichsam an das Ohr des Hörers beförderten, nicht unähnlich phänotypischen Formen von Sakralität, Charisma und Religion, so hätte es nahegelegen, nunmehr über das Fernsehen den Führer kultisch-visuell so zu präsentieren, wie dies die Diktaturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Erzeugung eigener Sakralitäten taten, ob sie nun Mao Zedong oder Leonid Breshnew hießen oder sich wie Fidel Castro oder afrikanische Diktatoren permanent über den Bildschirm präsentierten. Eine Funktion, die im übrigen auch für die (Medien-)Demokratien gilt und ihre televisionären Sakraleffekte in Gestalt und Inszenierung von Neujahrsansprachen, Reden zur Lage der Nation u. ä. öffentliche und Öffentlichkeit beanspruchende Veranstaltungen; die Medien sind längst zur vierten Gewalt in der Gesellschaft geworden. Im Jahre 1936 nun übertrug man zwar Fernsehbilder in Fernsehstuben, doch war auf den Schwarzweißbildern, zudem mit Flimmern und elektronischem Schneegeriesel, der Führer nur als eine vergleichsweise „kleine Figur" - und dann auch noch undeutlich zu sehen. Grund genug, die Fernsehentwicklung nicht zu forcieren und Abstand zu nehmen von der Absicht, den Führer nicht nur auditiv über das Radio, zu einer als „Volksgenossen" bezeichneten Bevölkerung zu bringen, sondern auch visuell mit der assoziierten televisionären Ubiquität. Die Technik war - damals - für diese Zwecke noch nicht reif. Statt dessen setzte man auf die erprobten Verfahren und präsentierte Hitler dann weiterhin vehement in öffentlichen Auftritten - bei Massenveranstaltungen im Radio, und über die Wochenschauen im Kino. Wie sakral dieser Führerkult in der medialen Vermittlung wirken sollte, macht die raffinierte Inszenierung von Authentizität und Gegenwart nach dem mißlungenen Attentat des Obersten von Stauffenberg am 20. Juli 1944 deutlich. Die Rundfunkleute reagierten schnell, legten eine Verbindung zur Wolfsschanze, und prompt war der Führer nachts um 1.00 Uhr über den Äther, bei zwar schlechter Tonqualität, doch authentisch zu hören. Gleichsam die Inszenierung einer Auferstehung, wo die Gerüchte vom vermeintlich erfolgreichen Ausgang des Attentats bereits den Tod Hitlers verkündeten. Es war dann natürlich nicht mehr verwunderlich, daß der solchermaßen inszenierte „Auferstandene" sich selbst als völlig unverletzt beschreibt, obgleich die Stimme bzw. die Stimmlage anderes, nämlich nachwirkenden Schock dokumentiert. Vollends sakralisiert wird die vorangegangene Nachrichtensendung bzw. die Rede im Radio durch den Hinweis an die Zuhörer, daß nichts anderes als die „Vorsehung" ihn - den Führer - und damit auch das ihm unterstellte Volk vor dem Verderben bewahrt habe13.

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Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main, Archivnummer 2623118: „Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen / Die Bombe, die Graf von Stauffenberg gelegt hat, hat eine Reihe mir sehr teurer Mitarbeiter sehr schwer verletzt, einer ist gestorben / Ich selbst bin völlig unverletzt / Ich fasse es als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiterzuverfolgen / Himmler wurde zum Befehlshaber des Heimatheers ernannt / Diesmal wird nun so abgerechnet, wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind / Jeder Deutsche hat die Pflicht, diesen

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Sakralität von Herrschaft, in jedem Falle sakrale/emotionale Stimmung zu erzeugen, war den Nationalsozialisten - wie auch anderen diktatorischen Ideologien des 20. Jahrhunderts - nicht nur vordergründig, zuweilen auch in indirekter Form möglich: Wer beispielsweise beim Wechsel von Diktaturen des Ostblocks, bei politischen Säuberungswellen wie auch beim Putsch gegen Gorbatschow in Moskau im August 1991 Fernsehen oder Radio einschaltete, um Informationen zu erhalten, erfuhr zwar NichtInformation und wußte dennoch, was los war: Im ersten und zweiten Fernsehprogramm des sowjetischen Fernsehens war das Ballett „Schwanensee" zu sehen, gleichgeschaltet, und bei Radio Moskau war schwere, getragene, ja feierliche Musik zu hören in den gleichfalls synchron geschalteten Programmen, beides gleichsam liturgisches Symbol zur Beschreibimg der politischen Situation. Die Affekte, die Emotionen waren mehr angesprochen als die rationale Wahrnehmung: Ein Element medialer Vermittlung, das sich auch in Reportagen westlicher wie östlicher Produktionen findet, wie ζ. B. bei der die Gefühle ansprechenden Reportage vom Weltmeisterschaftsfinale 1954 in Bern wie in keineswegs emotionsarmen Reportagen von Schüssen am Potsdamer Platz am 17. Juni 195314, nur: Wo in den freien Gesellschaften die Reportage gleichsam durch andere Informationsquellen objektiviert werden kann, verabsolutiert(e) sich die Wahrnehmung des Hörers bzw. Sehers in Diktaturen auf konzentrierte Inszenierung und Dramaturgie von Wirklichkeit, die Lenkimg, aber auch Fälschung bedeuten kann. Dies bezeugt das Beispiel einer Sendung der Nationalsozialisten aus dem Jahre 1942, bei der in doppelter Hinsicht Sakralität erzeugt wurde, nämlich einerseits die symbolhafte Institutionalisierung des Großmachtanspruchs und andererseits die Erzeugung sakraler Stimmung durch die Sendeform selbst. Gemeint ist die Weihnachtsringsendung am Heiligabend, also an einem ohnehin nicht emotionsarmen Tag, dessen Affektorientierung noch gesteigert wird, als sich diese Sendung mit einer Ringschaltung zu den Kriegsschauplätzen von Lappland, Kreta, vom Golf von Biskaya bis Stalingrad (wo sich Ehemänner, Väter, Brüder und Enkel als Soldaten befanden!) an die daheimgebliebenen Ehefrauen und Kinder, Brüder, Schwestern und Großeltern wendete und nicht von ungefähr stimmten dann schließlich rauhe Männerkehlen nach den Abrufen der jeweiligen Kriegsschauplätze nacheinander in das bei den Deutschen ohnehin emotional hochstehende „Stille Nacht, heilige Nacht" ein; und es ist anzunehmen, daß die Daheimgebliebenen in der Wohnstube vor dem Volksempfänger nicht ohne Emotionen den globalen Chor ergänzten15. Elementen rücksichtslos entgegenzutreten, wenn sie Widerstand leisten, sie ohne weiteres niederzumachen / Es ist ein Fingerzeig der Vorsehung, daß ich mein Werk weiter fortfuhren muß." 14 Ediert auf der CD „Wir sind wieder wer", hg. vom Deutschen Rundfunkarchiv und Deutschem Historischen Museum, Frankfurt am Main 1955, Deutsches Rundfunkarchiv, DRA-CD2-1995. 15 Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Standort Frankfurt am Main, Archivnummer 2570043: ,Achtung! An alle! Noch einmal sollen sich nun unter dem Eindruck dieser Stunden, die wir zusammen erlebten, alle Kameraden an den entferntesten Ubertragungsstellen melden und Zeugnis ablegen durch ihren Ruf von dem umfassenden Erlebnis dieser unserer Ringsendung. Achtung! Ich rufe den Eismeer-Hafen ..." (unverständlich) [...] Nach jedem Ruf meldet sich die angerufene Stelle mit den Worten: „Hier ist..." Von der Krim wird fur alle „Stille Nacht" gesungen, alle aufgerufenen Stellen fallen mit ein.

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Was sie freilich nicht wußten: Die Sendung war eine geschickte Zusammenstellung von Drehbuch und Regie, unterlegt mit Hall- und Krächzgeräuschen vermeintlicher Authentizität, in Szene gesetzt in den Studios der Reichsrundfunkgesellschaft in der Masurenallee im Berliner Funkturm und mitnichten „live" von den angekündigten Plätzen. Die Betrüger inszenierten durch sakrale Formen „Ferne" - und saßen in der Nähe. Das war am Weihnachtsabend 1942 ein Mittel zur Steigerung des Durchhaltevermögens einer Bevölkerung, die später auch viele Durchhaltefilme im Kino sehen konnte, grobe Appelle wie den Titel „Kolberg", aber auch raffinierte und gute Inszenierungen wie die Vorstellung heiler Welt in der „Feuerzangenbowle", die wir auch heute noch gerne sehen, aber mit den Augen des Jahres 2001. Die Visualisierung in Spielfilm und Wochenschau diente weniger der Vermittlung von Informationen als von Stimmungen - sie sollte vor allem einen Effekt erreichen, wie ihn die Nationalsozialisten auch in anderer Visualisierung, nämlich in der Inszenierung im öffentlichen Raum, mit Hilfe der Architektur anstrebten. Gemeint ist damit nicht nur die Planimg und Ausführung von Bauten als Ausdruck der Ideologie, was sich in Albert Speers Entwürfen für die neue Hauptstadt „Germania" ebenso manifestierte wie in den großflächigen Aufmarschforen in Nürnberg bis hin zum plump-pompösen ,Kraft durch Freude'-Monument in Prora auf Rügen. Adressat der Aktionen war die Masse als Gemeinschaft, und in gewisser Weise sollten Monument und Dokument, physischer Bau und virtuelle Inszenierung, Inhalt und Form eine Art „unio mystica" eingehen. Sie sollten eine Sakralform erreichen, die ihren besonderen Ausdruck in der Vermischung von Formen christlich-abendländischer Religiosität und Präsentation der sog. neuen „Volksgemeinschaft" in den Lichtdomen fand, die Albert Speer mit Hilfe von geometrisch genau positionierten Flakscheinwerfern an den abendlichen Berliner Himmel zeichnete mit Brechungen des Lichts, die nicht mehr und nicht weniger als den frühmorgendlichen Lichteinfall in gotischen Kathedralen assoziieren sollten: Choreographie der Macht im öffentlichen Raum, sakral, schon nicht mehr auf der Erde, sondern geradezu mystifiziert-transzendent16. Ein Ausblick - auf heute und morgen: Mit dem Fernsehen, das die Visualisierung von Inhalten beflügeln sollte und unsere Wahrnehmungspriorität über das Auge lenkt („Was" wir sehen, ist Wirklichkeit oder zunächst das, was wir dafür halten!), haben sich die Techniken der Vermittlung verfeinert: Kameraführung, Schnitt, Direktheit - die Inszenierung von sakral/emotionaler Stimmung ist ein weiteres Element, mit dem die Medien - nicht nur in Diktaturen - mit 16 Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Standort Frankfurt am Main, Archivnummer 2965967: Adolf Hitler aus Anlaß der Grundsteinlegung zur Kongreßhalle am Dutzendteich im Rahmen des Reichsparteitags der NSDAP in Nürnberg: „Vor 16 Jahren fand die geistige Grundsteinlegung einer der entscheidendsten Erscheinungen des deutschen Volkes statt / Deutschland wurde aus den Fesseln seiner inneren Verderber gelöst / Einer der kühnsten Entschlüsse der Weltgeschichte / Wir setzen der neu entstandenen Welt des deutschen Volkes den Grundstein ihres ersten großen Denkmals." Archivnummer 2590302: Adolf Hitler: „Die früheren Gegner hatten keinen Bedarf für Massenveranstaltungen in großen Sälen, weil die Massen fehlten / Heute staunen sie darüber, daß Vertreter der Diktatur fortgesetzt vor großen Menschenmengen reden."

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Hilfe von bestimmten Bildern, gleichsam in dynamischer bzw. dynamisierbarer Ikonographie von Kommunikation dienen. Als die Marines im Jahre 1991 vor Mogadishu landeten, aus den Booten ausstiegen und sich mit schwarz gerußten Gesichtern dem Strand und dem vermeintlichen Feind näherten, bewegten sie sich natürlich auf Kameraleute amerikanischer Fernsehstationen zu, die ihrerseits zu werbewirksamer und Einschaltquoten bestimmender Zeit den Lieben zu Hause berichten wollten, wo sich die GI's gerade im Einsatz befanden. Nicht ganz fern von der Inszenierung der Radiosendung des Jahres 1942, nur anders in den Zeitumständen, den Zielsetzungen, aber analog in der Machart. „Fact or fake" - die Adressierimg von Affekten gegenüber der Ansprache der „Ratio" mag ebenso sakrale Stimmungen erzeugen, wenn man die Wechselwirkung indirekter Umkehrung im Falle der Berichterstattung der Gefangenen von Jolo oder der Geiselgangster von Gladbeck bedenkt: Das Draufhalten der Kamera, die Herstellung von „Big Brother-Effekten", der Verlust von Distanz zwischen öffentlichem Leben (und Interesse) und privater Existenz (und ihr Recht auf Schutz der Privatsphäre), der drohende Verlust der Ethik der Kommunikation bzw. Kommunikatoren wegen und zugunsten quotenorientierter Erzeugung von Emotionalität - ist dies nicht etwa Inszenierung von Sakralformen anderer Art, die sich in strategischer Liturgie von Design und Geschmack uniform nach niedrigem Niveau und Instinkten hin entwickelt. Die Börse etwa als neue Kultstätte, ähnlich dem alttestamentarischen Goldenen Kalb, die Aktienkurse als neue Liturgie, das Kapital als neue Herrschaft bzw. religiöse Ideologie, die in unserer säkular-profanen Zeit als Basis für neue Sakralkulte neoliberalen Kommerzes bzw. neokapitalistischer Zwänge dienen mag. Sind dies die Begleitumstände einer neuen Sakralität? Geschichte geht weiter und hört nicht auf, so wenig, wie sich Sakralität und Charisma als religiöse bzw. psychologische Phänomene von Herrschaft auf die Reiche des vorderen Orients, Ägyptens und der Antike, auf das Mittelalter und die abgeschlossene Neuzeit beziehen mögen: Sie währen fort in der andersartigen Sakralität der Massengesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts, sind medial bestimmt - und politisch wirksam. Sind sie Teil und Ausdruck von Verhaltensmustern in unserer historischen Anthropologie?

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Sakrales im Säkularen? Elemente politischer Religion im Nationalsozialismus*

Einleitung Den Nationalsozialismus im Rahmen einer Ringvorlesung über „Die Sakralität von Herrschaft" zu behandeln, mag auf den ersten Blick überraschen, denn angesichts der von ihm verantworteten Menschheitsverbrechen ist schwerlich etwas „Unheiligeres" denkbar. Hitlers Haß auf das Christentum ist notorisch 1 , und nach den allerdings triumphalistisch klingenden Worten eines Kritikers der unmittelbaren Nachkriegszeit schlossen „Kirche und Nationalsozialismus sich in allem Wesentlichen gegenseitig aus wie Licht und Finsternis, wie Wahrheit und Lüge, wie Leben und Tod"2. Dies gilt vice versa auch für die anderen totalitären Bewegungen unseres Jahrhunderts, für den Kommu* Bei den folgenden Ausführungen ist die Vortragsform beibehalten. Ehe Anmerkungen beschränken sich im wesentlichen auf den Nachweis von Zitaten sowie auf knappe weiterführende Hinweise. Hinsichtlich der Deutung des Nationalsozialismus als „politische Religion", welche Ernst NOLTE zufolge (Die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie: Ärgernis oder Einsicht?, in: Zeitschrift für Politik 43 (1996), S. 111-122) lediglich eine „sozialreligiöse" Version der Totalitarismustheorie (ebd. S. 112) darstellt, aber doch im Unterschied zur klassischen „politologisch-strukturell[en]" Version den Blick nicht auf die Herrschaftstechnik beschränkt, sondern den ideologischweltanschaulichen Bereich gleichgewichtig miteinbezieht, ist der Zugang zum Forschungsstand am bequemsten über die soeben erschienene Neubearbeitung von Michael RUCKS Bibliographie zum Nationalsozialismus", 2 Bde., vollständig überarbeitete und wesentlich erweiterte Ausgabe, Darmstadt 2000, möglich. Freilich weist die Bibliographie, auch dies ist kennzeichnend für den noch unzureichenden Forschungsstand, (noch) keinen Gliederungspunkt „Politische Religion" auf; man hat statt dessen unter Stichwörtem wie „Theoretische und methodische Probleme" / „Totalitarismustheorien", „Feste" oder „Propaganda und Medien" nachzuschlagen. 1 Zahlreiche Beispiele hierfür in: Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, hrsg. von Werner JOCHMANN, Hamburg 1980; Henry PICKER, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Wiesbaden "1983, jeweils passim. Vgl. auch die Fragment gebliebene Ausarbeitung von Walter ADOLPH, Adolf Hitlers religiöse und sittliche Entwicklung, in: Wichmann-Jahrbuch XXIV./XXIX. Jg., 1970/75, S. 95-117. 2 Anton KOCH, Vom Widerstand der Kirche 1933-1945, in: Stimmen derZeit 140 (1947), S. 468^72, Zitat 469.

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nismus und - in allerdings geringerem Maße - für den italienischen Faschismus. Alle drei Totalitarismen hat Eric Voegelin als „Folge eines Vakuums, einer Zerstörung und Selbstzerstörung"3 überlieferter christlicher Glaubenslehren gedeutet; alle traten sie, wie Hermann Lübbe formuliert, „mit dem Anspruch auf legitimatorische Vollselbstversorgung" auf und mußten von daher schon die überlieferten Religionen als „unerträgliche Konkurrenten betrachten"4. Und ist es schließlich Zufall, daß es zu keiner Zeit der Kirchengeschichte mehr Blutzeugen gegeben hat als unter der despotischen Herrschaft von Nationalsozialismus und Kommunismus?5 Solche Beobachtungen scheinen in eine bestimmte Richtimg zu deuten, und doch regt sich der Verdacht, daß es mit der Antwort so einfach-eindeutig nicht ist. In der Tat ist allen genannten Totalitarismen gemeinsam, daß ihnen zum ersten eine „Weltanschauung" oder Ideologie mit absolutem Wahrheitsanspruch zugrunde lag, die nicht nur mit anderen politischen, sondern auch mit anderen religiösen Traditionen unvereinbar war. Eine zweite Eigentümlichkeit dieser Bewegungen ist, daß sie mit ihrem prinzipiell grenzenlosen Erfassungs- und Herrschaftsanspruch auch die herkömmliche Scheidimg von politischer und geistlicher Gewalt zerstörten, ja daß, wie Hermann Heller schon 1929 hellsichtig bemerkt hat, „der Staat... nur totalitär werden [konnte], wenn er wieder Staat und Kirche in einem [wurde]", also gewissermaßen zur Antike zurückkehrte6. Hieraus aber erklärt sich drittens, warum wir bei diesen Bewegungen religiöse oder quasireligiöse Phänomene beobachten können, Rückgriffe auf religiöse Sprechweisen, Vorstellungen und kultähnliche Handlungen bis zur Sakralisierung von Personen, Orten, Symbolen. Zur Kennzeichnung dieses Phänomens hat sich der Begriff der „politischen Religion" eingebürgert. Er geht auf den schon erwähnten Politologen Eric Voegelin zurück, der ihn 1938 zur Diskussion stellte7, wurde nahezu gleichzeitig aber auch von Raymond Aron8, Lucie Varga und Franz Borkenau9 verwendet und begegnet uns in der liberalen

3 Hier wiedergegeben in der Formulierung Hans MAIERS, in: DERS./Michael SCHÄFER (Hrsg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. Π, Paderborn u. a. 1997, S. 14. 4 Hermann LÜBBE [Diskussionsbeitrag], in: Hans MATER (Hrsg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, [Bd. I], Paderborn u. a. 1996, S. 167. 5 Vgl. Ulrich v. HEHL/Christoph KÖSTERS (Bearb.), Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung, 2 Bde., 4., durchgesehene u. ergänzte Auflage, Paderborn u. a. 1998; unter inflationärer Ausweitung des Märtyrerbegriffs jetzt Helmut MOLL (Hrsg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, 2 Bde., Paderborn 1999; in ökumenischer Auswahl Karl-Joseph HuMMEL/Christoph STROHM (Hrsg.), Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig-Kevelaer 2000. 6 Hermann HELLER, Europa und der Fascismus, Berlin-Leipzig 1929, S. 56, hier zitiert nach H . MAIER, Totalitarismus I (wie Anm. 4), S. 247. 7 Eric VOEGELIN, Die politischen Religionen, Wien 1938, Neudruck München 1993. 8 Meines Wissens erstmals in Raymond ARON, Elie Halevy et Γ ere des tyrannies, in: Revue de Metaphysique et de Morale No. 46 (1939), S. 283-307; eine deutsche Übersetzung in DERS., Über Deutschland und den Nationalsozialismus, Opladen 1993, S. 186-208.

