Institutionalisierung und Wandel von Herrschaft: Organisation, Strukturen und Zentralisierung 9783515134712, 9783515134729, 3515134719

Fragen der Institutionalisierung und des Wandels von Herrschaft zählen zu zentralen Anliegen historischer Forschung sowi

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German Pages 166 [170] Year 2023

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Table of contents :
Editorial
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
(Gerhard Thür) Gewalt, Zwangsvollstreckung und Rechtsstaatlichkeit im Achäischen Bund (SEG 58, 370)
(Charlotte Schubert) Ordnung und Gemeinsinn. Die Entstehung der Isonomie
(Alberto Maffi) La costituzione tirannica nella Politica di Aristotele
(Wolfgang Schuller †) Zu alten Ufern. Gedanken zum Ersten Attischen Seebund
(Kostas Buraselis) Athenischer ἐπιτάφιος λόγος und römische laudatio funebris, oder vom Gedächtnis der Vielen und der Wenigen
(Gunnar Seelentag) Die Entstehung von Institutionen der Konfliktregulierung im archaischen Griechenland aus Kooperation der Eliten
(Yves Löbel) Die politischen Zentren der bundesstaatlichen Gemeinwesen im antiken Griechenland
(Stephan Freund) ‚Zentralismus‘ versus ‚Föderalismus‘? Zum Wandel der Herrschaftsstrukturen in karolingischer und ottonischer Zeit
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Institutionalisierung und Wandel von Herrschaft: Organisation, Strukturen und Zentralisierung
 9783515134712, 9783515134729, 3515134719

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Institutionalisierung und Wandel von Herrschaft Organisation, Strukturen und Zentralisierung Herausgegeben von Stephan Freund

Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne Band 25

Franz Steiner Verlag

25

Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne Alessandro Bausi (Äthiopistik), Christof Berns (Archäologie), Christian Brockmann (Klassische Philologie), Christoph Dartmann (Mittelalterliche Geschichte), Philippe Depreux (Mittelalterliche Geschichte), Helmut Halfmann (Alte Geschichte), Kaja Harter-Uibopuu (Alte Geschichte), Stefan Heidemann (Islamwissenschaft), Ulla Kypta (Mittelalterliche Geschichte), Ulrich Moennig (Byzantinistik und Neugriechische Philologie), Barbara Müller (Kirchengeschichte), Sabine Panzram (Alte Geschichte), Werner Riess (Alte Geschichte), Jürgen Sarnowsky (Mittelalterliche Geschichte), Claudia Schindler (Klassische Philologie), Martina Seifert (Klassische Archäologie), Giuseppe Veltri ( Jüdische Philosophie und Religion) Aus dem Herausgebergremium verantwortlich für diesen Band: Werner Rieß Band 25

Institutionalisierung und Wandel von Herrschaft Organisation, Strukturen und Zentralisierung Festschrift für Martin Dreher Herausgegeben von Stephan Freund

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Pnyx Bema (Die „Pnyx“, ein von einer Parkanlage umgebener Hügel, war der Versammlungsort der athenischen Ekklesia, das „Bema“ die Rednerplattform). © akg-images / jh-Lightbox_Ltd. / John Hios Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2023 www.steiner-verlag.de Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13471-2 (Print) ISBN 978-3-515-13472-9 (E-Book)

Editorial In der Reihe Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne haben sich geisteswissenschaftliche Fächer, die u. a. die vormodernen Gesellschaften erforschen (Äthiopistik, Alte Geschichte, Byzantinistik, Islamwissenschaft, Judaistik, Theologie- und Kirchengeschichte, Klassische Archäologie, Klassische und Neulateinische Philologie, Mittelalterliche Geschichte) in ihrer gesamten Breite zu einer gemeinsamen Publikationsplattform zusammengeschlossen. Chronologisch wird die Zeit von der griechisch-römischen Antike bis unmittelbar vor der Reformation abgedeckt. Thematisch hebt die Reihe zwei Postulate hervor: Zum einen betonen wir die Kontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter bzw. beginnender Früher Neuzeit, und zwar vom Atlantik bis zum Hindukusch, die wir gemeinsam als „Vormoderne“ verstehen, zum anderen verfolgen wir einen dezidiert kulturgeschichtlichen Ansatz mit dem Rahmenthema „Sinnstiftende Elemente der Vormoderne“, das als Klammer zwischen den Disziplinen dienen soll. Es geht im weitesten Sinne um die Eruierung sinnstiftender Konstituenten in den von unseren Fächern behandelten Kulturen. Während Kontinuitäten für die Übergangszeit von der Spätantike ins Frühmittelalter und dann wieder vom ausgehenden Mittelalter in die Frühe Neuzeit als zumindest für das lateinische Europa relativ gut erforscht gelten können, soll eingehender der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Kulturen des Mittelalters im Allgemeinen auf die antiken Kulturen rekurrierten, sie fortgesetzt und weiterentwickelt haben. Diesen großen Bogen zu schließen, soll die neue Hamburger Reihe helfen. Es ist lohnenswert, diese längeren Linien nachzuzeichnen, gerade auch in größeren Räumen. Vielfältige Kohärenzen werden in einer geographisch weit verstandenen mediterranen Koine sichtbar werden, wobei sich die Perspektive vom Mittelmeerraum bis nach Zentralasien erstreckt, ein Raum, der für die prägende hellenistische Kultur durch Alexander den Großen erschlossen wurde; auch der Norden Europas steht wirtschaftlich und kulturell in Verbindung mit dem Mittelmeerraum und Zentralasien – sowohl aufgrund der Expansion der lateinischen Christenheit als auch über die Handelswege entlang des Dnepr und der Wolga. Der gemeinsame Impetus der zur Reihe beitragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besteht darin aufzuzeigen, dass soziale Praktiken, Texte aller Art und Artefakte/Bauwerke der Vormoderne im jeweiligen zeithistorischen und kulturellen Kontext ganz spezifische sinn- und identitätsstiftende Funktionen erfüllten. Die Ge-

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Editorial

meinsamkeiten und Alteritäten von Phänomenen – die unten Erwähnten stehen lediglich exempli gratia – zwischen Vormoderne und Moderne unter dieser Fragestellung herauszuarbeiten, stellt das Profil der Hamburger Reihe dar. Sinnstiftende Elemente von Strategien der Rechtsfindung und Rechtsprechung als Bestandteil der Verwaltung von Großreichen und des Entstehens von Staatlichkeit, gerade auch in Parallelität mit Strukturen in weiterhin kleinräumigen Gemeinschaften, werden genauso untersucht wie Gewaltausübung, die Perzeption und Repräsentation von Gewalt, Krieg und Konfliktlösungsmechanismen. Bei der Genese von Staatlichkeit spielen die Strukturierung und Archivierung von Wissen eine besondere Rolle, bedingt durch ganz bestimmte Weltvorstellungen, die sich z. T. auch in der Kartographie konkret niederschlugen. Das Entstehen von Staatlichkeit ist selbstverständlich nicht nur als politischer Prozess zu verstehen, sondern als Gliederung des geistigen Kosmos zu bestimmten Epochen durch spezifische philosophische Ansätze, religiöse Bewegungen sowie Staats- und Gesellschaftstheorien. Diese Prozesse der longue durée beruhen auf einer Vielzahl symbolischer Kommunikation, die sich in unterschiedlichen Kulturen der Schriftlichkeit, der Kommunikation und des Verkehrs niedergeschlagen hat. Zentrum der Schriftlichkeit sind natürlich Texte verschiedenster Provenienz und Gattungen, deren Gehalt sich nicht nur auf der Inhaltsebene erschließen lässt, sondern deren Interpretation unter Berücksichtigung der spezifischen kulturellen und epochalen Prägung auch die rhetorische Diktion, die Topik, Motive und auktoriale Intentionen, wie die aemulatio, in Anschlag bringen muss. Damit wird die semantische Tiefendimension zeitlich weit entfernter Texte in ihrem auch symbolischen Gehalt erschlossen. Auch die für uns teilweise noch fremdartigen Wirtschaftssysteme der Vormoderne harren einer umfassenden Analyse. Sinnstiftende Elemente finden sich auch und v. a. in Bauwerken, Artefakten, Grabmonumenten und Strukturen der jeweiligen Urbanistik, die jeweils einen ganz bestimmten Sitz im Leben erfüllten. Techniken der Selbstdarstellung dienten dem Wettbewerb mit Nachbarn und anderen Städten. Glaubenssysteme und Kultpraktiken inklusive der „Magie“ sind gerade in ihrem Verhältnis zur Entstehung und Ausbreitung des Christentums, der islamischen Kultur und der Theologie dieser jeweiligen Religionen in ihrem Bedeutungsgehalt weiter zu erschließen. Eng verbunden mit der Religiosität sind Kulturen der Ritualisierung, der Performanz und des Theaters, Phänomenen, die viele soziale Praktiken auch jenseits der Kultausübung erklären helfen können. Und im intimsten Bereich der Menschen, der Sexualität, den Gender-Strukturen und dem Familienleben gilt es ebenfalls, sinnund identitätsstiftenden Elementen nachzuspüren. Medizinische Methoden im Wandel der Zeiten sowie die Geschichte der Kindheit und Jugend sind weitere Themengebiete, deren Bedeutungsgehalt weiter erschlossen werden muss. Gemeinsamer Nenner bleibt das Herausarbeiten von symbolträchtigen Elementen und Strukturen der Sinnhaftigkeit in den zu untersuchenden Kulturen gerade im kulturhistorischen Vergleich zu heute. Die Herausgeber

Vorwort Dass jedes Buch sein ganz eigenen Schicksal hat, ist ein wissenschaftlicher Allgemeinplatz. Für das vorliegende gilt er aber in besonderem Maße: Das bevorstehende Ausscheiden von Martin Dreher, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des Altertums an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, aus dem aktiven akademischen Dienst nahmen Dr. Kirsten Jahn und Dr. Yves Löbel, seine beiden langjährigen Mitarbeiter, zum Anlass, für ihren akademischen Lehrer ein wissenschaftliches Kolloquium zu organisieren. Vom 31. März bis 1. April 2017 fand es statt. Prominent war die Schar der Teilnehmer. Prominent auch der Ort – der Senatssaal der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Ein Ort, an dem Martin Dreher viele Jahre lang mit Vehemenz die Interessen der Fakultät für Humanwissenschaften vertreten hat. Kirsten Jahn und Yves Löbel schlugen danach jeweils andere Wege ein. Werner Riess, Gerhard Thür und ich nahmen uns schließlich 2020 der Drucklegung der Beiträge an. Doch dann kam Corona und die Umsetzung des Vorhabens geriet in eine schwere Krise: Wolfgang Schuller, der Lehrer Martin Drehers in Konstanz, erlag der Corona-Pandemie. Bewährte Arbeitsabläufe gerieten durch die pandemiebedingten Konstellationen in große Unordnung. Doch nun ist es geschafft und der Band liegt vor. Wir alle freuen uns sehr, ihn Martin Dreher zu seinem 70. Geburtstag überreichen zu können – herzlichen Glückwunsch! Die mir angebotene Herausgeberschaft habe ich – wenngleich Mediävist – vor allem deshalb gerne akzeptiert, weil mir Martin Dreher als Kollege und bald schon Freund seit vielen Jahren in Magdeburg mehr als einmal mit Rat und Tat zur Seite stand. Den ihm gewidmeten Band zum Druck zu bringen, war mir daher Verpflichtung und Freude zugleich. Alle verbliebenen Fehler gehen zu meinen Lasten. Kirsten Jahn und Yves Löbel gilt Dank für das Kollquium und die Idee zum Band, Gerhard Thür und Werner Riess für vielfältige Ratschläge und Hilfestellungen. Werner Riess sei gedankt dafür, dass er die Aufnahme des Bandes in diese Reihe in die Wege geleitet hat, seinen Mitherausgebern für die rasche und unkomplizierte Befürwortung. Susanne Lorenz hat alle Manuskripte eingehend und höchst akribisch redigiert. Ihr

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Vorwort

gilt ein besonderes Dankeschön. Gedankt sei zu guter Letzt jedoch insbesondere den Kolleginnen und Kollegen, deren Beiträge den Band überhaupt erst möglich gemacht haben. Es war mir eine Ehre! Stephan Freund, Magdeburg, im Dezember 2022

Inhaltsverzeichnis Gerhard Thür Gewalt, Zwangsvollstreckung und Rechtsstaatlichkeit im Achäischen Bund (SEG 58, 370) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Charlotte Schubert Ordnung und Gemeinsinn Die Entstehung der Isonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Alberto Maffi La costituzione tirannica nella Politica di Aristotele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 † Wolfgang Schuller Zu alten Ufern Gedanken zum Ersten Attischen Seebund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Kostas Buraselis Athenischer ἐπιτάφιος λόγος und römische laudatio funebris, oder vom Gedächtnis der Vielen und der Wenigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Gunnar Seelentag Die Entstehung von Institutionen der Konfliktregulierung im archaischen Griechenland aus Kooperation der Eliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Yves Löbel Die politischen Zentren der bundesstaatlichen Gemeinwesen im antiken Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Stephan Freund ‚Zentralismus‘ versus ‚Föderalismus‘? Zum Wandel der Herrschaftsstrukturen in karolingischer und ottonischer Zeit . . . . . . . . 147

Gewalt, Zwangsvollstreckung und Rechtsstaatlichkeit im Achäischen Bund (SEG 58, 370)* Gerhard Thür Ein relativ neuer Text wirft ein Schlaglicht auf die rechtsstaatliche Struktur des Achäischen Bundes. Wenn ich dabei von „Rechtsstaatlichkeit“ spreche, bin ich mir dessen bewusst, dass zwar kein Staat, doch zweifellos rechtlich organisierte Herrschaft vorliegt. Der Text könnte außerdem über den rechtsstaatlichen Charakter der vertraglich vereinbarten Zwangsvollstreckung Aufschluss geben. Dabei soll, weiter ausgreifend, die Klausel πρᾶξις … καθάπερ ἐκ δίκης einer neuerlichen Betrachtung unterzogen werden. Die Inschrift, die im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, hat der Ausgräber Petros Themelis 2004 in den Ruinen des antiken Messene in situ gefunden und bereits 2008 einen Teil davon an versteckter Stelle mit neugriechischem Kommentar publiziert; damit ist die Diskussion eröffnet.1 Die endgültige Publikation des gesamten Textes mit Kommentar in englischer Sprache steht noch aus, doch bieten gerade die bereits publizierten ersten beiden Kolumnen genügend Stoff für einen Überblick über das Verhältnis von Herrschaft und Recht im hellenistischen Griechenland. Der resümierende Volksbeschluss, dorisch psaphisma, enthält einen genauen Bericht über die einzelnen Schritte eines vor mehreren Gremien hartnäckig geführten zwischenstaatlichen Gebietsstreits (Z. 1–101). Die noch nicht publizierten beiden weiteren Kolumnen, noch-

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Thema dieses Beitrags ist nicht „rule of law“ (hauptsächlich für Athen diskutiert), sondern die Gesetzmäßigkeit von staatlicher und privater Herrschaftsausübung. Grund- und Freiheitsrechte der Bürger sind ausgeklammert. Martin Dreher, dem dieser Band gewidmet ist, hat sich um dieses Problem bereits in dem Abschnitt „Eunomia-Vorstellung“ seiner Dissertation 1983, 85–86 und auch in dem Aufsatz 2005 (2007) verdient gemacht. – Der Beitrag ist in enger Zusammenarbeit und Diskussion mit Kaja Harter-Uibopuu (jetzt Hamburg), Thomas Kruse, Karin Wiedergut, Helmut Lotz (alle Wien) entstanden, die der ehemaligen Wiener „Kommission für Antike Rechtsgeschichte“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angehörten. Ihnen sei hier für zahlreiche Anregungen gedankt. Themelis 2008; dazu Arnaoutoglou 2009/10; Luraghi – Magnetto 2012; Thür 2012 (mit Korrekturen durch Youni 2012) und Thür 2013. Alle im Text nicht bezeichneten Jahreszahlen sind v. Chr.

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Gerhard Thür

mals 90 Zeilen, enthalten als Anhang zum psaphisma drei (in den Zeilen 93–101 bereits angekündete) aus den verschiedenen Verfahren hervorgegangene Dokumente: eine schriftliche Aufforderung (proklesis)2 zum Abschluss eines Schiedsvertrags, einen Strafausspruch (dorisch zamia) wegen verweigerter Mitwirkung an der Bestellung des Schiedsgerichts und einen Schiedsspruch (krima), der die verhängte Strafe für ungültig erklärt. I. Gewalt und Rechtsstaatlichkeit nach dem Befund des psaphisma Wer waren die Parteien dieser Auseinandersetzung und worum wurde gestritten? Klägerin ist die arkadische Polis Megalopolis. Sie stellt Gebietsansprüche an die Polis Messene. Es geht um das Territorium der Siedlung Andania mit dem berühmten Heiligtum des Apollon Karneios, dem Karneiasion, wo auch eine Gerichtsverhandlung stattfinden wird, und um eine weitere, nicht lokalisierte Siedlung Pylana in der fruchtbaren messenischen Stenykleros-Ebene, des Weiteren um zwei ebenfalls nicht lokalisierte Gebiete in den rauen Bergen an der arkadisch-messenischen Grenze, Akreia und Bipeia, die Akreiatis und die Bipeiatis.3 Kurz ist zunächst auf die Vorgeschichte und die Datierung der Ereignisse einzugehen. Im Hintergrund standen der Achäische Bund, der die ganze Peloponnes unter seine Kontrolle bringen wollte, und Rom. Nach einem Krieg zwischen Messene und dem Bund zwang Titus Quinctius Flamininus im Jahr 191 Messene, unter empfindlichem Gebietsverlust dem Bund beizutreten. 183/82 revoltierten die Messenier gegen den Bund, setzten den General des Bundes, den stratagos Philopoimen aus Megalopolis, gefangen und ermordeten ihn. Dessen Nachfolger Lykortas, ebenfalls aus Megalopolis – übrigens Vater des Historikers Polybios –, verwüstete Messenien, rächte sich grausam an den Rädelsführern und belegte die Burg von Messene und die Gebiete von Andania und Pylana mit einer achäischen Garnison. Schon im Sommer 182 begannen die Verhandlungen, Messene wieder in den Bund aufzunehmen. Über diese Ereignisse wissen wir durch Polybios (23.16.1–17.2; 24.9), Livius (39.50) und Plutarch (Philopoimen 19–21) ziemlich genau Bescheid.4 Vor einer Neu- oder Wiederaufnahme eines Mitglieds mussten allerdings alle Gebietsstreitigkeiten des neuen mit den alten Mitgliedern beigelegt sein. Das war die Situation, welche die Zeilen 2–11 der Inschrift 2

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Ich danke Herrn Themelis dafür, dass er mir gestattete, auf den Inhalt der noch unpublizierten proklesis hinzuweisen. Mit der in der proklesis möglicherweise vorgeschlagenen Form der Zwangsvollstreckung wird sich der zweite Teil dieses Beitrags – über den Text der Inschrift hinausgehend – beschäftigen. Zur Lokalisierung der beiden letzten im Gebirge an der arkadisch-messenischen Grenze s. Luraghi – Magnetto 2012, 526–527; Thür 2012, 303. Die Quellen sind ausführlich von Themelis 2008, 220–221 und Luraghi – Magnetto 2012, 514–521 behandelt.

Gewalt, Zwangsvollstreckung und Rechtsstaatlichkeit im Achäischen Bund (SEG 58, 370)

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schildern. Der Rest des psaphisma (Z. 11–101) handelt von den rechtlichen Schritten des Gebietsstreits.5 Bevor ich die einzelnen Schritte dieses ziemlich verworrenen Streites betrachte, ist das Dokument als solches zu charakterisieren. Die Inschrift ist ein an prominentester Stelle der Polis Messene aufgestelltes „Denkmal“ (dorisch hypomnama Z. 84–85). Der Volksbeschluss kündet nach einer militärischen Niederlage und grausamen Säuberungen in den Reihen der anti-achäischen Parteigänger Messenes von einem juristischen Sieg über die achäische Vormacht Megalopolis. Für die historische und juristische Interpretation ist deshalb Vorsicht geboten. Der Text ist nach den Kunstregeln der Rhetorik abgefasst: Widrige Fakten werden mit Stillschweigen übergangen oder im Sinne der Verfasser, der verklagten und freigesprochenen Polis Messene, zurechtgebogen. Das gleiche gilt übrigens auch für die im Anhang mitpublizierte „Aufforderung“ (proklesis) der anderen Streitpartei, Megalopolis. Da im zwischenstaatlichen Verkehr eine Polis die andere nicht vor Gericht „laden“ konnte, erging stets nur eine „Aufforderung“ an den Gegner, sich einem ‚internationalen‘ Schiedsgericht zu stellen. Die vorliegende proklesis ist ausführlich begründet, und zwar im Sinne der Klägerin, Megalopolis. Erst in Zusammenschau beider Dokumente – also nach vollständiger Publikation der Inschrift – kann ein in der attischen Gerichtsrhetorik geübter Interpret der historischen Wahrheit näherkommen, eine in der Epigraphik höchst selten anzuwendende Methode. Aufgrund dieser Überlegungen meine ich, dass der Gebietsstreit nicht mit der in den Zeilen 2–11 geschilderten ersten, den Messeniern gewidmeten Bundesversammlung der Achäer begonnen hat, sondern bereits davor. Kurz angedeutet ist das in dem Verweis auf die protera chora (das früher – streitverfangene – Land) in Z. 13. Das kann nur die bislang noch gar nicht erwähnte fruchtbare Akreiatis sein, die auch in den Zeilen 73 und 82–83 als der eigentliche Gegenstand des Streites und des Sieges bezeichnet wird. Auf dieser Grundlage will ich zunächst versuchen, eine Chronologie der Prozessschritte herzustellen: 1) Beginn des Streites um die Akreiatis. Kurz nach dem Krieg forderte Megalopolis, Mitglied des siegreichen Achäischen Bundes, die unterlegene Nachbarpolis Messene auf, sich einem Schiedsgericht über die Akreiatis zu unterwerfen (Z. 112–1176). Beide Streitparteien einigten sich auf einen Gerichtshof von unparteiischen, aus Mytilene in die Peloponnes entsandten Schiedsrichtern (die Mytileneer werden nur in der proklesis, Z. 147, 153, nicht aber im Text des psaphisma erwähnt). Entscheidung durch „frem5

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Der Text des psaphisma ist erstmals von Themelis 2008, 212–214 publiziert (SEG 58, 370), wieder abgedruckt von Arnaoutoglou 2009/10, 198–2001; mit einigen neuen Lesungen Luraghi – Magnetto 2012, 510–514 gefolgt von Thür 2012, 293–298, die letzten drei Publikationen jeweils mit englischer Übersetzung. Der vorliegende Beitrag verzichtet auf die umfangreiche Wiedergabe von Text und Übersetzung. Alle Angaben über Zeile 101 hinaus stammen aus dem noch unpublizierten Teil der Inschrift; sie sind kursiv gesetzt.

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Gerhard Thür

de Richter“ (dikastai metapemptoi) war ein zwischen hellenistischen Staaten übliches Verfahren.7 Eine bisher unbekannte Besonderheit liegt allerdings darin, dass dieser Gebietsstreit nach dem Muster eines privaten Grundstückstreits ablaufen sollte.8 2) Die erste Bundesversammlung der Achäer, in Megalopolis (Z. 2–11). Noch im Sommer 182 hielten die Achäer unter Lykortas auf einer Bundesversammlung in Megalopolis ein politisches Strafgericht über die Rädelsführer des Aufstands, trennten die restlichen noch von Messene beherrschten Poleis ab und nahmen diese als selbständige Mitglieder in den Bund auf. Diesen Zeitpunkt erachtete Megalopolis für günstig, sich die messenischen Gebiete Andania und Pylana einzuverleiben. Doch der Bund weigerte sich, eine politische – die gewaltsame Annexion legitimierende – Entscheidung dieses Gebietsstreits zu fällen, und verwies die Sache auf eine spätere Sitzung, in der ein Schiedsgericht eingesetzt werden sollte. Dieser Passus bestätigt den schon früher festgestellten Befund,9 dass die Bundesversammlung selbst niemals als Gericht in Gebietsstreitigkeiten fungierte. In dieser ersten Sitzung wurden nur die Bedingungen der Wiederaufnahme Messenes in den Bund festgelegt. 3) Fortsetzung des Streites um die Akreiatis. Aus dem noch nicht publizierten Dokument geht hervor, dass Megalopolis nun seine Taktik änderte, und Messene mit einer proklesis (Z. 117–121) aufforderte, auch den Streit um die fruchtbare Akreiatis unter die Autorität des Bundes zu stellen, und zwar als Grenzstreit. Denn von nun an werden die fruchtbare Akreiatis und die sie vermutlich umgebende Öde Bipeiatis als Einheit genannt. Es wurden Gesandtschaften ausgetauscht und die Streitparteien kamen überein, den Fall nicht mehr vor die Mytileneer zu bringen (Z. 121–139, 151–154). 4) Die zweite Bundesversammlung, in Elis (Z. 11–35). Unter dem Bundesstrategen Apollonidas, der im Jahr 182/81 auf Lykortas folgte,10 einigten sich die Streitparteien in einer synodos in Elis auf ein Schiedsgericht über „das früher streitverfangene Land“ (Akreiatis mit der nun dazugehörigen Bipeiatis) sowie Andania und Pylana. Das Spruchgremium war prominent und unparteiisch besetzt. Unter dem persönlichen 7 8

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Zur Tätigkeit „fremder Richter“ s. Dreher 1995, 259–265, im Achäischen Bund Harter-Uibopuu 1998, 143–148, zu Kos Scafuro 2021, 248–256 mit umfassender Übersicht über die allgemeine Literatur. Kläger und Verklagter übten eine „Bemächtigung“, ein sylon, an den Früchten aus (Z. 108, 113). Für die Dauer des Verfahrens sollten die Früchte der Akreiatis zwischen den Streitparteien geteilt werden mit der Abmachung, dass der Verlierer dem Sieger den doppelten Wert seiner Hälfte erstattete (Z. 65–70, mit 130–133). Im Streit um die Früchte konnte indirekt das Eigentum am Boden festgestellt werden (Z. 148–150). Diese Frage würde eine genaue Analyse des noch nicht publizierten proklesis-Dokuments erfordern, doch das privatrechtliche Detail soll hier nicht weiter behandelt werden; s. vorläufig die Diskussion Thür 2012, 316 und Youni 2012, 324–326. Festzuhalten ist hier lediglich, dass sich die Parteien auf die Richter aus Mytilene geeinigt hatten, noch bevor Messene in den in den Achäischen Bund wieder aufgenommen werden sollte. Denn die Gebietsstreitigkeiten im Bund wurden anders, nämlich in Form eines Grenzstreits geführt. Zu einer Entscheidung der Mytileneer ist es allerdings nie gekommen. Harter-Uibopuu 1998, 122–124. Diese neue Erkenntnis verdanken wir Luraghi – Magnetto 2012, 526.540–543.

Gewalt, Zwangsvollstreckung und Rechtsstaatlichkeit im Achäischen Bund (SEG 58, 370)

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Vorsitz des Bundesstrategen wurden insgesamt 17 hagemones, führende Politiker des Achäischen Bundes, ausgewählt. Es waren keine Arkader dabei, die Megalopolis begünstigt hätten, und auch keine Messenier (diese waren ohnehin noch nicht endgültig in den Bund aufgenommen). Ein derart hochkarätiges Spruchgremium ist bisher im Achäischen Bund noch nicht belegt. Der Vertrag zum Einsetzen des Schiedsgerichts wurde als Beschluss der Bundesversammlung publiziert (Z. 29), ist aber nicht erhalten. Beide Parteien händigten dem vorsitzenden Strategen je eine Beschreibung der von ihnen behaupteten Grenzlinie aus. 5) Das Schiedsverfahren im Karneiasion (Z. 35–50). Wie üblich schritten die 17 hagemones zunächst den Verlauf der von beiden Parteien beschriebenen Grenzen ab – wer die gebirgige Gegend kennt, weiß die beachtliche körperliche Leistung zu schätzen. Nach dieser periegesis trat das Gericht im Apollonheiligtum von Andania zu förmlichen Sitzungen zusammen, in denen die Redezeit der Parteien mit der Wasseruhr bemessen war. Je ein Tag war für die causae Andania-Pylana und Akreia-Bipeia vorgesehen.11 Den Gesetzen der Rhetorik folgend schweigt die Inschrift über den Ausgang des ersten Streitfalls. Ich schließe daraus, dass Messene unterlegen war und zumindest große Teile Andanias und Pylanas verloren hatte. Nur über Akreia und Bipeia spricht die Siegesinschrift der Messenier. Die Megalopoliten schätzten offenbar ihre Position als Kläger nach ihrer Rede negativ ein und standen vom Prozess ab, schoben aber die von ihnen abhängigen, vermutlich als Zeugen anwesenden Kaliaten als die angeblich rechtmäßigen Kläger vor. Ein Ort Kaliai an der Grenze zwischen Arkadien und Messenien ist noch nicht lokalisiert.12 Das Gericht der hagemones war nicht legitimiert, zwischen den nun geänderten Parteien zu entscheiden, und Messene stimmte zu, in das neue Schiedsverfahren einzutreten. 6) Einsetzung der Polis Aigion als Schiedsgericht (Z. 50–51). Die Kaliaten als Kläger und die Messenier als Beklagte einigten sich vor dem Exekutivgremium des Achäischen Bundes, den damiorgoi, den Streit um Akreia und Bipeia als Grenzstreit vor den alten Bundeshauport Aigion zu bringen. Ein politisches Gremium, vermutlich der Rat, die boule von vielleicht 150 Mitgliedern,13 sollte dort als Gericht fungieren. Eine unparteiische „aufgerufene Stadt“ (ekkletos polis) entscheiden zu lassen, war neben den „fremden Richtern“ (dikastai metapemptoi) ein übliches Verfahren bei Streitigkeiten zwischen hellenistischen Poleis.14 Wieder reichten die Parteien je eine Beschreibung des behaupteten Grenzverlaufs ein, diesmal bei den damiorgoi des Bundes (Z. 64). 11 12 13 14

In Z. 41 ist δύο statt τρεῖς zu ergänzen, s. Thür 2012, 296; Luraghi – Magnetto 2012, 513. Erwägungen stellen Luraghi – Magnetto 2012, 532, Thür 2012, 303 an; nicht hilfreich Arnaoutoglou 2009/10, 186 Anm. 19. Ein Gerichtshof wäre wohl mit 151 Richtern besetzt gewesen. Dass schließlich nur 147 Stimmen abgegeben wurden (s. sogleich), könnte mit der Abwesenheit einiger Mitglieder erklärt werden. Zur Tätigkeit der „aufgerufenen Stadt“ im Achäischen Bund s. Harter-Uibopuu 1998, 139–143; zu einem Beispiel anderswo (Arkesine, unten Anm. 34), s. Migeotte 1984, S. 175. Der Ausdruck tritt erstmals zur Zeit des Zweiten Athenischen Seebunds auf, Dreher 1995, 143–147.

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Gerhard Thür

7) Das Schiedsverfahren in Aigion (Z. 51–64). Da es nun in der Sache um das Territorium ging und die beiden Alternativen des Grenzverlaufs festgelegt waren, bedurfte es keiner periegesis im weit entfernten Gebirgsland, sondern die Mitglieder des Gremiums entschieden bloß nach Rede und Gegenrede der Parteien. Mit einer überwältigenden Mehrheit von 140 der 147 Stimmen wurde die Klage der Kaliaten abgewiesen und der Anspruch der Messenier auf Akreia und Bipeia bestätigt. In der Darstellung des messenischen psaphisma erging der Spruch gegen die „Kaliaten und Megalopoliten“ (Z. 68–69). Doch das ist wieder rhetorische Verzerrung. Formal waren die Kaliaten Kläger, die Megalopoliten konnten allenfalls deren Helfer (synegoroi) oder Zeugen gewesen sein. Mit dieser Entscheidung über den letzten Gebietsstreit war für Messene der Weg frei, endgültig in den Bund wieder aufgenommen zu werden, was nach Polybios (24, 2, 3) noch im laufenden Jahr 182/81 geschah. 8) Messenes Klage auf den doppelten Wert der Früchte (Z. 65–71). Mit dem in Aigion errungenen Sieg war der Fall für Messene noch nicht erledigt. Gemäß dem allerersten mit den Megalopoliten abgeschlossenen Schiedsvertrag (s. oben Punkt 1) stand dem Sieger der Anspruch auf den doppelten Wert der während des Streites zwischen den Parteien geteilten Früchte der Akreiatis zu.15 Folglich verklagten die Messenier Megalopolis vor den damals eingesetzten fremden Richtern aus Mytilene auf zwei Talente (Z. 88 und 146). Ihrer Ansicht nach waren die Mytileneer zwar nicht mehr für den – wie sie meinten, bereits entschiedenen – Gebietsstreit zuständig, wohl aber für die Folgeansprüche. 9) Megalopolis setzt den Streit um die Akreiatis fort (Z. 71–75). Angesichts der Klage Messenes wegen der Früchte stellte sich Megalopolis auf den – formal richtigen – Standpunkt, dass der in Aigion ergangene Spruch zugunsten Messenes gar nicht sie betraf, sondern die damals klagenden Kaliaten. Also sei der Streit um die Akreiatis zwischen Megalopolis und Messene noch gar nicht entschieden. Da nun Messene diesbezüglich auf einen Spruch der Mytileneer verzichtet hatte (s. oben Punkt 3), verlangte Megalopolis in einer ausführlich begründeten proklesis, dass Messene vor den damiorgoi des Bundes an der Bestellung eines Schiedsgerichts über die Grenzen der Akreiatis mitwirken solle (Z. 155). Dieses proklesis-Dokument ist zur Gänze auf dem Stein mitpubliziert (Z. 102–165), doch leider noch nicht ediert. Von ihrem Rechtsstandpunkt aus konnten die Messenier die Einlassung auf den ihrer Meinung nach bereits entschiedenen Streit nur verweigern. 10) Strafausspruch gegen Messene (Z. 75–79). Allein wegen dieses ‚Prozessungehorsams‘ der Messenier verhängten die damiorgoi des Bundes gegen sie eine Geldstrafe von 3.000 Drachmen (Z. 171). Gleichzeitig eröffneten sie aber auch die Möglichkeit,

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S. oben Anm. 8.

Gewalt, Zwangsvollstreckung und Rechtsstaatlichkeit im Achäischen Bund (SEG 58, 370)

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die Rechtmäßigkeit dieser Strafe von einem weiteren Gremium von fremden Richtern, diesmal aus Milet, kontrollieren zu lassen, dem auch Messene zustimmte (Z. 176). Hier zeigt sich eine weitere Facette der zwischenstaatlichen Schiedsgerichtsbarkeit: Im Achäischen Bund konnte ein Mitglied durch Geldstrafe indirekt gezwungen werden, sich einem Schiedsgericht zu unterwerfen. Man kann von ‚obligatorischer Schiedsgerichtsbarkeit‘ sprechen. Die Kontrolle des Strafausspruchs der damiorgoi durch die objektive Instanz der milesischen Richter ist ein weiterer Beleg für die ‚rechtsstaatliche‘ Struktur des Achäischen Bundes. 11) Spruch der Milesier (Z. 79–83). Da Messene sich weigerte, die Strafe zu zahlen, verklagten die damiorgoi des Bundes die Polis Messene vor den sechs fremden Richtern aus Milet, die in Aigion tagten (Z. 180). Diese fällten einstimmig den Spruch, dass die Geldstrafe zu Unrecht verhängt worden sei. Wie in Verfahren vor griechischen Gerichten üblich, enthält der Spruch keine Begründung. Dem von den damiorgoi ausgestellten Dokument des Strafausspruchs (s. oben Punkt 10) wurde lediglich der Vermerk „einstimmiger Freispruch“ angefügt (Z. 180–182), das Dokument des Urteils enthält nur die Namen der Richter mit dem Vermerk, dass die Parteien plädiert hatten – und folglich anwesend waren – und dass alle Richter freigesprochen hatten (Z. 187–190). Die Gründe für den Freispruch muss man den im psaphisma und in der proklesis angeführten Argumenten der ursprünglichen Streitparteien entnehmen: Die Megalopoliten, die wohl auf Seiten der damiorgoi mit argumentiert hatten, hatten den ‚formell‘ richtigen Standpunkt vertreten, dass vor dem Gericht in Aigion nicht sie, sondern die Kaliaten als Kläger aufgetreten seien; also sei über ihren Anspruch noch gar nicht entschieden worden (Z. 146–154). Die Messenier drangen jedoch mit dem Hinweis auf den Grundsatz der ‚entschiedenen Sache‘ (heute: ne bis in idem) durch (Z. 74–75); die von den Megalopoliten politisch abhängigen Kaliaten seien als Kläger nur vorgeschoben worden (Z. 43–44), ‚materiell‘ sei die Sache in Aigion auch gegen Megalopolis entschieden worden. Es fällt auf, dass das psaphisma der Messenier mit keinem Wort erwähnt, wie die Klage auf die zu Beginn des Streites um die Akreiatis durch förmlichen Akt des sylon ergriffenen Früchte16 (s. oben Punkte 1 und 8) entschieden wurde. Ich vermute, dass Messene aus politischem Kalkül sich mit dem nun bestätigten Sieg im Gebietsstreit um Akreia begnügt und Megalopolis mit den Folgeansprüchen gar nicht weiter belästigt hat. Rückblickend kann man den auf dem „Denkmal“ (hypomnama, Z. 84–85) großartig gefeierten rechtlichen Sieg der Messenier nur als höchst bescheiden bezeichnen: Messene blieb zwar in Besitz eines fruchtbaren Tales hoch oben in den Bergen samt dessen

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S. oben Anm. 8.

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Umgebung, verlor jedoch, wie ich meine, große Gebietsteile in der Stenykleros-Ebene mit dem angesehenen andanischen Heiligtum des Apollon Karneios an Megalopolis. War das die prachtvolle Inschrift an prominenter Stelle der Polis wert? Betrachtet man die historische Situation, den verlorenen Krieg gegen den Achäischen Bund und die Demütigung durch die Nachbarstadt Megalopolis, sendet das Monument jedoch eine deutliche Botschaft aus: Recht siegt über Gewalt. Die Botschaft ist auch, rhetorisch geschickt verpackt, in die Zukunft gerichtet. Zwischen den Zeilen kann man eine deutliche Kritik an der Abtrennung Andanias lesen: Der Text beginnt mit der Feststellung, dass achäische Truppen Andania besetzt hielten. Es folgt die Behauptung, dass die Achäer in der ersten Bundesversammlung beschlossen hatten, Andania nicht abzutrennen (Z. 9–11) – tatsächlich dürften sie den Punkt lediglich auf eine spätere Sitzung vertagt haben. Höchst verfänglich bezeichnen die Messenier im Bericht über ihre Grenzbeschreibung das Gebiet „so wie es uns gehört“ (Z. 35, Indikativ statt Optativ) und erwähnen später den wohl allgemein bekannten Verlust Andanias mit keinem einzigen Wort. Sie erwecken damit den Eindruck, dass die hagemones im Karneiasion schlicht den Ausgang des Krieges – die Gewalt – legitimiert hätten. Jeder Leser kann daraus den Schluss ziehen: Auch in diesem Punkt wird das Recht siegen. Und tatsächlich fiel Andania einige Jahre später wieder an Messene zurück. Doch auch die Gegenseite, Megalopolis, bediente sich in der ausführlichen Begründung ihrer proklesis einer ähnlichen rhetorischen Technik. Die Megalopoliten wehrten sich gegen die Klage der Messenier auf den doppelten Wert der Früchte aus der Akreiatis (s. oben Punkt 8) mit dem Argument, zuerst müsse der Streit um jenes Gebiet entschieden werden – und die Messenier hätten dem sogar zugestimmt (Z. 114 und 117). Dabei verschwiegen die Megalopoliten aber, dass sie im Verfahren vor den 17 hagemones die Klage um die Akreiatis zurückgezogen und die mit ihnen verbündeten Kaliaten in Aigion den Prozess um dieses Gebiet verloren hatten. Wohl aber erwähnten sie die für sie günstige Voraussetzung dieser Verfahren, dass Messene auf eine Entscheidung des Gebietsstreits durch die fremden Richter aus Mytilene verzichtet habe (s. oben Punkt 3, Z. 153–154). Die Inschrift zeugt nicht nur von meisterhafter forensischer Rhetorik und einer gut organisierten Bürokratie im Achäischen Bund, sie wirft auch Licht auf die juristischen Fähigkeiten der politischen Eliten in den hellenistischen Staaten. Jeder einzelne Prozessschritt war wohl durchdacht, vor allem war das Problem der formellen und materiellen Rechtskraft klar erkannt: Der Schiedsspruch Aigions über die Akreiatis und Bipeiatis (oben Punkt 7) gegen die als Partei nur vorgeschobenen Kaliaten wirke auch gegen deren Vormacht Megalopolis. Erstaunlich ist der hohe rechtsstaatliche Standard der innerhalb des Achäischen Bundes ausgetragenen Auseinandersetzung unmittelbar nach einem zwischen dessen Mitgliedern brutal geführten Krieg.

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II. Rechtsformen der Zwangsvollstreckung: Gedanken zur Praxisklausel καθάπερ ἐκ δίκης Zwangsvollstreckung gemäß der proklesis? Die Großzügigkeit des Herausgebers der Inschrift gestattet es, einige vorläufige Gedanken zu einem schon lange diskutierten, sehr speziellen prozessrechtlichen Problem zu äußern. Mit der oben (I.9) erwähnten proklesis fordert Megalopolis die Polis Messene auf, sich unter der Autorität des Achäischen Bundes einem zwischenstaatlichen Schiedsgericht über die Grenzen der Akreiatis zu unterwerfen. Im Dokument spricht die klagende Polis, Megalopolis, von sich selbst in der ersten Person („ich“) und von der verklagten in der zweiten („du“). Die Megalopoliten benützen in der proklesis den arkadischen Dialekt, die Messenier im psaphisma ihren dorischen. Das proklesis-Dokument erfüllt gleichzeitig die Funktionen einer Ladung sowie einer ausführlichen Begründung des Anspruchs, worauf hier natürlich nicht weiter einzugehen ist. Am Schluss, unmittelbar vor dem Datum der proklesis, fallen die rätselhaften Worte (Z. 157–158, vorläufig mitgeteilt): ὅπως κριθεῖς πὸς ἐμὲ καθὼς | αυ[-ca.4-]εδικασατε … Ich möchte vorschlagen, zu Beginn der Zeile 158 die Möglichkeit einer Ergänzung in Betracht zu ziehen: καθὼς | αὑ[τοῖς] ἐδικάσατε. Die Wendung würde übersetzt lauten: „… damit dein Streit (= du) gegen mich gerichtlich entschieden werde(st),17 so als ob ihr unter euch selbst prozessiert hättet.18“ Auch wenn die Wörter πρᾶξις oder (εἰσ)πράττειν nicht gebraucht werden, ist es klar, dass in dieser Schlussklausel als Konsequenz des dikazein von der Vollstreckung die Rede ist. Obsiegt Megalopolis im zwischenstaatlichen Schiedsverfahren gegen Messene – fällt also die Entscheidung, dass die Akreiatis innerhalb der Grenzen Arkadiens liege –, dann darf (nach meinem Ergänzungsvorschlag) Megalopolis gegen Messene so vorgehen, als ob dies ein inländisches Gericht in Messene selbst entschieden hätte: Megalopolis darf sich nach den Vollstreckungsvorschriften Messenes rechtmäßig des erstrittenen Gebiets bemächtigen; die Megalopoliten sind außerdem legitimiert, (vermutlich) von jedem beliebigen Messenier den doppelten Wert des zur Sicherheit einbehaltenen Teiles der Früchte einzutreiben,19 notfalls unterstützt durch die messenischen Amtsträger. Die – stets prekäre – Vollstreckung eines internationalen 17 18

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Vgl. Z. 12–13 im psaphisma: … θέλειν κριθῆ|[vμ]vεν ποθ᾿ ἁμέ, … (… sie wollten, dass ihr Streit gegen uns gerichtlich entschieden werde; Lesung Luraghi/Magnetto 2012). „Wir“ sind im psaphisma-Dokument die Messenier, dorisch sprechend. Das Medium δικάζεσθαι mit dat. pers. als „gegen jemanden prozessieren“ ist häufig belegt, z. B. Lys. 12, 4; Dem. 55, 31. Auffällig ist der Wechsel vom Singular („du“) in den Plural („ihr“) in Z. 157–158. Da in einer Verweisung auf einen innerstaatlichen Prozess in Messene notwendigerweise zwei Parteien auftreten, kann der Singular für die Polis Messene („du gegen dich“) nicht beibehalten werden. S. oben I.1 mit Anm. 8.

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Schiedsspruchs wird also in die zwingenden ‚nationalen‘ Normen der verklagten Polis eingebunden, eine das hohe juristische Niveau der ganzen Auseinandersetzung bestätigende Regelung. Doch ist einzuräumen, dass diese Überlegungen unter dem Vorbehalt stehen, dass der Stein die Lesung (und meine Ergänzung) gestattet. Die Klausel πρᾶξις … καθάπερ ἐκ δίκης Die soeben ausgeführten Gedanken – ob sie nun künftig bestätigt oder verworfen werden – führten mich zu einer Überprüfung der Klausel ἡ πρᾶξις ἔστω καθάπερ ἐκ δίκης20 in den Papyri des ptolemäischen Ägypten und deren Parallelen im übrigen griechisch-hellenistischen Rechtskreis. Hier scheinen noch einige Fragen offen zu sein. Bis heute weithin anerkannt ist die von Wolff auf dem 12. Internationalen Papyrologenkongress in Ann Arbor 1968 kühn vorgetragene These, die Klausel habe in Ägypten nicht, wie vor ihm angenommen, einer Schuldurkunde „Exekutivkraft“ verliehen, sondern sei, modern gesprochen, als bloße „Rechtsfolgenverweisung“ zu verstehen.21 Einige Jahre vor 263 hatte Ptolemaios II. Philadelphos in einem Prozessdiagramma griechische dikasteria eingesetzt. Nachdem diese verschwunden waren, sei die bisher verwendete, auf die Dikasterien zu beziehende Vollstreckungsklausel κατὰ τὸ διάγραμμα im Verfahren vor den nunmehr judizierenden Chrematisten obsolet geworden und ziemlich stereotyp durch die Klausel ἡ δὲ πρᾶξις (ἔστω – oder ähnlich) καθάπερ ἐκ δίκης ersetzt worden, sinngemäß gedeutet: „Die Vollstreckung (soll sein) gemäß den überkommenen Regeln des dike-Verfahrens.“22 Irgendwelche Privilegien gegenüber dem normalen Vollstreckungsverfahren23 seien den Gläubigern durch die Klausel nicht eingeräumt worden, sie habe in der Schuldurkunde ohne Nachteil auch ausbleiben können. Maßgeblich für die durch den praktor durchzuführende Zwangsvollstreckung sei bereits zur ptolemäischen Zeit lediglich die gültig errichtete Urkunde gewesen. Dieser Befund ist bis heute nicht widerlegt.24 Die Papyri der römischen und byzantinischen Zeit können hier außer Betracht bleiben. Methodisch richtig muss 20 21 22

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„Die Vollstreckung soll erfolgen wie aufgrund eines Gerichtsurteils (besser: -verfahrens).“ Wolff 1970, 534 Anm. 33. Zum Prozessdiagramma s. Wolff 2002, 51; zur Änderung der Klausel Wolff 1970, 534, dem Meyer-Laurin 1975, 197 wörtlich zustimmt; referierend Kramer – Sánchez-Moreno Ellart 2017, 38, die aufgrund neu gefundener Urkunden davon ausgehen, dass die Dikasterien im Jahr 172 durch königliche Anordnung abgeschafft worden seien (S. 41). Rodríguez Martín 2017b, 156–163 weist Bezüge auf das diagramma auch noch nach dem Jahr 170 nach. Gegen Wolff und Meyer-Laurin hält Kränzlein 1976 an der Exekutivwirkung der Klausel fest, was Rodríguez Martín 2013, 260–264 mit Sicht auf die römische und byzantinische Zeit vertieft – Bedenken sind jedoch gegen seine Meinung zu erheben, die Klausel habe auch in ptolemäischer Zeit unmittelbar zur Zwangsvollstreckung berechtigt (2017a); s. dazu im Folgenden. Kurze Übersicht bei Rupprecht 1994, 149–151. S. die Überlegungen von Alonso 2016, 62.

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man jedenfalls „Exekutivkraft“ stets im Zusammenhang mit den jeweils gültigen, praktisch angewendeten Prinzipien des Vollstreckungsrechts verstehen.25 Außerhalb Ägyptens finden sich καθάπερ ἐκ δίκης entsprechende Wendungen vom vierten Jahrhundert bis in die späte hellenistische Zeit in vielerlei sprachlicher Gestalt. Nach einigen vorläufigen Bemerkungen Wolffs hat Meyer-Laurin dieses Thema in einem Vortrag im „Symposion 1971“ etwas ausführlicher behandelt.26 Zu Recht tritt er der Meinung Wolffs entgegen, auch außerhalb Ägyptens seien derartige Klauseln als bloße Verweisung zu verstehen, und zwar auf ein noch durchzuführendes dike-Verfahren;27 vielmehr sei hier, nachdem überall Dikasterien existierten, tatsächlich von einer Exekutivklausel auszugehen.28 Doch allein aus der realen Existenz von Dikasterien lässt sich die Exekutivkraft nicht erklären. Vielmehr muss man einen genaueren Blick auf die Anwendungsfälle der Klausel werfen. Das Material ist gegenüber der überwältigenden, aber stereotypen papyrologischen Evidenz zwar relativ dürftig, doch in seinem Variantenreichtum höchst aussagekräftig. Rechtlich betrachtet kann man die außerägyptischen Quellen in drei Gruppen einteilen: 1) Die πρᾶξις … καθάπερ ἐκ δίκης als Klausel in zweiseitig verbindlichen Verträgen. Dies ist die eigentliche Parallele zu den Vertragsdokumenten auf Papyrus. Es wird sich herausstellen, dass hier – anders als im ptolemäischen Ägypten – ein bereits entschiedenes Gerichtsverfahren fingiert wird. 2) Vergleichbare praxis-Bestimmungen in gesetzlichen Strafbestimmungen oder ähnlichen generellen Normen. Diese wird man den Rechtsfolgenverweisungen zuordnen und aus der Betrachtung der Exekutivwirkung ausscheiden können. 3) Die Wendung καθάπερ ἐκ δίκης in Strafbestimmungen wegen unbefugter Belegung einer Grabstätte. Es wird zu klären sein, ob eine einseitig errichtete private Satzung (die Anordnung, wer künftig hier bestattet werden darf und wer nicht) jede beliebige Person legitimieren konnte, die Strafsumme gegen jeden beliebigen zuwider Handelnden unmittelbar zu vollstrecken. Die Exekutivwirkung jener Klauseln wird man verneinen müssen, jedoch wird man hieraus möglicherweise 4) eine Erklärung für die πρᾶξις … καθάπερ ἐκ δίκης-Klausel in den ptolemäischen Vertragsurkunden ableiten können.

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Zur römischen und byzantinischen Zeit s. jetzt vor allem Rodríguez Martín 2018, der wie schon in seinen früheren Beiträgen – meines Erachtens zu Unrecht – die Kontinuität der Exekutivwirkung von der griechischen Polis bis in die byzantinische Zeit vertritt. Methodisch richtig geht er von den jeweiligen Grundsätzen der Zwangsvollstreckung aus, die allerdings für die hellenistische Zeit noch zu präzisieren wären (s. dazu im Folgenden). Meyer-Laurin 1975, 197–201; auf breiterer Basis und für die außerägyptischen Quellen mit ihm übereinstimmend Rodríguez Martín 2013, 246–249. 261–262. Wolff 1970, 534 Anm. 36. Meyer-Laurin 1975, 202.

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1) Zweiseitig verbindliche Verträge a) Das älteste und gleichzeitig einzige Beispiel der Klausel in einem privaten Darlehensvertrag ist die Seedarlehens-syngraphe, die in der Rede gegen Lakritos als Urkunde (unbedenklich) überliefert ist (Dem. 35.10–13; vor 340). Die Klausel lautet (§ 12): … παρὰ Ἀρτέμωνος καὶ Ἀπολλοδώρου ἔστω ἡ πρᾶξις τοῖς δανείσασι καὶ ἐκ τῶν τούτων ἁπάντων καὶ ἐγγείων καὶ ναυτικῶν, πανταχοῦ ὅπου ἂν ὦσι, καθάπερ δίκην ὠφληκότων καὶ ὑπερημέρων ὄντων (… gegen Artemon und Apollodor [selbst] soll die Vollstreckung den Darlehensgläubigern zustehen und aus deren gesamten Vermögen sowohl zu Lande als auch zur See, wo immer sie [= die Schuldner] sich befinden, so wie wenn sie in einem Prozess verurteilt worden und im Verzug wären). Wolff fragt, warum der Kläger Androkles, einer der Gläubiger, nicht aus dieser Klausel direkt vollstreckt, sondern Klage auf Rückzahlung der Darlehensschuld erhoben habe.29 Er übersieht dabei, dass der Athener Androkles den Beklagten, den in Athen (vermutlich) als Metöken lebenden Lakritos, nicht als seinen Vertragspartner, sondern als Bruder und Erben seines verstorbenen Schuldners, Artemon aus Phaselis, in Anspruch nimmt. Rechtlich geht es also um die Haftung des Lakritos als Erbe.30 Dieses Problem ist natürlich im Darlehensvertrag nicht geregelt und von der Klausel nicht gedeckt. Ihre Wirkung sollte im Normalfall eintreten, wonach die Schuldner als Seekaufleute für die Gläubiger nicht nur in Athen, sondern überall unterwegs, in jeder beliebigen Polis,31 in einem wie immer gearteten Vollstreckungsverfahren greifbar sein sollten. Die Klausel ersparte den Gläubigern die Klage aus dem Vertrag, doch kam es für das Zugriffsrecht auf Seekaufleute und deren Rechtsschutz letztlich auf ein Geflecht zwischenstaatlicher Vereinbarungen (symbola) an.32 Betrachtet man die polis-übergreifende Dimension des Darlehensgeschäfts, kann an der beabsichtigten Exekutivwirkung der Klausel kein Zweifel bestehen. b) Nur wenig jünger sind die beiden Darlehensurkunden aus Arkesine auf der Insel Amorgos (325–275 bzw. Anf. 3. Jh.). Auch hier handelt es sich um polis-übergreifende Geschäfte, um Kredite, die Ausländer privat der Polis gewährten.33 In den umfangreichen Dokumenten wird den Gläubigern mehrfach gegen die Arkesinier die praxis eingeräumt „so wie wenn sie in einem Prozess verurteilt wären, welcher in der gemäß dem Rechtsgewährungsvertrag (symbolon) zwischen den Naxiern und den Ar-

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Wolff 1970, 534, Anm. 36. Meyer-Laurin und Rodríguez Martín gehen darauf nicht ein, obwohl sie (zu Recht) die Exekutivkraft der Urkunde vertreten. Das hatte Wolff 1966, 76 schon klar erkannt. Der Plural ὅπου ἂν ὦσι bezieht sich auf die Schuldner, nicht auf die im Neutrum Plural hinzuzudenkenden „Vermögensstücke“ (χρήματα) zu Lande und zur See. Auf Rechtshilfe- oder besser Rechtsgewährungsverträge wird in Arkesine ausdrücklich hingewiesen (s. dazu sogleich). IG XII 7, 67B und 69 (Migeotte 1984, Nr. 49 und 50).

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kesiniern zum Schiedsgericht angerufenen Polis zu Ende geführt ist“.34 Den privaten ausländischen Gläubigern sollte hier der komplizierte Weg der zwischenstaatlichen Schiedsgerichtsbarkeit erspart werden, der für solche Fälle vorgesehen war. Selbst der Sieg in einer dike exoules (‚Vollstreckungsklage‘) vor jenem Schiedsgericht ist als Fiktion bereits vorweggenommen.35 Diese dike müsste der Gläubiger gegen den in Anspruch genommenen Schuldner erheben, wenn ihn dieser am eigenmächtigen Zugriff auf dessen Grundstücke hinderte. Auch die Vollstreckung folgte also den Regeln des zwischenstaatlichen Vertrags; da die dike exoules hier bereits als durchgeführt fingiert wird, kann an der Exekutivkraft der Urkunde kein Zweifel bestehen. c) Zeitlich und sachlich passend ist hier auch der Ehevertrag aus der Garnison Elephantine aus dem Jahr 311 einzuordnen, obwohl er zu den papyrologischen Quellen zählt, P.Eleph. 1. Zu jener Zeit war die Gerichtsbarkeit im Ptolemäerreich noch nicht organisiert und die Militärsiedler errichteten ihre Urkunden nach den von zu Hause her gewohnten Formularen. Der Ehemann hat bei schweren Verfehlungen 2.000 Drachmen an die Frau zu bezahlen, gegen ihn kann vollstreckt werden (Z. 12): … ἡ δὲ πρᾶξις ἔστω καθάπερ ἐκ δίκης κατὰ νόμον τέλος ἐχούσης … (die Vollstreckung soll sein so wie aus einem Gerichtsverfahren, das gesetzesgemäß zu Ende geführt ist). Die Situation gleicht jener der oben (II.1a) behandelten Seedarlehensurkunde: Ohne ein Dikasterion anrufen zu müssen – was hier schon faktisch auf Schwierigkeiten gestoßen wäre – sollte die Urkunde überall vollstreckbar sein. Allerdings war hier statt eines Dikasterion ein privates dreiköpfiges Schiedsgericht zur Entscheidung vorgesehen. Dieses hatte aber lediglich die Verfehlung des Ehemannes festzustellen. Den unmittelbaren Vollstreckungstitel bot die Urkunde, vermutlich unter militärischer Autorität. Die Verweisung auf einen nomos scheint hier unpassend. Es dürfte sich um eine mechanische Übernahme aus der Heimatpolis eines der Beteiligten handeln. d) Aus späterer Zeit ist in diesem Zusammenhang noch ein weiteres zwischenstaatliches Darlehensgeschäft zu betrachten, jenes zwischen der Dame Nikareta aus The-

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Migeotte Nr. 49, 24.28–29: καὶ ἐξέστω πράξασθαι Πασικλεῖ ταῦτα τὰ χρήματ[α] … καθάπερ δίκην ὠφληκότων ἐν τῆι ἐκκλήτωι κατὰ τὸ σύμβολον τὸ Ναξ[ί|ω]ν καὶ Ἀρκεσινέων τέλος ἔχουσαν … (ähnlich Z. 12–13 und 36–38). In Nr. 50, Z. 15, 31 und 41 ist das präzisiert: καθάπερ δίκην ὠφληκότων ἐξούλης … (so wie wenn sie in einer dike exoules – einem Prozess wegen ‚Vertreibung‘ – verurteilt wären). In Athen dringt der in einem Prozess siegreiche Kläger in Ausübung ‚formaler Eigenmacht‘ in ein Grundstück des verurteilten Schuldners ein, worauf ihn dieser ebenso ‚formal eigenmächtig‘ wieder hinausführt. Nun verklagt der ‚Eindringling‘ den ‚Vertreibenden‘ wegen exoule. Geschah das Hinausführen zu Unrecht, wird der im Vorprozess bereits verurteilte Schuldner (nochmals) verurteilt, und zwar auf den doppelten Wert des Grundstücks, wobei die Hälfte der Summe an die Polis fällt; hierauf darf der betreibende Gläubiger sich real des Grundstücks bemächtigen; s. dazu Harrison 1968, 217– 220 – Gedanken zur Vollstreckung des auf Geld lautenden Urteils der dike exoules selbst s. unten Anm. 75. In Arkesine sind ähnliche Regeln der Zwangsvollstreckung zu vermuten; als Haftungsobjekte kommen dort in erster Linie Grundstücke in Frage, auf welche – anders als in Athen – auch den ausländischen Gläubigern der Zugriff eingeräumt wird.