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angelsächsischen Totalitarismuskritik der 30er Jahre als „secular religion"10. Beiden Begriffen ist gemeinsam, daß sie ein Phänomen bezeichnen, welches strikt „innerweltlich" ausgerichtet ist, also im Gegensatz zu den „überweltlichen" Religionen des Judentums und des Christentums „das Göttliche nicht in einem transzendenten Weltgrund, sondern in Teilinhalten der Welt' sucht11. Das soll im folgenden am Beispiel des Nationalsozialismus betrachtet werden. Ich gehe dabei so vor, daß ich in einem ersten Schritt mit dem „Kult um die toten Helden"12 ein besonders markantes Beispiel „politischer Religiosität" vorstelle und dieses Bild in einem zweiten Abschnitt der Selbstinszenierung des Regimes im Rahmen des „braunen Kults" zuordne. Drittens sind die religiösen Aspekte dieses Kults näher zu betrachten, ehe ich viertens Bemühungen der zeitgenössischen Forschung skizziere, das neuartige Phänomen quasireligiöser Heilslehren im politischen Gewand begrifflich angemessen zu erfassen und zu beschreiben. Diese Bemühungen sind dadurch gekennzeichnet, daß sie die Sonde von außen, aus unverkennbar totalitarismuskritischer Perspektive, an ihren Gegenstand legen. Daher ist fünftens auch die »Se/Z>sfwahrnehmung des Nationalsozialismus zu behandeln, seine Tendenz zur „Gegenkirche", aber in diesem Zusammenhang auch Hitlers Verhältnis zum Christentum. Daß der Führer sich gleichwohl nicht als Religionsstifter verstand, soll in einem sechsten Schritt erläutert werden, der die nationalsozialistische Weltanschauung als Religionsersatz vorstellt. Stettens sollen mit „Hitler-Mythos" und Führerkult sowie achtens mit der hierauf gründenden „charismatischen Herrschaft" Hitlers zwei besonders charakteristische Erscheinungsformen des Dritten Reiches skizziert werden, die ebenso sehr Ausfluß wie Verstärker der pseudoreligiösen Seite des Regimes waren. Ein bilanzierender Rückblick rundet das Ganze ab.

I. „Der Kult um die toten Helden" München, 9. November 1935, höchster Festtag im nationalsozialistischen Feieijahr. Wie alljährlich hat sich die braune Führung in der Hauptstadt der Bewegung versammelt13, um am Jahrestag des Hitler-Putsches von 1923 ihrer dabei erschossenen Kameraden zu gedenken. Diesmal hat ihnen die Festregie eine besondere Ehrung zugedacht. 9

Vgl. Peter SCHÜTTLER, Das Konzept der politischen Religionen bei Lucie Varga und Franz Borkenau, in: Michael LEY/JUIIUS H. SCHOEPS (Hrsg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Frankfurt am Main 1997, S. 186-205. 10 Hierzu jetzt erschöpfend Markus HUTTNER, Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritannien, Bonn 1999. 11 Hans MAIER, Konzepte des Diktaturvergleichs: „Totalitarismus" und „politische Religionen", in: DERS., Totalitarismus I (wie Anm. 4), S. 233-250, hier 243. Vgl. auch DERS., Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg 1995. 12 Vgl. Sabine BEHRENBECK, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow 1996. 13 Vgl. zum folgenden Hans Günter HOCKERTS, Mythos, Kult und Feste. München im nationalsozialistischen „Feieijahr", in: München - „ H a u p t s t a d t der Bewegung", München 1993, S. 331-341.

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Nach wochenlangen Vorbereitungen sind die Gebeine der sechzehn Toten exhumiert, in aufwendig gestaltete Sarkophage umgebettet und in der „mit blutrotem Tuch" ausgekleideten Feldherrnhalle aufgebahrt worden, also an jenem Ort, wo eine Salve der Bayerischen Landespolizei den Zug der Hitler-Anhänger gestoppt hatte und wo inzwischen eine Gedenktafel an die im Glauben an die Wiederauferstehung ihres Volkes gefallenen Helden erinnerte14. Hier erweist ihnen der Führer um Mitternacht seine Reverenz; er hat sich den Aufgebahrten, auch dies ist von tiefer Symbolik, vom Siegestor her durch die mit Feuerpylonen erhellte Ludwigstraße genähert. Nach ihm werden Tausende an den Särgen vorbeidefilieren. Unmittelbar vor dieser Szene hatte Hitler seinen alten Mitkämpfern im Bürgerbräukeller unter einem Orkan des Jubels zugerufen: Seit 2000 Jahren ist zum ersten Mal ein Reich, ein Volk, ein Heer und eine Fahne. Wahrhaftig, das Opfer der 16 Helden vor der Feldherrnhalle war nicht sinnlos. Wenn sie nicht als erste eingestanden wären für eine Idee, niemals hätte diese Anhänger finden können5. Alles an diesem nächtlichen Schauspiel ist auf Wirkung berechnet, soll Ergriffenheit erzeugen und den Zuschauern ein nachhaltiges Gemeinschaftsgefühl vermitteln: ein ganz großer Augenblick, hält Goebbels in seinem Tagebuch fest, so gut und wirkungsvoll wie nie gemacht16. Hier wird, jenseits aller christlichen Vorstellungen und doch in charakteristischer Weise von ihnen geprägt, ein Mythos von Tod und Auferstehung begründet, dessen Bezugspunkt die rassisch verstandene Volksgemeinschaft und dessen Prophet Adolf Hitler ist: Statuenhaft steht er vor den Sarkophagen, selber einer, der über das Maß des Irdischen bereits hinausgewachsen [ist], kommentiert der „Völkische Beobachter" und faßt seinen Gesamteindruck in nachgerade hymnischer Sprache zusammen: Das ist die Stunde, deren Größe den Frieden der Vollendung in sich trägt. Glaube und Erfüllung, Tod und Leben, Sinnbild und Wirklichkeit durchdringen sich in diesem Geschehen. Die 16 Männer, die in München vor zwölf Jahren für ihr Volk und ihren Führer das Opfer des Lebens wagten, kehren aus den Gräbern zurück. Wer spürte nicht die Wirklichkeit ihrer Auferstehung?17 Aber dies soll kein einmaliges Ereignis sein: Hitler will vielmehr eine Tradition begründen, aus diesen Toten die sechzehn ersten Märtyrer der Bewegung machen, deren Opfer hinfort, für alle Zeiten, über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg, von ganz Deutschland gefeiert werden soll18. Noch aber steht der Höhepunkt der Feierlichkeiten bevor: Der alljährliche, von der Blutfahne, dem heiligsten Feldzeichen der Bewegung, angeführte Gedenkmarsch vom Bürgerbräukeller zur Feldherrnhalle wird in diesem Jahr die sechzehn Särge feierlich in die beiden am Königsplatz eigens errichteten Ehrentempel überführen. Dort sollen die toten Helden in immittelbarer Nähe des Braunen Hauses die ewige Wache beziehen. 14

Abbildung ebd. S. 356. Völkischer Beobachter Nr. 314 vom 10. November 1935. 16 Eintrag vom 9. November 1935, hier zitiert nach Joseph Goebbels. Tagebücher 1924-1945, hrsg. von Ralf Georg REUTH, Bd. 3: 1935-1939, München-Zürich 1992, S. 907. 17 Wie Anm. 15. 18 Völkischer Beobachter Nr. 315 vom 10. November 1936, auch zitiert bei H. G. HOCKERTS (wie Anm. 13) S. 331. 15

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Nach der Ankunft der Marschformation mit den Sarkophagen werden in einem letzten Appell die Namen der Gefallenen verlesen, an deren Stelle jeweils das tausendfach gebrüllte Hier der zur feierlichen Vereidigung angetretenen NS-Formationen antwortet19 Auch dies ist eine Szene von unübersehbarer Symbolkraft, erwächst sie doch wie die Sendung des Führers aus der geheimnisvollen Vermählung deutscher Jugend mit dem Erbe der Toten20. Wieder überschlägt sich der „Völkische Beobachter" in pseudoreligiöser Ergriffenheit. Ein Leitartikel Gunter d'Alquens greift tief in das Reservoir sakraler Vorstellungen und Sprachwendungen, indem er die Münchener Auferstehungsfeier als Gottesdienst ohne Kirchenglocken und Orgelklang interpretiert, als Gottesdienst mit Fahnen und Trommeln, mit Gleichschritt und Sang, eben auf nationalsozialistische Weise als ein Dank freier, gläubiger Männer, die den Schwur der Treue in der Verpflichtung zum Werk und im Ausdruck und Bekennen der geleisteten Aufgaben und Lebenserfüllung erblicken. Man spürt aus den Zeilen des Kommentators, der erst kürzlich zum Hauptschriftleiter des SS-Organs „Das Schwarze Korps" berufen worden war, eine nahezu unbegrenzte Glaubens- und Hingabebereitschaft, wie sie für zahllose NSAnhänger, namentlich im Umfeld der SS und des SD, kennzeichnend war. Sie hatte den Gegenstand ihrer Verehrung freilich in einer sehr irdischen Größe: in Adolf Hitler und seiner Sendung. Der Dank an den Führer für diesen unvergeßlichen Tag und seine heilige Symbolik von deutscher Auferstehung und deutscher Ewigkeit mündet denn auch in das Versprechen, offenen Auges und gläubigen Herzens den Weg [zu] gehen, den wir durch seine Weisung fanden. Die Bewegung hatte jedenfalls mit diesen Ehrentempeln eine neue Mitte, München eine Wallfahrtsstätte erhalten21.

II. Brauner Kult Der Verlauf der Feierlichkeiten, die kultische Inszenierung und die verwendeten Symbole, der prozessionsartige Gedenkmarsch, die Überfuhrung der Gefallenen, der im Angesicht der Toten geleistete Treueschwur der Tausende sowie das einschlägige Vokabular - Märtyrer, Glauben, Opfer, Auferstehung, Wallfahrtsstätte - lassen keinen Zweifel, daß uns der Nationalsozialismus hier mit einem religiösen oder sagen wir vorsichtiger: quasireligiösen Gesicht entgegentritt. Es zählt zu den weniger bekannten Seiten des „Dritten Reiches", deren Erforschung noch nicht sehr weit fortgeschritten ist22. 19

Völkischer Beobachter Nr. 314 vom 10. November 1935. Ebd. Dort auch die folgenden Zitate. 21 Völkischer Beobachter Nr. 313 vom 9. November 1935. 22 An neueren Studien vgl. neben den in Anm. 3, 4 und 9 genannten Sammelbänden sowie den in Anm. 10 und 12 angeführten Monographien insbesondere Klaus VONDUNG, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1 9 7 1 ; Heinz HURTEN, Nationalsozialismus als Religion, in: DERS., Deutsche Katholiken 1918-1945, Paderborn 1992, S. 299314; Peter REICHEL, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München-Wien 31996; Claus-Ekkehard BARSCH, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred 20

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Man faßt es am besten im Begriff des „braunen Kults" (H.-J. Gamm), jenem Ensemble von Erscheinungsformen, mit denen das Regime sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren pflegte, um die erstrebte rassische Volksgemeinschaft auch auf emotionalem Wege herzustellen, durch Massensuggestion oder Weckung von Massenbegeisterung und deren Ausrichtung auf den Führer. „Kult" ist hier also nicht im engeren Sinne als liturgisch-zeremoniell geregelte Verehrung Gottes oder einer Gottheit zu verstehen, weshalb Hitler ihn im übrigen ablehnte23, sondern im weiteren Sinne der feierlichen Selbstinszenierung des Regimes: einer Präsentation, die sich gleichermaßen an Herz und Sinn wandte, mit Worten, Sprechchören, szenischen Darstellungen, durch Bilder und Bauten, Massenaufmärsche und Feste. Mittelpunkt dieser Bemühungen ist Hitler selbst, dessen Berufung es ist, die Deutschen aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu neuer Größe und Herrlichkeit zu fuhren. Zentrales Ziel dieser Selbstdarstellungen war es also, über die Weckung von Gemeinschaftsgefühl die Übereinstimmung von Führer und Geführten, ja die begeisterte Verehrung, die Hitler entgegenschlug, stets von neuem zum Ausdruck zu bringen24. Feiern und Feste mit dezidiert politischem Anspruch waren im Alltagsleben die auffallendsten Beispiele nationalsozialistischen Selbstdarstellungswillens. Sie erweisen sich als Bestandteile eines braunen Feierjahres, das mit dem Tag der Machtergreifung am 30. Januar begann und in den geschilderten Feierlichkeiten des 9. November seinen äußeren Höhepunkt fand. Dieses Feierjahr präsentierte sich ebenso sehr in Analogie wie in Konkurrenz zum kirchlichen Festkalender, der offenkundig „auf längere Sicht" ersetzt werden sollte25. Dieser Verdrängungsversuch konnte skurrile Züge annehmen, wenn ein christlicher Festinhalt im „Deutschen Bauernkalender" nationalsozialistisch umgedeutet wurde (Heiligabend als Baldurs Lichtgeburt)26 oder man - wie beim Erntedankfest - auf germanisch-vorchristliche Formen zurückgriflf27 So hielt die SS bis in Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998. - Ein erster überzeugender Versuch, einen der NS-typischen Herrschaftsträger, den Sicherheitsdienst der SS, als „dialektische Einheit von Weltanschauung und praktischer Tat" mit der Deutungskategorie der „politischen Religion" zu analysieren, jetzt bei Wolfgang DIERKER, Die Religionspolitik des SD. Studien zur Ideologie und Praxis des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS, phil. Diss. Bonn 2000. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lutz HACHMEISTER, Der Gegnerforscher: die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998. 23 K. VONDUNG, Magie und Manipulation (wie Anm. 22), S. 43. 24 Zur Deutung dieses Vorgehens im Sinne von Max Webers Erklärungsmodell der charismatischen Herrschaft vgl. unten S. 240 f. 25 Η. G. HOCKERTS (wie Anm. 13), S. 333; vgl. auch K. VONDUNG, Magie und Manipulation (wie Anm. 22), S. 74-87, sowie DERS., „Gläubigkeit" im Nationalsozialismus, in: H. MAIER / M . SCHÄFER, Totalitarismus Π (wie Anm. 3), S. 18 f. 26

27

H . HORTEN ( w i e A n m . 2 2 ) , S. 3 0 3 .

Zum Denken des in diesem Zusammenhang besonders interessierenden Reichsbauernftihrers Richard Walther Darre vgl. Frank-Lothar KROLL, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1998, S. 157-205. Die Kategorie der „politischen Religion" spielt bei Krolls Analysen des Geschichtsdenkens von Adolf Hitler, Alfred Rosenberg, Heinrich Himmler, Joseph Goebbels und dem genannten Darre indessen nur eine untergeordnete Rolle; auch das in Anm. 26 nachgewiesene Beispiel findet bei Kroll keine Erwähnung. - Zur zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Germanentümelei vgl. etwa Konrad ALGERMISSEN, Germanentum und

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den letzten Kriegswinter daran fest, das Weihnachtsfest durch eine Julfeier zu ersetzen, die für Führer und Männer zu einem Erlebnis der Kameradschaft im Geiste der SS gestaltet werden sollte. Selbst bekannte Weihnachtslieder wie „Es ist ein Ros' entsprungen" wurden zu diesem Zweck umgedichtet28. Mit dem zum Feiertag erklärten 1. Mai griffen die Nationalsozialisten indessen auch Traditionen der organisierten Arbeiterbewegung auf und stellten sie in den Dienst einer rassistischen Volksgemeinschaftsideologie. Ein zweiter Festzyklus, die sogenannten Lebensfeiern, entwickelte sich gleichfalls in bewußter Abgrenzung zu kirchlichen Feiern wie Taufe, Konfirmation/Kommunion, Trauung oder Beerdigung, während ein dritter, namentlich von der HJ gepflegter Feiertyp, die Morgenfeiern, ganz unverhohlen die christliche Morgenandacht oder den Sonntagsgottesdienst ersetzen sollten. Dieser nationalsozialistische Festkreis überzog bald flächendeckend das Land, und selbst wenn man angesichts der nur kurzen Dauer des Regimes die Wirkung als eher begrenzt einschätzen wird, ist der Anspruch, die politische Gleichschaltung der Gesellschaft auf kulturell-weltanschaulicher Ebene fortzusetzen und die Kirchen zu verdrängen, doch unverkennbar29. Wie die Feiern selbst waren auch die dabei verwendeten Gestaltungselemente zwar unterschiedlichen Ursprungs, doch von stets eindeutiger Aussagekraft: Feuer, Licht, Pylonen, Fahnen, Auskleidung von Veranstaltungsräumen in „sprechenden" Farben, der auf den jeweiligen Feiertyp abgestimmte Einsatz von Musik, darunter auch geistlicher, sodann die geschickte Nutzung moderner Verstärkungs- und Übertragungstechnik, überhaupt eine (fast) perfekte Veranstaltungsregie bis hin zu den Lichtdomen auf den Nürnberger Reichsparteitagen - alles dies verrät einen bewußten Gestaltungswillen, der auf die Massen eine eigentümliche Faszination ausübte. Das Regime suchte also keineswegs nur durch „schönen Schein" die häßliche, terroristische Seite seiner Herrschaft zu überdecken, sondern bezog die Bevölkerung auf massenpsychologisch geschickte Weise in seinen Machtanspruch ein, indem es die politisch-gesellschaftliche Alltagswirklichkeit ästhetisch überhöhte und alle Sehnsüchte und Hoffnungen durch Einordnimg in die rassisch verstandene Volksgemeinschaft zu erfüllen versprach30.

Christentum. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frömmigkeit, Hannover 1934; Anton STOMMER, Von germanischer Kultur und Geistesart. Deutsche Vergangenheit als Bildungsgut, Regensburg 1934; DERS., Die deutsche Volksseele im christlich-deutschen Volksbrauch, München 1935. 28 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD [Kaltenbrunner] an alle Dienststellen von Sicherheitspolizei und SD. Verteiler D, z. Hd. der Dienststellenleiter persönlich, Berlin, 17. November 1944. Kopie durch fidl. Vermittlung von Dr. G. Wiemers (Leipzig), im Besitz des Verf. 29 K. VONDUNG, Gläubigkeit (wie Anm. 24), S. 19 f.; DERS., Magie und Manipulation (wie Anm. 22), S. 8 7 - 1 0 4 ; zuletzt W . DIERKER ( w i e A n m . 2 2 ) , S. 4 3 8 m i t A n m . 2 5 1 . 30

Zum Vorstehenden namentlich P. REICHEL passim (wie Anm. 22).

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III. Nationalsozialistische Gläubigkeit Nun fiel nicht nur einem zeitgenössischen Beobachter wie Romano Guardini auf, daß der nationalsozialistische Feierstil bis in die Formen, Symbole, Worte hinein den religiösen Kern des Menschen ansprach und an seine Glaubens- und Hingabebereitschaft appellierte31. Die Feiern sollten „primär Glaubensbekenntnis sein"32, nur aus der Wiedergeburt einer Glaubensgemeinschaft könne überhaupt das Elend unseres Volkes überwunden werden, hatte schon 1928 ein völkischer Seher prophetisch verkündet und den Rassismus zur Glaubensgemeinschaft erklärt33. So wurde Glaube zu einer zentralen Vokabel im Wortschatz der Nationalsozialisten. Wer Glauben im ... Herzen hat, der hat die stärkste Kraft der Welt! trommelte Hitler seinen Zuhörern immer wieder ein34, meinte freilich den „Glauben an Deutschland und das deutsche Volk" 35 . In Regieanweisungen der Reichspropagandaleitung zur Feiergestaltung wird die Formel vorgeschlagen: Ich glaube an den Nationalsozialismus und an die Partei als Trägerin dieser Gedanken, der erste Satz eines nationalsozialistischen „Credo"36. In der Klimax Glaube-Bekenntnis-Einsatz-Opfer zogen sich solche Appelle vom täglichen HJ-Dienst bis in die Durchhalteparolen des Zweiten Weltkriegs, wenngleich die Mobilisierungsbereitschaft der Bevölkerung mit Kriegsbeginn spürbar erlahmte37. Aus dem Gesagten dürfte bereits deutlich geworden sein, daß in der nationalsozialistischen Vorstellungswelt „nicht mehr der personale Gott" des Christentums den Gegenstand gläubiger Hingabe und Verehrung bildete38, sondern rein diesseitige Ziele seinen Platz eingenommen hatten. Hitler selbst sprach eher verschleiernd von einem ungeheuren Gewaltigen, einer Allmacht..., die so unerhört und tief [sei], daß wir Menschen sie nicht zu fassen vermögen, um zu umschreiben, was der Nationalsozialismus unter Gottgläubigkeit verstehe39. An die Stelle der auf ein „Jenseits" gerichteten Erlösungshoffnung ist der Blut-und-Boden-Mythos getreten. Er hat seinen ausschließlichen Bezugspunkt auf Erden, in den Deutschen als „auserwähltem Volk", Adolf Hitler als 31 Vgl. Romano GUARDINI, Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik. Eine theologischpolitische Besinnung, Zürich 1946; Winfried HOVER, Schrecken und Heil. Aspekte politischer Zeiterfahrung bei Romano Guardini, in: H. MAIER, Totalitarismus I (wie Anm. 4), S. 171-181, hier 177. 32

K. VONDUNG, Gläubigkeit (wie Anm. 24), S. 20.

33

Hanns JOHST, Ich glaube! Bekenntnisse, München 1928, S. 36, hier zitiert nach K. VONDUNG, Gläubigkeit (wie Anm. 24), S. 23. 34 Zitiert ebd. S. 21. 35 Ebd. S. 17. Die dort zitierte Berliner Rede Hitlers vom 2. November 1932 jetzt in: Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, Bd. V/2: Oktober 1932 - Januar 1933, hg. und kommentiert von Christian HARTMANN und Klaus A. LANKHEIT, München 1 9 9 8 , S. 1 4 9 - 1 6 6 , hier 1 5 5 158. 36

Zitiert bei K. VONDUNG, Gläubigkeit (wie Anm. 24), S. 18 mit Anm. 6. Ebd. S. 21. 38 So W. HOVER (wie Anm. 31) in Wiedergabe der zeitgenössischen Beobachtung Romano Guardinis. 39 Zitiert nach Max DOMARUS, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, 2 Bde. in 4 Halbbden., Bd. 1/2, Wiesbaden 1973, S. 761-763, Zitat 762 (Rede 37

vom 23. November 1937).

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ihrem Führer und dem als Lebensraum zu erkämpfenden „gelobten Land" im Osten. Gestützt auf die unerschütterliche Sicherheit und Festigkeit [seines] Programms40 will Hitler die Deutschen ihrem irdischen Glück entgegenfuhren, dessen Erreichbarkeit er mit mathematischer Sicherheit glaubt voraussagen zu können. Die sakrale Aura, mit der der Nationalsozialismus diesen Mythos umgab, von heiligem Volk, ewigem Reich oder der Stimme des Blutes sprach und ihn auf unzähligen Schulungsveranstaltungen autoritativ propagierte, unterstreicht unzweideutig, daß hier eine Weltanschauung mit quasireligiösem Verbindlichkeitsanspruch verkündet wurde. Von ihr erhält auch der „Kult um die toten Helden" seinen unverwechselbaren Platz. Er erweist sich nämlich als „Ursprungs-" oder „Gründungsmythos"41. Ein zeitgeschichtliches Ereignis, eben der fehlgeschlagene November-Putsch, wird in einen Sieg der Idee umgedeutet. Sie bedurfte, um wirken zu können, des Opfers, des Opfers der Märtyrer von 1923. Die sechzehn Toten und ihr Glaube an Deutschland sind gleichsam Saatkörner, die ins Erdreich gelegt wurden, mit Adolf Hitlers Machtübernahme aufgegangen sind und nunmehr reiche Frucht tragen. Das Wort aus dem Ersten Johannesbrief (5.4): Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat begegnet lediglich in charakteristischer Umformung, wie umgekehrt der Wiederaufstieg Deutschlands in der überlieferten religiösen Sprache als Auferstehung und Erlösung gedeutet wird. So kann sich der Glaube an das Werk Adolf Hitlers42 auf das Beispiel der Helden des 9. November berufen statt auf das Vorbild von Heiligen, muß sich ansonsten aber vorhandener sakraler Sprachformen und religiöser Vorstellungen bedienen, weil keine anderen zur Verfügung stehen. Letzteres hat auf die Zeitgenossen gelegentlich vernebelnd gewirkt, namentlich auf solche, die an eine Vereinbarkeit von Nationalsozialismus und Christentum glaubten, ja hat vereinzelt „zu dem Fehlschluß verleitet ..., in [Hitler] einen heimlichen Exponenten und gar Vollender des Katholizismus zu sehen"43. Hitler hat durch sein von taktischen Erwägungen bestimmtes Verhalten wenig zur Aufklärung beigetragen.

IV. Die Perspektive der Fremdwahrnehmung: Nationalsozialismus als politische Religion Die Neuartigkeit innerweltlicher Erlösungsverheißungen durch politische Bewegungen ist schon zeitgenössischen Kritikern als gemeinsame Erscheinungsform bei Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus aufgefallen und durch Begriffe wie „politische Religion" oder „Säkularreligion" gekennzeichnet worden44. Eric Voegelin interpretiert von einem anthropologischen Ansatz her alle drei totalitären Bewegungen als 40

Adolf HITLER, Mein Kampf, XXV. Auflage, München 1933, S. 513.

41

V g l . S. BEHRENBECK ( w i e ANM. 1 2 ) , S. 7 7 - 1 9 3 .

42

Völkischer Beobachter Nr. 313 vom 9. November 1935. So namentlich Friedrich HEER, Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, München-Esslingen 1968; das Zitat bei W. DIERKER (wie Anm. 22), S. 103. 44 Vgl. oben S. 226 f. mit Anm. 10. 43

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„Produkte von Säkularisierungsvorgängen in den typischen verspäteten Nationen Europas", und er attestiert ihnen einen je eigenen pseudoreligiösen Anspruch, weil sie „ihren politischen Zusammenhalt aus massenwirksamen Ideologien der Klasse oder Rasse, der Ökonomie oder des Blutes zu gewinnen" gesucht hatten45. Ihm war bewußt, daß sich dies am Nationalsozialismus mit besonderer Deutlichkeit aufzeigen ließ, wo die „Volksgemeinschaft als Einheit gemeinsamen Blutes" das Referenzobjekt gläubiger Hingabe bildete und zugleich, anstelle Gottes, zur „Legitimierungsquelle" alles politischen Handelns wurde46. Daß sich die totalitären Bewegungen der Zwischenkriegszeit nicht allein hinsichtlich ihres grenzenlosen Herrschaftswillens, sondern auch durch ihren quasireligiösen Anspruch ähnelten, ist indessen auch anderen zeitgenössischen Beobachtern aufgefallen. Der eingangs zitierte Hermann Heller Schloß bereits aus der Rückgängigmachung der herkömmlichen Scheidung von weltlicher und geistlicher Gewalt auf eine „radikale Absage an das Christentum"47, während Franz Werfel drei Jahre später (1932) Kommunismus und Nationalsozialismus als „zwei Äste" eines ,,naturalistische[n] Nihilismus" deutete, als zwar - im jüdisch-christlichen Sinne - „radikal antireligiöse, jedoch religionssurrogierende Glaubensarten", die entschieden mehr zu sein beanspruchten als lediglich „politische Ideale"48. Bei Raymond Aron begegnen Kennzeichnungen wie „religion politique" oder auch „religion seculiere" nahezu gleichzeitig mit Voegelins Überlegungen, wenn sie auch stärker „in der Tradition liberaler Totalitarismuskritik" wurzeln49. Ahnliche Gedanken äußert Mitte der 30er Jahre auch der liberale „Manchester Guardian". Das Blatt findet das Totalitäre am Nationalsozialismus bezeichnenderweise nicht in dessen Herrschaftspraxis, sondern im weltanschaulichen Anspruch: „The totalitarian state cannot tolerate any allegiance, whether temporal or spiritual, other than allegiance to itself. There can be no divided loyalties in the Third Realm". Den Grund sieht der Kommentator im Selbstverständnis, näherhin im absoluten Wahrheitsanspruch des Nationalsozialismus, den er ebenso wie den Marxismus als „secular religion" interpretiert50. Noch weiter geht Anfang 1935 der britische Ökumeniker Joseph H. Oldham, der aus dem prinzipiell grenzenlosen Autoritätsanspruch des totalitären Staates auf dessen Absicht schließt, „to be not only a state but also a Church"51. Andere Totalitarismusforscher wie Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski operieren eher beiläufig mit der analytischen Kategorie der „secular religion". Sie betonen in besonderer Weise die Bedeutung des Terrors, sehen aber auch, daß im Zugriff der politischen Macht auf den Bereich der Sinndeutung ein entscheidendes freiheitsbedrohendes Moment liegt. Hannah Arendt hingegen hat diesen Ansatz ausdrücklich ver45

Zitiert nach H. MAIER, Totalitarismus I (wie Anm. 4), S. 243. K. VONDUNG, Gläubigkeit (wie Anm. 25), S. 16 mit Nachweis der Belegstellen bei E. VOEGELIN. 47 Wie Anm. 6. 48 Franz WERFEL, Können wir ohne Gottesglauben leben?, in: DERS., Zwischen oben und unten, Stockholm 1946, S. 65-148, hier 84 f., zitiert bei H. MAIER, Politische Religionen (wie Anm. 11), S. 304 f. 46

49

H. MAIER, Totalitarismus I (wie Anm. 4), S. 243.

50

M. HUTTNER (wie Anm. 10), S. 92-98, Zitat 95. Zitiert ebd. S. 281.

51

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worfen. Für sie ist der „entwurzelte und atomisierte Massenmensch" gerade deshalb „der fiktiven Welt" der politischen Heilsbewegungen anheimgefallen, weil er zuvor alle Bindungen „der jenseitigen und der diesseitigen Welt" verloren hat52. Eben dies bestreitet Waldemar Gurian entschieden. Er betont, daß das NS-Regime jedes abweichende Sozialverhalten, somit auch Konflikte zwischen nationalsozialistischer Weltanschauung und christlichem Gewissen, kriminalisiert habe. Wörtlich: „Es gibt keine Glaubensmärtyrer mehr, es gibt nur noch Devisenschieber, politisierende Geistliche und sich aus egoistischen Gründen zankende Pastoren"53.

Y. Die Selbstwahrnehmung: Nationalsozialismus als „Kirche" Nun sind diese Kennzeichnungen, denen sich unschwer noch weitere anfügen ließen, von außen, aus der „Fremdwahrnehmung der Gegner"54, an den Nationalsozialismus sowie den Kommunismus und Faschismus herangetragen worden, sie geben nicht deren Selbstverständnis wieder. Weder Lenin noch Mussolini oder Hitler haben sich als Religionsstifter verstanden. Hitler hat in „Mein Kampf ausdrücklich seinen Spott über die völkischen Johannesse ausgegossen, die über politische Organisationen eine religiöse Reformation erreichen wollten55. Daher brach er mit frühen völkischen Weggefahrten wie Erich Ludendorff oder Arthur Dinter, als ihm dies opportun erschien, hielt später Distanz zu Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts"56, den er als reine Privatarbeit hinstellte, oder machte sich (wie Goebbels) über den Ahnenkult der SS und Himmlers Germanentümelei lustig, die er fur abseitig hielt57. Dem politischen Führer, heißt es apodiktisch in „Mein Kampf', haben religiöse Lehren und Einrichtungen seines Volkes immer unantastbar zu sein5*, was allerdings nicht bedeutete, daß Kirchen und Religionsgemeinschaften vom Totalitätsanspruch seiner Bewegung ausgenommen gewesen wären. Genau das Gegenteil war der Fall. Im übrigen gab Hitler sich 1928 überzeugt, daß sich das Schicksal unseres Volkes, zumindest als Rasseproblem, ... schneller ent52 53 54

55

Ebd. S. 144 f. Zitiert bei H . HORTEN (wie Anm. 22), S. 301. H. MAIER, Totalitarismus I (wie Anm. 4), S. 238.

A. HITLER, Mein Kampf (wie Anm. 40), S. 398. 56 Vgl. Alfred ROSENBERG, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltungskämpfe unserer Zeit, München 1930; Raimund BAUMGÄRTNER, Weltanschauungskampf im Dritten Reich. Die Auseinandersetzung der Kirchen mit Alfred Rosenberg, Mainz 1977; F.-L. KROLL (wie Anm. 27), S. 101-153; zur Position Rosenbergs im nationalsozialistischen Herrschaftsgefüge Reinhard BOLLMUS, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970. 57 Vgl. etwa Hans Günter HOCKERTS, Die Goebbels-Tagebücher 1932-1941. Eine neue Hauptquelle zur Erforschung der nationalsozialistischen Kirchenpolitik, in: Dieter ALBRECHT u. a. (Hrsg.), Politik und Konfession. Festschrift fiir Konrad Repgen, Berlin 1983, S. 359-392, hier 365. 58 A. HITLER, Mein Kampf (wie Anm. 40), S. 365.

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scheiden werde, als die Durchführung einer religiösen Reformation dauern würde59. Daran hielt er bis zuletzt fest. In scheinbarem Widerspruch zu dieser wiederholt bekundeten religionsschöpferischen Abstinenz steht eine erst aus den Goebbels-Tagebüchern bekanntgewordene Geheimrede Hitlers auf dem Obersalzberg vom 5. August 1933, deren Wortlaut wir bislang nicht kennen. Darin muß er vor den Gauleitern scharf gegen die Kirchen vom Leder gezogen und angekündigt haben: Wir werden selbst eine Kirche werden60. Welche konkrete Gestalt diese nationalsozialistische Kirche haben sollte, welchen dogmatischen Inhalt ihre Lehre, blieb zu Hitlers Lebzeiten unbestimmt. Vieles spricht allerdings dafür, daß hierunter kein neues institutionelles Gefüge, gleichsam eine nationalsozialistisch inspirierte „Gegenkirche" zu den (noch) bestehenden christlichen Kirchen zu verstehen ist. Ende 1935 hielt Goebbels bedauernd fest: Eine Kirche sind wir leider noch nichfy, aber im Januar 1940 notierte er schon zustimmend, der Führer fühle sich nicht als der kommende Reformator, sei bzgl. eines Kirchenersatzes ... sehr skeptisch und halte die Zeit für noch nicht reif62. Immerhin schwelgte der Propagandaminister in Träumen, wenn er mit Hitler Neubaupläne für Berlin diskutierte, in denen anstelle von Kirchengebäuden monumentale Hallen vorgesehen waren: Die Hallen bekommen Glocken, sie werden die Kirchen der Zukunft r Solche Überlegungen richteten sich nicht nur auf die äußere Gestalt der Kirche. Aus zahlreichen internen Äußerungen Hitlers, wie sie die Goebbels-Tagebücher oder die „Monologe im Führerhauptquartier" überliefern, wird hinreichend deutlich, daß Hitler das Christentum wegen seines artfremden Charakters, seines Jenseitsglaubens und seiner jüdischen Mitleidsmoral radikal ablehnte. Überhaupt hielt er es für das Tollste, das je ein Menschengehirn in seinem Wahn hervorgebracht hat, eine Verhöhnung von allem Göttlichen, wobei ihm das Göttliche ein Sammelbegriff für das Unbegreifliche war64. Knapper heißt es bei Goebbels: Der Führer ist tief religiös, aber ganz unchristlich65. Gegenüber Bormann meinte Hitler apodiktisch: Die Religion des Paulus und das von da an vertretene Christentum war nichts anderes als Kommunismus66. Man könne sich vom Christentum nicht besser lösen als dadurch, daß man es ausklingen läßf'1. Gewaltsame Lösungen schienen einstweilen nicht opportun.

59

In einem Brief vom 25. Juli 1928 an Arthur Dinter, zitiert bei H . HURTEN (wie Anm. 22), S. 300. J. Goebbels, Tagebücher (wie Anm. 16), Bd. 2: 1930-1934, S. 825 (Eintragung vom 7. August 1933). Zum Hintergrund vgl. Leonore SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Nationalsozialismus und Kirchen. Religionspolitik von Partei und Staat bis 1935, Düsseldorf 1974, S. 127-131; H. G. HOCKERTS, Goebbels-Tagebücher (wie Anm. 57), S. 364. 61 J. Goebbels, Tagebücher (wie Anm. 16), Bd. 3: 1935-1939, S. 920 (Eintragung vom 13. Dezember 1935). 62 Ebd., Bd. 4: 1940-1942, S. 1371 (Eintragung vom 17. Januar 1940). 63 Ebd., Bd. 3: 1935-1939, S. 1069 f. (Eintragung vom 17. April 1937). Zum Vorstehenden auch Η. G. HOCKERTS, Goebbels-Tagebücher (wie Anm. 57), S. 363-366. 64 A. Hitler, Monologe (wie Anm. 1), S. 151,150, 85. 65 J. Goebbels, Tagebücher, Bd. 3. 1935-1939, S. 1363 (Eintragung vom 29. Dezember 1939). 66 Zitiert bei Η. HORTEN (wie Anm. 22), S. 310. 67 A. Hitler, Monologe (wie Anm. 1), S. 84. 60

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Nach außen blieb Hitlers Verhältnis zum Christentum somit von taktischen Erwägungen bestimmt. Wenn man während des Krieges die Kirchen schon noch als reale Gegebenheiten hinnehmen mußte, war wenigstens dafür Sorge zu tragen, „daß von ihnen keine schädliche Gegenwirkung ausgehen konnte"68. Gegenüber Goebbels meinte er zynisch: Am besten erledigt man die Kirchen, wenn man selbst sich als positiver Christ ausgibt9, ein zweifelsohne authentischer „Kommentar zu Artikel 24 des Parteiprogramms der NSDAP". Den Rest würde, so Hitlers Auffassung, die Zeit besorgen. Am Ende würden die Kirchen abfaulen wie ein brandiges Glied. So weit müßte man es bringen, daß auf der Kanzel nur lauter Deppen stehen und vor ihnen nur alte Weiblein sitzen. Die gesunde Jugend ist bei uns10

VI. Weltanschauung als Religionsersatz Daß Hitler sich zwar als künftigen Erben der Kirchen, nicht aber als Religionsstifter verstand, erklärt sich aus dem besonderen Charakter seiner Weltanschauung. Mit ihr besaß Hitler nach seiner unerschütterlichen Überzeugung nicht allein ein politisches Patentrezept, sondern den Schlüssel zur Lösung der Welträtsel, zumindest insoweit diese sich dem forschenden Blick darboten und nicht in der Sphäre einer ,,numinose[n] Schicksalsmacht" verblieben71, welche er in seinen Reden als Vorsehung zu bezeichnen pflegte. Hitler sah seine Weltanschauung also im Gegensatz zum offenbarungsgläubigen Christentum auf exakte Wissenschaft und reine Diesseitigkeit gegründet . Das machte sie in seinen Augen dem christlichen Glauben überlegen, ja sie war dessen vollgültiger Ersatz, weil sie metaphysische Jenseitshoffnungen höchst real im innerweltlichen Aufstieg der deutschen Volksgemeinschaft auflöste. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, schreibt er in „Mein K a m p f , übernimmt aus dem Grundgedankengang einer allgemeinen völkischen Weltvorstellung die wesentlichen Grundzüge, bildet aus denselben, unter Berücksichtigung der praktischen Wirklichkeit, der Zeit und des vorhandenen Menschenmaterials sowie seiner Schwächen ein politisches Glaubensbekenntnis, das nun seinerseits in der so ermöglichten straffen organisatorischen Erfassung großer Menschenmassen die Voraussetzung für die siegreiche Durchfechtung dieser Weltanschauung selber schafft™ So glaubte Hitler den Siegeszug der nationalsozialistischen Weltanschauung mit geradezu mathematischer Gewißheit voraussagen zu können, beanspruchte aber gleichzeitig die ausschließliche Deutungshoheit fur seine Bewegimg. Ahnlich argumentierte 1939 auch Reichskirchenminister Kerrl mit dem grundsätzlichen Unterschied zwischen Weltanschauung und Religion, um letzterer 68

S o H. HURTEN ( w i e A n m . 2 2 ) , S. 308.