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spiai und der Polis Orchomenos aus dem Jahr 223.36 Hier unterliegen die als Schuldner verantwortlichen orchomenischen Bürger und deren Bürgen lediglich einer praxis „gemäß dem Gesetz“: πραχθήσονται κατὰ τὸν νό|μον.37 Nach dem mühsam ausgehandelten und umfangreich dokumentierten Vergleich scheint es ausgeschlossen, dass Nikareta ihr Darlehen nochmals einklagen müsste. Auch diese Klausel in dem neu aufgesetzten Darlehensvertrag hat also Exekutivkraft. Man sieht, dass es auf den Hinweis „wie aus einem Gerichtsverfahren“ nicht ankam. Die Vollstreckung findet hier nach den nomoi statt, den staatlichen Regeln der Polis Orchomenos. Die Ausländerin Nikareta hatte gewiss kein Interesse daran, ihre Schuldner außerhalb von Orchomenos zu verfolgen, zumal deren Grundstücke das eigentliche Haftungsobjekt für ihre enorme Forderung von fast 19 Talenten Silber gewesen sein dürften. Eine ähnliche Formulierung könnte auch das Vorbild für die kata nomon-Klausel in Elephantine gewesen sein. e) Chronologisch – und nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnis hypothetisch – schließt sich hier der Ausgangsfall meiner Überlegungen an, die in der proklesis der Megalopoliten aus dem Jahre 182 enthaltene Schlussklausel. In der proklesis wird zwar keine praxis angesprochen, doch sollte – soweit ich das vorläufig sehe – durch Vereinbarung (durch Annahme der Aufforderung und Unterwerfung unter ein zwischenstaatliches Schiedsgericht) die Entscheidung dieses Schiedsgerichts unmittelbare Vollstreckbarkeit gegen die verklagte Polis erlangen, so als ob ein ordentliches inländisches Gericht gegen sie entschieden hätte. Die Wendung καθὼς … ἐδικάσατε könnte den Worten καθάπερ ἐκ δίκης entsprechen.38 Wichtig ist hier der Befund, dass der Grundstücksstreit und wohl auch die Zwangsvollstreckung in Messene (so wie in Athen, Arkesine und anderen Poleis) durch Handlungen formaler Eigenmacht begannen.39 Darin unterscheidet sich die Situation, wie noch näher auszuführen ist, wesentlich von der πρᾶξις καθάπερ ἐκ δίκης in den ptolemäischen Schuldurkunden ab dem Jahr 172.40 36 37 38

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IG VII 3172 (Migeotte 1984, Nr. 13). Migeotte 1984, Nr. 13 VI 105–106 (A 28–29); zur Abfolge der auf dem Stein zusammengefassten acht Dokumente s. Migeotte 1984, S. 53–54. Wolff 1970, 531führt an, dass καθάπερ eher eine Analogie ausdrücke als eine Fiktion (also nicht „als ob“, sondern „so wie“; vgl. auch Kramer – Sánchez-Moreno Ellart 2017, 38). Für die Fiktion würden Wendungen mit ὡς gebraucht. Genau dieser Erwartung entspricht καθώς in unserem Text. Es würde also hier (nach Wolff) ein Verfahren als durchgeführt fingiert. Doch scheint mir καθάπερ – nicht immer konsequent – eher auf ein Substantiv (auf δίκη, alleinstehend oder durch ein Partizip determiniert) bezogen, καθώς hingegen auf ein Verbum (ἐδικάσατε); Fiktion oder Analogie (Verweisung) richten sich nach dem Sachzusammenhang. Nähere sprachliche Untersuchungen dazu nunmehr von Rodríguez Martín 2019, der allerdings stets einen verlorenen Prozess als fingiert betrachtet. Es wird sich zeigen, dass auch andere Tatsachen, nämlich eine formale Zugriffshandlung, Gegenstand der Fiktion gewesen sein konnten. Zur Bedeutung des Ausdrucks sylon in der proklesis (Z. 108. 113) s. Thür 2012, 316 und oben Anm. 8; vgl. die dike exoules in Arkesine, oben Anm. 35; allgemein dazu Thür 2003. Die Klausel tritt nach Kramer – Sánchez-Moreno Ellart 2017, 40 erstmals in P.Mich. III 190, 24–27 (6.7.172) auf, s. oben Anm. 22.

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2) Generelle Normen Zeitlich nahe den ältesten Darlehensurkunden (oben II.1a und b), doch in völlig anderem Zusammenhang eröffnet sich ein zweiter Anwendungsbereich der Klausel, und zwar in Vollstreckungsanordnungen gesetzlicher Strafbestimmungen. Einerseits können Private gegen unkorrekte Amtsträger vorgehen, andrerseits können Amtsträger oder diesen Gleichgestellte gegen ungehorsame Private einschreiten. Auch in diesen Fällen wird in den gesetzlichen Strafbestimmungen manchmal die Wendung καθάπερ … ἐκ δίκης oder Ähnliches verwendet. a) Vollstreckung gegen Amtsträger. Im Amnestiedekret aus Telos wird angeordnet (IG XII 4/1, 132, 117–118, um 300): ἁ δὲ πρᾶξις ἔστω ‹τῶ›ι ἰδιώται καθάπερ ἐκ δί|[κ]ας (die Vollstreckung soll sein für den Privatmann so wie aus einem Gerichtsverfahren).41 Im Rahmen der Amnestie haben die tamiai und hierapoloi den wieder in die Polis eingegliederten (oligarchischen) Verbannten die vormals beschlagnahmten Grundstücke zurückzuerstatten. Sollten die jeweils zuständigen Amtsträger dieser Vorschrift nicht nachkommen, schuldet jeder von ihnen den Göttern eine Strafe von 5.000 Drachmen und dem betroffenen Privatmann den doppelten Wert des vorenthaltenen Grundstücks. Nur für den Privatmann wird auf die dike verwiesen. Der im komplizierten Restitutionsverfahren bereits festgestellte Wert des Grundstücks42 kann, wenn der Anspruch des ehemals Verbannten erwiesen ist, aus dem privaten Vermögen der untätigen Amtsträger in doppelter Höhe eingetrieben werden, und zwar – vermutlich – aus dem beweglichen Vermögen durch enechyrasia43 oder durch dike exoules bei Zugriff auf ein Grundstück. Ein dike-Verfahren gegen die Amtsträger, etwa wegen blabe (Schädigung), war nicht nötig. Dass zu jener Zeit in Telos Dikasterien existierten, ergibt sich aus der durch Eid geschützten demokratischen Verfassung (Z. 125–138). Die gesetzliche Vorschrift bediente sich keiner vertraglich in Kraft gesetzten Fiktion, sondern legte autoritär die Zwangsvollstreckung durch Verweisung auf das Verfahren unter Privaten fest. Schuld oder Unschuld der Amtsträger könnte im Zuge ihrer ‚öffentlich-rechtlichen‘ Rechenschaftspflicht gerichtlich festgestellt worden sein. Hieraus konnte aber der Geschädigte nicht privat gegen den Verurteilten vorgehen. Die Verhängung und Vollstreckung der zugunsten der Götter fälligen Geldstrafe bedurfte hingegen keiner weiteren Regelung. Üblicherweise geschah dies entweder durch Einschreiten eines beliebigen Bürgers (boulomenos) gegen den untätigen Amtsträger oder eines eigens hierfür zuständigen übergeordneten Kollegen. Dieses Verfahren war offenbar fester

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Zur Klausel s. Thür 2011, 349 mit Anm. 20; Rodríguez Martín 2013, 261–262; ausführlich zur Inschrift s. Scafuro 2021. Zumindest der nach Konfiskation erzielte Erlös der Versteigerung musste bekannt gewesen sein. Zur finanztechnischen Abwicklung des Restitutionsverfahrens s. Thür 2011, 344–348. Zur privaten enechyrasia gegen Amtsträger s. Migeotte 1984, Nr. 97, 37–43 (Milet, 205/04); dazu Rubinstein 2010, 208 Anm. 48.

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Bestandteil der Rechtsordnung in Telos; wir wissen nicht, welcher Weg vorgesehen war. Auch an eine solche Verurteilung könnte sich der Private mit seiner Vollstreckung angeschlossen haben. Ähnlich wie in Telos ist auch eine Strafbestimmung in einer Ehreninschrift aus Kyaneai formuliert (2. Jh.).44 Anticharis aus Pinara wird (vermutlich) wegen der Errichtung einer Stiftung geehrt und der Fortbestand des Dekrets folgendermaßen gegen Abänderungsanträge gesichert (Z. 14–15): … ἢ αὐτὸς πρακτὸ]ς ἔστω εἰς τοὺς προγεγραμμένους θεοὺς καὶ τ[ὰ ὑπάρ|χοντα αὐτῶι· εἶναι δὲ τ]οῖς ἀγχιστεῦσιν [α]ὐτοῦ ἐπίτιμον καθάπερ ἐγ δί[κης.] (… [der Antragsteller] selbst45 soll der Vollstreckung durch die vorhin genannten Götter unterworfen sein und sein Vermögen; seinen [des Anticharis] Verwandten soll die Strafzahlung zukommen wie nach einem Gerichtsverfahren.) Die im verlorenen Teil der Inschrift genannten Strafen zugunsten der Götter Hermes und Herakles werden nach den bekannten Regeln eingeklagt und eingetrieben, den offenbar am Ort ansässigen Verwandten steht dann ohne weiteres Gerichtsverfahren die private Vollstreckung auf ihnen zustehende epitimon zu. Die Vorschrift bedient sich hier der Technik der Verweisung. In einem dritten Text, über die Stiftung des Phainippos in Iasos, ist die Verweisungstechnik nicht ohne weiteres ersichtlich.46 Verstoßen die Verwalter (dioiketai) gegen den Stiftungszweck, sind folgende Sanktionen vorgesehen (I.Iasos 245, 6–12): … ἀποτεισάτω ἕκαστος τῶν αἰ|τίων τῶι ἀνατιθέντι τὸ διάφορον δραχμάς τρισχιλί|ας· παθόντος δέ τι αὐτοῦ, ἐὰμ μὴ ἐπιτελέσωσιν | οἱ διοικηταὶ τὰ ἐπιτεταγμένα, ἀποτεισάτωσαν | τὸ αὐτὸ πρόσ[τι]μον τοῖς κληρονόμοις τοῖς Φαινίπ|που, τῆς πρά[ξεω] ς [οὔσ]ης κατ᾿ αὐτῶν καθάπερ ἐγ δί|κης. (Z. 8: Interpunktion Ed. τρισχιλί|ας. – … soll jeder Schuldige dem Stifter des Kapitals dreitausend Drachmen zahlen; wenn diesem etwas zugestoßen ist, und die dioiketai das Vorgeschriebene nicht durchführen, sollen sie denselben Strafbetrag den Erben des Phainippos zahlen, wobei gegen sie die Vollstreckung wie aus einem Gerichtsverfahren zusteht.) Die praxis-Bestimmung berechtigt, wenn man richtig interpungiert, sowohl den Stifter als auch seine Erben. Von der Sache her ist es wenig wahrscheinlich, dass die Berechtigten auf die bloße Behauptung hin, ein oder mehrere dioiketai hätten gegen die Satzung der Stiftung verstoßen, gegen den oder die Beschuldigten sofort die Geldstrafe hätten vollstrecken dürfen. Waren

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Heberdey – Kalinka, Bericht 28, Nr. 28 dankenswerterweise mitgeteilt von Frau Harter-Uibopuu, ebenso die Bestandsklausel in I.Milet I 3, 134, 22–28 (1. Jh. n. Chr.), wo der Amtsträger, der den entgegenstehenden Antrag zur Abstimmung bringt – wohl nach einem Asebieverfahren –, den Göttern(!) 500 Statere ὡς ἐκ καταδίκης schuldet. Keine Strafvorschrift (im heutigen Sinn), sondern Durchsetzung des den Lehrern von der Polis vorenthaltenen Lohnes: πρᾶξιν τοῦ μισθοῦ …| κατὰ τὸν ἀγορανομικὸν νόμον (I.Milet I 3, 145, 63–64; Syll.3 577 mit Anm. 12; 200/199). Vgl. die Formulierung in D. 35.12 (oben II 1a), die auch in Praxisklauseln der Papyri üblich ist. Auf das Problem der nicht mehr praktizierten ‚Personalvollstreckung‘ ist hier nicht einzugehen. I.Iasos 245 (1. Jh. v. Chr. oder Kaiserzeit). Dazu ausführlich Harter-Uibopuu 2013, 88–90, die allerdings von einer „Vollstreckung ohne Einspruchsmöglichkeit ausgeht“.

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die Verwalter aber in die städtische Magistratur eingebunden, kann man auch hier annehmen, dass Phainippos oder seinen Erben die private Vollstreckung unmittelbar im Anschluss an den Schuldspruch in einem Rechenschaftsverfahren offenstand, wer immer dieses betrieben hat. Auch hier liegt aller Wahrscheinlichkeit nach eine Verweisung vor. b) Vollstreckung durch Amtsträger. Vorschriften, wonach – im Gegensatz zu den vorigen Texten – staatliche Amtsträger Privatpersonen (und auch Kollegen im Amt) wegen Gesetzesverletzung zu bestrafen hatten, sind aus verschiedenen Poleis vom fünften Jahrhundert bis in die hellenistische Zeit in großer Zahl belegt.47 Nicht jede Strafvorschrift ist mit einer Vollstreckungsklausel ausgestattet. Diese wenigen bedienen sich häufig der soeben festgestellten Verweisungstechnik. In der Regel weiß man allerdings nichts über den Inhalt der Vorschriften, auf die in den einzelnen Fällen verwiesen wird. Festzuhalten ist, dass derartige Exekutionsklauseln nicht vertraglich ausbedungen wurden, sondern autoritativ, von der Polis oder einer Gemeinschaft, durch Dekret oder Satzung bestimmt waren.48 Praktores49 oder andere Exekutionsorgane wurden nur für Forderungen der Polis aktiv, Privatleute mussten die ihnen privat zustehenden Ansprüche durch private, gegen die Schuldner gerichtete Rechtsakte eintreiben. Staatliche Hilfe erlangten sie nur, wenn die Schuldner sich den formalen Zugriffsakten widersetzten. Erst im ptolemäischen Ägypten war der praktor als staatlicher Funktionsträger für die Zwangsvollstreckung auch aus Privaturkunden zuständig.50 c) Vollstreckung aufgrund übertragener Kompetenz. Verschränkte Kompetenzen ergeben sich, wenn eine Polis ähnlich der Steuer- und Grundstücksverpachtung oder den Bauaufträgen auch die Vergabe von Priesterstellen öffentlich ausschreibt und dem besten Bieter überträgt. Aus Kos sind zahlreiche solche Texte, diagraphai, erhalten (publiziert im Faszikel IG XII 4, 1). Sie legen die Rechte und Pflichten des jeweiligen Priesteramts fest und werden durch Zuschlag an den privaten Bieter (‚Käufer‘) Vertragsdokumente; im vorliegenden Zusammenhang interessiert hieraus nur die Wendung καθάπερ ἐκ δί|κης.51 Zunächst ist festzustellen, dass es einige Strafbestimmungen gibt, in welche die Klausel nicht aufgenommen ist: In Nr. 298, 146–151 haben die tamiai 47 48

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Rubinstein 2010. Ausführlich behandelt von Rubinstein 2010, 203–208. Die der Wendung καθάπερ ἐκ δίκης- ähnlichen Texte lauten: ἐόντος πρ[άξεος …]…|… κὰτ τὸν νόμον τὸν ὑβριστ[ή]ριον (SEG 50, 1195, 37–38, Kyme 3. Jh.; vgl. ὡς δίκην ὕβρεως in IK Lampsakos 9, 34, 2. Jh.); τὰς δὲ πράξεις …|… ἐπιτελείτωσαν οἱ εὔθυναι καθάπερ καὶ τῶν ἄλλων τῶν δημοσίων δικῶν (Syll.3 578, 58–59, Teos 2. Jh.); τὰς δὲ πράξεις εἶναι …|… κατὰ τὸν νόμον τῶν τοῦ ἐμπορίου ἐπιμελητῶν (I.Milet I 3, 140C, 62–63, StV III 482; nach 260). S. Rubinstein 2010, 193–194. 204 Anm. 37 und unten Anm. 56. S. unten Anm. 79. Auch auf diese Quellengruppe macht mich Frau Harter-Uibopuu aufmerksam. Die Texte finden sich in IG XII 4,1 (aus 2010) und werden im Folgenden nur mit Nummer und Zeile zitiert, sie datieren vom 3.–1. Jh. In den IG ist auch die einschlägige Literatur zum ‚Verkauf ‘ von Priesterämtern dokumentiert, s. weiters Parker – Obbink 2000, Wiemer 2003, Scafuro 2021.

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der Gottheit eine Strafe von 3.000 Drachmen zu bezahlen; in Nr. 315, 21–22 fallen 50 Drachmen an die Göttin; im Abänderungsverbot, Nr. 319, 22–24 wird der Schuldige mit 1.000 der Göttin verfallenden Drachmen bestraft und der rechtswidrig ergangene Volksbeschluss für ungültig erklärt, Z. 33–35 1.000 Drachmen; auch in Nr. 325, 15–16 fließt eine Strafe von 9.000 Drachmen an die Gottheiten. Die Götter haben die Klausel πρᾶξις … καθάπερ ἐκ δί|κης nicht nötig. Verfahren, die zur Bestrafung führen, werden – davon getrennt – nur fallweise genannt: in Nr. 304, 24 ἐσαγγέλλειν; in 311, 58–59 Verweisung auf asebeia (ὡς ἀ]σεβοῦντι, Fragment eines Abänderungsverbots); in 315, 5 εὐθῦναι; in 319, 35 eine phasis (φαινέτω) gegen die Priesterin wegen Verstoß gegen ihre Pflichten; in 326, 18 eine apographe (ἀπογραψάντω) und 29 wieder ein ἐσαγγέλλειν. Man kann daraus zwar nicht ein Prozessrecht nach athenischem Muster entwickeln, doch man sieht, dass hinter den diagraphai in Kos ein voll entwickeltes System der Rechtsdurchsetzung stand. Es bestand allerdings kein Anlass, dies in die Ausschreibungen detailliert mit aufzunehmen. Man fragt sich nun, welche Bedeutung vor diesem Hintergrund die praxis-Klausel καθάπερ ἐκ δίκης hatte. Sie kommt insgesamt in fünf diagraphai sieben Mal vor, in der Regel zugunsten des Vertragspartners der Polis, des Priesters oder der Priesterin, einmal zugunsten eines ‚Unterpächters‘ der Priesterstelle (Nr. 319, 13–16). Es geht stets um Leistungen, welche die Opfernden den Vertretern der Gottheit als Entgelt für die sakrale Handlung zu erbringen haben. Man könnte vermuten, dass die Priester, die für diese Einkunftsquelle teuer bezahlt hatten, als Gegenleistung von der Polis durch einen exekutiven Vollstreckungstitel „ohne Gerichtsverfahren“ privilegiert waren.52 Zwei Argumente sprechen jedoch dagegen: In Nr. 315 erlegt die diagraphe einer Gruppe von Leuten die Verpflichtung auf an den Opfern teilzunehmen, widrigenfalls haben sie dem Priester 30 Drachmen zu zahlen (Z. 17–19); dem Priester war somit eine Einnahmequelle garantiert. Die Strafe kann der Priester für sich oder jeder, der ordnungsgemäß geopfert und bezahlt hat, für den Priester καθάπερ ἐκ δίκης vom nicht Erschienenen vollstrecken (Z. 20–21). Die weitere Strafe für dasselbe Vergehen, 50 Drachmen zu zahlen an die Göttin, wird durch normale Popularklage eingetrieben (Z. 21–22).53 Der Grund für diese Unterscheidung liegt nicht in einer Privilegierung des Priesters, sondern in seiner schwächeren rechtlichen Stellung. Werden Rechte der Gottheit verletzt, wäre ein Vorgehen wegen asebeia denkbar, das weder erwähnt noch erklärt werden musste. Priester und Unterpächter sind aber trotz ihrer sakralen Funktion Privatleute und genießen diesen Schutz nicht. Wollen sie die ihnen zustehenden Geldstrafen vollstrecken, muss ihnen die Polis durch eine Verweisung „wie aus einem

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Die Texte sind: IG XII 4, 1, 302, 26; 315, 18–23; 319, 1–2. 13–16. 29–32; 324, 11–14 und 325, 22–23. Für Exekutivwirkung sprechen sich aus Parker – Obbink 2000, 432–433 und Wiemer 2003, 300. Ähnlich ist die unterschiedliche Regelung für den Priester und die Gottheit in Nr. 319, 1–2. 13–16 und 22–24; Nr. 325, 22–23 und 15.

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Gerichtsverfahren“ zu Hilfe kommen. In welchem Erkenntnisverfahren sie den Vollstreckungstitel erlangen, bedurfte ebenfalls keiner Erwähnung. Einen Hinweis könnte Nr. 319, 29–35 geben: αἰ | δέ τίς κα μὴ ἐπιτελέσηι τι … | ἢ μὴ θύσει κατὰ τὰ ποτιτεταγμένα, ἀποτεισάτω τᾶι ἱεραίαι τὰ ἐφ᾿ ἑκάσ|τοις γεγραμμένα ἐπιτίμια, ἁ δὲ πρᾶξις ἔστω αὐτᾶι καθάπερ ἐγ δίκας·| κατὰ ταὐτὰ δὲ καὶ αἴ τινά κα ἁ ἱέρεια μὴ ποιῇ τῶν ποτιτεταγμένων αὐ|τᾶι κατὰ τὰν διαγραφὰν, ἀποτεισάτω δραχμὰς χειλίας ἱερὰς Ἀφροδί|τας, φαινέτω δὲ ὁ χρῄζων κατὰ τὸν νόμον. (Wenn jemand etwas … nicht durchführt oder nicht nach dem Vorgeschriebenen opfert, soll er der Priesterin die jeweils geschriebenen Strafen zahlen, die Vollstreckung soll ihr zustehen wie nach einem Gerichtsverfahren; gemäß denselben [Bestimmungen], auch wenn die Priesterin etwas nicht ausführt von dem, was ihr gemäß der diagraphe vorgeschrieben ist, soll sie tausend der Aphrodite geweihten Drachmen zahlen, die phasis soll erheben, wer will, gemäß dem Gesetz). Nachdem in Z. 29–32 die Vollstreckung der Strafen, welche der Priesterin zu zahlen sind, geregelt ist, fährt die diagraphe mit der Sanktion gegen die Priesterin wegen etwaiger Pflichtverletzungen fort. Sie hat eine Strafe von 1.000 Drachmen an die Göttin zu zahlen (Z. 33–35). Hier wird ausnahmsweise das Erkenntnisverfahren genannt, die phasis (Anzeige) durch einen Popularkläger „gemäß dem Gesetz“ (ob dem χρῄζων ein Anteil an den 1.000 Drachmen zusteht, wird nicht gesagt). Da die beiden Vorschriften mit κατὰ ταὐτά (gemäß denselben [Bestimmungen]) verbunden sind, könnte man auch im ersten Fall als Erkenntnisverfahren zugunsten der Priesterin die phasis vermuten. Ist der in der Anzeige erhobene Vorwurf wegen Verstoßes gegen die Opfervorschriften bestätigt (den in Kos vorgeschriebenen Gang des phasis-Verfahrens kennen wir nicht54), steht der Priesterin die Vollstreckung der in der diagraphe angeordneten Geldstrafe zu „wie aus einem (privaten) dike-Verfahren“. Also ist auch in den von der Polis übertragenen sakralen Kompetenzen die Rechtsfolgenverweisung die wahrscheinlichste Lösung. 3) Einseitig festgelegte Satzungen in Grabinschriften In zunehmendem Maße werden die zu Tausenden von der klassischen bis in die spätrömische Zeit überlieferten Grabinschriften als Rechtsquellen der griechischen und hellenistisch-römischen Poleis herangezogen. Zu beachten ist dabei, dass sich deren Formulare je nach Landschaft und Entstehungszeit stark unterscheiden. Für die

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Zur vielfältigen Gestalt der phasis in Athen, s. MacDowell 1991 und Wallace 2003; in Fällen von Konfiskation geht Rubinstein 2016, 423–424 davon aus, dass in Athen ein gerichtliches Verfahren erst nach Widerspruch des Betroffenen in Gang kommt. Zu weiteren Poleis s. Rubinstein 2016, Tabelle I; sie stellt dort, über den Terminus phasis hinausgehend, Belege für die unterschiedlichen Verfahren zusammen, in welchen ein boulomenos Delatorenprämien erhält.

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Untersuchung der καθάπερ ἐκ δίκης-Wendung ist es schon von der Quellenlage her angebracht, zunächst die Verhältnisse in Lykien55 getrennt vom übrigen Material zu untersuchen. Nach meinen Informationen sind aus der ungeheuren Menge an kleinasiatischen Grabinschriften insgesamt nur sieben Belege bekannt, die für die untersuchte Klausel einschlägig sind: sechs hellenistische Inschriften aus Lykien (zwei davon noch unpubliziert) und eine kaiserzeitliche aus Karien. a) Lykien. Vorauszuschicken ist, dass von den mindestens 150 derzeit bekannten hellenistischen Grabinschriften Lykiens – die Zahl der römischen ist noch viel größer – nur etwa 30 von ihrem Inhalt her für eine rechtshistorische Analyse brauchbar sind.56 Die meisten davon begnügen sich damit, die Eintreibung (praxis) der privat zugunsten des demos oder einer Gottheit festgesetzten Strafen wegen Verletzung des Begräbnisrechts einem Popularkläger (boulomenos) einzuräumen, bei Erhalt der Hälfte oder eines Drittels der Strafsumme. Die manchmal erwähnte Anzeige (prosangelia) und Registrierung (apographe) samt Nennung der Amtsträger, bei denen dies zu geschehen hat, deuten darauf hin, dass es ein festes Verfahren zur Durchsetzung der Grabmulten gab.57 Vor diesem Hintergrund muss man die vier Texte betrachten, die

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Ich danke Dr. Frau Karin Wiedergut für die im Folgenden verwerteten Hinweise aus ihrer an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien geleisteten Arbeit. Nach Erscheinen der von Herrn Dr. Christoph Bernd Samitz, Wien, vorbereiteten Faszikel TAM II 4 und 5 wird sich diese Zahl noch erhöhen. S. die kursorische Übersicht über Amtsträger von Schweyer 2002, 86–87. In Phellos sind die logistai als zuständige Behörde genannt, Schuler 2003, Nr. 3 und Nr. 7 (SEG 53, 1698. 1702). In Istlada (Myra) ist die πρᾶξις … χωρὶς ἀπογραφῆς erwähnt, Schuler 2006, Nr. 4, 17, 22 (SEG 56, 1741. 1739. 1735). Auf S. 421–423 deutet Schuler dies als Parallele zur Vollstreckung „als sei ein Gerichtsurteil ergangen“. Mit Hinweis auf die Eintreibung von Geldstrafen, die im Gymnasiarchengesetz von Beroia (vor 168/67) verhängt werden (SEG 43, 381, B 31–33: prosangelia, apographe bei den exetastai, Kontrolle durch ein dikasterion und schließlich Einschreiten des politikos praktor; s. dazu Rubinstein 2018, 114 und passim) kommt Schuler allerdings zu dem gut begründeten Ergebnis, dass in Istlada das Verfahren zur Eintreibung der Grabmulten vor den Amtsträgern „verkürzt“ werden konnte (auf δώσει … χωρὶς κρίσεως in einer kaiserzeitlichen Grabinschrift aus Akraiphia, Boiotien, IG VII 2725, 8–9, weist mich Frau Prof. Harter-Uibopuu hin). Mit Exekutivkraft, – angeblich – ähnlich der καθάπερ ἐκ δίκης-Klausel in den Grabinschriften, hat das aber nichts zu tun. Einen Hinweis auf den praktor in einer lykischen Grabinschrift haben nun Schuler – Zimmermann 2012, 575–582, Nr. 3 gefunden (Patara, ca. 1. Jh. v. Chr.) Z. 10–14: … ἢ ὁ θάψας ὀφει|λήσει ἱερὰς Ἀπόλλωνος (δραχμὰς) ‚γ τῆς πρά|ξεως οὔσης κατ᾿ αὐτοῦ κατὰ τὸν | πρακτορικὸν νόμον χωρὶς ἀπογρφῆς | πράσσοντι ἐπὶ τῷ ἡμίσει μέρει. (… oder der, der ihn bestattet hat, soll 3.000 dem Apollon geweihte Drachmen schulden, wobei die Eintreibung [jedem, der will,] möglich sein soll, indem er gemäß dem Gesetz über den Praktor die Eintreibung ohne Registrierung [der Klage] bei [Erhalt] der Hälfte veranlasst.) Richtig schließen die Autoren aus diesem Text, dass der Popularkläger „die Eintreibung nicht selbst vornahm“ (S. 579, Anm. 47) und dass die Klausel der „Beschleunigung des Verfahrens“ diente (S. 582; Exekutivkraft geht aber auch hier zu weit). Die im Normalfall zu vermutende gerichtliche Kontrolle dürfte durch das Dekret eines Amtsträgers ersetzt worden sein. Eine den Texten aus Lykien vergleichbare, die praxis vereinfachende Klausel enthält die (viel spätere) Hypothekenurkunde eines Seedarlehens nach Mouziris, P.Vindob.G. 40.822, 16–17 (SB 18, 13167; Mitte 2. Jh. n. Chr.): χωρὶς | [διαστ]ολῆς καὶ προσκ‹λή›σεως; Literatur zu den Besonderheiten dieser Art der Vollstreckung s. Thür 1987, 236 Anm. 23.

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aus dem Rahmen fallen: Drei enthalten die Wendung καθάπερ ἐκ δίκης und ein weiterer ist ähnlich formuliert. Als Beleg für die Exekutivwirkung der Klausel wird traditionell CIG III 4300v, 10– 12 (= LBW 1301, Simena, Zentrallykien, hellenistisch) angeführt: … καὶ ἀποτισάτωι ἐπιτίμιον | τῶι δήμωι (δραχμὰς) ‚ϛ τῆς προσανγελίας οὔσης παντὶ | τῶι βουλομένωι ἐπὶ τῶι ἡμίσει καθάπερ ἐγ δίκης (Z. 10: ἐπίτιμον CIG, corr. Kalinka, Wien, Auskunft Samitz; „… und er soll als Strafe zahlen dem demos 6.000 Drachmen, wobei die Anzeige [möglich] sein soll jedem, der will, bei [Erhalt] der Hälfte so wie aus einem gerichtlichen Verfahren“). Kurz und bündig – aber falsch – wird aufgrund des öffentlichen Interesses an der Materie auf die unmittelbare Vollstreckbarkeit der Strafsumme geschlossen.58 Bei näherer Betrachtung ist nämlich die Annahme der Exekutivkraft wenig wahrscheinlich. Das vorgesehene Einschreiten eines Popularklägers durch Anzeige spricht eher für den normalen Ablauf des Verfahrens unter staatlicher Autorität. Der Bezug auf die dike wird sich anders erklären lassen. Zwei bislang noch nicht beachtete Grabinschriften aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. weisen in der Tat in eine andere Richtung.59 TAM II 526, 7–12 (Aloanda, Westlykien): … ἢ ἀπ̣ο|τισάτω ὁ θάψας τῶι τε υἱ|ωνῶι μου Ἑρμολάωι δρα|χμὰς τρὶς χιλίας καθάπερ | ἐγ δίκης καὶ τῶι δήμωι τὸ ἴσον | πλῆθος (… oder derjenige, der [entgegen dem Obigen] bestattet, soll sowohl meinem Enkel Hermolaos dreitausend Drachmen zahlen so wie aus einem gerichtlichen Verfahren als auch dem demos denselben Betrag). Ähnlich Petersen/Luschan, Reisen II 56, Nr. 108, 4–5 (Timiussa, Zentrallykien): … ἢ ὀφειλήσει ὁ παρὰ ταῦτα θάψας ἐπιτίμιον | καθάπερ ἐ[γ] δίκης Θρασυμάχῳ ἢ τοῖς ἐγγόνοις αὐτοῦ δραχμὰς χιλίας … (… oder es soll derjenige, der gegen diese [Anordnung] bestattet, als Strafe schulden, so wie aus einem gerichtlichen Verfahren, dem Thrasymachos oder seinen Nachkommen tausend Drachmen …). Im Vergleich zum ersten Text fehlt in diesen beiden die prosangelia und statt des boulomenos sind konkrete Personen als Empfänger der Geldstrafe bestimmt, einmal neben dem Staat und einmal alleine,60 und beide sollen καθάπερ ἐκ δίκης berechtigt sein. An dieser Stelle muss man die Frage aufwerfen, wie die Zwangsvollstreckung von Geldforderungen in den griechischen Gemeinden Lykiens organisiert war. Anders als

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Rodríguez Martín 2013, 246–247 mit Anm. 15. Auch diese freundlicherweise von Frau Dr. Wiedergut mitgeteilt. Weshalb im Text aus Timiussa neben den bescheidenen an den Mitberechtigten Thrasymachos zu zahlenden 1.000 Drachmen der demos nicht ausdrücklich mit beteiligt sein sollte, ist rätselhaft. Entweder ist die Erwähnung in der insgesamt schlecht redigierten Inschrift aus Versehen unterblieben oder der zuerst genannte Hegias hielt die Vollstreckung auch ohne finanziellen Anreiz durch Beteiligung eines demos für gesichert (s. dazu unten 3c). Exekutivwirkung kann man der Klausel aus diesem Umstand jedenfalls nicht zusprechen. – Die Zugehörigkeit des Dorfes (der kome) Timiussa zu einer bestimmten Polis (den demos verkörpernd) war im 1. Jh. v. Chr. ungewiss: Kyaneai trat an die Stelle von Myra. Deshalb wollte der Grabherr vielleicht keinen falschen Empfänger der Mult benennen (Erwägung Wiedergut mit Nachweisen in ihrer Arbeit).

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für das hellenistische Ägypten gibt es dazu keine direkten Quellen. Aus beiläufigen Hinweisen in den Grabinschriften61 kann man mit ziemlicher Sicherheit darauf schließen, dass ein bürokratischer Apparat existierte, an den sich die Bürger wenden konnten und vermutlich auch mussten. Die im griechischen Mutterland mit dem altertümlichen dike-Verfahren noch angewandten Formalismen der eigenmächtig begonnenen Rechtsdurchsetzung durch enechyrasia und dike exoules62 waren im hellenistischen Lykien vermutlich nie eingeführt. Zweifellos war dieser vergangene Rechtszustand der hellenisierten Bevölkerung aber bekannt.63 Ich sehe deshalb die Möglichkeit, die dike in der Wendung καθάπερ ἐκ δίκης in Lykien nicht nur insgesamt auf ein gefälltes Gerichtsurteil oder -verfahren zu beziehen, sondern ganz speziell auf die Einleitung des Vollstreckungsverfahrens zielend: „so wie nach einem formalem vollstreckendem Zugriff “.64 Dass die Verweisung auf die dike sich in jenen Grabinschriften findet, welche nicht einen beliebigen boulomenos, sondern eine namentlich genannte Person zum Einschreiten legitimieren, könnte deshalb auf außerjuristischen Erwägungen beruht haben. Der Hinweis auf die dike könnte als Reminiszenz an die klassische Zwangsvollstreckung durch Ausübung der für den Schuldner stets beschämenden formalen Gewalt zu verstehen sein, als mentale Bestärkung des einschreitenden Gläubigers. Der Ausschluss vom Recht, in eine bestimmte Grabstätte gelegt zu werden, scheint vor allem gegen konkurrierende Verwandte gerichtet gewesen zu sein. Wenn der Grabherr den Schutz seiner Verfügungen einer bestimmten Person anvertraute, stattete er diese in jener Funktion vermutlich auch mit der vollen moralischen Autorität aus: Das Einschreiten des Berechtigten gegen denjenigen, der sich ein Bestattungsrecht anmaßt, sollte sozial so bewertet werden, als ob der Berechtigte – den Usurpanten entehrend – formale Gewalt ausgeübt hätte. Der Verletzer des Bestattungsrechts sollte neben der Geldstrafe und den über ihn oft noch zusätzlich verhängten Verfluchungen auch ‚beschämt‘ werden. Rechtlich war die Praxisklausel καθάπερ ἐκ δίκης in den Grabinschriften also überflüssig,65 eine unschädliche Fiktion des formalen vollstreckenden Zugriffs. Das zeigt sich besonders darin, dass sie im Zusammenhang mit dem boulomenos, mit dem keine bestimmte, dem Grabherrn mental nahestehende Person bezeichnet ist, in der 61 62 63

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S. oben Anm. 56. S. oben Anm. 35, 39 und 43. Wesentlich für die Hellenisierung Lykiens war der Einfluss der ptolemäischen Herrschaft, die 295/294 etabliert wurde und bis 197 anzusetzen ist, Wörrle 2012, 359. 367; s. auch Bagnall 1976, 105–109. Ob das ptolemäische Prozessdiagramma (in Kraft vor 263 bis 172, s. oben Anm. 22 mit Text) sich auch auf Lykien erstreckte, ist nicht festzustellen. Die für diese Untersuchung relevanten, einigermaßen sicher zu datierenden lykischen Grabinschriften fallen in die späthellenistische, nachptolemäische Zeit. Zur dike in diesem Sinne s. die Bemerkungen von Wolff 1970, 530 mit weiteren Hinweisen dort in Anm. 15. Bereits Mitteis 1891, 410 zweifelte daran, dass der Klausel in den Grabinschriften „rechtliche Bedeutung zukam“; dem hat sich auch Wörrle 1988, 207 Anm. 141 angeschlossen.

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Regel nicht vorkommt. In dem einen Fall, CIG 4300v, in dem die prosangelia des boulomenos und die Verweisung auf die dike kombiniert sind, scheint der Text übertreibend, wenn auch ebenfalls unschädlich formuliert zu sein.66 Missverstandener Gebrauch alter Formulare scheint auch in der vierten hier relevanten Inschrift vorzuliegen, Schweyer 2002, Nr. 89, 5–8 (S. 269, SEG 43, 980; Turant Assari, Myra, 1. Jh. v. / A. 1. Jh. n. Chr.): … ἤ ὀφειλήσει ὁ θάψας τῇ Ἐλευθέρᾳ κιθαρη|φόρους ἑξακισχιλίας ὡς ἀπὸ καταδίκης τέλος ἐχού|σης, τῆς πράξεως οὔσης παντὶ τῷ βουλομέ|νῳ ἐπὶ τῷ τρίτῳ μέρει. (… oder es soll der Bestattende schulden [der Göttin] Eleuthera sechstausend Kitharephoren[münzen] wie nach einer zu Ende geführten „Verurteilung“, wobei die Vollstreckung [möglich] sein soll jedem, der will, bei [Erhalt] der Hälfte.) In Vollstreckungsklauseln sind zwar die Teile „ὡς ἀπὸ καταδίκης“67 und „καθάπερ δίκην … τέλος ἔχουσαν“68 getrennt belegt, doch ergeben sie in Kombination keinen Sinn: Das erste bezieht sich auf den Zeitpunkt einer durch Verurteilung verhängten Strafe, das zweite auf die ganze Dauer eines Gerichtsverfahrens. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Rechtspflege kann man die Klausel nur als rechtlich belanglose Ausschmückung betrachten.69 b) Karien. Nur am Rande erwähnt sei die altbekannte Inschrift aus Aphrodisias (IAph2007 12.1205, LBW 1639, 2./3. Jh. n. Chr.): … καὶ εἰσοίσει ἕκαστος αὐτῶν εἰς τὸν κυριακὸν φίσκον ἀ|νὰ (δηνάρια) μύρια ὡς ἐκ καταδίκης, ὧν τὸ τρίτον ἔσται τοῦ ἐκδικήσαντος … (… und jeder von ihnen soll einbringen in den kaiserlichen fiscus zehntausend Denare wie aus einer Verurteilung, wovon das Drittel dem Einschreitenden gehören soll …). So wie die Stiftungsinschrift aus Oinoanda70 führt auch diese in die römische Kaiserzeit. Da sie unter den Grabinschriften Kariens völlig isoliert steht, kann man aus ihr zum Vollstreckungsrecht in Aphrodisias weder für die römische Zeit und noch weniger für die hellenistische irgendwelche Erkenntnisse gewinnen.71 c) Ergebnis und Hypothese zur Zwangsvollstreckung. Man könnte – vorbehaltlich besserer Erkenntnisse – vermuten, dass in Lykien die praxis des boulomenos oder der speziell hierzu legitimierten Person die Anzeige (prosangelia) an die zuständigen städtischen Amtsträger, die Registrierung einer Anklage (apographe) und das Betreiben 66

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Das gilt auch für zwei parallele, noch unpublizierte Inschriften aus Zentrallykien (Timiussa und Korba), auf die mich Herr Dr. Samitz, Wien, freundlicherweise hinweist. Insgesamt drei Texte fallen im Verhältnis zu den zahllosen übrigen boulomenos-Inschriften aus ganz Kleinasien statistisch nicht ins Gewicht. S. die Stiftungsinschrift aus Oinoanda (124 n. Chr.; SEG 38, 1462), Wörrle 1988, Z. 83 mit Kommentar und Parallelen auf S. 204–207. S. oben II.1b (Anm. 34) und 1c. Rodríguez Martín 2019, 488 Anm. 18 betrachtet die Ausdrücke als „lexikalische Varianten“ der καθάπερ ἐκ δίκης-Klausel und scheint dabei unbesehen von der Exekutivwirkung aller Varianten auszugehen. Nicht die Wörter, sondern die Sache machen das Recht. Zur parallelen Formulierung s. oben Anm. 66. S. die schon von Mitteis und Wörrle besonders zu dieser Inschrift geäußerten Zweifel oben Anm. 64.

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eines Verfahrens umfasste. Dass über die Verletzung der Grabrechte und somit über die Fälligkeit der Geldstrafe ein Gericht entschied,72 ist wahrscheinlich, doch wissen wir nichts über dessen Gestalt und das Verfahren. Denkbar wäre, dass vom Grabherrn bisweilen ein summarisches Verfahren angeordnet werden konnte, das auf die apographe verzichtete und dem Angeklagten den Weg zum Gericht abschnitt, so dass der Amtsträger den Fall in eigener Kompetenz entschied.73 War die Verletzung des Rechtes an der Grabstätte – wie auch immer – festgestellt, wurde die belangte Person ‚Staatsschuldner‘ – jedenfalls in Bezug auf jenen Anteil, welcher der Polis, einem Heiligtum oder sonst einer Vereinigung (später dem kaiserlichen fiscus) zufiel. Dieser Anteil kann in der Grabinschrift auf zweierlei Arten bestimmt werden: entweder als Gesamtsumme, von welcher der Einschreitende (als ‚Prämie‘) einen Anteil erhalten soll, oder als zwei getrennte Summen.74 Um sich aus dem Zustand als Staatsschuldner zu befreien, muss die belangte Person ihre Schuld an den Staat bezahlen – wohl gemeinsam mit jenem Anteil, der dem Einschreitenden zusteht (gleichgültig wie diese Summe definiert ist); die Staatskasse leitet dann die Summe an diesen weiter.75 Auf diese Weise könnte man sich eine einfache Abwicklung der privat und einseitig festgesetzten Grabmulten vorstellen.76 Wie immer man die Details dieses Verfahrens auch rekonstruieren mag, 72

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Die Frage, ob das Gerichtsurteil von der festgesetzten Höhe der Mult in einem ‚Schätzungsverfahren‘ abweichen konnte, sei hier ausgeklammert. Dass die Wendung καθάπερ ἐκ δίκης eine abweichende Schätzung durch das Gericht ausschließen sollte, ist wenig wahrscheinlich; dafür tritt sie viel zu selten auf. S. die Erwägungen Schulers oben Anm. 56, zu Athen s. oben Anm. 53; weit ausholend doch ohne die Grabinschriften zu behandeln Rubinstein 2018. S. z. B. die oben (II 3a) behandelten Texte CIG III 4300v und TAM II 526. Es ist nicht Aufgabe dieses Beitrags, den einzelnen Fällen statistisch nachzugehen. Ebenso muss hier die Frage ausgeklammert werden, welche Rechtsnatur jene privaten Satzungen hatten, die das Recht zur Bestattung nur bestimmten Personen einräumten (was aus dem Eigentum an der Grabstätte erklärbar ist) und darüber hinaus noch generell formulierte Sanktionen gegen Verstöße dagegen festlegen konnten. Eine kaiserzeitliche Inschrift aus Termessos (lykisch-pisidisches Grenzgebiet) scheint das gegenteilige Verfahren vorzusehen (TAM III 1, 295, 5–8): … ἐπεὶ ἐκτείσει τῆ | βουλῆ (δην.) ‚γ ἅπερ ἐξέσται παντὶ εἰσ|πράσσειν εἰς ἑαυτὸν καὶ τῆ βουλῆ | εἰσφέρειν τὰ ‚αφ‘ (δην.). (… oder [der zuwider Handelnde] soll [als Strafe] zahlen der boule 3.000 Denare, was jedem einzutreiben möglich sein soll für sich selbst und der boule einzubringen die 1.500 Denare). Richtig gedeutet dürften jedoch die 3.000 Denare insgesamt zunächst an die boule fließen, wobei der Popularkläger durch das von ihm eingeleitete Verfahren – im Ergebnis – die Hälfte für sich eintreibt und gleichzeitig veranlasst, dass die andere Hälfte (durch Umbuchung) der boule verbleibt. Die beiden Verben des Relativsatzes beziehen sich auf denselben Vorgang. – In diese Richtung weist auch die Erwähnung des praktorikos nomos in Patara (s. oben Anm. 56), doch muss man bedenken, dass die Materien nicht in jeder Polis gleichförmig geregelt gewesen sein müssen. In Parenthese: Der Gedanke, dass der Betrag, der dem Privaten zusteht, gleichzeitig mit der als Staatsschuld zu zahlenden Summe eingetrieben wird, könnte bereits der dike exoules in Athen zugrunde gelegen sein (zu dieser s. oben Anm. 35). Andernfalls müsste der Gläubiger den ihm aufgrund der gewonnenen dike exoules zustehenden Betrag wiederum mit einer dike exoules eintreiben und das Spiel fände kein Ende. Die dem Staat geschuldete Hälfte der Urteilssumme – diese beträgt insgesamt den doppelten Wert des Grundstücks – wird privilegiert eingetrieben: Gegen den säumigen Staatsschuldner sind die scharfen Sanktionen der Atimie und der öffentlichen Ver-

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eine private, einseitige Satzung mit einer Exekutivklausel gegen unbeteiligte Dritte wird hierin juristisch keinen Platz finden. 4) Die Praxisklausel καθάπερ ἐκ δίκης in den ptolemäischen Vertragsurkunden Werfen wir abschließend den Blick wieder hinüber nach Ägypten. Meyer-Laurin korrigiert zu Recht die Meinung Wolffs, Klauseln wie καθάπερ ἐκ δίκης hätten in den klassischen und hellenistischen Poleis die Durchführung eines Verfahrens vor einem Dikasterion angeordnet. Der Überblick über die inschriftlichen Quellen hat gezeigt, dass einerseits in Vertragsurkunden die Durchführung eines Verfahrens vor einem dikasterion fingiert und damit die Zwangsvollstreckung gemäß den jeweils gültigen rechtlichen Bestimmungen eröffnet wird (Exekutivkraft nach Meyer-Laurin), und dass andererseits Strafbestimmungen in generellen, zumeist staatlichen Normen manchmal auf die Zwangsvollstreckung „so wie nach einem Gerichtsverfahren“ verweisen (Rechtsfolgenverweisung wie Wolff). Beide Erscheinungsformen der Klausel gehen von einem Rechtszustand aus, wonach der Gläubige zur Einleitung der Zwangsvollstreckung privat einen Akt formaler Gewalt gegen den Schuldner setzen musste (mit der Möglichkeit, dass sich dieser zur Kontrolle an ein Gericht wenden konnte). Eine dritte Variante aus dem späthellenistischen Lykien, die Aufnahme der Klausel in eine private ‚Satzung‘ zur Belegung einer Begräbnisstätte, zeigt, dass sie rechtlich auch lediglich deklaratorischen Charakter haben konnte. Die dort festgesetzten Geldbußen wurden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wie in der Polis des Mutterlandes nach einem Akt formaler Eigenmacht eingetrieben, sondern im Rahmen eines staatlichen Vollstreckungsverfahrens; die formale Zugriffshandlung wurde manchmal fingiert. Dieser Befund führt zu den Papyri Ägyptens. Wolff hat gezeigt, dass das Fehlen der Wendung καθάπερ ἐκ δίκης am Charakter der Vollstreckbarkeit der Urkunde nichts änderte. Die Klausel war zwar üblich, aber rechtlich überflüssig. Die Häufigkeit ihres Auftretens in Ägypten verhält sich etwa umgekehrt proportional zu ihrem Nichtauftreten in den lykischen Grabinschriften. Dennoch liegt ihr beide Male derselbe Gedanke zugrunde, die Fiktion eines früher nötigen formalen Zugriffsaktes. Meyer-Laurin schließt aus der von Wolff postulierten – und von ihm ebenfalls vertretenen – rein deklarativen Wirkung der καθάπερ ἐκ δίκης-Klausel in den Papyri ab dem Jahr 172, dass es sich, verglichen mit der konstitutiven Wirkung in den inschriftlich überlieferten Vertragsurkunden „um zwei verschiedene Praxisbestimmungen gehandelt hat, die außer einer zufälligen Ähnlichkeit des Wortlauts nichts miteinander steigerung seines Vermögens nach apographe vorgesehen, s. Harrison 1971, 212–213 und Rubinstein 2010, 193. Dass der private Gläubiger von der staatlichen Eintreibung der Staatsschulden profitieren könnte, ist zwar nirgends belegt, doch ist die Quellenlage zur dike exoules insgesamt äußerst dürftig.

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gemein hatten“.77 Dem ist nicht zu folgen. Die Betrachtung der Exekutivwirkung allein trübt den Blick. Sie ist nicht die treibende Kraft, sondern nur ein Symptom der äußeren Umstände. Der Grund für die verschiedenen dogmatischen Figuren (Exekutivklausel, Rechtsfolgenverweisung oder rechtlich unerheblicher Zusatz) sind unterschiedlich gestaltete Methoden der Zwangsvollstreckung. In den Poleis beginnt die Vermögensexekution mit einem Akt formalisierter Eigenmacht gegen den Schuldner.78 Die Berechtigung zu diesem privaten „vollstreckenden Zugriff “79 kann nur der Spruch eines Dikasterion erteilen. Dieser kann allerdings in der privaten Urkunde fingiert oder in einer Gesetzesbestimmung durch Rechtsfolgenverweisung ersetzt werden. Im Ptolemäerreich gibt es bei der Zwangsvollstreckung keine formalisierten Zugriffshandlungen des Gläubigers. Private Gläubiger handeln durch die Person des Praktors, der staatliche Funktion ausübt.80 Für ihn ist nur das Vorliegen einer gültigen Urkunde maßgeblich. Trotz der geänderten Rechtslage ist aber in der griechischen Mentalität die Idee vom dike-Zugriff lebendig und die Klausel im Gedächtnis geblieben. Wie die Grabinschriften (oben II.3) gezeigt haben, hat die – dort selten verwendete – καθάπερ ἐκ δίκης-Wendung die außerrechtliche Funktion, den Einschreitenden moralisch zu bestärken und den zuwider Handelnden zu entehren. Auch im ptolemäischen Ägypten wollten die Gläubiger, gerade nach Abschaffung der Dikasterien, den im Recht der Poleis bedrohlichen und nun rechtlich überflüssigen Satz in ihren Urkunden nicht missen, er erstarrt dort zur formelhaften Wendung. Seine Häufigkeit ist dadurch zu erklären, dass in den Schuldverträgen dem Gläubiger immer eine konkrete, eventuell zuwider handelnde Person als Schuldner gegenüberstand. Der Grabherr hatte aber in der Regel weder im zuwider Handelnden noch im künftig einschreitenden boulomenos eine konkrete Person im Auge. Nur wenn, wohl aus dem Kreis seiner Verwandtschaft, die konkrete Gefahr drohte, dass seine Satzung verletzt würde, wer künftig in dem von ihm errichteten Grab beigesetzt werden dürfe, ermächtigte er eine Person seines Vertrauens, die Geldbuße einzutreiben. In dieser konkreten Situation standen einander gleichsam ‚Gläubiger‘ und ‚Schuldner‘ bereits von Anfang an gegenüber (s. oben II.3a). Und es machte Sinn, dem Vertrauensmann die moralische Keule in die Hand zu geben, den Konkurrenten zu entehren. So wie die eingangs behandelte zwischenstaatliche Schiedsgerichtsbarkeit zeigt auch die Betrachtung der unterschiedlichen Verfahren der Zwangsvollstreckung in hellenistischer Zeit – die Geschichte der Praxisklausel καθάπερ ἐκ δίκης ist damit freilich noch nicht zu Ende geschrieben – den hohen Grad an Rechtsstaatlichkeit, an 77 78 79 80

Meyer-Laurin 1975, 204. S. oben Anm. 35, 39, und 43. S. Wolff, oben in Anm. 63. Rupprecht, 1994, 149; anders die Funktion des praktor in den Poleis, s. oben Anm. 48, zu Lykien Anm. 56. Belegt ist der praktor in Alexandria bereits im 3. Jh. (P.Hal. 1 – Dikaiomata, nach 259 – II 47, zur Zwangsvollstreckung s. auch VII 164), doch fehlen für diese Zeit genauere Angaben über seine Funktion; Details s. Wilcken 1912, 185 (hauptsächlich Finanzverwaltung); Wolff 1962, 23–27.

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rechtlichem und ethischem Durchdringen der gesellschaftlichen Verhältnisse, im griechischen Rechtskreis. Das zu zeigen ist auch seit Jahren ein Anliegen des nun vom aktiven Dienst entbundenen, mit diesem Band geehrten Kollegen, mit dem ich in jahrelanger Zusammenarbeit verbunden bin. Bibliographie Alonso, J. L., „Juristic Papyrology and Roman Law,“ in: Du Plessis, P. J., Ando, C., Tuoriu, K. (Eds.), Oxford Handbook of Roman Law and Society, Oxford 2016, 59–69. Arnaoutoglou, I., „Dispute Settlement between poleis-Members in the Achaean League. A New Source,“ Dike 12/13, 2009/10, 181–201. Bagnall, R. S., The Administration of the Ptolemaic Possessions Outside Egypt, Leiden 1976. Dreher, M., Sophistik und Polisentwicklung, Frankfurt a. M. 1983. Dreher, M., Hegemon und Symmachoi, Berlin – New York 1995. Dreher, M., „Bürgerstaat und Basisdemokratie,“ Dike 8, 2005 (2007), 115–162. Harrison, A. R. W., The Law of Athens. The Family and Property, Oxford 1968. Harrison, A. R. W., The Law of Athens. Procedure, Oxford 1971. Harter-Uibopuu, K., Das zwischenstaatliche Schiedsverfahren im Achäischen Koinon. Zur friedlichen Streitbeilegung nach den epigraphischen Quellen, Köln 1998. Harter-Uibopuu, K., „Bestandsklauseln und Abänderungsverbote,“ Tyche 28, 2013, 51–96. R. Heberdey, E. Kalinka, „Bericht über zwei Reisen im südwestlichen Kleinasien,“ Denkschriften Kaiserliche [Österreichische] Akademie der Wissenschaften, ph.-hist. Cl., 45, 1, Wien 1897. Kramer, B., Sánchez-Moreno Ellart, C. M., Neue Quellen zum Prozessrecht der Ptolemäerzeit. Gerichtsakten aus der Trierer Papyrussammlung (P.Trier I), Berlin 2017. Kränzlein, A., „Bemerkungen zur Praxisklausel καθάπερ ἐκ δίκης,“ in: Medicus, D., Seiler, H. H. (Eds.), Festschrift für Max Kaser zum 70. Geburtstag, München 1976, 629–634. Luraghi, N., Magnetto, A., „The Controversy between Megalopolis and Messene in a New Inscription from Messene (With an Appendix by Christian Habicht),“ Chiron 42, 2012, 509–548. MacDowell, D. M., „The Athenian Procedure of Phasis,“ in: Gagarin, M. (Ed.), Symposion 1990. Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte 8, Köln 1991, 187–198. Meyer-Laurin, H., Zur Entstehung und Bedeutung der καθάπερ ἐκ δίκης-Klausel in den griechischen Papyri Ägyptens, in: Wolff, H. J. (Ed.), Symposion 1971. Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte 1, Köln – Wien 1975, 189–204. Migeotte, L., L’emprunt public dans les cites grecques, Québec – Paris 1984. Mitteis, L., Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs, Leipzig 1891. Parker, R., Obbink, D., „Sales of Priesthoods on Cos,“ Chiron 30, 2000, 415–449. Rodríguez Martín, J.-D., „Sobre la supervivencia de la cláusula καθάπερ ἐκ δίκης en los papiros romanos y byzantinos,“ RIDA 60, 2013, 243–277. Rodríguez Martín, J.-D., „Más allá de la πρᾶξις: los usos olvidados de la formula καθάπερ ἐκ δίκης,“ in: Babusiaux, U., et al. (Eds.), Der Bürge einst und jetzt. Festschrift für Alfons Bürge, Zürich et al. 2017(a), 527–568. Rodríguez Martín, J.-D., „La relación entre las fórmulas καθάπερ ἐκ δίκης y κατὰ τὸ διάγραμμα en los papiros ptolemaicos y romanos,“ in: Albarrán Martínez, M. J., et al. (Eds.), Estudios Papirológicos, Madrid 2017(b), 143–170.

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Ordnung und Gemeinsinn Die Entstehung der Isonomie* Charlotte Schubert In den Betrachtungen über die Isonomie spielt die politische Entwicklung der Poleis auf dem griechischen Festland, insbesondere natürlich in Athen, als Motor für die Entstehung der Demokratie eine zentrale Rolle.1 Zwar hat sich auch in Athen die Demokratie schrittweise entwickelt, doch gilt der Sturz der peisistratidischen Tyrannis und die anschließende Reform, die Kleisthenes durchführte, als Initialmoment.2 Von dieser Phase der attischen Geschichte aus, von manchen Althistorikern auch als ‚athenische Revolution‘ bezeichnet,3 wird die Entwicklung der Demokratie her definiert. Dabei wird selbstverständlich berücksichtigt, daß diese Entwicklung sich nicht innerhalb weniger Jahre vollzog und daß die Etablierung der repräsentativen Struktur, ihre Einübung und Akzeptanz einige Zeit benötigt haben wird. Trotzdem betrachtet man diese Entwicklung als konzeptionelle Einheit.4 Auch die damit einhergehende Begriffsbildung, in den Termini der Isonomie und Demokratie bzw. ihren adjektivischen und verbalen Formen zu erkennen, wird in der Regel auf Athen fokussiert.5 Christian Meier hat in seinem Werk ‚Die Entstehung des Politischen bei den Griechen‘ bereits betont, daß diese Entwicklung wohl kaum auf Athen beschränkt gesehen werden und

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Dieser Beitrag, der als Verschriftlichung eines Vortrags aus dem Jahr 2017 gedacht war und 2018 geschrieben wurde, steht im Kontext verschiedener Arbeiten die ich in den letzten Jahren zu dem Thema der Isonomie verfaßt habe: Schubert 2016, Schubert 2017 und Schubert 2021. Insbesondere in meine Monographie über Isonomie sind wesentliche Teile dieses Beitrags eingegangen, woraus sich zahlreiche, auch wörtliche Übereinstimmungen ergeben. Gleichwohl stellt der vorliegende Aufsatz die Zusammenfassung einer meiner wesentlichen Thesen zur Entstehung der griechischen Isonomie dar und kann so auch für sich stehen. Vgl. insb. Raaflaub – Ober – Wallace 2007, Schubert 2021, 2. Raaflaub in: Raaflaub – Ober – Wallace 2007, 145 f. Meier 1980, 88 ff.; Cartledge 2009, 70. Neuere Überlegungen zum Begriff Isonomie finden sich bei Dmitriev 2015, 53–83; Kouloumentas 2014, 867–887; Lombardini 2013, 393–420. Eder 1988; Flaig 2004; Ober 1993, 215 ff.; insb. Ober in: Raaflaub – Ober – Wallace 2007, 83–104. Schubert 2021, 3. Raaflaub in: Raaflaub – Ober – Wallace 2007, 113.

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daß Athen ‚zunächst nicht führend gewesen‘ sein kann.6 Gleichwohl verweisen nach Ansicht von Christian Meier die Nachrichten über frühe isonome Ordnungen auf ‚breitere Oligarchien‘ und erst mit Kleisthenes in Athen habe der Entwicklungsprozeß seine spezifische Richtung auf die Demokratie hin erhalten. Hansen hingegen hielt Isonomia für ein schwach bezeugtes Schlagwort und keineswegs für einen Grundwert der athenischen Demokratie, wie dies etwa Finley noch gesehen hatte.7 In neueren Arbeiten wird Isonomie weniger als Ordnungsbegriff gesehen, sondern eher als Ausdruck von „increasingly egalitarian (‚isonomic‘) constitutions“.8 Die Rolle Ioniens, die noch Jean-Pierre Vernant so nachdrücklich hervorgehoben hat, indem er auf Isonomia als Prinzip eines bürgerschaftlichen Kosmos hingewiesen hat, welches wie das Kosmosmodell des Anaximander auf ein meson hin, eine Mitte, ausgerichtet ist, ist im Verlauf dieser Diskussion völlig in den Hintergrund getreten, ja recht eigentlich auch verdrängt worden.9 Dieser, auf Athen fokussierten, Perspektive widerspricht nun aber die Darstellung, die Herodot in seinem Geschichtswerk präsentiert, eklatant: Er berichtet bekanntlich von einer Reihe an Versuchen ionischer Poleis, Isonomien einzurichten. Christian Meier und viele andere sahen und sehen diese als Oligarchien an, andere vermuteten eine Rückprojektion aus der Erfahrung in Athen und wieder andere schlicht eine Fiktion des Erzählers Herodot. Schließlich ergibt sich implizit aus der Annahme, daß die Vorstellung von Isonomie aus der Ablehnung der Tyrannis entstanden ist, somit im Ursprung eher von aristokratischen Politikvorstellungen stammt, daß es auszuschließen sei, daß die ionischen Isonomien mit einer politischer Organisation verbunden waren wie sie in Athen durch die kleisthenischen Reformen entstand. Daran knüpft sich dann die weitere Annahme, die attische Isonomie, die man mit der Reform des Kleisthenes verbindet, sei etwas grundsätzlich anderes gewesen als die bei Herodot genannten ionischen Isonomien.10 Im Folgenden soll einerseits die Frage im Vordergrund stehen, wie plausibel Herodots Darstellung der ionischen Isonomien ist und andererseits, was wir uns unter diesen ionischen Isonomien vorzustellen haben. Im Hinblick auf die verwendete Begrifflichkeit hat Herodots Darstellung eine gewisse Historizität für sich, da die Entstehung des Begriffs durchaus in die historische Phase am Ende des 6. Jahrhunderts verweist. Die bekanntlich ältesten Belege sind ein attisches Trinklied, das Harmodios und Aristogeiton das Verdienst zuspricht, den Athenern die 6 7 8 9 10

Meier 1980, 86, 88. Hansen 1995, 84; Finley 1983, 139; vgl. Bleicken 1985, 32, 191 u. ö.; Schubert 2021, 11. Vernant 1965, 576–95; Vgl. Raaflaub 2017, 114. Vgl. auch Raaflaub in: Raaflaub – Ober – Wallace 2007, 15 und Robinson 1997; Schubert 2021, 10–11. So jüngst noch Sassi 2007, 189–218 und auch in der Arbeit zur Isonomie von Dmitriev 2015, 53–83 wird der Meson-Begriff als unspezifisch für die politische Entwicklung charakterisiert. Vgl. dazu ausführlich Schubert 2021. Pars pro toto: Kienast 2002, 9 f. mit Anm. 32.

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Isonomie gebracht zu haben, aber auch das in den pseudo-plutarchischen Placita überlieferte Konzept, das der Naturforscher und Arzt Alkmaion von Kroton entwickelt hat: Ath. 15.695a:11 ἐν μύρτου κλαδὶ τὸ ξίφος φορήσω, ὥσπερ Ἁρμόδιος καὶ Ἀριστογείτων, ὅτε τὸν τύραννον κτανέτην ἰσονόμους τ’ Ἀθήνας ἐποιησάτην

Im Myrtenzweige tragen will ich mein Schwert, so wie Harmodios und Aristogeiton, da den Tyrannen sie erschlugen, Athen isonom machten.

Das Trinklied schreibt also den Tyrannentötern das Verdienst zu, die Athener isonom gemacht zu haben, während die Beschreibung des Arztes und Philosophen Alkmaion, ganz allgemein Tyrannis (als Monarchie bezeichnend) und Isonomie mit Krankheit und Gesundheit vergleicht:12 Plu., Placita Philosophorum 5.30; Stobaios, Anthol. 4. 35.36; Diels – Kranz 24 B413 Ἀ. τῆς μὲν ὑγιείας εἶναι συνεκτικὴν τὴν ἰσονομίαν τῶν δυνάμεων, ὑγροῦ, ξηροῦ, ψυχροῦ, θερμοῦ, πικροῦ, γλυκέος καὶ τῶν λοιπῶν, τὴν δ› ἐν αὐτοῖς μοναρχίαν νόσου ποιητικήν· φθοροποιὸν γὰρ ἑκατέρου μοναρχίαν. καὶ νόσον συμπίπτειν ὡς μὲν ὑφ› οὗ ὑπερβολῆι θερμότητος ἢ ψυχρότητος, ὡς δὲ ἐξ οὗ διὰ πλῆθος τροφῆς ἢ ἔνδειαν, ὡς δ› ἐν οἷς ἢ αἷμα ἢ μυελὸν ἢ ἐγκέφαλον. ἐγγίνεσθαι δὲ τούτοις ποτὲ κἀκ τῶν ἔξωθεν αἰτιῶν, ὑδάτων ποιῶν ἢ χώρας ἢ κόπων ἢ ἀνάγκης ἢ τῶν τούτοις παραπλησίων. τὴν δὲ ὑγείαν τὴν σύμμετρον τῶν ποιῶν κρᾶσιν.

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Alkmaion sagt, für die Gesundheit sei die Isonomie der Kräfte (Qualitäten) bestimmend, des Feuchten, Trockenen, Kalten, Warmen, Bitteren, Süßen und der übrigen; aber eine Monarchie unter ihnen bewirke Krankheit. Denn die Monarchie von einem der beiden (oder: unter ihnen) sei verderblich. Krankheit tritt der Ursache nach durch das Übergewicht an Wärme oder Kälte auf, dem Anlaß nach infolge der Fülle an Nahrung oder Mangel, dem Ort nach im Blut, Knochenmark oder Gehirn. Befallen würden diese manchmal auch aus äußeren Ursachen, infolge der Eigenschaft von Wasser, Land, Mühen, Zwang oder dergleichen. Gesundheit aber beruhe auf der symmetrischen Mischung der Qualitäten.

Schubert 2021, 115. Das Trinklied ist bei Athenaios (Ath. 15.695) überliefert, das Fragment des Alkmaion (Diels – Kranz 24 B4) sowohl bei Plutarch als auch Stobaios, woraus Diels dann einen Text des Aëtius komponiert hat. Der griechische Text wird hier zitiert nach der Vorsokratiker-Ausgabe von Diels – Kranz; die Überlieferung ist kompliziert, vgl. dazu Mansfeld 2013, 78–95, der den Terminus Isonomie als eine spätere Hinzufügung ansehen möchte. Anders hingegen Kouloumentas 2014, 867–887. Zu der Placita-Überlieferung und der Frage, ob man sie Plutarch wirklich absprechen sollte: vgl. Schubert 2017a, 43–57. Zu dem Text des Alkmaion ausführlich Schubert 2021, 154–155, 261–270 und insb. zu der handschriftlichen Überlieferung a. a. O. Anm.931.

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Zwar stehen diese Texte in keinem Bezug zu den Ereignissen in Ionien, aber sie geben einen chronologischen Fixpunkt für die Verwendung des Begriffs um 500 v. Chr. Interessant an dem Text des Alkmaion ist, wie er durch die Verbindung der politischen Begriffe mit Vorstellungen davon, wie Krankheit- und Gesundheit entstehen, den darin liegenden Prozeßcharakter auch auf die politischen Begriffe rücküberträgt, wodurch für diese wiederum einiges verdeutlicht wird. Die Herrschaft des Einen führt zur Krankheit, weil die Qualitäten nicht nach einem gemeinsamen Maß aller beteiligten Qualitäten gemischt sind. Dagegen ist Gesundheit genau auf diese Mischung aller gegründet. Die politischen Begriffe vermitteln dabei nicht nur ihren eigenen Kontext, der auf den bekannten Gegensatz von Tyrannis und Isonomie verweist, sondern sie erhalten ihrerseits durch den Kontext der physiologischen und pathologischen Prozesse von Krankheit und Gesundheit eine Erklärung. Der Mischung der Qualitäten entspricht im politischen Bereich die Teilhabe aller Bürger als aktiv partizipierende und eben nicht die Alleinherrschaft. Die Teilhabe im Sinne einer aktiven Rolle ergibt sich in diesem Text aus der Tatsache, daß die Qualitäten verderbenbringend sein können, wenn es zu einer ‚Alleinherrschaft‘ einer Qualität kommt. Die Richtschnur für diese Teilhabe ist das gemeinsame Maß (σύμμετρον),14 das besagt, daß niemand aus dieser Gemeinschaft herausragt. Das Ziel ist die Gesundheit, die mit, durch und aus dieser Gemeinschaft erreicht wird. Das Wohl des Körpers ist abhängig davon, daß die einzelnen Elemente gemeinschaftlich interagieren. Auch wenn der Text des Alkmaion in keiner Weise institutionelle Zusammenhänge anspricht, die allerdings indirekt aus der verwendeten Mischungsmetapher herausgelesen werden können,15 so ist doch aus der Verbindung mit der prozessualen Dynamik zu erkennen, daß die Übertragung der Begriffe Isonomie und Monarchie hier sowohl Aufschluß über den medizinischen Bereich als auch den des politischen Denkens seiner Zeit gibt.16 Herodot bietet demgegenüber eine historisch ausführliche und ausgefeilte Darstellung, wann und wo in Ionien über Isonomien verhandelt wurde. Sieht man den großen Spannungsbogen der ersten sechs Bücher insgesamt, so ist die Isonomie in Ionien einer der Hauptzüge seiner Darstellung, die mit den Ratschlägen des Thales und Bias (1.170) beginnt, nach dem Sturz des Polykrates mit den Aktionen des Maiandrios in Samos (3.142) sowie dem Beinahe-Verrat der Ionier an der Donaubrücke während des Skythenfeldzuges des Dareios (4.137) weitergeführt wird. Beginn und Ende des Ioni14 15 16

Schubert 2021, 164. Vgl. dazu Triebel-Schubert 1984, 40–50 und Schubert 2021, 142–179. Vgl. dazu Raaflaub 2017, 108–118 zu dem Begriff des ‚politischen Denkens‘ und der Entwicklung im 7./6. Jahrhundert. Zu der Thematik des prozessualen Denkens und der Entwicklung eines Prozessualitätsbegriffs im politischen und philosophischen Denken dieser Zeit: Walter 2017. Allerdings würde ich dabei die Rolle Heraklits nicht überschätzen, sondern dies eher in einem kommunikativen Raum des politischen und philosophischen Denkens in Ionien ansiedeln (aus dem die Pythagoreer ebenfalls kamen und von diesem zweifellos geprägt waren).

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schen Aufstands (5.37;6.43) sind der Schlußpunkt. Durch die gesamten 50 Jahre der Geschichte Ioniens bis zur Reorganisation durch Mardonios nach der Niederlage bei Lade 494 v. Chr. läßt sich das Thema von Isonomie als Teil ionischer Politik verfolgen.17 Herodot verwendet dabei auch den später entstandenen Begriff der Demokratie, so daß schnell der Eindruck entstehen könnte und auch entstanden ist, daß er die beiden Begriffe deckungsgleich verwendet hat. Auch die Frage, ob es sich bei Isonomie um ein Vorläuferkonzept zur Demokratie handeln könne, ist in diesem Zusammenhang behandelt worden. Die Schwierigkeit liegt nicht nur darin, daß die Bedeutung des Begriffes Isonomie im Hinblick auf seine Tragweite unterschätzt worden ist, weil man immer die Entwicklung in Athen vor Augen hat und hatte,18 sondern ist wohl auch darin begründet, daß meist zu wenig zwischen politischen Ordnungsvorstellungen und institutionellen Strukturen unterschieden wird.19 Wenn an den Orten und zu den Gelegenheiten, die Herodot beschreibt, über Isonomie gesprochen wurde und der Begriff im Kontext von politischen Auseinandersetzungen eine Rolle spielte, so liegt es nahe, die Verteilung von Herrschaftsausübung, politischen Ressourcen und Organisationsformen damit in Verbindung zu sehen, jedoch bedeutet dies nicht, daß Isonomie gleichbedeutend mit den in diesen Kontexten diskutierten Organisations- und Herrschaftsformen sein muß. Auch die weitreichenden Konsequenzen sind miteinzubeziehen, wenn es um die Änderung und Neuverteilung von Herrschaft und Macht sowie ihrer Verwirklichung in der politischen Praxis ging: Eine Vergrößerung der Gruppe, die Zugang zu politischer Macht haben sollte, bedingte Änderungen oder Neueinführung in der Etablierung des Abstimmungsrechts, dies setzte immer die Neueinteilung der Bürgerschaft in Untergruppierungen zur Realisierung dieses Stimmrechtes voraus, ebenso Veränderungen der Ämterstruktur und eine Reform des Rates hin zu einer repräsentativen Zusammensetzung.20 Dies sind allesamt Infrastrukturen einer politischen Organisationsform, wie man sie in dieser Detailtiefe nur aus Athen mit und seit den kleisthenischen Reformen kennt. Eine solche Infrastruktur ist aber nicht gleichzusetzen mit Isonomie, sie wäre jedoch die unmittelbare Konsequenz der Isonomie, wenn die gleiche Teilhabe, die das Konzept dem Wort und dem Sinn nach beinhaltet, auch praktisch verwirklicht werden soll. Hieran zeigt sich, ebenso es sich aus dem Text des Alkmaion ergibt, daß Isonomie ein ganz anders gelagerter Begriff ist als ‚Demokratie‘: Isonomie ist auf die gemein17 18 19 20

Ausführlich dazu Schubert 2017, 131–152. Schubert (2021), 63–64. Vgl. Nakategawa 1988, 257–275, der allerdings zu anderen Ergebnissen kommt, da er genau diesen Fokus auf Athen legt. Demgegenüber geht Dmitriev 2015, 53–83 auf diese Passagen ein. So z. B. auch Dmitriev 2015, 66, der Isonomie nicht als politischen Begriff verstehen will. Zu Isonomie als einer Art „Mischverfassung“: P. J. Rhodes, s. v. Isonomia, DNP 1143 und OCD s. v. p. 748 sowie Lévy 2005, 132. Vgl. dazu ausf. Schubert 2021, 64 f.

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schaftsbildenden Prozesse ausgerichtet und sehr viel mehr auf ethische Normen als die „klassischen“ Verfassungsbegriffe. Das schließt nicht aus, daß in einer Diskussion über die Einführung der Isonomie in einer beliebigen Polis auch die genannten Infrastrukturen eingeführt wurden oder zumindest beabsichtigt oder diskutiert wurde, sie in der jeweiligen Polis einzuführen.21 Daß solche Infrastrukturen zur Verwirklichung der Teilhabe auch im 6. Jahrhundert bereits praktiziert wurden, ist an der wohlbekannten Inschrift aus Chios abzulesen, die all dies lange vor Kleisthenes belegt – in der gewünschten Detailtiefe der politischen Infrastruktur, allerdings ohne den Begriff der Isonomie zu verwenden. Die Inschrift zeigt eine politische Organisationsform mit der Volksversammlung und dem Rat als repräsentativ zusammengesetztem Organ aus den Untergruppierungen, d. h. genau den infrastrukturellen Elementen, die zur praktischen Verwirklichung von Isonomie erforderlich sind. Auch wenn der Begriff Isonomie in dem Kontext der Inschrift nicht begegnet, so ist doch der Gedanke der Teilhabe die Grundlage der in der Inschrift niedergelegten Organisationsform.22 Wenn man nun mit der Einführung einer Isonomie keine Änderungen der politischen Infrastruktur in Verbindung bringen will oder auch nicht einmal geplante Veränderungen, dann ist die Isonomie eine eigentümlich blutleere Formulierung. Es wäre auch kaum zu verstehen, warum die Einführung dieser Isonomien fast immer mit politischen Umsturzgeschehen bzw. dramatischen Veränderungen verbunden ist.23 Die Konsequenz wäre, daß Herodot als unsere Hauptquelle für die Isonomien in Ionien die gesamte politische Geschichte Ioniens rückprojizierend umgeschrieben hat.24 Läßt sich hingegen zeigen, daß Herodots ionische Isonomien historisch plausibel sind, dann bietet sich auch eine ganz andere Möglichkeit, die Bedeutung von Isonomie

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Nakategawa 1988, 279 kommt – mit Bezug auf die Niederlegung der Tyrannis durch Aristagoras und die Einführung der Isdonomie in Milet – zu dem entgegengesetzten Schluß: „ … that isonomia demands the establishment of laws or institutions but does not necessarily guarantee enforcement and operation of them; that its outward appearance of institution and legislation cannot always create the real things.“ Schubert 2021, 81–82. Cartledge 2009, 8 kommt daher, da er so argumentiert: „for what in practice was to count as an ‚equal‘ sharing of power, and who were the ‚people‘ entitled to share it?“ auch genau zu dieser Schlußfolgerung: „Iso-nomia stood for the most general and unspecific principle of political equality;“. Zu den Umsturzgeschehen bzw. politischen Veränderungen: Persien (Hdt. 3.80), Samos (Hdt. 3.142), Ionien (4.137), Milet und Ionien (Hdt. 5.37), Athen (Hdt. 5.78; 6.43 und 6.131), Kos (Hdt. 7.164); vergleichbar auch die Rede der Korinther bei Hdt. 5,92. Kahn 1979, 92. Letztlich läuft die Ansicht Raaflaubs, daß Herodot vor allem aus der Sicht seiner Zeit und mit Bezug auf die Diskussion in Athen über die ionischen Isonomien geschrieben habe, genau darauf hinaus. Eine solche Skepsis ist jedoch nicht überraschend angesichts des bis vor wenigen Jahren verbreiteten Mißtrauens gegenüber Herodots Methode: Zu der Skepsis gegenüber Herodots Methode haben die Arbeiten von Fehling 1971 und Pritchett 1993 maßgeblich beigetragen. Vgl. demgegenüber Lateiner 1989. Zu dem komplexen Verständnis von Fiktion in der Arbeit des Historiographen bei Herodot Schubert – Sier 2012.

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als Ordnungsvorstellung zu fassen sowie die Differenz zwischen Isonomie und Demokratie historisch zu kontextualisieren. Herodot beschreibt einen großen Spannungsbogen von der ersten persischen Unterwerfung Ioniens durch Kyros bis zur Niederlage nach dem ionischen Aufstand. Er beginn mit Thales: Thales schlägt in einer Versammlung der ionischen Poleis in ihrem Bund, dem Panionion, vor, eine gemeinsame politische Organisationsstruktur mit einem zentralen, repräsentativen Rat einzurichten:25 Einrichtung einer Ratsversammlung am Mittelpunkt, lokalisiert in Teos, da es geographisch der Mittelpunkt Ioniens sei, und die Umwandlung der Poleis zu Demen, d. h. Einführung eines strukturellen Synoikismos.26 Dieser Rat basiert auf einer Vorstellung von Mitte als Symmetriepunkt, wie man dies auch in den kosmologischen Modellen der Zeit erkennen kann, weist aber auch auf ein politisches Repräsentationskonzept hin, das Gleichheit aller Beteiligten ermöglicht. Vergleicht man diese herodoteische Schilderung der Entwicklung in Ionien mit der kleisthenischen Reform, dann fällt sofort auf, daß der Ratschlag des Thales und der Kern der kleisthenischen Maßnahmen das entscheidende Element gemeinsam haben: In Athen hat Kleisthenes durch einen Zusammenschluß der Bevölkerung Attikas – vergleichbar einem Synoikismos – eine neue politische Organisationsstruktur eingerichtet. Die Ionier, im Gegensatz zu den Athenern, schlagen aber diesen Weg nicht ein, denn sie folgen dem Rat des Thales nicht. Die weitere Entwicklung der Isonomie in Ionien läuft über mehrere Stationen: Nach dem Tod des samischen Tyrannen Polykrates soll sein Nachfolger Mainadrios 522 v. Chr. versucht haben, in Samos eine Isonomie einzurichten, aber auch dieses Vorhaben scheitert.27 Offenbar wollten die Samier ihre Freiheit gar nicht.28 Eine interessante Parallele berichtet Herodot aus dem Skythenfeldzuges des Dareios. Die Ionier sollten Istros-Brücke sichern und Miltiades, der spätere 25

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Asheri 2007, ad loc. 191 sieht hier bei Herodot Elemente einer politischen Utopie aus intellektuellen Zirkeln Milets, die er chronologisch in die Zeit zwischen der persischen Eroberung und dem ionischen Aufstand einordnet. Vgl. demgegenüber Raaflaub 2017, 116 f., der hier ebenso eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu den kleisthenischen Reformen sieht. Schubert 2021, 65–67. Hdt. 3.142–146. Raaflaub 1987, 225 f. und Raaflaub 1980, 139 ff. sieht dies als historisierende Fiktion an. Vgl. Asheri 2007, ad loc. 518 f., der im Anschluß an frühere Arbeiten Raaflaubs hier den Niederschlag der antityrannischen Rhetorik der Griechen sieht. Raaflaub 2004, 105 f. und bes. 110: Zwar hält Raaflaub die Einrichtung eines Kultes für Zeus Eleutherios für eine historisierende Fiktion, sieht dafür jedoch die Umstände dieser Isonomie, die er hier explizit als eine aristokratische Form der Regierung bezeichnet, als zuverlässig tradiert an. Andererseits beschreibt Herodot auch den Machtverzicht des koischen Tyrannen Kadmos (7.164.1) – in den Jahren nach 500 v. Chr. – mit den gleichen Worten (Hdt. 7.164.1: ἑκών τε εἶναι καὶ δεινοῦ ἐπιόντος οὐδενὸς ἀλλ› ὑπὸ δικαιοσύνης ἐς μέσον Κῴοισι καταθεὶς τὴν ἀρχὴν οἴχετο ἐς Σικελίην), nur daß eine Generation später die Koer offenbar klüger waren als die Samier. Die beiden Geschichten hängen zusammen, spiegeln einander und wenn man die eine für anachronistisch hält, dann trifft dies auch die andere.

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Sieger von Marathon und zu dieser Zeit noch Tyrann auf der thrakischen Chersones, schlägt den anderen Ioniern vor, von den Persern abzufallen und Ionien zu befreien. Auch hier im ionischen Aufstand scheint die Einführung der Isonomien für Herodot doch wieder nur eine der verpaßten Chancen der Ionier gewesen zu sein. Zu dessen Beginn legt der milesische Subtyrann Aristagoras seine Tyrannis nieder und proklamiert in Milet – (Hdt. 5.37) – eine Isonomie. Nun betont Herodot, daß Aristagoras die Tyrannis λόγῳ niedergelegt habe (5.37.2). Wer denkt bei dieser Formulierung nicht sofort an Thukydides’ Nachruf auf Perikles (2.65.10), wonach Athen λόγῳ μὲν δημοκρατία, ἔργῳ δὲ ὑπὸ τοῦ πρώτου ἀνδρὸς ἀρχή wurde? Am Ende steht die Etablierung von Demokratien durch persische Gnade und nicht aus eigener Kraft: Mardonios entfernt alle Tyrannen aus Ionien und errichtet in jeder Polis demokratische Verfassungen. Natürlich kann man die Formulierung, die Herodot dem Rat des Thales gibt, in bewährter Manier als Rückprojektion des Herodot auffassen,29 paßt er doch zu gut als Ausgangspunkt all der gescheiterten ionischen Isonomien: Während es den Athenern gelungen ist, die Gemeinsamkeit zur politischen Willensbildung erfolgreich, eben auch militärisch erfolgreich gegenüber den Persern, zu realisieren, so scheitern eben die Ionier genau an diesem Punkt!30 Denn für Athen stellt Herodot dann nach den militärischen Erfolgen 504 v. Chr. über Spartaner, Böoter und Chalkidier fest: (δηλοῖ δὲ οὐ κατ᾽ ἓν μοῦνον ἀλλὰ πανταχῇ ἡ ἰσηγορίη), die Isegorie für alle habe Athen erfolgreich und stark gemacht, weil sie erkannten, daß der Einsatz für die Gemeinschaft die Entfaltung von Eigeninteresse im Sinne des Ganzen ermöglichte. Eigeninteresse und Gesamtheit bedingen sich, doch der Identifikationsprozeß mit der neuen Ordnung der Polis (als vorpolitische Grundlage) ist die Voraussetzung für das einzelne und ermöglichte erst den militärischen Gesamterfolg.31 Demgegenüber steht die erfolglose Mahnung des Dionysios von Phokaia vor der Schlacht bei Lade (6.11) und das Verhalten der Ionier in der Schlacht (6.13–15) zeigt, daß den Ioniern genau dieser Sinn für das Allgemeine fehlte, so daß die militärische Niederlage gegen die Perser folgte. Das Ertragen der Mühsal und der Strapazen, die den Mannschaften der Schiffe wie Sklaverei vorkam, hätte nur mit dem Sinn für das Allgemeinwohl als höherem Ziel ertragen werden können – aber genau dazu sind die Ionier nicht in der Lage.32 Sehr deutlich formuliert Herodot aus Anlaß des Sieges der Athener über Böotier, Chalkidier und Spartaner, wie er diesen Zusammenhang sieht und erklärt (Hdt. 5.78):

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Kienast 2002, 15 mit Anm.55. Schubert 2021, 97. Es scheint fast, daß Herodot es peinlichst zu vermeiden sucht, im Kontext der athenischen Entwicklung den Ausdruck Isonomie zu verwenden. Wichtig ist, daß man im 5. Jahrhundert ganz offenbar die Entstehung dieser Konzepte fest im 6. Jahrhundert verortete, vgl. dazu z. B. Hdt. 9.122.

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Die Athener waren also stark geworden. Das zeigt, daß die Gleichheit (isegoria) in jeder Hinsicht eine erstrebenswerte Sache ist. Solange die Athener noch von Tyrannen beherrscht waren, waren sie keinen ihrer Nachbarn in Kriegsdingen überlegen. Doch kaum hatten sie sich von den Tyrannen befreit, wurden sie bei weitem die ersten. Und dies beweist eben, daß sie als Unterdrückte im Dienst eines Herren absichtlich feige waren, während sie jetzt als Freigewordene gern bereit waren jeder zum eigenen Nutzen zu arbeiten. Hdt. 5.78.1: Ἀθηναῖοι μέν νυν ηὔξηντο. δηλοῖ δὲ οὐ κατ› ἓν μοῦνον ἀλλὰ πανταχῇ ἡ ἰσηγορίη ὡς ἐστὶ χρῆμα σπουδαῖον, εἰ καὶ Ἀθηναῖοι τυραννευόμενοι μὲν οὐδαμῶν τῶν σφέας περιοικεόντων ἦσαν τὰ πολέμια ἀμείνονες, ἀπαλλαχθέντες δὲ τυράννων μακρῷ πρῶτοι ἐγένοντο. δηλοῖ ὦν ταῦτα ὅτι κατεχόμενοι μὲν ἐθελοκάκεον ὡς δεσπότῃ ἐργαζόμενοι, ἐλευθερωθέντων δὲ αὐτὸς ἕκαστος ἑωυτῷ προεθυμέετο κατεργάζεσθαι.

Das νυν (also) zu Beginn setzt die Begründung in Bezug zu dem Sieg der Athener über die Böotier, Chalkidier und Spartaner, ein fast unglaublicher Erfolg der bis dahin militärisch kaum in Griechenland hervorgetretenen Athener.33 Isegoria wird hier als gleichbedeutend mit Isonomie verstanden.34 Isegoria ist vermutlich eine Zusammensetzung aus ἴσος und ἀγορᾶσθαι, d. h. es geht um das Recht in gleicher Weise auf der Agora zu reden; ἀγορὰς ἀγόρευον kennen wir bereits aus der Ilias (2.788) als das Halten von Reden in einer Versammlung, aber hier nun ist die Teilhabe aller Bürger als Anspruch und verbürgtes Recht gemeint.35 Von manchen ist zwar die Isegorie als politisch relevantes Konzept in Athen vor der perikleischen Zeit ganz ausgeschlossen worden, d. h. Herodot hätte sich dann hier eines gravierenden Anachronismus schuldig gemacht.36 Doch dem lassen sich aus anderen Quellen durchaus genügend Anhaltspunkte entgegenhalten, u. a. natürlich die berühmte Diskussion in Athen über die Auslegung der delphischen ‚hölzernen Mauer‘ im Kontext des persischen Angriffs auf Griechenland.37 Herodot verweist hier mit dem nur an dieser einzigen Stelle in seinem Werk verwendeten Terminus der Isegoria explizit darauf, daß es ihm um eine grundsätzliche

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Vgl. die Überlegung von Ostwald 1969, 109, Anm.2, der genau diesen Zusammenhang hinterfragt. Schubert 2021, 98–99. Lewis 1971, 129–140 will das Recht auf Isegorie mit Bezug auf Aischines (Aesch. 3.2–4) bereits mit Solon beginnen lassen. Zu Hdt. 5.78 a. a. O.130: „But it is also possible that here he took over ἰσονομία from his source even though the word δημοκρατία was known to him.“ Vgl. Raaflaub 2017, 107, der mit Bezug auf Solon Frg. 36.15–19 W in dessen Reformen die Etablierung von „equality bevor the law“ und damit auch eine Verwirklichung von Isonomie sieht. Frisk s. v. ἴσος und Lewis 1971, 129; Vgl. Eupolis aus Priscian On the Metres of Terence 26: Frg. 291 Kock = Frg. 316 Storey (LCL) ὡς εὐδαίμων πρότερόν τ’ ἦσθα νῦν τε μᾶλλον ἔσει/ἔδει πρῶτον μὲν ὑπάρχειν πάντων ἰσηγορίαν und Pl. Grg. 461e. Lewis 1971, 131–133. Hdt. 7.142; vgl. Hdt. 5.79 und 6.37. Dazu Lewis 1971, 135 und 140 mit Bezug auf Aischines 3.2–4 führt die Einführung der Isegorie in Athen auf Solon zurück – das würde m. E. allerdings der Deutung der Ereignisse bei Herodot widersprechen.

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Feststellung geht: δηλοῖ δὲ οὐ κατ᾽ ἓν μοῦνον ἀλλὰ πανταχῇ und Isegoria ein χρῆμα σπουδαῖον ist wie auch die Isonomie ein οὔνομα πάντων κάλλιστον ist. M. E. betont Herodot nicht nur hier, sondern auch im weiteren Verlauf den die gesamte Gemeinschaft umfassenden Charakter dieser Veränderung in der inneren Einstellung, die zu einer Stärkung im Selbstbewußtsein der Athener geführt hat.38 Herodot setzt die Einrichtung der 10 Phylen mit der Demokratie gleich (5.69), aber durch die Verwendung Isegorie in 5.78 und eben gerade nicht Demokratia oder Isonomie wird auch deutlich gemacht, daß es sich dabei um mehr gehandelt hat als nur die Umbenennung und numerische Erweiterung der bisherigen Organisationsstruktur. Das Gemeinwohl, d. h. das Wohl des Ganzen, des κοινόν, ist das übergeordnete Ziel, dem sich der Nutzen für den Einzelnen nicht unterordnet, sondern einordnet, da durch das gemeinsame Eintreten sowohl der Nutzen für den Einzelnen als auch das Wohl des Ganzen befördert wird.39 In diesem Zusammenhang erhellt sich auch die Verwendung von Isonomie in der Rede des Otanes in der Verfassungsdebatte (3.80), die zu unendlichen Diskussionen geführt hat. Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, daß der Text auch auf die perikleische Zeit verweist.40 Allerdings erklärt dies nicht die eigentümliche Positionierung dieser Debatte im Kontext der Machtergreifung des Darius, des entscheidenden persischen Gegenspielers der Ionier und Inbegriffs eines Tyrannen. Die Erwähnung der Isonomie steht in der Verfassungsdebatte am Ende der Otanes-Rede: Die Herrschaft der Menge ist dadurch charakterisiert, daß βουλεύματα δὲ πάντα ἐς τὸ κοινὸν ἀναφέρει (3.80.6) und ἐν γὰρ τῷ πολλῷ ἔνι τὰ πάντα („in dem Vielen das Ganze“) liegt. Dies bezeichnet Herodot als Isonomie, wobei er hier gar nicht von speziellen politischen Verfassungsformen in dem Sinn einer Ämterstruktur oder bestimmter Wahlmodi, Zugangsqualifikationen etc. spricht, sondern von sehr grundsätzlichen Dingen wie der Vorstellung vom Ganzen. Dieses wird erst durch einen Sinn für das Allgemeine ermöglicht, in dem sich das einzelne entfaltet. Das politische Konzept von Isonomie ist hier – wie auch in dem Text des Alkmaion – das Zusammenwirken aller, ohne daß einer bzw. ein einzelnes Element herausragt. Das κοινόν entsteht aus diesem Zusammenwirken: ἐν γὰρ τῷ πολλῷ ἔνι τὰ πάντα („in dem Vielen das Ganze“) ebenso wie Gesundheit aus

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Hdt. 5.66.1 und 5.91.1: Hier begegnet wieder die Wachstumsvorstellung, in der das Gewinnen von Stärke des ganzen Gemeinwesens hervortritt. Ausf. dazu Schubert 2021, 99–100. Dieses Verhältnis zwischen Gemeinwohl und Nutzen für den Einzelnen in der Antike behandelt Kirner 2001, 41. Im Epitaphios und der Trostrede des Perikles (Th. 2.60–64) sieht er in der inneren Disposition der Bürger die Grundvoraussetzung eines gemeinwohlorientierten Handelns formuliert, allerdings zieht er – insbesondere in der Trostrede – eine deutliche Grenze zwischen Eigennutz und Gemeinwohl. Grundsätzlich zum Verhältnis von Gemeinwohl und Gemeinsinn: Münkler – Bluhm in: Münkler 2001, 9–30 sowie Münkler 2002, 2002a, 2002b. Ausf. dazu Raaflaub in: Raaflaub – Ober – Wallace 2007, 158, der allerdings der Meinung ist, daß Herodot hier den Begriff der Isonomie verwendet, weil mit ‚Demokratie‘ die Gefahr der negativen Konnotation verbunden gewesen wäre.

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demjenigen der Qualitäten. So entsteht Isonomie, indem die Vielen gemeinsam für das κοινόν einstehen. Herodot verstärkt dies noch durch den Schluß der Verfassungsdebatte in 3.83.1 (ὁ Ὀτάνης Πέρσῃσι ἰσονομίην σπεύδων ποιῆσαι, ἔλεξε ἐς μέσον αὐτοῖσι τάδε) Otanes tritt ἐς μέσον – wie auch Mainadrios in Samos oder auch Sophanes in der Auseinandersetzung mit Militiades (Plu. Cim. 8.1: Σωφάνης ὁ Δεκελεὺς ἐκ μέσου τῆς ἐκκλησίας ἀναστὰς) – und verzichtet, um des Zusammenhaltes der Gemeinschaft willen, auf eine weitere Auseinandersetzung. Er selbst möchte nicht Teil der neuen Ordnung sein, da er sich als Privileg erbittet οὔτε γὰρ ἄρχειν οὔτε ἄρχεσθαι – in dem Bild des abwechselnden Herrschens und Beherrschtwerden ist hier das Prinzip des demokratischen Wechsels/ Machtwechsels evoziert. Erzählchronologisch später – in die Zeit um 490 v. Chr. – fällt die zweite Erwähnung der Otanes-Rede bei Herodot. Hier bezieht er sich noch einmal auf die Verfassungsdebatte und erwähnt die Absicht des Otanes, die nun als Einrichtung einer demokratischen Herrschaft in Persien (ὡς χρεὸν εἴη δημοκρατέεσθαι Πέρσας) beschreibt (6.43.3). Das ist kein Widerspruch, sondern lediglich eine andere Perspektive, denn die unter persischer Herrschaft stehenden ionischen Poleis, in denen Mardonios eine andere strukturelle Organisationsform eingeführt hat, können gar nicht als Isonomien bezeichnet werden, da ihnen das wesentliche fehlt. Zwar haben sie offenbar eine Organisationsform erhalten, in der politische Macht verteilt und strukturiert wird, aber dies ist noch nicht die Verwirklichung des Gemeinsinns in der Form eines Gemeinwohls aller Bürger; denn dieses schließt Subsumierung einer Polis unter einen Alleinherrscher oder eine Gruppe mächtiger Aristokraten aus. Die politische Aussage dieser Texte scheint mir eindeutig zu sein: Isonomie und Gemeinwohl sind die Voraussetzungen eines κοινόν. Κοινόν ist hierbei als Ausdruck einer politischen Ordnung zu verstehen, und nicht als expliziter Verfassungsbegriff und auch nicht als Organisationsform von Herrschaftsrelationen oder von Macht.41 Der Begriff des κοινόν zielt darauf ab, daß das Ganze – durchaus im Sinn des Gemeinwohls – auf der Voraussetzung des Gemeinsinns ruht, der erst die Verwirklichung der politischen Organisationsform ermöglicht bzw. eine Grundlage dafür bietet. Dies ist den Athenern gelungen, den Ioniern nicht. Insofern zeigt sich das Narrativ Herodots als stringent und plausibel, hat diverse, historisch eindeutig identifizierbare Stationen von der Eroberung Ioniens durch Kyros, über die Episoden in Samos und während des Skythenfeldzuges bis hin zum ionischen Aufstand. Allein aus dieser Plausibilität ergibt sich für das Narrativ ein Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Herodot zeigt, daß die Stiftung von Gemeinsinn mehr ist als die institutionelle Organisation politischer Prozesse: Repräsentation im existenziellen Sinn, nicht nur im

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Als isonom konnten bekanntlich auch Aristokratien bezeichnet werden: Th. 4.78.2–3; dazu Wallace 2013, 196 und Cartledge 2009, 8 f. und ausf. Schubert 2021, 99–101.

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organisatorisch-politischen Bereich, sondern weit darüber hinausgehend, eben das Ganze, das Allgemeine – das κοινόν – umfassend: das Gemeinwohl ist die eigentliche Identifikationsfigur der Polis; diese Identifikation im Gemeinsinn begründet erst den Zusammenhalt der Polis.42 In diesem Sinn ist gemeinwohlorientiertes Handeln auch politisches Handeln und deshalb findet dies seinen Ausdruck in der Isonomie als dem schönsten Namen! Diese Vorstellung von κοινόν hat eine Parallele in dem ξυνόν Heraklits:43 Sein ξυνόν ist der Gemeinsinn, die gemeinschaftliche Praxis der Bürger in einer Polis, um das Gemeinwohl des Ganzen zu verwirklichen.44 Das ξυνόν steht bei Heraklit über allem anderen, so daß bspw. auch eine Feuersbrunst, an sich ebenfalls die Polis gefährdend, weniger gefährlich erscheint als eine Überhebung/Hybris, in der sich der Einzelne von dem Streben nach dem Gemeinwohl verabschiedet zugunsten eigener Interessen, d. h. damit auch die Orientierung am Gemeinsinn aufgegeben hat:45 Diels – Kranz B2 (= S. E. M. 7.133) διὸ δεῖ ἕπεσθαι τῶι κοινῶι· ξυνὸς γὰρ ὁ κοινός. τοῦ λόγου δ’ ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν Deshalb muß man dem Gemeinsamen folgen, d. h. dem Gemeinschaftlichen (denn „gemeinsam“ ist dasselbe wie „gemeinschaftlich“). Obwohl aber der Logos gemeinsam ist, leben die vielen, als ob sie eine eigene Einsicht hätten. (Übersetzung Gemelli Marciano)

Dieses Konzept des ξυνόν ist etwas Spezifisches bei Heraklit, das in dieser Form bei den anderen Vorsokratikern nicht zu finden ist und eine politische Dimension, die insbesondere in Heraklits Fragment B2 mit der Gleichsetzung von ξυνόν und κοινόν zum Ausdruck kommt. Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß mindestens seit Thales in Ionien ein Konzept von Isonomie als neuer Ordnungsvorstellung diskutiert wurde, die auf einer politischen Ausrichtung von Gemeinwohl und Gemeinsinn basierte.46 Betrachtet man dies nun auch zusammen mit der Inschrift aus Chios, die uns einen Einblick in die

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Vgl. zu dem Zusammenhang von Gemeinsinn und Identität Hellmann 2002, 77–110 und Schubert Schubert (2021), 100–101. Dazu ausführlich Schubert 2017, 131–152 und Schubert 2021, 89–97. Diesen engen Zusammenhang von Nomos und Polis scheint auch Bias von Priene vertreten zu haben: Plu. Moralia (Sept.Sap.Conv.) 154d. Vlastos 1947 166 zu Frg. B 114 „Here the law is clearly the ‚common‘ thing in the polis, and as such the source of its strength. Hence „the demos must fight on behalf of the law as for the city-walls“. Vgl. zu Frg. B 44: „the supreme condition of its common freedom“ und zu Frg. B 43: „hybris must be extinguished even more than a conflagration.“ Vgl. auch DK B 43 (=Diog. Laert. 9,2,1) : ὕβριν χρὴ σβεννύναι μᾶλλον ἢ πυρκαϊήν („Überhebung soll man löschen mehr noch als Feuersbrunst.“ Übers. Diels – Kranz). Vgl. dazu Schubert 2021, 93–95 und 100–101. Kirner 2001, 31–64 hat diesen Zusammenhang nicht behandelt, er übergeht diese Zusammenhänge ganz und schließt interessanterweise direkt an die solonischen Eunomie die Ausführungen zu Thukydides an.

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organisatorische Infrastruktur als Basis einer politischen Ordnung im 2. Viertel oder um die Mitte des 6. Jahrhunderts in Ionien gibt, dann läßt sich draus folgern, daß das politische Konzept der Isonomie im 6. Jahrhundert in Ionien entstanden ist. Bedeutend ist dies insofern, als Isonomie nur durch den gemeinsam auf das Ganze gerichteten Sinn für das Gemeinwohl erreicht werden kann und somit eine ethische Norm für die gesellschaftliche Ordnung darstellt. Der eindeutigste Beleg hierfür ist die Verfassungsdebatte in Herodots Werk, die die ethischen Bezüge herausstellt, die sich auf die Gesamtheit der Gemeinschaft der Bürger, ihre Einstellungen und ihr Verhalten beziehen. Wie politische Machtverteilung und -ausübung auf dieser Grundlage organisiert wird, muß nicht zwingend auf die Verfassungsform der Demokratie führen. Allerdings hat die Entstehung der Demokratie in Athen die Isonomie und die sie prägende Diskussion ganz offensichtlich überlagert, so daß sogar die Annahme einer Deckungsgleichheit der beiden entstehen konnte. Bibliographie Asheri, D. et al, A Commentary on Herodotus Books I – IV, Oxford et al. 2007. Bleicken, J., Die athenische Demokratie, Paderborn 1985. Cartledge, P., Ancient Political Thought in Practice, Cambridge 2009. Diels, H., Kranz, W., Die Fragmente der Vorsokratiker, hrsg. von Walther Kranz, Berlin 1989. Dmitriev, S., „Herodotus, ‚isonomia‘, and the origins of Greek democracy,“ Athenaeum 103,1, 2015, 53–83. Eder, W., „Political self-confidence and resistance. The role of demos and plebs after the expulsion of the tyrant in Athens and the king in Rome,“ in: Y. Tory, D. Masaoki (Eds.), Forms of control and subordination in antiquity, Tokio 1988, 465–475 Fehling, D., Die Quellenangaben bei Herodot, Studien zur Erzählkunst Herodots, Berlin – New York 1971. Finley, M. I., Politics in the ancient world, Cambridge 1983. Flaig, E., „Der verlorene Gründungsmythos der athenischen Demokratie. Wie der Volksaufstand von 507 v. Chr. vergessen wurde,“ Historische Zeitschrift 279, 2004, 35–61. Hansen, M. H., Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes, Berlin 1995. Hellmann, K.-U., „Gemeinwohl und Systemvertrauen,“ in: Münkler 2002(b) 77–110. Kahn, C. H., The Art and Thought of Heraclitus, Cambridge 1979. Kienast, D., „Bemerkungen zum Jonischen Aufstand und zur Rolle des Artaphernes,“ Historia 51, 2002, 1–31. Kirner, G., „Polis und Gemeinwohl. Zum Gemeinwohlbegriffin Athen vom 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr.,“ in: Münkler (2001) 31–64. Kouloumentas, St., „The body and the polis: Alcmaeon on health and disease,“ BJHP 22, 2014, 867–887 Lateiner, D., The Historical Method of Herodotus, Toronto 1989. Lewis, J. D., „Isegoria at Athens: When did it begin?,“ Historia 20, 1971, 129–140. Lévy, E., „Isonomia,“ in: Bultrighini, U. (Ed.), Democrazia e antidemocrazia nel mondo Greco, Atti del convegno internazionale di studi, Chieti, 9–11 aprile 2003, Alessandria 2005, 119–137.

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La costituzione tirannica nella Politica di Aristotele Alberto Maffi I. Introduzione 1. In un recente importante articolo1 Martin Dreher, il Jubilar cui è dedicato questo scritto, ha preso posizione nel vivace dibattito intorno alla natura della tirannide nella Grecia arcaica e classica. Secondo M. D. la tirannide deve essere considerata, così come sostenuto da Aristotele nella Politica, una forma di regime (“Herrschaft”) monarchico nonostante l’anomalia derivante dal fatto che “das gesamte Staatswesen vom Tyrannen privatisiert wird” (p. 179), diventa cioè, in un certo senso, proprietà privata del tiranno in quanto kyrios tes poleos (Pol. 1314b8). Non sfugge a M. D. che, caratterizzando in questo modo la tirannide, si rischia di cadere nel paradosso “dass eine persönliche Machtstellung gleichzeitig als Herrschaft über ein institutionalisiertes Gemeinwesen anzusprechen ist” (p. 185). Sempre secondo M. D., il paradosso si risolve tenendo conto del fatto che il tiranno sottomette con la forza una comunità retta da una struttura costituzionale preesistente. Poiché il tiranno non abroga la costituzione esistente né la modifica, il regime tirannico si può definire una “nicht-institutionalisierte persönliche Herrschaft” (p. 186), che si sovrappone a una costituzione già esistente. In ciò si distingue dalla forma retta di monarchia, cioè la basileia, in cui il re è invece parte integrante e determinante di una specifica “institutionelle Ordnung”, riconoscibile e riconosciuta appunto come la forma di costituzione monarchica da valutarsi positivamente. Per giungere a questo risultato M. D. individua una serie di differenze e di somiglianze fra regno e tirannide (con riferimento anche all’esperienza politica romana), prendendo in considerazione il modo in cui i dati storici sono valutati sia da parte dei teorici antichi, fra cui spicca naturalmente Aristotele, sia da parte della dottrina moderna. Va tuttavia sottolineato che, sempre ad avviso di M. D., soltanto la tirannide è il regime monarchico storicamente realizzatosi, mentre il regno va considerato come il suo con-

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traltare puramente teorico. A parte quest’ultimo punto, mi pare si possa dire che le conclusioni di M. D. non si discostano in modo significativo da quella che possiamo considerare l’opinione dominante2. Non è certo questo il luogo per riprendere nel suo complesso la discussione riguardante la natura della tirannide greca. Qui limiterò quindi la mia analisi ad alcuni aspetti della trattazione della tirannide nella Politica aristotelica (in particolare nel V libro), che rappresenta, a mio parere, il coronamento della riflessione teorica greca sul regime tirannico3. La domanda che mi pongo è quindi se la definizione della tirannide come potere privato non istituzionalizzato trovi conferma nella Politica, oppure se Aristotele consideri la tirannide, sia pure intesa come forma degenerata di monarchia, una politeia. 2. Come è noto, la teoria politica aristotelica prende come punto di riferimento i tre regimi politici tradizionali, la cui prima enunciazione, per così dire sistematica, si trova nel dibattito costituzionale di Hdt. 3.80–82: monarchia, oligarchia, democrazia. Ciascuno di questi regimi, classificati in prima istanza in base al criterio oggettivo del numero dei titolari del potere, assume per Aristotele una configurazione positiva e una negativa. Il contraltare positivo dell’oligarchia sarebbe l’aristocrazia, quello della democrazia, la c. d. politeia (in cui il nome comune – costituzione – viene a designare un regime specifico). La monarchia si discosta dal criterio che presiede alla nomenclatura costituzionale, perché il termine rimane ancorato alla caratterizzazione neutrale derivante dall’attribuzione del potere supremo a un individuo singolo. È quindi all’interno del governo di uno solo che si distinguerà una variante positiva, il regno (basileia), e una variante negativa, la tirannide. Possiamo ancora osservare che, per Aristotele, oligarchia e democrazia non sono dei regimi monolitici ma, nella realtà, presentano, a livello di struttura e funzionamento della costituzione, una serie di varianti che possono avvicinare o allontanare, rispettivamente la prima all’aristocrazia, la seconda alla c. d. politeia. Accanto a queste varianti che si collocano, per così dire, sul piano verticale (dal basso/peggiore all’alto/migliore), esiste anche un asse orizzontale, nel senso che Aristotele suggerisce, per rafforzarne la stabilità, di inserire nelle costituzioni oligarchiche elementi tipici dei regimi democratici e viceversa4. 3. Anche per le due forme di regime monarchico Aristotele considera realizzabile una trasformazione dell’una nell’altra per volontà dello stesso unico detentore del potere: soprattutto nel caso del tiranno, come vedremo, Aristotele consiglia tutta una serie di misure tendenti a rendere più regale il suo potere.5 Ma la stessa classificazione di un regime come regale o come tirannico non è sempre agevole, come Aristotele 2 3

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Per una sintetica rassegna recente si veda Luraghi 2018 Concordo quindi con Jordovic 2011, 1, secondo cui la trattazione aristotelica della tirannide “constitute the apex of Greek thought on this historical phenomenon”. Tuttavia non sono convinto che i caratteri attribuiti alla tirannide siano da interpretare essenzialmente come una critica agli aspetti della democrazia ateniese considerati deteriori dal filosofo. In particolare per tali aggiustamenti relativi alla funzione deliberativa si veda Maffi 2016. V. Dreher 2017, 178–179.

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osserva in 1295a7 ss. I criteri fondamentali di distinzione sono comunque tre. 1) Il re esercita un potere le cui prerogative sono definite da leggi; il potere del tiranno non è conforme a legge.6 2) Il re esercita il suo potere su una popolazione consenziente; per il tiranno è indifferente che la popolazione sia o non sia consenziente: nella maggior parte dei casi non lo è. 3) Il re esercita il suo potere nell’interesse dei sudditi; il tiranno nel proprio interesse. Al di là della rilevanza teorica di tali criteri e della loro effettiva aderenza alla realtà storica, vale la pena di osservare che, per quanto riguarda la tirannide, sono tutti criteri che negano alla comunità cittadina qualunque ruolo attivo, sia a livello di esercizio diretto del potere sia a livello di controllo del potere esercitato dai governanti. In mancanza di una dialettica politica fra archon e archomenoi sembra dunque impossibile delineare una tipologia del potere tirannico analoga a quella che Aristotele costruisce per oligarchie e democrazie. L’unica identità riconoscibile è quella corrispondente al terzo eidos della tirannide, che fa seguito a certe monarchie barbariche e agli antichi aisymnetai (1295a11–14), ovviamente non assimilabili al regime tirannico oggetto della specifica analisi aristotelica. Aristotele si occupa quindi in tutta l’opera della tirannide per antonomasia, che unisce in sé le tre caratteristiche sopra ricordate: nessuna possibilità di controllare che l’esercizio del potere si conformi alle leggi (così ritengo vada interpretato anupeuthunoi)7; potere esercitato dal tiranno nel proprio esclusivo interesse su uomini non consenzienti, di dignità pari o superiore alla sua (1295a17–23). Ora, è interessante notare che Aristotele definisce la tirannide per eccellenza come l’antistrophos della pambasileia:8 ciò fa sì che, al pari di questa, anche la tirannide sia un modello in cui, nonostante la molteplicità delle esperienze storiche, non è possibile riconoscere delle varianti nella configurazione del regime, come avviene invece per oligarchia e democrazia nel libro IV 1291b20 ss. e nel libro VI della Politica. Tanto è vero che, con riferimento alla tirannide e con palese negazione della realtà storica, Aristotele aggiunge: nessun uomo libero sopporta un simile dominio (1295a22–23).9 Eppure Aristotele è costretto ad ammettere (quasi contro voglia) che anche la tirannide deve essere definita una politeia,10 anche se, come abbiamo visto,

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Dreher 2017 tende a svalutare la rilevanza e la coerenza di tale criterio, osservando che vi sono state tirannidi rispettose delle leggi (p. 176: Pisistrato e gli Ortagoridi) e monarchie con accentuato carattere dispotico (p. 172) Così già Heuss 1971, 115. Sulla pambasileia v. Gastaldi 2009a. Naturalmente si tratta di capire se per il regno, cioè la variante positiva della monarchia, a prescindere dalla pambasileia, Aristotele delinei un profilo costituzionale tale da poterla definire una vera politeia (per di più valutata positivamente). M. D. lo afferma, ma senza analizzare specificamente la trattazione aristotelica. In ogni caso, poiché crede, come abbiamo detto, che il re non corrisponda a una realtà storica, il regno rimane per lui solo un contraltare teorico della tirannide, che è invece fenomeno storicamente ben accertato (v. Luraghi 2013, 135). In realtà Aristotele oscilla tra affermazione e negazione. In 1280b13 il tiranno kyrios tes poleos alla pari della massa, dei ricchi, delle persone per bene e del migliore (riferendosi quindi rispettivamente a democrazia, oligarchia, aristocrazia e basileia); ma poco più sotto osserva che, nel caso del

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le attribuisce dei connotati piuttosto vaghi dal punto di vista costituzionale. Poiché si tratta comunque di un regime valutato sempre negativamente, Aristotele colma indirettamente la lacuna attribuendo alla tirannide i caratteri più negativi degli altri due regimi deviati, i quali, nonostante tutto, mantengono comunque una propria riconoscibile identità costituzionale. La tirannide come politeia deriverà dunque i suoi caratteri dalla sovrapposizione di oligarchia e democrazia estreme (1310b3–4). Ci si aspetterebbe di conseguenza che Aristotele precisasse quali sono gli elementi che confluiscono dagli altri due regimi a definire la tirannide dal punto di vista costituzionale. Ma quando poco più avanti Aristotele sembra volerli illustrare (1311a8 ss.), ci rendiamo conto che il discorso si è spostato sul piano dei meri comportamenti personali del tiranno, abbandonando quello della poleos taxis ton te allon archon che costituisce l’essenza di ogni politeia (1278b8 ss.).11 Comune all’oligarchia e alla tirannide saranno il fine (telos) del regime, ossia l’arricchimento, e la sfiducia nei confronti della massa, che spinge il tiranno a disperderne i componenti in campagna. Comune alla democrazia e alla tirannide è l’ostilità verso i benestanti, che vengono perciò eliminati con mezzi legali e illegali12 o mandati in esilio: questa politica espone il tiranno al rischio delle congiure, suscitando in lui un timore che inasprisce ulteriormente la sua politica ostile verso il ceto abbiente.13 Le caratteristiche illustrate nel passo testé ricordato riguardano quindi gli scopi perseguiti dai detentori del potere politico nei regimi richiamati, e solo indirettamente e implicitamente le loro strutture costituzionali (non ricalcano perciò i criteri di descrizione e di valutazione di democrazie ed oligarchie enunciati in 1291b30 ss.). I caratteri che la tirannide mutua dagli altri due regimi estremi mirano

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tiranno, sarebbe giusto ciò che può essere imposto (legalmente) in base alla forza. In 1293b28–30 dice che parlerà della tirannide alla fine perché è la peggiore delle costituzioni. Che sia pur sempre una politeia ce lo confermano altri passi: 1289a38; 1295a3–4; 1310b3. Heuss 1970, 114, scrive: “Es gibt für uns schwerlich ein politisches Phänomen, das sich klarer und eindeutiger herauskristallisiert als die Stadttyrannis. Sie verfügt über derart konstante Merkmale, dass Zuordnungen zu ihr keine Schwierigkeiten machen”. Tuttavia ritiene che per Aristotele costituisca un “Idealtyp” come le altre. Concordo con quest’ultima affermazione, non con la prima: costante si può considerare l’immagine stereotipata della personalità del tiranno, non la concreta configurazione che l’esercizio del suo potere assume, la cui variabilità rende difficile enuclearne le modalità tipiche di esercizio, come avviene invece per le altre costituzioni. Zuolo 2016, pur sottolineando giustamente la prospettiva politologica, che differenzia l’approccio di Aristotele da quello dei predecessori, sostiene che egli considera la tirannide come un “sistema di potere”, non come un “modello di sistema politico” (p. 284–286). Sull’ambiguità aristotelica a proposito della definizione della tirannide v. anche Petit 1993, in particolare p. 76–77. Alla domanda se il tiranno si identifichi con il politeuma del suo regime, credo si debba rispondere positivamente: v. 1279a25–32 Così interpreto lathra e faneros in 1311a16–17 Per altri parallelismi fra tirannide e democrazia estrema nella Politica v. l’accurata rassegna di Jordović 2011. Non condivido però l’idea di questo autore (v. in particolare p. 39 n. 20) che Aristotele non consideri anche l’oligarchia estrema una forma di tirannide; mi sembra perciò alquanto limitativo sostenere che la caratterizzazione negativa della tirannide nella Politica derivi in sostanza solo dalla critica antidemocratica (che l’A. chiama “critics of popular rule”: p. 38 e passim).

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piuttosto a suggerire al tiranno le misure che gli consentano di mantenere il monopolio dell’esercizio del potere: i poveri sono dispersi in campagna in modo da distoglierli dall’idea di rivendicare una partecipazione alle decisioni politiche in sede assembleare; ai membri del ceto più elevato è fisicamente impedita la possibilità di rivendicare un ruolo guida nell’ambito della comunità politica.14 4. Ho parlato di comportamenti tirannici che qualificano la dialettica politica fra il tiranno e la comunità da lui dominata15 a prescindere dal quadro costituzionale proprio di una politeia. Di una dimensione politica possiamo parlare poiché si tratta pur sempre dei rapporti fra archon e archomenoi. Tuttavia si tratta di una dimensione politica del tutto anomala rispetto a quella che si riscontra negli altri regimi costituzionali: infatti l’unico protagonista attivo è il tiranno stesso (in quanto kyrios tes poleos: 1279a27); mentre gli altri membri della comunità non solo sono esclusi dall’attività politica, ma sono oggetto di prevaricazione e di sopraffazione da parte del tiranno stesso senza la possibilità di ricorrere a rimedi legali. Le modalità di esercizio del potere del tiranno dipendono quindi, in modo prevalente se non esclusivo, dalla sua volontà. È probabilmente per questo motivo che l’interesse degli autori antichi si concentra più su quella che si suole definire la psicologia del tiranno che sulle modalità di funzionamento del regime di cui è a capo. Nella Politica anche Aristotele sembra in apparenza conformarsi a questa tendenza. Da un lato ricorre infatti tutta una serie di topoi denigratori già consolidati da tempo nella tradizione, che per noi è testimoniata soprattutto da Senofonte (“Ierone”), da Isocrate (scritti ciprioti) e da Platone (l’uomo tirannico nella Repubblica).16 Dall’altro la descrizione della dialettica fra il tiranno e i membri della comunità, di cui è signore, appare ispirata dai modelli di vizi e virtù illustrati nelle Etiche (e in ciò consisterebbe 14

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È peraltro interessante che la tirannide diventi a sua volta un modello costituzionale cui paragonare le forme più deviate degli altri due regimi. In 1292a15 il popolo che tende a monarchein è paragonabile alla forma tirannica della monarchia. In 1312b35 l’oligarchia pura è definita una tirannide condivisa. Il paragone fra dynasteia oligarchica e tirannide è presente anche in 1292b7 ss. Qui Aristotele afferma che la dynasteia, in quanto forma estrema di oligarchia, è l’antistrophos della tirannide rispetto alle altre forme di monarchia. Il ragionamento non sembra del tutto corretto perché la dynasteia rimane all’interno delle forme degenerate di governo dei pochi, di cui l’oligarchia in senso stretto è quella per Aristotele più accettabile. Ma la tirannide non conosce apparentemente graduazioni che possano tradursi in varianti costituzionali di una medesima politeia, da collocare su una scala di valore dalla migliore alla peggiore. La tirannide è una sola e si contrappone alla forma positiva di monarchia, che è appunto la basileia. Al massimo Aristotele riconosce al tiranno una tendenza a comportarsi da re, ma, a suo parere e come vedremo meglio più sotto, si tratta solo di una finzione. Ne consegue che la qualifica di tirannica applicata a una democrazia o a un’oligarchia non rispecchia un mutamento nella loro struttura costituzionale, ma allude a modalità prevaricatrici di affermare gli interessi della parte al potere (ossia del politeuma) contro quell’ideale di equilibrio e di moderazione che Aristotele non si stanca di raccomandare. Si noti che in 1279a16 la tirannide è definita despotike tes politikes koinonias: un ossimoro che manifesta l’imbarazzo di Aristotele. È merito di Endt 1902 aver messo in luce i numerosi parallelismi fra la Politica e le opere degli scrittori citati. La critica di filologismo ottuso che gli rivolge Heuss 1970, 129 n. 64, mi sembra eccessiva.

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l’apporto originale di Aristotele alla raffigurazione tradizionale del tiranno).17 Eppure non si può negare che, nella Politica, la trattazione aristotelica della tirannide contenga molti riferimenti a realtà storiche (pur senza apparentemente tener conto della distinzione fra tirannide arcaica e tirannide classica, che viene sempre più accentuata dalla dottrina più recente: si vedano in particolare Anderson 2005 e Kõiv 2016). Non solo; ma i capitoli su Pisistrato dell’AP18 inducono ragionevolmente a credere che anche le sezioni storiche delle altre costituzioni redatte dalla scuola aristotelica contenessero ampi riferimenti ai tiranni che avessero eventualmente esercitato il potere nelle città oggetto d’esame19. Nella Politica, però, anche le allusioni alle vicende di tiranni storicamente esistiti sembrano prevalentemente concorrere alla dimostrazione del carattere arbitrario del potere esercitato dal tiranno, che per definizione non osserva né le leggi che regolano la struttura e il funzionamento degli organi costituzionali né le norme che regolano i rapporti interpersonali. Si tratta di quella exousia – 1315a23 – senza limiti (da un certo punto di vista ispiratrice dei poteri del futuro princeps legibus solutus) che già aveva illustrato Platone nel Gorgia e nella Repubblica.20 Sembra quindi che Aristotele, in omaggio alla tradizione, abbia rinunciato, trattando della tirannide (e anche in parte del regno), a utilizzare il metodo con cui conduce l’indagine sulle altre forme costituzionali, e che consiste nel calare i dati storici nello schema della politeia, espressione istituzionale dei diversi equilibri di potere fra archontes e archomenoi. In particolare resta sotto traccia l’indagine sull’apparato di governo che giustifica in ultima analisi l’inclusione della tirannide fra le politeiai. Eppure, a ben guardare, anche il tiranno, con tutte le sue teatrali idiosincrasie, non potrà ignorare la realtà socio-economica in cui si trova ad operare. Anche il tiranno, così come accade ai governanti negli altri regimi politici, sarà coinvolto dalla dialettica fra ricchi e poveri, fra interesse comune e interessi dei singoli membri della comunità su cui esercita il suo potere. Mi chiedo quindi se, alla luce del contesto complessivo della Politica, il riuso, a volte pedissequo, delle tessere che compongono il mosaico tradizionale della figura del tiranno non possa essere interpretato in una chiave diversa; se non sia cioè possibile leggervi in filigrana delle allusioni nascoste al quadro istituzionale della tirannide (o

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Questo aspetto è stato sottolineato in particolare da Kamp 1985. Si noti che in AP 41.2 il dominio di Pisistrato e dei Pisistratidi rientra nel novero dei mutamenti costituzionali. D. L. 5.27 classificava le 158 costituzioni in quattro categorie: democratiche, oligarchiche, tiranniche, aristocratiche: v. Hansen – Nielsen 2004, 82. Secondo Weil 1960, 298, fra le costituzioni redatte dalla scuola aristotelica si trovava certamente una Costituzione di Sicione, da cui deriverebbero le notizie su Ortagora e successori. Schütrumpf – Gehrke 1996, 577. Aggiungo che, da un punto di vista astrattamente giuridico, l’immunità del tiranno, pur prescindendo da una legittimazione costituzionale, potrebbe essere ricondotta all’immunità di cui godevano i magistrati delle poleis fino al termine della carica. Tuttavia il tiranno non è tecnicamente un magistrato e soprattutto si sottrae al rendiconto finale.