69

J. Goebbels, Tagebücher (wie Anm. 16), Bd. 3: 1935-1939, S. 1362 (Eintragung vom 28. Dezember 1939); eine leichte Variante bei H. G. HOCKERTS, Goebbels-Tagebücher (wie Anm. 57), S. 365, dort auch das folgende Zitat. 70 A. Hitler, Monologe (wie Anm. 1). S. 150. 71

72

W . HOVER ( w i e A n m . 31), S. 174.

A. Hitler, Monologe (wie Anm. 1), S. 84. 73 A. HITLER, Mein Kampf (wie Anm. 40), S. 424.

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jedweden Einfluß auf die praktischen Dinge des Lebens entschieden zu bestreiten74: Eine christliche oder gar katholische Weltanschauung kann es nicht geben und wird der nationalsozialistische Staat nicht dulden?5 Gleichwohl bediente Hitler sich bei der Propagierung seiner Weltanschauung religiöser Vorstellungen und Sprachwendungen der Zeit. Einer Aufforderung von 1928 zufolge hatten seine Anhänger sich als Kämpfer und Träger der Wahrheit zu verstehen. Sie sollten ihre Idee als ein Heer von Aposteln verbreiten, bis eines Tages die Lüge vor diesem Ansturm würde kapitulieren müssen76, während er selbst sich offenbar in der Rolle des erleuchteten Propheten sah, dazu bestimmt, mit der Fackel der Erkenntnis vor Euch herzuziehen und das Dunkel zu erhellen77. Der Nationalsozialismus besaß somit schon während der Kampfzeit jenes „pseudoreligiös-eschatologische Element"78, wodurch er aus seinem absoluten Wahrheitsanspruch seinen alleinigen Geltungsanspruch ableitete und nach der Machtübernahme, angesichts der beispiellosen Erfolgsserie Hitlers, alsbald den Charakter einer innerweltlichen Erlösungsreligion annahm. Um so mehr fallt auf, daß Hitler seine Weltanschauung auch in „Mein Kampf nicht systematisch dargelegt hat. Ihr Kern ist „ein primitiver, den Mythos von Rasse, Blut und Boden beschwörender Biologismus"79, wonach die zur Vorherrschaft bestimmte arische Herrenrasse ihre Speerspitze in den Deutschen besaß. Hitler sah seine Sendung also darin, die Deutschen in einer Volksgemeinschaft gemeinsamen Blutes zu einen und ihnen jenen Lebensraum zu verschaffen, der zum Überlebenskampf der Art notwendig war. Dieser Heilsverheißung entsprach als Negativfolie der Kampf mit den Mächten der Finsternis, näherhin die Fiktion einer Weltverschwörung gigantischen Ausmaßes, mit der angeblich das internationale Judentum und sein politischer Helfershelfer, der russische Bolschewismus, das Deutschtum niederzuringen suchten. Ihnen galt es erbarmungslos, mit dem Recht des Stärkeren und dem imbedingten Willen zum Sieg, entgegenzutreten. Das überkommene christliche Weltbild von Gut und Böse, Licht und Finsternis, einem personalen Gott und dem Teufel als Widerchrist ist also in einen rein diesseitigen Dualismus transponiert, die jüdische Mitleidsmoral des Christentums ist vom gnadenlosen Vollzug eines ewigen Rassenkampfes verdrängt, und an die Stelle Gottes tritt die Vergötzung der Volksgemeinschaft mit ihrem durch die Vorsehung be-

74

Kerrl an den Bischof von Berlin, 26. Januar 1939. Druck: Dokumente aus dem Kampf der katholischen Kirche im Bistum Berlin gegen den Nationalsozialismus, hrsg. vom Bischöflichen Ordinariat Berlin, Berlin 1948, S. 92 f. - Zu Kerrl und der Politik seines Ministeriums vgl. jetzt Heike KREUTZER, Das Reichskkchenministerium im Gefiige der nationalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf 2000. 75 Dieser in die Ausfertigung nicht übernommene Satz des Entwurfs zitiert bei H . HÜRTEN (wie Anm. 22), S. 302. 76 Rede im Bürgerbräukeller München, 23. Mai 1928, zitiert bei Claudia OERTEL, Der Aufstieg der NSDAP in Wiesbaden 1928-1933, unveröff. Magister-Arbeit, Leipzig 1999, S. 66 f. 77 Henry A. TURNER (Hrsg.), Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten 1929-1932, Frankfurt am Main 1978, S. 272, hier zitiert nach W. HOVER (wie Anm. 31), S. 171 f. 78

M . HUTTNER ( w i e A n m . 10), S. 95.

79

Ulrich VON HEHL, Nationalsozialistische Herrschaft, München 22001, S. 3.

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stimmten Führer Adolf Hitler80. Dahin wollte Hitler es bringen, daß jeder einzelne weiß, er lebt und er stirbt [nur] für die Erhaltung seiner

VII. Hitler-Mythos und Führerkult Letzte Monstrositäten Hitlerscher Vorstellungen sind freilich der Masse der Deutschen verborgen geblieben; das Bild des Führers in der Öffentlichkeit haben sie zu keiner Zeit bestimmt82. Vielmehr erwuchs Hitlers Popularität zunächst aus der beispiellosen Aufbruchsstimmung, die die NS-Propaganda seit dem Frühjahr 1933 zu erzeugen und zu vermitteln verstand, sie wurde dann durch die nicht abreißenden politischen Erfolge verstärkt, die einer Politik bedenkenlos-zynischer Ausnutzung günstiger Gelegenheiten zu verdanken waren. So wurde die Propagierung von Blut und Boden, wie sehr sie seit 1933 auch immer Verbreitung fand, doch alsbald vom „Hitler-Mythos" überlagert: Hitler als Herr des Gelingens, als neuer Heilbringer, als Meldegänger Gottes, wie es schon zu Beginn seiner politischen Laufbahn unter Anspielung auf sein Schicksal als einfacher Weltkriegssoldat geheißen hatte83. Der Führer übernahm nicht nur die Rolle, wie sie der Kaiser im wilhelminischen Obrigkeitsstaat innegehabt hatte, sondern verkörperte die Volksgemeinschaft selbst, ihre Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte; er war eben Mann aus dem Volke, wurde so zum Inbegriff des Wiederaufstiegswillens und zum Kristallisationspunkt einer fast grenzenlosen Identifikations-, ja Verehrungsbereitschaft. Und da es keine Wirkung ohne Rückwirkung gibt, die Propagierung des „Führer-Mythos" vielmehr auf ihre Urheber zurückfiel, meinte Hitler 1936 in keineswegs nur gespielter Selbstergriffenheit und umbraust vom Jubel der Zehntausende auf dem Reichsparteitag in Nürnberg: Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt, daß ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands GlückZ84 So standen die Deutschen auch dort, wo ihre Loyalitäten geteilt sein mochten, im Banne eines „Führer-Mythos", der erst gegen Kriegsende zerbrach. Statt des heute allgegenwärtigen Hinweises auf den „Aufschwung Ost" las man damals an zahllosen Baustellen: Das alles verdanken wir unserem Führer! Das Kaiserwetter der HohenzollernÄra wurde zum Hitler-Wetter, in den Schulen und in nicht wenigen Wohnzimmern ersetzten Hitler-Bilder das Kruzifix, und selbst bei den Unzuträglichkeiten des Alltags-

80

Zum Vorstehenden C.-E. BARSCH (wie Anm. 22) passim; unter Verzicht auf die pseudoreligiöse Deutungskategorie vgl. dagegen Eberhard JÄCKEL, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Tübingen 1969. 81 A. Hitler, Monologe (wie Anm. 1), S. 151. 82 Zur Deutung Hitlers mit Hilfe von Max Webers Eiklärungsmodell der „charismatischen Herrschaft" vgl. vor allem Ian KERSHAW, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980; DERS., Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München 1992; zuletzt DERS., Hitler 1889-1936. Hitler 1936-1945, [2 Bde.], Stuttgart 1998 und 2000. 83 Bezeichnungen Guardinis, zitiert bei W. HOVER (wie Anm. 31), S. 175 und 178. 84 Zitiert nach M. DOMARUS (wie Anm. 39), S. 643 (Rede vom 13. September 1936).

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lebens oder bei Zusammenstößen mit untergeordneten NS-Chargen hieß es oft entschuldigend: Wenn das der Führer wüßte/85 Hitler war sakrosankt, schien dem politischen Streit entrückt, wurde zum Gegenstand eines regelrechten Kultes. Angesichts dessen kann nicht überraschen, daß die Verehrung vielfach ins Religiöse umschlug. Im Kindergebet Händchen falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken. Der uns gibt das täglich Brot, und uns rett aus aller No?6 hat unverkennbar das Grundgebet der Christenheit Pate gestanden, und der Führer ist an die Stelle des Vater unser im Himmel getreten. Aber auch in Weihespielen oder in pseudoreligiöser Lyrik - Und wissen, daß wir ihn notwendig haben/wie Brot und Wein - wird Hitler zur heiligen Person, zum neuen Messias stilisiert87. Im täglichen Leben signalisierte der deutsche Gruß millionenfach, daß, wie Romano Guardini interpretiert, das Heil nicht nur auf Hitler kommen, sondern Hitlers Heil auch dem Gegrüßten zuteil werden sollte88. So zeigte sich die Tendenz zur Sakralisierung der Führerherrschaft im Hitler-Gruß auf unspektakuläralltägliche Weise, während sie im nationalsozialistischen Feierstil ihren feierlich-rituellen Ausdruck fand.

VIII. Charismatische Herrschaft Allerdings ist die Verehrung, die Hitler zuteil wurde, nicht allein aus seinem politischen Erfolg und der Wirksamkeit seiner Propaganda zu erklären, sondern in mindestens ebenso starkem Maße aus dem disziplinierten Gehorsam seiner Anhänger89 und aus der Glaubensbereitschaft, ja Erlösungshoffnung zahlloser Deutscher. Der Verbindung von Führergedanken und unbedingter Gefolgschaftstreue wird schon in „Mein Kampf der Sieg über die Majorität prophezeit, aber zugleich betont, daß wahres Führertum heiße, Massen bewegen zu können90. Die aus der Nachkriegsmisere geborene besondere psychische Disponibilität der Deutschen, ihre ebenso amorphe wie verbreitete Sehnsucht nach Gemeinschaft, ihr Ruf nach autoritativer politischer Führung und wirtschaftlicher Gesundung blieben Hitler dabei nicht verborgen91. Instinktsicher hatte er erkannt, daß, wie Hermann Broch formuliert, die seelischen Bedürfnisse der Massen keineswegs hinter den rationalen und materiellen Problemen zurücktreten durften92. Dem Glauben an die nationalsozialistische Weltanschauung und ihrer unermüdlichen Propagierung kommt somit ein zentraler Ort im Herrschaftsgefüge des NS-Regimes zu. Indem Hitler 85

Vgl. hierzu W. HOVER (wie Anm. 31), S. 178. Zitiert nach H. MAIER, Totalitarismus I (wie Anm. 4), S. 190. 87 Zitiert nach K. VONDUNG, Gläubigkeit (wie Anm. 25), S. 19. 88 R. GUARDINI (wie Anm. 31), S. 42, hier zitiert nach W. HOVER (wie Anm. 31), S. 178. 89 A. HITLER, Mein Kampf (wie Anm. 40), S. 662. 90 Ebd. S. 650. 91 Vgl. hierzu auch Martin BROZSAT, Soziale Motivation und Führer-Bindung des Nationalsozialismus, in: DERS., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, Neuauflage München 1988, S. 11-33. 92 Hermann BROCH, Massenpsychologie. Schriften aus dem Nachlaß. Gesammelte Werke, Bd. 9, Zürich 1959, S. 56 f., erwähnt bei K. VONDUNG, Gläubigkeit (wie Anm. 25), S. 26 f. 86

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den Deutschen nach Jahrzehnten nationaler Demütigung und materieller Entbehrung den Glauben an sich selbst zurückzugeben versprach, ihnen die Wiederherstellung einstiger Größe, die Einigung in einer Volksgemeinschaft gemeinsamen Blutes und ein Leben in Glück und Wohlstand verhieß, handelte er nur konsequent, wenn er im Gegenzug die absolute Unterwerfung unter seine Weltanschauung forderte. Denn nur sie, wurde die Propaganda nicht müde zu versichern, bot den Schlüssel zum Erfolg, und nur Adolf Hitler war es bestimmt, die Deutschen ihrer bestimmungsgemäßen Zukunft entgegenzufuhren. Das Schicksal, der Herrgott, ließ Himmler sich 1944 vor SS-Generälen in Sonthofen vernehmen, ist alle paar Jahrtausende so gnädig, daß er einem Volk den Führer schickt, den wir in Adolf Hitler haben93. Seine hieraus erwachsene „charismatische Herrschaft" war freilich, Max Webers Begriffsbestimmung zufolge, gleichermaßen an die Anerkennung durch die Beherrschten" wie die ,ßewährung" des Führers geknüpft94. Hitler stand damit unter Erfolgszwang; auch seine stetige Rücksichtnahme auf die Volksstimmung hat hier ihren Grund, wobei ihm das Beispiel des Ersten Weltkriegs warnend vor Augen stand. Mit dem Zwang zum Erfolg ließe sich auch „der permanente Drang des NS-Regimes nach akklamatorischer Bestätigung wie öffentlicher Zelebrierung, ja kultischer Überhöhimg seines Herrschaftsvollzugs" erklären95. Hans Mommsen geht so weit, die Sakralisierung des Führers und die Übernahme christlicher Formen allein instrumentell zu deuten: beides habe nur die Funktion gehabt, die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Er bestreitet dem Nationalsozialismus sogar die ideologische Substanz, „eine politische Religion' mehr als [simuliert zu haben]", und will Elemente dafür allenfalls im Rassismus der Partei erkennen96. Eben hier liegt aber der entscheidende Punkt. Angesichts der Eindeutigkeit, mit welcher der Nationalsozialismus seinen „Blut-und-Boden-Mythos" als rein diesseitige „Erlösung" propagierte, und der nicht bestreitbaren „Gläubigkeit" unter seinen Anhängern, angesichts der religiös-kultischen Dimension des braunen Feierstils und der furchterregenden Konsequenz, mit der Hitler bis in den Untergang hinein an seinen Grundüberzeugungen festhielt, ist ein quasireligiöser Zug im Nationalsozialismus schlechterdings nicht zu leugnen. So wie das nationalsozialistische Festjahr die Übereinstimmung von Führer und Geführten symbolisierte und die rassische Volksgemeinschaft im Glauben an Deutschlands Sendung vereinte, wurden gleichzeitig Rassenfremde oder politisch Mißliebige ausgegrenzt und terrorisiert, in den Kriegsjahren auch ausgemerzt. Beide Gesichter des Nationalsozialismus gehören zusammen, die Glaubensbewegung und der Terrorapparat, die „Verführung" und die „Gewalt"97. Beide 93

Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, hrsg. von Bradley F. SMITH und Agnes S. PETERSON, Frankfurt am Main 1974, S. 202 f., Zitat 202 (Rede vom 5. Mai 1944), zitiert bei C.-E. BARSCH (wie Anm. 22), S. 168 (mit allerdings falscher Datierung). 94 Max WEBER, Die Typen der Herrschaft, in: DERS., Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbbd., hrsg. von Johannes WINCKELMANN, Köln-Berlin 1964, S. 157-222, hier 179. Vgl. auch Anm. 82. 95

96

U . v . HEHL ( w i e A n m . 7 9 ) , S. 4 5 .

Hans MOMMSEN, Nationalsozialismus als politische Religion, in: H. MAIER / M. SCHÄFER, Totalitarismus Π (wie Anm. 3), S. 173-181, Zitat 175. 97 Vgl. Hans-Ulrich THAMER, Verfuhrung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986.

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bezeichnen die Janusköpfigkeit des NS-Regimes, beide sind Ausfluß einer pseudoreligiösen politischen Heilslehre mit totalitärem Herrschaftsanspruch, beide scheinen den Kulturpessimismus Jacob Burckhardts zu bestätigen, der, davon überzeugt, in einem Zeitalter der Revolutionen zu leben, für das 20. Jahrhundert lange freiwillige Unterwerfung unter einzelne Führer und Usurpatoren und gläubige Verehrung für periodisch auftretende Erlöser prophezeit hatte98.

Schluß Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, daß der Nationalsozialismus nach seinem Selbstverständnis wie seiner öffentlichen Präsentation als eine politische Bewegimg mit quasireligiösem Heils- und ausschließlichem Geltungsanspruch anzusehen ist. Dies stellt ihn auf eine Ebene mit dem Kommunismus und dem (italienischen) Faschismus. Gemeinsam war diesen totalitären Bewegungen auch die radikale Diesseitsorientierung, die Eric Voegelin als das Kennzeichen „politischer Religionen" hervorgehoben hat. Im Nationalsozialismus war die dem Christen verheißene Erlösimg durch den Tod Jesu am Kreuz einem Blut-und-Boden-Mythos gewichen, der die Arterhaltung zum einzigen Daseinszweck erhob. Einem Wort Roland Freislers zufolge hatten Christentum und Nationalsozialismus überhaupt nur das eine gemeinsam: daß sie den ganzen Menschen verlangten". Das hinderte die NS-Führung nicht, sich bei der öffentlichen Selbstdarstellung in reichlichem Maße überkommener religiöser Sprachwendungen, Vorstellungen oder kultischer Formen zu bedienen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Im übrigen blieb der dogmatische Gehalt „nationalsozialistischer Gläubigkeit" zu Hitlers Lebzeiten unbestimmt; Umrisse sind in seiner Weltanschauung greifbar. Völlig unstrittig ist, daß das Theorem der „politischen Religion" nicht das Ganze des Nationalsozialismus erklärt, sondern nur eine wichtige Seite beleuchtet, nämlich seine „Rechtfertigung ... mit Hilfe religionspsychologischer und soziologischer Kategorien"100. Die eigentümliche Faszination, die „Hitlers Herrschaft" auf einen sehr großen Teil der Deutschen ausgeübt hat, wird so besser erklärlich. Hingegen bleibt die terroristische Dimension des Regimes, also gewissermaßen die Nachtseite des „schönen Scheins" (P. Reichel), außer Betracht. Sie ist eher mit der „politologisch-strukturellfen]" Version der Totalitarismus-Theorie (E. Nolte) zu greifen, die den grenzenlosen Herrschaftsanspruch des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt stellt und nach den Instrumenten und Opfern des Terrors fragt. Beide Theoreme dienen dazu, das Dritte Reich in seiner Janusköpfigkeit angemessen zu erfassen. Vielleicht macht der Blick auf das pseudoreligiöse Gesicht des Nationalsozialismus es aber verständlicher, warum 98

Karl LÖWITH, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1961, S. 29 f. 99 Vgl. Helmuth James VON MOLTKE, Briefe an Freya 1939-1945, München 1988, S. 608; auch zitiert bei Annedore LEBER, Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 19331945, Berlin-Frankfurt/Main 1954, S. 202. 100 So H. MAIER in: DERS., Totalitarismus I (wie Anm. 4 ) , S. 2 5 0 .

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auch in seinem Falle die Emanzipation der Weltanschauung von der Moral es dem Regime erlaubt hat, „mit gutem Gewissen unmenschlich zu sein" 101 .

101

Vgl. Michael KUNZE, Straße ins Feuer. Vom Leben und Sterben in der Zeit des Hexenwahns, S. 11 f. Das hier abgewandelte Zitat lautet dort, bezogen freilich auf die Verfolgungswut im 17. Jahrhundert: „ E r s t die Emanzipation des Intellekts vom Gefühl erlaubte dem Menschen, mit gutem Gewissen unmenschlich zu sein."

HUBERT SEIWERT

Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers

Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht der Begriff Sakralität, der einen gemeinsamen Bezugspunkt der Beiträge dieses Bandes bildet. Es wird zunächst in einer kurzen theoriegeschichtlichen Einleitung auf die religionswissenschaftliche Diskussion über „das Heilige" eingegangen. In einem längeren Abschnitt wird dann der Zusammenhang zwischen Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers illustriert. Daran schließt sich die Diskussion einiger theoretischer Probleme an, die bei der Verwendimg des Begriffs Sakralität im Rahmen der religionswissenschaftlichen Theoriesprache bestehen, sowie der Versuch, Kriterien für Sakralität zu bestimmen. Im abschließenden Teil wird das Erklärungspotential der zuvor entwickelten Hypothesen anhand der Sakralisierung von Herrschaft und Sozialordnimg erläutert.