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quanto meno alla sua “Regierungspraxis”, per citare Heuss 1970, 136).21 L’indagine si articolerà in tre sezioni: il costituirsi del regime tirannico; la definizione del ruolo istituzionale del tiranno; le caratteristiche dello Stato tirannico, se così possiamo definirlo. II. Alle origini del regime tirannico 5. Partiamo quindi dal momento generativo: come si costituisce, secondo Aristotele, il potere tirannico? Non diversamente dal Platone della Repubblica, Aristotele pensa che la tirannide si innesti su una costituzione già esistente sfruttandone la degenerazione o la debolezza. Ma, a differenza di Platone nella Repubblica, Aristotele fonda le sue considerazioni sull’esame comparato di concrete vicende storiche, non su uno schema ideale di metabole politeion. È così in grado di affermare che la tirannide può avere origine non solo nell’ambito di un regime democratico, ma anche di un regime oligarchico, come è avvenuto per le grandi tirannidi della Sicilia greca (1316a35 ss.)22. E ancora, indipendentemente dal tipo di regime, può verificarsi che un magistrato che occupi un’alta carica (o addirittura un re) si trasformi in tiranno23. Se la varietà di ambienti politici su cui si può innestare la tirannide ci restituisce un’immagine più aderente alla realtà storica rispetto alla genesi postulata da Platone, tuttavia anche Aristotele resta nel vago rispetto alle procedure attraverso cui si costituisce il potere tirannico.24 Infatti l’accenno generico al costituirsi del nuovo potere attraverso la forza (bia) o l’inganno (apate), è riferito alla tirannide in contrapposizione al regno (1313a2–10), ma vale in realtà per tutti i cambiamenti di costituzione (1304b10–17). Tuttavia, dato che l’esercizio del potere tirannico si basa per definizione sulla costrizione nei confronti di archomenoi non consenzienti (si veda il ruolo irrinunciabile attribuito alla dynamis in 1314a36), ci interessa esaminare più da vicino come si manifestino forza e inganno nel costituirsi del potere tirannico.25 Una forma di inganno “legale” può essere vista nel procedimento 21

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In realtà il materiale a disposizione si amplia notevolmente se teniamo conto, nell’opera aristotelica, anche di tutte le asserzioni di carattere generale (per es. che tutte le costituzioni hanno in sé qualcosa di giusto: 1301a36), o, viceversa, delle attribuzioni di determinate caratteristiche comuni a una serie di costituzioni nominativamente ricordate, fra le quali non appare però la tirannide. Come è ovvio, si tratta di passi su cui è molto difficile basare argomentazioni affidabili riguardo alla natura e al funzionamento dei regimi tirannici, e che tuttavia vanno presi in considerazione. E come d’altronde aveva già pronosticato Dario nel dibattito erodoteo: Hdt. 3.82.3. Si noti che in 1318a22, la tirannide deriva da un’applicazione paradossalmente rigorosa del fondamento dell’oligarchia, secondo cui il più ricco governa legittimamente. Anche se Aristotele non vi accenna, è probabilmente questa la ragione per cui in alcune città cretesi è documentato il divieto di iterazione di una carica fin dal VII secolo a. C. Per Atene si veda il caso di Damasia in AP 13.2 Viceversa troviamo riferimenti specifici al costituirsi di oligarchia, democrazia e regno. In ogni caso l’instaurarsi di un regime tirannico determina un cambiamento di costituzione (1304b10 ss.). È interessante notare che nell’Anonimo di Giamblico 7.12, la tirannide viene fatta derivare da una situazione di anomia, non dalla violenza.

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utilizzato a Turii per mutare la costituzione (1307b6 ss.): ma in realtà non sappiamo se al termine di questa serie di modifiche legislative si sia instaurata una tirannide. Che d’altra parte l’inganno sia compatibile con forme para-istituzionali di conquista del potere lo mostrano bene le vicende di Pisistrato, così come narrate dall’AP. La dichiarazione di Pisistrato all’assemblea ateniese, di cui ad AP 15.5, appare in sostanza come un’autoinvestitura: non si parla né di elezione né di sorteggio (quest’ultimo all’epoca forse non ancora in vigore ad Atene), cioè dei tradizionali metodi di nomina dei magistrati rispettivamente per i regimi oligarchici e per i regimi democratici26. Escluso ovviamente il sorteggio, nella Politica c’è un unico riferimento a un tiranno eletto “per un tempo limitato o per portare a termine determinati compiti” (1285a34–35): si tratta precisamente della figura definita aisymnetes (di cui Aristotele fornisce come unico esempio Pittaco, al potere a Lesbo nel VI sec. a. C.). Se si prescinde da questo caso particolare, che appare legato alla soluzione di conflitti civili anche nella documentazione relativa ad altre città greche,27 la difficoltà nell’immaginarsi una legittimazione della tirannide tramite elezione consiste soprattutto nel fatto che tiranno non può essere considerato un termine che designa una carica inserita in un quadro istituzionale aperto all’alternanza dei titolari.28 6. Va però osservato che, anche quando conquista il potere attraverso l’astuzia, il tiranno consoliderà effettivamente il suo dominio nel momento in cui ricorrerà alla forza (anche soltanto minacciata): soltanto in quel momento, infatti, l’inganno sarà svelato e i governati si trasformeranno da consenzienti in non consenzienti, così come la definizione di regime tirannico richiede. È appunto lo stravolgimento paradossale che si verifica nei tiranni che sono portati al potere dal favore popolare. Già Platone, in R. 565 c, aveva descritto il voltafaccia del demagogo che si trasforma in tiranno. Aristotele riprende e generalizza l’idea dell’origine popolare del tiranno (in contrapposizione al ruolo di protettore degli epieikeis attribuito al re: 1310b9 ss.), quindi di una presa del potere basata sull’inganno nei confronti del popolo. Ma considera il fenomeno in una singolare prospettiva storicizzante. In 1305a6 ss. Aristotele sostiene che le tirannidi più antiche erano create da uomini che erano insieme comandanti dell’esercito e demagoghi. Ciò sembra implicare un colpo di stato militare condotto da un generale, non necessariamente pro26 27 28

Si veda anche Xen. Mem. III.9. 10–13, dove il riferimento generico alla conquista dell’arche tramite bia o apate (certamente riferita al tiranno) mostra che Aristotele recepisce ed elabora categorie tradizionali di valutazione della presa di potere da parte del tiranno. V. Faraguna 2005. Significativi a questo proposito anche i documenti ufficiali in cui il tiranno è designato semplicemente con il suo idionimo (ad es. l’iscrizione di Lygdamis: v. Dreher 2017, 179). L’espressione katestesen tyrannon tes poleos si trova in Isoc. 9 Evag. 32: per quanto Aristotele nella Politica usi questo verbo nel senso tecnico di dar vita a un regime politico, nel caso di Evagora il testo non ci dice se si fece ricorso a una procedura formale. Lo stesso vale per fonti più tarde, come Plutarco, Tim. 4.4, secondo cui Timoleonte si proclamò tiranno (comunque contraddetto da D. S. 16.65.3). Quanto al sostantivo tyrannìs per indicare il regime tirannico, il suo uso è piuttosto raro anche se si trova già in Hdt. 3.81.1 (e ancora in Isoc. 9 Evag. 40).

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veniente dalle classi popolari, il quale ottiene il potere (lambanei ten archen: AP 14.3 con riferimento a Pisistrato) grazie all’ascendente che la fama conseguita in guerra gli procura su una sostanziosa percentuale della cittadinanza.29 Aristotele continua sostenendo che, nell’età attuale, i demagoghi non attentano alla costituzione a causa della loro inesperienza di cose militari. Penso si debba intendere che non ricorrono a un colpo di stato militare, ma tentano di impadronirsi del potere con il consenso (almeno iniziale) del popolo: quindi non con la forza ma con l’inganno. Questa osservazione sembra implicare che, data la separazione delle carriere di demagogo e di generale, i generali non siano esperti di retorica; resta però loro aperta la strada di farsi tiranni con la forza. In effetti la casistica dell’ascesa con le armi al potere tirannico è piuttosto ampia. In generale è con riferimento al regno e all’oligarchia che Aristotele registra la presa del potere da parte di un generale. Nel primo caso (1312a17 ss.) sono i generali di re considerati imbelli ad approfittare del comando militare per prenderne il posto; ma gli esempi addotti da Aristotele (1312a8 ss.) non riguardano il mondo greco. La seconda ipotesi è contemplata in 1306a20. In caso di guerra, gli oligarchi, non fidandosi del popolo (che si suppone quindi disarmato come nei regimi tirannici), assoldano mercenari mettendoli però sotto il comando di uno di loro. Rischiano così che quest’ultimo (suppongo a guerra terminata) si impadronisca del potere grazie alle truppe al suo comando. Ma di un’ipotesi del genere Aristotele non fornisce esempi storici. Sembra d’altronde che Aristotele pensi piuttosto ai regimi democratici quando classifica le figure storiche di celebri generali che presero il potere con le armi o come titolari di cariche pubbliche (timai) o sotto l’etichetta di demagoghi (1310b28 ss.). In ogni caso, come si è detto, anche nel caso in cui il potere sia stato preso con l’inganno, ci deve essere un momento in cui al tiranno la capacità di persuadere non basta più e occorre incutere paura, quindi trovare nella forza il definitivo fondamento del proprio potere (1314a35)30. Tuttavia anche questo momento cruciale non sembra trovare riscontro in un atto istituzionale, a meno che, come abbiamo già accennato, non si voglia considerare tale l’annuncio, fatto in assemblea da Pisistrato ai cittadini ormai disarmati, che tutti dovessero tornarsene a casa, mentre lui solo si sarebbe occupato degli interessi pubblici (AP 15.4–5). L’unica 29

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V. Gastaldi 2009b, 142 n. 12. In 1304b17 ss. Aristotele porta gli esempi di Teagene, di Dionigi e di Pisistrato. L’ascesa al potere di quest’ultimo è quella che conosciamo meglio. AP 22.3 lo definisce demagogos e strategos coerentemente a quel che leggiamo in 1305a7–8. Tuttavia, secondo AP 14.1 Pisistrato si impadronì del potere tramite la guardia del corpo di mazzieri che aveva ottenuto, ricorrendo all’inganno (!), con provvedimento votato dall’assemblea (quindi non attraverso una stasis). Hdt. 1.59.5 specifica che si trattava di cittadini: alla luce dei criteri aristotelici, esposti nella Politica, il fatto che non portassero vere e proprie armi può essere fatto rientrare nella strategia dell’inganno in vista della presa di potere. Nella seconda presa di potere, tuttavia, le truppe guidate da Pisistrato non sono costituite da cittadini, anche se apparentemente doveva ancora avere dei seguaci in città (v. AP 15). A quanto pare, però, anche questi ultimi verranno disarmati alla pari degli altri cittadini (AP 15.4). Si veda in Pl. R. 566 d la grottesca raffigurazione del tiranno che va in giro proclamando di non essere un tiranno.

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sanzione istituzionale della forza alla base del potere tirannico, a cui le fonti sembrano dare un’importanza decisiva, sembra essere l’assegnazione (consentita e approvata dai cittadini) al tiranno di una guardia del corpo, composta da mercenari stranieri, motivata dal timore di essere ucciso dai concittadini a lui ostili (si veda in particolare Pisistrato in AP 14.1, a cui si possono aggiungere Falaride, Gelone, Ierone, Trasibulo).31 Se non è quindi necessariamente un fattore di conquista del potere, il controllo militare sulla cittadinanza costituisce comunque un fattore essenziale di conservazione del potere tirannico. Occorre tuttavia considerare che il disarmo dei cittadini (di solito concomitante con la creazione di una guardia del corpo) appare in contrasto con l’atteggiamento guerrafondaio che caratterizza sovente i regimi tirannici. Dato che fra i consigli tradizionali al tiranno c’è anche quello (recepito in 1314b22–23 per il tiranno che voglia imitare il re) di crearsi una fama di comandante militare,32 sembra che, oltre a spremere denaro dai suoi archomenoi, questi siano anche mobilitati in vista delle campagne militari. Ciò sembra implicare che almeno una parte della popolazione sia a favore del regime33. Si potrebbe allora supporre che vengano chiamati alle armi solo i fautori del tiranno: in questo caso si realizzerebbe una leva militare secondo criteri diversi da quelli oggettivi (basati su età e censo) in vigore in particolare in un regime democratico come quello ateniese. Ma si può anche immaginare che il tiranno si sia guadagnata la fama di uomo di guerra esercitando il comando su truppe mercenarie.34 III. Il tiranno capo del governo 7. Il secondo punto oggetto della nostra indagine riguarda la definizione del ruolo del tiranno come archon. Consideriamo quindi le modalità di esercizio del potere tirannico muovendo dalla reiterata affermazione, rinvenibile in Aristotele e non solo, che non sono le leggi ma il tiranno a governare (1292b8). Sorge allora spontanea la domanda: di quali leggi si sta parlando? Nel regime oligarchico estremo, che nel passo testé citato viene messo in parallelo con il regime tirannico, si tratta evidentemente delle leggi oligarchiche in materia costituzionale, che di fatto vengono disapplicate. Ma nel caso del regime tirannico? Si potrebbe pensare che si tratti della mancata osservanza dei provvedimenti che lo stesso tiranno ha emanato (dato che per definizione non si riter31 32 33

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La motivazione potrebbe anche essere quella di evitare una stasis Questo ci conferma che Aristotele non pensa a un generale, bensì a un demagogo inesperto di cose militari. Che la totalità della popolazione subisca in modo “involontario” il regime tirannico è naturalmente una semplificazione dovuta alla astrattezza del modello. In altro luogo l’affermazione viene infatti ragionevolmente attenuata: i tiranni fanno guerra agli uomini migliori in quanto essi [si deve intendere essi soli o essi in particolare] non accettano di essere governati in maniera dispotica (1314a20: archesthai despotikòs). Su questa tematica si veda anche infra n. 54.

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rà tenuto ad osservarli), oppure che si tratti dell’abrogazione delle leggi vigenti nell’ordinamento che preesisteva alla sua presa del potere; o infine che il tiranno, pur senza abrogare le leggi del regime precedente e senza emanarne di nuove, governi decidendo caso per caso sulla base di ciò che gli pare meglio. Si potrebbe supporre che quest’ultima prospettiva (che di fatto assorbe le prime due alternative) sia quella che meglio corrisponde al pensiero di Aristotele. Infatti, di fronte alla sua reticenza nel definire l’arché del tiranno sul piano costituzionale (per Aristotele un potere indeterminato/ aoristos: 1316a27)35, si può supporre, così come propone M. D., che il filosofo tenda implicitamente ad assimilarla a una potestà di carattere privato, quale è soprattutto quella del capo famiglia sui membri del nucleo familiare. In questo senso sembra deporre un passo del I libro della Politica (1255b16 ss.): il governo della casa si esercita in forma monarchica, su soggetti che si trovano in stato di subordinazione, sia schiavi che figli (1259b). Tuttavia occorre tener conto del fatto che dal padre di famiglia ci si attende che eserciti un potere monarchico attento non solo al proprio interesse ma anche a quello degli altri membri della famiglia: è almeno quanto si può desumere da un passo come 1285b29 ss. Invece il tiranno governa dispoticamente (cioè come un padrone su schiavi)36 e in base al proprio arbitrio, svincolato dall’osservanza della legge (1295a16: to despotikòs archein kata ten auten gnomen). Solo quando finge di essere un re, il tiranno infliggerà punizioni in maniera paterna – 1315a21 – e sembrerà amministrare come un re assimilabile a un buon capo famiglia (1315b1, con richiamo che mi sembra evidente a 1255b19–20 e a 1285b28–33: oikonomike basileia tes oikias). Resta comunque il fatto che né il re né il tiranno possono essere chiamati a rispondere del loro comportamento da parte dei cittadini (come già sottolineato da Otane in Hdt. III 8137). Ma questo non significa che il loro potere si debba ascrivere senza residui alla sfera privata, dato che il suo esercizio ha effetti e ripercussioni nella sfera pubblica. La decisione di osservare determinate regole di comportamento dipende dunque in definitiva, sia per il re che per il tiranno, da ragioni di convenienza. 8. Abbiamo detto che il tiranno si muove pur sempre in uno spazio pubblico,38 dove entra in relazione con i membri della comunità; questi, però, non gli sono subordinati per natura come lo sono invece gli schiavi nei confronti del padrone o i membri liberi 35 36 37

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V. infra, n. 39 L’analogia non va presa naturalmente alla lettera. Come nota von Fritz 1948, 49: “Aber kein griechischer Tyrann, wie grausam er auch gewesen sein mag, würde sich als rechtmässigen “Eigentümer” seiner Untertanen betrachtet haben”. L’esempio che la Costituzione degli Ateniesi,16.8, adduce per esemplificare il fatto che Pisistrato governava secondo le leggi, riguarda proprio questo aspetto: non arrogarsi alcun privilegio rispettando il principio che la legge è uguale per tutti, in particolare le leggi che riguardano i rapporti interpersonali. Accusato di omicidio volontario, Pisistrato si presenta di fronte al tribunale dell’Areopago; ma l’accusatore, spaventato, abbandona la causa (e non sappiamo che fine abbia fatto): è possibile che si trattasse dell’accusa politica di essere il mandante di un omicidio. Fa eccezione Deioce (Hdt. 1.96–100), singolare tipo di tiranno che evita ogni contatto con i cittadini grazie alla scrittura – fenomeno ritornato pericolosamente attuale

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della famiglia nei confronti del padre/marito.39 Per garantire stabilità al proprio regime il tiranno deve quindi inventarsi un nuovo spazio: uno spazio che ritengo legittimo definire politico in quanto, secondo Aristotele, il potere che si esercita su uomini liberi e uguali è per definizione “politico” (1255 b 20).40 Infatti governare in maniera dispotica non significa di per sé governare senza un apparato di governo e senza una “Regierungspraxis”.41 Ma si tratta di uno spazio dove è naturalmente solo il tiranno che assume 39

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Nel loro commento al libro V Schütrumpf – Gehrke designano costantemente come “Untertanen” i cittadini della polis retta dal tiranno. Ora, è vero che Aristotele non li designa mai con il termine cittadini, bensì con il termine archomenoi. Ma si tratta di un termine neutrale, che designa anche i cittadini di una democrazia o di un’oligarchia moderate, dove si ha di regola l’alternanza al potere fra archontes e archomenoi. Dunque il termine di per sé non segnala la perversità del rapporto che intercorre fra tiranno e cittadini. Non condivido perciò l’affermazione di De Luna, Introduzione, in De Luna et alii, 2015, 12, secondo cui, proprio dalla definizione di politeia in 1278b8–11 si desume che “a possedere una indiscutibile natura costituzionale è solo la basileia; non certo la tirannide”. A mio parere si tratta di approfondire il senso che Aristotele attribuisce alla qualifica di “politico” (ciò che ovviamente non può essere tentato in questa sede): provvisoriamente mi pare di riconoscervi da un lato una connotazione soggettiva, con cui si indica il tasso di partecipazione dei cittadini alla gestione degli interessi generali; dall’altro un significato oggettivo, con cui si descrivono le modalità di gestione del potere all’interno della città. La taxis ton archon, creata dal tiranno stesso accostando agli organi tradizionali, non necessariamente esautorati, nuove figure di collaboratori, dà luogo a un’organizzazione politica che prescinde dal carattere “comunitario” dell’ordinamento. Un’obiezione a quel che ho appena affermato si potrebbe basare su Rhet. 1366a1–2, dove si dice che, delle due forme della monarchia, la basileia è κατὰ τάξιν τινὰ, mentre la tirannide è ἀόριστος: v. Dreher 2017, 179–180, che accoglie per kata taxin la traduzione di Rapp: “sich an eine gewisse Ordnung hält”, ma riconosce che si tratta di una concettualizzazione piuttosto vaga. In effetti per tentare di dare alla locuzione kata taxin un contenuto più preciso è giocoforza fare riferimento alla Politica, in particolare al passo in cui si dice che il re tende a trasformarsi in tiranno se si arroga prerogative e competenze che vanno oltre quelle a lui spettanti per legge (1313a1–3). Il problema è naturalmente capire a quale dei diversi tipi di re Aristotele stia facendo riferimento. Se si tratta dei re spartani, è chiaro che esiste una delimitazione istituzionale delle loro competenze rispetto agli altri organi costituzionali spartani. Se invece si tratta di altri tipi di re, o addirittura del re della panbasileia, appare molto più difficile definire la taxis che determina le loro competenze (Gastaldi 2009a, p. 51, sottolinea che, fra le forme politiche, “la monarchia assoluta … risulta … la meno politica, poiché l’eccedenza incommensurabile di arete che caratterizza il re incrina la concezione stessa di comunità”). Quanto alla qualifica del potere del tiranno come potere “privo di limiti”, la ritroviamo in Pol. 1316a27 in sede di critica alla metabole politeion delineata da Platone nella Repubblica: a mio parere qui Aristotele afferma che (nel silenzio di Platone), dato il carattere imprecisato del suo assetto costituzionale, non sarà facile capire in quale altro regime si possa trasformare la tirannide. Intendo quindi aoristos nel senso che il tiranno sarà libero di definire come meglio crede le modalità di esercizio del suo potere, senza dover rispettare le regole che normalmente presiedono alla formazione e al funzionamento dei tria moria presenti in ogni politeia. La configurazione dell’assetto di governo tirannico sarà naturalmente conforme a regole di cui nessun archomenos avrà il potere di sindacare la legittimità o l’opportunità, e tanto meno di lamentare per vie legali l’eventuale inosservanza. Ma, come ormai sarà risultato chiaro, scopo di questo mio lavoro è mostrare che in ogni caso, per potersi parlare di una politeia, anche il tiranno deve conformare il suo regime a una determinata taxis (contra Petit 1993, 74, 77 e 86). Si ricordi che, proprio all’inizio della Politica, Aristotele afferma che il potere dell’amministratore e del padrone si differenzino dal potere dell’uomo politico e del re così come un’oikia si differenzia da una polis (a mio parere qui basilikos va inteso in senso lato come potere di uno solo rispetto al

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l’iniziativa e decide il ruolo da attribuire ai membri della comunità. Ne scaturisce una serie di regole e di accorgimenti che, indipendentemente dal fatto di tradursi in provvedimenti normativi formali, costituiscono il codice della politeia tirannica,42 (ovvero in certo qual senso la sua taxis, se ricordiamo la definizione di politeia come ordinamento dell’elemento kyrion della città: 1278b8–11). Molte di queste regole sono ricavate dalla tradizione letteraria sul tiranno, ma la novità introdotta da Aristotele è quella di disporle in due serie contrapposte (enantiotatous) di tropoi (1313a34–35), ovvero horoi o hypotheseis (1314a25e28), che possiamo considerare due modelli di organizzazione fra cui il tiranno farà consapevolmente la sua scelta (boulemata). Nella prima categoria rientrano le regole attraverso cui si realizza il metodo diretto e brutale, definito da Aristotele tradizionale, di gestire il potere (1313a33–36: dioikein ten archen), che è proprio della maggior parte delle tirannidi. Attraverso la seconda categoria di regole si attua invece il metodo che consiste nel dare l’impressione di comportarsi in maniera regale e non tirannica (si vede qui il valore paradigmatico che il regime regale assume: ricordiamo che il re si distingue dal tiranno appunto perché osserva le leggi43). 9. Le regole che attuano il metodo tradizionale di gestione del potere (che chiameremo “prima maniera”) tendono in definitiva a paralizzare qualunque tentativo di iniziativa politica da parte degli archomenoi (come sottolinea lo stesso Aristotele nella inusuale sintesi di 1314a15–29), ma non forniscono in realtà alcuna indicazione sulle strutture del governo tirannico. Riassumo le principali regole individuate da Aristotele nel passo citato. Eliminare, attraverso provvedimenti analoghi all’ostracismo (1284a34) le personalità che potrebbero diventare dei pericolosi concorrenti (secondo l’allegoria del taglio delle spighe sovrastanti); vietare ogni tipo di attività associativa44 ed educativa (paideia) e altre riunioni di carattere culturale;45 istituire un sistema di spionaggio

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potere frazionato fra più detentori nelle democrazie e nelle oligarchie). Nega recisamente l’esistenza di un “power apparatus” tirannico Luraghi 2013, 138. Secondo De Luna et alii 2015, 516, si tratta di “una sorta di protocollo dal quale estrapolare i criteri necessari per operare le giuste scelte politiche e personali o da seguire pedissequamente qualora le scelte da fare rientrino negli ambiti presi in considerazione dal filosofo”. Heuss 1970, 122, parla di “gestaltende politische Prinzipes [sic!]”. Di quali leggi esattamente si tratti non è detto esplicitamente. La dottrina (da ultimo Gastaldi 2009a, Laurand 2011) ritiene che si tratti delle leggi emanate dallo stesso re. Più incerto è se il re, a differenza del tiranno, si assoggetti a sua volta alle leggi, così come qualunque altro cittadino. Si ricordi, a questo proposito, che anche nei regimi costituzionali moderni i membri del governo e le più alte cariche dello Stato non sono assoggettati alla legge ordinaria qualora commettano degli illeciti. Un diritto così cruciale per la vita politica da dover essere ancora ribadito dalla Costituzione italiana all’art. 18 Mentre i regimi democratico e oligarchico impongono una paideia conforme al carattere del rispettivo regime (1310a12–22), il tiranno non può permetterselo. Probabilmente il sistema di spionaggio gli permetterà di controllare che l’educazione impartita ai ragazzi non implichi contenuti politici a lui sgraditi. Ma non abbiamo ancora avvisaglie della divinizzazione di età ellenistica o di qualcosa di simile al culto della personalità delle dittature moderne.

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fin all’interno dei gruppi familiari reclutando anche le donne e gli schiavi,46 ostacolare ogni manifestazione di solidarietà non solo fra le diverse classi sociali (ricchi/poveri) ma anche all’interno della stessa classe sociale;47 circondarsi di adulatori e di gente senza scrupoli48. 10. Passiamo ora alla seconda serie di regole (che chiameremo “seconda maniera”), quelle attraverso cui il tiranno cerca quasi di presentarsi in veste regale.49 Il primo punto riguarda l’amministrazione dei fondi pubblici da parte del tiranno: i cittadini non devono pensare che vengono utilizzati a fini privati, in particolare per pagare cortigiane, stranieri (che potrebbero essere i mercenari) e artisti (1314b1–7); contrariamente all’essenza stessa della tirannide, si consiglia addirittura ai tiranni di presentare un rendiconto dell’attività finanziaria (1314b4–5), senza per questo dar luogo a una procedura analoga a quella delle euthynai ateniesi.50 Secondo punto: né il tiranno né i suoi familiari devono tenere comportamenti oltraggiosi (hybris!) nei confronti degli archomenoi (1314b24; in AP 16.8 si dice che Pisistrato evitava le prevaricazioni: pleonexìa). Ancora: non devono eccedere nei divertimenti ecc. (ubriacarsi ecc.); il tiranno si mostrerà pio nei confronti degli dei per ispirare fiducia e reverenza (probabilmente ciò implica che conserverà le occasioni festive tradizionali e/o ne istituirà di nuove); il tiranno dovrà tentare di conciliarsi la parte più forte della cittadinanza, che siano i ricchi o i poveri (qui traspare il carattere tendenzialmente apolitico del regime tirannico) (1315a31 ss.).

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1313b32–39. In proposito si veda da ultimo Jordović 2011, 43–46, secondo cui, poiché Aristotele attribuisce questa tendenza sia alla democrazia estrema che alla tirannide (si v. anche 1319b27), lo scopo comune sarebbe quello di sopprimere l’identità del cittadino. Mi pare però che in democrazia lo scopo della “ginecocrazia” casalinga non può essere quello di denunciare eventuali iniziative degli uomini di casa contrarie al regime, come accade invece nel regime tirannico (escluderei inoltre che le donne contemplate in questo passo possano spingersi fino alle hybreis in cui incorrono volentieri le donne dei tiranni: 1314b27). E lo stesso vale per la doulon anesis. Probabilmente più che a un vero e proprio stravolgimento dei rapporti all’interno della famiglia Aristotele pensa qui a un’eventuale complicità delle donne a scopi analoghi a quelli perseguiti a Siracusa tramite le potagogides (1313b13). Platone andava ancora più in là pronosticando la liberazione degli schiavi da parte del tiranno, allo scopo di renderli neocittadini a lui devoti (R. 567e–568a). E Aristotele riprende questo motivo in 1315a37. Il tiranno favorisce così le faide fra potenti che secondo 1308a31–35 rischiano di distruggere la costituzione. E crea contrapposizioni all’interno del demos che normalmente non sussistono: 1302a12– 13. Sul ruolo degli adulatori ritorneremo fra poco. Qui possiamo supporre che il criterio di scelta degli adulatori da parte del tiranno dipenderà dalla natura del regime precedente alla sua presa del potere. Prerogativa tanto del tiranno quanto del re è di svolgere un’attività benefica; soltanto che mentre il re si sforza di beneficare l’intera comunità, il tiranno indirizzerà i benefici a persone determinate (si confrontino 1285b6 ss. e 1310b34). Come nota Petit 1993, 84–85, sono queste le regole che impediscono alla tirannide di distruggersi nel mentre si realizza appieno. Si potrebbe avanzare la congettura che solo in questo caso si possa legittimamente parlare di una successione della città nei debiti contratti dal tiranno (1276a8–16).

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Mostrandosi insieme mezzo-buono e mezzo-cattivo (termini aristotelici)51, il tiranno stabilirà dei rapporti che potremmo definire di quasi-amicizia (normalmente il re ha degli amici, il tiranno soltanto degli adulatori: 1313b30), con il risultato (non esplicitato da Aristotele) di esercitare il suo potere su governati almeno parzialmente consenzienti52. È infatti interessante osservare che non troviamo una ritrattazione esplicita delle odiose modalità di controllo e umiliazione dei cittadini messe in atto in forza della “prima maniera”. Sembra però verosimile che esse siano state implicitamente abbandonate dal tiranno della “seconda maniera”, almeno là dove esse risultino incompatibili con i comportamenti ‘virtuosi’ suggeriti da Aristotele.53 La sintesi del mutato atteggiamento si condensa infatti nel consiglio che leggiamo in 1314b18–20: a coloro che lo incontrano deve ispirare non paura (fobos) ma rispetto (aidos), ciò che in definitiva gli consentirà di assicurare lunga durata al suo potere. Come fare, essendo normalmente disprezzato dai cittadini? Facendosi ammirare per il suo valore militare (probabilmente perché è la virtù condivisa, quindi apprezzata, dal maggior numero di cittadini – 1279b2 ss., benché Aristotele non spieghi come il tiranno possa fingerla).54 11. Ma questo non significa che allora il tiranno lasci spazio all’attività politica, cioè a un ruolo politicamente attivo dei cittadini:55 il tiranno mantiene infatti la sua dyna51 52

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Si veda in proposito Gastaldi 2009b, 154 n. 37. Che a questo scopo mirino le misure contemplate nella seconda modalità di governo è negato, secondo me a torto, da Meister 1977, 41. Mi pare comunque che resti valida la sua critica all’interpretazione della tirannide aristotelica in chiave totalitaria da parte di Heuss 1970. Agli argomenti di Meister si potrebbe aggiungere che nei regimi totalitari del XX secolo, a cui Heuss si riferiva, i cittadini erano chiamati a partecipare (almeno esteriormente) alla vita politica, a meno che non li si voglia catalogare tutti come “adulatori” in senso aristotelico. Si veda anche Petit 1993, 78: “Certes, politiquement, les sujets du tyran ne sont pas consentants, mais ils ne sont pas, eo ipso, toujours absolument contraints”. Almeno in una delle possibili strategie politiche suggerite al tiranno ciò risulta evidente. Mi riferisco al suggerimento di cercare il sostegno di una delle parti della cittadinanza in potenziale conflitto con l’altra (1314a38–40): è chiaro che nei confronti di costoro il tiranno rinuncerà a perseguire i tre obiettivi riassunti in 1314a25–29. Non solo, ma, sia pure in maniera distorta, incomincerà a preoccuparsi degli interessi comuni. Il rapporto fra competenza militare e aspirazioni politiche nel mondo greco è a mio parere ancora in gran parte da studiare. Nella primaria importanza che Aristotele attribuisce al “militarismo”, quale fattore di consolidamento del potere tirannico, potrebbe scorgersi una sorta di precedente del “Führerprinzip”, nel senso che il tiranno verrebbe ad occupare una posizione superiore a quella degli strateghi (si noti che, mentre in 1286a2–4 e 1287a4–6 Aristotele sembra respingere a priori l’idea di un regime a guida militare, in 1286b27, con riferimento al basileus non al tiranno!, sembra considerare normale che il monarca disponga di un corpo militare per far rispettare le –sue!– leggi, avvicinandosi così all’idea di un regime militare in senso proprio). Con tutte le cautele del caso potremmo scorgere nella posizione militarmente dominante del tiranno un lontano antecedente ideologico di un evento paradigmatico come l’ascesa di Hitler a capo supremo delle forze armate tedesche in forza dell’”Erlass über die Führung der Wehrmacht” del 4.2.1938 (si veda Broszat 1969). Non condivido quindi la svalutazione della componente militare in Anderson 2005, 195. Sull’importanza delle capacità militari, specie per le tirannidi siciliane, si v. Galvagno 2012. Si veda, con riferimento in particolare allo Ierone senofonteo “convertito” da Simonide, Zuolo 2016, 279–280. Si noti che fra le misure che mirano a consentire al tiranno di “rifarsi una verginità”,

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mis in esclusiva (1314a36), mentre per Aristotele la comunità politica è caratterizzata proprio dalla partecipazione e dall’alternanza al potere dei cittadini. Nella tirannide la politica si fa solo nella cerchia del tiranno: soltanto gli adulatori sono dunque politicamente attivi, diventando di fatto i membri del suo governo. In definitiva Aristotele sostiene che il tiranno, adottando la ‘seconda maniera’ di comportamento, finge, a scopo si direbbe propagandistico, di osservare le norme elementari della buona amministrazione e del vivere civile.56 A ben guardare si tratta di norme alquanto generiche, che a differenza di quanto Aristotele osserva (ma anche in un certo senso postula) per i regimi democratico e oligarchico (1282b10–11), non mirano a realizzare un telos specifico al regime.57 La finzione (per cui il tiranno risulterà mezzo buono e mezzo cattivo) consiste dunque in una “partielle Negation” (Heuss 1970, 119) del proprio interesse a favore di un interesse comune, che sarà in definitiva il risultato della somma degli interessi parziali delle varie componenti socio-economiche della popolazione (avvicinandosi così ancora una volta al ruolo svolto dal re: 1310b–1311a), o, eventualmente, di quella ritenuta predominante58. Ma, a ben guardare, è il discostarsi dallo stereotipo dei comportamenti tirannici che induce a parlare di finzione. Infatti, non esistendo un modello di costituzione tirannica, il metro di valutazione restano le manifestazioni riconducibili alla psiche del tiranno per quanto riguarda sia i suoi comportamenti privati sia l’osservanza delle norme relative al corretto svolgimento delle pratiche di governo. Lo stesso Aristotele si spingerà a riconoscere che il tiranno, qualora giunga a mostrarsi incline alla virtù (1315b8–10), apparirà ai cittadini degno di essere considerato un re, non più un tiranno.

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nessuna allude esplicitamente al libero accesso a un’arche per i cittadini a cui il tiranno riconosca un minimo di “autonomia” (1315a6). Sostenere, come fa Mitchell 2013, 142, che per assicurare la stabilità del proprio regime il “ruler” “had to allow the ruled to have some control over how rule was managed” suona come una una petizione di principio. La questione del carattere politico del potere del monarca andrebbe comunque ripresa e approfondita. Secondo Laurand 2011, 86, il re dà al suo potere un fondamento politico: istituisce infatti relazioni politiche fra i cittadini, che sono basate sull’eguaglianza e sull’accesso comune alla virtù. Il potere regale è dunque frutto di un’investitura da parte dei cittadini. A me sembra, però, che anche nella basileia, così come nella tirannide, sia assente l’elemento che Aristotele considera essenziale per il costituirsi di una comunità politica, cioè l’alternanza al potere (si veda in particolare 1287a8 ss., anche se in 1259b4–6 si lascia implicitamente aperta la possibilità che vi siano politeiai in cui non si ha alternanza fra governanti e governati). Si potrebbe istituire un parallelo con la concezione della tirannide illustrata da Platone nel Politico. Mi riferisco in particolare a 301b10–c4: il tiranno non rispetta le leggi ma finge di servirsi della scienza politica propria dell’aner basilikos per governare. Potremmo quasi considerarle anticipazioni di quelle massime, attribuite ai giuristi romani, che si possono leggere nella parte iniziale del Digesto di Giustiniano: neminem laedere; unicuique suum tribuere ecc. Interessante in 1315a4 ss. il consiglio di onorare quanti si dimostrino agathoi con onori pari o superiori a quelli che avrebbero potuto ricevere dai concittadini se fossero vissuti in un regime di autonomia.

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IV. La politeia tirannica 12. Abbiamo visto che dai codici di comportamento volti alla conservazione del potere emerge una veste (quasi) istituzionale del potere tirannico. Ma quando leggiamo in Aristotele che non le leggi ma il tiranno governa, dobbiamo ritornare a chiederci se le strutture dello Stato vengano meno in quanto sostituite da un rapporto personale fra il tiranno e i governati al di fuori dell’ordinamento costituzionale. E se anche i rapporti privati fra i cittadini non siano più regolati da leggi. Per rispondere a queste domande dobbiamo cercare ora di capire se, per Aristotele, anche nel regime tirannico si possono riscontrare le tre componenti di ogni politeia (i tria moria di 1297b37–1298a3: τὸ βουλευόμενον, τὸ περὶ τὰς αρχάς, τὸ δικάζον) che si traducono nella funzione deliberativa, nel potere magistratuale e nell’esercizio della giurisdizione. Si tratta delle funzioni che assicurano il funzionamento dell’organismo costituzionale in base a una ripartizione di competenze necessariamente conformi a princìpi indipendenti dall’arbitrio del kyrios tes poleos. Purtroppo Aristotele non si serve di un criterio di classificazione dei regimi tirannici basato sulla conservazione (sia pure soltanto nominale) delle istituzioni del regime precedente alla sua presa di potere, o, viceversa sulla loro eliminazione anche formale.59 Come abbiamo già osservato, siamo quindi obbligati a considerare la tirannide del terzo eidos, la tirannide per antonomasia, senza possibilità di differenziare il discorso tipologico in relazione a varianti significative dell’ordinamento tirannico. Che vi siano dei magistrati e dei tribunali pare si possa desumere da 1315a7–8: il tiranno deve elargire personalmente le ricompense,60 mentre “per le punizioni deve servirsi di altri magistrati (archontes) e dei tribunali (dikasteria)”.61 Consideriamo separatamente le due funzioni. 59

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La creazione di una nuova veste istituzionale è invece un elemento essenziale nella creazione di un regime “tirannico” in tempi moderni: si pensi, per restare in Grecia, al c. d. regime dei colonnelli dal 1967 al 1974, che si preoccupò di legittimare il suo potere modificando la Costituzione del paese. Poiché Aristotele afferma che il tiranno governa senza leggi, non si può nemmeno applicare al suo regime quella graduale trasformazione dell’ordinamento che Aristotele riscontra in determinate situazioni (l’inganno riguarda infatti soltanto la modalità di presa del potere, non la dioikesis dell’arche). La documentazione storica ci permette comunque di affermare che la conservazione almeno di alcuni organi costituzionali era data per scontata: ad es. la conservazione dell’Areopago nel regime tirannico prospettato dalla legge di Eucrate (Hesperia 21, 1952). Anche per questo importante aspetto della politica interna ed estera il tiranno si sostituisce agli organi deliberanti ordinari, quale ad Atene l’assemblea dei cittadini. Il confronto con il passo parallelo dello Ierone di Senofonte (9.3) mi sembra un buon esempio del modo in cui Aristotele interpreta in chiave istituzionale un suggerimento formulato da Senofonte in termini generici (“ordinerà ad altri di punire”). Si noti, però, che poco dopo Aristotele consiglia al tiranno di astenersi da ogni manifestazione di hybris, fra cui in particolare menziona le pene corporali. Non è chiaro se si riferisca a una pena decisa dal tiranno (cioè non prevista da una legge) che però consegue a una regolare sentenza di condanna da parte di un organo giurisdizionale o da parte del tiranno stesso in veste di giudice; oppure se si tratti di un atto di mero arbitrio che prescinde da qualsiasi procedura giudiziaria. In ogni caso ciò che provoca disonore è infliggere a un uomo libero una pena destinata agli schiavi (la traduzione di De Luna et al. 2016, 211, “le punizioni

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13. Quali e quanti magistrati/funzionari affiancassero il tiranno le fonti non lo dicono. Aristotele, dal canto suo, riferendosi al basileus, scrive che non potrà fare tutto da solo (1287b8–9): occorrerà quindi creare degli archontes. La stessa affermazione, in quanto basata su una constatazione di fatto e non su un presupposto ideologico, deve valere anche per il tiranno (che vi siano magistrature nei regimi monarchici è dato per scontato in 1299b20 ss.). Come si debba intendere archontes qui resta incerto. Essendo improbabile che gli archomenoi fossero interpellati, sarebbe verosimilmente corretto considerarli funzionari dell’amministrazione tirannica nominati dal tiranno stesso: essi risponderanno dunque del loro comportamento al tiranno e non alla collettività (il che spiega, fra l’altro, perché le ricompense saranno assegnate dal tiranno: 1315a4–7). È quanto si desume da 1315a8–14. Il linguaggio utilizzato qui da Aristotele rinvia ancora una volta ai rapporti personali fra il tiranno e i governati. Ritengo quindi che “rendere grande” debba essere interpretato nel senso di affidare una carica,62 come conferma anche il consiglio di creare solo cariche collegiali e il fatto che, per indicare i poteri magistratuali, Aristotele si serva del termine exousia, cioè dello stesso termine che designa il potere del tiranno (1315a23). Meno facile è capire, traducendo in linguaggio istituzionale, come si debba attuare il ritiro graduale dei poteri conferiti (1315a12–14): forse affidando una magistratura da considerarsi meno importante. L’unica magistratura menzionata espressamente da Aristotele è quella dei tesorieri delle casse pubbliche (definiti hoi phylattontes in 1314b10–14, che ritornano come magistratura necessaria a ogni regime in 1321b31 ss.). Ma per attuare la politica di lavori pubblici che Aristotele, in entrambe le “maniere”, consiglia al tiranno, occorreranno sovraintendenti alle varie attività correlate. Né si potrà fare a meno di funzioni che non possono mancare in alcun regime, anche se Aristotele dubita che i loro titolari possano essere definiti politikai archai e preferisce chiamarli epistatai: si tratta dei sacerdoti, dei coreghi, degli araldi, degli ambasciatori (1299a15 ss.). Inoltre, almeno nel caso del tiranno “onesto” che intende istituire un’amministrazione finanziaria secondo le regole, occorrerà tutto l’apparato amministrativo a cui Aristotele si riferisce con anankaiai epimeleiai in 1322b29 ss. e illustra in 1321b. Inoltre, se il tiranno intende utilizzare le milizie cittadine, occorreranno i quadri dell’esercito a cui Aristotele si riferisce in 1322 a33–1322b6. Va ancora considerato che, fra le misure che costituiscono la “prima maniera” del governo tirannico, parecchie sono difficilmente attuabili senza un apparato che potremmo definire poliziesco, quindi senza servirsi di organi deputati a questi compiti. Mi riferisco in particolare allo spionaggio (1313b11–16), dato che in 1308b si consiglia addirittura ad ogni tipo di regime (in barba alla libertà che per Aristotele è il principale connotato

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siano date con spirito paterno e non per mancanza di riguardo” non mi sembra rendere pienamente ciò che Aristotele intende). In 1308b10 ss., a cui rinvia Aubonnet 1995, 89 nn. 5 e 6, si trova un consiglio analogo, indirizzato a ogni regime costituzionale, con riferimento esplicito alle timai (da intendersi ovviamente come archai: 1281a31). V. anche De Luna et al. 2015, 516–517.

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della democrazia) di istituire un’arche incaricata di sorvegliare le vite private. È evidente che il regime tirannico è particolarmente interessato ad assicurarsi un efficace svolgimento di questo compito. Allo Ierone senofonteo Simonide consiglia di utilizzare la sua guardia del corpo come polizia incaricata di garantire la sicurezza dei cittadini in città e in campagna contro eventuali malfattori (Xen. Hier. 10), ma sottace la probabile concomitante attività di sorveglianza sui cittadini stessi. Aristotele si rifà piuttosto al subdolo modello siracusano (1313b12–13); ma anche queste specie di Mata Hari del tempo dovevano far capo a un organo dirigente del servizio segreto.63 14. Quanto agli organi giurisdizionali, anche in questo caso non sappiamo come fossero composti i tribunali, dato che nella sezione dedicata alla giurisdizione (1300b12 ss.) Aristotele parla solo di giudici eletti o sorteggiati, riferendosi esplicitamente solo a democrazia, oligarchia, aristocrazia e politia: ora, se è vero che in un regime tirannico i cittadini sono esclusi dall’esercizio dei diritti politici, sembra improbabile che abbiano voce in capitolo nella nomina dei giudici.64 E’ verosimile, d’altronde, che, accanto ai tribunali, il tiranno stesso esercitasse una funzione giurisdizionale di tipo prevalentemente arbitrale (come confermerebbe la raccomandazione di riservare le punizioni alle sentenze dei tribunali: 1315a7–8 e 1321b40 ss.), senza escludere che potesse riservarsi il giudizio su determinati reati, oltre che, eventualmente, fungere da giudice d’appello.65 Per mancanza di fonti resta nel dubbio se i giudici applicassero le leggi o giudicassero secondo criteri equitativi. In ogni caso non credo si possa dubitare che i rapporti privati fra i cittadini continuassero ad essere regolati da leggi anche sotto il regime tirannico. Ne abbiamo degli indizi in affermazioni di carattere generale, come Xen. Mem. 4.6.5–6,66 ma anche in riferimenti specifici all’attività legislativa del monar63 64 65

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V. De Luna et al. 2015, 510–512. In AP 16.5 si dice che Pisistrato istituì i giudici dei demi; ma soltanto dopo la cacciata dei Trenta si specifica che essi venivano sorteggiati (AP 53.1). In precedenza non sappiamo chi fossero e come fossero nominati: v. Mirhady 2006, 8. Si ricordi che di Pisistrato AP 16.5 dice che girava per la campagna riconciliando i litiganti. Mi sembra invece inverosimile che nel mondo greco sia mai stato applicato il metodo di Deioce, il re dei Medi, che, al dire di Erodoto (1.96–100), rinchiuso nel suo palazzo difeso da una guardia del corpo e inaccessibile ai sudditi, si faceva inviare per iscritto i documenti processuali e rinviava alle parti la sentenza scritta. Inaccettabile mi pare la tesi di Christodoulou 2009, 176, secondo cui in 1315a7–8 Aristotele vieterebbe al tiranno “de devenir un juge, c’est-à-dire de dispenser la justice dans la cité”. E questo perché la giustizia è un valore politico, ossia è la regola (taxis) della comunità politica (1253a37), mentre il tiranno è privo della capacità di discernere il giusto dall’ingiusto. Una soluzione istituzionale di questo tipo implicherebbe che nella polis tirannica operino cittadini capaci di conoscere e realizzare la giustizia (da intendersi quindi in senso assoluto), il che è ovviamente inverosimile, soprattutto tenendo conto che la trattazione aristotelica della tirannide, come tutti o quasi gli interpreti moderni ritengono, è da considerarsi “wertlos”. Il senso della raccomandazione di Aristotele si chiarisce invece in base al confronto con 1321b40 ss.: i magistrati incaricati dell’esecuzione delle sentenze sono particolarmente malvisti dalla popolazione. Socrate chiede a Eutidemo: “Ed è possibile con gli uomini comportarsi come si vuole?” “No, anche riguardo a loro esistono delle leggi seguendo le quali ci si deve comportare l’uno nei confronti dell’altro” ecc.

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ca, come Isocr. 2 (a Nicocle).17.67 I contrasti e le inimicizie reciproche, che il tiranno della “prima maniera” ritiene opportuno creare, a mio parere non riguardano quindi (o almeno non principalmente) questioni private: l’uso del verbo diaballo in 1313b16–17 rinvia probabilmente alle denunce relative a pretesi comportamenti ostili al tiranno. Inoltre questa strategia del tiranno contrasta con l’idea che nel demos non ci sono interessi contrapposti tali da generare staseis interne (1302a10). 15. Per quanto riguarda la funzione deliberativa, l’accenno più esplicito a una legislazione tirannica nella Politica di Aristotele lo troviamo dove il filosofo compara l’attività normativa della democrazia radicale e della tirannide (1292a29–30). In quel tipo estremo di democrazia la massa dei poveri, riunita in assemblea, emana decreti (psephismata) in contrasto con le leggi e a danno del ceto abbiente; a sua volta il tiranno emana ordini (epitagmata) a suo arbitrio e tendenzialmente a proprio vantaggio: si noti che nella Politica il termine designa in generale i comandi dei magistrati, che assumono, quando è necessario, la forma di decreti (1292a33–34; 1299a25–28; v. anche Rhet. 1354b7–8 ed EN 1141b25 ss.). Non solo non sembra quindi esserci un coinvolgimento dei cittadini nell’attività deliberativa, ma il tiranno delibera e mette in esecuzione le sue decisioni, assumendo così ad un tempo la veste di legislatore e di magistrato. Tuttavia, non essendoci un unico modello di stato tirannico, non possiamo tracciare uno schema standard a cui si conformi l’attività deliberativa in un regime tirannico. In ogni caso Aristotele contempla esplicitamente l’ipotesi che la funzione deliberativa sia affidata a un solo individuo (1298a8). Sembra comunque improbabile, come abbiamo detto, che il tiranno rinnovasse a proprio uso e consumo l’insieme della normativa scritta e consuetudinaria che regola i rapporti interpersonali nella comunità di cui si era reso signore. V. Conclusioni Le considerazioni fin qui svolte dimostrano come non sia facile tirare delle conclusioni sulla natura che Aristotele attribuisce alla tirannide nell’analisi delle costituzioni da lui svolta nella Politica. Se infatti, da un lato, la tirannide rientra tra le forme monarchiche di politeia (1312a39–40), i suoi caratteri distintivi sono indicati non in via diretta ma, per così dire, per relationem (1310b3–4 e 1311a8 ss.), ossia per assimilazione con le forme estreme di democrazia e di oligarchia. In questa maniera indiretta Aristotele mette in luce come la tirannide persegua esclusivamente l’interesse del tiranno stesso (1279b7–8). Ma conculcare gli interessi di tutte le componenti della popolazione

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Qui Isocrate raccomanda a Nicocle di cercare leggi giuste e vantaggiose, senza contraddizioni interne, inoltre capaci di ridurre al minimo le liti e di renderne il più veloce possibile la risoluzione.

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mette a rischio la conservazione del potere tirannico. Se il tiranno vuole salvare il suo regime (1314a34 ss.), o almeno renderlo più duraturo (1315b8–10), secondo Aristotele deve adottare una ‘maniera’ diversa. Non siamo quindi lontani dalle misure che Aristotele suggerisce per temperare gli eccessi di oligarchie e democrazie (1298b15 ss.). Soltanto che nel caso della tirannide i suggerimenti non riguardano la composizione e il funzionamento degli organi decisionali, ma il modo di governare e di comportarsi del tiranno. Gli accorgimenti suggeriti da Aristotele implicano da un lato una rinuncia (almeno apparente) all’esercizio arbitrario e prevaricatore del proprio potere e, dall’altro, un riconoscimento (almeno indiretto e parziale) degli interessi delle varie componenti della popolazione. In questo modo il tiranno si avvicina alla figura del re, cioè dell’ideale positivo di monarchia (1310b40 ss.). Si crea così anche nell’ambito della monarchia qualcosa di simile alla differenziazione di regimi che emerge dall’analisi aristotelica della democrazia e dell’oligarchia (IV 1296b–1297a6; VI 1317a ss.). Non abbiamo più soltanto una contrapposizione fra polo positivo (re nelle sue varie declinazioni: 1285b20 ss.) e polo negativo (tiranno): emerge una figura intermedia, che lo stesso Aristotele definisce per metà buona (emichrestos) e per metà cattiva (emiponeros). Restano naturalmente dei difetti di base che connotano negativamente la tirannide, anche nella sua ‘maniera’ più rispettabile, sia nei confronti di ogni forma di democrazia e di oligarchia sia, almeno in linea teorica, nei confronti della basileia. Prima di tutto il potere tirannico resta basato sulla forza (1314 a verso la fine), escludendo così i cittadini dall’esercizio della sovranità; in secondo luogo l’arche del tiranno non deriva da un’investitura pubblica, quindi manca di legittimazione; in terzo luogo il potere di comando del tiranno, in linea di principio assimilabile a quello degli archontes di ogni altro regime, non è sottoposto ad alcun controllo istituzionalizzato da parte della comunità, né per quanto riguarda il tiranno stesso né per quanto riguarda i suoi funzionari. Sulla base di queste caratteristiche negative, comuni a ogni regime tirannico, il tiranno resta però libero di configurare una propria struttura di governo nel modo che ritiene più conveniente. Le due ‘maniere’ individuate da Aristotele derivano dall’osservazione della realtà, ma hanno un valore puramente esemplificativo, non potendo tradursi in schemi di organizzazione e di funzionamento ben individuati e costanti, come avviene invece per gli altri regimi. Ma questo non significa che la tirannide non rientri nel modello costituzionale monarchico: semplicemente esistono tante politeiai tiranniche quanti sono i tiranni.

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Zu alten Ufern Gedanken zum Ersten Attischen Seebund Wolfgang Schuller † Der Titel ist kein Falschzitat. Zwar ruft Faust im ersten Teil der Tragödie aus „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag“1, jedoch irrt er sich über die Situation und trinkt, von einem Chor der Engel unterbrochen, die verlockende Schale doch nicht aus, die ihm dieses Glück bescheren sollte, was wohl ganz gut war. Daher ist es wohl erlaubt, den Wortlaut gegen das übliche rein positiv aufgefasste Verständnis in demjenigen Sinne abzuändern, der diesem Vortrag und seinem Anlass zugrunde liegt. Ich spreche ja anlässlich des in naher Zukunft bevorstehenden Abschieds Martin Drehers vom aktiven Dienst und nehme hier – mit seiner Zustimmung – die Dinge auch autobiographisch wieder auf, mit denen ich mich zunächst hauptsächlich beschäftigt hatte, nämlich mit meiner Habilitationsschrift;2 sie berühren sich auch mit seinem eigenen Lebenslauf, dass seine Habilitation ein vergleichbares Thema zum Gegenstand hatte.3 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem ersten Seebund4 begann mit dem Werk August Böckhs5 „Die Staatshaushaltung der Athener“.6 Es war aus verschiedenen Gründen eine ungeheure Leistung. Böckh schuf aus dem verstreuten literarischen und inschriftlichen Material ein kohärentes Werk unter einer systematischen Fragestellung, in der auch der Seebund – gelegentlich Bund oder Hegemonie genannt – eine Rolle spielt. Böckh gliederte sein Werk nach Ämtern sowie nach Arten der Einkünfte und Ausgaben und wählte damit einen allen Klassizismus und aller Griechenbegeisterung

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Vers 701. Schuller 1974. Dreher 1995. Ich lasse es dahingestellt, wie man ihn schreibt, alle Varianten haben ihre Berechtigung; das englische Empire bietet dagegen zahlreiche wenig ergiebige Interpretationsmöglichkeiten. So die Schreibweise der Erstausgabe, sonst zumeist Boeckh. Böckh war, wie der zu Verabschiedende, Badener. Böckh 1817; als umfangreiche Beilage erschienen 1840 in Berlin Urkunden über das Seewesen des Attischen Staates, der Inschriften des 4. Jhs. behandelt; 1851 in Berlin separat schließlich Verbesserungen und Nachträge zu den drei Bänden mit einem Register zu ihnen.

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baren Gegenstand, und das Erstaunlichste ist dies: Er publizierte das Werk im Jahre 1817, Goethes Divan erschien erst zwei Jahre später. Dennoch ist die Staatshaushaltung auch in ihrer Fragestellung eben ein Werk ihrer Zeit, in der die klassische Nationalökonomie aufgekommen war. Auf der Basis der durch Böckhs Initiative ins Leben getretenen Inschriftencorpora konnte dann Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff gegen Ende des Jahrhunderts eine neue Konzeption der Gesamtbetrachtung des Seebundes in dem Buch „Von des attischen Reiches herrlichkeit“7 vorlegen, eine trotz des Titels sehr nüchterne hart an Sachen und Quellen orientierte Gesamtdarstellung. Aber auch hier: Titel und Erscheinungsjahr zeigen den Geist der Zeit, das Glück der endlich erreichten staatlichen Einheit (Klein-) Deutschlands. In diesem schnellen Durchlauf kann von den zahlreichen einzelnen Arbeiten nur die auf Inschriften gestützte Untersuchung mehrerer Aspekte des Seebunds durch Herbert Nesselhauf8 genannt werden, die sich mit der bisherigen Literatur auseinandersetzt. Das Riesenwerk der vier Bände der Athenian Tribute Lists9 war dann der nächste und tiefste Einschnitt. Es ist eine ganz intern-professionelle Arbeit, bei der die Edition der Inschriften im Vordergrund stand, unbeschadet der Tatsache, dass mit dem dritten Band eine Gesamtdarstellung auf dieser Basis vorgelegt wurde. Die Zeitläufte spiegeln sich hier in der Editionsgeschichte wider: Der erste, besonders umfangreiche Band von 1939 bringt Fotografien der meisten Inschriftenbruchstücke der Listen sowie eine ausführliche Darlegung von deren Stellung in der zu rekonstruierenden Gesamtinschrift der beiden riesigen Stelen sowie dann die jeweilige Inschriftenpublikation selbst einschließlich der damit in Zusammenhang stehenden Volksbeschlüsse. Der im selben Jahr beginnende zweite Weltkrieg bewirkte trotz der anfänglichen Nichtteilnahme der USA10 eine Unterbrechung der Arbeit, die so einschneidend war, dass die überarbeitete Publikation der Inschriften in einem neuen Band 2 erscheinen musste; dann erst konnten die Gesamtdarstellung und die Register erscheinen. In der Folgezeit erschienen, wie auch schon früher, zahlreiche Einzelstudien, bis dann 1972 die Gesamtdarstellung von Russell Meiggs11 und 1974 meine Arbeit publiziert wurden. Das Verhältnis beider kann kurz so charakterisiert werden, dass Meiggs die bewundernswerte Bilanz der bisherigen Forschung in im Großen und Ganzen chronologischer Reihenfolge und im erprobten methodischen Zugriff zog, während ich versuchte, die Struktur des Seebundes nach systematischen Gesichtspunkten offenzulegen.12 Meine Arbeit erhielt viel Lob, allerdings war ihre inhaltliche Wirkung gering; 7 8 9 10 11 12

Wilamowitz 1880. Nesselhauf 1933. Meritt et al. 1939–1953. Deutschland erklärte ihnen im Dezember 1941 den Krieg; im Sommer dieses Jahres war die Sowjetunion von Deutschland ohne förmliche Kriegserklärung überfallen worden. Meiggs 1972. So die zutreffende Charakterisierung beider einander gegenübergestellter Werke durch Pečírka 1976.

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zum einen wurde die systematische Fragestellung nirgendwo weiterverfolgt – insofern traf Pečírkas Prophezeiung nicht ein, das Buch werde zweifellos Kontroversen hervorrufen13 –, und zum anderen wurde meine Grundthese übergangen, die Organisation des Seebundes habe sich durch die ständige Kriegführung als Antwort auf militärische und politische Herausforderungen herausgebildet. Später wagte ich es einmal, zu einer Charakterisierung meines Buches als wichtig etwas verhüllt auf Lessings Epigramm auf Klopstock zu verweisen, was ich an dieser Stelle wegen Klopstocks Geburtsort im nahe gelegenen Quedlinburg unverhüllt tun möchte, obwohl Klopstock damit gelinde verspottet wird – was dann auch gegen mich gerichtet werden kann: Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? Nein. Wir wollen weniger erhoben Und fleißiger gelesen sein.

Aus Gründen der Lebensführung – mit der Alten Geschichte hatte ich ja gerade erst angefangen und musste mich auch in anderen Themen und Epochen umtun, so in der Spätantike –, aber auch aus den Erfordernissen der Gegenwart, also der Teilung Deutschlands und der SED-Herrschaft, wurde vieles auf später verschoben. Dennoch blieb das 5. Jahrhundert und die athenische Demokratie immer Forschungsgegenstand, und auch zum Seebund schrieb ich gelegentlich kleinere Sachen. Das war auch sonst die Forschungslage, es erschienen bemerkenswerte Beiträge zu einzelnen Themen und Gebieten. An vorderster Stelle muss die dritte Auflage des ersten Bandes der Inscriptiones Graecae14 genannt werden, die unter der Leitung von David Lewis herausgegeben wurde, aber bei denen die Tributlisten (tabulae hellenotamiarum) von den ATL-Bearbeitern Meritt und McGregor erarbeitet worden sind. Der zeitgeschichtliche Aspekt zeigt sich darin, daß der erste Faszikel 1981 bei der DDR-Akademie, der zweite 1994 bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie erschienen ist, in beiden Fällen unter der Nennung des Akademie-Mitarbeiters Eberhard Erxleben.15 Zum Seebund im Ganzen erschien die aus demjenigen Grund wichtige Arbeit von Christian Koch,16 dass sie unter der Fragestellung des Verfahrens, mit dem Athen den Unterworfenen begegnete, die Inschriften in der durchaus auch kritischen Übernahme der bis dahin vorliegenden Publikationen jedes Mal nach denselben Kriterien analysiert. Hartmut Leppins Aufsatz17 über ein in den Tributlisten erwähntes Amt wird 13 14 15 16 17

Pečírka 1976, 145. Lewis 1981. Consilio et auctoritate Academiae Scientiarum Rei Publicae Democraticae Germanicae, dann Berolinenis et Brandenburgensis, sowie Erxleben in Vorwort von Faszikel 1 als vir strenuus et diligens, der supra cunctos nominandus ist, im Vorwort von Fasz. 2 auf dem Titelblatt adiuvante Eberhard Erxleben. Koch 1991. Leppin 1992.

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möglicherweise einige Revisionen meiner Vorstellungen zur Folge haben; Wilhelm Müselers gewaltiges Werk18 über die lykischen Münzen bringt den zu oft übersehenen numismatischen Aspekt zur Geltung und untersucht dabei auch das Verhältnis zum Seebund. Die Durchleuchtung einer Inschrift mit Laserstrahlen wandte Mortimer Chambers an und kam zu chronologischen Folgen für die Geschichte des Seebunds, zu deren Konsequenzen ich etwas beisteuerte.19 Vor allem aber sind es zwei Werke der letzten Jahre, die durchgreifend Neues bringen. Von der bisherigen Forschungs- und Quellenlage geht ein Sammelband zur Interpretation des Seebundes aus, der aber glücklicherweise nicht nur interpretiert, sondern auch Substantielles bringt.20 Den Band durchzieht die Tendenz, die Inschriften im Sinne von Mattingly und anderen herunterzudatieren, insbesondere das dreistrichige Sigma nicht mehr als entscheidendes Kriterium anzuerkennen; glücklicherweise kann man aber bei Lisa Kallet21 die Warnung lesen, diese alte Orthodoxie nicht durch eine neue zu ersetzen. Auch sonst bietet ihr Beitrag für mich die meisten Anregungen – zu diesem Begriff weiter unten –, vor allem ihre zutreffende Bemerkung zu den sonst gerne als überholt getadelten ATL, sie hätten „contributed immensely to understanding of the anatomy and mechanisms by means of which the Athenians came to control the Aegean and its rim“.22 Dieser Satz beschreibt mit vorbildlicher Klarheit die Fragestellung meiner Herrschaft der Athener, allerdings tut er das nur unfreiwillig, denn die Autorin meint das Buch damit gar nicht; im Literaturverzeichnis führt sie es an und zitiert es sogar auch einmal in einem zutreffenden, wenn auch nur teilweise richtigen Zusammenhang. Das nun ist einer der allerdings abermals nicht überraschenden Mängel fast des ganzen des Buches, dass es nämlich die in den drei kontinentaleuropäischen Sprachen Italienisch, Französisch und Deutsch erschienenen Arbeiten zu seinem eigenen Schaden zu wenig berücksichtigt, die doch für die Altertumswissenschaften immer noch konstitutiv sind. Anders verhält sich der Mitteleuropäer Kurt Raaflaub.23 Mehr an dieser Stelle nicht dazu. Die eigenartiger Weise nur im Netz publizierte und wohl daher meines Wissens wenig bekannte Doktordissertation von Bjørn Paarmann24 hat Großes vor und ist in der Tat geeignet, starke Wirkungen zu erzielen. Um zunächst an das eben gestreifte Thema anzuschließen: Der Autor ist Däne, hat im zweisprachigen schweizerischen Freiburg/ Fribourg bei dem Wallonen Marcel Piérart promoviert und hat lange in Heidelberg 18 19 20 21 22 23 24

Müseler 2016. Schuller 2015/2002. Ma 2009. Kallet 2009. Kallet 2009, 43. Raaflaub 2009 Paarmann 2007.

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gearbeitet – also ein, wenn auch hier englisch schreibender, Kontinentaleuropäer par excellence, und das wird in der Arbeit deutlich. Es ist ein herkulisches Unterfangen, als einzelner das riesige Kollektivwerk der ATL einer Revision zu unterziehen, zumal da Paarmann wirklich zahlreiche Ergebnisse für den Wortlaut einschlägiger Texte erzielt. Im Ganzen freilich stößt er an eine objektive Grenze, und das ist die Art der Publikation der Steine, die die Fragmente der Tributlisten tragen: Einbetoniert in den beiden riesigen Stelen im Epigraphischen Museum in Athen. Mit Recht beklagt er, wie es andere ja auch tun, dass damit die Untersuchung der Fragmente, ihre physische Beschaffenheit und die eventuelle Zusammengehörigkeit unmöglich gemacht wird; um das zu erreichen, also zunächst einmal die Stücke wiederherauszulösen und dann mit den Neufunden zu untersuchen, wäre ein Riesenaufwand nötig, der erst einmal nicht aufgebracht werden kann. Ausführlich nun setzt sich Paarmann aber doch mit im Inschriften-Wortlaut Unzweifelhaftem auseinander, so mit meiner Erklärung der ἰδιῶται-Rubrik der Tributlisten25 in Verbindung mit dem, was ich auf einer der Kopenhagener Polis-Tagungen Mogens Herman Hansens gemeint hatte.26 Er bestreitet, dass Toponyme und Ethnika scharf zu trennen seien, und obwohl ich meinerseits glaube, dass es mehr auf den Zusammenhang und die zeitliche Abfolge ankommt als Paarmann meint, so ist seine Argumentation doch so gewissenhaft, dass dieses Problem für mich die Folge haben wird, mich mit ihm erneut zu befassen. Im Allgemeinen bin ich nämlich auch skeptisch, wenn man den Griechen in diesen Dingen allzu viel Konsequenz zubilligt. Dennoch: Paarmanns Arbeit stellt also sowohl sehr handfeste Ergebnisse als auch eher Anregungen bereit, und dieser Begriff gilt dann auch wieder für den zuerst genannten Interpretations-Sammelband. Der Begriff Anregung scheint mir nämlich in den meisten Fällen ein Allerweltswort, oder vornehmer gesagt ein Passepartout zu sein, mit dem alles oder nichts gesagt wird, zumeist dieses. Ich neige dazu, immer zu fragen, wozu das Anregende denn eigentlich anregt. Neben der ohnehin gegebenen Selbstverständlichkeit, zwischen Skylla und Charybdis von drei- und vierstrichigem Sigma heil hindurchzukommen, regen mich Leppin und Paarmann zu terminologischen Überlegungen an, natürlich mit der Möglichkeit, dass sie Recht haben und nicht ich, und für einige Beiträge des Sammelbandes gilt Ähnliches; auch werde ich mir eine Ehre daraus machen, auf Pečírkas seinerzeitige Bemerkungen ausführlich einzugehen. Am wichtigsten scheint mir aber ein Gedanke zu sein, der durch einige der neuen Arbeiten angeregt wurde und der dazu führen könnte, in ein terminologisches Niemandsland Struktur zu bringen. Wenn nämlich ethnische und topographische

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Schuller 2015/1981. Paarmann 2007, 78–86.

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Bezeichnung in vielen Fällen promiscue gebraucht werden können, liegt die Situation dann anders, wenn von der Bezeichnung Konkretes abhängt. Wenn es also in der politischen Wirklichkeit darauf ankommt, ob diese oder jene Bezeichnung gewählt wird, wenn eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung davon abhängt, dann könnte sehr wohl ein Unterschied in der Bezeichnung Präzision bekommen. Oder wenn es mit Roger Brook27 willkürlich gewesen sein könnte, ob die Athener nun die Demokratie gefördert hatten oder etwas anderes, dann verliert diese Frage in dem Fall ihre Beliebigkeit, wenn mit der Entscheidung darüber harte politische Konsequenzen verbunden waren; es könnte sich dann doch eine Regelhaftigkeit ergeben. Im Übrigen werde ich keinem Forschungsprogramm folgen. Die Wissenschaft von der Alten Geschichte ist zum Teil immer noch so beschaffen, daß es darauf ankommt, durch die Muße des Umgangs Einzelner mit dem Material Anregung zu neuen Fragen zu bekommen. Einem Emeritus geschieht das zuweilen. Die abgeschlossene schriftliche Übersetzung des Thukydides hatte ja dazu geführt, dass die alten Ufer der athenisch beherrschten Ägäis wieder neu in das Zentrum meiner Arbeit getreten sind. Denn, um nach Goethe zu Beginn und Lessing in der Mitte nun zum Schluss Gottfried Benn zu zitieren: „Und alte Dinge öffnen dir dein Blut.“

Bibliographie Böckh, A., Die Staatshaushaltung der Athener, Berlin 1817. Brook, R., „Did the Athenian Empire promote Democracy?“ in: Ma 2009, 149–166. Dreher, M., Hegemon und Symmachoi: Untersuchungen zum Zweiten athenischen Seebund, Berlin – New York 1995. Kallet, L., Democracy, „Empire and Epigraphy in the Twentieth Century,“ in: Ma 2009, 43–66. Koch, Ch., Volksbeschlüsse in Seebundangelegenheiten. Das Verfahrensrecht Athens im Ersten attischen Seebund, Frankfurt a. M. et al. 1991. Leppin, H., „Die ἄρχοντες ἐν ταῖς πόλεσι des Delisch-Attischen Seebundes,“ Historia 41, 1992, 257–271. Lewis, D. (Ed.), Inscriptiones Graecae, 1, 1, Berlin – New York 1981. Ma, J. (Ed.), Interpreting the Athenian Empire, London 2009. Meiggs, R., The Athenian Empire, Oxford 1972. Meritt, B. D., Wade-Gery, H. T., McGregor, M. F., The Athenian Tribute Lists, 4 Bde., Cambridge, Mass. – Princeton 1939–1953. Müseler, W., Lykische Münzen in europäischen Privatsammlungen, Istanbul 2016. Nesselhauf, H., Untersuchungen zur Geschichte der Delisch-Attischen Symmachie, Leipzig 1933.

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Brook 2009.

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Paarmann, B., Aparchai and Phoroi. A New Commented Edition of the Athenian Tribute Quota Lists and Assessment Decrees, Diss. Fribourg (Suisse) 2007. Pečírka, J., „Besprechung von Schuller 1974,“ Eirene 15, 1977, 144–146. Raaflaub, K., „Learning from the Enemy. Athenian and Persian ‚Instruments of Empire‘,“ in: Ma 2009, 89–124. Schuller, W., Die Herrschaft der Athener im Ersten Attischen Seebund, Berlin – New York 1974. Schuller, W., Kleine Schriften zum Altertum und seiner Rezeption. Bd I: Griechenland, Kaiserslautern – Mehlingen 2015. Schuller, W., „Über die ἰδιῶται-Rubrik in den attischen Tributlisten,“ in: Schuller 2015, 57–65 (zuerst 1981). Schuller, W., „Folgen einer Umdatierung des Egesta-Dekrets,“ in: Schuller 2015, 115–121 (zuerst 2002). Wilamowitz-Moellendorff, U. von, Von des attischen Reiches herrlichkeit. Eine festrede, Berlin 1880. Prof. em. Dr. Wolfgang Schuller († 4. April 2020) Promotion 1967 (Hamburg), Habilitation 1971 (FU Berlin). Forschungsschwerpunkte: Rechtswissenschaften: Geschichte des Strafrechts der DDR; Zeit des Umbruchs 1989. Griechische Geschichte; Geschlechterforschung; Geschichte der Frauen in der Griechischen und Römischen Geschichte; Biographien: Kleopatra; Cicero.

Athenischer ἐπιτάφιος λόγος und römische laudatio funebris, oder vom Gedächtnis der Vielen und der Wenigen* Kostas Buraselis

I. Einleitendes Es gibt keinen dramatischeren Anlass zur periodischen Intensivierung der menschlichen Erinnerungen als das Ereignis des Todes. Durch den letzteren wird das Gedächtnis zur Rekonstruktion und Bilanz des menschlichen Lebens geführt, aber auch zur Stellungnahme der Überlebenden gegenüber den Toten und jeglicher Idee von Kontinuität, welche die Toten mit der Welt der Lebenden verbindet. Wenn das solche schwierigen Phasen begleitende Gefühl – passender, kann man sagen – durch poetische Werke ausgedrückt wird, wie bereits bei den altgriechischen enkomia, den römischen neniae oder den neugriechischen moirologia, sind Prosastücke ein besseres Instrument für eine erste, gewiss objektivere Präsentation und Interpretation der Daten eines oder mehrerer Leben, auf persönlicher und kollektiver Ebene. Ein Grundelement all dieser Aktionen ist die sich natürlich ergebende Auseinandersetzung mit der Tatsache des menschlichen Verlustes, d. h. eben die Projektion der Persönlichkeit/ en, die verschieden sind. Die fast spontane Reaktion gegenüber der entstehenden menschlichen Lücke ist oft der Versuch zur Rechtfertigung des Verstorbenen, also seines abschließenden Lobes. Diese Idee des Lobes (ἔπαινος) als Kern einer Leichenrede (epitaphios logos) war bereits den antiken Meistern der Rhetorik bewusst. In den Leitlinien der Ῥητορικὴ Τέχνη, die (falsch) als Werk des Dionysios von Halikarnassos überliefert ist, findet man genau diesen Gedanken: Συνελόντι μὲν οὖν ὁ ἐπιτάφιος ἔπαινός ἐστι τῶν κατοιχομένων (6.2). Man kann ergänzen, dass eine solche Rede nichts *

Eine erste, neugriechische Fassung dieser Studie ist erschienen im Sammelband unter dem Titel ‚Η μνήμη της κοινότητας και η διαχείρισή της‘ (Athen 2011). Sie wird nun überarbeitet – Gerhard Thür verdanke ich ihre sprachliche Revision – dem Lebensfreund Martin Dreher herzlich gewidmet.

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anderes ist als eine Art gedanklicher, in der Regel zeitlich (am Grab, ἐπὶ τάφῳ) immanenter Dialog zwischen dem jeweiligen Redner und dem oder den Toten. Dieser Dialog schöpft aus dem Gedächtnis des Redners und formiert es zugleich. Das spezifische historische Interesse dieser Leichenrede ergibt sich darüber hinaus – in jeder Epoche und in jeglicher politisch-sozialen Konstellation – aus den Umständen, unter welchen der Redner seine Aufgabe übernahm, und besonders in Bezug auf seine etwaige Rolle als Repräsentanten einer kleineren oder größeren menschlichen Gemeinde, also ihrer Mentalität und ihrer Ziele zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Im Folgenden wird bloß eine komparative Kurzanalyse zweier Archetypen dieser Art Reden aus dem Bereich des klassischen Altertums versucht. II. Athen Der Ausdruck ἐπιτάφιος λόγος erscheint zuerst als terminus technicus und als entsprechende Institution in Athen im Rahmen der gesamten Entwicklung der athenischen Demokratie.1 Man weiß nicht, wann genau dieser Brauch in der ‚göttlichen Stadt‘ (δαιμόνιον πτολίεθρον, laut Pindar) begann, es ist aber wahrscheinlich, dass dies in der Zeit nach den Perserkriegen geschah. Direkt nach der Abwehr der Perser datiert die Einführung dieser öffentlichen Aktion Diodor,2 obwohl das erste konkrete Beispiel davon in unseren Quellen die Leichenrede des Perikles für die Gefallenen Athens im Samischen Aufstand (439 v. Chr.) ist.3 Auf jeden Fall wiesen schon Felix Jacoby und dann neuere Studien4 auf die 460er Jahre als die wahrscheinlichere Periode, wo die – schon nach den Perserkriegen festgesetzte – öffentliche Bestattung athenischer Gefallener durch den Zusatz einer Rede zu ihren Ehren bereichert wurde. Die kimonische oder die gleich danach folgende Periode scheint also am ehesten für diese Neuerung in Frage zu kommen. Seitdem war diese öffentliche Leichenrede zu einem festen Bestandteil eines athenischen Gesetzes (nomos) geworden, wie eben bereits der perikleisch-thukydideische Epitaphios erwähnt.5 Der Epitaphios stellte eine Besonderheit, ja sogar einen Stolz Athens dar, wie eine spätere Bemerkung Demosthenes’ zeigt:6 πρῶτον μὲν μόνοι τῶν πάντων ἀνθρώπων ἐπὶ τοῖς τελευτήσασι δημοσίᾳ ποιεῖτε λόγους

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Die Standardstudie über den athenischen epitaphios logos bleibt die Monographie von Nicole Loraux 1986 (französische Originalausgabe: 1981), die Prinz 1997 nützlich ergänzt. 11.33.3: [nach 479 v. Chr.] … ὁμοίως δὲ καὶ ὁ τῶν ᾿Αθηναίων δῆμος ἐκόσμησε τοὺς τάφους τῶν ἐν τῷ Περσικῷ πολέμῳ τελευτησάντων, καὶ τὸν ἀγῶνα τὸν ἐπιτάφιον τότε πρῶτον ἐποίησε, καὶ νόμον ἔθηκε λέγειν ἐγκώμια τοῖς δημοσίᾳ θαπτομένοις τοὺς προαιρεθέντας τῶν ῥητόρων. Plut., Per. 8, 28·, Arist., Rh. 1365 a. Jacoby 1944. Prinz 1997, bes. 44–8. Loraux 1986, 29–30 hat ein früheres Datum nicht ausschließen wollen. Th. 2.34.7, 2.35.1. D. Pros Lept. 141.

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ἐπιταφίους, ἐν οἷς κοσμεῖτε τὰ τῶν ἀγαθῶν ἀνδρῶν ἔργα. Der Charakter einer staatlichen Veranstaltung wohnte dieser Institution inne, wie auch eine Angabe Ciceros nahelegt, dass nur so in Athen eine Leichenrede stattfinden konnte.7 Auf jeden Fall kennt man keine Zeugnisse privater Leichenreden aus Athen. Man kann die grundsätzlichen Elemente dieser athenischen Institution aus verschiedenen Zeugnissen rekonstruieren. Die Stadt beauftragte einen rhetorisch begabten und respektablen Bürger damit, eine Rede bei der öffentlichen Bestattung der gefallenen Soldaten eines Krieges zu halten,8 also in der Regel im Herbst (nach dem Ende einer Kriegsperiode). Die Athener glaubten, dass sie auf diese Weise die ihren toten Patrioten gebührenden Ehrungen eben auch durch ein Redemonument ergänzen konnten.9 Der Sinn der Sache war, daß die Stadt ihren Toten etwa repräsentative Grabbeigaben widmete, zu denen auch Meisterwerke der Redekunst zählten. Abgesehen von anderen einschlägigen Zeugnissen und Fragmenten, enthält unsere jetzige Überlieferung fünf illustre solche Beispiele athenischer Grabreden (epitaphioi): des Perikles nach Thukydides, des Lysias, des Demosthenes – die Echtheit der zwei letzteren ist manchmal in Zweifel gezogen worden, nie aber mit entscheidenden Argumenten –, des Hypereides, auch einen Text, der im platonischen Menexenos als Werk Aspasias vorgestellt wird. Von diesen erhaltenen Epitaphioi kann man die Grundthematik und die Zielsetzung dieser Art Literatur eruieren, vielleicht auch – wie wir sehen werden – einige Entwicklung ihrer Substanz in nachalexandrischer Zeit. Eine zentrale Stelle nimmt in diesen athenischen Grabreden das Lob der Stadt und ihrer Bürger ein als sich durch die Jahrhunderte bewährende Gemeinschaft. Auf die Vorfahren, mythische und historische (eine untrennbare Einheit im Bewusstsein der griechischen Antike), fiel oft das größere Gewicht. Besonders die Betonung des berühmten Autochthonie-Bewusstseins der Athener,10 d. h. ihres Glaubens an ihre Besiedlung Attikas seit ältesten Zeiten, ist dabei oft ein Ehren-Motiv. Dies hat die jeweils neueren Toten zum vorletzten Ring einer kontinuierlichen ethnischen Kette gemacht. Oft wurde auch die Würdigkeit der gefeierten Toten gegenüber den Tugenden ihrer Vorfahren unterstrichen, auch der ganze Beitrag ihrer Stadt zum Gesamtablauf der griechischen Geschichte unter ereignisgeschichtlichen und thematischen Gesichts7 8 9

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Cic. Leg. 2.65: (in nachsolonischer Zeit, unter anderen Massnahmen zur Einschränkung des Luxus in athenischen Grabriten) … nec de mortui laude nisi in publicis sepulturis nec ab alio, nisi qui publice ad eam rem constitutus esset, dici licebat. Th. 2.34.6: … ἀνὴρ ᾑρημένος ὑπὸ τῆς πόλεως, ὃς ἂν γνώμῃ τε δοκῇ μὴ ἀξύνετος εἶναι καὶ ἀξιώσει προήκῃ, λέγει ἐπ’ αὐτοῖς ἔπαινον τὸν πρέποντα· μετὰ δὲ τοῦτο ἀπέρχονται. Plat. Men. 5 (236 D): λόγῳ δὲ δὴ τὸν λειπόμενον κόσμον ὅ τε νόμος προστάττει ἀποδοῦναι τοῖς ἀνδράσι καὶ χρή. Vgl. D. Epit. 2: … εἰδυῖα γὰρ (sc. ἡ πόλις) παρὰ τοῖς ἀγαθοῖς ἀνδράσιν τὰς μὲν τῶν χρημάτων κτήσεις καὶ τῶν κατὰ τὸν βίον ἡδονῶν ἀπολαύσεις ὑπερεωραμένας, τῆς δ’ ἀρετῆς καὶ τῶν ἐπαίνων πᾶσαν τὴν ἐπιθυμίαν οὖσαν, ἐξ ὧν ταῦτ’ ἂν αὐτοῖς μάλιστα γένοιτο λόγων, τούτοις ᾠήθησαν δεῖν αὐτοὺς τιμᾶν, ἵν’ ἣν ζῶντες ἐκτήσαντ’ εὐδοξίαν, αὕτη καὶ τετελευτηκόσιν αὐτοῖς ἀποδοθείη. Zum Autochthonie-Motiv als wichtiger Bestandteil städtischen Selbstbildes in der griechischen Antike neulich und eingehend: Osmers 2013, 153–171.

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punkten gepriesen. Die Stadt als Ganzes ist, vom Anfang bis zum Ende, der ständige Protagonist in diesen rhetorischen Texten. Die jeweiligen bestimmten Persönlichkeiten werden in Dachbegriffen eingeschlossen, wie im berühmten Motiv der Bürger als ‚Liebhaber der Stadt‘ (ἐρασταὶ τῆς πόλεως) im Epitaphios des Perikles,11 oder höchstens durch die spezifische Angabe nun schon fernerer Vorfahren wie z. B. des Themistokles oder des Myronides im Epitaphios des Lysias (392 v. Chr.) für die Gefallenen des Korinthischen Krieges.12 Bis zum Lamischen Krieg findet man in den erhaltenen Reden keine Namenangabe von Kommandanten oder anderen hervorragenden Personen unter den zu ehrenden Toten. Die gefallenen Urheber des athenischen Glanzes werden in perfekt-harmonischer Gleichheit der Anonymität in die Darstellung integriert, wie etwa in eine Säulenreihe des Parthenon. Auch wenn Vorbilder bestimmter Tugenden und heldischer Taten veranschaulicht werden müssen, schöpft sie der Redner bezeichnenderweise vom Areal der mythischen Grundfiguren der Stadt. So werden im Epitaphios des Demosthenes der Reihe nach (mitsamt ihren Familienmitgliedern) alle zehn Gründerheroen der einschlägigen kleisthenischen Phylen als Vorbilder für die späteren Angehörigen jener städtischen Untereinheiten vorgestellt. Extremes Beispiel eines so bezweckten Nachahmungseifers: Die Phyleten der Leontis sollten die Tapferkeit sogar der Töchter ihres Gründer-Heros nachahmen, des Leos, die für die Rettung der Polis ihr Leben aufgeopfert hatten: … ὅτε δὴ γυναῖκες ἐκεῖναι τοιαύτην ἔσχον ἀνδρείαν, οὐ θεμιτὸν αὑτοῖς ὑπελάμβανον χείροσιν ἀνδράσιν οὖσιν ἐκείνων φανῆναι.13 Ideologische Belehrung der Lebenden und nicht historische Akribie war das Hauptziel des Redners. Dass Athen in diesem Sinne das ausschließliche Verdienst des Marathon-Sieges zugeschrieben (das Detail der platäischen Teilnahme wurde wegretouchiert14) oder dass der Weg zum Peloponnesischen Krieg zu einer Skizze politischer Hagiographie der Athener umgewandelt wurde,15 kann kaum befremden. Festes Ziel war die Stärkung des athenischen Selbstbewusstseins, auch wenn die historische Wahrheit darunter leiden sollte. Demosthenes hat z. B. kaum gezögert, den Friedensschluss Philipps II. mit Athen nach Chaironeia auf die angebliche Angst des Königs vor dem Heldentum der Athener zurückzuführen.16 Die Gefallenen des Krieges hätten ebenso viel Kraft besessen wie die Ermutigung der Überlebenden benötigte. Das zeitlich späteste erhaltene Beispiel eines athenischen Epitaphios ist die Rede des Hypereides (Frühling 322 v. Chr.) zu Ehren der Gefallenen in der ersten Phase des Lamischen Krieges. Es kann kein Zufall sein, dass dieser Text von einer bis dann ein11 12 13 14 15 16

Th. 2.43.1 (über die Lebenden); vgl. ebd. 41.5 (zum gleichen Denken erkannt in der Haltung der Toten: περὶ τοιαύτης οὖν πόλεως οἵδε τε γενναίως δικαιοῦντες μὴ ἀφαιρεθῆναι αὐτὴν μαχόμενοι ἐτελεύτησαν …). Lys. Epit. 42.52. D. Epit. 27–31 (Zitat: 29). Lys. Epit. 20. Ib., 48 ff. D. Epit. 20.

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gehaltenen Grundregel seiner Art abweicht: Hier fällt das zentrale Licht vorbehaltlos auf eine einzelne Persönlichkeit, Leosthenes, den gefallenen athenischen Feldherrn und Protagonisten bei der Anfangsentwicklung des Krieges. Sein wichtiger Beitrag zur Erklärung des Krieges, zur Gründung einer breiteren Allianz gegen Makedonien und zum Erfolg der Operationen bis zu seinem Tod auf dem Schlachtfeld wird besonders hervorgehoben. Der Verzicht auf das traditionelle Prinzip einer durch die Anonymität gewährleisteten demokratischen Gleichheit musste dem Redner bewusst gewesen sein, da er sich von Anfang an summarisch auf die Toten durch die Wendung ‚Leosthenes und die anderen‘ bezieht.17 Er empfindet also das Bedürfnis, diese persönliche Emphase durch folgende Argumentation geschickt zu begründen: Der strategische Wert des Leosthenes und die ausführende Tapferkeit seiner Soldaten bildeten eine Einheit, so dass das Lob auf den General wesentlich auch seine Männer einschloss.18 Man hat die Ansicht vertreten, dass Leosthenes’ besondere Projektion nicht bis zur Heroisierung des Generals und seiner Soldaten reichte, und so Athen einen gebührenden Abstand von dem hielt, was mit Alexander schon als Vergöttlichung der Herrscher (und Heroisierung ihrer Mitstreiter) angefangen hatte.19 Trotzdem ist die heroisierende Tendenz, was Leosthenes und seine Mitgefallenen betraf, in anderen Stellen desselben Epitaphios deutlich.20 Man sollte also an der besonderen Erhöhung einer Persönlichkeit aus der früher paritätisch dargestellten Einheit der athenischen Gefallenen eher den Einfluss des Gegenbeispiels erkennen, d. h. etwa die Anpassung der demokratischen Ideologie der Athener zu einer Zeit, in der nur moderne Heroen (und Anti-Heroen) in der Mode waren. Dies war auch eine Art historischer Kompromiss.

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Hyp. Epit. 1: Τῶν μὲν λόγων τ[ῶν μελ]λ̣ όντων ῥηθήσεσ[θαι ἐπὶ τῶιδε τῶι τάφω[ι περί τε] Λεωσθένους τοῦ στ[ρατη]γοῦ καὶ περὶ τῶν ἄ[λ̣ λων] τῶν μετ› ἐκείνου [τετελ̣ ]ευτηκότων ἐν τ[ῶι πολ]έμωι, ὡς ἦσαν ἄ̣ν[δρες ἀ]γαθοί … Cf. 6: …, πε[ρὶ̣ δὲ Λεωσθέν̣]ους καὶ τῶν ἄ[λλων τοὺς λόγ]ους ποιήσομ̣[αι … ̣ ib. 15: Καὶ μηδεὶς ὑπολάβῃ με τῶν ἄλλων πολιτῶν [μη]δένα λόγον ποιεῖσθαι, [ἀλλὰ] Λεωσθένη μό̣ν ἐγκω[μιάζ]ε̣ιν. συμβαίνει γὰρ [τὸν Λε]ω̣ σθένους ἔπαινον [ἐπὶ ταῖ]ς μάχαις ἐγκώμιον [τῶν ἄλ]λων πολιτῶν εἶναι· το[ῦ μὲν] γ̣ὰρ βουλεύεσθαι καλ̣ [ῶς ὁ στρα]τηγὸς αἴτιος, τοῦ δὲ νι[κᾶν μαχ] ομένους οἱ κινδυν[εύειν ἐθ]έ̣ λοντες τοῖς σώμασ[ιν· ὥστ]ε ὅταν ἐπαιν[ῶ τὴν γ]εγονυῖαν νίκην, ἅμα τ[ῆι Λε]ω̣ σθένους ἡγεμονίαι καὶ [τὴν τ]ῶ̣ ν ἄλλων ἀρετὴν ἐγκωμ̣[ιάσ]ω̣ . Prinz 1997, 282–287. ib. 27–8: … τὴν τῶν οὐκ ἀπολωλότω[ν] ἀρετήν, οὐ γὰρ θεμιτὸν τούτου τοῦ ὀνόματος τυχεῖν τοὺς οὕτως ὑπὲρ καλῶν τὸ βίον ἐκλιπόντας, ἀλλ[ὰ] τῶν τὸ ζῆν ἰς αἰώ[ν]ι ̣ον τάξιν μετηλλα[χό]των ἕξουσιν. εἰ γὰρ [ὁ τοῖ]ς ἄλλοι[ς]̣ ὢν ἀνιαρ[ότ]α̣τος θάνατος τούτοις ἀρχηγὸς μ̣εγάλων ἀγαθῶν γέγονε, πῶς τούτους οκ εὐ-τυχεῖς κρίνειν δ̣ίκαιον, ἢ πῶς ἐκλελοιπέναι τὸν βίον, ἀλλ̣ › οὐκ ἐξ ἀρχῆς γεγονέναι καλλίω γένεσιν τῆς πρώτης ὑπαρξάσης; Besonders in Bezug auf den Gebrauch des Verbes μεταλλάσσω als terminus technicus im Vokabular, welches seit der hellenistischen Zeit für die hervorragenden, heroisierten oder vergöttlichten Toten angewandt wird: Buraselis 1984, 150–151. Eine Annäherung der Gefallenen an emblematische athenische Heroen trifft man auch an einem anderen Passus dieses Epitaphios (39): οἶμαι δὲ καὶ τὴν πρὸς ἀλλήλους φιλίαν τῶι δήμωι βεβαιότατα ἐνδειξαμένους, λέγω δὲ ῾Αρμόδιον καὶ ᾿Αριστογείτονα, † οὐθένας οὕτως ⟦αὑτοῖς⟧ οἰκεί ⟦οτερ⟧ ους ὑμῖν εἶναι νομίζειν ὡς Λεωσθέη καὶ τοὺς ἐκείνωι συναγωνισαμένους, οὐδ’ ἔστιν οἷς ἂν μᾶλλον ἢ τούτοις πλησιάσειαν ἐν ῞Αιδου. εἰκότω̣ ς· οὐκ ἐλάττω γὰρ ἐκείνων ἔργα διεπράξαντο, ἀλλ’ εἰ δέον εἰπεῖν καὶ μείζω …

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III. Rom In Rom erscheinen die Grabreden vorerst und grundsätzlich als eine private Sitte, die aber – wie man feststellen kann – öffentliche Ansprüche erhebt. Die römische laudatio funebris, die lobende Grabrede römischer Art, beginnt und bleibt im Prinzip immer eine Familienaffäre, genauer: eine Veranstaltung der großen römischen gentes. Man verdankt Polybios, dem scharfäugigen achäischen Verbannten in Rom, das suggestive Bild eines solchen römischen Bestattungsrituals mit einer Grabrede im 2. Jhdt. v. Chr. Er erzählt:21 Wenn ein vornehmer Mensch in Rom stirbt, findet ein Leichenzug statt, wobei man den Toten in aufrechter Position, selten liegend, mit all seinen Statuszeichen zu den sog. rostra (der Tribüne auf dem Forum) bringt. Dann besteigt, umgeben vom ganzen Volk, ein mündiger Sohn des Verstorbenen die Tribüne, falls er vorhanden und in der Stadt ist, sonst ein anderes, verfügbares Mitglied derselben Gens, welches über die Taten und die Erfolge des Toten spricht. Die anwesende Menge erinnert sich so und erlebt wieder jene Geschehnisse durch. Diesen seelischen Zustand teilen nicht nur diejenigen, die an jenen Taten beteiligt waren, sondern auch das sonstige Volk, so dass allgemein das Gefühl eines gemeinsamen, kaum aber engeren Familienunglückes entsteht.

Der achäische Historiker erwähnt weiter, dass sich die Grabrede nicht in der Darstellung der verstorbenen (vor Augen stehenden bzw. liegenden) Persönlichkeit erschöpfte. Der Redner pflegte, auch die Großtaten der weiteren illustren Angehörigen derselben Gens mit einzubeziehen, deren Anwesenheit bei dieser Veranstaltung die Form einer eindrucksvoll dirigierten Aufführung annahm. Denn verschiedene überlebende Mitglieder der Gens trugen dabei Gesichtsmasken wichtiger Vorfahren (imagines maiorum), die in einem besonderen Fach ihrer Häuser aufbewahrt wurden, wie auch Kleider und Insignien jener Ahnen. So aussehend nahmen sie an dem Leichenzug teil und saßen der Grabrede im Forum bei.22 Die Römer, nunmehr aller Familien, hörten nicht nur über kritische Gestalten der älteren römischen Geschichte, sondern sahen diese auch vor sich, als ob sie einen Vortrag mit lebensvollen Lichtbildern besuchten. Sie wurden so einer regelrechten historischen Katechese auf genealogischer Basis unterzogen, deren Ergebnis – natürlich – die feierliche Rechtfertigung und Werbung 21

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Plb. 6.53.1–3: ῞Οταν γὰρ μεταλλάξῃ τις παρ’ αὐτοῖς τῶν ἐπιφανῶν ἀνδρῶν, συντελουμένης τῆς ἐκφορᾶς κομίζεται μετὰ τοῦ λοιποῦ κόσμου πρὸς τοὺς καλουμένους ἐμβόλους εἰς τὴν ἀγορὰν ποτὲ μὲν ἑστὼς ἐναργής, σπανίως δὲ κατακεκλιμένος. πέριξ δὲ παντὸς τοῦ δήμου στάντος, ἀναβὰς ἐπὶ τοὺς ἐμβόλους, ἂν μὲν υἱὸς ἐν ἡλικίᾳ καταλείπηται καὶ τύχῃ παρών, οὗτος, εἰ δὲ μή, τῶν ἄλλων εἴ τις ἀπὸ γένους ὑπάρχει, λέγει περὶ τοῦ τετελευτηκότος τὰς ἀρετὰς καὶ τὰς ἐπιτετευγμένας ἐν τῷ ζῆν πράξεις. δι’ ὧν συμβαίνει τοὺς πολλοὺς ἀναμιμνησκομένους καὶ λαμβάνοντας ὑπὸ τὴν ὄψιν τὰ γεγονότα, μὴ μόνον τοὺς κεκοινωνηκότας τῶν ἔργων, ἀλλὰ καὶ τοὺς ἐκτός, ἐπὶ τοσοῦτον γίνεσθαι συμπαθεῖς ὥστε μὴ τῶν κηδευόντων ἴδιον, ἀλλὰ κοινὸν τοῦ δήμου φαίνεσθαι τὸ σύμπτωμα. Plb. 6.53.6–54.3.

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des ganzen staatlich-sozialen Systems Roms und die entsprechende Belehrung seiner (besonders jüngeren) Bürger war.23 Die römische Aristokratie schaffte es so systematisch, dem Volksbewusstsein den Inhalt ihres eigenen – oft selektiven oder sogar entstellenden – Gedächtnisses als römische Vergangenheit schlechthin aufzudrücken.24 Das Gedächtnis der Vielen wurde so geschickt nach den meisterlichen Matrizen der Wenigen geformt. Es sind nur Fragmente solcher laudationes erhalten, die aber dem Bericht des Polybios voll entsprechen. So scheint sich die laudatio, die Q. Caecilius Metellus zu Ehren seines Vaters L. Caecilius Metellus im J. 221 v. Chr. gehalten hat, auf dessen einmalige Kombination von Amtswürden und persönlichen Tugenden konzentriert zu haben,25 wobei auch der Geist des unter den großen römischen Gentes herrschenden ‚patriotischen Wetteifers‘ zu Tage trat. In der Grabrede für Scipio Aemilianus, den Eroberer Karthagos, hat sein verwandter Redner mit der Bemerkung geschlossen, dass der Verstorbene gerade zum Zeitpunkt verschieden war, als sein Vaterland ihn am meisten brauchte (129 v. Chr.).26 Das römische Volk musste empfinden, dass es einen Menschen verloren hatte, dessen Existenz persönlich die Sicherheit Roms gewährleistete, also die Trauer wirklich allen Römern galt, wie eben Polybios im obigen Passus bemerkt hatte.27 Die ganze spätere Entwicklung der römischen Grabrede zeigt keine Änderung in Bezug auf ihren primär aristokratischen Charakter. Dass diese Reden auch Frauen galten, wie im Fall der bekannten, inschriftlich überlieferten Laudatio Turiae, zeugt bloß von der schon traditionellen aber auch seit der späten Republik aufsteigenden Bedeutung der weiblichen Mitglieder der großen Gentes. Octavianus-Augustus hat z. B. als zwölfjähriger Junge die Grabrede auf seine Grossmutter Julia, die Schwester Caesars, 23 24 25

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Besonders über die so erreichte Belehrung der Jugendlichen bemerkt Polybios weiter (6.54.3): … τὸ δὲ μέγιστον, οἱ νέοι παρορμῶνται πρὸς τὸ πᾶν ὑπομένειν ὐπὲρ τῶν κοινῶν πραγμάτων χάριν τοῦ τυγχάνειν τῆς συνακολουθούσης τοῖς ἀγαθοῖς τῶν ἀνδρῶν εὐκλείας. Als Grundzeugnis dafür darf gelten: Cic. Brut. 61–62. Vgl. die eingehende Rahmenanalyse von Hölkeskamp 1996 (zur pompa funebris bes. 320–323). Plin. NH 7,139–40 (zu der laudatio für L. Caecilius Metellus, 221 v. Chr.): Q. Metellus in ea oratione quam habuit supremis laudibus patris sui L. Metelli pontificis, bis consulis, dictatoris, magistri equitum, XVviri agris dandis, qui primus elephantos ex primo Punico bello duxit in triumpho, scriptum reliquit decem maximas res optumasque, in quibus quaerendis sapientes aetatem exigerent, consummasse eum: voluisse enim primarium bellatorem esse, optimum oratorem, fortissimum imperatorem, auspicio suo maximas res geri, maximo honore uti, summa sapientia esse, summum senatorem haberi, pecuniam magnam bono modo invenire, multos liberos relinquere et clarissimum in civitate esse; haec contigisse ei nec ulli alii post Romam conditam. Vgl. Kierdorf 1980, 10–21. Schol. Bob. pro Mil. 16 (Fragment aus der laudatio für P. Cornelius Scipio Aemilianus, 129 v. Chr.): … neque tanta diis immortalibus gratia haberi potest, quanta habenda est, quod is cum illo animo atque ingenio hac civitate potissimum natus est, neque moleste atque aegre ferri, quam ferundum est, numero mortem obιit et in eo dem tempore periit, cum et vobis et omnibus, qui hanc rem publicam salvam volunt, maxime vivo opus est, Quirites. Die Rede war von C. Laelius verfasst, man weiß aber nicht sicher, welcher Verwandte sie gehalten hat; vgl. Kierdorf 1980, 21–22. Dazu Kierdorf 1980, 33.

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gehalten.28 Neu war auch, dass ein Volksbeschluss jemanden mit einer solchen Rede betrauen konnte, wie im berühmten Beispiel der sehr theatralischen laudatio des M. Antonius für Caesar. Trotzdem wurde aber auch hier die Verwandtschaft als Auswahlkriterium für den Redner ernsthaft berücksichtigt,29 wie auch später bei den Grabreden auf die Kaiser. Bei aller Konzentration auf die Persönlichkeit des Toten, ist die römische laudatio funebris immer eine Sache der jeweiligen Gens geblieben, die sich aber schließlich auf das ganze römische Gemeinwesen bezog. IV. Schlussfolgerungen Wie eine menschliche Gemeinde ihr kollektives Gedächtnis, also im Endeffekt ihr Selbstbewusstsein, behandelt und formiert, spiegelt sich klar in der Art ihrer durch Gedanken und Worte ausgedrückten Verabschiedung von ihren verstorbenen Mitgliedern. Athen und Rom haben durch ihre jeweiligen Optionen bei der Antwort auf dieses Bedürfnis, also mit ihren Grabreden, zwei redende Beispiele und wesentlich divergierende Selbstbilder abgegeben. Athen, zumindest in klassischer Zeit, projizierte das Bild einer demokratischen Gleichheit, worin die Bürger als dienende Mitglieder der Gemeinde in zweckmäßiger Anonymität koexistierten. In Rom dagegen stachen die großen Gentes hervor und erhoben eindeutig Anspruch auf jegliche Formierung und Repräsentation des Staates und des Gedächtnisses der römischen Gesellschaft. Gemeinsam beiden war nur die Erkenntnis der Bedeutung der Grabrede als ideologischen Instruments und ihre Konformität mit den Regeln der jeweiligen Staats- und Gesellschaftslogik. Schließlich entpuppt sich der Abschiedsdialog mit den Toten lediglich als ein Rechtfertigungsmonolog der Überlebenden. Bibliographie in Auswahl Carter, J. M., Suetonius, Divus Augustus (ed. with Introduction and Commentary by J. M. C.), Bristol 1982. Flach, D., „Antike Grabreden als Geschichtsquelle“, in: R. Lenz (Ed.), Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Köln 1975, 1–35. Hölkeskamp, K.-J., „Exempla und mos maiorum. Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis der Nobilität,“ in: H.-J. Gehrke, A. Moeller (Eds.), Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditionsbildung und historisches Bewusstsein, Tübingen 1996, 301–338.

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Suet. Aug. 8.1. Vgl. Carter 1982, ad loc. Zum Fall des M. Antonius: App. BC 2.20.143: … ᾑρημένος (sc. Ἀντώνιος) εἰπεῖν τὸν ἐπιτάφιον οἷα ὕπατος ὑπάτου καὶ φίλος φίλου καὶ συγγενὴς συγγενοῦς (ἦν γὰρ δὴ Καίσαρι κατὰ μητέρα συγγενής) ἐτέχναζεν αὖθις καὶ ἔλεγεν ὧδε …

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Jacoby, F., „Patrios Nomos: State Burial in Athens and the Public Cemetery in the Kerameikos,“ JHS 64 (1944), 37–66. Kierdorf, W., Laudatio funebris. Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der römischen Leichenrede, Meisenheim a. G. 1980. Loraux, N., The Invention of Athens, Cambridge (Mass.) 1986 (original French edition: L’invention d’Athènes. Histoire de l’oraison funebre dans la „cité classique“, Paris 1981). Buraselis, K., „Γλαύκων Ετεοκλέους Αθηναίος μετηλλαχώς,“ Arch. Ephemeris 1982, 1984, 136–159. Osmers, M., „Wir aber sind damals und jetzt immer die gleichen“. Vergangenheitsbezüge in der polisübergreifenden Kommunikation der klassischen Zeit, Stuttgart 2013. Prinz, K., Epitaphios Logos. Struktur, Funktion und Bedeutung der Bestattungsreden im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1997. Prof. Dr. em. Kostas Buraselis Lehrstuhlinhaber für Geschichte des Altertums an der Universität Athen. Seine zentralen Forschungsgebiete sind die Griechische und Römische Geschichte. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zu einschlägigen Themenfeldern verfasst und herausgegeben.

Die Entstehung von Institutionen der Konfliktregulierung im archaischen Griechenland aus Kooperation der Eliten* Gunnar Seelentag

Die Forschung hat bislang nur wenig konkrete Vorstellungen entwickelt, unter welchen Umständen im archaischen Griechenland, zwischen 700 und 500 v. Chr., politische Institutionen entstanden, also Ämter, Gremien und Verfahren. Viele Erklärungsversuche sind geprägt von evolutionären oder gar teleologischen Modellen, welche besagen, dass Gemeinschaften sich unter den Dynamiken von demographischem, ökonomischem wie sozialem Wandel mit gewisser Zwangsläufigkeit zu einem höheren Maß innerer Stratifizierung, Differenzierung und Hierarchisierung entwickelten. Hierbei wird Institutionalisierung häufig als ein rationaler Vorgang beschrieben: Die Schaffung von abstrakten Ämtern und politischen Entscheidungsorganen habe eine erhebliche Effizienzsteigerung bei der Findung und Durchführung allgemein verbindlicher Entscheidungen bewirkt – ja: bewirken sollen. Verregelung wird hier also als ein so zwingender wie rationaler Vorgang beschrieben. Demgegenüber bin ich bemüht, die potenzielle Ergebnisoffenheit und Pfadabhängigkeit wie die historische Vielfalt jener vermeintlich zwingenden Entwicklungen zu betonen.1 Denn von den Versammlungsplätzen der homerischen Epen führten die Wege eben nicht allein zur athenischen Demokratie, sondern auch zu so unterschiedlichen Gesellschaften wie Sparta und Syrakus, den zahlreichen Polis-Gemeinschaften Kretas und den Ebenen Thessaliens.2

* 1

2

Herzlich gedankt sei Herrn Konstantin Krieter (Rostock, jetzt Hannover) für zahlreiche Hinweise. Das analytische Konzept der Pfadabhängigkeit betont, dass die Ausgestaltung von Institutionen keineswegs unbedingt dem – weder aus unserer Warte noch aus jener der Zeitgenossen gesehen – optimalen Weg folgt, sondern einem Entwicklungspfad, der nicht ohne Weiteres verlassen werden kann. Denn selbst wenn konkrete Defizite der Institution sichtbar werden, können einst getätigte Investitionen, das gesellschaftliche Umfeld ebenso wie informelle Regeln und Routinen eine Richtungsänderung durchaus erschweren und ganz verhindern. Diese Vielfalt betont etwa Walter 1993.

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Sofern wir uns nicht damit zufriedengeben wollen, Geschichte als Resultat supraindividueller Kräfte mit eigenem Willen zu sehen – etwa ‚der Polis‘ –, müssen wir nach menschlichen Triebkräften fragen. Deshalb versuche ich den Blick auf die möglichen Akteure von Institutionalisierung zu lenken und ihre Handlungsmotive zu identifizieren. Denn – und ich gebe zu, das Folgende allzu schlicht auszudrücken – wurde der Wandel ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ durchgesetzt?3 Schreiben wir eher den Eliten die Initiative zu, müssen wir erklären, warum jene die Verregelung und Beschränkung ihres Wettbewerbs nicht nur akzeptierten, sondern aktiv vorantrieben. Und wir müssen beantworten, wie unter ihnen Kooperation entstehen konnte; immerhin galten die archaischen Aristoi der Forschung lange Zeit als hochgradig agonal, und dies auf allen möglichen gesellschaftlichen Feldern. Doch sehen wir den Demos – also eine breitere Menge des Volkes – als die maßgebliche gesellschaftliche Kraft hinter Gesetzgebung und Institutionalisierung, so müssen wir erklären, unter welchen Umständen und zu welchem Ziel diese in den archaischen Quellen kaum differenzierte Menge aktiv werden konnte, also ‚politischer Akteur‘ war. Das Ende unserer Vorstellung einer Hoplitenpoliteia aus selbstbewussten Akteuren einer ‚Mittelschicht‘ mit eigenem Standesbewusstsein gegenüber ‚den Eliten‘ stellt uns jedenfalls vor die Frage, wie jene unterelitären Schichten hätten selbstorganisiert handeln können.4 Überhaupt sind wir mit dieser Herangehensweise nach wie vor nur bei Akteurskollektiven und gesellschaftlichen Großgruppen, und wir stehen noch immer vor der Frage, warum ja ein Individuum seine Ressourcen bewusst in der Polis oder sogar in die Polis investierte – seien es materielle Güter oder Zeit, Kampfkraft oder die Aktivierung sozialer Beziehungen. Mein Bemühen ist es nun also, die Entstehung und Entwicklung von Institutionen aus der Perspektive von Akteuren oder zumindest Modell-Akteuren, deren Interessen und Handlungsspielräumen sowie den Dynamiken ihrer Gruppenbildung zu verstehen. Hierzu wähle ich in diesem Beitrag den Zugang über die jeweiligen Umstände der Konfliktregulierung, jene Regel-Kulturen, welche zum einen in den Epen Homers

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Einen Überblick über die dominierenden Erklärungsmodelle, welche gesellschaftlichen Dynamiken Institutionalisierung – vor allem inschriftliche Gesetzgebung – hervorgebracht haben mögen, s. Hawke 2011, 3–18. Zum Ende des Modells der Hoplitenpoliteia als Teilnarrativs unserer Meistererzählung und zu Alternativen s. etwa van Wees 2013 und Fisher 2015. – Schmitz 2004 sieht in zahlreichen Gesetzen – und sein besonderer Blick gilt den Solon zugeschriebenen Regeln – die Lebenswelt der Gruppe der Voll- bzw. Gespannbauern reflektiert. Deren von ihm mit komparativem Blick rekonstruierte Wirtschaftsweise und Wertewelt sowie die hierin wirkenden Maßnahmen sozialer Sanktionierung gegen Devianz sind geeignet, ein gemeinschaftliches, nicht von irgendeiner Obrigkeit angestoßenes oder zentral organisiertes Handeln zu erklären. Allerdings überbetont sein Modell die Andersartigkeit von „Vollbauern“ einerseits und „Adel“ andererseits. Eher sollten wir wohl davon ausgehen, dass die vollbäuerlichen Oikoi eine breitere Elite ihrer Gemeinwesen konstituierten, deren Oberhäupter sich sämtlich als prinzipiell regimentsfähig empfanden – eine Schicht, in der durch sozialen Auf- und Abstieg jederzeit eine Teilhabe an der Macht in der Polis oder deren Verlust möglich waren.

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und Hesiods, zum anderen in jenen Gesetzesinschriften reflektiert sind, die seit der zweiten Hälfte des 7. Jh. und dann im 6. Jh. stark zunehmend aus zahlreichen griechischen Poleis überliefert sind. Diese Zusammenschau von Epen und Gesetzen lässt erste Schlussfolgerungen bezüglich der historischen Entwicklung und der Akteure von Institutionalisierung zu; sie lässt auch erkennen, vor welchen Herausforderungen diese Entwicklungen standen. Konzentrieren möchte ich mich hierbei auf drei Punkte: die Akteure, die Modalitäten sowie die gesellschaftliche Funktion von Konfliktregulierung. Zweierlei sei kurz vorangestellt zu den Zeugnissen, die ich im Folgenden besprechen möchte: Zum einen scheint es mir plausibel, dass den Epen in den ersten Jahrzehnten des 7. Jhs. im Wesentlichen jene Form gegeben wurde, in welcher sie uns heute überliefert sind. Zum anderen bin ich überzeugt, dass eines ihrer ausdrücklichen Anliegen die Diskussion der gesellschaftlichen Herausforderungen in der Zeit ihrer Fixierung war. Damit bilden die in den Epen reflektierten Verhältnisse gewissermaßen den Nährboden für jene Szenarien, denen wir in den Gesetzen begegnen.5 Die Schlichtungsszene auf dem Schild des Achilles Beginnen wir mit einer viel behandelten Passage aus dem 18. Gesang der Ilias, in welcher das Epos den Schild des Achilles beschreibt, den der Schmiedegott Hephaistos höchstpersönlich fertigte. Auf ihm ist der gesamte Kosmos in vignettenhaften Szenen dargestellt. Die Welt der menschlichen Gemeinschaften ist repräsentiert unter anderem durch zwei Poleis. Die eine ist im Krieg, hier toben wilde Kämpfe, die das Szenario der Belagerung Trojas durch die Achaier reflektieren; die andere ist im Frieden. Diesen Frieden sollen zwei Szenen ausdrücken: Hochzeitsfeste mit tanzenden Chören – und der Streit um einen Erschlagenen: Das Volk (laoí) drängte sich auf dem Versammlungsplatz (agoré). Dort hatte ein Streit sich erhoben. Zwei Männer stritten um die Sühnung (poine) für einen getöteten Mann. Der eine erhob vor dem Volk (demos) Anspruch darauf, alles zu kompensieren, der andere aber weigerte sich, irgendetwas anzunehmen. Beide drängte es, bei einem ‚Kundigen‘ (hístor) eine Entscheidung zu erlangen. Beiden lärmte die Menge Beifall, geteilt sie begünstigend. Herolde hielten indessen das Volk in Ordnung. Die Ältesten (gérontes) saßen umher im heiligen Kreis auf geglätteten Steinen, hatten in Händen die Szepter der luftdurchrufenden Herolde, sprangen mit ihnen dann auf und gaben abwechselnd ihren [Schlichter]spruch (dikázon).

5

Die hier vorgetragene Sichtweise einer historischen Verortung der epischen Gesellschaften folgt wesentlich den Arbeiten von Christoph Ulf, Hans van Wees und Dean Hammer, etwa Ulf 1990, Ulf 2009 und Ulf 2011; van Wees 1992, van Wees 1999; Hammer 2002, Hammer 2009. Darüber hinaus s. etwa Walter 1993, 29–88; Hawke 2011 und Rose 2012.

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Zwei Talente von Gold aber lagen inmitten des Kreises, dem unter ihnen bestimmt, der das Recht am geradesten (díkên ithynthata) spräche. (Hom. Il. 18.490–508, übers. nach H. Rupé)

Nur auf den ersten Blick erscheint die Wahl einer Szene rund um einen Getöteten als eigentümliche Wahl der Vignette einer Polis im Frieden. Denn das Epos stellt dar, dass es in menschlichen Gemeinschaften immer Gewalttaten geben werde und auch Streit um den Umgang mit diesen Gewalttaten; wesentlich ist aber, dass funktionierende Wege einer Regulierung solcher Konflikte existieren, die von den Menschen akzeptiert werden. Und genau dies geschieht in dieser Szene. Wie wir sehen, geht es nicht um die Frage nach einem Schuldigen. Das ist geklärt. Vielmehr bietet der Täter eine Sühnezahlung für den Toten an. Dessen Hinterbliebene wollen eine solche Kompensationsleistung aber nicht annehmen, sondern wohl den Weg der Blutrache gehen, welcher sich der Täter dann nur durch seine Flucht hätte entziehen können.6 Allerdings sind wir in unserer Szene schon einen Schritt weiter. Denn beide Parteien waren übereingekommen, ihren Streit von einem Dritten lösen zu lassen. Hierbei scheint mir das vom Dichter betonte intensive Engagement der Menge weniger auf einen sozialen und letztlich konstruktiven Druck hinzudeuten, welcher auf den Parteien lastete, ihren Konflikt derart lösen zu lassen. Vielmehr stellt das Epos hiermit das einem solchen Streit innewohnende, die gesamte Gemeinschaft polarisierende und gefährdende Potenzial in den Vordergrund. Und so mögen es eher die unmittelbar in den Streit involvierten Parteien gewesen sein – schließlich ist deren Wille, dies zu tun, ausdrücklich erwähnt –, welche die in dieser Szene skizzierte Regulierung ihres Konfliktes anstrebten. Und sie dürften es wohl auch gewesen sein, welche jeweils eines der Talente von Gold beisteuerten, welche am Ende erwähnt sind. In Ansätzen ist dieses Szenario von Konfliktregulierung institutionalisiert: Schauplatz ist die Agora, der zentrale Versammlungsplatz der Siedlung. Es gibt Funktionsträger, die Herolde, welche zudem eine Redeordnung gewährleisten. Und die maßgeblichen Akteure der Konfliktregulierung, die hier genannten Ältesten, haben eigens reservierte Ehrensitze. Diese Geronten entsprechen in ihrer sozialen Funktion in der Gemeinschaft jenen Basileis, die in anderen epischen Passagen die Rolle von Konfliktregulierern einnehmen.7 Nun bieten die Epen zahlreiche Szenarien, in denen nicht deutlich wird, ob die Konfliktregulierung in einer Gemeinschaft allein von einem Basileus wahrgenommen wird 6

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Hiermit folge ich der für mich einzig plausiblen Deutung des eigentlichen Konfliktes in dieser Szene. Die Argumente für eine in der Forschung ebenfalls vorgebrachte Deutung in dem Sinne, dass „der eine den Anspruch erhob, alles entrichtet zu haben, der andere bestritt, irgendetwas erhalten zu haben“, bringt Pelloso 2013 vor. – s. Wilson 2002 zu poine, apoina. Ulf 1990, 78–81 mit differenzierterer Ansicht. – Die, für die Interpretation freilich weichenstellende, Bedeutung von dikazein kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Verwiesen sei lediglich auf eine langjährige Diskussion, die konzis erfasst werden mag etwa in Gagarin 2005, 86–90 und Thür 2006, 36–44.

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oder von einer Gruppe von Basileis gemeinsam. Auf der einen Seite reden die Dichter von den Konfliktregulierern häufig im Plural; es könnte sich hierbei aber auch um die allgemeine, generische Ansprache aller Basileis handeln, die aus ganz unterschiedlichen Gemeinschaften stammen. Auf der anderen Seite begegnen uns Passagen, in denen vom Verhalten eines Konfliktregulierers die Rede ist; möglich wäre aber auch, dass hier lediglich eines der Mitglieder einer Gruppe von Basileis skizziert ist.8 Nur wenige Szenen der Epen geben uns Einblick in konkrete Umstände und Ablauf der Szenarien von Konfliktregulierung. Deren wichtigste ist sicherlich die Schildszene mit ihrer Mehrzahl von untereinander offenbar gleichberechtigten Geronten. Eine weitere ist reflektiert in einer Aufforderung des Menelaos an die Gruppe seiner Mit-Basileis, diese mögen gemeinsam seinen Streit mit Antilochos schlichten. Und schließlich ist es eine Passage der Werke und Tage, in welcher von den Basileis im Plural die Rede ist, welche den Streit zwischen Hesiod und Perses schlichten wollen. Diese Szenen scheinen mir Zeugnisse dafür, dass wir in den von den Epen reflektierten Gemeinschaften der Früharchaik eher von einer Mehrzahl der Basileis in den Verfahren der Konfliktregulierung ausgehen sollten.9 Auf der anderen Seite beobachten wir eine Reihe von flexiblen Elementen. Vor allem dürfte das Ganze hier skizzierte Verfahren überhaupt, dürften die Geronten in dieser Rolle als Konfliktregulierer insgesamt disponibel gewesen sein. Immerhin betont das Epos, dass beide Konfliktparteien sich entschlossen hatten, ihren Streit vor die Geronten zu tragen. Damit ist impliziert, dass der Streit auch auf andere Weise hätte ausgetragen werden können.10 Ob die Zahl dieser Ältesten von vorneherein klar begrenzt war, ist eine wichtige Frage. Institutionen, welche den Anspruch erheben, unabhängig von den tatsächlichen aktuellen Kräfteverhältnissen in der Gemeinschaft eine unveränderliche Mitgliederzahl zu haben, begegnen wir wohl erst in etwas späterer Zeit; etwa im dritten Beispiel dieses Beitrags, einem Gesetz aus dem kretischen Dreros mit seinem Ratsorgan der „Zwanzig der Polis“. Es scheint mir aber auch nicht

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Mehrzahl: etwa Hes. Erg. 38–9, 258–64 und Hom. Il. 16.385–8. – Einzelner: etwa Hes. Th. 84–90 und Hom. Od. 12.439–40. Das Material legt die Vermutung nahe, dass die Epen, wenn sie den einzelnen Basileus als Schlichter oder Schiedsrichter nennen, diesem eher Lob gegenüber aussprechen, wenn sie die Mehrzahl in den Blick nehmen, dies eher kritisierend geschieht. Im histor der Schildszene (Hom. Il. 18.501) sehe ich jenes Mitglied der Geronten, dessen Schlichterspruch sich durchsetzen würde. – Menelaos und Antilochos: Hom. Il. 23.570–85; Hesiod und Perses: Hes. Erg. 34–40. – Ein deutliches Gegenbeispiel scheint Minos in Hom. Od. 11.568–71 zu sein, der offenbar als Einzelner in der Unterwelt die themistes auslegt. – Pepe 2015, 20 nimmt an, der Typus des „iudex unus“ repräsentiere einen älteren historischen Zustand als die Pluralität der szepterschwingenden Geronten und szeptertragenden Basileis. Diese Interpretation wird auch von anderen epischen Passagen nahegelegt, die im zweiten Beispiel dieses Beitrags diskutiert werden. – Westbrook 1992 sieht in den Geronten nicht eine Gruppe von Schlichtern oder Schiedsrichtern, sondern ein nicht-disponibles Gericht, die mit der Festlegung einer Höchstgrenze der Kompensationszahlung befasst gewesen wären; dies allerdings in für mich nicht plausibler Anlehnung an vermeintliche altorientalische und mykenische Parallelen.