1. Einleitung: „Heilig" und „sacre" in der religionswissenschaftlichen Theoriegeschichte Ich will die theoriegeschichtliche Einleitung auf ein Minimum beschränken. Aber da der Begriff des Heiligen und seine Äquivalente zu einem zentralen Bezugspunkt der religionswissenschaftlichen Diskussion des 20. Jahrhunderts wurden, sollen wenigstens die wichtigsten Protagonisten dieser Diskussion genannt werden. Das zentrale Problem der Religionstheoretiker gegen Ende des 19. Jahrhunderts bestand, pointiert gesagt, in der Frage, wie angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Religionen etwas bestimmt werden könne, das allen Religionen gemeinsam sei. Es hatte sich gezeigt, daß die naheliegende Definition von Religion als Glaube an Gott oder Götter angesichts der ethnologischen Informationen über Religionen primitiver Völker nicht aufrechterhalten werden konnte. Einige Alternativen wurden vorgebracht: Glaube an geistige Wesen, Glauben an unpersönliche Mächte. Sie wurden jedoch von vielen ebenfalls als untauglich empfunden. In dieser Situation tauchte der Begriff des Heiligen auf, der die Probleme zu lösen schien. Schon 1898 hatte Emile Dürkheim einen Aufsatz veröffentlicht, in dem

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er den Begriff des sacre ins Zentrum seiner Religionsdefintion setzte.1 In modifizierter Form griff er diesen Ansatz in seinem religionssoziologischen Hauptwerk Les formes etementaires de la vie religieuse auf, das 1912 publiziert wurde und weitreichende Wirkung entfaltete2. Ein Jahr später, 1913, erschien in der Encyclopedia of Religions and Ethics ein langer Artikel zu „Holiness", der mit dem lapidaren Satz begann: „Holiness is the great word in religion; it is even more essential than the notion of God"3. Der Verfasser, Nathan Söderblom, zu dieser Zeit Professor fur Religionsgeschichte an der Universität Leipzig, war nicht erkennbar von Dürkheim beeinflußt. Gleiches gilt für Rudolf Otto, dessen berühmtes Buch Das Heilige 1917 erschien und die folgende religionswissenschaftliche Diskussion entscheidend beeinflußte4. Ich kann diese Diskussion hier auch nicht in Ansätzen nachzeichnen5. Festhalten möchte ich jedoch, daß Dürkheim, Söderblom und Otto drei völlig verschiedene Theorieansätze vorlegten, deren größte Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie alle um Wörter kreisen, deren semantischer Gehalt gleich oder zumindest ähnlich zu sein scheint: Le sacre, holiness, das Heilige. Dieser Schein trügt jedoch. Das Heilige ist für Rudolf Otto etwas völlig anderes als beispielsweise le sacre für Emile Dürkheim. Später kamen noch neue Bedeutungen dazu, etwa bei Mircea Eliade6. Das Ergebnis ist, daß heute weitgehend unklar ist, was gemeint ist, wenn wir von Heiligem, Heiligkeit oder Sakralität reden. Die Theorien des Heiligen gleichen einem Labyrinth7. In einem Labyrinth sind bekanntlich die meisten Wege Sackgassen oder sie fuhren im Kreis herum. Es ist nicht auszuschließen, daß der Versuch, „Religion" unter Verweis auf das Heilige zu definieren, uns in eine theoretische Sackgasse fuhrt, weil der Begriff sich bisher jeder präzisen Fassung entzogen hat. Wer Religion durch das Heilige definiert, so könnte man einwenden, tut nichts anderes als eine Unbekannte durch eine andere zu ersetzen. Um in diesem theoretischen Labyrinth nicht gleich am Anfang die Orientierung zu verlieren, werde ich mich eine zeitlang an dem Ariadnefaden der historischen Empirie festhalten und zunächst das vergleichsweise sichere Terrain der chinesischen Religionsgeschichte betreten. Nachdem wir einige Aspekte des Zusammenhangs von Herrschaft und Heiligkeit im alten China betrachtet haben, werden wir uns in die unsicheren Ge1

ßmile DÜRKHEIM, De la definition des phenomenes religieux, in: Annee Sociologique 2, 1899, S. 1-28. 2 DERS., Les formes elementaires de la vie religieuse, Paris 1912. 3 Nathan SÖDERBLOM, Holiness (General and Primitive), in: Encyclopaedia of Religion and Ethics vol. 6, ed. by J. Hastings, Edinburgh 1 9 1 3 , S. 7 3 1 - 7 4 1 . 4 Rudolf OTTO, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 31. bis 35. Auflage, München 1963. 5 Eine Sammlung von Beiträgen zu dieser Diskussion, in der allerdings wichtige Arbeiten fehlen, bietet Carsten COLPE (Hg.), Die Diskussion um das „Heilige" (= Wege der Forschung 305), Darmstadt 1977. 6 Mircea ELIADE, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Salzburg 1954; DERS., Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen (Rowohlts Deutsche Enzyklopädie 31), Hamburg 1957. 7 Einen Eindruck von der Komplexität der mit dem Begriff verbundenen theoretischen und methodischen Probleme vermittelt Carsten COLPE, Das Heilige, in: Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Matthias Laubscher (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 3, Stuttgart 1993, S. 80-99.

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wässer der Theorie wagen und versuchen, wenigstens einige der Klippen zu umsteuern, die darin verborgen sind.

2. Herrschaft und Sakralität im alten China Wenn Heiligkeit und Sakralität Begriffe sind, die uns Schwierigkeiten bereiten, so scheint es doch wenigstens, daß Herrschaft ein einigermaßen klares Konzept sei. Max Weber definiert knapp: Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden"8. So verstanden ist Herrschaft keineswegs auf politische Herrschaft beschränkt, sondern durchzieht die gesamte Gesellschaft. Diese Vorlesungsserie konzentriert sich jedoch auf eine bestimmte Form von Herrschaft, nämlich politische oder staatliche Herrschaft. Entsprechend dieser Konvention werde ich mich im folgenden mit der obersten Hierarchieebene politischer Herrschaft im alten China befassen, dem Kaiser. Claus Wilcke weist in seinem Beitrag zum Königtum im Alten Orient darauf hin, daß mit dem Begriff König, wenn er auf unterschiedliche Kulturen angewandt wird, eine Gleichartigkeit suggeriert werde, die so nicht bestehe. Der gegenwärtige spanische König habe ein andere Bedeutung als ein babylonischer König. Dieser zeichne sich unter anderem durch seine besondere Beziehung zu den Göttern aus. In dieser Hinsicht ähnliche, wenn auch im Detail unterschiedliche Konstellationen belegen auch andere Beiträge, u. a. fur Ägypten, Indien und Afrika. Ich will hier zunächst festhalten, daß die Institution des Königs (oder wie auch immer wir die jeweiligen indigenen Titel übersetzen) offenbar nicht hinreichend beschrieben ist, wenn wir sie auf die Funktion der politischen Herrschaft reduzieren. Gleiches gilt für die Institution des chinesischen Herrschers, dessen seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert gebräuchlichen Titel Huangdi wir üblicherweise mit „Kaiser" übersetzen. a. Polyfunktionalität des chinesischen Kaisertums Die Aufgaben des chinesischen Kaisers waren vielfaltig. Herrschen im Sinne Max Webers, d. h. Befehle zu geben, die dann befolgt wurden, nahm zwar sicher in der Praxis oft einen breiten Raum ein. Aber Herrschen war nicht das Ziel, sondern allenfalls ein Mittel kaiserlicher Amtsführung. Die eigentliche Aufgabe des Kaisers war die Sicherung der Ordnung des Staates und der Gesellschaft, dessen, „was unter dem Himmel ist" (tianxia), also theoretisch der ganzen Welt9. Die Welt zu ordnen und in Ordnung zu 8

Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, fünfte, revidierte Aufl., Tübingen 1972, S. 28. Von chinesischem „Kaiserreich" spricht man für die Zeit seit der Einigung des Reiches durch den ersten Kaiser Qin Shihuangdi im Jahre 221 v. Chr. bis zur Gründung der Republik im Jahre 1911. Selbstverständlich war die Herrschaftslehre während dieser mehr als zweitausend Jahre verschiedenen Einflüssen und Veränderungen unterworfen, u. a. nach der Ausbreitung des Buddhismus im ersten Jahrtausend. Trotzdem blieben die durch die Konfuzianer während der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) systematisierten und danach überlieferten Grundlagen der Herrschaftsideologie auch in 9

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halten, erforderte unter anderem die Ausübung von Herrschaft, etwa die Eliminierung derjenigen, die gegen die Ordnung verstoßen, durch Kriege und Kriminalstrafen. Aber die Ordnung der Welt, die dem Kaiser oblag, umfaßte weit mehr: Unter anderem die Festlegung der Zeit durch Kalender, die Ordnung des Raumes durch Festlegung von Distrikten, die Festlegung sozialer Ordnung durch Verleihung von Titeln und Ämtern, ja selbst die Festlegung von Kleiderregeln. Dies waren keine Nebensächlichkeiten; man braucht sich nur eine Welt vorzustellen, in der es keine Zeiteinteilung, keine Gliederung des Raumes, keine Maße und Gewichte und keine soziale Ordnung gibt, um dies zu ermessen. Natürlich haben sich die chinesischen Kaiser nicht selbst hingesetzt, um den Kalender des nächsten Jahres auszurechnen, sondern diese Aufgaben von dazu besser Qualifizierten erledigen lassen. Aber es war die Autorität des Kaisers, die dem Kalender Geltung verlieh. Übrigens war es mit der Ausübung von Herrschaft oft nicht anders. Nicht alle Kaiser haben die Herrschaft selbst ausgeübt, sei es, weil sie noch im zarten Knabenalter waren, sei es, weil sie politisch kaltgestellt waren, oder einfach, weil sie sich mehr für andere Dinge interessierten als fürs Regieren. Gleichwohl war der Kaiser unverzichtbar als Quelle der Autorität, mit der die Ordnung der Welt geregelt wurde. Wir sehen also, daß die Stellung des Kaisers nur unzureichend erfaßt ist, wenn wir sie auf die Funktion der Herrschaftsausübung reduzieren. Ob und in welchem Maße ein Kaiser wirklich persönlich geherrscht hat, war fur die politische Ordnung Chinas eher sekundär. Primär war, daß überhaupt ein Kaiser da war, weil es ohne ihn keine legitime Herrschaft gab. Der chinesische Kaiser war die Quelle jeder legitimen Herrschaft. In der Theorie war der Kaiser frei in seinen Entscheidungen, wenn auch in der Praxis mancherlei Zwänge bestehen konnten. Es gab jedoch einen Bereich seiner Aufgaben, in dem er auch der Theorie nach nicht die Spitze der Hierarchie repräsentierte, sondern eine untergeordnete Stellung einnahm. Dies war der Bereich des Kultes. Zu den Pflichten des Kaisers gehörte es, regelmäßig Opfer darzubringen, vor allem den eigenen Ahnen sowie dem Himmel (Tian) und der Erde (Z)/)10. Diese Opfer, die allein vom Kaiser (oder in seinem Auftrag) dargebracht werden konnten, waren unverzichtbar zur Erfüllung seiner Aufgabe, die Ordnung der Welt zu gewährleisten. In ihnen zeigte sich, daß die Ordnung der Welt nicht autonom war, sondern Teil einer umfassenderen Ordnung, die oft als „kosmische Ordnung" bezeichnet wird. Natürlich ist „kosmische Ordnung" eine Tautologie, weil „Kosmos" eigentlich nichts anderes bedeutet als „Ordnung". Gemeint ist hier diejenige Ordnung der Dinge, die nicht von Menschen gesetzt ist, sondern gleichsam natürlich besteht. Die Vorstellung eines Kosmos, einer kosmischen Ordnung, ist nicht spezifisch chinesisch, wir finden sie in allen Kulturen, wenn auch mit verschiedenen Inhalten. In modernen Gesellschaften wird die Ordnung des Kosmos in der Regel als den folgenden Jahrhunderten gültig. Ich beziehe mich hier in erster Linie auf die Herrschaftslehre der Han-Zeit. Vgl. dazu M. LOEWE, The concept of sovereignity, in: Cambridge History of China. Vol. 1: Ch'in and Han empires, Cambridge 1986, S. 726-746. 10 Zum staatlichen Ritualwesen in China und seiner historischen Enwicklung siehe Werner EICHHORN, Die alte chinesische Religion und das Staatskultwesen (= Handbuch der Orientalistik IV, IV, 1), Leiden / Köln 1976.

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von Naturgesetzen beherrscht angesehen. Dies ist nicht grundsätzlich verschieden von der tradtionellen chinesischen Vorstellung. Beide gehen davon aus, daß es Gesetzmäßigkeiten des Kosmos gebe, die außerhalb menschlicher Verfugungsmacht stehen, d. h. die von Menschen nicht geändert werden können. Im Unterschied zum modernen Verständnis von Naturgesetzen umfaßte die Vorstellung einer kosmischen Ordnung in China jedoch nicht nur die physikalisch beschreibbare Welt, sondern auch die soziale Welt11. Wenn zwar die Ordnung des Kosmos von Menschen nicht beeinflußt werden kann, so beeinflußt sie doch ihrerseits die Menschen. Wir können Naturgesetze mißachten, aber sie nicht außer Kraft setzen. Die natürliche Ordnung liegt außerhalb unserer Verfugungsmacht, wir müssen sie bei unserem Handeln in Rechnung stellen. Die traditionelle chinesische Vorstellung einer kosmischen Ordnung ist nicht grundsätzlich anders. Allerdings ist sie umfassender, weil sie nämlich die Welt der Menschen, d. h. die soziale Ordnung, nicht ausklammert. Auch in der Menschenwelt gelten bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die man nicht ohne Schaden mißachten kann. Wir könnten von einer natürlichen Geltung moralischer und sozialer Normen sprechen, an denen sich die Menschen zu orientieren haben. Wie steht es nun mit dem Kaiser? Haben wir nicht festgestellt, daß der Kaiser die Welt ordne? Dies bleibt natürlich richtig, muß aber jetzt in einem entscheidenden Punkt präzisiert werden: Es ist Aufgabe des Kaisers, die Welt so zu ordnen, daß sie im Einklang mit der natürlichen Ordnung ist. Der Kaiser ist zwar frei in seinen Entscheidungen, aber er ist nicht autonom. Wenn er bei der Ausübung seiner Herrschaft die Gesetze des Kosmos mißachtet, werden nicht nur er, sondern die gesamte Welt Schaden nehmen - die Welt wird in Unordnung geraten. Der Kaiser trägt somit Verantwortung für die ganze Welt, ähnlich wie ein Familienoberhaupt Verantwortung fur seine Familie trägt. Beide müssen bei der Ausübung ihrer Herrschaft bestimmte unwandelbare Gesetzmäßigkeiten beachten. Während jedoch ein Familienoberhaupt, das seine Aufgaben nicht richtig erfüllt, nur seine Familie ins Chaos stürzt, hinterläßt ein unfähiger Kaiser eine chaotische Welt. Der chinesische Kaiser muß die ganze Welt im Einklang mit der kosmischen Ordnung regieren, ja er ist selbst Teil dieser Ordnung, gewissermaßen ihr Funktionär. Sein Auftrag ist es, in der Menschenwelt die Ordnung aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen. Der chinesische Begriff ist hier: Tianming - Auftrag oder Mandat des Himmels. Der chinesische Kaiser hat das Mandat des Himmels, die Ordnung der Welt zu gewährleisten. Wenn und solange er diesen Auftrag erfüllt, ist er legitimer Herrscher; wenn er dagegen seiner Aufgabe nicht gerecht wird, verliert er die Legitimität. Der Himmel entzieht ihm das Mandat zur Herrschaft und übergibt es einem anderen, d. h. es kommt zur Gründung einer neuen Dynastie12. 11

Zum Vergleich von menschlichen Gesetzen und Naturgesetzen in China und im Westen siehe Joseph NEEDHAM, Science and civilization in China, vol. 2: History of scientific thought, Cambridge 1956, S. 518-584. 12 Die Herrschaftslegitimation durch das Mandat des Himmels scheint schon gegen Ende des zweiten vorchristlichen Jahrtausends entwickelt worden zu sein, vermutlich im Zusammenhang mit dem Sturz der Shang Dynastie durch die Zhou. Siehe dazu Herrlee G. CREEL, The origins of statecraft in China. Volume one: The Western Chou empire, Chicago / London 1970, S. 81-100.

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Nur am Rande sei vermerkt, daß diese Form der Herrschaftslegitimation eine Besonderheit aufweist, für die es schwer ist, Parallelen in anderen Kulturen zu finden. Die Legitimität des chinesischen Kaisers ist daran gebunden, daß er seine Herrschaft erfolgreich ausübt, d. h. daß es im gelingt, die Ordnung der „Welt", d. h. des chinesischen Reiches, zu sichern. Eine geordnete Welt zeigt sich u. a. darin, daß das Volk materiell hinreichend versorgt und zufrieden ist, so daß es nicht zu Aufständen kommt. Im Umkehrschluß bedeutete dies, daß Volksaufstände als Symptome für Störungen der Ordnung gelten konnten, deren Ursache zumindest in der Theorie beim Kaiser zu suchen war. Natürlich wurden in der Praxis, wie anderswo auch, Volksaufstände mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Aber wenn dies nicht gelang und ein Aufstand zum Sturz einer Dynastie führte, dann war dies ein eindeutiges Zeichen dafür, daß der Kaiser das Mandat des Himmels verwirkt hatte. Wir fmden hier also eingebettet in die Herrschaftslegitimation zugleich eine Theorie des legitimen Aufstandes und des Sturzes einer Regierung, nämlich für den Fall, daß der Kaiser seiner ihm vom Himmel übertragenen Verantwortung als Herrscher nicht gerecht wird. Auch dies ist ein Hinweis darauf, daß die chinesische Herrschaftsideologie eng verflochten war mit kosmologischen Vorstellungen, die dem Kaiser eine Sonderrolle an der Schnittstelle zwischen kosmischer und sozialer Ordnung zuwiesen. Die Herrschaftsordnung ist keine rein menschliche Regelung politischer Machtverhältnisse, sondern die Verwirklichung einer Ordnung, die die Sphäre menschlicher Autonomie übersteigt. In diesem Sinne kann man von einer transzendenten Ordnimg sprechen, die die Basis und zugleich den Maßstab für die Legitimität der politischen Ordnung bildet. Damit war zugleich die Möglichkeit gegeben, daß die aktuellen Verhältnisse als defizitär, weil nicht in Übereinstimmung mit der transzendenten Ordnung, erfahren werden konnten13. Die enge Verknüpfimg von weltlicher Herrschaftsordnung und transzendenter Ordnung bildete zugleich den Hintergrund für den staatlichen Kult, in dem diese Übereinstimmung symbolisiert und zugleich gesichert wurde. Dies soll die folgende Episode verdeutlichen.

13

Alitto interpretiert diese Transzendierung der Ordnungsvorstellungen als Revolution der „Achsenzeit" (Guy ALITTO, Orthodoxie in der chinesischen Kultur, in: S. N. Eisenstadt [Hg.], Kulturen der Achsenzeit. Π: Ihre institutionelle Dynamik. Teil 1: China, Japan, Frankfurt a. M. 1992, S. 126-174, bes. 147.) Vgl. auch die allgemeinen Überlegungen Eisenstadts zur Ablösung der Gestalt des absoluten Gott-Königs durch Konzepte des moralisch legitimierten Königtums (S. N. EISENSTADT, Dissent, heterodoxy and civilizational dynamics: some analytical and comparative indications, in: S. N. Eisenstadt / Reuven Kahane / David Shulman [Hgg], Orthodoxy, heterodoxy and dissent in India. The Hague 1984, 1-10, bes. 4 [= Religion and Society 23]). Wie oben bereits erwähnt (Anm.12), setzt die Moralisierung der Herrschaftslegitimation in China allerdings bereits um die Wende zum ersten Jahrtausend v. Chr. ein, so daß eine Verortung unter dem Rubrum „Achsenzeit" zumindest chronologisch problematisch erscheint.