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der Fall zu sein, dass alle derjenigen, die sich selbst als geeignet und angesehen genug einschätzten, in dieser Gruppe von Geronten auftraten. Wenn wir also fragen, wie diese Ältesten sich zusammensetzten, müssen einige Worte zur Stabilität von Prominenzrollen in der Gesellschaft der homerischen Epen gesagt werden. Denn dort werden sämtliche Ordnungsfunktionen durch Anführer wahrgenommen – Basileis genannt oder eben Älteste –, die auf die Akzeptanz ihrer eigenen Statusgenossen wie auch des Demos angewiesen sind. Ihr Einfluss beruht im Wesentlichen auf persönlicher Macht, auf den mit ihrer Person verbundenen Qualitäten und den daraus resultierenden Taten. Er beruht weniger auf institutioneller Macht: Man folgt ihnen also nicht, weil sie Anführer sind. Sie sind überhaupt nur deswegen Anführer, weil man ihnen folgt; weil sie sich nämlich auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern als ‚nützlich‘ für das Wohl der Gemeinschaft erweisen. Und neben der Organisation gemeinschaftlicher Aktionen, wie etwa der Kriegführung oder der Kultausübung, sowie dem guten Ratschlag in Boule und Agora ist dies eben ganz maßgeblich die Konfliktregulierung.11 Mit Basileis wie Agamemnon und Achilles, Odysseus und Menelaos stellen Ilias und Odyssee Anführer vor, deren jeder in seiner eigenen Heimat in relativ sicherer Position an der Spitze der – allerdings recht flachen – sozialen Hierarchie steht. So gibt es etwa auf Ithaka eine Reihe von führenden Männern, jungen wie alten, die das Epos ‚Basileis‘ nennt; und doch sind diese untereinander keineswegs undifferenziert. Vielmehr gibt es unter ihnen einen, den basileutatos, dessen herausgehobene Position eben nicht ständig auf der Probe zu stehen scheint. Denn Odysseus gilt auch nach langen Jahren seiner Abwesenheit aus dem Gemeinwesen immer noch als der Oberbasileus von Ithaka. Und es ist sein Sohn Telemachos, der eine gute und wohl die beste, wenn auch nicht sichere Chance hat, diese Position zu übernehmen.12 Die Ilias aber führt diese lokal oder regional einflussreichen Anführer in der ‚Polis bei den Schiffen‘ am Strand von Troja zusammen. Dieses epische Szenario reflektiert historische Prozesse, die sich im Zuge der frühen Polisbildung ergaben. Als nämlich benachbarte Siedlungseinheiten zu größeren Gemeinschaften mit komplexeren Strukturen zusammenkamen oder zusammenwuchsen, waren deren lokal jeweils einflussreichste Männer gezwungen zu einer Übereinkunft miteinander zu gelangen und die Hierarchien untereinander neu zu ordnen. Tatsächlich sieht sich in dieser ‚Polis bei den Schiffen‘ ein Großteil der Basileis, von denen ein jeder doch gewohnt ist, Vorrang zu beanspruchen, durch mächtigere Anführer in die zweite oder gar dritte Reihe gedrängt. So tritt denn auch der Große Rat, an welchem alle Basileis in der Ilias gleichermaßen teilhaben, über-

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Hes. Th. 81–92 und Hom. Od. 8.170–4. – Am ehesten lassen sich die Merkmale dieser Basileis und ihre Stellung in der Gemeinschaft mit dem Modell der big-men analysieren; hierzu s. Ulf 1990, Ulf 2015 und Ulf 2020 sowie Ulf – Kistler 2020, außerdem die Studien von Carballo 2014 und Hayden 2001. Hom. Od. 1.390–404.

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haupt nur einmal zusammen. Viel häufiger sehen wir eine gemeinsame Agora aller Laoi und auch aller Anführer sowie das Zusammentreten des Kleinen Rates der maßgeblichen Entscheider rund um Agamemnon, dem eben nur wenige der mächtigsten Anführer angehören.13 Hier sehen wir also erste Anzeichen für eine Kollaboration der Mächtigsten, ihre Abschottung gegenüber den – verglichen mit ihnen – weniger einflussreichen Basileis.14 Vor diesem Hintergrund – diesem Bemühen, eine Führungsgruppe innerhalb der potenziell offenen Gruppe sämtlicher Anführer zu bilden – finde ich es plausibler, in den Geronten der Schildszene keine völlig offene Gruppe zu sehen, etwa „die Oberhäupter der ranghohen Familien“.15 Da das Epos in der Schildszene eine ideale Polis skizziert, zumindest was deren Möglichkeiten angeht, auch die gesamte Gemeinschaft bedrohende Konflikte mithilfe von Institutionen zu regulieren, vermute ich, dass wir die Geronten eher als eine Gruppe von in etwa Gleichmächtigen verstehen sollten, die es bereits vermocht hatten, weniger einflussreiche Männer aus ihrem Kreis zu verdrängen; dies eben in Analogie zu dem eben skizzierten Szenario der Anführer in der ‚Polis bei den Schiffen‘ und zu der am ehesten als ‚modern‘ gezeichneten Gemeinschaft der Epen, der Phaiaken-Polis Scheria. Dort nämlich scheint der institutionelle Schritt hin zu einem klar bezifferten, einigermaßen stabilen Ratsgremium schon gelungen, denn „ausgezeichnet als Basileis walten zu zwölft hier im Demos führende Männer, und ich bin der dreizehnte“ betont hier der phaiakische Oberbasileus Alkinoos (Hom. Od. 8.390–1, übers. nach A. Heubeck). Doch wie auch immer es um den Grad der Institutionalisierung der Akteure stehen mag und deren Kollaboration, um andere auszuschließen, sind die Modalitäten der Konfliktregulierung doch von flexiblen Elementen geprägt. Häufig wird die Szene auf dem Schild des Achilles als ein ‚Schiedsgericht‘ bezeichnet.16 Dies ist ungenau, wenn wir uns um eine Differenzierung der Verfahren der Konfliktaustragung unter Einbeziehung Dritter bemühen. Maßgeblich für die Kategorisierung von solchen Verfahren ist das Verhältnis von Elementen der Konfrontation und Kooperation, die gesellschaftliche Funktion und die Nachhaltigkeit des jeweiligen Verfahrens. Ein Schiedsverfahren 13

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Großer Rat: Hom. Il. 9.89–90, in jener bedrohlichen Lage, da das gesamte Heer der Achaier auseinanderzubrechen droht. – Marginalisierung: s. etwa Basileis wie jenen „schwachen“ Nireus von Syme in Hom. Il. 2.671–5 und die repulsorische Haltung des Odysseus gegenüber all jenen Anführern, welche Agamemnon zu Beginn des zweiten Gesangs der Ilias nicht zum Rat der maßgeblichen Entscheider gerufen hatte, um seine Prüfung des Heeres anzukündigen; Hom. Il. 2.53 und 194. – Zu den homerischen Ratsorganen s. Schulz 2011. Zu beachten ist allerdings, dass diese Basileis jeweils eben nur ‚partiell Beste‘ sind, also nur auf bestimmten – freilich untereinander nicht klar hierarchisierten – Feldern oder in bestimmten Tätigkeiten andere überragen und situativ ihrerseits unterlegen sind, woraus soziopolitische Dynamik und Konflikt resultieren. Hierzu s. Meister 2020 und Ulf 2020. Stein-Hölkeskamp 2015, 83. s. etwa die terminologische Variation bei Stahl 2003: „Gerichtsszene“ (149), „Schlichtung“ (215), „Schiedsgericht“ (217).

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sei hier definiert als ein Handlungsmuster, mit welchem ein neutraler Dritter einen Konflikt durch eine die Konfliktparteien bindende Entscheidung löst, wobei diese Kompetenz des Schiedsrichters aus der vorherigen Selbstbindung der beiden Parteien resultiert, sich seinem Spruch zu unterwerfen, wie jener auch lauten möge. Gerade dies beobachten wir in der besprochenen Szene aber nicht; vielmehr zeigt die Schildszene ein Schlichtungsverfahren. In einem solchen ist es Aufgabe eines oder mehrerer neutraler Dritter den Konfliktparteien verschiedene Konfliktlösungsvorschläge zu unterbreiten, welche die Parteien annehmen oder ablehnen können. Und dies unterscheidet die Schlichtung wiederum von der Mediation, bei der eine Konfliktlösung durch einen von den Konfliktparteien selbst erarbeiteten Kompromiss zustande kommt, der vom Mediator lediglich moderiert wurde, ohne dass jener selbst Lösungsangebote formuliert. Von diesen drei Formen der von den Parteien freiwillig bemühten und daher prinzipiell disponiblen Instanzen der Konfliktregulierung unterscheidet sich schließlich das Gerichtsverfahren. In ihr trifft ein neutraler Dritter, der nicht von den Parteien selbst wegen seiner persönlichen Macht bestimmt wurde, sondern diese Aufgabe vermittels seiner institutionellen Macht wahrnimmt, etwa als Amtsträger, welcher auf bestimmte Zeit Recht und Pflicht derart zu agieren übertragen bekam, in einem auf Konfrontation angelegten Verfahren eine bindende Entscheidung auf der Grundlage etablierter Regeln.17 Nun wird der Konflikt auf dem Schild des Achilles weder auf der Grundlage von Gesetzen reguliert, wie es in einem Gerichtsverfahren wäre, noch waren die Streitenden von vorneherein übereingekommen, sich dem Spruch eines Schiedsrichters zu unterwerfen. Vielmehr sehen wir, dass die Runde der Geronten verschiedene Szenarien einer Regulierung vorschlägt. Der beste Vorschlag wird von den Streitparteien angenommen, und dessen Urheber erhält ein ‚Honorar‘ im eigentlichen Sinn: eine Ehrengabe für dieses Verdienst. Und für eine Deutung wichtig ist, dass das Epos die Ältesten als miteinander darum im Wettbewerb stehend zeichnet, welcher von ihnen den als den besten anerkannten Schlichterspruch geben werde und damit die timê – die ehrenvolle Reputation – dies getan zu haben, beanspruchen könne. Diese Art des Wettbewerbs entspricht dem Typ der ‚Konkurrenz‘ nach Georg Simmel: Ein Kreis von Anführern konkurriert miteinander um die Gunst einer Dritten Instanz, seien diese nun die unmittelbaren Streitparteien oder die laoi; für einen Erfolg müssen ihre Vorschläge freilich möglichst gemeinschaftsdienlich sein. Diese Art des Wettbewerbs sorgt also für Vorteile der Dritten Instanz, zeigt somit eine vergesellschaftende Wirkung dieser Konfliktregulierung. Gleichzeitig wird allen Beteiligten aber auch der Nutzen der Gruppe der derart handelnden Entscheider vor Augen geführt.18

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Zu den Typen der ‚persönlichen‘ und der ‚institutionellen‘ Macht s. Seelentag 2015, bes. 61–92. Grundlegend hierzu Simmel 1908, 282–306.

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Diese konkurrierenden Vorschläge der Geronten werden auf der Grundlage nomologischen Wissens formuliert. Zentral hierbei sind die themistes. Diese sind keine Gesetze, nicht einmal Regeln, sondern Normen, in denen sich grundlegende Prinzipien des gemeinschaftlichen Handelns manifestieren. Die deutlichsten Beispiele für solche themistes sind jene sehr unterschiedlichen, ja: konträren Arten des Umgangs mit der Tötung eines Mannes, die in den homerischen Epen reflektiert sind. Denn hier finden wir – in einem jeweils dafür passenden Kontext – zwei Normen als jeweils absolut geltend formuliert. So betont Odysseus in der Odyssee, nachdem er die zahlreichen Freier seiner Frau Penelope erschlagen hatte: „Wer auch immer im Volk nur einen einzigen Mann getötet hat – selbst, wenn jener nicht viele Männer hat, ihn künftig zu rächen: Fliehen muss er und fort von Verwandten und dem Land seiner Heimat“ (Hom. Od. 23.118–20). Tatsächlich weist die Zusammenschau der Beispiele in den Epen darauf hin, dass die Flucht des Täters die übliche Reaktion nach einer Tötung war. Die meisten dieser Passagen lassen erkennen, dass es maßgeblich das Beharren der Hinterbliebenen des Opfers auf Blutrache war, welches den Täter ins Exil trieb, wohin er von jenen auch nicht weiterverfolgt wurde.19 Die Aussage des Odysseus lässt freilich erkennen, dass es in dem von ihm hier umrissenen Szenario gerade nicht die Bedrohung eines Täters durch die Hinterbliebenen seines Opfers war, welche ihn flüchten ließe, denn jener habe ja „nicht viele Männer“. So wird es eher der Druck durch die Mitmenschen gewesen sein, welcher den Täter aus der Gemeinschaft ausgliederte und fliehen ließ. Dagegen hält Ajax im 9. Buch der Ilias fest: „Sogar von dem ‚Töter‘ des Bruders oder des eigenen Sohnes erhielt schon mancher die Sühnung: Jener entrichtet die reichliche Buße und bleibt in der Heimat; während dieser den Zorn des trotzigen Herzens besänftigt, da er die Sühnung empfing“ (Hom. Il. 9.632–6).20 Dass eine Bluttat überhaupt mit einer Kompensationsleistung abgegolten werden kann, setzt voraus, dass eine Gesellschaft nicht dem Prinzip der überbietenden Rache folgt, sondern dem Talionsprinzip.21 Dieses fordert, eine Tat nicht mit einem doppelt so schweren, sondern lediglich 19 20

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Besonders deutlich etwa in Il. 2.661–670, 13.694–697, 15.430–2, 23.85–90, 24.480–4; Od. 3.196–8, 13.257–75, 14.378–85, 15.272–8, 16.380–82, 24.426–37; s. auch ps.-Hes. Sc. 11–3, 79–85. Hierzu s. Gagarin 1981, 5–21; Parker 1983, 375–92; Nünlist 2009. Gagarin 2007, 7 weist freilich zu Recht darauf hin, dass die Zusammenschau der Beispiele in den Epen darauf hinweist, dass das Beharren auf Blutrache die übliche Reaktion auf eine Tötung war und dass ein Täter, war er einmal geflohen, von den Angehörigen seines Opfers nicht weiterverfolgt wurde. Flaig 1997 und 1998, 104–10 betont, dass erstere zwangsläufig zu einer Eskalation der Gewalt führe. Denn wenn jede Tat zu beantworten sei mit einem doppelten Gegenschlag, sei der zuletzt Geschädigte stets in viel stärkerer Weise geschädigt als sein Widersacher. Wolle er also nicht als der Schwache bzw. Verlierer dastehen, müsse er wiederum doppelt zurückschlagen. Eine solcherart konturierte Rache könne nicht allein von den beteiligten Parteien gestoppt werden; sie bedürfe der Intervention von Dritten. Ein frühes Zeugnis für das Phänomen der überbietenden Rache mag Hes. Erg. 708–10 sein: „Doch macht er [i. e. der hetairos] den Anfang, sagt entweder ein Wort, das kränkt, oder schadet mit Taten, denk dran und zahl ihm das doppelt zurück.“; vgl. Th. 1089–90, 1247–8. Auf eine solche Disposition weist auch die im Epos reflektierte Misshandlung eines ge-

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mit einem äquivalenten Gegenschlag zu beantworten. Dies lässt es denn auch möglich erscheinen, die zuvor empfangene Tat nicht mit dem gleichen Handlungsmuster – also einer Gewalttat – zu vergelten, sondern stattdessen eine Kompensationsleitung von ihrem Widersacher zu empfangen. Tatsächlich formulieren zahlreiche – auch spruchhaft verdichtete – Passagen der Epen normativ, nach empfangenem Unrecht eine Wiedergutmachung zu akzeptieren.22 Hier freilich beginnen neue Schwierigkeiten, denn wie lässt sich eine äquivalente, eine adäquate Kompensation bemessen? Stellen wir also die Frage, welche Merkmale einer Tötung die Geronten der Schildszene denn prinzipiell hätten diskutieren können, um zu verschiedenen Bewertungen der Tat zu gelangen, welche dann wiederum die Höhe der zu entrichtenden Kompensationsleistung in durchaus unterschiedlichen Kompromissvorschlägen würden beeinflussen können. Zum einen mögen dies die Merkmale einer Person und deren Motiv bei der Tat oder die Umstände dieser Tat sein. Immerhin hatte Patroklos aus seiner Heimat fliehen müssen, weil er noch als Knabe „den Sohn des Amphidamas unbedacht, gegen den Willen, sondern im Zorn um die Würfel“ getötet hatte (Hom. Il. 23.86–8). Dies mag durchaus im Sinne von potenziell mildernden Umständen argumentiert sein. Einige Jahrzehnte später jedenfalls sollte die Differenzierung von Vorsatz und Unvorsätzlichkeit im drakontischen Gesetz eine relativierende, das weitere Vorgehen lenkende Rolle spielen.23 Ein anderer Punkt, der eine Rolle bei der Aushandlung der Kompensationsleistung spielen mochte, scheint das Verhältnis des Getöteten zu demjenigen zu sein, der nun seine Ansprüche vertritt. Hierauf weisen die eben zitierten Worte des Ajax hin, der das Bruder- oder Vaterverhältnis zum Getöteten als besonders eng charakterisiert und damit impliziert, es gäbe auch andere, entferntere Grade der Nähe, deren Vertreter prinzipiell infrage kamen die Kompensation zu fordern.24 Ausdrücklich lässt der Dichter ihn das in seinen unmittelbar anschließenden Worten betonen, „Dir aber haben einen unnachgiebigen und schlimmen Mut in die Brust gesetzt die Götter eines Mädchens wegen, eines einzigen.“ (Hom. Il. 9.636–8). Und diese Aussage weist wiederum auf einen weiteren, mir wahrscheinlich scheinenden Punkt der Aushandlung bei

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schlagenen Feindes noch über dessen Tod hinaus hin. s. etwa Hom. Il. 22 331–6. – Zu den Modi der Rache im frühen Griechenland s. Gehrke 1987; Cohen 1992; Brüggenbrock 2006 und nun auch Ruch 2017. Zu nennen wären etwa Hom. Il. 9.158–9, 496–7; 15.203. Hierzu s. van Wees 1992, 131–4. Hierzu auch die Diskussion in Nagy 1997. – Drakontisches Gesetz: IG I3 104 Z. 11, 37–40. – Zudem lassen die verschiedenen Schilderungen des Mordes an Agamemnon in der Odyssee allesamt durchblicken, dass neben der Rache am eigentlichen Täter Aigisthos auch die Tötung der Klytaimnestra akzeptiert wurde, obschon ihr Anteil an der Tat nicht darin bestanden hatte, selbst die Waffe geführt zu haben. Tatsächlich ist auch eine solche geistige Einwirkung bei der Behandlung von Tötungsdelikten im drakontischen Gesetz ja explizit gemacht. Hierzu s. Gagarin 2007, 7 mit Hinweisen auf Hom. Od. 1.35–43, 3.254–312, bes. 309–10, 11.405–34 usf. Einen Eindruck von den konzentrischen Integrationskreisen der Verwandten und Verschwägerten eines Getöteten vermittelt ebenfalls das drakontische Gesetz.

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Bluttaten hin: den Wert der getöteten Person für ihre Gruppe beziehungsweise in der Gemeinschaft. Denn es dürfte einen Unterschied gemacht haben, einen Greis zu erschlagen oder einen jungen Mann in der Blüte seines Lebens. Und genauso dürfte es ein relevanter Punkt gewesen sein, wie der Stand eines Täters in der Gemeinschaft war, welchen Rückhalt er in seiner eigenen Gruppe hatte. Es waren wohl die Spielräume zwischen solchen durchaus konträren, doch eben alternativen Normen wie diesen themistes, welche die epischen Basileis in auf die konkrete Situation zugeschnittenen Lösungsvorschlägen ausloteten, indem sie unter anderen die eben skizzierten Umstände und Merkmale einer Tat in Betracht zogen. Dieses Ideal der abwägenden Konfliktregulierung ist in einer Passage der etwa zeitgenössischen Theogonie des Hesiod skizziert. Hier beschreibt der Dichter die Rolle und soziale Funktion der Anführer folgendermaßen: Und die Leute (laoi) alle schauen auf ihn [i. e. den Basileus], wie er die Satzungen abwägt (diakrínonta themístas) und auslegt mit geraden Urteilen (itheíesi díkêsin). Er spricht ohne Straucheln, und rasch vermag er auch einen großen Streit (neíkos) mit kundigem Wissen zu beenden. Denn deshalb gibt es die weisen Basileis25, damit sie den Leuten, die Schaden erlitten, auf der Agora Geschehenes zur Umkehr bringen – ganz leicht, mit freundlichen Worten überzeugend. (Hes. Th. 84–90, übs. nach W. Marg)

Die guten Basileis fällen also keinen autoritären Urteilsspruch. Hier – wie in der Schildszene der Ilias – ist das Ideal, die Dike möglichst gerade zu sprechen.26 Dabei spielt die Frage nach Recht und Unrecht eine nur untergeordnete Rolle, vielmehr geht es darum, eine Lösung zu finden, welche möglichst nahe an jenes Ideal der Dike als eine von den Göttern gegebene und geschützte Idee der Billigkeit und Nachhaltigkeit heranreicht. Und so ist jener Spruch der beste, der zu einer jeweiligen Mäßigung des Anspruchs beider Parteien, einem Kompromiss führt, auf dessen Grundlage die unmittelbaren Streitparteien wie auch die Gemeinschaft insgesamt am besten in Frieden leben könnten.27 Jene Nachhaltigkeit des friedlichen Miteinander-Lebens ist das diesen Normen zugrundeliegende gesellschaftliche Prinzip von Konfliktregulierung in der epischen Welt. Das heißt nun aber gerade nicht, dass der beste Kompromiss derjenige ist, welcher genau ‚in der Mitte‘ zwischen den beiden Streitenden liegt. Denn dies würde eine Gleichmacherei der beiden Konfliktparteien bedeuten – ungeachtet ihres jeweiligen Ansehens, ihres Rückhaltes in ihrer Gruppe sowie ihres Wertes für die 25 26

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Diese Übersetzung scheint mir die kausale Verknüpfung des Originals am besten kontextualisiert wiederzugeben; Alternativen wären etwa „Denn deshalb sind die Basileis weise, …“ und „Denn deshalb sind weise Männer Basileis, …“. Diese Metaphorik wird in zahlreichen Passagen der homerischen und hesiodeischen Epen deutlich, sie formt die maßgeblichen Bilder, mit denen Konfliktregulierung skizziert wird, z. B. in Hom. Il. 16.386–8. – vgl. das Idealbild eines guten Basileus in Hom. Od. 19.109–14, dessen wichtigste Merkmale Gottesfurcht und die Wahrung guter Gesetze sind. Cobet 1981 charakterisiert die themistes denn auch als „Versöhnungswissen“.

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Gemeinschaft. Vielmehr geht es um die am ehesten sozialadäquate Lösung, und dies mag eben auch die deutliche Bevorzugung des einen und seiner Gruppe gegenüber dem anderen und dessen Gruppe bedeuten.28 Die epische Konfliktregulierung ist also prinzipienorientiert. Das ihr zugrundeliegende Prinzip könnte man umreißen als, „Konflikte werden szenarioangemessen und sozialadäquat gelöst“ – und dies bedeutet, wie skizziert, nach Abwägung der jeweiligen persönlichen Macht der Betroffenen und ihrer Unterstützer, doch auch nach tatsächlichen Umständen der Tat. Aus diesem Prinzip resultieren unterschiedliche Normen, dass nämlich der ‚Töter‘ eines Mannes sich durch seine Flucht – oder Vertreibung – aus der Gemeinschaft der Blutrache entziehen kann; dass er aber genauso gut Kompensation für seine Tat erbringen kann. Ein Normenkonflikt entsteht dann, wenn ein solcher ‚Töter‘ sich auf Letzteres eine beriefe, die Fürsprecher des Getöteten auf Blutrache drängten, da beide Normen in der sozialen Gruppe – ganz prinzipiell – gleichermaßen akzeptiert sind. Gesetze aber im Sinne etablierter Handlungsanweisungen, welche Sanktion auf welches Vergehen zu folgen habe, gibt es hier nicht.29 Tatsächlich scheint die von den Epen reflektierte Welt nur in gewissem Maß institutionalisiert, was in der Schildszene am ehesten darin deutlich wird, dass ja sogar die Einschaltung der schlichtenden Instanz optional ist, jener Ältesten beziehungsweise Basileis. Und Ähnliches sehen wir auch in unserem zweiten Szenario. Hier allerdings erkennen wir das Bemühen der Akteure, selbst nicht disponibel zu sein. Die Basileis bei Hesiod Dieses zweite Szenario, welches für unsere Frage nach den Ursachen der Konturierung von Institutionen und den dahinterstehenden Akteuren relevant ist, lässt sich schnell skizzieren. In dem etwa zeitgleich mit den homerischen Epen entstandenen Epos Werke und Tage des Hesiod dreht sich alles um einen Erbschaftsstreit jenes Hesiod mit seinem Bruder Perses.30 Dieser Perses hatte bei der Realteilung des väterlichen Erbes offenbar vermocht, mehr zu bekommen als ihm zustand, indem er die Basileis auf seine

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Zu den hier zugrundeliegenden Prinzipien, s. etwa Kistler 2004: Einander gegenüber stehen sich die arithmetische Gleichheit, die einem jedem Mann den exakt gleichen Wert zuweist ungeachtet seiner Position in der Gemeinschaft; und die in den hier besprochenen Fällen zu beobachtende geometrische Gleichheit, welche im Kern darin besteht, einem jeden abhängig von dessen Wert genau das ihm Gebührende zukommen zu lassen – und eben nicht mehr und nicht weniger. Als Beispiel für ein solches Stadium der Institutionalisierung bietet etwa das Gesetz über Körperverletzung aus dem kretischen Eltynia, verinschriftlicht etwa um 500, IC 1.10.2.2–3 = Koerner 1993, Nr. 94 = Gagarin/Perlman Elt 2. Für unsere Fragen ist es irrelevant, worin genau der Konflikt zwischen den Brüdern lag; hierzu s. etwa Gagarin 1974.

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Seite zog, die hier als ‚Gabenfresser‘ bezeichnet werden. Und nun ist er ein zweites Mal bemüht, mit Hesiod um dessen Anteil zu streiten, welcher ihm freilich entgegenhält: [Noch einmal, Perses, wird es dir nicht gelingen, Hader und Streit um fremdes Eigentum zu führen.] Nein, lass uns auf der Stelle den Streit beilegen durch geraden Spruch (itheiesi dikes), der von Zeus als der beste kommt. War doch unser Erbe längst geteilt, und noch vieles trugst du als Raub davon, um den gabenfressenden Basileis viel zu verehren, die gern auch diesen Spruch gäben / Streitfall lösten (tênde díkên ethélonti díkassan). (Hes. Erg. 34–40, übers. nach O. Schönberger)

Hesiod schlägt also vor, auf der Stelle und untereinander diesen Streit zu lösen, durch eine „gerade Dike“, die ja von Zeus komme. Dies ist der gleiche Ausdruck, den wir auch in der Ilias und in der Theogonie beobachten. Beispiele für eine solche selbständige Konfliktlösung der unmittelbar Beteiligten ohne Dritte einzuschalten, bietet etwa die Ilias nicht nur in der Schildszene, sondern auch in jenem Gleichnis des Streites um die Grenzziehung zwischen zwei Parzellen: „wie sich zwei Männer um die Grenzziehung streiten, Messruten in den Händen, auf bisher gemeinsamem Feld und sich auf schmalem Raum um gebührenden Anteil ereifern.“ (Hom. Il. 12.421–3; übers. nach D. Ebener). Ein weiteres Beispiel finden wir im Streit zwischen Menelaos und Antilochos. Hier bittet Menelaos zuerst die Anführer die Achäer, die Regulierung dieses Konfliktes zu übernehmen; sie sollten „dikazein zwischen beiden genau und keinem zuliebe“. Dann aber ergreift er selbst die Initiative: Keiner solle ihn tadeln dafür, denn er fordere Gerechtes; und er und Antilochos machen die Sache untereinander aus – denn so entspreche es der themis, betont Menelaos (23.570–85). Diese Passage aus den Werken und Tagen wird nun für unsere Frage interessant, weil Hesiod betont, dass die Basileis auch diesen Streitfall lösen bzw. auch diesen Spruch geben wollen. Dieser letzte Halbsatz hat in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden.31 Er scheint mir aber ein wichtiger Angelpunkt zu sein, um fortschreitende Institutionalisierung aus Sicht der beteiligten Akteure zu erklären. Denn was wir hier beobachten, ist das Nebeneinander der prinzipiellen Etabliertheit und Akzeptanz einer Konfliktregulierung auch ohne Dritte und des Bemühens der Basileis, die Regulierung von Konflikten an sich zu ziehen.32 Dieses Bemühen ist verständlich. Denn wie wir anhand jener zweier Talente Goldes in der Schildszene sahen, waren mit der Konfliktregulierung materielle Vorteile verbunden. Überdies resultierte die erfolgreiche Schlichtung in sozialen Verpflichtungen der Konfliktparteien jenen Männern gegenüber, welche diese Tätigkeit auf sich nahmen und die dann auch mit ihrem sozialen Gewicht, mit ihrer persönlichen Macht, auch für die Nachhaltigkeit ihrer Sprüche standen; und das 31 32

Zu verschiedenen Deutungen der Passage s. Gagarin 1974, 108 Anm. 13; Gagarin 1992, 72. – Zur Bedeutung von (tênde) díkên dikázein = ‚auch diesen Spruch fällen / Streitfall lösen‘ vgl. Hes. Fr. 293a–c Most = 338 West; Th. 543–4. Hes. Th. 81–92: Dazu gäbe es die Basileis, damit sie in der Agora …

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heißt, dafür, dass beide Streitparteien sich an den von ihnen vereinbarten Kompromiss auch tatsächlich hielten. Und wie oben betont, können die epischen Anführer überhaupt nur durch das beständige Auftreten in bestimmten Prominenzrollen ihre herausgehobene Stellung rechtfertigen und ihren gesellschaftlichen Primat behaupten.33 Wenn das Epos die Basileis als dorophagoi – „Gabenfresser“ – bezeichnet, denen Perses in der Vergangenheit vieles verehrt habe, übt dieser Vorwurf nicht generell an den Honoraria der Basileis Kritik und noch nicht einmal prinzipiell an deren Höhe. Schließlich verlangen die Gebote der Reziprozität eine Ehrengabe für jene große Leistung der Basileis, die Lösung eines die Gemeinschaft bedrohenden Konfliktes herbeizuführen, wie etwa die Schildszene es darstellt.34 Vielmehr deutet dieses ‚Fressen‘ der Gaben meines Erachtens in erster Linie auf die Gier nach solchen Honoraren hin – eben auf jenen von Hesiod betonten Willen, in Konflikte eingeschaltet zu werden, die prinzipiell von den Streitparteien eigenständig gelöst werden könnten. Darüber hinaus sollten wir den Vorwurf des ‚Gabenfressens‘ als Kritik an der – angesichts der von ihnen empfangenen Ehrengaben – nur mangelhaft erbrachten Leistung der Basileis. Dies sehe ich in Analogie zu jenen Vorwürfen, welche Achilles und Thersites gegenüber dem „den Demos verschlingenden Basileus“ Agamemnon vorbringen: Dessen Leistungen als Oberbasileus entsprächen nicht dem Ausmaß der von ihm in dieser Rolle erwarteten und empfangenen Abgaben, denn jene werden eben verstanden als Honoraria für entsprechende, dem gemeinsamen Wohl zuträgliche Taten.35 Hinzu kommt aber auch Hesiods wiederholte Kritik an den „krummen Sprüche“ dieser „Gabenfresser“, die etwa in der folgenden Passage unmittelbar miteinander verbunden sind: [Dike berichtet Zeus] vom Trachten ungerechter Menschen, damit der ganze Demos die Frevel der Basileis büße, die verderblichen Sinnes die Sprüche des Rechts seitwärts beugen, indem sie sie krumm verkünden (parklínōsi díkas skoliōs enépontes). Davor nehmt euch in Acht, ihr Basileis, begradigt eure Äußerungen (ithynete mythous), ihr Gabenfresser, und schlagt euch die Beugung der Rechtssprüche (skoliéôn de dikéôn) ganz aus dem Sinn. Sich selbst nämlich schafft Schlimmes ein Mann, der dem anderen Schlimmes zufügt. (Hes. Erg. 258–64)

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s. die Ausführungen von Fisher 2015 zur mir heuristisch wertvoll scheinenden Differenzierung von legitimating und differentiating values. – Anknüpfend an das oben Ausgeführte zur von mir angenommenen Mehrzahl der Basileis in Szenarien der Konfliktregulierung ist es relevant, dass auch hier, in Hes. Erg. 38–9, von einer Reihe von Basileis die Rede ist. van Wees 1998; Wagner-Hasel 2000, bes. Kap. 4. s. etwa Hom. Il. 1.225–31; 2.225–42. – Es steht infrage, ob diese Honoraria als situative Belohnungen der Basileis für konkret Geleistetes oder regelmäßige Abgaben verstanden werden sollten. Einen Hinweis auf Letzteres bietet womöglich Hom. Il. 9.155–6, 297–8: Die von Agamemnon dem Achilles in Aussicht gestellten Bewohner der ihm zu schenkenden Städte seien „begütert an Schafen und Rindern und werden ihn wohl mit Geschenken wie einen Unsterblichen ehren und unter seinem Szepter seine leuchtenden Satzungen (themistas) ausführen“. Hierzu s. etwas van Wees 1999, 29–35 und Harris 1997, 57–9.

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Die von Hesiod hierin skizzierten Missstände, das von ihm gezeichnete Handlungsmuster der Basileis sei nicht allein auf seine Welt beschränkt, finden wir auch in anderen Zeugnissen, etwa der Ilias.36 Die hierin immer wieder zu Ausdruck gebrachte Metaphorik des „Krummen“ und der „Beugung“ lässt sich nur schwer präzisieren. Es ist unklar, worin genau die Missstände bestehen, welches konkrete Verhalten der Basileis auf der Agora derart charakterisiert wird.37 Wie oben betont, gibt es in den epischen Welten keinen präzise definierten Maßstab des „Geraden“, etwa in Form festgelegter Gesetze. Und so scheint mir diese Metaphorik ein Auftreten der Basileis zu umschreiben, das nicht in erster Linie bemüht ist einen Kompromiss herbeizuführen, auf dessen Grundlage die Streitparteien und ihre Gruppen als Teile einer Gemeinschaft wieder gut miteinander werden leben können. Vielmehr treffen die schlechten Basileis Entscheidungen, die auf Vorlieben und Abneigungen gegenüber den Streitenden beruhen, wie deutlich wird, wenn Penelope ihren Ehemann gegenüber den Freiern dafür lobt, … dass Odysseus zu Zeiten eurer Eltern weder mit Worten noch mit Taten im Demos einem Manne zu nah trat – wie es doch die dike der göttlichen Basileis ist: Ein solcher kann den einen Menschen wohl hassen, den anderen lieben.38 Er aber hat überhaupt niemanden frevelnd behandelt. (Hom. Od. 4.689–93).

Zum anderen legen Parallelen nahe, dass diese krummen Entscheidungen wesentlich der persönlichen Vorteilsnahme und Bereicherung der Basileis auch jenseits ihrer Honorare dienten. Denn der gleichen Metaphorik begegnen wir auch in zahlreichen Szenarien der Theognidea.39 Da diese Passagen eine eigene Untersuchung verdienen, sei hier nur auf eine hingewiesen: 36 37

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s. etwa Hom. Il. 16.385–8“ „… wenn ein reißendes Wasser Zeus ergießt, im Zorne die Männer zu strafen, welche mit Gewalt (bíê) auf der Agora krumme Sprüche auslegt (skoliás krínōsi themístas) und die Dike vertreiben, ohne Rücksicht auf die Strafe der Götter, …“ s. etwa Hes. Erg. 218–20: „Gleich nämlich läuft der Eid neben krummen Rechtssprüchen (skoliêsi díkêsin) einher, und Murren steigt auf, wenn man Dike fortzerrt, wohin gabenfressende Männer sie ziehen, mit krummer Dike die Satzungen (skoliês de díkês krínōsi themistas) auslegen.“ – Hom. Il. 16.385–8: „… wenn ein reißendes Wasser Zeus ergießt, im Zorne die Männer zu strafen, welche mit Gewalt (bíê) auf der Agora krumme Sprüche auslegt (skoliás krínōsi themístas) und die Dike vertreiben, ohne Rücksicht auf die Strafe der Götter, …“ Eine solche faktische Überlegenheit der Stärkeren, gegen welche der Schwache oder auch die Gemeinschaft nichts ausrichten könne, ist auch in der Fabel des Habichts und der Nachtigall in Hes. Erg. 201–12 reflektiert. Wie das Epos zeigt, kann allein die Selbstbeschränkung der Mächtigen ihre Übergriffe eindämmen. Die dafür nötige Einstellung soll aus der von Hesiod formulierten Warnung resultieren, dass die Übergriffe gegenüber den Schwächeren die gesamte Gemeinschaft schädigen und ultimativ auch den Stärkeren selbst. s. etwa auch Th. 44–7: „Wenn den Schlechten zu freveln einfällt, sie den Demos verderben und Streitfälle (díkas) zugunsten der Ungerechten (adíkoisi) entscheiden für eigenen Gewinn und eigene Macht, dann erwarte nicht, dass diese Polis noch lange unerschüttert bleibt.“ – Th. 197–202: „Ein Gut, das ein Mann von Zeus mit Recht (díkei) erhält und in sauberer Weise, erweist sich immer als dauerhaft. Wenn ein Mann es aber auf ungerechte Weise (adíkōs), zur Unzeit oder aus

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Auch soll man sich immer in Acht nehmen vor den krummen Reden (skólion lógon) ungerechter Männer, die – ohne die unsterblichen Götter zu fürchten – immer den Sinn auf fremdes Vermögen richten und schändliche Verabredungen für üble Taten (aischrà kakoîs érgois symbola) treffen. (Thgn. 1147–50)

Die Zusammenschau der bis hierher behandelten Szenarien ergibt für mich folgendes Bild: In dem als ideal oder zumindest normativ formulierten Kontext der homerischen Schildbeschreibung ist der Gang zu den Geronten prinzipiell optional. Konflikte können auch ohne ihr Zutun reguliert werden, doch allein scheinen die größeren, tatsächlich die Gemeinschaft bedrohenden Streitigkeiten beenden zu können. Hierbei scheint der Zugang zur Gruppe der für die Konfliktregulierung infrage kommenden Männer nicht einem jeden Hausvorstand offen zu stehen, sondern von den Mitgliedern kontrolliert. Bei ihrer Tätigkeit stehen diese Männer in Konkurrenz zueinander, wer von ihnen die Ehre und das Honorar zuerkannt bekomme, den besten Kompromissvorschlag formuliert zu haben, und das heißt, welcher Vorschlag in Anbetracht der beteiligten Streitparteien und des Gegenstandes die Gruppe in Zukunft wieder am besten miteinander leben lässt. Diese Bezogenheit auf die Gemeinschaft lässt ihre Konkurrenz also eine vergesellschaftende Wirkung entfalten. In den hesiodeischen Werken und Tagen beobachten wir eine ähnliche prinzipielle Disponibilität der Basileis, doch eben auch deren Bemühen, die Verfahren der Konfliktregulierung als Gruppe an sich zu ziehen. Der im Epos prominente Kritikpunkt des „Gabenfressens“ etwa deutet dabei auf Missstände hin, die sich am ehesten deuten lassen als Akte einer gewissermaßen ‚schiefen‘ Reziprozität: Die Basileis empfangen – oder fordern sogar – Gaben für ihre Dienste der Konfliktregulierung, ohne dem Ideal der in der Schildszene oder der Theogonie gezeichneten Ideal zu entsprechen, ohne entsprechende dem Wohl der Gemeinschaft zuträgliche Schlichtersprüche zu fällen. Die nächste Stufe der Institutionalisierung von Prominenzrollen, wie wir sie in Form von Ämtern im nächsten Beispiel dieses Beitrags beobachten, deutet mir darauf hin, dass die Gruppe der epischen Basileis um ein gemeinsames Handeln bemüht war, Verfahren von Konfliktregulierung zu etablieren, die in erster Linie ihnen selbst zugutekamen.

Habgier erwirbt und wenn er es sogar durch einen Meineid erlangt, dann glaubt er im Moment einen Gewinn zu machen, aber am Ende gerät es wieder zum Übel. Die Götter haben das letzte Wort.“ – Th. 543–6: „Ich muss diesen Streitfall lösen (tênde dikássai díkên) nach Richtschnur und Maß, Kyrnos, und beiden Seiten geben den ihnen zukommenden Anteil (íson), mit der Hilfe von Sehern, Vogelzeichen und brennenden Opfern, damit ich nicht den schamvollen Vorwurf auf mich ziehe, abgewichen zu sein.“ – íson verstehe und übersetze ich hier als Manifestation der geometrischen, nicht der arithmetischen Gleichheit, s. Kistler 2004. Die Gedankenwelt dieser Verse bieten zahlreiche Gemeinsamkeiten mit jener Solons, etwa Frg. 5.1–2 West = 7 Gentili/Prato; hierzu s. Nagy 1985.

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Ich meine, dass es den Akteuren angesichts der besprochenen Instabilität ihrer Prominenz und ihrer eigenen potenziellen Vielzahl strategisch sinnvoll erschien, zu kooperieren – das heißt: bestimmte Praktiken der Konkurrenz zu vermeiden, um unter kalkulierten Bedingungen gemeinsam als Gruppe die Erträge einer solchen Kooperation einzufahren. Zunächst war es nötig, bestimmte Gemeinschaftsaufgaben für diese Gruppe zu monopolisieren. Sodann mögen die Anführer des 7. Jh. etwa die Höhe ihrer Honorare selbst festgelegt und gemeinsam zu verhindern gesucht haben, dass dieses Honorar von einem anderen Schlichter unterboten wurde, sei es ein Mitglied ihrer eigenen Gruppe, sei es ein Außenstehender.40 Eine solche Übereinkunft, die um die Verhaltenskontrolle aller daran Beteiligten bemüht gewesen wäre, hätte wohl auch die in der Ilias reflektierte Pluralität der Kompromissvorschläge verhindert. Auf diese Weise wäre das für Streitende attraktive Szenario einer Mehrzahl von miteinander im Wettstreit stehenden Schlichtungsvorschlägen verhindert worden, deren einen sie als den besten akzeptieren mögen. Ein solcher, hier angenommener Prozess der Institutionalisierung würde den Weg von den Epen hin zu den frühesten Gesetzen erklären. Das Gesetz über den Kosmos von Dreros Denn das dritte Szenario meines Beitrags führt uns nur einige Jahrzehnte weiter in der Zeit, nicht mehr als 30 oder 40 Jahre. Einen nächsten Schritt der Entwicklung von Institutionen und institutioneller Macht können wir betrachten anhand eines Gesetzes aus der Polis Dreros auf Kreta, welches wohl in die spätere Mitte des 7. Jahrhunderts datiert.41 Dieses Gesetz war als Inschrift in Steinblöcke geschlagen, die wahrscheinlich die Außenmauer eines Gebäudes bildeten, welches am Rand der Agora von Dreros stand. Nach meiner Lesung und meinem Verständnis sollten wir den Text wie folgt übersetzen: Möge der Gott ihn zerstören! So hat es gefallen der Polis: Wenn einer Kosmos gewesen ist, soll für zehn Jahre derselbe nicht Kosmos sein. Wenn er (doch) als Kosmos handelt: gleich, was er geurteilt hat (dikaksíe), soll er schulden ein Doppeltes; und er soll unbrauchbar sein, solange er lebt; und was er als Kosmos verfügt hat, soll nichtig sein. Die Schwörer: der Kosmos und die Damioi und die Zwanzig der Polis. (übers. nach R. Koerner)

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Einen Ausweg aus diesem Szenario weist die Episode rund um Deiokes bei Hdt. 1.96–7, die Konkurrenz innerhalb derjenigen reflektiert, die potenziell für eine Konfliktlösung infrage kommen. Möglich ist es, sogar jenseits der eigenen Gemeinschaft einen Schlichter zu bemühen. Dies illustriert einen möglichen Anreiz zur Kartellbildung. Meiggs/Lewis Nr. 2 = Koerner 1993 Nr. 90 = Gagarin/Perlman 2016, Dr 1. – Zur älteren Literatur und der hier vorgebrachten Deutung des Gesetzes s. Seelentag 2009 und 2015, bes. 139–63.

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Hier sehen wir eine deutliche Entwicklung von Institutionalisierung gegenüber den eben behandelten Szenarien. Nun ist nicht mehr eine potenziell offene Gruppe von Anführern für die Konfliktregulierung zuständig, vielmehr wird ein Rat erwähnt, dessen Mitgliederzahl klar beziffert ist: „die Zwanzig der Polis“ – und ein Amtsträger ist genannt: der Kosmos. Allerdings wissen wir nicht, ob es sich bei ihm um eine einzelne Person oder um ein Gremium von Funktionsträgern handelte. Offenbar war bereits etabliert, dass der Kosmos seine Aufgabe nur eine begrenzte Zeit ausüben sollte. Und nun verfügt unser Gesetz zusätzlich ein mehrjähriges Iterationsverbot. Über die Aufgaben dieses Amtsträgers erfahren wir wenig. Der Titel ‚Kosmos‘ impliziert, dass er die ‚gute Ordnung‘ in der Gemeinschaft repräsentierte oder gewährleisten sollte. Die Summe seiner Aufgaben wird allein durch das Verb kosmeîn beschrieben, seine Hauptaufgabe scheint aber das dikazein gewesen zu sein: „was er geurteilt hat“. Und mit dieser Tätigkeit scheint ein materieller Gewinn einherzugehen; immerhin soll ein Kosmos im Vergehensfall „das Doppelte zurückerstatten“. Wahrscheinlich handelt es sich nicht um eine regelmäßige Entlohnung, sondern um situative Honorar-Gaben, womit der Kosmos den epischen Anführern noch sehr ähnlich wäre.42 Allerdings zeigt dieses Gesetz, dass der Kosmos nicht länger ein disponibler Schlichter war wie die epischen Basileis, welche die Streitparteien einschalten konnten oder nicht und aus deren Vielfalt von Kompromissvorschlägen sie einen wählen konnten. Vielmehr sollten wir den Kosmos zwischen einem Schiedsrichter und einem Richter verorten. Denn auf der einen Seite möchte ich bezweifeln, dass sein dikazein schon auf der Grundlage klar formulierter Regeln geschah, die eindeutige Handlungsanweisungen im Bereich des materiellen Rechts verfügten.43 Auch der Kosmos fällte womöglich noch Kompromissentscheidungen auf der Grundlage akzeptierter themistes. Immerhin wird sein Handeln im Wesentlichen als kosmeîn bezeichnet, und hiermit sehe ich mich eher an die obige normative Beschreibung der guten Basileis in Hesiods Theogonie erinnert, welche deren eher um Ausgleich bemühte Konfliktregulierung betont, eben nicht eine – verglichen damit – konfrontative Entscheidung auf der Grundlage von klar gesetzten Regeln materiellen Rechts. Auf der anderen Seite aber ist unser Gesetz bemüht, institutionelle Macht zu konturieren, nämlich eine Art ‚Gerichtszwang‘ zu etablieren. Schließlich hält es fest, dass ein gewesener Kosmos nicht kosmeîn dürfe; gemeint scheint mir zu sein: ‚wie ein Kosmos handeln‘ beziehungsweise ‚anstelle des aktuellen Kosmos handeln‘. Denn für sämtliche Fälle der Konfliktregulierung sollte fortan der Amtsträger zuständig sein; er sollte das Monopol auf diese Aufgabe haben. Und alle diejenigen, welche als zukünftige Amtsträger regimentsfähig schienen, sollten das Gruppenmonopol auf diese Tätigkeit und die mit ihr verbunde42 43

s. Seelentag 2009, 71 zur Frage, weshalb es wenig plausibel scheint, dass es sich bei diesem Gewinn um vom Kosmos als Amtsträger verfügte und eingenommene Strafzahlungen handelt. Beispiele hierfür, etwa Gesetze, die von vornherein festgelegte, genau bezifferte Strafsummen für bestimmte Delikte verfügen, begegnen uns erst im 6. Jh.; s. unten.

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nen materiellen und soziopolitischen Vorteile haben. Das Iterationsverbot sollte dafür sorgen, dass eine Reihe von Männern diese institutionalisierte Prominenzrolle des Amtes einnehmen konnte. Das dahinterstehende Szenario lässt sich am ehesten vor dem Hintergrund der Epen verstehen. Denn – etwas simpel gefragt – warum sollten Konfliktparteien ausgerechnet zu einem Mann gehen, nur weil jener aktuell das Amt des Kosmos bekleidete? Schließlich dürfte ein solcher Amtsträger wohl kaum im Zuge eines Losverfahren oder gar durch Wahl einer breiteren Menge bestimmt worden sein, sondern eher durch Kooptation und Übereinkunft seiner Statusgenossen. Wäre es nicht sinnvoll, einen Mann zu konsultieren, auf den beide unmittelbar Beteiligten sich einigten, weil sie am ehesten ihm eine effiziente Regulierung ihres Konfliktes zutrauten, sei es wegen seiner Fähigkeit und Integrität oder wegen seines sozialen Gewichts, mit welchem er für die von ihm herbeigeführte Lösung stünde und damit deren Nachhaltigkeit gewährleistete? Unser Gesetz richtet sich also an zwei Adressaten: zum einen an jenen Mann, der anstelle des Kosmos handelte; der also dessen – hier reflektiertes – Monopol der Konfliktregulierung verletzte. Zum anderen richtet sich das Gesetz an etwaige Streitparteien, die nicht zu einem Träger der – noch schwach ausgebildeten – institutionellen Macht gehen wollten, da es jemanden gab, der ihnen aufgrund seiner persönlichen Macht besser geeignet schien. Allen Beteiligten wird hier signalisiert, wie dies fortan zu sanktionieren sei: durch eine von diesem Gesetz verfügte Strafe des Doppelten der Einnahmen des Kosmos und dazu durch die ‚Nichtigkeit‘ seiner Entscheidungen. Genauer gesagt: die Resultate dessen, was hier allein mit dem Verb kosmein ausgedrückt ist. Und damit scheint mir gemeint zu sein, dass die vom Kosmos vermittelten, herbeigeführten oder verfügten Übereinkünfte zur Beilegung von Konflikten für die Streitparteien nicht bindend sein sollten: Beide durften sich gegen das von ihnen eigentlich Vereinbarte wenden, verhandelte Kompensationen etwa mussten nicht entrichtet werden, und das Gegenüber hatte keine Ansprüche auf das Ausgebliebene. Diese Deutung des Verfügten scheint gut zu der zuvor ebenfalls verfügten Sanktion der ‚Unbrauchbarkeit‘ zu passen. Mit diesen Maßnahmen zur Verregelung, zur Konturierung von institutioneller Macht gegenüber persönlicher Macht ist die drerische Inschrift typisch für viele Gesetzesregeln der frühen Archaik.44 Denn zunächst und vor allem sind diese frühesten Inschriften des 7. und 6. Jahrhunderts darum bemüht, die in ihnen erwähnten Funktionsträger in den Möglichkeiten ihres Handelns zu beschneiden. Schließlich gehörten jene Männer zu den einflussreichsten ihrer Gemeinwesen und hatten eine umfangreiche persönliche Macht, ihren Willen durchzusetzen. Zu den frühesten Maßnahmen gehörte dabei nicht etwa die Limitierung der Aufgaben eines solchen Funktionsträgers, sondern die Beschränkung des Zeitraums, innerhalb dessen er diese Prominenz-

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Ausführlicher hierzu s. Seelentag 2015, bes. 134–9.

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rolle einnehmen durfte. Eine solche Amtsdauer setzen sämtliche frühen Regelungen bereits voraus.45 Allerdings scheinen dieselben Männer es vermocht zu haben, wiederholt von Jahr zu Jahr diese Funktionen zu bekleiden. Und so wurden Sperrfristen für die Iteration der Funktionsträger etabliert, wie wir es auch in unserem Gesetz aus Dreros sehen. Eine dazu parallele Maßnahme war die Besetzung habitualisierter Funktionen mit einem Kollegium beziehungsweise die Etablierung einer Reihe voneinander geschiedener Funktionen. Auf diese Weise hatten mehr Männer die Möglichkeit, von den Vorteilen eines Amtes zu profitieren. Dies allerdings machte es notwendig, das Miteinander oder die Hierarchie der Institutionen untereinander zu definieren.46 Erst dann konnten Handlungsparalysen zwischen verschiedenen Amtsträgern vermieden werden, die sich prinzipiell gleichberechtigt fühlten. Neben diesen Bemühungen, die freie Machtentfaltung von Funktionsträgern zu beschränken, sehen wir Versuche, ihnen Pflichten aufzuerlegen. So wurde definiert, infolge welcher Szenarien die Funktionsträger handeln sollten. Es sollte ihnen nicht freistehen, sich nach Vorliebe, Abneigung oder sozialer Verpflichtung – etwa gegenüber einer der Konfliktparteien – von Fall zu Fall für ihren Bereich einmal zuständig zu erklären, ein andermal dies zu unterlassen. Darüber hinaus wurde festgelegt, nach welchen Verfahren ein Funktionsträger zu handeln hatte.47 Diese Konturierung von transparenten oder zumindest kalkulierbaren Handlungsmustern bedeutete eine wesentliche Entwicklung weg von der Schlichtungsszene auf dem Schild des Achilles. Diese Verregelung des Umgangs mit Delikten reflektiert auch einen Wandel des Prinzips: Der Regulierung eines Konflikts stehen nun nicht mehr eine gleichsam unendliche Anzahl von Kompromissszenarien zur Verfügung; vielmehr werden ohne Ansehen der konkreten Konfliktkonstellation, ungeachtet der persönlichen Macht eines Mannes sowie seiner Unterstützer und auch ungeachtet des Willens der beteiligten Streitparteien klare Handlungsmuster verfügt nach der Maßgabe, „Der Täter dieses oder jenes Vergehens muss eine soundso hohe Strafe entrichten!“.48 Neben der Beschneidung freier Machtausübung durch Funktionsträger und der Auflage von Pflichten sehen wir Anstrengungen, den Aufgabenbereich von Funktionsträgern zu konturieren. So reflektieren die Gesetze die Bemühung, dass Institutionen nur für ihren Aufgabenbereich zuständig seien; andere Aufgabenbereiche sollten der Aufsicht anderer Institutionen unterliegen. Damit ging einher, dass man einer Institution ein Monopol auf ihren Aufgabenbereich einräumte: Allein sie sollte für ihn zuständig sein. Es sollte also zum einen verhindert werden, dass eine Institution ihre 45 46 47 48

Allerdings war dieses Prinzip prekär, worauf die in X. Ath. Pol. 13 überlieferte Episode rund um das Archontat des Damasias hindeutet, sofern diese Historizität besitzt. s. etwa IG 4.493 = Koerner 1993, Nr. 24: Mykene im 6. Jh. – LSS 27 = Koerner 1993, Nr. 25: Argos um 575–550. s. etwa IC 4.14g–p Z. 2 = Koerner 1993, Nr. 121 = Gagarin/Perlman 2016, G 14: Gortyn im 6. Jh. s. etwa IC 4.8a–d = Koerner 1993, Nr. 118 = Gagarin/Perlman 2016, G 8: Gortyn im 6. Jh. – IG 4.1607 = Koerner 1993, Nr. 32: Kleonai/Argolis um 575–550.

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Zuständigkeit auf Kosten einer anderen Institution ausweitete; zum anderen, dass ihre Zuständigkeit von einer anderen Institution oder Nicht-Institution eingeschränkt wurde. Daneben reflektieren die Inschriften das Bemühen, auch jenen Funktionsträgern Durchsetzung zu verschaffen, die über nur geringere persönliche Macht verfügten. Es war die Versachlichung von Verfahren durch Standardisierung, Einübung und dann eben Routinisierung von Entscheidungs- und Auswahlprozessen, welche nicht allein den konkreten Funktionsträger, sondern auch das Prinzip der Institution an sich legitimierte. Schon in den frühesten Inschriften beobachten wir daneben die Beauftragung von Institutionen, jene Funktionsträger zu sanktionieren, die sich weigerten zu handeln oder außerhalb ihres eigenen Aufgabenbereichs tätig waren.49 Diese Gesetze zeigen also den Anspruch, Autorität zu setzen und durchzusetzen. Allerdings reflektieren unsere Zeugnisse auch immer wieder, dass diese Kontrollinstanzen versagten, weil sie etwa ihrerseits zum Handeln nicht bereit oder fähig waren. Dem vorzubeugen schienen verschiedene Maßnahmen geeignet, wie eine in den Gesetzen reflektierte Eidesleistung auf deren Einhaltung nebst Gottesinvokation und Verfluchung beziehungsweise Selbstverfluchung im Falle eines Verstoßes.50 Darüber hinaus entfalteten die Verinschriftlichung der Regeln und ihre Monumentalisierung in besonderen baulichen Kontexten eine appellative Wirkung, sie einzuhalten.51 Und schließlich beinhalteten die Gesetze selbst Klauseln, wie mit der mutwilligen Modifikation des Geschriebenen umzugehen sei und unter welchen Umständen die nämliche Regel verändert werden dürfe.52 Doch bereits in den frühesten Inschriften ist die Überwachung von Funktionsträgern nicht allein anderen Funktionsträgern oder göttlichem Zorn überantwortet, sondern vor allem Institutionen, die größere Teile der Gemeinschaft inkorporierten. Schon in den Epen fanden die Beratungen und Entscheidungen der Basileis in der und vor der Öffentlichkeit statt. Der Demos war stets notwendiger Zeuge, die gemeinschaftsrelevanten Entscheidungen abzusegnen.53 Und so ist die Beteiligung einer breiteren Basis von politischen Akteuren in den Prozess der Gesetzgebung auch ein wesentliches Charakteristikum der archaischen Regelungen. In Dreros etwa „hat es der Polis gefallen nach Versammlung der Phylen“. Ähnlich in Kyzikos: Hier fasste „die Polis“ den verzeichneten Beschluss und „der Demos“ legte einen Eid darauf ab. In Tiryns 49

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s. etwa IC 4.14g–p Z. 1 = Koerner 1993, Nr. 121 = Gagarin/Perlman 2016, G 14: Gortyn im 6. Jh. – IG 12.9.1274 = Koerner 1993, Nr. 73: Eretria um 525. – s. auch das unten zu besprechende Gesetz IC 1.10.2 = Koerner 1993, Nr. 94 = Gagarin/Perlman 2016, El 2.: Eltynia um 500. – Hierzu s. Koerner 1987 und Harris 2006. s. etwa IG 4.506 = Koerner 1993, Nr. 29: Argos um 500. Thomas 1992, bes. 65–73; Hölkeskamp 1994. s. etwa IvOl 7.3–5 = Koerner 1993, Nr. 43: Olympia um 500. – Hierzu s. Veneciano 2014. Genannt sei unter den zahlreichen Stellen, die auf die Relevanz des Demos als innerelitären Zwist einhegender Instanz hinweisen, nur Hom. Il. 19.172–83.

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galt, „wie der Damos es beschließt“, und die Privilegierung des Deukalion beschlossen „die Chaladrier“. In Sparta sollten Älteste und Könige den Damos nur im Falle „krummer Äußerungen“ abtreten lassen. In Elis durften Gesetze allein vom „Rat der 500 und dem versammelten Damos“ geändert werden. In Chios war es der „Rat des Demos, der Strafgewalt hat und gewählt ist, nämlich 50 Männer je Phyle“. Und im kretischen Datala beschlossen „die Dataleis und wir, die Polis, nämlich fünf von jeder Phyle“.54 Bei aller Vielfalt dieser Formeln ist eines festzuhalten: Allerorten nahmen größere Teile der Polisgemeinschaft – über die regimentsfähigen Eliten hinaus – am Beschluss der Regeln teil und bezeugten oder überwachten deren Einhaltung. Diese Beteiligung war ein weiterer Verfahrensbestandteil neben der wohl konsensualen Beschlussfassung der Eliten, um Entscheidungen verbindlicher zu machen. Freilich: Wie exklusiv auch diese erweiterten Kreise von Akteuren im Kontext der gesamten Gemeinschaft womöglich waren, welche Kriterien einen Mann als Mitglied des Demos einen solchen Einfluss nehmen ließen, wie jene Gesetze es reflektieren, ist vollkommen unklar.55 Die Konturierung der in den Gesetzen sichtbaren Institutionen mit ihren ‚absoluten‘ Elementen reflektieren gegenüber den epischen Verhältnissen massive Eingriffe in die gewachsenen Kräfteverhältnisse in der Polis, schließlich waren die frühen Inschriften vor allem um eine Beschneidung persönlicher Macht bemüht. Und dies geschah im Wesentlichen durch drei Dinge: Erstens war es die durch Befristung und formale Differenzierung angestrebte Vervielfältigung von Prominenzrollen in der Gemeinschaft, um die mit einem Amt verbundene Macht auf mehrere Schultern zu verteilen. Zweitens war es die Konturierung des Prinzips der institutionellen Macht, um auch Funktionsträgern mit geringerer persönlicher Macht zur Durchsetzung zu verhelfen, wodurch soziopolitisch Schwächere mit Aufgaben betraut wurden, die ihnen ohne diese künstliche Regulierung niemals zugefallen wären. Und drittens war es die Teilhabe von über die Eliten hinausgehenden Teilen der Bevölkerung an Beschluss und Aufsicht der Regeln. Ob wir ab dem 7. Jh. nun also Gremien finden mit einer klar festgelegten Anzahl von Mitgliedern oder Funktionsträger mit einer definierten Amtsdauer, die zudem innerhalb klar bezifferter Zeiträume ihre Position nicht iterieren sollten, oder ob ein

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Dreros, 7. Jh.: Koerner 1993, Nr. 91 = Gagarin/Perlman 2016, Dr 5. – Kyzikos, 6. Jh.: IMT Kyz Kapu Dag 1447 = HGIÜ 1.18. – Tiryns, 7. Jh.: AE 1975, 150–205 (SEG 30.380) = Koerner 1993, Nr. 31. – Deukalion/Elis, um 500–475: IvO 11 = Nomima 1.21. – Sparta, 7. Jh.: Große Rhetra ap. Plu. Lyc. 6.8. – Elis, um 525–500: IvO 7.3–5 = Koerner 1993, Nr. 43. – Chios, um 575–550: Koerner 1993, Nr. 61 = Meiggs/Lewis Nr. 8. – Datala, um 500: Kadmos 9, 1970, 118–154 = Gagarin/Perlman 2016, Da 1 B.6–11. Einfacher gefragt: Wer konstituierte jenen ‚Demos‘ auf der Agora? War es lediglich die schmale Statusgruppe der Gespannbauern und damit ohnehin eine Art der Elite im Gemeinwesen, wenngleich eine noch nicht regimentsfähige? Zu antworten, es sei die Gruppe der Bürger gewesen, ist für diese Zeit anachronistisch; hierzu s. Seelentag 2014. – Zur Definition des Demos s. auch Donlan 1970; Werlings 2010.