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b. Die Staatsrituale des Kaisers Wudi Am 25. Dezember 104 v. Chr., dem Tag der Wintersonnenwende, begab sich Kaiser Wudi an den Fuß des Taishan-Gebirges, um den Höchsten Mächten (,Shangdi) Opfer darzubringen. Das Opfer fand in einem eigens zu diesem Zweck errichteten Gebäude statt, der Mingtang, was wahlweise als „Erleuchtete Halle" oder als „Halle der Leuchtenden (Wesen)" übersetzt werden kann. Diese Zeremonie, die in der Geschichte der Han-Dynastie mit knappen Sätzen vermerkt ist, bildete den Kulminationspunkt von Ereignissen, die sich über Jahre anbahnten14. Kaiser Wudi (regierte 141-87 v. Chr.) hatte fast vierzig Jahre zuvor als Sechzehnjähriger den Thron bestiegen und sich in den folgenden Jahrzehnten als energischer und erfolgreicher Herrscher erwiesen. Wudi war nicht nur ein kraftvoller Politiker, sondern auch zutiefst vom Glauben an die kosmologische Bedeutung des Kaisertums durchdrungen. Der Gelehrtenpapst seiner Zeit, Dong Zhongshu (179-104 v. Chr.), hatte der Theorie der Entsprechung von kosmischer und irdischer Ordnung und der zentralen Rolle des Kaisers als Vermittler zwischen beiden Ordnungen neue literarische Gestalt gegeben. Die Erfolge der Regierungstätigkeit in der Sicherung des äußeren wie inneren Friedens, die Etablierung einer neuen Verwaltungsstruktur und der wirtschaftliche Wohlstand bestärkten den Kaiser in seinem Glauben, daß er auf dem Weg sei, die Ordnung der Welt zu verwirklichen. Teil dieser Ordnimg war der staatliche Kult, der von Wudi sehr ernst genommen wurde. Er war sich seiner Abhängigkeit von höheren Mächten wohl bewußt, er hatte sogar neue Staatsopfer eingeführt und anders als die meisten seiner Vorgänger persönlich vollzogen. Als Vermittler zwischen der kosmischen und der irdischen Ordnung maß er dem Kontakt mit den höheren Mächten große Bedeutung bei. Den bisherigen Höhepunkt bildeten die gemeimnisvollen feng und shan Opfer, die Wudi im Jahre 110 alleine auf dem Gipfel des Taishan vollzogen hatte. Die Opfer in der Mngtang-Halle des Jahres 104 waren nicht weniger geheimnisvoll. Wie die feng und shan Opfer waren sie seit alters bekannt, aber niemand wußte genau, nach welchem Ritual sie korrekt vollzogen wurden. Kein Kaiser der Han-Zeit hatte sich jemals für würdig befunden, sie auszuüben. Die Gelehrten waren sich über die Form der Zeremonien nicht im klaren, auch nicht über die ritengemäße Architektur der Mingtang-Halle. Schließlich wurde eine Zeichnung präsentiert, die, wie es hieß, das Gebäude so darstellte, wie es im Altertum ausgesehen habe. Nach dieser Vorlage wurde die Halle errichtet. Wie das Ritual ausgesehen hat, das in dieser Halle vollzogen wurde, wissen wir nicht. Was wir jedoch wissen, ist, daß es ein Ritual von außerordentlicher Bedeutung war. Es markierte den Beginn einer neuen Zeit und einer neuen Ordnung. Die Jahreszählung wurde umgestellt, man zählte jetzt das Jahr eins der Ära Taichu, d. h. „Großer Anfang". Außerdem wurde ein neu berechneter Kalender eingeführt mit einem neuen Jahresanfang. Es wurde ferner verkündet, daß die Herrschaft der Han-Dynastie fortan nicht mehr dem Element Wasser entspreche, sondern dem Element Erde. Damit im Zusammenhang wurde die Farbe der Kleidung der Hofbeamten von schwarz (Was14

Vgl. dazu Michael LOEWE, The Grand Beginning - 104 BC, in: ders., Crisis and conflict in Han China 104 BC to AD 9, London 1974, S. 17-36.

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ser) zu gelb (Erde) geändert. Wichtiger fur die Beamten war vielleicht, daß sie neue Titel und Amtsbezeichnungen erhielten. Kurzum, alle Maßnahmen signalisierten den Einbruch einer neuen Ordnung, eines „Großen Anfangs". Es ist eine der Ironien der Geschichte, daß die Ära des Großen Anfangs den Beginn einer Zeit innerer und äußerer Krisen markiert, die hochgeschraubten Erwartungen des Kaisers also enttäuscht wurden. Für nicht wenige Beamte und Gelehrte war dies ein Indiz dafür, daß die Opfer in der Mmgtang-WaWe von Wudi nicht zu Recht ausgeführt worden waren. Nach ihrer Meinung bestätigte sich, was von einigen Kritikern schon im Vorfeld angedeutet worden war, daß nämlich die Herrschaft des Kaisers Wudi keineswegs in Übereinstimmung mit den Prinzipien der kosmischen Ordnung stehe, sondern im Gegenteil durch zu harte Gesetze und rücksichtslose Durchsetzung politischer Ziele gegen diese Ordnimg verstoße. Deshalb habe er auch nicht die ehrwürdigen Opfer in der Mingtang-HaWe, vollziehen dürfen, die nur einem vollkommenen Herrscher zustünden. Die Episode zeigt deutlich, daß kaiserliche Herrschaft mehr bedeutete als Befehle zu geben und dabei Gehorsam zu finden. Kaiser Wudi sah sich selbst als Beauftragter des Himmels, dem es gelungen war, die Ordnung der Welt in Einklang mit der kosmischen Ordnung zu bringen. Daraus leitete er das Recht ab, die altehrwürdigen Riten zu vollziehen, durch die die Verwirklichimg dieses Idealzustandes dokumentiert werde sollte. Seine konfuzianischen Kritiker bezweifelten jedoch, daß die von Wudi errichtete Ordnung tatsächlich den Idealen einer gerechten und vollkommenen Ordnung entspreche. Trotz dieser gegensätzlichen Bewertung war die zugrunde liegende Vorstellung die gleiche: daß nämlich der Kaiser seine Herrschaft nicht aus eigener Machtvollkommenheit ausübe, sondern als Agent einer übergeordneten transzendenten Ordnung. Die Rückbindung an eine außermenschliche Ordnung bildete damit die Basis nicht nur der Legitimität kaiserlicher Herrschaft, sondern zugleich auch legitimer Kritik an der Herrschaftsausübung, wenn auch letzteres oft nur in der Theorie. Es dürfte wenig Widerspruch geben, wenn wir diese komplexen Vorstellungen über den Zusammenhang von kosmischer und weltlicher Ordnung als ,Religiös" bezeichnen, ebenso wie die Rituale, die der Kaiser vollzog. Wahrscheinlich werden wir auch geneigt sein, hier von „Sakralität" der Herrschaft zu sprechen. Schwierigkeiten tauchen jedoch auf, wenn wir angeben sollen, was denn die Sakralität dieser Herrschaft ausmache. Ich will versuchen, anhand dieses Beispiels einige der theoretischen und methodischen Probleme zu erläutern, die die wissenschaftliche Verwendung von Begriffen wie sakral oder heilig aufwirft.

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3. Was heißt „Sakralität"? Der Versuch, „sakral" oder „heilig" als Termini der Wissenschaftssprache zu bestimmen, stößt auf eine in den Geisteswissenschaften allgemein und in der Religionswissenschaft besonders häufige Schwierigkeit: „Sakral"15 ist zunächst ein Wort, das in der Umgangssprache und oft auch in der Sprache der von uns behandelten Quellen bereits mit Bedeutung versehen ist. So wird das römisch-germanische Reich des Mittelalters in den Quellen als sacrum imperium bezeichnet. Zweifellos wäre es möglich und sinnvoll, die Bedeutung des Adjektivs sacer im mittelalterlichen Sprachgebrauch zu untersuchen. Der Ertrag einer solchen Untersuchung wäre jedoch im Kontext kulturvergleichender und theoretischer Forschung begrenzt. Denn wenn wir beispielsweise im Zusammenhang mit der Institution des chinesischen Kaisers von Sakralität sprechen, verwenden wir „sakral" nicht im Sinne des mittelalterlichen Sprachgebrauchs, sondern als Terminus unserer eigenen Wissenschaftssprache. Eine Klärung des objektsprachlichen Gebrauchs von sacer kann allenfalls bei den Forschungsgegenständen von Nutzen sein, in deren Sprache dieses Wort vorkommt. Im Chinesischen ist dies offensichtlich nicht der Fall. Sacer, sanctus, heilig, sacre, saint, sacred, holy mögen in den jeweiligen europäischen Quellensprachen eine mehr oder weniger klare Bedeutimg haben, im Chinesischen haben sie keine Bedeutung. Wenn wir also gleichwohl mit Bezug auf China bestimmte Sachverhalte als „sakral" bezeichnen, müssen wir angeben, in welchem Sinne wir als Wissenschaftler diesen Terminus benutzen. a. „Sakral" als Terminus der Wissenschaftssprache Was meinen wir also, wenn wir etwa die Opferrituale, die der Kaiser Wudi vollzog, dem Bereich des „Sakralen" zuordnen? Offensichtlich sind wir es, die bestimmte Handlungen als „sakral" qualifizieren, nicht etwa die Chinesen der Han-Zeit, die dieses Wort nicht kannten. Dies bedeutet, daß bestimmte Dinge eine Qualität besitzen, die wir als „sakral" bezeichnen. Hier stoßen wir jedoch auf ein theoretisches Problem: Die Qualität sakral verweist nämlich auf eine Bedeutung, die das kaiserliche Opferritual nicht fur uns, sondern fur die Chinesen der Han-Zeit besitzt. Für uns erscheint das Ritual als eine Abfolge von Handlungen, die für uns auch keine weitere Bedeutung besitzen, jedenfalls keine sakrale. Wenn wir das Schlachten von Tieren und begleitende Handlungen als sakralen Akt qualifizieren, dann tragen wir damit dem Umstand Rechl i c h werde im folgenden nicht mehr alternativ von „sakral" oder „heilig" sprechen, sondern im Interesse der terminologischen Eindeutigkeit nur noch von „sakral" im Sinne eines wissenschaftlichen Terminus. Dies geschieht in Anlehnung an die Terminologie der Durkheim-Schule (sacre), auch wenn damit nicht die Durkheim'sche Theorie des sacre übernommen wird. Zu den verschiedenen Wörtern indoeuropäischer und semitischer Sprachen, die im semantischen Feld von „heilig" liegen, vgl. detailliert Carsten COLPE, heilig (sprachlich), in: Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Matthias Laubscher (Hgg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1993, S. 74-80. Diese objektsprachliche Semantik ist freilich für die wissenschaftliche Terminologie nur von heuristischer Relevanz.

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nung, daß diese Handlungen für die beteiligten Personen etwa anderes, nämlich mehr bedeuten als nur die Tötung von Tieren etwa zu Zwecken der ökonomischen Verwertung. Ob wir einen Sachverhalt als „sakral" bezeichnen, hängt also wesentlich davon ab, welche Bedeutung der Sachverhalt für die beteiligten Akteure besitzt. Damit scheinen wir von einem methodischen Dilemma zu stehen: „Sakral" ist ein Prädikat, das wir im Kontext wissenschaftlicher Aussagen verwenden, das jedoch auf eine Bedeutung verweist, die auf der Objektebene besteht. Die Bedeutung des wissenschaftlichen Terminus „sakral" kann grundsätzlich nur in Sätzen der Wissenschaftssprache bestimmt werden. Wir klassifizieren damit vom Standpunkt der wissenschaftlichen Metaebene Bedeutungen, die auf der Objektebene bestehen, d. h. auf der Ebene deijenigen historischen Akteure, die Objekt unserer Untersuchung sind. Die Unterscheidung von Metaebene und Objektebene scheint auf den ersten Blick kompliziert zu sein, sie ist jedoch notwendig, um Klarheit darüber zu gewinnen, in welchem Sinn ein Begriff wie sakral im wissenschaftlichen Sprachgebrauch verwendet wird. Offensichtlich klassifizieren wir nicht bestimmte Gegenstände oder Handlungen als „sakral", sondern wir klassifizieren die Bedeutung, die diese Gegenstände oder Handlungen auf der Objektebene besitzen, als „sakral" oder „nicht sakral". Nicht das kaiserliche Opfer als Abfolge von Handlungen ist aus unserer Sicht sakral, sondern die Bedeutung, die ihm die Chinesen der Han-Zeit beimessen, wird von uns als „sakral" qualifiziert. Wenn wir also sagen, die kaiserlichen Opfer und die Institution des chinesischen Kaisers hatten sakrale Bedeutung, so nehmen wir eine wissenschaftliche Prädikation vor. Es ist deshalb auch unerheblich, ob die Chinesen selbst in ihrer Sprache ein Äquivalent zu unserem Begriff sakral hatten oder nicht. Nicht unerheblich ist freilich die Frage, unter welchen Voraussetzungen wir von „sakraler Bedeutung" sprechen. Woran erkennen wir, ob die Bedeutung eines Objektes innerhalb eines bestimmten Kontextes dergestalt ist, daß wir sie als „sakral" bezeichnen können? Hier stehen wir vor einem der zentralen Probleme der wissenschaftlichen Rede von Heiligkeit und Sakralität. Der Versuch, die Verwendung des Begriffs sakral anhand der verschiedenen religionswissenschaftlichen Theorien des Heiligen zu klären, stößt auf die schon erwähnte Schwierigkeit, daß diese Theorien von teilweise sehr unterschiedlichen, mitunter einander ausschließenden ontologischen und erkenntnistheoretischen Annahmen ausgehen. So gehen beispielsweise Rudolf Otto und Mircea Eliade von einer objektiv bestehenden Realität des Heiligen aus, während Emile Dürkheim le sacre als eine sozial bestimmte Tatsache ansieht und damit dem hier vertretenen theoretischen Ansatz am nächsten kommt. Ich werde mich deshalb dieser verschiedenen Versuche, den Begriff des Sakralen zu erläutern, im folgenden nur in eklektischer Weise bedienen, ohne zugleich die damit verbunden theoretischen oder metaphysischen Annahmen zu übernehmen. b. Indikatoren von Sakralität Fundamental ist bei fast allen Theoretikern die grundsätzliche Unterscheidung zwischen heilig und profan. Der Begriff des Sakralen hat nur einen Sinn, wenn er in seiner Opposition zum Profanen, d. h. zum Alltäglichen und Gewöhnlichen gesehen wird. Es

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scheint, als seien wir in einen der gefürchteten Rundwege des Labyrinths geraten, wenn das Sakrale als Gegensatz zum Profanen bestimmt wird und das Profane als das Nicht-Sakrale. Aber vielleicht fuhrt der Weg doch nicht nur im Kreis. Wir haben festgestellt, daß wir als sakral nicht einen bestimmten beobachtbaren Sachverhalt bezeichnen, sondern die besondere Bedeutung, die diesem Sachverhalt auf der Objektebene, also von den beteiligten Akteuren, zugeschrieben wird. Damit ist unterstellt, daß auf der Objektebene die Dinge unterschiedliche Bedeutung haben und daß es eine besondere Form der Bedeutimg gebe, die wir als sakral bezeichnen wollen. Zugleich ist damit impliziert, daß es auch Dinge gebe, die keine sakrale Bedeutung besitzen. Das Fehlen sakraler Bedeutung wird als profan bezeichnet. Unsere wissenschaftliche Unterscheidung von sakral und profan beruht also auf der Voraussetzung, daß damit Bedeutungsunterschiede erfaßt werden, die auf der Objektebene tatsächlich bestehen, auch wenn sie nicht so benannt werden müssen. Damit verschiebt sich das theoretische Problem weg von der Definition des Terminus „sakral" hin zu der Frage, ob und woran erkennbar sei, daß auf der Objektebene ein grundsätzlicher Bedeutungsunterschied zwischen sakralen und profanen Dingen bestehe. Welches sind die Indikatoren dafür, ob etwas sakrale Bedeutung besitzt? Wir wollen hier einige Antworten betrachten, die durch die bisherige Diskussion über das Heilige angeregt wurden. Es geht dabei, daran sei erinnert, nicht um die Frage, was sakral sei, sondern um die Frage, woran zu erkennen sei, daß etwas sakrale Bedeutung besitze. Da diese besondere Form der Bedeutimg den Dingen nicht inhärent ist, sondern ihnen nur im Kontext eines jeweils gegebenen Weltbildes zukommt, läßt sie sich nur durch die Rekonstruktion von Bedeutungen erkennen und nicht etwa durch die physikalische Untersuchung der Dinge, die sakrale Bedeutung besitzen. Die in den Geisteswissenschaften übliche Methode zur Rekonstruktion von Bedeutungen besteht im hermeneutischen Verfahren der Textexegese. Gibt es Aussagen, die erkennen lassen, daß ein bestimmter Sachverhalt für den Verfasser des Textes sakrale Bedeutung besitzt? In der Praxis wird diese Frage oft gelöst, indem auf die religiöse Bedeutung der jeweiligen Sachverhalte hingewiesen wird. Die implizite Gleichsetzung von „sakral" und „religiös" verschiebt freilich das Problem nur, denn eine Bestimmung von Religion oder religiös bereitet mindestens ebenso viele theoretische Schwierigkeiten wie die Klärung der Begriffe Sakralität oder heilig. Dies bedeutet nicht, daß diese Schwierigkeiten unüberwindbar seien, aber sie sind nicht unbeträchtlich, insbesondere dann, wenn wir es mit Quellensprachen zu tun haben, in denen es, wie im vormodernen Chinesischen, keine Äquivalent zu den von religio abgeleiteten europäischen Begriffen gibt16. In jedem Fall ist für unser Problem wenig gewonnen, wenn wir sakrale Bedeutung durch religiöse Bedeutung ersetzen17. In der wissenschaftlichen Diskussion wird aus verschiedenen Gründen auch meist ein anderer Ansatz gewählt, um zu bestimmen, 16

Zu den Schwierigkeiten einer Definition von „Religion" siehe Günter KEHRER, Religion, Definitionen der, in: Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Matthias Laubscher (Hgg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriff, Bd. 4, Stuttgart 1998, S. 418-425. 17 Für eine Diskussion der theoretischen Schwierigkeiten beim Versuch, religiöse Bedeutung wissenschaftlich zu bestimmen, siehe Hubert SEIWERT, 'Religiöse Bedeutung' als wissenschaftliche Kategorie, in: Annual Review for the Social Sciences of Religion 5,1981, S. 43-99.

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woran Heiliges zu erkennen sei18. Es wird versucht, die Präsenz von Heiligem anhand der Reaktionen zu bestimmen, die sie bei Menschen hervorruft. Wir können uns die Ergebnisse dieser Arbeiten zunutze machen, indem wir danach fragen, welche Formen menschlichen Verhaltens darauf schließen lassen, daß bestimmte Dinge eine sakrale Bedeutung besitzen. Ich konzentriere mich dabei auf drei Aspekte, die mir weiterführend zu sein scheinen: Rituelle Absonderung, starke Emotionen und ökonomische Verschwendung. Der Aspekt der rituellen Absonderung stellt eine Operationalisierung der Unterscheidung von sakral und profan dar. So nimmt Dürkheim an, daß in jeder religiösen Weltdeutung eine bipolare Klassifikation bestehe, nach der die Dinge entweder sakrale (sacre) oder profane Bedeutung besitzen. Sakrale Dinge seien daran zu erkennen, daß sie durch Verbote geschützt und isoliert werden. Es bestünden deshalb besondere rituelle Vorschriften, durch die geregelt werde, wie die Menschen sich gegenüber sakralen Dingen zu verhalten haben. Die profanen Dinge dagegen gehörten dem Bereich des Alltäglichen an und seien nicht durch Verbote und rituelle Regeln geschützt und abgesondert19. Die Absonderung des Sakralen äußert sich nicht selten in einer räumlichen Trennung. So bezeichnet fanum im Lateinischen einen geweihten Ort, ein Heiligtum, während profanum den Bereich bezeichnet, der außerhalb des sakralen Ortes liegt. Sehr deutlich ist die räumliche Absonderung auch im Falle des Jerusalemer Tempels. Das Allerheiligste des Tempels war fur gewöhnliche Menschen völlig verboten, Zutritt hatte nur der Hohepriester . Die besonderen rituellen Vorsichtsmaßen beim Umgang mit Dingen, die sakrale Bedeutung besitzen, werden häufig als Tabu-Vorschriften bezeichnet. Durch Tabus werden sakrale Dinge aus dem Bereich des Profanen und Alltäglichen herausgehoben. Erinnern wir uns der Opfer, die Kaiser Wudi im Jahre 110 v. Chr. auf dem Gipfel des Taishan-Berges vollzog. Niemand außer dem Kaiser allein durfte dabei anwesend sein. Wie das Allerheiligste des Jerusalemer Tempels war der Ort für gewöhnliche Menschen tabu, jedenfalls für die Zeit der Opferzeremonie. Damit wird zugleich deutlich, daß nicht nur Orte, sondern auch Zeiten sakrale Bedeutung besitzen können. Die rituellen Vorschriften, die nicht nur bei den kaiserlichen Opfern, sondern allgemein beim chinesischen Staatskult zu beachten waren, vermitteln einen Eindruck von den komplexen Regeln, durch die bestimmte Dinge als außeralltäglich und von besonderer, „sakraler" Bedeutung gekennzeichnet werden können. Von der Ebene des Kaisers bis hinab zu den Opfern, die von lokalen Beamten vollzogen wurden, mußten strenge Reinheitsvorschriften beachtet werden. Der Offiziant hatte sich bereits Tage zuvor bestimmter Speisen und des Geschlechtsverkehrs zu enthalten, um sich in einen außeralltäglichen Zustand zu versetzen. Die Zeit, in der die Opfer dargebracht wurden, 18

Ein Grund dafür, daß hermeneutische und strukturalistische Verfahren der Textanalyse bei der Diskussion um das Heilige wenig diskutiert werden, dürfte darin zu suchen sein, daß die meisten Theoretiker das Heilige als eine Realität behandeln und nicht als ein Produkt sozialer Bedeutungszuweisung. Hinzu kommt, daß die Diskussion um das Heilige sich zu einem beträchtlichen Teil auf Kulturen ohne schriftliche Überlieferung bezieht. 19 Emile DÜRKHEIM, Les formes elementaires de la religion, Paris 5 1 9 6 8 , S. 5 6 . 20 Vgl. dazu den Beitrag von Rüdiger Lux in diesem Band.

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war klar als außeralltäglich markiert. Normale Amtsgeschäfte durften an diesen Tagen nicht durchgeführt werden. Es versteht sich nahezu von selbst, daß auch der Ort der Zeremonie fur normale Menschen tabu war. Erinnert sei hier daran, daß sowohl der Kaiser als auch die Beamten Herrschaft ausübten. Wir können also feststellen, daß in China zumindest eine enge Verbindung bestand zwischen Herrschaft und Sakralität. Dies gilt zumindest dann, wenn wir rituelle Vorschriften und Tabu-Regeln als einen Indikator für sakrale Bedeutimg der Dinge ansehen, die dadurch geschützt und vom Profanen unterschieden werden. Ohne Zweifel läßt sich auch in vielen anderen Gesellschaften, in denen wir eine sakrale Bedeutung der Herrschaft annehmen, im Umfeld von Herrschaftsinstitutionen eine hohe Dichte ritueller Vorschriften und Verbote beobachten. Dies betrifft sowohl diejenigen, die die Herrschaft ausüben, als auch die, die mit ihnen in Kontakt kommen. Ein zweiter Indikator für Sakralität läßt sich vor allem aus den Arbeiten Rudolf Ottos ableiten. Danach rufen Objekte, die sakrale Bedeutung besitzen, bei den Menschen bestimmte Gefühle hervor. Für Rudolf Otto ist diese emotionale Seite geradezu der Lackmustest für die Präsenz des Heiligen. Diese „numinosen" Gefühle seien so spezifischer Art, daß derjenige, der sie nicht schon einmal selbst gehabt habe, gar nicht wissen könne, wovon die Rede sei. Man könne allenfalls andeuten, welche Art von Gefühlen durch das Heilige hervorgerufen werde: Gefühle des Schauers bis hin zur zitternden Angst (tremendum), gleichzeitig aber auch des Faszinierenden und Anziehenden (fascinans). Die Gefühle seien also gewissermaßen ambivalent, auf jeden Fall aber von ganz besonderer Art, wie sie nur durch Heiliges hervorgerufen werden können21. Ottos Bestimmimg der Präsenz des Heiligen ist innerhalb der Religionswissenschaft nicht unumstritten. Es wird nicht ohne Grund eingewandt, daß dabei das Heilige als eine ontologische Kategorie interpretiert und so eine metaphysische Position bezogen werde. Außerdem sei der Verweis auf numinose Gefühle, die nur deijenige kenne, der selbst mit dem Heiligen in Kontakt gekommen sei, ein höchst subjektives Kriterium, das sich wissenschaftlicher Nachprüfung und Diskussion entziehe. In der Tat ist es kaum entscheidbar, ob etwa Kaiser Wudi beim Vollzug seiner erhabenen Riten die von Rudolf Otto gemeinten numinosen Gefühle hatte oder nicht. Daß im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Rituale starke Emotionen aufkamen, nicht nur beim Kaiser, sondern auch in seinem Umfeld, läßt sich freilich selbst auf der Basis der begrenzten Quellen erkennen. Und natürlich liefern andere Beispiele religiöser Rituale, bei denen eine direkte Beobachtung möglich ist, Hinweise auf eine oft gesteigerte Emotionalität. Ob es sich dabei um numinose Gefühle im Sinne Rudolf Ottos handelt, ist schwer zu sagen, aber immerhin spricht einiges dafür, den emotionalen Reaktionen besondere Beachtung zu schenken, wenn wir nach Indikatoren für Sakralität suchen. Nun sind starke Gefühle sicher nicht auf den Umgang mit Sakralem beschränkt, wie jeder weiß, der einmal verliebt war. Andere Theoretiker betonen deshalb den kollektiven Charakter der Gefühle22. Ob ein Ritual, ein Gegenstand oder

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OTTO, D a s H e i l i g e , b e s . K a p . 1 u n d 2.

Zur Bedeutung kollektiver Gefühle siehe Marcel MAUSS / Henri BEUCHAT, Essai sur les variations saisonieres des societes eskimo, in: Annee sociologique 9, 1906, S. 39-132; Henri HUBERT / Marcel

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eine Institution sakrale Bedeutung besitzen, sei nicht das Ergebnis einer individuellen Entscheidung, sondern werde sozial definiert. Entsprechend rufen sakrale Orte, sakrale Zeiten oder sakrale Handlungen nicht nur bei einzelnen Individuen, sondern bei der Gemeinschaft eine Erregung der Gefühle hervor. Kollektive emotionale Erregimg wäre dann ein Indikator dafür, daß die betreffenden Dinge eine sakrale Bedeutung besitzen. Für diese Vermutung gibt es einige empirische Anhaltspunkte. In vielen Kulturen sind die großen öffentlichen Riten Anlaß ftir eine allgemeine emotionale Erregung. Festzeiten sind besondere Zeiten, in denen sich nicht nur das Verhalten der Menschen ändert, sondern auch die emotionale Gestimmtheit. Wenn starke kollektive Emotionen ein Indikator für Sakralität sind, dann müßten wir annehmen, daß die sakrale Bedeutung von Herrschaftsinstitutionen sich unter anderem daran erkennen lasse, daß sie mit starken Gefühlen verbunden sind. Ob dies tatsächlich der Fall ist, ist eine empirisch zu klärende Frage. Manches spricht dafür, daß der hohe zeremonielle Aufwand, der insbesondere die Repräsentation von Herrschaft begleitet, geeignet ist, bei den Beteiligten Gefühle und Stimmungen zu erzeugen, die in „profanen" Kontexten nicht bestehen. Ich denke hier etwa an Krönungsrituale oder auch an Rituale der Unterwerfung und der rituellen Ausübung von Herrschaft in Audienzen. Allerdings wird es die Quellenlage in vielen Fällen schwer machen, die emotionale Dimension solcher Ereignisse klar zu bestimmen. Der dritte Indikator, der darauf schließen läßt, daß etwas sakrale Bedeutung besitzt, findet in der religionswissenschaftlichen Diskussion um das Heilige bisher nur geringe Beachtimg. Es handelt sich um die ökonomische Verschwendung von Ressourcen. Es ist auffallend, daß in allen Gesellschaften mitunter beträchtliche Ressourcen für Zwecke verbraucht werden, die keinen unmittelbaren ökonomischen Nutzen haben. Der Bau von Tempeln und Kathedralen, der Einsatz von Personal, aufwendige Zeremonien und der Unterhalt von religiösen Institutionen: all dies erfordert den Einsatz beträchtlicher Mittel, die damit anderen Zwecken entzogen werden. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten handelt es sich dabei um eine Verschwendung von Ressourcen. Zumindest bei den genannten Beispielen ist offensichtlich, daß der Einsatz von Mitteln sich auf Dinge bezieht, die wir dem Bereich des Sakralen zuordnen. Wir können die hohe Investition von Ressourcen als einen Indikator dafür nehmen, daß dieser Bereich der betreffenden Gesellschaft viel wert ist, daß er für sie große Bedeutung besitzt. Die Ressourcenverschwendung für den Umgang mit Sakralem ist vielleicht das von allen bisher genannten Merkmalen offensichtlichste. Noch heute zählen für jeden Chinatouristen die Tempel und Klöster zu den bevorzugten Zielen und es dürfte wenige Länder geben, in denen religiöse Bauwerke nicht zu den aufwendigsten Zeugnissen der Geschichte gehören. Möglicherweise läßt sich die Höhe der Aufwendungen, die für sakrale Zwecke aufgebracht werden, also insbesondere für Bauwerke, Rituale und Personal, geradezu als

MAUSS, Introduction ä l'analyse de quelques phenomenes religieux, in: Revue de l'histoire des religions 58,1908, S. 162-203.

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Gradmesser für die Bedeutung nehmen, die in einer gegebenen Gesellschaft dem Sakralen beigemessen wird23. Es ist bemerkenswert, daß eine ähnliche ökonomische Verschwendimg von Ressourcen sich auch im Umfeld von Herrschaftsinstitutionen beobachten läßt. Neben Tempeln und Kathedralen zählen bekanntlich auch die Paläste der Herrscher in der Regel zu den eindrucksvollsten Bauwerken der Vergangenheit. Indes wird man Prunkentfaltung und ökonomische Verschwendung nicht in jedem Fall als einen Hinweis auf sakrale Bedeutung interpretieren. Im Unterschied zu Schlössern und Regierungspalästen sind sakrale Bauwerke einer profanen Verwendung entzogen, jedenfalls solange ihre sakrale Bedeutimg besteht. Wir müssen deshalb feststellen, daß ökonomische Verschwendung, wie sie sich nicht nur bei Bauwerken, sondern auch in aufwendigen Zeremonien und anderen Formen zeigt, keinesfalls ein hinreichender Indikator für Sakralität ist. Erst vor dem Hintergrund der Unterscheidung von sakral und profan wird der Verbrauch von Ressourcen zum Hinweis auf den relativen Wert, der dem Bereich des Sakralen beigemessen wird. Gleiches gilt im übrigen auch für die Intensität kollektiver Gefühle. Auch hier handelt es sich offensichtlich nicht um einen hinreichenden Indikator für Sakralität, denn starke kollektive Emotionen lassen sich auch in augenscheinlich profanen Kontexten beobachten. Nur in einem als nicht profan erkennbaren Kontext kann die Intensität der kollektiven Emotionen als Indikator für das Maß an sakraler Bedeutung gelten. Wir kommen somit zu dem nicht in jeder Hinsicht befriedigenden Ergebnis, daß das einzige hinreichende und zugleich notwendige Kriterium für sakrale Bedeutung die durch Verbote und rituelle Vorschriften manifestierte Unterscheidung vom Bereich des Profanen, d. h. des nicht durch Tabus geschützen alltäglichen Lebens, ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wir uns ausschließlich auf das beobachtbare Verhalten beschränken, um zu bestimmen, ob Sakralität vorliege. Die Versuchung ist deshalb groß, zusätzliche Kriterien anderer Art einzuführen, etwa die Verbindung mit bestimmten Glaubensinhalten. So scheint es naheliegend, von Sakralität dann zu sprechen, wenn ein Bezug zum Glauben an Gott oder Götter besteht. Dies mag für praktische Zwecke im Kontext historischer Forschung in den meisten Fällen ein brauchbares Kriterium sein, führt jedoch beim Versuch, sakral und Sakralität als Begriffe der religionswissenschaftlichen Theoriesprache zu bestimmen in eine Sackgasse24. Statt sich auf spezifische Inhalte des Glaubens zu beziehen, durch den sakrale Bedeutung verliehen wird was unausweichlich zu theoretischen Aporien führt 25 - , wäre es notwendig, formale 23

Zur sozialen Bedeutung der Verschwendung ökonomischer Ressourcen vgl. Marcel MAUSS, Essai sur le don. Forme et raison de l'echange dans les societes archaiques, in: Armee sociologique nouv. serie 1,1925, S. 30-186. 24 Es würde zu weit führen, dies hier im einzelnen auszuführen. Es sei hier nur darauf hingewiesen, daß Gott und Götter nicht Begriffe sind, deren Inhalt im Kontext wissenschaftlicher Aussagen bestimmbar ist (ausgenommen theologische Aussagen). Es läßt sich also wissenschaftlich nicht feststellen, daß ein gegebener Sachverhalt im Zusammenhang mit Gott oder Göttern steht. Aussagen dieser Art sind nur auf der Ebene der Objektsprache möglich und können deshalb nicht fiir eine metasprachliche Bestimmung von sakral (oder auch religiös) benutzt werden. 25 Einige dieser Aporien sind in meinem Aufsatz „Religiöse Bedeutung als wissenschaftliche Kategorie" (wie Anm. 17) behandelt.

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Kriterien zu bestimmen. Ein solches formales Kriterium, das ich hier hypothetisch einführe, ist die Reduktion von Normen auf Existenzannahmen oder, was auf das Gleiche hinausläuft, die Gleichsetzung von Bedeutung und Sein. Ich will dies am Beispiel der chinesischen Herrschaftsideologie erläutern. Wie wir gesehen haben, wurde die Stellung des Kaisers durch Verweis auf das Mandat des Himmels legitimiert. Aufgabe des Kaisers war die Ordnung der Welt. So groß auch seine Spielräume bei der Verwirklichung dieser Ordnung gewesen sein mögen, es war nicht in sein Ermessen gestellt, was als Ordnung zu gelten habe. Kaiser Wudi war der Ansicht, mit seiner Regierung diesen Idealzustand erreicht zu haben, während viele seiner Beamten anderer Meinung waren. Gemeinsam war jedoch beiden, daß sie davon überzeugt waren, es existiere eine kosmische Ordnung, an der sich auch der Kaiser bei seiner Herrschaftsausübimg zu orientieren habe. Die Normen menschlichen Handelns wurden also zurückgeführt auf eine transzendente Ordnung, die unabhängig von menschlichem Wollen und Entscheiden existiere. Jedenfalls bestimmte Bereiche des menschlichen Handelns waren durch die Existenz transzendenter Normen geregelt, unter anderm der Bereich legitimer Herrschaftsausübung. Damit besaßen diese Bereiche eine Bedeutung besonderer Art, eine Bedeutung, die wir als sakral bezeichnen können. Denn wir können im vorliegenden Fall zugleich feststellen, daß die gleichen Bereiche besonderer Bedeutung in hohem Maße durch rituelle Vorschriften und Tabus geschützt waren. Dies gilt übrigens nicht nur für die Institution der kaiserlichen Herrschaft, sondern auch beispielsweise für die der Familie und Verwandtschaft. Denn auch die richtige Beziehung zwischen Familienangehörigen wurde angesehen als durch die unwandelbare Ordnung des Kosmos vorgegeben. Die Verwirklichimg dieser Ordnung erforderte die Beachtung zahlreicher ritueller Vorschriften, insbesondere bei den Trauerriten und Opfern für die Ahnen. Wie bei den staatlichen Opfern wurde damit ein sakraler Kernbereich markiert, in dem wir auf alle oben genannten Indikatoren von Sakralität stoßen: rituelle Absonderung und Verbotsregeln, starke kollektive Emotionen und eine beträchtliche Verschwendung ökonomischer Ressourcen. Der für unsere Überlegungen entscheidende Punkt ist, daß durch die Rückführung von Normen auf eine transzendente Ordnung zugleich die Bedeutung der Dinge, auf die sich diese Normen beziehen, als Teil ihres Seins verstanden wird. Wenn es nicht in das Belieben der Menschen gestellt ist, wie sie sich bestimmten Dingen zu nähern haben, dann ist die Bedeutung dieser Dinge diesen inhärent. Es kann auf dieser Ebene der Betrachtung nicht getrennt werden zwischen dem, was die Dinge sind, und der besonderen Bedeutung, die sie besitzen. Sie sind sakral in dem Sinne, daß ihre besondere, vom Profanen unterschiedene Bedeutung unabhängig von menschlichem Wollen besteht. Daß man beim kaiserlichen Opfer an den Himmel oder auch nur beim Vollzug familiärer Riten besondere Regeln und Verbote zu beachten habe, ist nicht ins Belieben gestellt, sondern resultiert aus der Tatsache, daß die Stellung des Kaisers ebenso wie die des Familienoberhauptes Teil der kosmischen Ordnung sind. Sie haben im Rahmen der Seinsordnung eine bestimmte Bedeutung, die nicht davon abhängt, ob die Menschen diese anerkennen oder nicht. Insofern fallen Sein und Bedeutung zusammen. Eine einfache Art, diesen scheinbar komplizierten Zusammenhang verständlich zu machen, besteht darin, ihn mit modernem Verständnis von Bedeutung zu kontrastieren.

Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers

261

Max Weber hat im Zusammenhang mit der Rationalisierung von Weltbildern den Begriff der „Entzauberung der Welt" geprägt. Eine „entzauberte" Welt ist eine Welt, in der die Dinge und Vorgänge nur noch „sind" und „geschehen", aber nichts mehr „bedeuten"26. In einer entzauberten Welt haben die Dinge keine ihnen eigene Bedeutung, sie sind in sich „sinnlos". Bedeutung und Sinnhaftigkeit sind unter diesen Bedingungen erst das Ergebnis menschlicher Sinngebung. Welche Bedeutung ein Familienoberhaupt oder Herrscher haben, ist nicht durch eine vorgegebene Ordnung bestimmt, sondern durch menschliche Setzung. Sein und Bedeutung der Dinge fallen nicht mehr zusammen. Damit ist ihre Bedeutung veränderbar, wie auch die gesamte soziale Ordnung als veränderbar angesehen wird. Der Kontrast zu tradionellen chinesischen Ordnungsvorstellungen ist offensichtlich. Die soziale Ordnung und insbesondere die Herrschaftsordnung sind hier abhängig von einer prästabilen kosmischen Ordnung. Die Bedeutung zentraler Bereiche der sozialen Ordnung, wie Herrschaft oder Familie, ist damit vorgegeben. Es sind Bereiche, die gewissermaßen Teil der kosmischen Ordnung sind. Damit unterschieden sie sich grundsätzlich von den Bereichen, in denen sich menschliche Handlungsfreiheit ungehindert entfalten kann. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen beiden Bereichen findet seinen Ausdruck in rituellen Normen, Verboten und Geboten, durch die der Bereich des Unverfügbaren vom Alltäglichen abgesondert wird. Es erscheint nicht abwegig, an dieser Stelle wieder die Dichotomie von sakral und profan aufzugreifen. Wir können dann für das alte China die sakrale Bedeutung von Herrschaft auf zwei verschiedenen Ebenen bestimmen: Einerseits auf der Ebene der rituellen Verbote und Gebote, wodurch eine besondere Bedeutung der Herrschaft als außerhalb des Profanen liegend zum Ausdruck gebracht wird; andererseits auf der Ebene des Weltbildes, auf der die besondere Bedeutung der Herrschaft als ihr von Natur aus eigen und damit durch Menschen nicht veränderbar erscheint. Es muß hier offen bleiben, ob eine analoge Bestimmung sakraler Bedeutung auch in anderen historischen Kontexten möglich und fruchtbar ist. Sicher wird man auch in vielen anderen Fällen feststellen können, daß die sakrale Bedeutung von Herrschaft einhergeht mit ritueller Absonderung und einer Rückführung auf Normen, die als außerhalb menschlicher Verfügungsgewalt stehend gelten. Die Frage der Generalisierbarkeit der hier formulierten Hypothesen kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter behandelt werden.