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Täter für ein bestimmtes Vergehen eine von vornherein festgelegte Strafsumme zahlen sollte – ungeachtet von Ressourcen und Ansehen seiner eigenen Person wie auch der seines Opfers: Solche Regeln bewirkten, dass die tatsächliche Leistung eines Mannes und die daraus ableitbare und von ihm einforderbare Achtung seiner Person nicht adäquat in der Gemeinschaft ausgedrückt werden konnten. Vor dem Hintergrund der in den Epen reflektierten ‚relativen‘ Elemente und des Prinzips, Konflikte situationsangemessen zu klären, ist es zudem ganz bemerkenswert, dass die Gesetze durch ihre Festschreibung genau darauf verzichten. Die Verinschriftlichung von Regeln drückte den unbedingten Willen aus, an der einmal fixierten Regel festzuhalten. „Das Geschriebene“ wird in vielen Fällen sogar zur Bezeichnung von ‚Gesetz‘.56 Mögen einige wenige Gesetze auch festhalten, wie man die nämliche Regel auch wieder ändern könne: Die allermeisten Gesetze sehen eine solche Flexibilität in der Zukunft nicht vor und sorgen stattdessen mit den erwähnten Mechanismen für eine höchstmögliche Verbindlichkeit – wiewohl eben Inflexibilität. Einen solchen Schritt sehen wir vollzogen in einer Inschrift aus dem kretischen Eltynia, welche um 500 nicht allein ein höheres Maß an Standardisierung der Handlungsmuster erkennen lässt, nämlich eine Ordnung der Delikte und deren Behandlung, sondern nun auch ‚die Polis‘ als Empfängerin der zu entrichtenden Strafsummen nennt:57 Wenn aber (einer) mit der Hand verletzt, soll er 5 Drachmen Buße zahlen. Wenn aber aus der Nase Blut fließt, [soll er mehr Buße zahlen.] Den Eltyniern [gefiel]: Wenn (einer ernsthaftere) Kämpfe beginnt, soll er 10 Drachmen bezahlen, wo auch immer er beginnt. – – – (innerhalb von – – –) Tagen, wenn einer Anzeige erstattet, später aber nicht. Der Kosmos aber soll die Strafe für die Polis eintreiben. Wer von beiden – – – indem er seine Behauptung ausspricht. Wenn aber einer bei der Verteidigung zuschlägt, soll der, der sich verteidigt, frei von Bestrafung sein. – – – die Buße sollen zahlen (die Eltern, Verwandten usw.) von denen, die die Verwundung zufügen. Wenn aber ein Mann den Knaben schlägt, nicht – – – entweder im Andreion oder in der Agela oder dem Speisehaus der Jünglinge oder bei dem koros oder bei – – – Wenn aber ein Agelast einen Knaben beleidigt (in Bezug auf das,) was geschrieben steht, wenn zum Zeitpunkt – – – der Kosmos soll unter Eid richterlich entscheiden; der (?) über die (Angelegenheiten der) Polis (?) – – – er verletzt, soll er erlegen 5 Dr., wo er ihn schlägt. Wenn aber – – – oder schlägt, soll er erlegen 5 Dr., sooft er schlägt soll er 5 Dr. geben. Wenn aber der, der alles (?) erleidet, – – –

Die klaren Bezifferungen in den frühen Gesetzen, etwa gesetzte Fristen, notwendige Zeugenzahlen, festgelegte Strafzahlungen und vieles andere mehr, verstehe ich ähn56 57

Beispiele bietet Gagarin 2008, 91. IC 1.10.2 = Koerner 1993, Nr. 94 = Gagarin/Perlman 2016, El 2. – Wie es zu einer solchen Rolle der Polis als Empfängerin von Strafzahlungen kam, kann in diesem Beitrag allerdings nicht mehr behandelt werden.

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lich wie die Institutionalisierung der Funktionsträger zu Amtsträgern: Auch mit diesen Bezifferungen sollte persönliche Macht beschnitten werden, nämlich die Freiheit, als Amtsträger nach eigenem Gutdünken zu handeln, und auf diese Weise ein – aus Sicht der Statusgenossen – unkooperatives Verhalten an den Tag zu legen, welches aus Sicht der Damoden aber womöglich attraktiv und wünschenswert erschien. Dies alles diente der Etablierung gleichförmiger Handlungsmuster der Beteiligten; ähnlich den Auflagen, dass ein Amtsträger überhaupt zu handeln habe, infolge eines bestimmten Vergehens ein bestimmtes Verfahren in Gang zu setzen habe, dass er selbst Strafe zu entrichten habe, wenn er dies nicht tat und so fort. Diese Standardisierungen scheinen mir auf eine Kooperation innerhalb der Gruppe der maßgeblichen Entscheider hinzudeuten. Das Kartell der Anführer: Die Institutionalisierung von Konkurrenz Im letzten Teil meines Beitrags seien einige sehr vorläufige Bemerkungen zu möglichen Ursachen und Mechanismen der Kooperation formuliert, mit welchen sich jener skizzierte Wandel von einem prinzipienorientierten hin zu einem regelorientierten System erklären ließe. Hierbei sollen – im Sinne des anfangs formulierten Desiderats einer akteurszentrierten Perspektive – die Interessen von Individuen beziehungsweise Akteurstypen im Mittelpunkt stehen.58 Es dürfte deutlich geworden sein, dass ich Entstehen und Entwicklung von Institutionen im frühen Griechenland nicht auf ein Bemühen des Demos um Rechtssicherheit zurückführe. Weder sehe ich die – in den entsprechenden Deutungsversuchen im Übrigen kaum einmal näher definierten – Damoden als wesentliche gesellschaftliche Kraft, die Einfluss auf die Konturierung solcher Gesetze nahm; noch sehe ich in diesen Regeln in erster Linie die Interessen der Damoden reflektiert.59 Denn wie gesagt,

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Zum hier lediglich skizzierten Modell der ‚Kartellbildung‘ und den dahinter stehenden Modi der Institutionalisierung von Kooperation s. ausführlich Seelentag 2020 und Meister – Seelentag 2020: ‚Kartellbildung‘ bezeichnet ein Handlungsmuster der Gruppenbildung, bei welchem Konkurrenten bewusst auf bestimmte Konkurrenzpraktiken verzichten, um in ausgewählten soziopolitischen Räumen zu kooperieren, und sie diese Kooperation durch Institutionen zu sichern suchen. Diese Art der strategischen Gruppenbildung dient dem Zweck, prekären persönlichen Status abzusichern und als Kollektiv unter kontrollierten Bedingungen Macht über aus dieser Gruppe Ausgeschlossene auszuüben. Gagarin 2008 etwa vermutet hinter der Entstehung inschriftlicher Gesetze das Bemühen um ‚Rechtssicherheit‘: Vor allem für die sozial Unterlegenen, die in diesen Erklärungsmodellen oftmals als Demos identifiziert werden, seien die maßgeblichen Regeln des Zusammenlebens festgeschrieben worden. Dabei ist es ein weiterer Schritt, zu argumentieren, dass ebendies auch auf das Drängen dieser Gruppe hin geschehen sei. Für die Vertreter dieser Ansicht spielen die Lesbarkeit und der insgesamt öffentliche Charakter der Inschriften eine große Rolle. Die allermeisten Dar-

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vor dem Hintergrund der Epen und aus Sicht von Konfliktparteien war institutionelle Macht ein durchaus merkwürdiges Konzept. Denn warum sollte jemand eine Aufgabe erledigen dürfen, wenn er dies offenbar schlecht tat; und warum sollte jemand anderes, der seine Aufgabe gut erledigte, dies nach einem Jahr beenden müssen? Und warum sollten Konfliktparteien zu einem Amtsträger gehen statt zu einem Mann, dem beide Streitenden eine integere und nachhaltige Regulierung ihrer Konflikte am ehesten zutrauten?60 Vielmehr reflektieren alle diese Regeln, dass Machtausübung unter kontrollierten Bedingungen auf vergleichsweise viele Akteure verteilt wurde. Fortan sollten von den Vorteilen der nun vielfältigen Prominenzrollen etwa eines ‚Konfliktregulierers‘ und eines ‚Finanzverwalters‘, eines ‚für die Fremden Zuständigen‘ und eines ‚Erinnerers‘ sowie vieler anderer nicht allein einige wenige Individuen profitieren, die sich in einem potenziell kostspieligen Wettbewerb aller gegen alle anderen würden durchsetzen können, sondern eine größere Gruppe von Männern. Ich meine, dass bereits die Epen und dann sehr deutlich die frühen Gesetze eine Kooperation der Eliten und damit eine Selbst-Einhegung ihres Wettbewerbs reflektieren. In den Spuren von Jacob Burckhardt sahen wir ‚Agonalität‘ lange als einen den Griechen innewohnenden Wesenszug, ja sogar als die wesentliche Triebfeder für die Ausbildung ihres politischen Bewusstseins. Doch in jüngerer Zeit wird die Verwendung der Kategorie des ‚Wettbewerbs‘ in der altertumswissenschaftlichen Forschung kritisch hinterfragt, für die griechische Welt besonders von Christoph Ulf.61 Als nützlich erwiesen hat sich das Modell des Soziologen Georg Simmel vom Anfang des 20. Jh.: Dieser zeigt, dass Wettbewerb kein gewissermaßen natürliches Streben des Individuums um Superiorität ist, kein konstanter Antagonismus zwischen Individuen. Vielmehr ist Wettbewerb ein Mittel, um gesellschaftliche Zusammenhänge zu erzeugen. Dabei unterscheidet Simmel ‚Konflikt‘ und ‚Konkurrenz‘. Beim Konflikt beziehungsweise ‚Streit‘ gibt es keinen Siegespreis außerhalb der Konfrontation. Der Sieg besteht in der Niederlage des Gegners. Bei der Konkurrenz hingegen liegt der Kampfpreis nicht in der Hand der Wettbewerber selbst. Der Sieg über den Gegner ist nur Mittel, um den Preis zu erlangen; oder die Konkurrenten streben parallel auf das Ziel zu, um

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stellungen thematisieren allerdings nicht, wer diese Menge des Demos überhaupt konstituierte, welche Kriterien etwa über eine Teilnahme an jenen Versammlungen entschieden, in deren Verlauf gesetzliche Regeln beschlossen wurden. Kurzum: Wer spricht, wenn „die Polis“ spricht? Selbstverständlich lassen sich Grauzonen beobachten. So gestehen etwa einige Gesetze aus dem kretischen Gortyn Konfliktparteien neben dem dort üblichen ‚ordentlichen‘ Gerichtsgang über den Kosmos und den Dikastas auch den Weg über einen Schlichter oder Schiedsrichter zu. Freilich verordnet eines dieser Gesetze auch ihm jene für die regulären Amtsträger geltenden Fristen, innerhalb derer er eine Lösung herbeiführen muss; das andere legt das ihm für seine Dienste zu entrichtende Honorar fest. Fristen: IC 4.82 = Koerner 156 = Gagarin/Perlman 2016, G 82: Gortyn 5. Jh. – Honorar: IC 4.21 Z. 7–8 = Koerner 1993 Nr. 123 = Gagarin/Perlman 2016, G 21: Gortyn im 6. Jh. So etwa Ulf 2013.

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als Sieger den Gewinn fortzutragen. Dieser Gewinn liegt in der Gunst einer oder vieler außenstehender Personen, der sogenannten Dritten Instanz. Konkurrenz zeigt also sogar eine vergesellschaftende Wirkung.62 In diesem Rahmen siedelt Simmel auch das ‚Kartell‘ an. Für ihn ist es die Extremform einer Koalition von Konkurrenten, die übereinkamen, sämtliche Wettbewerbspraktiken untereinander auszuschließen. Diese Form eines Kartells ist nun aber ein Idealtyp, der in der Realität wohl kaum jemals existiert. Demgegenüber möchte ich von Prozessen der Kartellbildung sprechen, vom Kartell als einem Handlungsmuster. Dieses lässt sich definieren als „ein Bündnis von Rivalen in sozialen Systemen, in welchen Konkurrenz um begrenzte Güter herrscht“.63 Wichtig ist für mich hierbei, dass im Kartell nicht auf die Konkurrenz als solche verzichtet wird. Vielmehr kommt eine Anzahl von Konkurrenten dahin überein, auf bestimmte Praktiken zu verzichten, mit denen der eine den anderen übertrumpfen könnte. Dabei ist der Verzicht des einen zumeist nur so lange gültig, wie der andere ebendiesen Verzicht übt. Da nun die Mittel der Konkurrenz größtenteils in Vorteilen zugunsten eines Dritten bestehen, wird im Falle einer Kartell-Bildung eben dieser Dritte die Kosten der Verständigung über den Verzicht auf Konkurrenzpraktiken zu tragen haben. Wir beobachten mit dem Kartell also eine Institutionalisierung von Konkurrenz durch eine in Regeln formulierte Übereinkunft der für die Konfliktregulierung prinzipiell infrage kommenden Individuen. Die frühesten institutionalisierten Prominenzrollen archaischer Poleis (Ämter etwa und Mitgliedschaften in Gremien) – und dies auch schon den Epen, wie ich hoffe, plausibel gemacht zu haben – scheinen mir zu reflektieren, dass prinzipielle Konkurrenten sich zusammengetan hatten, um kollektiv und unter kontrollierten Bedingungen stabile Macht auszuüben. Für sie war es von Vorteil, ein Kartell zu bilden und auf Kosten des Demos – der Dritten Instanz – auf gewisse Ausprägungen konkurrierenden Verhaltens zu verzichten. Denn dieses Handeln stellte den Mitgliedern des Kartells, und zwar gerade auch den schwächeren, Monopolrenten in Aussicht, das heißt zusätzliche Gewinne, die über jene hinausgingen, welche sie unter offenen Wettbewerbsbedingungen hätten erzielen können.64 Diesen von Regeln kanalisierten Verzicht auf bestimmte Mittel der Konkurrenz als eine Form der Kartellbildung nach Simmel zu betrachten, scheint mir ein lohnender Weg, um Institutionalisierung im frühen Griechenland zu beschreiben und zu analysieren.

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Simmel 1908, 282–306. – Sehr deutlich wird dies in der Pluralität der Kompromissvorschläge durch die Geronten auf dem Schild der Achilles. Dies nach Leonhardt 2013, 65. Diesen Kartellierungsprozess sehe ich nicht nur im Politischen – im strengeren Sinne –, sondern auch etwa in Wirtschaft, Religion und Kultur. Für mich liegt eine der Stärken dieses Modells darin, dass wir mit seiner Hilfe eine Vielzahl von Praktiken, die in literarischen, epigraphischen und materiellen Zeugnissen reflektiert sind und ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern entstammen, gemeinsam in den Blick nehmen können.

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Die Interessen und Handlungsspielräume der Akteure in diesem Szenario sowie die Dynamiken ihrer Gruppenbildung lassen sich mit der Spieltheorie modellieren.65 Mit ihr lässt sich das Verhalten von strategisch denkenden und handelnden Akteuren im Kontext von Gruppen ebensolcher Akteure modellhaft beschreiben: Entscheidungssituationen, in denen sich mehrere Beteiligte mit ihren Entscheidungen gegenseitig beeinflussen. Die Anwendbarkeit der Spieltheorie für unsere Szenarien soll ausgehend vom sogenannten ‚Gefangenendilemma‘ vorgestellt sein. Das Gefangenendilemma – zunächst jenes mit nur zwei Parteien – besagt, dass es unter entsprechenden Bedingungen für Akteure strategisch sinnvoll sein wird, sich auf Handlungen und damit potenzielle Ergebnisse einzulassen, die in ihrer eigenen Wahrnehmung weniger gut sind als andere. Denn das für den individuellen Akteur beste Ergebnis wäre, wenn das Gegenüber nach den einhegenden Regeln handelte, er selbst aber dagegen verstieße ohne sanktioniert zu werden. Das schlechteste Ergebnis wäre, wenn er selbst kooperierte, der andere aber ohne Sanktion gegen die Regeln verstieße. Dazwischen gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder verstoßen beide Akteure gegen die Regeln, dann gibt es einen Konflikt mit kostspieligen Folgen für beide. Oder beide halten sich an die Regeln – kooperieren also unter kontrollierten Bedingungen – und erringen beide ein Ergebnis, welches zwar schlechter ist als das für sie jeweils optimale, aber besser als das für sie jeweils schlechteste. Einer Kooperation zuträglich in diesem Szenario sind Reputationseffekte: Der Ruf eines Akteurs, verlässlich zu sein, unterstützt sein Gegenüber bei dessen Entscheidung, eher zu kooperieren. Diese Reputationseffekte können sich freilich erst bei wiederholten und zeitlich nicht begrenzten Szenarien auswirken. Erst dann entwickeln die Akteure Interesse daran, als kooperationsbereite Partner zu gelten, und sind um ein entsprechendes Handeln bemüht. Das Szenario der Polis bot ebendiese Bedingungen; vor allem, weil es zeitlich nicht beschränkt war und damit eine potenziell unbeschränkte Anzahl von Entscheidungssituationen bot. Und so standen den Akteuren in der Polis die Optionen vor Augen, dass kompromisslose Aristie untereinander, also Nicht-Kooperation, individuell bessere Ergebnisse liefern konnte. Allerdings versprach kompromissbereite ‚Agathie‘, wie man die Kooperation im Kartell etikettieren könnte, kollektiv bessere Ergebnisse, und zwar langfristig. Denn ihre Perspektiven waren, als miteinander Konkurrierende kalkulierbar einen begrenzten Gewinn unter durch Institutionen eingehegten Bedingungen einzustreichen – eben jene Monopolrenten.66 65

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Axelrod 1984. – Spieltheoretische Modelle wurden in jüngster Zeit etwa von Tracy 2014; Ober 2015 und Simonton 2017 auf das archaische und klassische Griechenland angewendet, um die homerische Gastfreundschaft, die athenische Demokratie und die Kooperation innerhalb von Oligarchien besser zu verstehen. Der Handlungsmodus des Aristos betont die ‚Bestheit‘ eines Individuums, also seine Machtausübung über andere. Ziel es ist, Hierarchien herzustellen und die Peers der eigenen Gruppe in die Inferiorität zu drängen. Hier ist Wettbewerb ein Nullsummenspiel. Dagegen betont der Handlungsmodus des Agathos die Machtteilhabe an etwas, nämlich die Mitgliedschaft in einer Gruppe

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Bei einem Gefangenendilemma mit mehr als zwei Parteien, wie wir es bei den Eliten der Poleis vor uns haben, bestehen allerdings selbst bei einem zeitlich offenen Spielende Anreize zur Kooperationsverweigerung: sofern nämlich ein Akteur davon ausgehen kann, dass die Erstellung des Kollektivguts nicht wesentlich dadurch beeinträchtigt wird, dass er als einzelner ‚Trittbrett fährt‘ oder sich gar offen gegen die Regeln stellt, er nichtdestotrotz aber auch an jenem Kollektivgut Anteil haben wird. In der Archaik war das erzeugte Kollektivgut die von Regeln abgesichert ausgeübte Macht über sozial Unterlegene zum Zwecke des gemeinsamen Gewinns der Kartellmitglieder. Hier nicht zu kooperieren, hieß etwa, als ‚Privatmann‘ Aufgaben zu übernehmen, welche eigentlich ein Amtsträger ausüben sollte, oder als Amtsträger nicht so zu handeln, wie die Gesetze als Reflexion einer Übereinkunft der Regimentsfähigen es verfügten.67 Von einem Fall eines solchen Regelverstoßes allein würde der Regelbrecher über die ihm von den Regeln vorgegebenen Maße profitieren, das System der Übereinkunft aber nicht stürzen. Wenn die Anzahl der Regelbrecher freilich ein kritisches Maß übersteigt, wird das vom Kartell angestrebte Verteilungsgleichgewicht gestört werden, die Monopolrenten vernichtet; womöglich wird das Regelsystem an sich seine Akzeptanz verlieren. Doch auch in einem solchen Szenario der Trittbrettfahrt lässt sich Kooperation durch Regeln befördern. Regeln, welche (1.) das Kollektivgut aufteilen und individuelle ‚Besitzrechte‘ festlegen, außerhalb welcher das Individuum nicht handeln darf; und die das Prinzip des ‚Regelverstoßes‘ überhaupt erst definieren68; und welche (2.) die Autorität zur Sanktionierung von Regelverstößen – vorzugsweise – auf ausgelagerte Instanzen delegieren. Darüber hinaus werden (3.) Selbstorganisation und Selbstsanktionierung zunehmend möglich bei einer stärkeren Ausbildung von Gruppenzusammenhalt. Dies geschieht etwa durch die Ausprägung einer Ideologie der Gleichheit und Regelobservanz, durch die Moderation in der eigenen Gruppe und die damit einhergehende Exklusion anderer. Die hierfür notwendige ethische Homogenisierung der Gruppenmitglieder verursacht hohe soziopolitische und kulturelle Kosten. Im zeitlich unbegrenzten soziopolitischen Szenario der Polis mit seiner potenziell unbegrenzten Anzahl von Entscheidungssituationen standen den maßgeblichen Akteuren die Optionen vor Augen, dass kompromisslose Kooperationsverweigerung individuell bessere Ergebnisse liefern mochte, und zwar mittelfristig oder einmalig. Allerdings versprach kompromissbereite Kooperation kollektiv bessere Ergebnisse, und zwar langfristig – eben als ein Kartell: durch ein gemeinsames, von Institutio-

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von untereinander ‚Gleichen‘, die ihren kollektiven sozialen Primat, ihre kollektive ‚Bestheit‘ in der Gemeinschaft behaupten. Hier wird Status aus Handlungen und Eigenschaften generiert, welche den Status der eigenen Peers nicht automatisch verringern. Hier ist Wettbewerb ein Positivsummenspiel – freilich allein für die Mitglieder dieser Gruppe, während sämtliche von ihnen hiervon Ausgeschlossenen verlieren. Hierzu s. Rabinowitz 2014, bes. 93–5 und 114–5. s. hierfür das oben besprochene Gesetz aus Dreros. Lyttkens 2013, 46: „In the emerging poleis, the introduction of rules for power sharing arguably coordinated opposition by signalling when and if someone was attempting to seize power.“

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nen abgesichertes Monopol auf die Prominenzrollen in der Polis. Die Perspektiven strategisch handelnder Akteure waren also, organisiert als Kartell kalkulierbar einen begrenzten Gewinn unter durch Institutionen eingehegten Bedingungen für alle Teilnehmer einzustreichen; oder unkalkulierbar womöglich einen großen Gewinn im regelfreien Wettbewerb aller gegen aller zu erstreiten – im Falle des Scheiterns hierin aber dauerhaft Verlierer zu sein. Ein Modell der Entstehung und Entwicklung von Institutionen in der griechischen Archaik sollte meiner Ansicht nach davon ausgehen, dass es das zentrale Interesse eines Individuums war, die eigene Teilhabe zu möglichst guten Bedingungen zu sichern. Vor allem für die zweite Reihe derjenigen, welche sich prinzipiell befähigt und berechtigt fühlten, in der Polis eine herausgehobene Rolle zu spielen und die sich nur vereint gegen jene wenigen wirklich Mächtigen der Gemeinschaft und deren Anhänger würden durchsetzen können, war es eine Option, ihren Einfluss im Rahmen eines von gewissen Regeln gelenkten Kollektivs zu sichern – und damit diesen Einfluss kalkulierbar und möglichst groß zu machen. Diese Kooperation der zweiten Reihe band schließlich auch die Mächtigsten mit ein.69 Sich hierbei ergebende Koalitionen waren aber fragil, denn im 7. und 6. Jh. verfügten wohl selbst die Reichsten über einen vergleichsweise geringen materiellen Vorsprung, und tatsächlich war die Gruppe derer, aus welchen sich potenzielle Anführer rekrutierten, recht breit. Wahrscheinlich fühlten sich alle Oberhäupter vollbäuerlicher Haushalte potenziell regimentsfähig. Dies resultierte zum einen in einer relativen Homogenität der Gruppe der führenden Akteure – was die Ausbildung einer Ideologie der Gleichheit unter ihnen erleichterte. Zum anderen führte es aber zu einer Instabilität der führenden Schicht, denn soziale Mobilität war stets möglich: nach unten, etwa durch die Realerbteilung der Güter; wie auch nach oben, etwa durch Heirat, Handel und Gewaltausübung. Deshalb wurden die Eliten nicht als unumstößlich exklusiv wahrgenommen, wie vor allem in den Narrativen von Auf- und Abstieg in den Theognidea deutlich wird.70 Ganz wesentlich bei unserer Vorstellung eines solchen Kartells ist also die soziopolitische Mobilität der Zeit. Denn sie verhinderte jene ‚harten‘ Kriterien – etwa das ‚adlige Geblüt‘ –, welche ein Individuum klar und von Vornherein als einen Teilhaber am Kollektivgut identifizieren. So gab es in der Archaik nicht den Typus des verarmten Adligen der europäischen Neuzeit, der selbst nach dem Verlust seiner Güter aufgrund seiner Abkunft immer noch eine Art von Exklusivität und gesellschaftlichem Primat für sich beanspruchen mochte. Vielmehr funktionierte der Zugang zu den archaischen

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Der Typus eines solchen zweitrangigen Anführers verkörpern alle jene homerischen Basileis, welche sich durch die kleine Gruppe der maßgeblichen Entscheider vor Troja marginalisiert sehen, etwa jener „schwache“ Nireus von Syme in Hom. Il. 2.671–5. – Das Modell für eine solche Einhegung der Mächtigsten durch die ihnen unterlegenen Statusgenossen bietet die Ilias mit ihrem Narrativ der Etablierung einer Götterordnung; hierzu s. Ulf 2017. Hierzu s. van Wees 2000 mit zahlreichen Beispielen.

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Eliten über die Anerkennung der Statusgenossen und der sozial Unterlegenen, dieser Gruppe anzugehören. Und diese Anerkennung resultierte aus erfolgreicher Performanz spezifischer Aristie-Handlungen und Habitusmanifestationen, deren Voraussetzung Reichtum war.71 Daher waren die mit einem Kartell angestrebten soziopolitischen Grenzen, welche manche Akteure eingliederten, andere ausgliederten, fluide und immer umstritten. Wie prekär die Regeln der Selbst-Einhegung und Kartell-Bildung waren, zeigt unser Gesetz von Dreros. Die Anrufung des Gottes und der Schwur der maßgeblichen Akteure, also deren Selbstverfluchung, sollten die Einhaltung des Gesetzes sicherstellen. Die wichtigste Aufsichtsfunktion aber hatten die Damioi, die Versammlung der waffentragenden Männer. Denn sie waren eine aus der Konkurrenz der Eliten ausgelagerte ‚Dritte Instanz‘, welche die Einhaltung der neuen Regeln gewährleisten sollte. Denn bei der innerelitären Beschlussfassung bestand das Risiko, dass Anführer auch eine im Konsens gefundene Entscheidung letztlich doch nicht mittrugen, weil sie ihrer eigenen Präferenz eben nicht entsprach. Von hier scheint es mir kein allzu großer Schritt gewesen zu sein, die Zeugenschaft – und dann auch Zustimmung – des Demos zu institutionalisieren; sie als einen weiteren Verfahrensbestandteil neben die konsensuale Beschlussfassung der Eliten zu stellen, um gemeinschaftsrelevante Entscheidungen verbindlicher – und nachhaltig – zu machen. Damit war die soziale Kontrolle der Entscheidung auf breitere Basis gestellt. Genau dies, meine ich, sehen wir in den Inschriften reflektiert.72 Zudem aber bedeutete die – in der frühen Phase wohl wesentlich affirmative – Beteiligung des Demos letztlich immer auch eine Bestätigung der kollektiven Überlegenheit der zu einer Übereinkunft fähigen Eliten; und damit die Akzeptanz, dass jene auch in Zukunft die gemeinschaftsrelevanten Entscheidungen fällen würden.73

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Zur Relevanz des ‚Geltungskonsums‘ für eine ‚leisure class‘ nach Th. Veblen in der Archaik s. Fisher 2015 und Filser 2017. Hinweise auf eine solche Relevanz des Demos als eine den innerelitären Zwist einhegende Instanz sehen wir schon deutlich in der Passage Hom. Il. 19.172–83, in welcher die versammelten Achaier als Zeugen eines Eides zur Aussöhnung des Achilles mit Agamemnon dienen. Elmer 2013 zeigt, wie institutionalisiert (oder idealisiert?) die Zustimmung der Gemeinschaft zu den Vorschlägen/Beschlüssen der Anführer war (s. die Formel des epaineîn). Allerdings ist der Demos vergleichsweise ‚wankelmütig‘, entscheidet sich um und gibt seine emphatische Zustimmung nun auch anderen Meinungsäußerungen. Das deutet auf den Charakter dieser Zustimmung als eben eine Bekräftigung/Absegnung, nicht aber als ein verbindliches Beschlussverfahren.

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Prof. Dr. Gunnar Seelentag Inhaber des Lehrstuhls für Alte Geschichte, Leibniz Universität Hannover. Promotion 2002 (Freiburg); Habilitation 2010 (Köln). Forschungsschwerpunkte sind die griechische Archaik, das vorrömische Kreta und der frühe bis mittlere römische Principat.

Die politischen Zentren der bundesstaatlichen Gemeinwesen im antiken Griechenland Yves Löbel Einleitung Beschäftigt man sich mit Themen wie Organisation, Strukturen und Zentralisierung von Herrschaft im antiken Griechenland, so kommt man um die Betrachtung der bundesstaatlichen Gemeinwesen nicht herum. Diese Gemeinwesen spielten in klassischer und vor allem hellenistischer Zeit eine entscheidende Rolle innerhalb der politischen Landschaft Griechenlands. Aus diesem Grund befasste sich die moderne Forschung in zahlreichen Untersuchungen mit diesen bundesstaatlichen Gemeinwesen.1 Betrachtet man die Bünde hinsichtlich der Frage nach dem Grad und der Art und Weise ihrer Zentralisierung, so fällt auf, dass die Antwort darauf einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Stabilität und damit die Dauerhaftigkeit der Gemeinwesen hatte. Darauf wirkte sich in hohem Maße auch der Charakter des jeweiligen Bundeszentrums aus. Dies wird besonders deutlich, wenn man die bekannten Zentren gemäß ihrer grundlegenden Eigenschaften zu Kategorien zusammenfasst und diese dann miteinander vergleicht. Zu diesem Zweck wird nachfolgend zunächst nach den auftretenden Kategorien von Bundeszentren und den ihnen zuzuordnenden Bezeichnungen gefragt. Daran anschließend werden verschiedene Beispiele zu den einzelnen Kategorien aufgeführt und deren Charakteristika hervorgehoben. Auf dieser Grundlage sollen dann in einer abschließenden Analyse die positiven und negativen Stabilitätseffekte der jeweiligen Zentren auf ihre Bünde und die Gründe dafür herausgestellt werden.

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Neben den zahlreichen Studien zu einzelnen Bünden, die hier nicht einzeln aufgeführt sein sollen, sei auf die thematisch weiter gefassten Untersuchungen von Larsen 1968, Giovannini 1971, Gehrke 1986, Beck 1997, Corsten 1999, Mackil 2013, McInerney 2013, Löbel 2014 und den Sammelband von Beck/Funke 2015 verwiesen.

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Drei Kategorien politischer Bundeszentren Möchte man die Zentren bundesstaatlicher Gemeinwesen in Kategorien einteilen, so fällt zunächst auf, dass die üblichen Bezeichnungen in der Forschungsliteratur meist sehr unspezifisch sind, da sie oftmals auch gar keine Unterscheidung vornehmen sollen. So wurde vor allem in der älteren Forschungsliteratur häufig der Begriff ‚Vororte‘ für die Zentren bundesstaatlicher Gemeinwesen, aber auch für die Zentren anderer bündischer Vereinigungen gebraucht.2 Wenngleich dieser Begriff als Oberbegriff richtig ist, so lässt er doch nicht den eigentlichen Charakter eines Zentralortes erkennen. Das Gleiche gilt auch für den gebräuchlicheren Begriff Bundeszentrum. Beide Begriffe sollen daher nachfolgend nur als Oberbegriffe weiter gebraucht werden. Die Suche nach treffenden Bezeichnungen für die unterschiedlichen Arten von Bundeszentren gestaltet sich durchaus schwierig. Mit nur einem alleinstehenden Begriff wäre dies lediglich für die als Hauptstädte zu bezeichnenden Zentren problemlos möglich. Das Problem ist daher am besten über Begriffspaare zu lösen. Ich gehe nachfolgend von drei Kategorien aus, die fortan wie folgt bezeichnet werden sollen: Kategorie 1: Alternierende Bundeszentren Kategorie 2: Kultstätten als Bundeszentren Kategorie 3: Poleis als Bundeshauptstädte3 Für alle drei Kategorien lassen sich Beispiele finden, anhand derer ihre jeweilige Charakteristik genauer erläutert werden soll. Kategorie 1: Alternierende Bundeszentren Unter alternierenden Bundeszentren sind keinesfalls Zentren zu verstehen, die nach einem festgelegten Turnus die Rolle des Vorortes eines Bundes eingenommen hätten. Vielmehr handelt es sich um Zentren, deren Erlangung oder Verlust der entsprechenden politischen Position im Bund von den gerade herrschenden Machtverhältnissen abhing und nicht, wie in den meisten Fällen, dauerhaft festgelegt war. Eine solche Festlegung konnte auf zwei Arten erfolgen. Am häufigsten war sie traditionell bedingt, sodass bei Entstehung bzw. Etablierung der bundesstaatlichen Strukturen bereits ein

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Als prominente Beispiele seien an dieser Stelle Beloch 1912, 209, der in seinen Ausführungen Theben als Vorort des Boiotischen Bundes bezeichnet, und Busolt/Swoboda 1926, 1467, mit Leukas als Vorort des Zweiten Akarnanischen Bundes, herangezogen. Aber auch in aktuelleren Untersuchungen findet der Begriff gelegentlich noch Verwendung, siehe beispielsweise Tausend 1992, 26. Im Sinne der Einheitlichkeit der Kategorienbezeichnungen wurde auch hier ein Begriffspaar gewählt.

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politisches Zentrum existierte, wie beispielsweise in Boiotien mit Theben oder in Aitolien mit Thermos. Ein Zentrum konnte aber auch bestimmt werden, entweder durch die Bundesmitglieder oder aber durch äußere Einflussnahme, wie etwa im Fall von Onchestos im Boiotischen Bund nach 338 v. Chr. oder Aigion im Achaiischen Bund nach der Zerstörung Helikes. Es konnte aber, wie eingangs erwähnt, aus unterschiedlichen Gründen auch dazu kommen, dass sich kein dauerhaftes Zentrum herausbilden konnte. Das deutlichste Beispiel in dieser Kategorie ist der Thessalische Bund mit seinen temporären Zentren.4 In der Tat ist hier kein dauerhaftes Bundeszentrum feststellbar.5 Die Hauptursache hierfür war die ständig wechselnde Führungsrolle im Bund. Vom 5. bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurde diese abwechselnd vom Adelsgeschlecht der Aleuaden, dann von den Echekratiden, danach wieder von den Aleuaden, dann von Jason von Pherai und schließlich von Philipp II. eingenommen. Die Politik des Bundes war daher auch nicht mit der Politik einer bestimmten Polis identifizierbar. Das temporäre Zentrum richtete sich nach der jeweiligen Vorherrschaft. In der Zeit der Herrschaft der Aleuaden fungierte daher Larisa als Zentrum des Bundes. Unter den Echekratiden wechselte der Vorort nach Pharsalos, während zur Zeit der Hegemonie Jasons über Thessalien der Bund von Pherai aus kontrolliert wurde. Keine Polis konnte etwa aufgrund ihrer Größe, wirtschaftlichen oder militärischen Macht oder aufgrund eines traditionellen Führungsanspruches dauerhaft eine Vormachtstellung einnehmen. Auch gab es in Thessalien keinen gemeinsamen Bundeskult und daher kein singuläres religiös-kultisches Zentrum, das für die Etablierung eines dauerhaften politischen Bundeszentrums prädestiniert gewesen wäre.6 Ein weiterer Grund für die nicht erfolgte dauerhafte Etablierung eines Bundeszentrums mag zudem in der Tetradenstruktur des Bundes zu suchen sein. Die Tetraden waren deutlich älter als das bundesstaatliche Thessalien und dürften eine Zentralisierung zumindest erschwert haben.7 Als weiteres Beispiel eines Bundes mit alternierenden Zentren kann der Zweite Achaiische Bund angesehen werden. Nach der Gründung des Bundes 281/0 v. Chr. nahm zunächst Aigion, das bereits Hauptstadt des Ersten Bundes war (s. u.), die Rolle

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Zum Thessalischen Bund siehe aktuell Bouchon/Helly 2015, 222–230. Zur Etablierung bundesstaatlicher Strukturen und zur Polisentwicklung in Thessalien siehe Löbel 2014, 319–324 und 338– 342. So auch Beck 1997, 134. Das Fehlen eines übergeordneten Kultzentrums in archaischer und klassischer Zeit stellte bereits Westlake 1935, 42–43 heraus. Frühestens in römischer Zeit bildeten sich Bundeskulte und damit entsprechende Zentren heraus, wie die Untersuchung Graningers aus dem Jahr 2011 nachzuweisen versucht. Auf das Tetradensystem und seine Ursprünge soll hier nicht weiter eingegangen werden. Zu den Tetraden und der wissenschaftlichen Diskussion darüber siehe vor allem Gschnitzer 1954 und Helly 1995.

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des Bundeszentrums ein. Nach der Integration von Korinth 243 und Argos 228 v. Chr. verlagerte sich der politische Mittelpunkt des Bundes jedoch immer mehr von Aigion weg, wie die Abhaltung wichtiger Versammlungen vor allem in Argos zeigt.8 Anders als im Thessalischen Bund war die Verlagerung des politischen Zentrums jedoch nicht etwaigen Machtverschiebungen, sondern der territorialen Ausdehnung des Achaiischen Bundes geschuldet. Dem versuchte man auch durch den turnusmäßigen Wechsel des Ortes der Bundesversammlung Rechnung zu tragen und eine zu starke Zentralisierung zu verhindern.9 Dadurch wurden zudem weitere, wenn auch nur temporäre Zentren geschaffen, die sich zumindest während der Zeit der Bundesversammlung als politischer Mittelpunkt des Bundes fühlen und präsentieren durften. Dieser Umstand trug gewiss auch dazu bei, dass der Bund den zwischenzeitlichen Verlust von Korinth (224–197 v. Chr.) und Argos (198–195 v. Chr.) ohne politischen Kontrollverlust verkraften konnte. Kategorie 2: Kultstätten als Bundeszentren In mehreren Fällen bundesstaatlicher Gemeinwesen lassen sich Kultstätten feststellen, die gleichzeitig als politische Zentren des jeweiligen Bundes dienten. Bundeszentren dieser Kategorie lassen sich im Boiotischen Bund nach 338 v. Chr., im Ersten Achaiischen Bund, im Molosserbund und im Aitolerbund nachweisen. Der Boiotische Bund nach 338 v. Chr.10 Im Boiotischen Bund wurde nach 338 v. Chr. mit Onchestos ein klar als solches erkennbares Kultzentrum als Bundeszentrum eingerichtet.11 Onchestos war kein traditionelles Bundeszentrum, sondern wurde erst aufgrund der besonderen politischen Umstände nach 338 v. Chr. dazu bestimmt. Nach der Beseitigung der thebanischen Vorherrschaft durch Philipp II. und seinen Sohn Alexander, der Theben nach einem

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Siehe beispielsweise Liv. 31.25.2. Der sich vor allem zwischen Aigion und Argos entwickelnde Dualismus zeigt sich auch bei Plu. Cleom. 17.2. Zur Einführung wechselnder Tagungsorte der Bundesversammlung ab 189/8 v. Chr. siehe Liv. 38.30.3–6. Hierzu auch Roy 2003, 85 und 87. Zu diesem Bund und seinen politischen Strukturen siehe Larsen 1968, 177–180, Gullath 1982, 7–59, Gehrke 1986, 67–68, Corsten 1999, 40–49 und Löbel 2014, 251–257. Die Funktion von Onchestos als politisches Bundeszentrum zeigt sich nicht zuletzt in der dortigen Aufbewahrung von zwei Proxeniebeschlüssen aus der Anfangszeit des Bundes (SEG XXVII 60 und XXXII 476) und der Bezeichnung des Bundesarchon als ἄρχων ἐν Ὀγχηστῶι (IG VII 209. 210. 211. 212. 214. 215. 216. 217. 218. 220. 221. 222; vgl. auch 27. 28 sowie IG IX 1, 98).

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gescheiterten Aufstand 335 v. Chr. zerstören ließ, kam es zu strukturellen Reformen des Bundes, in deren Folge auch eine politische Gleichstellung der größeren boiotischen Poleis untereinander vorgenommen wurde.12 Diese Gleichstellung wurde vor allem durch die Regelung erreicht, dass keine Polis mehr als einen Posten in den bedeutenden Kollegien des Bundes besetzen durfte.13 Mit der Verlegung des Bundeszentrums, weg von den Poleis nach Onchestos, sollte zudem eine erneute Zentralisierung der politischen Macht in einer der größeren Poleis verhindert werden. Die Vorteile von Onchestos lagen dabei auf der Hand. Erstens war es zentral gelegen, was die Zugänglichkeit erhöhte und den Aufwand einer Reise zu den Bundesversammlungen von der Peripherie des Bundes aus minimierte. Dies dürfte, gemessen an ihrer Herkunft, zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Teilnehmer an den Volksversammlungen des Bundes geführt haben. Zweitens war Onchestos keine politisch konkurrierende Polis, was dessen Akzeptanz seitens der boiotischen Poleis erhöhte und zugleich die Angst vor der Herausbildung eines dominierenden Zentrums minimierte. Drittens wurde durch Onchestos eine räumliche Trennung der Zentralgewalt des Bundes von den einzelnen boiotischen Poleis vorgenommen. Hierdurch konnte zumindest eine formelle Unabhängigkeit von den Interessen einzelner Poleis erreicht werden, da keine Polis mehr die Bedingungen der Versammlungen direkt beeinflussen konnte. Der Erste Achaiische Bund Bis zu seiner Zerstörung durch ein Erdbeben und die anschließende Flutwelle 373 v. Chr. war Helike Vorort des Ersten Achaiischen Bundes. Nach dieser verheerenden Naturkatastrophe wechselte das Zentrum nach Aigion.14 Bei beiden Zentren tritt hinsichtlich ihrer Einstufung in die, dieser Untersuchung zugrundeliegenden Kategorien das gleiche Problem auf – ihre Doppelfunktion als Kultzentren und Poleis. Beide Bereiche waren bei den Achaiern offenbar eng miteinander verknüpft, da nach der Zerstörung Helikes nicht nur die zentralen politischen Einrichtungen, sondern auch das kultische Zentrum der Achaier nach Aigion verlegt wurde. Für die Auswahl Aigions waren sicherlich dessen zentrale Lage und vor allem das in Aigion befindliche

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In diesem Sinne Gullath 1982, 7, die aber zunächst Orchomenos und einige Jahre nach dessen Wiedererrichtung Theben eine gewisse Führungsrolle einräumt. Dies lässt sich an den Listen der Aphedriateuontes und Boiotarchen des Bundes ablesen (IG VII 2723. 2724. 2724a–d. 3207 sowie SEG XV 282). Ob sich daraus, wie Corsten 1999, 40–49 und Mackil 2013, 273–277 vermuten, auch „Distrikte“ wie im Ersten Boiotischen Bund rekonstruieren lassen, ist zumindest höchst zweifelhaft (vgl. dazu Löbel 2014, 252–255). Zur Zerstörung Helikes siehe Diod. 15.48. Zu Aigion als neuem Bundeszentrum vgl. Paus. 7.7.2 und Strab. 8.7.5.

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Heiligtum des Zeus Homarios entscheidend.15 Helike und später Aigion haben aber gewiss auch als Poleis von der Statuserhöhung profitiert. Das galt sowohl für den politischen Bereich, durch das gehobene Ansehen und den Vorteil, die Versammlungen ausrichten und damit die Rahmenbedingungen für diese beeinflussen zu können, als auch für den wirtschaftlichen Bereich. Es ist zumindest anzunehmen, dass viele Teilnehmer und deren Begleitung die Zeit der Versammlungen auch für Geschäfte aller Art nutzten. Aber auch außerhalb der Versammlungszeit werden beide Poleis entsprechend profitiert haben.16 Letztlich lässt sich bezüglich Helike und Aigion aus den genannten Gründen keine klare Trennung zwischen Kultstätte und Polis vornehmen. Daher handelt es sich hier meines Erachtens um eine Mischform zwischen Kategorie 2 und der noch zu behandelnden Kategorie 3. Der Molosserbund Im Fall des Molosserbundes lassen sich gewissermaßen sogar zwei gleichzeitig existierende Bundeszentren feststellen – Passaron und Dodona. Passaron war sicherlich vor der Integration Dodonas zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. alleiniges Bundeszentrum der Molosser. Hier wurden die jährlichen Eide geleistet und die ordentliche Bundesversammlung abgehalten. Es lässt sich zwar die kleine Schwierigkeit feststellen, dass Passaron spätestens Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. auch Polis war, jedoch war der Eidwechsel zu dieser Zeit bereits etabliert und zudem eng mit der Opferzeremonie am Altar des Zeus-Areios-Heiligtums verbunden, wie wir aus Plutarchs Pyrrhos-Biographie erfahren können.17 Anders als die Poleis im Achaiiischen Bund waren die wenigen molossischen Poleis innerhalb ihres Bundes ohnehin politisch nahezu bedeutungslos.18 Passaron war daher ausschließlich in seiner Funktion als Kultzentrum politischer Mittelpunkt des Bundes. Ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. fungierte dann das weit über Epeiros hinaus bekannte Dodona zusätzlich zu Passaron gewissermaßen als repräsentatives Bundeszentrum. Abgesehen von den in Passaron verbleibenden Eidwechseln und der Bundesversammlung, fand in Dodona nunmehr die Tagespolitik statt. Hier befanden sich die zentralen Einrichtungen, es wurden Gesandtschaften

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Beck 1997, 64 Anm. 54 betont vor allem die Bedeutung der zentralen Lage Aigions für dessen Auswahl als Bundeszentrum. Jedoch dürfte meines Erachtens das oben genannte Heiligtum, dessen große Bedeutung auch aus Plb. 2.39.6 hervorgeht, die entscheidende Rolle für die Auswahl als Bundeszentrum gespielt haben. Man denke hier nur an ausländische Abgesandte und Verhandlungsdelegationen inklusive deren Gefolge. Plut. Pyrrh. 5.2. Hierzu ausführlich Löbel 2014, 277–282.

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empfangen und die Dekrete aufgestellt.19 Aufgrund dieser sonderbaren Situation können Passaron und Dodona als zweiköpfiges Zentrum des Molosserbundes bezeichnet werden. Unter den Kultstätten als Bundeszentren stellten sie somit eine Besonderheit dar. Der Aitolerbund Auch im Aitolerbund, dem hinsichtlich seiner Integrationsfähigkeit bedeutendsten Beispiel bundesstaatlicher Gemeinwesen, lässt sich mit dem Heiligtum von Thermos eine Kultstätte als politisches Bundeszentrum nachweisen. Zu keiner Zeit ist ein Polisstatus dieses Vorortes nachweisbar. Bestenfalls temporär, zur Zeit der großen Kultfeste und Versammlungen, war Thermos mehr als eine von Tempelanlagen dominierte Kultstätte.20 Thermos war bereits vor der Herausbildung bundesstaatlicher Strukturen religiös-kultisches und politisches Zentrum der Aitoler, wie sich den Schilderungen Strabons entnehmen lässt (3.3.2). Das Fortbestehen des Bundeszentrums in Thermos auch in spätklassischer und hellenistischer Zeit war unter anderem der späten Polisentwicklung bei den Aitolern geschuldet. So war das Heiligtum als Mittelpunkt auch des politischen Lebens bereits traditionell verankert, als im 5. und vor allem im 4. Jahrhundert v. Chr. größere Poleis entstanden beziehungsweise, beginnend mit den Poleis der Aiolis, integriert wurden.21 Zudem lassen sich im Aitolerbund keine Bestrebungen zur Errichtung einer Hegemonie seitens einer Polis feststellen, sodass am Status von Thermos auch nicht gerüttelt wurde. Unterstützt wurde das Ganze auch von der Tatsache, dass zumindest eine der beiden regulären jährlichen Bundesversammlungen, die „Thermika“, schon von ihrem Namen her eng mit Thermos verbunden war. Die andere Versammlung, die „Panaitolika“, fand zwar nicht in Thermos statt, sorgte durch den turnusmäßigen Wechsel ihres Versammlungsortes aber dafür, dass jede Polis die Chance hatte, sich einmal als Ausrichter zu präsentieren. Zugleich konnte aber keine Polis dauerhaft die Kontrolle über die Versammlung erlangen und sich damit einen dauerhaften politischen Vorteil sichern.22

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In welchen Bauten die Versammlungen der politischen Kollegien stattfanden ist unklar. In der Forschung sind Datierung und Funktion einiger Bauwerke Dodonas noch immer umstritten. Vgl. dazu exemplarisch Emmerling 2012. Thermos als temporäre Polis: Giovannini 1971, 63; Gehrke 1986, 156; Beck 1997, 52. Zur Urbanisierung in Aitolien s. Funke 1997. Für detaillierte Informationen und Quellenbelegen zu einzelnen aitolischen Poleis siehe Freitag – Funke – Moustakis 2004, 379–390 und Löbel 2014, 105–117. Zu beiden Versammlungen im Allgemeinen bereits Busolt/Swoboda 1926, 1521. Diodor berichtet bezüglich der Versammlungen von Ekklesien mit Mehrheitsentscheidungen (Diod. 29.66.2). Vgl. auch Plb. 38.48.6; 20.10.11 und 15. Wie genau diese Mehrheitsentscheidungen zustande kamen –

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Kategorie 3: Poleis als Bundeshauptstädte In mehreren bundesstaatlichen Gemeinwesen lassen sich Poleis feststellen, die sich am besten als Hauptstädte ihrer Bünde charakterisieren lassen, da sie viele Eigenschaften aufweisen, die auch in moderner Zeit einer Bundeshauptstadt zugeschrieben werden. Hierbei sind vor allem der urbane Charakter der Siedlung, ein eigenständiges politisches Wirken, der Sitz der wichtigsten zentralen Einrichtungen des Bundes und damit einhergehend auch die Wahrnehmung als Zentrum der politischen Entscheidungsfindung dieses Bundes zu nennen. Besonders gut sichtbar werden diese und weitere Merkmale anhand der Hauptstädte des Ersten und Zweiten Akarnanischen Bundes, des Ersten Boiotischen Bundes, des Phokerbundes und des Arkadischen Bundes. Nachfolgend soll aber weniger auf die bereits genannten, bezüglich der gewählten Beispiele kaum umstrittenen Charakteristika eingegangen werden. Vielmehr sollen die jeweiligen Besonderheiten der entsprechenden Hauptstädte hervorgehoben werden, die einen genaueren Blick auf die Machtposition der einzelnen Städte in ihren Bünden gestatten. Der Erste und Zweite Akarnanische Bund Sucht man nach einem guten Beispiel für die Bedeutung der Lage einer Hauptstadt für die Stabilität eines Bundes, so kommt man an der Beschäftigung mit den politischen Zentren der Akarnanischen Bünde nicht vorbei. Zunächst ist der Blick auf Stratos zu lenken, das vor allem aufgrund der Schilderung Xenophons und eines in Stratos gefundenen Proxeniedekretes der Akarnanen als Hauptstadt des Ersten Akarnanischen Bundes angenommen werden kann.23 Stratos wies einige Besonderheiten auf, die dessen Machtposition und damit die Stabilität des Bundes maßgeblich beeinflussten. Die beiden bedeutendsten Charakteristika waren seine Grenzlage zu Aitolien und der vor allem geographisch bedingte, unzureichende administrative Zugriff auf die westakarnanischen Städte.24 Während die Grenznähe zum gefürchteten großen Nachbarn Aitolien im Kriegsfall eher die Gefahr einer schnellen Unterwerfung des Bundeszentrums und damit der Führungslosigkeit mit sich brachte, führte der fehlende Zugriff von Stratos auf die westlichen Bundesmitglieder direkt zu einer Instabilität des Bundes, der

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Mehrheit aller Anwesenden (einfach/absolut), Mehrheit nach Städten usw. – bleibt jedoch unklar. Zum Charakter der Bundesversammlungen und zum möglichen Abstimmungsmodus siehe auch Larsen 1952, 1–33 und 1968, 79. Xen. HG. 4.6.4; IG IX 12 393. Zur abwegigen Annahme eines turnusmäßigen Wechsels der Bundeshauptstadt, wie ihn Corsten 1999, 200 erkennen möchte, siehe Löbel 2014, 374 Anm. 68. Zur Geographie Akarnaniens siehe Oberhummer 1887, 1–40.

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sich in gelegentlichen außenpolitischen Alleingängen der westlichen Poleis zeigte.25 Als Stratos den Akarnanen Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. nach der Aufteilung des Bundesgebietes zwischen Aitolien und Epeiros dauerhaft an die Aitoler verloren ging, wurde das Bundeszentrum nach Leukas verlegt.26 Anders als Stratos hatte Leukas, die Hauptstadt des Zweiten Akarnanischen Bundes, durch seine Flotte einen besseren Zugriff auf die westlichen Städte, während die östlichen Bundesmitglieder aus Angst vor dem Nachbarn Aitolien zur Bündnistreue gezwungen waren. Der Bund war dadurch deutlich stabiler geworden, über außenpolitische Alleingänge einzelner Poleis erfährt man in der Folgezeit jedenfalls nichts mehr. Der Erste Boiotische Bund Aufgrund der detaillierten Schilderung der Verfassung des Ersten Boiotischen Bundes in den Hellenika Oxyrhynchia kann auch die Machtposition seiner Hauptstadt Theben recht genau skizziert werden. Die zahlreichen Berichte in den Werken von Thukydides und Xenophon über Theben und dessen Wirken runden das Bild ab. Theben war die unumstrittene Hauptstadt des Bundes. Laut Hellenika Oxyrhynchia kontrollierte Theben im Jahr 395 v. Chr. vier der elf Bezirke des Bundes und stellte damit auch dieselbe Anzahl an Boiotarchen und zudem 240 der 660 Abgeordneten der Bundesversammlung (19, 3). Darüber hinaus waren sowohl die Bundesversammlungen als auch die weiteren Bundeseinrichtungen auf der Kadmeia in Theben angesiedelt (19, 4). Bereits gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. hatte Theben seine auch zuvor bereits dominante Stellung ausgenutzt, um seine politische Macht auszuweiten. Wichtig war in diesem Zusammenhang besonders die Erlangung der indirekten politischen Kontrolle über Thespiai und dessen zwei Bezirke, mithilfe deren Theben faktisch in jeder Abstimmung die Mehrheit hatte.27 Daher kam es in der Folge zu einer weitgehenden Verschmelzung der Politik Thebens mit jener des Bundes, was sich auch im zunehmend synonymen Gebrauch der Begriffe „boiotisch“ und „thebanisch“ in den Quellen 25

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So beispielsweise der Nicht-Beitritt Thyrreions zum Zweiten Athenischen Seebund, während sich das restliche Akarnanien ca. 275 v. Chr. dem Seebund anschloss. Vgl. Xen. HG. 6.2.37. Dass bereits spätestens 389 v. Chr. ein bundesstaatliches Gemeinwesen in Akarnanien bestanden haben muss zeigt die bereits genannte Stelle in Xenophons Hellenika (Xen. HG. 4.6.4). Die Anfänge dieses Bundes sind allerdings noch früher erkennbar. Vgl. Löbel 2014, 161–165 zur Bedeutung von Th. 3.114.3 (Vertrag der Akarnanen mit Ambrakia) für die Frühdatierung bundesstaatlicher Strukturen in das Jahr 426/5 v. Chr. Stratos verblieb als einzige Polis auch nach der Selbstbefreiung und Neugründung des Akarnanischen Bundes in Aitolischem Besitz. Einen Überblick zu den verschiedenen Ansätzen der Forschung hinsichtlich Datierung und vor allem der Grenzziehung bei der Aufteilung Akarnaniens bietet Löbel 2011. Zu Stratos als Hauptstadt des Zweiten Akarnanischen Bundes siehe Liv. 33.17.1. Schleifung der Mauern Thespiais wegen angeblichem Attikismos: Th. 4,133,1. Zur indirekten Kontrolle Thespiais durch Theben vgl. auch Beck 1997, 95 (mit weiterer Literatur in Anm. 61).

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(z. B. bei Xenophon) zeigt.28 Nach der Neugründung des als Folge des Königsfriedens 386 v. Chr. aufgelösten Bundes29 trieb Theben seine Zentralisierungspolitik dann ab 382 v. Chr. dermaßen auf die Spitze, dass man bezüglich dieses zweiten Bundes nicht mehr von einem bundesstaatlichen Gemeinwesen reden kann.30 Theben kann daher – vor allem im Vergleich mit Stratos, das eine eher schwache Position in seinem Bund innehatte – als gutes Beispiel für die verheerende Wirkung einer zu starken Machtposition der Hauptstadt auf bundesstaatliche Prinzipien gelten. Der Phokerbund Eine völlig andere Machtposition als Theben bei den Boiotern nahm Elateia als Hauptstadt des Phokerbundes ein. Der Hauptstadtstatus Elateias ist schwieriger zu erkennen. Er zeigt sich in erster Linie dadurch, dass fast alle Beschlüsse des Bundes aus Elateia stammen wie auch die Aufzeichnungen der Strafzahlungen an Delphi nach Ende des Dritten Heiligen Krieges.31 Insgesamt ist festzustellen, dass die Poleis im Phokerbund eher unauffällig blieben. So wurden beispielsweise die Mehrzahl der phokischen Bundesmünzen ohne Initialen von Poleis geprägt.32 Darüber hinaus berichten die Quellen so gut wie nichts über die innere politische Situation der phokischen Poleis. Auch nach außen traten sie deutlich hinter der Bundespolitik zurück. Selbst die Hauptstadt Elateia war keine politisch dominierende Polis und ist wohl am ehesten, wie es Hans Beck ausdrückte, als „prima inter pares“ zu bezeichnen.33 Der Arkadische Bund Das kurzlebige bundesstaatliche Gemeinwesen in Arkadien (370–362 v. Chr.) beschert der Forschung einen außergewöhnlichen Fall einer Bundeshauptstadt. Megalopolis ist das einzige bekannte Beispiel einer gezielten Hauptstadtgründung in antiken bundesstaatlichen Gemeinwesen, vergleichbar vielleicht mit dem Bau Washingtons oder

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Vgl. etwa Xen. HG. 3.5.3 ff. Auflösung des Boiotischen Bundes: Xen. HG. 5,1,32 ff. und Plu. Ages. 23.3 ff. Hierin ist sich die Forschung weitgehend einig. Siehe beispielsweise Bussmann 1912, 36 und 43; Gehrke 1985, 179 Anm. 97; Beister 1989, 139; Buck 1994, 107 und besonders deutlich Dreher 1995, 21 Anm. 42. Bundesbeschlüsse aus Elateia: IG IX 1 97–99; 101; 110–115. Eine Ausnahme bildet ein nur dreizeiliges Ehrendekret aus Hyampolis (SGDI II 1534), das aber wahrscheinlich in Verbindung mit dem dortigen Artemis-Heiligtum stand. Nur den Poleis Lilaia und Neon sind einige wenige Münzen über Initialen zuzuordnen. Vgl. Head 1911, 343. Beck 1997, 109.