26

WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 8), S. 308.

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Hubert Seiwert

4. Sakralisierung von Herrschaft und Sozialstruktur Ich habe bisher versucht, Sakralität konsequent als einen Begriff der wissenschaftlichen Theoriesprache zu entwickeln. Sakral und Sakralität sind Begriffe, deren Bedeutung wir im Kontext wissenschaftlicher Aussagen bestimmen, wobei es unerheblich ist, ob ähnliche Begriffe auch in den Quellen selbst vorkommen. Obwohl dieser methodische Ansatz in der Religionswissenschaft wie in den meisten historisch orientierten Wissenschaften ungewohnt ist und zu scheinbar überflüssigen Komplikationen fuhrt, entspricht er der Logik systematischer und vergleichender Wissenschaften. Auch in anderen Fällen, etwa bei Herrschaft, halten wir es für unerheblich, ob in den Quellensprachen ein analoger Begriff vorkommt, ohne deshalb darauf zu verzichten, Herrschaftsverhältnisse in unterschiedlichen Kulturen zu untersuchen. Was Herrschaft sei, wird im Rahmen der Wissenschaftssprache definiert. Mit Sakralität ist es nicht anders, wenngleich das Unterfangen ungleich schwieriger ist, weil es sich dabei um einen theoretischen Begriff handelt, der sich nicht auf unmittelbar beobachtbare Tatsachen bezieht, sondern auf die Bedeutung, die bestimmten Dingen beigemessen wird. Bedeutungen aber lassen sich nicht beobachten, sondern nur durch Interpretation erschließen. Der theoretische Aufwand, der hier betrieben wurde, läßt sich freilich nur rechtfertigen, wenn zumindest angedeutet wird, in welchen Erklärungszusammenhängen ein so entwickelter Begriff von Sakralität einen Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis leisten kann. Offensichtlich läßt sich mit einem intuitiv bestimmten Begriff von Sakralität, der etwa das Verhältnis von Herrschaft und Göttlichkeit ins Zentrum setzt, in aller Regel problemlos historisch arbeiten. Allerdings ist es schwierig, auf dieser Basis bestimmte Fragen der systematischen Religionswissenschaft zu behandeln. Wenn wir die Sakralität von Herrschaft durch den Bezug zu Gott oder Göttern als gegeben ansehen, kommen wir leicht zu dem Schluß, daß es sich dabei um nichts anderes handele als um eine vormoderne und in gewissem Sinne unaufgeklärte Form der Herrschaftslegitimation. Es mag von gewissem historischen Interesse sein, welche aus heutiger Sicht falschen Vorstellung Menschen vergangener Kulturen von Göttern und ihrer Beziehung zum Herrscher hatten. Wenn wir allerdings nach Erklärungen dafür suchen, weshalb Sakralisierung von Herrschaft eine über Jahrtausende in zahlreichen Kulturen verbreitete Erscheinung war, führt uns dieser Ansatz nicht viel weiter als zu der Feststellung, daß dies der damaligen Vorstellungswelt entsprach. Ich will hier in Anlehnung an Emile Dürkheim die These vertreten, daß es extrem unwahrscheinlich ist, daß eine soziale Institution über lange Zeit und in vielen Kulturen Bestand hat, die nichts weiter ist als ein Irrtum, eine falsche Vorstellung von der Welt27. Dies bedeutet im vorliegenden Fall die Hypothese, daß die Sakralisierung von Herrschaft und der damit meist einhergehende beträchtliche Einsatz ökonomischer Ressourcen Effekte hat, die sich als für die betreffende Gesellschaft konstruktiv erweisen. Der lange Bestand sakraler Herrschaftsordnungen in Ägypten, China und Japan deutet jedenfalls daraufhin, daß dieses Modell historisch durchaus erfolgreich war.

27

Vgl.

DÜRKHEIM,

Les formes elementaires de la religion (wie Anm. 19), S. 3.

Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers

263

Der Erfolg sakraler Herrschaftsordnungen ist leichter erkennbar, wenn wir uns nicht auf die Inhalte der damit verbundenen Weltbilder konzentrieren, sondern die Auswirkungen auf das soziale Handeln in den Blick nehmen. Hier können die oben entwickelten theoretischen Gesichtspunkte hilfreich sein. Danach ist der primäre Indikator sakraler Bedeutung die Unterscheidung vom Bereich des Profanen, die durch die Befolgung strenger ritueller Reglements manifest und damit auch sinnlich erfahrbar gemacht wird. Der sakrale Bereich wird damit als ein besonderer Bereich gekennzeichnet, der oft im wörtlichen, in jedem Fall aber im übertragenen Sinne unantastbar ist. Darüber hinaus wird der Bereich sakraler Bedeutung in vielen Fällen gleichsam doppelt gesichert: Nicht nur die sakralen Dinge selbst sind unantastbar, sondern auch die Tatsache, daß sie sakrale Bedeutimg besitzen, ist Teil ihrer Natur und damit als Realität vorgegeben. Daß der Herrscher sakrale Bedeutimg besitzt, wird dann nicht als Folge menschlicher Entscheidung begriffen, sondern als eine unabänderliche Tatsache, die der bestehenden Ordnung der Welt entspricht. Ob diese Ordnung von Gott oder Göttern geschaffen ist oder aus sich besteht, ist dabei sekundär. Wir können die Sakralisierung von Herrschaft als einen Sonderfall der Sakralisierung sozialer Normen interpretieren. Herrschaftsordnung äußert sich in Normen, Rechten und Pflichten, sowohl des Herrschers als auch der Untertanen. Zumindest im Falle staatlich organisierter Gesellschaften ist die Anerkennung der mit Herrschaftsinstitutionen verbundenen Normen von strategischer Bedeutung fur den Bestand der staatlichen Ordnung. Normen sind soziale Tatsachen in dem Sinne, daß sie unabhängig vom Willen des einzelnen bestehen und soziales Handeln regeln. Dies gilt freilich nur, solange ihre Geltung allgemein anerkannt ist. Gleichzeitig sind soziale Normen - zumindest nach heute vorherrschender Ansicht - aber Produkte sozialen Handelns. Sie bestehen nicht wie Naturgesetze unabhängig von Menschen, sondern sind gesellschaftlich produziert. Deshalb sind soziale Normen auch veränderbar, es könnten auch andere Normen gelten als die jeweils gültigen. Ein Vergleich der sozialen Normen in verschiedenen Gesellschaften macht dies schnell deutlich. Dies bedeutet, daß die Geltung sozialer Normen prekär ist. Natürlich gilt dies auch für die Normen, die die Herrschaftsordnung konstituieren, wahrscheinlich sogar in besonderem Maße. Denn Herrschaft ist insbesondere für die Beherrschten zuweilen unangenehm. Zugleich ist jedoch Herrschaft die Basis staatlicher Ordnung und die soziale Geltung und Anerkennung der damit verbundenen Normen Voraussetzung für den Bestand legitimer Herrschaft. Nach diesen Überlegungen ist es möglich, einige Konsequenzen von Sakralisierung für den Bestand sozialer Ordnung zu erkennen. Durch Sakralisierung werden bestimmte Bereiche der sozialen Wirklichkeit dem ungehinderten Zugriff entzogen. Normen sind, wenn und solange sie sakrale Bedeutung haben, unveränderbar. Personen sind, wenn und solange sie sakrale Bedeutung haben, unantastbar. Natürlich kann auch sakrale Bedeutung prekär werden. Denn der Glaube, daß bestimmte Dinge unabhängig von menschlichem Wollen sakral sind, kann verblassen und seine soziale Verbindlichkeit verlieren. Die sakrale Bedeutung der Institution des Herrschers oder anderer Normen ist ja nur insofern eine Realität, als sie durch gesellschaftliches Handeln konstituiert wird. Sakral sind Dinge nur, wenn und solange sie anders behandelt werden als profane Dinge. Sakralität konstituiert sich im Vollzug, d. h. im rituellen Handeln. Damit wird

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verständlich, weshalb sakrale Herrschaft notwendig mit einem oft sehr umfangreichen Komplex von Riten und Zeremonien verbunden ist. Sowohl der Herrscher selbst ist zur Befolgung zahlreicher ritueller Vorschriften verpflichtet als auch diejenigen, die mit dem Herrscher Umgang haben. Neben den Krönungszeremonien, durch die der zukünftige Herrscher in seinen neuen sakralen Status überfuhrt wird, sind es vor allem regelmäßige und meist aufwendige Opferzeremonien, durch die immer wieder ein Bereich sakraler Bedeutung konstitutiert wird, an dem der Herrscher Anteil hat. Der regelmäßige und verpflichtende Charakter dieser Riten stellt sicher, daß sakrale Bedeutung sich immer wieder im Vollzug aktualisiert und damit nicht verblaßt. Indem durch Riten die sakrale Bedeutung von Herrschaft konstituiert und konserviert wird, wird ein für die Sozialstruktur zentraler Bereich gegen leichtfertige und ungeregelte Eingriffe und Veränderung geschützt. Insofern bewirkt Sakralisierung eine Stabilisierung sozialer Strukturen. Wir wir im Falle Chinas gesehen haben, können auch andere soziale Institutionen als die staatliche Herrschaft durch Sakralisierung geschützt werden, etwa Verwandtschaftsbeziehungen. Auch hier ist der regelmäßige Vollzug von Riten zur Konstitution eines sakralen Bereichs, an der die Familie Anteil hat, wesentlich für den Erhalt sakraler Bedeutung. Wir können hier aber noch auf einen anderen Indikator sakraler Bedeutung verweisen, der oben diskutiert wurde: auf kollektive Emotionen. Der Vollzug sakraler Riten konstituiert einen Bereich außerhalb des Profanen. Die sakrale Bedeutimg der Zeit und des Ortes versetzt zugleich die Teilnehmer in einen außeralltäglichen Zustand. Dies spiegelt sich nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in ihren Gefühlen. Man kann vermuten, daß es gerade die emotionale Erregung ist, die die sakrale Bedeutung der Situation für die Teilnehmer gleichsam körperlich erfahrbar macht. Die emotionale Beteiligung fuhrt damit zu einer Verinnerlichung der Unterscheidung von sakral und profan, die so als Realität erfahren wird. Wenn, aus welchen Gründen auch immer, sakrale Riten nicht mehr eine Veränderung der Gefühle der Beteiligten bewirken, müssen wir damit rechnen, daß auch die Wirkung der Riten hinsichtlich der Konstitution sakraler Bedeutung verblaßt. In einem solchen Fall wäre die Sakralität von Herrschaft nur noch ein theoretischer oder theologischer Anspruch, aber keine soziale Realität. Ich will abschließend noch kurz auf den dritten Indikator sakraler Bedeutung eingehen, die ökonomische Verschwendung. Es braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, daß gerade im Umfeld sakraler Herrschaft der Vollzug von Riten einen beträchtlichen Einsatz von Ressourcen zur Folge hat, in manchen Fällen bis hin zu Menschenopfern28. Menschenopfer sind vielleicht das augenscheinlichste Beispiel dafür, daß durch die Inszenierung von Ritualen eine starke emotionale Erregung der Beteiligten geradezu provoziert wird. Aber auch der verschwenderische Einsatz anderer Mittel markiert die sakrale Situation deutlich als außeralltäglich und trägt zu einer Erregung der Gefühle bei. Dies gilt insbesondere in vormodernen Gesellschaften, in denen der Alltag in der Regel durch das genaue Gegenteil, nämlich eine Knappheit materieller Ressourcen, gekennzeichnet ist. Die Investition bedeutender Mittel zur Konstituierung und Aktualisierung der Sakralität von Herrschaft zeigt zugleich, daß diesem Aspekt der Herr28

Vgl. dazu den Beitrag von Adam JONES in diesem Band.

Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers

265

schaftsausübung ein eminent hoher Wert beigemessen wird. Es spricht einiges dafür, daß zumindest hinsichtlich der Stabilität der Herrschaftsordnung diese Investitionen in vielen Kulturen alles andere als sinnlose Verschwendung waren.

Anhang

Abbildungen zum Beitrag von E. Blumenthal (S. 53-61)

Abb. 1

Abb. 2 Abb. 3 Abb 4

Abb 5

Abb. 6

Abb. 7

Stele des Königs Schlange (2927-2914 v. Chr.) Paris, Louvre - Kalkstein, H. 1,45 m - aus Abydos Nach: C. Ziegler (Hrsg.), Museen der Welt - Der Louvre. Die Ägyptische Sammlung, München 1992, S. 19. Pyramiden in Giza Nach: Archiv Ägyptisches Museum der Universität Leipzig (N 1001). Horustempel in Edfu (ca. 220-50 v. Chr.) Nach: Stierlin, H., Baukunst der Pharaonen, Paris 1993, S. 184. Palast König Amenophis' m. (1388-1350 v. Chr.) in Malqata / Theben West (Luxor) Nach: Smith, W. St., The Art and Architecture of Ancient Egypt, Yale 1998, Abb. 282. Truhe des Königs Tutanchamun (1333-1323 ν. Chr.) a. Deckel b. Kasten Kairo, Ägyptisches Museum - Stuck auf Holz, L. 0,61 m - aus Theben West (Luxor) Nach: Edwards, I. E. S., Tutanchamun - Das Grab und seine Schätze, Bergisch Gladbach 1998, S. 76 f. (a); Tiradritti, F. - De Luca, Α., Die Schatzkammer Ägyptens - Die berühmte Sammlung des Ägyptischen Museums in Kairo, München 2000, S. 213 (b). Sanktuar des Großen Tempels König Ramses' 11.(1279-1213 ν. Chr.) in Abu Simbel Nach: Desroches-Noblecourt, C. - Gerster G., Die Welt rettet Abu Simbel, Berlin 1968, Abb. 24. König Ptolemaios I. (304-282 v. Chr.) mit Weihrauchopfer vor dem Gott Horns Hildesheim, Pelizaeus-Museum - Kalkstein, Η. 1,07 m - aus Hermopolis Nach: Eggebrecht, A. (Hrsg.), Antike Welt im Pelizaeus-Museum Hildesheim, Mainz 1993, Abb. 91.

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Anhang

Abb. 1 Stele des Königs Schlange (ca. 2927-2914 v. Chr.) Paris, Louvre; Kalkstein; Η. 1,45 m; aus Abydos

Abbildungen zum Beitrag von E. Blumenthal

Abb. 3

Horustempel in Edfu (ca. 220-50 v. Chr.)

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Anhang

Abb. 6

Sanktuar des Großen Tempels Ramses' II. (1279—1213) in Abu Simbel

Abbildungen zum Beitrag von E. Blumenthal

Abb. 5 Truhe des Königs Tutanchamun ( 1 3 3 3 - 1 3 2 3 ) Kairo, Ägyptisches Museum; Stuck auf Holz; L. 0,61 m; aus Theben

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Anhang

Abb. 7

Tempelrelief Ptolemaios' 1. (304—282) mit Weihrauchopfer vor Horus Hildesheim, Pelizaeus-Museum; Kalkstein; aus Hermopolis

Abbildungen zum Beitrag von H.-U. Cain (S. 123-141)

Abb. 1

Abb. 2 Abb. 3

Abb. 4 Abb. 5

Abb. 6

Abb. 7 Abb. 8

Abb. 9

Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16

Athen, Agora. Plan der kaiserzeitlichen Phase nach: Η. A. Thompson - R. E. Wycherley, The Athenian Agora, The Agora of Athens 14 (1972) Taf. 8 Athen, Agora. Modell der kaiserzeitlichen Phase nach: Thompson - Wycherley, The Athenian Agora Taf. 12 a Rom, Plan des antiken Stadtzentrums mit Kapitol (1), Forum Romanum (2), Templum Pacis (6) und Kaiserfora (Caesarforum 3, Augustusforum 4, Forum Transitorium 5, Trajansforum 7) nach: Plan von Italo Gismondi Rom, Forum Romanum. Plan der kaiserzeitlichen Phase, 1. Jh. n. Chr. nach: P. Zanker, Forum Romanum (1972) Plan Nr. VI Rom, Forum Romanum. Altar vor dem Divus Julius-Tempel: a) Grundrißplan b) perspektivische Ansicht nach: F. Coarelli, II Foro Romano 2 (1992) 230 Abb. 4 2 ^ 3 Rom, Forum Romanum. Blick auf die Frontseite des Divus Julius-Tempels nach: Foto Verfasser Rom, Forum Romanum. Rekonstruktion der Ostseite (Richter 1889) nach: F. Coarelli, II Foro Romano 2 (1992) 269 Abb. 68 Rom, Forum Augustum. Modell nach: Kaiser Augustus und die verlorene Republik, Ausstellungskatalog Berlin (1988) Abb. auf S. 164 Rom, Forum Augustum. Treppe des Mars Ultor-Tempels mit opus caementitium-Kern des Altars nach: Kaiser Augustus und die verlorene Republik, Ausstellungskatalog Berlin (1988) Abb. 59 Äugst, Plan des Forums nach: H. Drerup in: Hellenismus in Mitelitalien 2 (1976) 407 Abb.l b Äugst, Modell des Forums mit Blick auf den Haupttempel nach: R. Fellmann in: Antike Welt 24, Η. 1,1993, 50 Abb. 3 Saint Bertrand-de-Comminges, Plan des Forums nach: H. Drerup in: Hellenismus in Mittelitalien 2 (1976) 407 Abb. 1 c Djemila, Plan des alten Forums nach: G. Zimmer, Locus datus decreto decurionum (1989) 18 Abb. 5 Cosa, Plan des Forums nach: F. E. Brown, Cosa. The Making of a Roman Town (1980) Abb. 44 Ampurias, Forumstempel der cäsarisch-friihaugusteischen Phase, vgl. Abb. 15 b Ampurias, Plan des Forums: a) republikanische Phase des späten 2. Jhs. v. Chr.,

276

Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22

Abb. 23

Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26

Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29

Anhang

b) cäsarisch-frühaugusteische Phase der zweiten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr., c) augusteische Phase vom Ende des 1. Jhs. v. Chr. nach: R. Mar - J. Ruiz de Arbulo in: Stadtbild und Ideologie (1990) 146 Abb. 51 nach: R. Mar - J. Ruiz de Arbulo, Ampurias Romana (1996) Abb. auf S. 284 Baelo, Plan des Forums nach: P. Sillieres, Baelo Claudia (1995) Abb. 33 Baelo, Forum. Rekonstruktion der Tempelgruppe nach: P. Sillieres, Baelo Claudia (1995) Abb. 38 Pola, Plan des Forums, frühkaiserzeitliche Phase nach: G. Fischer, Das römische Pola (1996) 78 Abb. 15 Pola, Forum. Rekonstruktionsversuch des Tempelpodiums nach: G. Fischer, Das römische Pola (1996) 80 Abb. 16 Ostia, Plan des Forums, fhihkaiserzeitliche Phase nach: Scavi di Ostia I (1953) Abb. 30 (Detail) Ostia, Plan des Forums, hadrianische Phase nach: V. Rockel in: Die römische Stadt im 2. Jh. n. Chr. (1992) 111 Abb. 66 Ostia, Rekonstruktionsversuch des Forums mit Blick auf das hadrianische Kapitol nach: H. Schaal, Ostia (1957) Taf. XV a Timgad, Plan des Forums nach: G. Zimmer, Locus datus decreto decurionum (1989) 39 Abb. 16 Pompeji, Modell mit Blick auf das Forum nach: P. Zänker in: Trierer Winckelmannsprogramme 9 (1987) Taf. 3,2 Pompeji, Plan des Forums mit angrenzenden Gebäuden nach: P. Zanker in: Trierer Winckelmannsprogramme 9 (1987) 29 Abb. 12 Pompeji, Relief aus dem Haus des Caecilius Jucundus. Ausschnitt nach: A. Mau, Pompeji in Leben und Kunst, 2. Aufl. (1908) Abb. 23 Pompeji, zentraler Sockel auf dem Forum nach: Aufnahme F. Pirson (Sommer 1995) Marmorgruppe der kapitolinischen Trias in Palestrina, Museo Nazionale nach: Antike Welt 25, H. 2, 1994, Abb. auf S. 213

Abbildungen zum Beitrag von H.-U. Cain

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Abb. 2

Athen, Agora. Modell der kaiserzeitlichen Phase

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Anhang

Abbildungen zum Beitrag von H.-U. Cain

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