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Brasilias.34 Die Gründung war ein Gemeinschaftsprojekt der Arkadier, an dem die großen Teilstämme und Poleis beteiligt waren und von dem uns Pausanias ausführlich berichtet (VIII, 27, 1–8). Das Ziel des Projektes war die Überwindung der traditionellen Feindschaft zwischen Mantinea und Tegea, den beiden mächtigsten Poleis Arkadiens. Das Bundeszentrum sollte von diesen beiden Städten weg in eine gewissermaßen „unbelastete“ Stadt verlegt werden, zu deren Bürgerschaft Menschen aus allen Teilen Arkadiens gehörten. Die Datierung der Gründung ist jedoch umstritten.35 Neben Pausanias, der sie noch in das Jahr 370 v. Chr. datiert (VIII, 27, 8), berichten noch Diodor für 368 v. Chr. (XV, 72, 4) und der Marmor Parium (IG XII, 5, 444.73) davon. Bei letzterem fehlt jedoch eine genaue Datierung. Um die besondere Position von Megalopolis zu stärken, erhielt es etwa im arkadischen Damiourgenkollegium zehn Sitze, anders als die anderen Poleis, wie Mantinea und Tegea, die fünf Sitze hatten.36 Die Beruhigung der politischen Lage im Bund war jedoch trotz dieser Maßnahmen nur von kurzer Dauer. Im Zusammenhang mit der Eparitenbesoldung und äußerer Einflussnahme durch Thebaner und Spartaner kam es schon nach wenigen Jahren zum Aufbrechen der alten Feindschaft zwischen Mantinea und Tegea und in der Folge zum Zusammenbruch des Bundes.37 Die Stabilitätseffekte der Bundeszentren Betrachtet man die Gesamtzahl der Zentren bundesstaatlicher Gemeinwesen, so fällt zunächst auf, dass statistisch gesehen Kategorie 1 die wenigsten, Kategorie 3 die meisten Fälle aufweist. Die vorangegangenen Einzelbetrachtungen lassen vermuten, dass diese beiden Kategorien mehrheitlich die dauerhafte strukturelle Stabilität der Bünde untergraben und Separierungstendenzen befördert haben. So war der Thessalische Bund recht instabil und anfällig für äußere Einflüsse. Zudem kam es häufig zu Machtwechseln. Im Ersten Akarnanischen Bund wiederum lassen sich gelegentliche Alleingänge einzelner Poleis feststellen. Erst der Zweite Akarnanische Bund war stabiler, was aber vorrangig durch die geostrategische Position von Leuktra und die äußere Bedrohungslage begründet war. Im Ersten Boiotischen Bund gab es massive Konflikte zwischen Theben und Orchomenos, welches dann 395 v. Chr. sogar aus dem Bund aus-

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In der älteren Forschung wurde der Hauptstadtstatus von Megalopolis vereinzelt noch bestritten, so beispielsweise von Niese 1899, 535. Zur intensiven Diskussion über das Gründungsdatum von Megalopolis siehe Beck 1997, 76 Anm. 61. Vgl. zur älteren Forschung auch Niese 1899, 527–542, der selbst für die spätere Datierung eintritt. Siehe zudem Leschhorn 1984, 168 und Hornblower 1990, 71–77 als Beispiele für die neuere Forschung. Vgl. RO 32, Z. 9 ff. Zum Zusammenbruch des Bundes ausführlich Löbel 2014, 216–219.

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trat.38 Zudem ermöglichten die bestehenden Bundesstrukturen die zunehmende Konzentration der Macht in Theben, sodass die übrigen Bundesmitglieder mit der Zeit faktisch zu thebanischen Untertanen geworden waren. Der Arkadische Bund brach trotz starker Hauptstadt bereits nach neun Jahren zusammen, da sich die ursprünglichen Konflikte zwischen den Mitgliedspoleis Mantineia und Tegea trotz der strukturell starken Position von Megalopolis nicht dauerhaft unterdrücken ließen. Der Phokerbund ist hier die Ausnahme, was möglicherweise an der besonderen ethnischen Homogenität der Phoker gelegen haben könnte. Zentren der Kategorie 2 hingegen scheinen den Zusammenhalt gefördert, zumindest aber nicht behindert zu haben. Der über 100 Jahre lang bestehende Erste Achaiische Bund erwies sich als politisch stabiler Bund gleichberechtigter Städte, der auch die gelegentlichen politische Alleingänge Pellenes tolerierte und verkraftete. Der Boiotische Bund nach 338 v. Chr. war bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. hinein politisch weitgehend stabil. Größere innere Konflikte sind nicht bekannt. Auch im Molosserbund sind vom 4. Jahrhundert bis zu seinem Aufgehen im Epeirotischen Bund 232/30 v. Chr. keine inneren Auseinandersetzungen nachweisbar. Bemerkenswert ist auch der Aitolerbund, der über 200 Jahre lang bestand. Separierungstendenzen ohne äußere Einflussnahme sind nicht überliefert, sieht man einmal vom Befreiungskampf der Akarnanen im 3. Jahrhundert v. Chr. ab, wobei unklar ist, inwieweit die durch die Aitoler integrierten Städte hierbei selbst initiativ wurden. Der Aitolerbund war zudem politisch sehr stabil und besaß darüber hinaus ein beachtliches Integrationspotential.39 Es stellt sich nun die Frage, was die Gründe für diese Wirkung der Zentren der Kategorie 2 waren. Es lassen sich meines Erachtens vier Hauptgründe ausmachen: 1. Da sie keine Poleis waren, hatten diese Zentren auch keine politischen Rechte, die sie zu einem politischen Konkurrenten für die Bundespoleis gemacht hätten. Das dürfte nicht nur ihre allgemeine Akzeptanz deutlich erhöht, sondern auch die Furcht vor der Erlangung eine hegemonialen Status durch den Vorort gemindert haben. 2. Die politische Entscheidungsfindung fand an einem neutralen Ort statt. Das war insofern wichtig, als dass die Abstimmungen, zumindest theoretisch, nicht von einer gastgebenden Polis, die ja selbstverständlich Eigeninteressen besaß, direkt oder indirekt beeinflusst werden konnten. 3. Bundesmitglieder mussten sich nicht dem Willen einer einzelnen zentralen Polis unterwerfen, sondern waren formal allen anderen Gliedstaaten gleichgestellt. Dieser Punkt wirkte sich vor allem auf die Attraktivität eines freiwilligen Bundesbeitritts und das Integrationspotential expandierender Bünde aus.

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Xen. HG. 3.5.6. Hierzu Löbel 2014, 160–161.

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Durch die Vereinigung von religiös-kultischem und politischem Zentrum fand eine Verbindung der Bundesmitglieder in allen wichtigen Bereichen des Lebens statt. Das war besonders effektiv, wenn die im Bundesheiligtum verehrte Gottheit auch Hauptgottheit des jeweiligen Mitglieds war. Vor allem war das dann gegeben, wenn es sich um Neumitglieder handelte, wie etwa im Aitolerbund Naupaktos oder Amphissa. In diesen Poleis wurde, wie auch in Thermos, Apollon verehrt.

Aufgrund der geführten Untersuchung lässt sich als Fazit festhalten, dass der Charakter des Bundeszentrums einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Stabilität eines bundesstaatlichen Gemeinwesens hatte. Im Zusammenspiel mit anderen wichtigen Faktoren, wie etwa der außenpolitische Lage oder der Bedeutung gemeinsamer Traditionen, konnte dies für den Zusammenhalt eines Bundes oder dessen Auseinanderbrechen von entscheidender Bedeutung sein, wie einige der angeführten Beispiele verdeutlicht haben. Zumindest in der Tendenz war die Etablierung einer Kultstätte als Bundeszentrum eine bessere Voraussetzung für einen dauerhaften Erfolg eines bundesstaatlichen Gemeinwesens im antiken Griechenland. Bibliographie Beck, H., Polis und Koinon. Untersuchungen zur Geschichte und Struktur der griechischen Bundesstaaten im 4. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 1997. Beck, H., Funke, P. (Hrsg.): Federalism in Greek Antiquity, Cambridge 2015. Beister, H., „Hegemoniales Denken in Theben,“ in: Beister, H., Buckler, J. (Hrsg.), Boiotika. Vorträge vom 5. internationalen Böotien-Kolloquium zu Ehren von Professor Dr. Siegfried Lauffer. Institut für Alte Geschichte. Ludwig-Maximilians-Universität. (München 13.–17. Juni 1986), München 1989, 131–153. Beloch, K. J., Griechische Geschichte. Die Zeit vor den Perserkriegen, Bd. 1.1, Straßburg 19122. Bouchon, R., Helly, B., „The Thessalian League,“ in: Beck, H., Funke, P. (Eds.), Federalism in Greek Antiquity, Cambridge 2015, 222–230. Buck, R. J., Boiotia and the Boiotian League, 432–371 B. C., Edmonton 1994. Busolt, G., Swoboda, H., Griechische Staatskunde. Zweite Hälfte: Darstellung einzelner Staaten und der zwischenstaatlichen Beziehungen (=HdAW, Abt. 4, Teil 1, Bd. 1), München 19263. Bussmann, J. B., Die böotische Verfassung, Fulda 1912. Corsten, Th., Vom Stamm zum Bund. Gründung und territoriale Organisation griechischer Bundesstaaten, München 1999. Dreher, M., Hegemon und Symmachoi. Untersuchungen zum Zweiten Athenischen Seebund, Berlin/ New York 1995. Emmerling, T. E., Studien zu Datierung, Gestalt und Funktion der ‚Kultbauten‘ im Zeus-Heiligtum von Dodona, Hamburg 2012. Freitag, K., Funke, P., Moustakis, N., „Aitolia,“ in: Hansen, M. H., Nielsen, TH. H. (Eds.), An Inventory of Archaic and Classical Poleis, Oxford 2004, 379–390.

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‚Zentralismus‘ versus ‚Föderalismus‘? Zum Wandel der Herrschaftsstrukturen in karolingischer und ottonischer Zeit* Stephan Freund

Wegen meines Vorrangs an Lebensalter und Erfahrung […] soll ich zur Unterrichtung […] unseres neuen Königs, und zur Wiederherstellung von Recht und Frieden in Kirche und Reich die kirchliche Ordnung und die Verwaltung des königlichen Hofes im geheiligten Palast darstellen […].1

Mit diesen Worten leitet Erzbischof Hinkmar von Reims (seit April 845, † 21. oder 23. Dezember 882) in seinem nur wenige Wochen vor seinem Tod abgefassten Werk De ordine palatii ein in seine Beschreibung der Beschaffenheit des karolingisch-fränkischen Hofes sowie des Reiches im 9. Jahrhundert. Der hochgebildete Autor – eine der

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Der Aufsatz beruht auf dem anlässlich des Ehrenkolloquiums für Martin Dreher am 1. April 2017 gehaltenen Vortrag. Das Thema ist zumindest zeitlich exotisch, sind und waren die anderen Beiträge doch im Altertum angesiedelt. Inhaltlich passen die Überlegungen freilich zum Gesamtthema und in der generellen Fragestellung verweisen sie auf gemeinsam durchgeführte Staatsexamensprüfungen, insbesondere aber auf zusammen mit dem Jubilar vorgenommene Bemühungen um einen DFG-Antrag zum Thema ‚Transformationen von Macht‘, durch den wir uns inhaltlich und zugleich persönlich näher gekommen sind. Dass der Antrag letztlich nicht bewilligt wurde, haben wir mittlerweile verschmerzt. Dass ein ähnlicher Antrag der ungleich größeren und breiter aufgestellten Universität Bonn zum Thema ‚Macht und Herrschaft‘ dann später als SFB bewilligt wurde, hat uns im Nachhinein darin bestätigt, mit unseren Fragen auf dem richtigen Weg gewesen zu sein. Der Beitrag sei daher als nachdrücklicher Dank an Martin Dreher verstanden für die während unserer gesamten gemeinsamen Magdeburger Zeit bezeugte Kollegialität und Freundschaft! Hinkmar von Reims, De ordine palatii, hg. und übersetzt von Thomas Gross et al. (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris germanici antiqui in usum scholarum separatim editi III), Hannover 1980, Z. 6–19. (Die Angabe der Quellen erfolgt nach in der Mediävistik üblichen Vorgaben) Vgl. zum Hintergrund der zitierten Passage auch die dortigen Fußnoten 2 und 3 mit weiterführender Literatur – Zum Werk generell vgl. Fleckenstein 1976, 5–22; Oexle 1988, 111–113.

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einflussreichsten Persönlichkeiten des westfränkischen Reichs in der Zeit Karls des Kahlen – legt darin dar, wie er sich einen idealen Hof(-Staat) vorgestellt hat.2 Hinkmars Opus steht pars pro toto für mehrere theoretische Werke der Karolingerzeit, die sich mit Fragen der Herrschaft und deren konkreter Ausübung befassten.3 Zugleich öffnen seine Ausführungen einen ersten Zugang zu Aufbau, Beschaffenheit und Wandel der Herrschaftsstrukturen in karolingischer Zeit. Herrschaftsstrukturen in fränkisch-karolingischer Zeit4 Dreierlei ist […, so Hinkmar, Anm. St. Fr.] erforderlich für diejenigen, die Herrschaft ausüben: Furcht zu verbreiten, Anordnungen zu treffen und Liebe zu erwecken. Wenn nämlich ein Herrscher nicht geliebt und zugleich gefürchtet wird, so kann seine Weisung keinerlei Bestand haben. Durch Wohltaten und Ansprechbarkeit muss er also dafür sorgen, geliebt zu werden, und durch gerechte Strafen – nicht für selbst erlittenes Unrecht, sondern gemäß dem Gesetz Gottes – muss er bestrebt sein, gefürchtet zu werden.5

Hinkmar unterscheidet zunächst in Bezug auf die Könige und die reipublicae ministri6 zwischen Gesetzen – leges – und Verordnungen – capitula7. Nach ersteren sollten die Bewohner des Landes regiert werden, letztere seien unter dem Zuspruch der Getreuen beschlossen und verkündet worden. Die leges sind die vielfach in karolingisch-fränkischer Zeit schriftlich fixierten, sogenannten ‚Volksrechte‘ der einzelnen Regionen des Reiches. Sie verzeichneten nicht nur die jeweils geltenden Rechtsvorschriften, sondern waren für die jeweiligen Völker von großer, identitätsstiftender Bedeutung.8 Das 2 3

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Zu Hinkmar von Reims vgl. Schieffer 1991, 29 f. sowie die Ausführungen in Hinkmar, De ordine palatii. Zu diesen theoretischen Werken vgl. Schieffer 102005, 115 mit Anm. 4. – Zu den Fürstenspiegeln vgl. auch Keller 2002a, 30 Anm. 53 (mit weiterführender Literatur). Keller verweist darauf, dass statt der Fürstenspiegel andere Zeugnisse – namentlich die Herrscherliturgie, die Herrschaftszeichen und bildliche Darstellungen – einen Eindruck von Art und Aufbau der ottonischen Herrschaft vermittelten. Dies trifft in Teilen zu, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass es sich dabei nicht um theoretische Reflexionen handelt und keine idealtypischen Formen der Herrschaft postuliert werden, wie dies gerade bei den Fürstenspiegeln der Fall ist. Die mit der Apostrophierung der beiden betrachteten Zeiträume als ‚karolingisch‘ bzw. ‚ottonisch‘ verbundene Personalisierung ist bewusst erfolgt, charakterisiert sie doch eines der wesentlichen, beiden Zeiträumen gleichermaßen eigenen Merkmale frühmittelalterlichen Regierens: die von Einzelpersonen ausgehende Herrschaft über Personen und Personengruppen. Erst im Verlaufe des 11. Jahrhunderts sollte sich allmählich die Auffassung von der Transpersonalität der Herrschaft verbreiten. Vgl. Keller 2002b, 17 Anm. 45 (mit umfangreichen weiteren Literaturangaben). Hinkmar, De ordine palatii, Z. 187–192. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 144; vgl. zur Begrifflichkeit Devisse 1976, 679 Anm. 38. Hinkmar, De ordine palatii, Z 144 und 145. Zu den sogenannten Volksrechten generell vgl. Dilcher 2012; Dilcher 2006; Lück 2003; Kroeschell 1998 – Die identitätsstiftende Bedeutung der Aufzeichnung der Lex Saxonum und deren Bedeu-

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Frankenreich bildete demnach keinen einheitlichen Rechtsraum, sondern bestand aus unterschiedlichen Regionen mit jeweils spezifischen Rechtsgewohnheiten. Deren Vereinheitlichung in zentralen Belangen war eines der Ziele der in den späten 770er Jahren einsetzenden Kapitulariengesetzgebung des karolingischen Hofes9, also jener, von Hinkmar erwähnten capitula. Im Unterschied zu den leges besaßen diese Kapitularien – herrscherliche Erlasse gesetzgeberischen, aber auch religiösen Inhalts – in der Regel reichsweite Gültigkeit.10 Hinkmar zufolge seien insbesondere zwei Bereiche zu betrachten. „Der eine Bereich […, ist, St. Fr.] jener, worin sorgsam und unablässig die Hofhaltung des Königs geregelt und geordnet wurde; der andere aber, worin der Bestand des ganzen Reiches gemäß seiner jeweiligen Beschaffenheit durch genaueste Voraussicht gewahrt wurde.“11 Die Quintessenz von Hinkmars entsprechenden Ausführungen lautet wie folgt: Den Vorrang im Bereich des Hofes hätten König und Königin [!, St. Fr.] sowie ihre Nachkommenschaft.12 Es folge der Apocrisiar, der Verantwortliche für die kirchlichen Angelegenheiten13, bei dem es sich seit der Zeit Pippins und Karls um Bischöfe, zunehmend aber auch um Diakone und Priester handele14, die die Verwaltung des Königshofes übernähmen. Die Forschung sieht darin die Anfänge der sogenannten Hofkapelle15, ein Kreis von Geistlichen am Königshof, der dort für die Schriftlichkeit, insbesondere das Schreiben von Urkunden16 ebenso zuständig war wie für die Aufbewahrung der Reliquien sowie die gesamte Liturgie. Darüber hinaus listet Hinkmar zahlreiche weitere Amtsträger auf – ministri – durch die der königliche Hof – sacrum palatium – verwaltet werde – disponebatur.17 Genannt werden folgende Ämter: Kämmerer, Pfalzgraf, Seneschall, Mundschenk, Stallgraf, Quartiermeister, vier oberste Jäger und/sowie ein Falkner.18 Ihnen zur Seite stünden weitere Bedienstete wie der Türhüter, der Säckler, der Zahlmeister, der Kellermeister und diesen unterstellte Diener,

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tung für die Befriedung der durch die Kriegszüge Karls des Großen schwer zerrütteten Verhältnisse wurde mehrfach betont vgl. z. B. Lampen 1999, 271; Kahl 1982, 95. Zu den Kapitularien siehe unten Anm. 33. Vgl. Hinkmar, De ordine palatii, Z 145–147 und dort Anm. 74 mit Angaben zu den entsprechenden, die reichsweite Gültigkeit der Kapitularien dokumentierenden Formulierungen sowie zur Forschungsdiskussion Hinkmar, De ordine palatii, Z. 225–229. – Zum karolingerzeitlichen Hof vgl. auch Schieffer 102005, 117 mit Anm. 14 (Lit.). Hinkmar, De ordine palatii, Z. 230. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 232–233. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 252–254. Vgl. Hinkmar, De ordine palatii, S. 59 Anm. 115 mit weiteren Literaturangaben. – Zur Hofkapelle vgl. zuletzt Huschner 2009, 1091–1093. Hinkmar, De ordine palatii, Z 273–275. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 275–276. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 276–282. Die lateinischen Begriffe lauten: camerarius, comes palatii, senescalcus, buticularius, comes stabuli, mansionarius, venator principalis, falconarius bzw. ostiarius, sacellarius, dispensator, scapoardus; bersarius, veltrarius, beverarius.

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darunter Pirschgänger, Hundetreiber, Biberjäger etc. Die Auswahl für diese Positionen erfolge nach inhaltlicher, insbesondere aber charakterlicher Eignung und – das ist für die Thematik des Aufsatzes besonders bemerkenswert – nach Regionalproporz, „da unser Reich ja durch Gottes Fügung aus mehreren Ländern besteht“.19 Dadurch sollte sichergestellt werden, dass jede Landschaft Vertraute am Hof wisse, mit deren Hilfe Anliegen vorgebracht werden könnten. Innerhalb des Hofes gibt es – so Hinkmar weiter – eine klare Rangfolge: An der Spitze standen der Apocrisiar oder Kapellan, verantwortlich für die kirchlichen Angelegenheiten, sowie der Pfalzgraf, zuständig für alle weltlichen und gerichtlichen Angelegenheiten. Beide sollten zusammenwirken und zugleich den Zugang zum Herrscher regeln.20 Sie bildeten eine Art vorgelagerter Instanz. Dem Pfalzgrafen kamen dabei weitreichende Prüfbefugnisse im Falle strittiger Rechtsfälle zu, ungeachtet eines grundsätzlichen Appellationsrechts an den König, dem die letzte Entscheidungskompetenz vorbehalten blieb.21 Auch über die Aufgaben der weiteren Ämter werden nähere Angaben gemacht, die vor allem zeigen, dass sie alle Rädchen innerhalb eines exakt ineinandergreifenden Mechanismus waren oder sein sollten.22 Besonderes Augenmerk gilt hier, aber auch an späterer Stelle des Werks, den Ratgebern. Ihre Aufgabe sollte dreigeteilt sein: Die Stimme des einen solle „[…] die Berechtigung eines Planes, die eines anderen die Milderung durch Erbarmen und Wohlwollen, eine dritte aber die Mittel von List und Wagemut betonen.“23 Der Anspruch Hinkmars galt auch der Sicherstellung eines reichsweiten Appellationsrechts beim Herrscher24 sowie der Regelung des dauerhaften Aufenthalts genau

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Hinkmar, De ordine palatii, Z. 293–301, bes. 296–301. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 303–322. Die generelle Verantwortung aller Amtsträger gegenüber König und wiederum Königin bleibt davon aber unberührt. – Zur besonderen Rolle der Königin vgl. auch Hinkmar, De ordine palatii, Z. 360–368, wonach die Königin vornehmlich für die Ausstattung des Hofes, den Schmuck des Königs, aber auch die Jahresgaben der Vasallen zuständig war und in allen Dingen vorausschauend und planend tätig sein sollte. – Zum Zugang zum König vgl. auch Scior 2012, 308 f. – Zu den karolingischen Königinnen vgl. Konecny 1976, 65–133; Hartmann 2009, 87–137; 138–178. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 345–359. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 374–376 betont die Notwendigkeit der gemeinsamen Absprache dieser Amtsträger untereinander. In Z. 408–414 wird überdies ausgeführt, dass der Hof jederzeit mit einer hinreichenden Menge von Personen ausgestattet sein solle. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 414–419. – Zu den Ratgebern vgl. auch Hinkmar, De ordine palatii, Z. 507–517, wo deren Auswahlkriterien – in erster Linie Weisheit und Verstandeskraft – erläutert werden. Vgl. auch Hinkmar, De ordine palatii, Z. 534–573 zu deren weiteren Aufgaben. – Zu den Ratgebern in der Karolingerzeit vgl. Keller 1967, 125–127. Bei Schieffer 102005 werden sie lediglich auf S. 132 f. als Teil eines „von Karl geschätzten literarischen Zirkel„s erwähnt, ihr grundlegender Einfluss auf die karolingischen Reformen und zahlreiche Maßnahmen des Herrschers, so z. B. die Form der Awarenkriege, werden hingegen nicht behandelt. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 419–426.

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umgrenzter Gruppen – Bedienstete ohne ein bestimmtes Amt, Schüler, Diener und Vasallen – am Hofe.25 Der Hof tritt demnach als ein in starkem Maße geregeltes, über zahlreiche Amtsträger mit genauen Bezeichnungen verfügendes Gebilde entgegen, dessen Aufgabe darin bestand, dem König den Rücken frei zu halten, damit er sich ledig von Sorgen auf Gott und die Lenkung und Bewahrung des Reiches konzentrieren könne.26

Die folgenden Ausführungen sind dann dem Reich als Ganzes gewidmet. Nach Hinkmar – doch hier sind Zweifel an der Korrektheit seiner Ausführungen angebracht27 – war es in karolingischer Zeit üblich, zwei Mal im Jahr Reichsversammlungen abzuhalten. Auf der einen sei die Gesamtheit aller Großen, geistliche wie weltliche, höhere und niedere gleichermaßen zusammengekommen, um die Reichsangelegenheiten für die Dauer eines Jahres verbindlich zu regeln28 – man ist geneigt, an die Generaldebatte des Deutschen Bundestages zu denken. Die zweite sei nur mit den höheren Großen und den vertrauten Ratgebern abgehalten worden. Diese ‚Ratgeberversammlung‘ habe in erster Linie vorausschauenden Charakter besessen, ihre Beschlüsse hätten der Geheimhaltungspflicht unterlegen, um daraus resultierende Beunruhigungen zu vermeiden.29 Beiden Versammlungstypen sei gemeinsam gewesen, dass den Teilnehmern eine ‚Tagesordnung‘ vorgelegt worden sei, auf deren Grundlage sie zunächst untereinander – bisweilen mehrere Tage lang – zu beraten gehabt hätten, ehe ihre Resultate dann dem Herrscher vorgetragen wurden, der in der Zwischenzeit repräsentative Aufgaben wahrnahm.30 Das aus Hinkmars De ordine palatii zu gewinnende Bild bzw. die von ihm dargelegte Idealvorstellung zeigt eine in hohem Maße durchorganisierte, von klaren Hierarchien und Kompetenzaufteilungen geprägte Struktur des Hofes, die einhergeht mit dem Bemühen, das Reich, dessen regionale Gliederung immer wieder thematisiert wird, als Ganzes zu erfassen. Für diese Strukturen, die man durchaus bereits als ‚Verwaltung‘ bezeichnen kann, gibt es einen eindeutigen Bezugspunkt: den König. In diesem Sinne lässt sich – obwohl der König und sein Hof keine feste Residenz besaßen, sondern

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Hinkmar, De ordine palatii, Z. 438–464. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 370–372. Vgl. dazu Hinkmar, De ordine palatii, S. 83 Anm. 194 mit Verweis auf Seyfarth 1910, 81–83. Daher wird erwogen, dass Hinkmar „hier mehr seine eigenen Erfahrungen und Wünsche zum Ausdruck bringt.“ Hinkmar, De ordine palatii, Z. 463–479. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 480–506. Vgl. dazu ebenda S. 84 Anm. 198 mit Verweis auf Seyfarth 1910, 85–89. Zur Geheimhaltungspflicht Hinkmar, De ordine palatii, Z. 517–533. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 575–599.

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stets im Reich umherreisten – von ‚Zentralismus‘ sprechen.31 Dies gilt umso mehr, als an mehreren Stellen des Werks dem ungestörten und zuverlässig vorausgeplanten Reiseweg des Herrschers große Aufmerksamkeit gewidmet wird.32 Der durch Hinkmar vermittelte Eindruck eines wohlstrukturierten Hofes und Verwaltungsapparats, dessen Streben nicht zuletzt einer möglichst effizienten Verwaltung des gewaltigen Reiches galt, lässt sich durch zahlreiche weitere Details für den Zeitraum vom Beginn der Königsherrschaft Karls des Großen im Jahre 768 bis in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts ergänzen und bestätigen. Hier ist an erster Stelle die im Jahre 778 einsetzende Kapitulariengesetzgebung zu nennen, deren Höhepunkt zwischen 802 und 829 lag.33 Damals wurden 250 bis 300 herrscherliche Verordnungen im Reich verbreitet. Sie dokumentieren einen gewaltigen, vom Hof – und damit von einem klar definierten Zentrum – ausgehenden Gestaltungswillen. Inhaltlich betrafen sie beinahe alle Aspekte des damaligen Lebens: Die Regelung und Vereinheitlichung der Liturgie; die Sorge um die Hebung der Bildungsstandards; die Schaffung vergleichbarer Standards im Bereich der Maße, Münzen und Gewichte; der Schutz der Armen, Witwen und Waisen; die Neuordnung des Gerichtswesens im Interesse einer Eindämmung von Fehdehandlungen und Selbstjustiz und vieles andere mehr. Setzte bereits die handschriftliche Vervielfältigung dieser ein bis mehrere Seiten umfassenden Schriftstücke ein ganz beträchtliches Maß an Organisation voraus, so galt das für den Prozess der Verbreitung und der späteren Kontrolle der Umsetzung der geforderten Maßnahmen nicht minder. Klöster und klösterliche Schreibschulen, aber auch Bischofskirchen sowie generell die kirchenorganisatorischen Strukturen wurden dafür ganz systematisch, in einem hierarchisch genau abgestuften Verfahren in Anspruch genommen.34 Königsboten, missi dominici bzw. missi regis, oblag die Verteilung. Ihre Doppelung in Gestalt eines Geistlichen und Weltlichen sollte Korruption und Machtmissbrauch vorbeugen.35 Die Kapitulariengesetzgebung geht einher mit deren bereits durch Hinkmar beschriebenem gemeinsamen Beschluss auf Reichsversammlungen der geistlichen und weltlichen Großen.

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Zum Begriff vorwiegend seitens der Politikwissenschaft verwendeten Begriff ‚Zentralismus‘ vgl. Nohlen 2003. Hinkmar, De ordine palatii, Z. 377–407, mit Betonung der Wichtigkeit frühzeitig die Aufenthalte des Königs zu planen, um Überforderungen der Hintersassen bzw. Fehlplanungen zu vermeiden. – Zum reisenden Königshof generell vgl. Ehlers 2014; Freund 2007; Schieffer 2002; Bernhardt 1993. Zu den Kapitularien und zur karolingisch-fränkischen Kapitulariengesetzgebung vgl. den Überblick von Schmitz 2009, 1604–1612 (mit umfangreichen weiteren Literaturangaben); Schmidt-Wiegand 2000; Mordek 2000. Vgl. dazu Freund 2007, 42 f. Zu den Königsboten vgl. zuletzt Hardt 2013, 31–33 (mit weiteren Literaturhinweisen).

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Die Kapitularien sind Teil einer generellen Steigerung der Schriftlichkeit und eines immer stärker gewachsenen Vertrauens in deren Verlässlichkeit.36 Dazu zählt auch die Urkundenausstellung des Königshofes37, die erst im 12. Jahrhundert wieder einen so großen Umfang erreichte.38 Zu nennen ist hier zudem die breite und variationsreiche, sehr stark auf den Königshof konzentrierte Historiographie in Form von Jahrbüchern, Herrscherbiographien und Viten, sowie die in zahlreichen Klöstern und Bischofssitzen zu beobachtende Anfertigung von Inventaren, Traditionsbüchern und ähnlichen systematischen Sammlungen der Besitzungen und Privilegien.39 Zum Bereich der Schriftlichkeit zählen die vom Hof in Auftrag gegebenen oder inspirierten Evangelien40 und nicht zuletzt die zahlreichen aus dieser Zeit überlieferten Briefe der sogenannten karolingischen Gelehrtenwelt. Auch die Herrschaftsstrukturen wurden damals entscheidend verändert. Die vom Königtum unabhängigen, von der Verfassungsgeschichte traditioneller Prägung als „ältere Stammesherzogtümer“ bezeichneten Mittelgewalten wurden beseitigt.41 Deren Funktionen wurden auf mehrere, vom König eingesetzte und diesem verpflichtete Amtsträger, die Grafen, verteilt. Dadurch sollte eine das Reich als Ganzes erfassende ‚Grafschaftsverfassung‘ installiert werden.42 Die auf den Herrscher zu leistenden Treueide banden die Vasallen an ihn43 und sollten Rebellionen verhindern. Kirchliche und weltliche Strukturen griffen aufs allerengste ineinander und wurden in der Person des Königs vereint. Die Formulierungen der herrscherlichen Arengen dokumentieren diesen Anspruch ebenso wie theoretische Äußerungen namentlich

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Zur Schriftlichkeit in karolingischer Zeit vgl. auch Keller 2002b, 15 und die dortigen Anmerkungen 31 und 32. Vgl. generell den Quellenüberblick bei Schieffer 102005, 9–14. Siehe dazu unten bei Anm. 66. – Zur Diskussion um die Urkundenausstellung Karls des Großen vgl. Kölzer 2016, 41–58, der überzeugend herausarbeitet, dass die Behauptung McKittericks 2008, 178, Urkunden seien häufig ohne herrscherliche Anwesenheit ausgestellt worden, eine ohne Belege abgesicherte Meinung darstellt. Vgl. Keller 2002b, 18 und oben Anm. 36. Zur Erfassung des Fiskalguts und den klösterlichen Güterverzeichnissen vgl. Keller 2002a, 23 mit Anm. 9 und weiterer Literatur. Zu den bayerischen Güterverzeichnissen, die nach dem Sturz Tassilos III. angelegt wurden vgl. Freund 2004, 146 f.; 180 f. Vgl. dazu die Beispiele in: Stiegemann 1999, Abb. 1–39, 573–609. Vgl. dazu Schieffer 102005, 38–44. – Zum neueren, neutralen Begriff der ‚Mittelgewalten‘ vgl. Kasten 1997. – Exemplarisch für die Beseitigung der Mittelgewalten sei auf den Sturz Tassilos III. durch Karl den Großen im Jahre 788 verwiesen. Vgl. dazu Freund 2013, 35–64; Freund 2012a, 41–60. Zu den Grafen und der Grafschaftsverfassung vgl. Schieffer 102005, 121 mit Anm. 31 (Lit.). Vgl. auch Keller 2002b, 14, wonach es „[…] die Vorstellung von delegierter und zu kontrollierender Amtsgewalt […]“ gegeben habe und die dortige Anm. 25 zur diesbezüglichen Forschungsdiskussion. Vgl. Becher 1993.

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bekannter königlicher Ratgeber44, an der Spitze der Angelsachse Alkuin45, oder aber bildliche Darstellungen, die den König als miles Christianus zeigen.46 Der Versuch Ludwigs des Frommen (814–840) durch die systematische Verleihung des Königsschutzes für geistliche Institutionen eine Königskirche zu errichten und damit auch die Kirchen strikt hierarchisch auf das Königtum zu beziehen, markiert den Höhepunkt dieser Entwicklung.47 Die karolingisch-fränkische Herrschaft präsentierte sich unter Karl dem Großen und seinem Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen als sehr gut strukturiert und organisiert. Dreh- und Angelpunkt der Herrschaft war der König. In diesem Sinne würde ich trotz des Fehlens einer Hauptstadt oder Residenz von ‚Zentralismus‘ sprechen.48 Im letzten Drittel des 9. und zu Beginn des 10. Jahrhunderts durchlief dieses fränkische Reich einen nachhaltigen Veränderungsprozess. Die Gründe dafür sind mannigfaltig und können hier nur stichpunktartig aufgezeigt werden.49 Die gewaltige Größe des Reiches hatte bereits gegen Ende der Lebenszeit Karls des Großen Probleme bereitet: Die Umsetzung der Reformen war ins Stocken geraten, die Verwaltung und Bewahrung des Reiches und seiner Grenzen war auf Dauer schwierig. Der Versuch Ludwigs des Frommen, das Problem der Herrschaftsteilung im Falle mehrerer erbberechtigter Söhne durch eine neuartige Nachfolgeordnung zu umgehen, war gescheitert und hatte zu schweren inneren Auseinandersetzungen geführt. Eine weitere Expansion des Reiches, die zu Zeiten Karls des Großen auch dazu gedient hatte, dem Adel Betätigungsfelder zu eröffnen und dadurch Konflikte im Inneren zu vermeiden, war nicht mehr möglich.50 Äußere Bedrohungen durch Normannen und Ungarn traten hinzu. Die langen Herrschaftszeiten Ludwigs des Deutschen († 876) und Karls des Kahlen († 877) hatten im Osten und Westen des Reiches zur Verfestigung von deren Teilreichen geführt und zentrifugale Tendenzen bestärkt. Nach dem Tod Ludwigs und Karls kam es sowohl im Osten als auch im Westen infolge des raschen Todes ihrer Nachfolger mehrfach zu Herrscherwechseln. 44 45 46

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Genannt seien neben Alkuin nur Petrus von Pisa, Paulus Diaconus, Theodulf von Orléans, Einhard; Adalhard und Wala; Agobard von Lyon etc. Zu ihm vgl. Bullough 2004; Berschin 1991, 113–146, 149–175. Das Laus sanctae crucis, das Erstlingswerk des Hrabanus Maurus zeigt in mehreren Handschriften, die als Widmungsexemplare ausgestattet wurden, Ludwig den Frommen in Gestalt und Habitus eines miles Christianus. Vgl. dazu Bierbrauer 1999, 56–58 und die dortige Abbildung II,14. Vgl. auch Sears 1990. Vgl. dazu Boshof 1996, 106, 108; Semmler 1982; Suchan 2000. Als „Besonderheit der hochkarolingischen Reichsorganisation […]“ bezeichnete bereits Keller 2002b, 16 folgende Stichwörter: „Zentralität, Amt, Gesetzgebung, Schriftlichkeit“ und wies darauf hin, dass diese Elemente in den Nachfolgreichen abgebrochen seien. Vgl. dazu Schieffer 102005, 136–162; Keller 102008, 45–85. Vgl. zur Expansion als Mittel der inneren Politik auch Keller 2002b, 19.

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All diese Faktoren wirkten zusammen, verstärkten sich in Teilen gegenseitig und hatten auf längere Sicht zur Folge, dass das Königtum an Integrationskraft verlor. Dies begründete in immer stärkerem Maße die Notwendigkeit lokal und regional begrenzte Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Es kam zum (Wieder-)Erstarken adeliger, vom Königtum unabhängiger Kräfte. Neue Mittelgewalten konnten sich etablieren und in einem längeren Prozess entstanden wieder Herzogtümer auf gentiler Grundlage.51 Kurz und gut, das gewaltige Karlsreich hörte praktisch auf zu existieren, wurde jedoch noch eine Weile als idealtypische Vorstellung weitergetragen. Der Prozess der Auseinanderentwicklung der einzelnen Reichsteile war bereits erheblich vorangeschritten, als nach dem zu keinem Zeitpunkt zu eigenständiger Herrschaft fähigen Ludwig dem Kind, dem letzten Karolinger im Ostfränkischen Reich, und dem letztlich an einer fatalen Fehleinschätzung seiner eigenen Position gescheiterten Franken Konrad I. mit Heinrich I. die Ottonen die politische Bühne des Königtums betraten. Herrschaftsstrukturen in ottonischer Zeit Hinkmars Opus kann auch für den zweiten, knapper ausfallenden Teil als Einleitung dienen, allerdings in negativer Hinsicht: Für die ottonische Herrschaft des 10. Jahrhunderts fehlen vergleichbare Werke und nicht nur diese. Misst man die Herrschaftsstrukturen der Ottonenzeit an jenen der Karolingerzeit, so tritt vielfach ein Nichtbefund zutage. Ein Vergleich entlang der für die Karolingerzeit herausgearbeiteten Aspekte zeigt folgendes Bild: Der ottonische Königshof ist sowohl hinsichtlich seiner Zusammensetzung als auch hinsichtlich seiner inneren Struktur kaum greifbar: Zwar erwähnt Widukind von Corvey, der wichtigste Chronist der Zeit Ottos I., in seinem Bericht über die Aachener Krönungsfeierlichkeiten Ottos I. vier Hofämter, die von den Herzögen ausgeübt worden seien, doch dabei handelt es sich um Ehrenämter, nicht um konkrete, auch tatsächlich und auf Dauer ausgeübte Funktionen.52 Von einer der Beschreibung Hinkmars ähnelnden Ämtervielfalt und -struktur erfahren wir aus dieser und anderen

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Vgl. dazu Keller 102008 88–94; Werner 1980. Widukindus monachus Corbeiensis Rerum gestarum Saxonicarum libri tres, ed. Paul Hirsch et al., Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei, (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 60) Hannover 51935, II, 1–2 S. 63–67. – Zur Diskussion um die Authentizität seiner Schilderung und zur Frage, ob diese nicht Widukinds Augenzeugenschaft der Krönung Ottos II. wiedergibt vgl. Keller 102008, 148–156; vgl. auch die Zusammenfassung der Forschungsdiskussion durch Laudage 2003, 193–224; Althoff 1993, 252–272. – Zuletzt und grundsätzlich zur Frage des menschlichen Erinnerungsvermögens und den damit verbundenen Erkenntnishindernissen für Historiker Fried 2004.

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Quellen nichts. Historiographischen Zeugnissen ist allenfalls vereinzelt zu entnehmen, dass die Königin eine ähnliche Stellung am Hof besessen zu haben scheint.53 Ähnliche Feststellungen sind für das Reich als Ganzes und dessen Verwaltung zu tätigen: Die erste große Reichsversammlung der Ottonenzeit fand im Jahre 948 in Ingelheim statt, dreißig Jahre nach dem Herrschaftsantritt der Ottonen.54 Doch auch danach stellte sich keine Regelmäßigkeit ein und bilden Reichsversammlungen kein Element systematischer Herrschaftsausübung wie das für die Karolingerzeit bezeugt ist. In Bezug auf die übergeordnete Fragestellung ist aber zu beobachten, dass Versammlungen weltlicher und geistlicher Großer häufig nach Regionen getrennt zusammentraten. Dies ist zur Zeit Heinrichs I. ganz markant, aber auch danach wiederholte Male bezeugt.55 Generell fehlen vom König eingesetzte, das Reich als Ganzes erfassende Ämter. Königsboten im Sinne gezielter königlicher Beauftragter gibt es nicht mehr. Grafen sind vielfach bezeugt, aber sie verdanken ihr Amt nur zum Teil königlicher Einsetzung.56 Lediglich die marchiones, die sogenannten ‚Markgrafen‘, die man besser als ‚Grenzbeauftragte‘ ansprechen sollte, bilden hier einen Sonderfall, wurden sie doch vom König mit ihren Aufgaben betraut. Zwischen dem König und den Grafen gab es in Form der sogenannten ‚jüngeren Stammesherzöge‘ nun wieder eine Zwischeninstanz.57 Ähnlich der Karolingerzeit war die Herrschaft jener Herzöge jedoch vornehmlich auf gentile und dynastische Prinzipien gegründet und erst in deutlich geringerem Maße auf Einsetzung durch königliche Amtsvollmacht. Versuche Ottos I., hier eigene Vorstellungen durchzusetzen, führten mehrfach zu schweren Konflikten. Auch die wiederholte Male zu beobachtenden Aufstände und Rebellionen gegen den König in der Zeit Ottos I., Ottos II. und Ottos III. markieren einen deutlichen Unterschied zur Karolingerzeit.58 Nicht zuletzt wurde die von der älteren Forschung postulierte ottonisch-salische Reichskirche im Sinne einer systematischen Besetzung der führenden kirchlichen Ämter durch Otto den Großen und seine Nachfolger durch neuere Untersuchungen

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Zur Königin in ottonischer Zeit vgl. Freund 2016. Zur Synode von Ingelheim vgl. Wolter 1988, 45–47; Keller 102008, 178–180. Das Zusammentreten derartiger Versammlungen wurde insbesondere im Zuge der Vorbereitungen einer gemeinsamen Ungarnabwehr beobachtet. Vgl. dazu Becher 2012a, 93 f.; Keller 102008, 130–136. Zu den Grafen siehe oben Anm. 42. Vgl. zuletzt Hechberger 2009, 509–522 (mit weiteren Literaturhinweisen), der auf S. 513 davon spricht, dass der Grafentitel von Anfang an „zwischen einer Amtsbezeichnung und der Angabe von Rang und Würde oszillierte“ und die Gewichtung zwischen „königlichem Amt und autogener Basis“ geschwankt habe, im 10. Jahrhundert sei es dann speziell im Ostfrankenreich zu einer Allodisierung des Grafenamtes gekommen (S. 515). Vgl. dazu auch Keller 2002a, 27 und die dortigen Anmerkungen 37–39. Zu den sogenannten ‚Jüngeren Stammesherzögen‘ vgl. Keller 102008, 88–94 (mit weiteren Literaturangaben); Meineke 1999; Erkens 2012. – Zu Sachsen vgl. Becher 2012b,104 f. Vgl. dazu Keller 2002a, 24 mit Verweis auf Althoff 1982b.

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als anachronistische Vorstellung entlarvt.59 Die Besetzung wurde in den allermeisten Fällen durch zahlreiche Personen und Personengruppen beeinflusst und trug vielfach einen stark regionalen Charakter. Damit ist aber auch die Auffassung obsolet geworden, die ottonischen Könige hätten sich einen vom Adel unabhängigen kirchlichen Ämterapparat geschaffen, der gewissermaßen ein Gegenstück zum weltlichen der Karolingerzeit gebildet habe. Ebenso wenig gab es in der Ottonenzeit einen festen Ratgeberkreis und schon gar nicht in der von Hinkmar postulierten Form mit verteilten Aufgaben.60 Stattdessen spielten Freundschaften eine wichtige Rolle – in der Zeit Heinrichs I. in Form regelrechter amicitia-Verträge, später dann in nicht formalisierter Art.61 Derartige Freunde Ottos I., die zugleich auch Ratgeber waren, waren Gero († 965) und Hermann Billung. Sie erhielten zugleich wichtige Aufgaben und Ämter übertragen. Gero wurde 965 zum Markgrafen der sächsischen Ostmark ernannt und zugleich mit der Vertretung des Königs in dessen Abwesenheit sowie dem Grenzschutz betraut. In den 950er Jahre trübte sich das beiderseitige Verhältnis.62 Auch der bereits erwähnte Hermann Billung († 973) war ein derartiger Freund und Ratgeber: 936 zum militärischen Befehlshaber an der Elbe ernannt, gewann Hermann vor allem mit Beginn der Italienpolitik Ottos immer größere Bedeutung und vertrat den Herrscher während dessen Abwesenheit. Doch auch hier kam es später zu Spannungen.63 In beiden Fällen ist zu konstatieren, dass die zunächst vom König übertragenen Funktionen auf die Dauer die Ausbildung eines erheblichen, sich vom König immer mehr emanzipierenden Selbstbewusstseins zur Folge hatten, wodurch der Amtscharakter der Beauftragung immer mehr in Vergessenheit geriet. Bisweilen übten auch Bischöfe Ratgeberfunktionen aus, doch dies scheint fallweise gewechselt zu haben und in starkem Maße durch den Reiseweg des Herrschers bestimmt worden zu sein. An die Stelle der in karolingischer Zeit von außen geholten 59

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Vgl. dazu Bode 2015, die in ihrer Dissertation herausarbeiten konnte, von welch unterschiedlichen Faktoren zum Beispiel Bischofserhebungen abhängig waren und auf S. 15–38 einen Überblick zur Diskussion um das sogenannte ottonisch-salische Reichskirchensystem bietet. Vgl. auch Keller 10 2008, 364–372; Schieffer 1989. Zu den Ratgebern vgl. Keller 2002a, 26. Vgl. dazu Keller 102008, 119–122. Grundlegend: Althoff 1992. Zu Gero vgl. Becher 1996, 275–278, 300–301; einen Überblick bietet Brademann 2000; Beumann 1989. Zu Hermann Billung vgl. Becher 1996, 251–299; Mattejet 1989 – Zu den Spannungen, die sich in den frühen 970er Jahren infolge des jahrelangen Verweilens des Königs in Italien ergaben vgl. Althoff 1982a, 149 f. Eine neue Interpretation, die die Vorgänge in einem anderen Licht erscheinen lässt und insbesondere die nachsichtige Behandlung Hermann Billungs, die bereits Fried konstatiert hatte, gebührend würdigt, hat Becher 1996, 291–298, vorgelegt. Ihm zufolge habe Hermann Billung mit seinem Verhalten seine herzoglichen Rechte bis an die Grenze des gerade noch für Otto Hinnehmbaren ausgereizt, der für die ottonische Memoria zuständige Magdeburger Erzbischof Adalbert jedoch mit dem Empfang Hermanns besondere Empfindlichkeiten des Kaisers tangiert, weshalb ihn dessen Zorn getroffen habe.

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und nach Qualifikationskriterien ausgewählten Ratgebern traten nun Familienmitglieder – des Königs Brüder Brun und Heinrich (nach der Aussöhnung mit Otto), aber auch die Königin, an deren Intervention die Ratgebertätigkeit am besten ablesbar ist.64 Doch auch die Großen des Reiches beanspruchten ein Mitsprachrecht bei wichtigen, das Reich betreffenden Entscheidungen.65 Das Fehlen eines klar definierten Ratgeberkreises geht einher mit einem Fehlen gesetzgeberischer Tätigkeit, ohne dass diese Feststellung kausal verstanden werden sollte. Die Volksrechte waren ja bereits verschriftlicht, aber es gab in ottonischer Zeit auch keine Kapitulariengesetzgebung mehr, die auf gemeinsamen Beratungen fußte und reichsweiten Anspruch erhob. Ganz generell war die Schriftlichkeit am Ende des 9. und im frühen 10. Jahrhundert drastisch zurückgegangen. Der Höhepunkt der karolingerzeitlichen Urkundenausstellung war unter Ludwig dem Frommen erreicht worden: Er stellte in 23 Regierungsjahren 639 Urkunden aus, was einer jährlichen Zahl von 28 entspricht. Unter Heinrich I. sank sie auf 41 Urkunden in 15 Amtsjahren ab, was einer jährlichen Anzahl von 2,7 entspricht.66 Dieses Bild änderte sich in den Anfangsjahren Ottos des Großen nur allmählich. Erst ab den 950er Jahren ist dann ein deutlicher Anstieg bemerkbar. Von einer ottonenzeitlichen Geschichtsschreibung kann man erst seit den 950er Jahren sprechen und auch dann bleibt die Zahl der Werke überschaubar und es fehlt insbesondere die für die Karolingerzeit typische klösterliche Historiographie größeren Ausmaßes.67 Hagiographische Schriften sind ebenfalls in unvergleichlich geringerer Zahl überliefert. Briefe bzw. Briefsammlungen fehlen bis auf ganz vereinzelte Beispiele, die aber eher dem westfränkischen Bereich zuzurechnen sind, völlig. Weitere Gebiete, auf denen markante Unterschiede festzustellen sind, sind die künstlerische Produktion und das Bauwesen. Die künstlerisch ausgestalteten Evangeliare der Ottonenzeit entstammen dem späten 10. Jahrhundert und werden von der kunsthistorischen Forschung als zunächst wenig eigenständig angesehen, im Unterschied zur qualitativ hochwertigen karolingerzeitlichen Produktion, die vielfach auf Impulse des Königshofes zurückging. Im 10. Jahrhundert wurde hingegen zunächst importiert bzw. wurden Werke der Karolingerzeit umgearbeitet.68 Für die Bautätigkeit

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Vgl. dazu Freund 2016, 69–73. Vgl. dazu Keller 102008, 367 f. (mit weiterer Literatur); Keller 2002a, 26 f. – Zur Mitwirkung der Großen an der wichtigsten das Reich betreffenden Entscheidung, der Königserhebung vgl. zuletzt Freund 2017, 9–59. Die MGH-Edition der Urkunden Ludwigs des Frommen verzeichnet 639 Diplome (418 + 231 Deperdita). – Zu den Urkunden Ludwigs des Frommen vgl. zuletzt Kölzer 2014. – Karl der Große hatte in 36 Jahren 218 Diplome ausgestellt. Otto I. stellte in 37 Jahren 434 Diplome aus, wovon aber rund 330 in die letzten 20 Jahre fallen. Das entspricht einer jährlichen Anzahl von 5,9 in den ersten 17 Jahren, die danach auf 16 jährlich anstieg. Vgl. dazu Giese 2006; Keller 102008, 31–41. Vgl. dazu zuletzt Labusiak 2017, 165–170; Labusiak 2015; Kötzsche 1992.

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gilt dies umso mehr. Erst sehr allmählich entstanden im 10. Jahrhundert kirchliche Steinbauten – die Quedlinburger Stiftskirche wäre hier zu nennen, die von Gernrode oder nach 968 der erste Magdeburger Dom.69 Keiner dieser Bauten ist in seiner ursprünglichen Form erhalten geblieben, allesamt wurden sie – einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte später – durch neue, größere und prachtvollere Bauwerke ersetzt. Auf weltlichem Gebiet sind die Unterschiede noch markanter: Ausgedehnten und prachtvoll ausgestatteten, in Steinbauweise errichteten Königspfalzkomplexen wie Aachen, Ingelheim oder Paderborn stehen deutlich geringer ausgestattete, kleiner dimensionierte und zumeist in Holz-Erde-Bauweise errichtete Pfalzen gegenüber, die lediglich durch vereinzelte Steinbauten ergänzt wurden, wie die Werla oder Bodfeld.70 Die Ottonenforschung hat diesen Wandel durchaus beobachtet, demgegenüber aber hervorgehoben, dass es im 10. Jahrhundert zur Entwicklung der Herrscherliturgie und generell zur Sakralisierung der Königsherrschaft gekommen sei, was sich auch in äußeren Formen wie Herrscherbildnissen und zu „Reichsinsignien umgedeuteten Herrschaftszeichen“71 geäußert habe, die den Weg zu einem transpersonalen Verständnis des Königtums gebahnt hätten, wodurch die in karolingischer Zeit zu beobachtende institutionelle Untersetzung durch andere Formen ersetzt worden sei.72 Doch hier ist eine genaue Unterscheidung vonnöten. Genau genommen entwickeln sich auch diese Dinge erst sehr allmählich seit den 950er Jahren und sind insbesondere die Herrscherbildnisse ein Produkt des ausgehenden 10. und frühen 11. Jahrhunderts.73 Dies gilt auch für die Verleihung von Marktrechten, mit deren Hilfe die Ottonen seit Otto I. begonnen hätten, ein „[…] Netz von Marktorten“ und Münzstätten zu errichten und hier eine Art „[…] Marktregal […]“ durchzusetzen „[…] wie es in dieser Form nicht einmal im Karolingerreich bestand.“74

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Zu Gernrode vgl. Jacobsen 2003 – Zur Quedlinburger Stiftskirche Leopold 2010; Labusiak 2013. – Zum Magdeburger Dom vgl. Meller 2009; Brandl 2011. Zur Werla vgl. Blaich 2015. – Zur Pfalz Bodfeld vgl. zuletzt Alper 2014, 93–95. Keller 2002a, 30 mit Anm. 54 und 55. Vgl. dazu auch Boshof 2005, 346–358. Vgl. Keller 2002a, 30–33. Den Einschätzungen ist durchaus zuzustimmen. Bisweilen gewinnt man aber dennoch den Eindruck, dass der Wunsch nach einer gewissen Apologie der Ottonenzeit hier eine Rolle gespielt hat. Zu den Herrscherbildnissen vgl. Keller 1985; Keller 2001; Körntgen 2001; zuletzt Figurski 2017. Keller 2002a, 28 f. Der Umstand, dass die daraus resultierenden königlichen Fiskalrechte von vorneherein an die Bischöfe übertragen wurden, bewirkte freilich eine „[…] Verstärkung der polyzentrischen Reichsstruktur“. Vgl. dazu auch Mecke 2000, mit einer Übersicht über alle Verleihungen.

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‚Zentralismus‘ versus ‚Föderalismus‘ – Moderne Begrifflichkeiten zur Beschreibung vormoderner Herrschaftsstrukturen Ein in Teilen gut bis sehr gut organisiertes, von zentral verwalteten Ämtern, Institutionen und Strukturen gekennzeichnetes, sich an antiken Vorbildern orientierendes Herrschaftsgefüge und Reich der karolingisch-fränkischen Zeit veränderte sich in dessen östlichen Reichsteil bis ins 10. Jahrhundert nachhaltig. Personale und regionale Elemente traten in ottonischer Zeit vielfach an die Stelle institutionalisierter Formen der Herrschaft. Heinrich I. kann hierfür exemplarisch stehen. Er verkehrte mit den Großen seines Reiches auf Augenhöhe und gewährte ihnen weitgehende regionale Autonomie. Im Gegenzug gewann er ihre Anerkennung, Legitimation und Unterstützung in Krisenzeiten. Amicitia und pacta, Freundschaft und Verträge bildeten die Grundlage.75 Diese als primus inter pares charakterisierte Form der Königsherrschaft bildet gewissermaßen den – von Heinrich freilich nicht beabsichtigten – Gegenentwurf zum hierarchischen und zentralistisch organisierten Herrschaftsaufbau der Karolingerzeit, wie er am augenfälligsten durch Karl den Großen verkörpert wurde. Das Gegenbeispiel bildet Otto I. Dessen erstes Jahrzehnt als König war von massiven inneren Auseinandersetzungen charakterisiert, weil er zunächst nicht bereit war, diesen Konsens zu suchen, sondern die königliche Amtsgewalt in einem hierarchischen Verständnis aufoktroyieren wollte.76 Dem karolingerzeitlichen Zentralismus im Sinne einer sich in starkem Maße an der Person des Königs und der ihn umgebenden Hofgemeinschaft orientierenden Herrschaftsform77 ist für die ottonische Zeit das Schlagwort des ‚Föderalismus‘ im Sinne einer in Teilen durchaus vertraglich fixierten, weitreichenden Partizipation der regional und gentil verankerten Mittelgewalten an das Reich als Ganzes betreffenden Entscheidungen gegenüberzustellen.78 Nun präsentierte sich eine „polyzentrische Reichsstruktur“79 und Königsherrschaft, die durch ein deutlich pragmatischeres, weniger organisiertes, sich vielmehr an Augenblickserfordernissen ausrichtendes Han-

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Vgl. dazu Althoff 1992. Vgl. dazu Freund 2012b, 530–534. Dieses Bild ist freilich abhängig von den Quellen und der durch sie vermittelten Vorstellung. So gibt Becher 2013, 35 f., zu bedenken, dass die Einhardsannalen, „Entschlüsse Karls des Großen in den Mittelpunkt stellen, wo in ihrer Vorlage, den Reichsannalen, lediglich von Versammlungen der Franken und anschließenden Handlungen die Rede war. Nicht mehr das Zusammenspiel des Königs mit seinen Franken bildete für die sogenannten Einahrdsannalen den Rahmen der fränkischen Politik, sondern vor allem der Wille des Königs.“ Zur Regionalisierung vgl. Keller 2002b, 16. – Zur vertraglichen Fixierung Althoff 1992; vgl. auch Keller 102008, 45–115. Keller 2002a, 29; Keller 2002b, 19.

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deln charakterisiert war und auf regionale Befindlichkeiten wesentlich stärker Rücksicht nahm bzw. diese anerkannte.80 Kehren wir zurück zum Hintergrund der Betrachtungen: „Transformationen von Macht“ galt das inhaltliche Interesse des gemeinsamen Magdeburger DFG-Gruppenantrags und dabei nahm die Weber’sche Theorie vom Übergang von Macht(-Beziehungen) zu (institutionalisierter) Herrschaft breiten Raum ein. Die Betrachtung der Karolinger- und Ottonenzeit sollte gezeigt haben, dass in beiden Phasen Machtbeziehungen eine große Rolle spielten, dass aber zugleich hinsichtlich des Institutionalisierungsgrades von Herrschaft deutliche Unterschiede festzustellen sind. Legitimatorisch abgesichert – ein weiteres wichtiges Kriterium in der Diskussion um Webers Ansichten – waren beide Herrschaftsformen und beide waren zugleich in der Lage, „[…] den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen […]“81. Betrachtet man die weitere Entwicklung, so mutet es beinahe paradox an, dass der weit weniger organisierten, wesentlich stärker regional ausgerichteten und in etlichen Aspekten beinahe archaisch anmutenden Herrschaftsform der Ottonenzeit die Zukunft gehören sollte82: Die Einbindung unterschiedlicher Kräfte, möglichst unter Wahrung eines Regionalproporzes zählte nicht nur zu den Charakteristika der konsensualen Herrschaft jener Zeit und des Hochmittelalters, sondern darin zeigen sich bereits ganz deutlich die Vorformen unseres heutigen Föderalismus. Das Erbe Karls des Großen, das sowohl Deutschland als auch Frankreich so gerne für sich in Anspruch nehmen, ging – legt man diese Befunde zugrunde – in weitaus größeren Teilen an Frankreich, denn dort wurde spätestens im 12. Jahrhundert der Weg zum heutigen Zentralismus beschritten. Der die Bundesrepublik Deutschland prägende Föderalismus ist hingegen in starkem Maße eine Errungenschaft der ottonischen Zeit.

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Dennoch gab es in Gestalt der im Harzraum im 10. Jahrhundert entstehenden Sakral- und Königslandschaft gleichwohl deutlich erkennbare Ansätze zu einer intensiven Raumerfassung und herrschaftlichen Durchdringung. Vgl. dazu zuletzt Fütterer 2016. Weber 1985, 122. Vgl. dazu Dahl 1957; Bachrach/Baratz 1970. – Zur Unterscheidung zwischen ‚loser Macht‘ und ‚institutionalisierter Macht‘ (= Herrschaft) vgl. Breuer 1998; Colliot-Thélène 2001. Vgl. dazu Keller 2002b, 16–20, der bereits in den 1980er Jahren konstatierte, dass es einen deutlichen Kontrast zwischen den Befunden gibt, die ganz klar zeigen, dass wir es in ottonischer Zeit mit einer beinahe archaisch anmutenden Periode zu tun haben, die mit einem deutlich geringeren Institutionalisierungsgrad zurechtkam als dies in karolingischer Zeit der Fall gewesen war und sich dennoch gerade damals die hochmittelalterliche europäische ‚Staatenwelt‘ auszuprägen begann, deren Grenzen und Formen über alle inneren Brüche hinweg beinahe das ganze Hoch- und Spätmittelalter hindurch erhalten blieb.

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Fragen der Institutionalisierung und des Wandels von Herrschaft zählen zu zentralen Anliegen historischer Forschung sowie der Rechts- und Verfassungsgeschichte. Die Überlieferung gestattet es, unterschiedliche Ausprägungen der Organisation menschlicher Gemeinschaften bis in hellenistische Zeit zurückzuverfolgen. Vor diesem Hintergrund befassen sich die Beiträge des Bandes exemplarisch mit Regelungsmechanismen. Der Achäische Bund wird ebenso thematisiert wie die Entstehung der Isonomie und der attische Seebund. Gefragt wird nach der Sicht auf die Tyrannis bei Aristoteles, nach entsprechenden

ISBN 978-3-515-13471-2

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7835 1 5 1 347 1 2

Formen der Erinnerung, nach Regelungen zur Konfliktregulierung sowie nach politischen Zentren des bundesstaatlichen Gemeinwesens im antiken Griechenland. In einem Exkurs erfolgt ein Sprung ins Mittelalter, um die Herrschaftsstrukturen in karolingischer und ottonischer Zeit zu vergleichen. Die Beiträge nehmen damit zugleich Bezug auf Fragen zwischenstaatlicher Beziehungen in der Antike, einem der zentralen Forschungsinteressen von Martin Dreher, dem langjährigen Inhaber des Lehrstuhls für Alte Geschichte an der Otto-von-Guericke-Universität, dem der Band gewidmet ist

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